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German Pages 280 [282] Year 2015
Jörg Türschmann, Birgit Wagner (Hg.) TV global
Jörg Türschmann, Birgit Wagner (Hg.) TV global. Erfolgreiche Fernseh-Formate im internationalen Vergleich
Gedruckt mit Unterstützung des Österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung und der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien
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INHALT
Vorwort JÖRG TÜRSCHMANN/BIRGIT WAGNER 7 FORMAT- UND GENRE-TYPOLOGIEN »Mode« oder »monde«? Zwei Wege zur Definition von Fernsehgenres FRANÇOIS JOST 19 Dokufiktion ² zur Entwicklung hybrider Formen und Formate im Fernsehen CHRISTIAN VON TSCHILSCHKE 37 Dispositiv und Format des Fernsehens am Beispiel der US-amerikanischen Fernsehserie Battlestar Galactica (2004-2009) KATHRIN ACKERMANN 59
DIE LUST AM SERIELLEN Das Format »Abendfüllende Kriminalserie« in Frankreich und Deutschland KLAUS-PETER WALTER 81 Fernsehformate und Fernsehkulturen. Am Beispiel der französischen Serie Suspectes. Chaque femme a un secret BIRGIT WAGNER 103 Zur Serialität des Komischen in der französischen Fernsehserie Kaamelott SABINE SCHRADER 121
FORMATE (GESELLSCHAFTS-)POLITISCHER INTERVENTION BLOB. Jede Videocracy hat ihre Parasiten ANNE PRECKEL 143 Die Darstellung von AIDS im französischen Fernsehen. Über den Fernsehfilm 6DUDLVRQG·rWUH (2008) RENAUD LAGABRIELLE 163 Teledramaturgie in Brasilien: Mini-séries als televisive Literaturverfilmungen KATHRIN SARTINGEN 179
SPANIEN: FERNSEHFORMATE SCHREIBEN GESCHICHTE Transición und demokratische Konsolidierung in Spanien 1974-1977: Die Rolle des spanischen Fernsehens (TVE) MANUEL PALACIO 201 »Subastas para no dormir«: Die Game Show Un, dos, tres als Autorenfernsehen JÖRG TÜRSCHMANN 217 Lorca, muerte de un poeta: Eine spanische TV-Miniserie als Erinnerungstext VERENA BERGER 239 »¡Hola, mis queridísimos amigos y bienvenidos como siempre a nuestro queridísimo Cine de Barrio!« ² Der Nostalgieboom im staatlichen spanischen Fernsehen HANNA HATZMANN 261 Autorinnen und Autoren 277
Vorwort JÖRG TÜRSCHMANN/BIRGIT WAGNER »Wir sind heute längst so weit, dass wir praktisch alles ein Format nennen können.« 1
Die Rede vom Format ist im deutschen Sprachraum weit verbreitet, häufig wenig spezifisch und taucht in unterschiedlichen Diskursen auf. Immerhin ist eine besondere Vorliebe für diesen Ausdruck in Zusammenhang mit dem Fernsehen festzustellen, die zwar nicht dazu geführt hat, dass unter Format zwangsläufig das Fernsehformat verstanden wird, aber doch verdeutlicht, dass es beim Format um etwas geht, das nur das Fernsehen betrifft. Beim fachspezifischen Gebrauch ist die Situation keineswegs übersichtlicher als in der Alltagssprache. Das eine Mal sind es ökonomische, juristische, produktions- und distributionstechnische Kriterien, ein anderes Mal erzählerische oder gattungsspezifische Gesichtspunkte, die für das Fernsehformat grundlegend sein sollen. Die Definitionen differieren schon deshalb, weil sie an Kriterien anschließen, die nicht unmittelbar mit dem Fernsehen zu tun haben und sich am ökonomischen Erfolg orientieren. »Die Formatanalyse, will sie nicht allein einer Orientierung der Sendeformen im Hinblick auf das Erzielen höherer Marktanteile und Quoten dienen, ist noch wenig entwickelt.«2 Fernsehformate sind im technischen Sinn die Auflösung in Bildzeilen, die Bildschirmbreite, die Digitalisierung des Fernsehbildes. Im ökonomischen Sinn bezeichnen sie Vorgaben eines Lizenzgebers für die Umsetzung von gestalterischen und dramaturgischen Rahmenbedingungen einer Sendung durch einen Lizenznehmer, so bei Spielshows und Game Shows, die zuerst im Ausland, meist in den USA und England, produziert werden.3 Fernsehformate existie-
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Deutsche Welle: »Spinnens Wortschau: Format«, 11.4.2010 (http:// www.dw-world.de/dw/article/0,,5450280,00.html; Stand: 9.7.2010). Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, 4. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler, 2007, S. 206. Vgl. Lothar Mikos: Film- und Fernsehanalyse, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2003, S. 258.
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Jörg Türschmann und Birgit Wagner ren als Wege zum Publikum auch außerhalb des Wohnzimmers, über das Handy, beim Public Viewing, über das Internet bis hin zur ursprünglichen Bestimmung des Fernsehens als Bildtelephonie mit Hilfe der Webcam. Auch wenn Gattungen und Genres gemeint sind, wird häufig unspezifisch von Formaten gesprochen, wobei mitunter im Deutschen Gattungen von Genres unterschieden werden. So gelten als Gattungen die Dokumentation, der Spielfilm, der Fernsehfilm und die Fernsehserie. Genres wie etwa das Melodram oder der Western sind andererseits ² und hier scheint ebenfalls ein breiter Konsens zu bestehen ² historisch gewachsene, thematische und motivische Komplexe, die einen mythischen Kern enthalten sowie den Erwartungen der Zuschauer mit erzählerischen Konventionen entgegenkommen. Sie gelten außerdem meist als Untergruppen des Spielfilms. Um der Mehrdeutigkeit des Formatbegriffs zu begegnen, ist es aussichtsreicher, die Kriterien für Klassifikationen und Begriffsprägungen dort zu suchen, wo die Vielfalt der Phänomene entsteht, nämlich im Fernsehen selbst. Borstnar, Papst und Wulff schlagen in ihrer Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft vor, von »Textsorten« im Sinn »funktional-formaler Großformen filmischer Organisation« auszugehen, wozu sie den Fernsehfilm, das Fernsehspiel, den TV-Spielfilm, die TV-Serie und, in eigenwilliger Festlegung des Begriffs, das Fernsehformat rechnen. 4 Nur letzteres ist ihrer Meinung nach eine fernsehspezifische Textsorte; als Beispiel nennen sie das Reality-TV, etwa Doku-Soaps und Big Brother, und die Talkshow. Nun sind Nomenklaturen Sprachregelungen: nicht mehr, aber auch nicht weniger. Allerdings stellt sich die Frage, warum die vier an erster Stelle genannten »Großformen« ausdrücklich den Zusatz ¿)HUQVHKHQ¾ oder ¿TV¾ im Namen tragen müssen und warum allein die letztgenannte »Großform« ein Format sein soll. Sinnvoller scheint es, von einer Perspektive abzusehen, die auf vollendete Texte ausgerichtet ist, und die Potenzialität des Fernsehformats ins Blickfeld zu rücken. Dies schlägt in diesem Band François Jost vor. Er begreift Fernsehtexte in Hinblick auf ihre pragmatische Dimension und betont ihren Charakter eines Versprechens. Dieses Versprechen liegt demnach grundsätzlich vor, hängt aber im Einzelfall von mehreren Faktoren ab. Mit Blick auf Marktanteile und Einschaltquoten erzeugen Programm, Sender, Sendung, Sendezeit unterschiedliche Publikumssektoren. Eine »permanente Formatierung des Blicks« schafft ein stabiles Fernsehpublikum, während sich im Kinosaal die Zuschauer nur vorübergehend versammeln.
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Nils Borstnar/Eckhard Pabst/Hans Jürgen Wulff: Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2002, S. 48-50.
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Vorwort Die »mise en formule«5, die Bewegung vom Genre hin zur Formel besteht in der permanenten Neujustierung von Erfolgsrezepten gemäß den Erwartungen und zeitlichen Spielräumen eines Publikums innerhalb und außerhalb der Prime Time, weshalb eine Doku-Soap tagsüber einer Ultrakurz-Serie am Abend funktional äquivalent sein kann.6 Dies muss aber nicht so sein: Wer allein im Bereich der Fernsehserie die Spezifika der französischen UltrakurzSerie Kaamelott betrachtet, die Sabine Schrader für diesen Band untersucht hat, wird feststellen, dass der Sendeplatz vor und nach der Werbung ein anderes Angebot macht als das Recycling des Science-Fiction-Genres fürs Fernsehen, wie es Kathrin Ackermann an Battlestar Galactica zeigt. Genremischung und -wiederverwertung, wie sie für das Fernsehformat charakteristisch sind,7 führen in diesen beiden Fällen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der eingangs zitierte Hinweis auf das besonders Fernseh-Adäquate des Reality-TV macht deutlich, dass das Fernsehen eine provozierende Deckungsgleichheit von Alltag und Illusion, Privatem und Öffentlichem sucht. Der Zwang zur Innovation ist in diesem Bereich wohl am stärksten ausgeprägt, um aus dem Fernsehen ein immer wieder spektakuläres Ereignis machen zu können. So wird im Format der Scripted Reality Laiendarstellern eine Rolle gegeben, die sie wegen der ähnlichen Lebenswelten von Darstellern und Rollen wie Akteure in einem Dokumentarfilm aussehen lässt, all das laut dem zynischen Kommentar einer RTL-Produzentin im Milieu der »gehirnamputierten Hartz-IV-Empfänger«. 8 Innovation, Spektakel und Provokation sind wichtige Zutaten beim Ringen um die Aufmerksamkeit des Fernsehpublikums. Ein Blick auf Big Brother, ambulante Enthaarungsteams, Kochwettbewerbe, Song-Contests, Jackass und Dschungel-Camps genügt, um zwei weitere Kriterien des Fernsehformats benennen zu können: das Spielerisch-Sportliche, um die Wettbewerbssituationen des Alltags in attraktive Formen zu wenden, und das Serielle, um in Langzeitbeobachtungen die tägliche Routine aus ihrer Monotonie zu befreien und zum Ereignis zu machen. Die Privatsphäre des Fernsehpublikums verschmilzt im seriellen Ausstrahlungsrhythmus mit den Welten der No Names und Celebrities auf dem Bildschirm. Jörg Türschmann verdeutlicht dieses Faszinosum am Beispiel der Game Show Un, dos, tres, die in Spanien ab den frühen 1970er Jahren maßgeblich das Format ge5 6 7 8
Jean-Claude Soulages: Les rhétoriques télévisuelles. Le formatage du regard, Brüssel: De Boeck/INA, 2007, S. 28. Vgl. Soulages, Les rhétoriques télévisuelles, S. 55-56. Vgl. Werner Faulstich: Grundkurs Fernsehanalyse, München: Fink, 2008, S. 33. Pauer, Nina: »Der produzierte Prolet«, in: Die Zeit, 5. August 2010, Nr. 32, S. 38.
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Jörg Türschmann und Birgit Wagner prägt hat. Hier ist sich das Fernsehen selbst am nächsten, denn es findet zur Bestimmung eines Rundfunkmediums, das Informationsvergabe mit Schlüssellochperspektiven verknüpft, und das alles in Echt-Zeit wie bei den Sportübertragungen oder eben SpielShows. Bei der Klassifikation des Formats als fernsehspezifischer Textsorte bleibt jedenfalls eine grundlegende Tendenz zur Vermengung verschiedener Formen zu berücksichtigen. Bei allen Typologien wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die meisten Textsorten hinsichtlich der Achsen Narration/Deskription, Fiktion/Non-Fiktion, Animation/Realfilm als Mischformen zu beschreiben sind. Christian von Tschilschke legt, expliziert am Beispiel Spaniens, ausführlich die Reichweite des Begriffs der Doku-Fiktion dar, die vom Kinofilm bis zur Fernseh-Show reicht; über die Auseinandersetzung mit dem Trash, der telebasura, gelangt er zur Feststellung, dass die Kernbegriffe postmoderner Theoriebildung wie Dekonstruktion und Simulation allmählich in den Hintergrund treten zugunsten von Ereignis, Performanz, Authentizität und Präsenz. Dieser Befund schließt an das oben Gesagte an, dass das Format Ausdruck für die Notwendigkeit permanenter Neuerung ist. Eine solche Charakterisierung ist allerdings widersprüchlich, weil die Innovation neuer Sendeformen darauf abzielt, das Fernsehpublikum nicht nur für sich zu gewinnen, sondern auch auf Dauer an sich zu binden. Der Ereignischarakter einer Neuerung nutzt sich rasch ab und folgt den Zyklen aller Produktinnovationen, das neue Produkt verzweigt sich in die Imitationen, die allesamt die Möglichkeiten zur Differenzierung des Initialprodukts ausloten bis zum Augenblick, wenn der Ausgangspunkt nicht mehr erkennbar ist. Dieser maximale Abstand zur Initialzündung hat entweder zu Folge, dass eine Produktentwicklung im Sand verläuft oder dass etwas Neues entsteht, das der Ausgangspunkt weiterer Ausdifferenzierung zu sein verspricht. Sehr deutlich spiegelt Tatort diese Mischung aus Innovation und Konvention wider. Der lockere Verbund der Episoden, ihre jeweilige regionale Verankerung und die Stabilität des Erfolgs scheinen sich gegenseitig zu bedingen. Klaus Peter Walter stellt Tatort neben Polizeiruf 110 und arbeitet im binationalen Vergleich heraus, dass Krimi-Serien der Prime Time in den Ländern Deutschland und Frankreich erstaunlich unterschiedliche Traditionen ausgebildet haben. Die Beiträge in TV global gehen von der These aus, dass das Format das Fernsehen als Medium fortwährender Überbietungsstrategien kennzeichnet. Mehr oder weniger zufällige Erfolge werden in Formeln überführt, um ein dauerhaftes Publikum zu generieren, wodurch der Eindruck entsteht, dass es sich um den Prototyp eines Genres oder einer Gattung handelt, obwohl doch das Format an die
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Vorwort Eigengesetzlichkeit des Einzelfalls gebunden bleibt. Daher sind Einzelfallstudien besonders gerechtfertigt. Im Kontext einer spezifischen Kultur können Formate zudem Nischen besetzen, indem sie parasitär an bisherige Erfolgsträger anschließen und so zugleich in für das Publikum nachvollziehbarer Nähe und pointiertem Abstand ihren Mitstreitern den Rang abzulaufen versuchen. Anne Preckel widmet sich der italienischen Fernsehsendung Blob und kann dabei zeigen, wie eine dieser Nischen gerade darin besteht, Ausschnitte aus anderen Sendungen zu einer parodistischen Kompilation zu verknüpfen. Blob hat auf diese Weise zwanzig Jahre lang sein Publikum gefunden und ist zu einem Bestandteil politischer Protestkultur in Italien geworden. In anderen Fällen beruht die Innovation gerade auf dem Vergessen. Als Rundfunkmedium besitzt das Fernsehen einen Präsenzeffekt, der die Erinnerung des Publikums an bereits gezeigte Sendungen überschreibt oder die Unkenntnis von Vorgängern einkalkuliert. Wie TV global bereits im Titel ankündigt, ist das Spiel mit dem Nicht-Wissen auch dann ausschlaggebend, wenn Fernsehformate auf ausländischen Produktionen beruhen, die den einheimischen Fernsehzuschauern unbekannt sind. Sprachbarrieren setzen in diesem Zusammenhang für die Lancierung von Innovationen äußerst nützliche Grenzen, und die kulturellen Eigenheiten tun das Ihrige, damit eine Adaption notwendig wird. Es ist nicht so, dass die Zuschauerschaft eines Senderbereichs mitunter nicht von der Imitation wüsste. Sie genießt den Ableger gerade auch in seinen im Vergleich zum ¿Original¾ wahrnehmbaren neuen Akzenten, denn im Fernsehen zählt die augenblickliche Wirkkraft und nicht das Ideal der Werktreue. Birgit Wagner stellt die Frage nach der kulturellen Übersetzbarkeit von Formaten und nach lokalen Markierungen gängiger Repräsentationsschemata. Sie zeigt an der Serie Suspectes, in welchem Ausmaß das US-Fernsehen beim französischen Sender M6 präsent ist und eine günstige Umgebung für die Annäherung von Geber- und Nehmerkultur bildet: Suspectes läuft nicht nur im Kontext erfolgreicher US-Serien, sondern hat auch Hauptdarsteller aus US-Serien rekrutiert. TV global möchte gerade der Dichotomie von Kulturspezifik und Übersetzungsprozessen Rechnung tragen und richtet den Blick auf verschiedene europäische und amerikanische Fernsehkulturen sowie auf Vermittlungsprozesse zwischen ihnen. Das Fernsehen wird in der deutschsprachigen Medienwissenschaft häufig mit Blick auf den eigenen Erfahrungsbereich untersucht; der internationale Horizont bedeutet meist schlicht, die englischsprachigen Produktionen einzubeziehen. Zudem hat dies gelegentlich zur Folge, dass Analysen von den historischen Bedingungen einer Fernsehlandschaft absehen. Manuel Palacio arbeitet in seinem Artikel über die
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Jörg Türschmann und Birgit Wagner ¿transiFLyQGHPRFUiWLFD¾ Spaniens beispielhaft heraus, wie politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen eine Fernsehlandschaft prägen und zugleich von dieser geprägt werden. Spaniens Übergang zur Demokratie in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre erweist sich als komplexes geschichtliches Wechselspiel von Institutionen, Sendeformen, Vergangenheitsbewältigung und Ausblicken in die Zukunft. Für Brasilien steht dem eine Fallstudie gegenüber, in der Kathrin Sartingen sich mit der auch in der deutschsprachigen Fernsehforschung immer wieder genannten, aber dann doch wenig untersuchten brasilianischen Serienproduktion befasst. Die TV-MiniSerie wird von ihr als die (materielle) Basis des Kinofilms beschrieben, also in einer Umkehrung der üblichen Zweitauswertung, die Kinofilme in Fernsehprogramme integriert. Bei ihrem Analysebeispiel O Auto da Compadecida (1999) handelt es sich um eine Adaption eines religiösen Stücks in der Tradition des brasilianischen Volkstheaters, das gleichzeitig das europäische Kulturerbe der Commedia GHOO·$UWH der Pícaro-Literatur, des Don Quijote und der Bibel mit einschließt. Dieser weite zeitliche Rahmen verhindert aber nicht die Aktualitätsbezüge, mit denen diese Mini-Serie aufwarten kann. Aktuelle Themen sind gelegentlich mehr als bloß ein Anstoß für nationale Fernsehproduktionen. Mit der Ausbreitung von AIDS rückten in den 1980er Jahren auch die Repressionen gegenüber Homosexuellen stärker ins öffentliche Bewusstsein. Renaud Lagabrielle befasst sich mit dem zweiteiligen französischen Fernsehfilm Sa raison G·rWUe (2008) und verdeutlicht die Gratwanderung zwischen Publikumsakzeptanz und Aufklärung, die die Programmund Produktionsverantwortlichen bewältigen mussten. Der Zweiteiler wurde ausdrücklich als eine Intervention im öffentlichen Raum konzipiert und in Zusammenhang mit der Öffentlichkeitsarbeit und den Kampagnen produziert, die zu diesem Zeitpunkt in Frankreich für die Gefahr der AIDS-Ansteckung sensibilisieren sollten. Aufklärung, Melodram und gekonnte Produktplatzierung gehen in diesem Fall eine bemerkenswerte Mischung ein. Wenn bisher vom Präsenzeffekt des Fernsehens die Rede war, der das Fernsehen einem ständigen Innovationsdruck aussetzt, dann kann jedoch ein Format auch der Erinnerungskultur dienen. Verena Berger widmet sich dem Biopic und seiner Realisation im Format der Mini-6HULH 'HP ¿0\WKRV¾ GHV 'LFKWHUV )HGHULFR *Drcía Lorca wurde im spanischen Fernsehen aus Gründen der politischen Zensur erst später gehuldigt als im Ausland. Der Regisseur Juan Antonio Bardem schuf mit seinem Biopic über Lorcas Leben und Tod einen »Erinnerungstext«, der die Rückbesinnung auf den spanischen Bürgerkrieg und den Franquismus über die Visualisierung
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Vorwort eines Einzelschicksals ermöglichte. Diese Produktion, die die politische Linke mit dem aufgeklärten Bildungsbürgertum zu vereinen vermochte, zeichnete sich auch durch ihren ästhetischen Wert aus. Hanna Hatzmann kann am Beispiel der spanischen Sendereihe Cine de Barrio einen ganz unterschiedlichen, popularkulturellen Umgang mit Erinnerung zeigen, wobei das Fernsehen zu einer Erinnerungsagentur wird. Die Sendereihe Cine de Barrio besteht aus sentimentalen Rückblicken auf frühere Kinoerlebnisse der Fernsehzuschauer und auf einzelne Jahre, die in dokumentarischen Kompilationen rekapituliert werden. Die Sendungen schwelgen in Erinnerungen an Kinder- und Kinostars, die Nostalgie erwecken, wobei die franquistische Repression verschwiegen wird; das Fernsehen produziert so eine emotionale Entlastung, die politisch bedenklich ist. In TV global geht es sowohl um Medien- und Gesellschaftsgeschichte als auch um Theorie, Bereiche, die exemplarisch von den Beiträgen der beiden Fernsehforscher François Jost und Manuel Palacio vertreten werden. Jost beschäftigt sich in seinen international bekannten Publikationen immer wieder mit den Narrationsmodi des Fernsehens und dem Begriff des Genres, während Palacios historische Studien zum spanischen Fernsehen für die Geschichtsschreibung einer nationalen Fernsehlandschaft beispielhaft sind. Alle anderen Beiträge spannen sich zwischen diesen beiden Perspektiven auf. Von Tschilschke überprüft die Grenzüberschreitungen zwischen Dokumentation und Fiktion als typologische Herausforderung unter anderem am Beispiel Spaniens um die Jahrtausendwende und schlägt »Elemente einer Poetik der Dokufiktion« vor. Ackermann befasst sich ausführlich mit der Geschichte des Dispositivbegriffs, um ihr Analyseobjekt Battlestar Galactica mit Blick auf die Distributionswege abseits vom Fernsehen diskutieren zu können. Walter stellt die Möglichkeiten einer quantitativen Untersuchung von Fernsehformaten vor, in diesem Fall am Beispiel der »Abendfüllenden Kriminalserie« in Frankreich und Deutschland. Diesem komparativen Ansatz folgt bei Wagner einer, der sich als Untersuchung des ¿tourenden )RUPDWV¾ bezeichnen lassen könnte, wenn Formate, hier US-Serien, »auf Wanderschaft« gehen und damit ihrer distributionellen Funktion gerecht werden. Schrader stellt das Format der Ultra-Kurz-Serie in einen Zusammenhang mit der Notwendigkeit, den Programmfluss durch ein rasches rhythmisches Muster so zu dynamisieren, dass der Zuschauer nicht in Versuchung kommt, zu einem anderen Sender zu zappen. Auch bei Preckel ist das Zappen grundlegend für ihre Analyse von Blob, indem sie zeigt, wie sich politische Kritik mit déjà vu-Effekten zu einem rasanten Format der Wiederverwertung
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Jörg Türschmann und Birgit Wagner paart. Alle diese Beiträge haben mehr oder weniger Unterhaltungsangebote der jüngeren Vergangenheit zum Gegenstand. Preckels Beitrag führt als erster die historischen Bedingungen von kritischem Fernsehen vor und leitet damit über zu den Beispielen, deren Untersuchung besonders unter der Berücksichtigung gesellschaftlicher und politischer Geschichte erfolgt. Die historische Dimension reicht dabei, jedenfalls bezogen auf die Fernsehforschung, relativ weit zurück. In Lagabrielles Artikel ist AIDS seit den 1980er Jahren der historische Anlass, bei Sartingen ein kulturelles Erbe von Aufführungsmedien seit dem 16. Jahrhundert. Palacios historischer Überblick über das Fernsehen in der spanischen Transición zwischen Unterhaltung und Erziehung nach Francos Tod im Jahr 1975 erlaubt es wiederum, die folgenden Untersuchungen besser einzuordnen. Türschmann befasst sich mit einem spanischen Showproduzenten der ersten Stunde, der in den 1970er Jahren sogar Vorbild für die holländische Big BrotherProduktionsfirma Endemol wurde. Bergers Untersuchung stellt im Gegensatz dazu den kulturell anspruchsvollen, kritischen Duktus der historischen Erinnerungsarbeit am Beispiel von Lorcas Biographie in den Mittelpunkt. Hatzmann schließlich befasst sich noch einmal mit dem spanischen Fernsehen als populärer Begegnungsstätte, hier für sentimentale Reminiszenzen und nostalgische Gefühle bis zurück in die Zeiten des Publikumskinos der franquistischen 1960er Jahre. In Bezug auf solche historischen Konstellationen gilt es nach wie vor, im deutschsprachigen Bereich Übersetzungsarbeit zu leisten. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes stammen alle aus der medienwissenschaftlichen Romanistik oder arbeiten medienwissenschaftlich in Frankreich, Spanien und Italien. Dies erklärt einige Akzente in den Beiträgen. Josts Arbeiten, die die Narratologie Gérard Genettes transmedial ausweiten, sind über die Grenzen Frankreichs hinaus zu weit rezipierten Ansätzen der Filmund Fernsehanalyse geworden. Dagegen gibt es in Spanien eine lange Tradition politisch-kritischer Film- und Fernsehhistoriographie, die sich bis heute methodisch auf die französische Semiotik stützt. Die Romanistik wiederum ist eine Einzigartigkeit des deutschsprachigen Raums und hat sich in der Medienwissenschaft durch das Konzept der Intermedialität hervorgetan. Das wird auch hier gelegentlich manifest, zum Beispiel in den Beiträgen von Ackermann und Sartingen. Durch die Offenheit des Formatbegriffs werden aber auch Phänomene der Intramedialität diskutiert, wie es in den Beiträgen von Hatzmann, Preckel, Türschmann und Wagner der Fall ist. Dagegen wird in Walters Untersuchung ein dezidiert komparatistischer Ansatz vertreten. Das Konzept des Autors, der nach seinem Hinauswurf aus der Theorielandschaft durch Barthes
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Vorwort und Foucault unter einem nunmehr differenzierten Begriff von Autorschaft wieder zu interessieren beginnt, steht im Zentrum der Beiträge von Ackermann, Berger und Türschmann. Ackermann sieht die Handschrift einer Autorschaft in Form einer planenden Personengruppe, Berger in der kritischen Wahrnehmung und dem ästhetischen Gestaltungswillen des Kommunisten Bardem, der so dem traditionellen KonzeSW GHV ¿DXWHXU¾ HQWVSUHFKHQ NDQQ. Türschmann plädiert auf der Grundlage von Käte Hamburgers Erzähllogik für die Interpretation eines Unterhaltungsproduzenten als Autor einer »fingierten Wirklichkeitsaussage«. Dass solche und andere Akzente der Vorbildung der Beiträgerinnen und Beiträger geschuldet sind, ist offensichtlich. Grundsätzlich kommt deshalb auch häufig die Vorliebe für fiktionale Formate zum Ausdruck, vielleicht weil sie einem textanalytischen Instrumentarium nach wie vor zugänglicher sind als journalistische, Spiel- oder Talk-Formate. TV global versteht sich als Folgeband zu Transpositionen des Televisiven, der Publikation der Vorträge einer Tagung in Salzburg 2008, die insofern grundlegend genannt werden kann, als zum ersten Mal auf einer Tagung in der deutschsprachigen Romanistik das Fernsehen als Medium in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte.9 Während jedoch in den Transpositionen das Verhältnis der Literatur zum Fernsehen den wichtigsten Fokus bildete, werden in diesem Band das Fernsehen in seinem medialen Status beziehungsweise Fernsehformate in ihrer je eigenen medialen Form analysiert. Nicht wenige der Beiträge beschäftigen sich zudem mit popularkulturellen Formaten und deren Ästhetik und Wirkungsabsichten. Diesen Respekt gegenüber dem Fernsehen als einem eigenständigen Forschungsfeld belegen schon die Überschriften, die die Herausgeber ihrer Gruppierung der Beiträge vorangestellt haben. Zu den »Format- und Genre-Typologien« gehören die Beiträge von Jost, von Tschilschke und Ackermann, die damit auch die in dem Band dominanten Kulturkreise Frankreich, Spanien, USA und Deutschland ein erstes Mal behandeln. »Die Lust am Seriellen« ist bei Walter, Wagner und Schrader vorrangig dem französischen Fernsehen gewidmet, allerdings sehr wohl mit Seitenblicken auf USamerikanische und deutsche Serien. Die Beispiele für »Formate (gesellschafts-)politischer Intervention« führen bei Preckel, Lagabrielle und Sartingen vielleicht am eindrücklichsten kulturelle Rahmenbedingungen vor Augen, hier für Italien, Frankreich und Brasilien, und weiten den Fokus von der fiktionalen Serie auf die politisch ambitionierte Sendereihe, den Zweiteiler und die MiniSerie aus. Innerhalb der Auseinandersetzung mit historischen
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Vgl. Kathrin Ackermann/Christopher F. Laferl (Hg.): Transpositionen des Televisiven. Fernsehen in Literatur und Film, Bielefeld: Transcript, 2009.
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Jörg Türschmann und Birgit Wagner Rahmenbedingungen nehmen die hispanistischen Beiträge einen so großen Raum ein, dass ihnen eine gesonderte Überschrift gewidmet worden ist: »Spanien: Fernsehformate schreiben Geschichte«. In den Artikeln von Palacio, Türschmann, Berger und Hatzmann spielt die Geschichte und die Geschichtsschreibung im und durch das Fernsehen gleichermaßen eine Rolle. Alle Beiträge drücken die Absicht aus, Fernsehformate und Fernsehkulturen bekannt zu machen, die vor allem wegen der Sprachhürden, aber auch wegen der jeweiligen speziellen Medienlandschaften wenig bekannt sein mögen. Sie bieten Lesern, die die Globalisierung der Medien häufig als ein Nebeneinander und eine Durchmischung deutschsprachiger und anglophoner Produkte erleben, einen verfremdenden Blick auf eigene Fernsehgewohnheiten. Die versammelten Beiträge können dabei wenigstens andeuten, welche Vielzahl an unbekannten Formaten in anderen Fernsehkulturen auf ihre wissenschaftliche Übersetzung warten. Unser Dank für Unterstützung bei der Manuskriptgestaltung gilt Martina Stemberger, Veronika Thiel und Hanna Hatzmann. Für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung danken wir dem Österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung sowie der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Die Herausgeber, Wien im Oktober 2010
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FORMAT- UND GENRE-TYPOLOGIEN
»Mode« oder »monde«?1 Zwei Wege zur Definition von Fernsehgenres FRANÇOIS JOST Häufig kommen Studenten zu mir, um mich zu fragen, welchem Genre diese oder jene Sendung zuzuordnen sei, die vor kurzem im Fernsehen gesendet wurde. Und jedes Mal komme ich in dieselbe Verlegenheit: Wie soll ich darauf antworten? Wie soll ich ihnen sagen, dass weder ich noch irgendein anderer Experte über das Genre eines Programms entscheidet und dass man genauso wenig jeder Genrebezeichnung durch Produzenten oder Sender Glauben schenken darf? Bei genauerer Betrachtung scheint mir diese Verlegenheit auf die Unsicherheit zurückzuführen zu sein, die auf jeder Auseinandersetzung mit der Gattungsfrage lastet: Soll man sich ausgehend von den Bildern mittels einer induktiven Vorgangsweise an die Zuordnung zu einer Kategorie durch den Fernsehzuschauer heranarbeiten? Oder sollte die Gattungsdefinition im Gegenteil ausgehend vom Paratext herausgearbeitet werden? Gilt es, Wissen oder aber für die Beschreibung des Kommunikationsprozesses angemessene Werkzeuge zu vermitteln? Offen gesagt, sollte die Theorie in der Lage sein, auf alle diese Fragen zu antworten, da sie verschiedene modellhafte Situationen und Fernsehzuschauer betreffen. Wenn man in einem Hotelzimmer in einem Land ankommt, dessen Sprache man nicht beherrscht ² oder einfach auch wenn man spät abends nach Hause kommt, den Fernseher anschaltet und so ganz zufällig auf Bilder stößt, von denen man rein gar nichts weiß, schon diese Erfahrung genügt, um sich in der erstgenannten Situation wiederzufinden (in der ein Genre ausgehend von Bildern abgeleitet wird). Wie sehen wir Bilder, die wir nicht kennen? Nur eine Sache ist sicher: indem wir sie mit Hilfe von Genreklassifikationen zuordnen und Unbekanntes in Bekanntes verwandeln. 1
Anm. der Übers.: Um das Wortspiel im Französischen wiederzugeben, das darauf basiert, dass sich zwischen den zwei von François Jost verwendeten Begriffen lediglich ein Buchstabe verändert, wurden die französischen Ausdrücke mode (Modus) und monde (Welt) für den Titel beibehalten.
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François Jost Natürlich geht der gewissenhafte Fernsehzuschauer in seinem eigenen Land anders vor: Er plant seinen Abend, indem er das Programm studiert. Außerdem wird er mehrmals am Tag mit Vorankündigungen des Abendprogramms durch Trailer, die vom Sender eingespielt werden, durch Radiosendungen oder Zeitungsartikel konfrontiert. Das Genre ist ihm also im Voraus bekannt, so dass seine Vorgangsweise gleichsam deduktiv wird und von seinem Wissen über das Genre sowie den Erwartungen, die es in ihm weckt, ausgeht. Wie geht die Rekonstruktion des Genres anhand einiger flüchtig erblickter audiovisueller Fragmente vonstatten, ist sie etwa der Arbeit eines Archäologen vergleichbar, der das Alltagsleben ausgehend von der Scherbe einer Amphore rekonstruiert? Wie konstruiert man andererseits den Text, wenn das Genre als Ausgangspunkt fungiert? Die Dualität dieser Frage ließe sich prosaischer ausdrücken: An welchem Ende packt man das Genre richtig an? Eine Möglichkeit, um sich dieser Unsicherheit zu entledigen, wäre die Entscheidung, sich ausschließlich mit den Gattungsetiketten zu befassen. Das entspricht dem von Jean-Marie Schaeffer gewählten Ansatz in 4X·HVW-FHTX·XQJHQUHOLWWpUDLUH"2 Seine Vorgangsweise ist verlockend und, ich muss es wohl zugeben, liegt zum Teil auch meiner Arbeit über die Fernsehgenres zu Grunde. Wenn sie auch den besonders auf das Fernsehen zutreffenden Tatbestand unterstreicht, dass Genrebezeichnungen auf sehr unterschiedliche kommunikative Gegebenheiten verweisen, birgt diese Vorgangsweise für mich dennoch zwei Schwachpunkte: Sie gesteht dem Namensgeber ² ob es sich dabei nun um den Produzenten oder den Sender handelt ² eine überzogene Bedeutung zu und erreicht das Gegenteil dessen, das sie beabsichtigt hatte, da sie, obwohl sie versucht, die Perspektive der Kommunikationssituation einzunehmen, die Genres als statische Klassifizierung versteht, die unabhängig von der Verwendung der Genres für jedermann gültig wäre. Wie packt man also das Genre an beiden Enden an? Damit sind wir bei der Frage angekommen, die ich seit nun gut fünfzehn Jahren zu beantworten versuche. Im Laufe der Jahre habe ich jedoch eine terminologische Verschiebung vorgenommen, ohne mir aber die Zeit zu nehmen, deren Bedeutung zu reflektieren. Und da das Thema dieses Bandes mir die Gelegenheit gibt, auf die Definition von Fernsehgenres zurückzukommen, schlage ich eine epistemologische Vorgangsweise vor, um diese über die Jahre erfolgte Verschiebung nachzuvollziehen. Nachdem ich die Genres zunächst nach ihren Äußerungsmodalitäten (mode G·pQRQFLDWLRQ) kategorisiert hatte, bin ich ein paar Jahre später dazu übergegangen, sie im Hinblick auf
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Jean-Marie Schaeffer: 4X·HVW-FHTX·XQ genre littéraire?, Paris: Seuil 1989.
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»Mode« oder »monde« ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Welt (monde) zu klassifizieren. Im Französischen ist der Modus (mode) von der Welt (monde) nur einen Buchstaben entfernt, aber dunkel ahne ich, dass weit mehr dahinter steckt: wohl mehr ein Paradigmenwechsel als ein Tippfehler! Oder vielleicht auch diese Unschlüssigkeit, von der soeben die Rede war. Der vorliegende Beitrag sei also dieser Verlagerung gewidmet und versucht nachzuvollziehen, was man bei der Anwendung des einen oder des anderen Paradigmas gewinnt oder verliert.
Die Genres als Versprechen Am Ursprung meiner Überlegungen steht zunächst die theoretische Position, das Genre nicht als statische und unantastbare Kategorie, die eine Bedeutung an sich hätte, sondern wie auch bei J.-M. Schaeffer als kommunikative Gegebenheiten zu verstehen. Diese Grundeinstellung erschien und erscheint mir immer noch nötig, um nicht in der Sackgasse einer zum Immanentismus neigenden Semiotik zu enden, welche die Sinnproduktion als einen rein textuellen Vorgang versteht. Insofern das Genre eine für die Interpretation nötige Kategorie darstellt, wäre als erster Schritt die Gattungsfrage aus der Perspektive der Rezeption zu stellen. Für diesen Ansatz ließen die Arbeiten von Sperber und Wilson, die in Relevance das Konzept des Kodes scharf kritisiert haben, wegweisende Fortschritte erkennen:3 Sie wiesen darauf hin, dass die verbale Kommunikation weitgehend auf Schlussfolgerungen der Akteure sowie auf dem gemeinsamen kognitiven Universum, über das diese verfügen, basiert. Fasst man ganz allgemein die kognitive Funktion des Genres für den Fernsehzuseher als ein Streben nach Bedeutung und somit nach einem gesteigerten Weltwissen auf, so liegt es zunächst nahe, nach der Vorgangsweise des Zusehers zu fragen, um von Unbekanntem zu Bekanntem zu gelangen, mit anderen Worten nach den Folgerungen, die er aus der textuellen Realität zieht. So stelle ich auch in Un Monde à notre image4 die Hypothese auf, dass die Kategorisierung audiovisuellen Materials von den Schlussfolgerungen abhängt, die der Zuseher ausgehend vom Text über die ihm zugrundeliegende Intention ableitet. Diese Hervorhebung der auktorialen Intention, die vom Zuseher konstruiert wird, ist natürlich eine pragmatische Kritik am strukturalen Textmodell von 0HW]·6HPLRWLN sowie Genettes Erzähltheorie, die aus Angst, dem Anthropomor3 4
Vgl.: Dan Sperber und Deirdre Wilson: Relevance. Communication and cognition, Oxford: Blackwell 1986. François Jost: Un Monde à notre image. Énonciation, Cinéma, Télévision, Paris: Méridiens-Klincksieck 1992.
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François Jost phismus zu verfallen, Texte letztlich wie autonome, von jeder menschlichen Kommunikation losgelöste Mechanismen behandeln. In dieser Hinsicht war das Fernsehspektakel des CeaucescuProzesses 1989 für mich eine entscheidende Erfahrung, da es aus meiner Sicht durch einen Zufall mitten in eine erzähltheoretische Debatte fiel: Die Aufnahmen zeigten das Diktatoren-Ehepaar vor Gericht, wobei die Richter nie zu sehen waren. In regelmäßigen Abständen blieb das Bild stehen. Insofern Standbilder und unbewegte Einstellungen »nicht als narrative Aussagen gewertet werden können«,5 hätte man als guter Narratologe diese frozen shots als Pausen in der Erzählung verstehen müssen; als tüchtiger Techniker hätte man auch durch technische Probleme bedingte Sendeunterbrechungen vermuten können. Wie es aber die vollständige Aufnahme einige Tage später bestätigte, handelte es sich bei diesen eingefrorenen Bildern um vorsätzliche Schnitte der Richter, also Erzählakte, die hier als Zensur identifiziert werden. Sie traten jedes Mal ein, wenn die Kamera sich den Richtern zugewendet und sie so in dieser Parodie eines Prozesses sichtbar gemacht hätte. Dieses und andere Beispiele legen die Schlussfolgerung nahe, dass der Zuseher ² in manchen Fällen im Laufe der Sendung, in anderen bereits davor ² eine oder mehrere Hypothesen über die Art des Programms formuliert, unter anderem über den Grad menschlicher Einmischung in die Gestaltung der Aufnahmen sowie deren Wirkungsabsicht. So schreibt man den Bildern eines Prozesses nicht dieselbe Bedeutung zu, wenn sie von Überwachungskameras stammen, im Nachhinein geschnitten oder durch eine versteckte Kamera aufgenommen wurden. Die Formulierung dieser Hypothesen bringt den Zuseher dazu, die Aufnahmen als ein Versprechen aufzufassen, das ihn in seiner Wahrnehmung leitet: als ein Versprechen über das Verhältnis von Bild und Wirklichkeit (Authentizität), über den Relevanzgrad der Analyse oder der Synthese von Bild und Ton für das narrative und ästhetische Verständnis.6 All diese Versprechen basieren letztlich auf der anthropoiden Gestalt desjenigen, der den Film mit seinem Abdruck versieht, um etwas über einen realen oder imaginären Referenten zu kommunizieren.
5 6
André Gaudreault: Du littéraire au filmique. Système du récit, Paris/ Québec: Méridiens Klincksieck/3UHVVHVGHO·8QLYHUVLWp/DYDO6 Vgl. hierzu François Jost, »La promesse des genres«, Réseaux 81, Jän./Feb. (1997), S. 11-33.
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nein
nein
nein
nein
ja
ja
nein
Bildeinstellung + oder ² lenkbar
Bearbeitung der Direktaufnahmen + oder ² möglich
Konstruktion der Zeit in Bezug auf die Wirklichkeit
Konstruktion der Zeit in Bezug auf die Handlung
Konstruktion der Zeit aufgrund von ästhetischen Kriterien
+ oder ² aleatorisch
Bildeinstellung + oder ² lenkbar
Bildeinstellungen und Fokalisation + oder ² lenkbar
Konstruktion des Raums in Bezug auf die Wirklichkeit
Konstruktion des Raums in Bezug auf die Handlung
Konstruktion des Raums aufgrund von ästhetischen Kriterien
automatische Aufnahme
nicht arrangierte Direktübertragung
geplante Direktübertragung
Dokumentation
Fiktion
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Film als Werk (Werkcharakter)
jenseits des Narrativen
+
+ oder ²
diesseits des Narrativen
Inventio Narrativität Zeit
Dispositio
Raum
Aufnahmetyp
Folgerungstyp
Versprechen einer künstlerischen Relevanz von Bild und Ton
Versprechen einer erzählerischen Relevanz von Bild und Ton
Versprechen einer gesteigerten Lesbarkeit der Wirklichkeit
Authentizitätsversprechen
Authentizitätsgarantie
Versprechen
Künstler
Erzähler
vom Zeugen zum Erzähler
Zeuge
Ɇ
anthropoide Figur
kinematographische Äußerung
+ narrative Äußerung ² filmische Äußerung
+ oder ² filmische Äußerung ² narrative Äußerung
+ filmische Äußerung ² narrative Äußerung
Betonung der filmischen Äußerung
Ɇ
Äußerungssituation
»Mode« oder »monde«
Formen der Schlussfolgerungen im Hinblick auf den Aufnahmetyp
François Jost Es versteht sich von selbst, dass die Identifizierung des Versprechens vom angeeigneten Wissen, der Beobachtungsgabe des Zusehers, ja sogar von dessen Entscheidung abhängig ist und mit ihnen variiert. Daraus folgt der Gedanke, dass man dieselben Aufnahmen als Fiktion, als Dokumentarfilm oder als Kunstwerk ansehen kann. Der Übergang von einer Rezeption zur anderen erfordert lediglich die Selektion unterschiedlicher relevanter Elemente aus dem audiovisuellen Material (zum Beispiel das Nachvollziehen der narrativen Strukturen für die Fiktion, der Fokus auf die Stadt, die als Kulisse dient, für die Dokumentation, die Analyse der Farbigkeit für die Ästhetik). Letztlich versucht dieser Zugang zur Genrefrage zu erklären, wie die Vorstellung, die ein Zuseher von einem Genre besitzt, die Rezeption einer Aufnahme verändert. Somit ist dieser Ansatz vor allem an der Zusehererwartung orientiert und treibt die Konzeption des Genres als Erwartungshorizont auf die Spitze.
Ontologie des Genres Die zentrale Rolle, die der Konstruktion einer anthropoiden Figur als Ursprung der Äußerung bei deren Interpretation zukommt, leitet einen paradigmatischen Bruch ein: Der Rahmen von Genettes Erzähltheorie, der bis dahin auch meiner war, ist nicht mehr ausreichend, insofern dieser Ansatz den Autor aus seinem Bereich ausschließt.7 Auf den erzähltheoretischen Ansatz von Käte Hamburger trifft dies hingegen nicht zu, deren pragmatische Auffassung der Äußerung dazu einlädt, die Zwangsjacke der Textgrenze zu sprengen. Ausgehend von der Annahme, dass der Unterschied zwischen einer fiktionalen Aussage und einer Wirklichkeitsaussage nicht in ihrem Objekt, sondern dem Subjekt der Äußerung liegt, vollzieht sie eine regelrechte kopernikanische Wende. Es sei daran erinnert, dass für Käte Hamburger die Grenze zwischen Wirklichkeitsaussage und Fiktion durch das Ich verläuft, dem sie entspringen. In der Fiktion, die sich laut der Theoretikerin nur in der dritten Person wirklich realisiert, werden die Aussagen auf einen fiktiven Ich-Ursprung zurückgeführt, worin auch das »psychologische Leseerlebnis des Nichtwirklichen«8 begründet liegt. Die Verwendung der ersten Per7
8
»Je ne suis pas sûr de rester dans les limites du champ narratologique en évoquant, au titre des questions de voix (¿Qui parle?¾), le toujours épineux rapport entre narrateur et auteur« (Gérard Genette: Fiction et diction, Paris: Seuil 1991, S. 79). Dt.: »Ich bin mir nicht sicher, im Zuständigkeitsbereich der Narratologie zu bleiben, wenn ich im Zusammenhang mit der Frage der Stimme (¿Wer spricht?¾) das stets heikle Verhältnis zwischen Erzähler und Autor anschneide.« Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart: Klett 1957, S. 27.
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»Mode« oder »monde« son hingegen erzeuge unweigerlich einen Eindruck von Wirklichkeit. Daher auch die Schwierigkeit, zwischen einem Roman in der IchForm und einer Autobiographie zu unterscheiden: Ersterer trägt immer autofiktionale Züge, die ihn in der Wirklichkeit verankern. In gewisser Weise erinnert die Opposition von realem und fiktivem Ich-Ursprung an Searles Überlegungen zum unterschiedlichen logischen Status von faktualen und fiktionalen Aussagen:9 Erstere sind wörtliche (literal) und ernsthafte (serious) Behauptungen, die sich auf unsere Welt beziehen, während letztere eine wörtliche, aber nicht ernsthafte Aussage darstellen, deren Referenzialität nur vorgetäuscht ist. Der Philosoph fügt aber noch eine dritte Form hinzu: die ernsthafte, nicht wörtlich genommene Behauptung, die er figurativ (figural) nennt und die metaphorische Aussagen bezeichnet, wie zum Beispiel Hegel ist eine Nachtigall. Diese Unterscheidung zwischen einer wörtlichen und einer nicht-wörtlichen Ebene bei ernsthaften Behauptungen schien mir das Problem zu lösen, dem Umberto Eco bei der Klassifizierung des Spiels begegnete, da dieses eine Mittelstellung zwischen Wirklichkeit und Fiktion einnimmt: »Dit-il la vérité ou bien met-il en scène une fiction?«10 Daher auch mein Vorschlag, die Genres aufgrund von drei Äußerungmodalitäten zu klassifizieren: den authentifizierenden Modus, der Sendungen zusammenfasst, die ernsthafte und wörtliche Behauptungen tätigen, die in letzter Instanz auf eine Beweisführung hinauslaufen; der fiktive Modus, der all jene Genres beinhaltet, die auf der Kohärenz des erschaffenen Universums beruhen, und schließlich, zwischen diesen beiden, der Spiel-Modus, »R OD UpDOLWp Q·HVW SDVWRXWjIDLWSULVHSRXUFHTX·elle est et où se constitue un monde qui obéit à ses propres règles«.11
9
Vgl.: John R. Searle: »The Logical Status of Fictional Discourse«, in: New Literary History 6, 2 (1975), S. 319-332. 10 Dt.: »Sagt er die Wahrheit oder inszeniert er eine Fiktion?« Umberto Eco, »Télévision: la transparence perdue«, in: ders., La guerre du faux, Paris: Livre de Poche 1987 [1985], S. 196- 220 (»TV. La trasparenza perduta« 1983), hier: S. 203. 11 Dt.: »>«@in dem es nicht darauf ankommt, wie die Realität als solche ist, sondern eine Welt geschaffen wird, die ihren eigenen Regeln folgt«. François Jost: »Quand y a-t-il énonciation télévisuelle?«, in : Penser la télévision, hg. von Jérôme Bourdon und François Jost, Paris: Nathan 1998, S. 29-58, hier: S. 35.
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François Jost Die Äußerungsmodalitäten des Fernsehens
Dieses Modell weicht vom vorhergehenden insofern ab, als es nicht mehr von a priori festgelegten Genres ausgeht (Direktübertragung, Dokumentation, Fiktion etc.), sondern sich auf einer makroskopischen Ebene platziert, die sowohl die bereits bestehenden wie auch künftigen Genres erfasst. Gleichzeitig situiert sich dieses Modell aber auch auf der Seite des Zusehers. Es ist das Erkennen eines Äußerungsmodus, das einerseits die Positionierung des Zusehers und andererseits die Anwendung von Beurteilungskriterien hinsichtlich des Wahrheitsgehalts der gesamten Aufnahme bedingt. Im Grunde ermöglicht dieses Schema zu zeigen, dass die Interpretation einer Sendung variiert und von ihrer Zuordnung zu dieser oder jener Welt abhängt. Besonders deutlich wird dies an Beispielen, die mit Täuschungen arbeiten, wie jene fingierten belgischen Fernsehnachrichten, in denen die Spaltung Belgiens in zwei Staaten angekündigt wurde: Je nachdem, ob der Journalist ernst genommen oder aber als Darsteller einer Rolle enttarnt wurde, reichte die Reaktion der Zuseher von Angst bis Lachen. Der Vorteil dieses Modells besteht darin, dass es ermöglicht, sowohl die erzähl- als auch die gattungstheoretische Ebene zu artikulieren. In der Tat kann die Verantwortung für die verbalen Äußerungen anhand desselben strukturalen Schemas beschrieben werden, unabhängig davon, um welche Gattung es sich handelt. Der logische Status der hervorgebrachten Aussagen aber variiert je nachdem, welchem Äußerungsmodus sie zugeschrieben werden.
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»Mode« oder »monde« Typen verbaler Vermittlung Audiovisuelle
Direkte Adressierung
Position des
Darstellung
(in)
Kommentators (over)
für die Äußerung verantwortlich Realer Ich-Ursprung
Fernsehsprecher,
Journalist (Subjekt)
² Wirklichkeits-
Reporter,
² Kommentar über
aussage (der Realität
Sonderberichterstatter,
die Welt
entsprechend)
Interviewpartner
² Kommentar über das Bild ² Kommentar über
² Spiel-Aussage
die Vermittlung
(den Regeln entsprechend)
Showmaster, Spielleiter
Voice-over im Videogag
Fiktiver Ich-Ursprung
Expliziter Erzähler
Voice-over
Während die Wirklichkeitsaussage mit der Realität übereinstimmen und der Sprecher in der Lage sein muss, seine Aussage mit Beweisen zu belegen, unterliegt die Spiel-Aussage Regeln oder Riten, die nicht allein vom Sprecher abhängen, sondern im Allgemeinen einer Jury unterliegen, deren Aufgabe es ist, den guten Ablauf des Spiels zu garantieren. Auch das Objekt der Aussage variiert: Die Voiceover des Journalisten bezieht sich auf die Welt, wohingegen zum Beispiel jene des Videogags einen Metakommentar über das Bild darstellt.
Pragmatik des Genres Unter den verschiedenen Kritikpunkten, die an mich herangetragen worden sind, hat mir einer besonders zu denken gegeben: Man hat mir vorgeworfen, dass zwischen meinen drei Äußerungsmodalitäten eine Art Ungleichgewicht bestünde. Während der authentifizierende Modus ein Handeln bzw. einen Prozess suggeriere, beschreiben der fiktive Modus und der Spiel-Modus einen Zustand, eine statische Position. Ich muss zugeben, dass das vorgeschlagene Modell die Möglichkeit voraussetzt, a priori jedes Genre diesem oder jenem Modus zuzuordnen und ihm somit eine Position im Dreieck der Modalitäten zuzuweisen. In gewisser Weise beschreibt diese Kartographie also das ontologische Versprechen des Genres, das beim Fern27
François Jost sehzuschauer eine ganze Reihe an Schlussfolgerungen auslöst, die die Montage, den Grad an Relevanz des Sichtbaren, den Wirklichkeitsanspruch, den man den Bildern zugesteht, etc. betreffen. Insofern aber bei dieser Auffassung der Platz, den jedes Genre zugewiesen bekommt, von der Erwartungshaltung abhängt, die ihm entgegengebracht wird, hat sie den Nachtteil, eher wissenschaftliche Interpretationen zu formalisieren und somit die Position derjenigen erfassen, die über Genres und vor allem über deren diskursive Eigenschaften Bescheid wissen. 2001 habe ich das Kriterium der Äußerungsmodalitäten zu Gunsten jenes der Welten (mondes) aufgegeben. Die Datierung dieses Paradigmenwechsels geschieht nicht aus einer autobiographischen Selbstgefälligkeit heraus: Dieses Jahr war der Schauplatz sowohl eines Ereignisses mit weltweiten Auswirkungen, des Attentats auf das World Trade Center, als auch eines nationalen Ereignisses, das angesichts des ersteren lächerlich erscheint, aber beachtenswert genug war, um drei Mal auf der Titelseite von Le Monde die Schlagzeile zu machen: die Ankunft einer Adaptation von Big Brother in Frankreich. Aus einer semiotischen Perspektive betrachtet, werfen beide Ereignisse auf ihre Art die Frage nach der Kategorisierung von Bildern und der Problematik des Genres auf. Die plötzlich auftauchenden breaking news unterbrachen jäh den Fernsehfluss: Die Bilder des elften September bereiteten vielen Fernsehzusehern Probleme bei der Interpretation. Einer meiner Freunde, seines Zeichens Philosophieprofessor, glaubte zunächst, dass es sich um einen Katastrophenfilm handelte, dann, als er zwischen den Sendern hin und her wechselte, hielt er es für ein durch einen Streik der Staatsbediensteten bedingtes Einheitsprogramm, bevor ihm schließlich klar wurde, dass es sich um ein Ereignis handelte, das sich gerade im echten New York abspielte. Diese besondere Rezeption hat mich auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass die Interpretation im Grunde zunächst semiotisch und nicht narratologisch verfährt. Mit anderen, an Pierce anknüpfenden Worten, versucht der Fernsehzuseher zunächst das Objekt zu eruieren, von dem das Bild das Representamen oder die Darstellung ist, bevor er die narratologische Struktur ergründet, und das bedeutet, dass die Interpretation an erster Stelle von einem globalen Rahmen abhängt, der dem gesamten Prozedere der Erzählung oder des Diskurses Sinn gibt. Wie man es anhand des Beispiels des elften September feststellen kann, schwanken die Bilder zwischen den Polen Wirklichkeit und Fiktion, die weit über die Frage der Genres hinausgehen, aber dennoch für deren Interpretation notwendig sind. Daher rührt der Gedanke, dass Genres semantisch von Archegenres abhängen, die sie enthalten und semantisieren. Darum schlage ich
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»Mode« oder »monde« vor, die drei Äußerungsmodalitäten durch die folgenden drei Welten zu ersetzen:
1. DIE REALE WELT Zunächst gilt es zu wissen, ob die Zeichen auf real in unserer Welt existierende Objekte oder auf reine »Schimären«, also fiktive Entitäten, verweisen. Unsere Welt ist der Interpretant von zahlreichen Genres wie Dokumentationen oder Fernsehnachrichten, was jedoch nicht bedeutet, dass deren Zeichen transparent sind. Auch sagt dies noch nichts über das Wirklichkeitsmodell aus, das historisch gesehen diesen Genres zu Grunde liegt.
2. DIE FIKTIVE WELT Die Fiktion ist damit die Kategorie, die wir am bereitwilligsten der Realität gegenüberstellen, wie es die allgemein verbreitete Redensweise »die Wirklichkeit habe die Fiktion übertroffen« bezeugt. Sobald wir vermuten, dass eine Erzählung einer fiktiven Welt zuzuordnen ist, sind wir bereit, Ereignisse durchgehen zu lassen, denen wir in unserer Welt nicht unbedingt Glauben schenken würden (zum Beispiel Telekinese, Teleportation oder Allwissenheit), oder im Gegenteil, betrachten wir Bilder mit Grauen, deren Inhalt uns keineswegs abgeschreckt hätte, wären sie fiktiv gewesen. In dieser Hinsicht hat der elfte September eine traumatisierende Erfahrung für jene dargestellt, die zunächst geglaubt hatten, beim Zappen durch Zufall auf Bilder eines Hollywood-Katastrophenfilms wie Independance Day gestoßen zu sein, und denen nur zeitlich verzögert klar geworden war, dass es sich dabei um die Wirklichkeit handelte. Auf weit weniger dramatische Weise wurden die belgischen Fernsehnachrichten, die die Spaltung Belgiens ankündigten, vom aufmerksamen Zuseher, dem die zahlreichen Details, die auf den Schwindel hindeuteten, aufgefallen waren, und den viel zahlreicheren Zusehern, die die Information für real hielten, auf sehr unterschiedliche Art rezipiert: Letztere haben die Nachrichten voller Erregung, Angst oder Beklemmung verfolgt.
3. DIE SPIEL-WELT Bis jetzt haben wir »zwei Weisen der Welterzeugung« ins Auge gefasst: entweder indem auf unsere Welt verwiesen wird bzw. auf das, was man üblicherweise Wirklichkeit nennt, oder durch einen Verweis auf erfundene Welt. Diese zwei Welten müssen noch durch eine dritte ergänzt werden: die Spiel-Welt. Dem »im Ernst« der Information, die die Welt zum Referenten hat, und dem »als ob« der Fik29
François Jost tion, das auf ein mentales Universum zielt, muss also ein »zum Spaß« hinzugefügt werden. Diese neue Dreiteilung ist auch eine Antwort auf die Kritik, mit der ich bezüglich des Ungleichgewichts zwischen der durch den authentifizierenden Modus nahe gelegten Handlung und der statischen Position des fiktiven Modus und des Spiel-Modus konfrontiert wurde. In der Tat ist es ein logischer Prozess, der die Interpretanten der Aufnahmen hervorbringt: Das Zeichen wird durch den Verweis auf ein reales (Wirklichkeit) oder imaginäres (Fiktion) Objekt interpretiert, oder macht sich selbst zum Objekt, was beim Spiel immer der Fall ist, das zum Teil als geschlossener Kreislauf sowie selbstreflexiv funktioniert, in dem Regeln befolgt werden, die es sich selbst gesetzt hat. Das zweite Ereignis, das die Frage der Kategorisierung von Bildern in Genres in Frage gestellt hat, war Loft Story, die französische Version von Big Brother. Denn, wenn auch die herkömmlichen Genres (wie Dokumentation oder Fernsehnachrichten) hinsichtlich ihres ontologischen Versprechens kaum Probleme darstellen, so trifft dies im Fall von Reality-TV keineswegs zu. Das Etikett »Reality TV«, das die Bezeichnung von Endemol für Big Brother als »real life docusoap« ersetzte, suggeriert zwar eine starke Verankerung in unserer Welt, aber die Definition des Programms als »reale interaktive Fiktion« ließ schon erkennen, dass die Produzenten eine wandelbare, auf den kommunikativen Bedarf abgestimmte Strategie verfolgen würden: Wenn es darum ging, die Neuheit des Experiments zu preisen, dem sich die Sendung widmete, wurde der Realitätscharakter betont; zur Fiktion und zum Spiel wurde die Sendung, wenn der Moderator in der Absicht, das Publikum zu verführen, diesem die Rolle des Erzählers übergibt, um über Hinauswürfe und die glücklichen Auserwählten zu entscheiden. Die Funktionsweise des Reality-TV zeigt, dass die Frage der Genres nicht auf das ontologische Versprechen oder auf den mit dem Genre verbundenen Erwartungshorizont reduziert werden kann, sondern dass aus einer kommunikativen Perspektive der wichtigste und zugleich komplexeste zu beschreibende Vorgang jener der Namensgebung eines Programms ist. Dieser Taufakt, der dem Programm seine Identität verleiht, erfordert in der Tat nicht die Erfindung des richtigen Namens, wie das bei einem direkt aus Platons Kratylos entsprungenem Onomaturgen der Fall wäre, sondern die Äußerung eines Versprechens über den symbolischen Ertrag, der durch das Verfolgen der Sendung erworben wird, ein pragmatisches Versprechen, das deutlich seine Äußerungsinstanz, seinen Produzenten oder den Sender, aber auch das Wissen und die Überzeugungen des Fernsehzusehers in die Pflicht nimmt. Das Weltwissen spielt insofern eine Rolle, als man, um den Wahrheitsgehalt eines Versprechens beurteilen zu können, in der
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»Mode« oder »monde« Lage sein muss, in Konturen zu umreißen, was man von diesem oder jenem Genre erwarten kann, kurz dessen ontologisches Versprechen einzuschätzen. Pop Star kann hier als heuristisches Fallbeispiel herangezogen werden. Diese Sendung zeigt über mehrere Wochen hinweg die Kulissen eines nationalen Castings für die Besetzung einer weiblichen Popband. Ihr Produzent (Adventure Line der Gruppe Expand) bezeichnet die Sendung als »dokumentarische Serie«. Und damit bekommt er Zugang zum Förderungstopf des CNC (&RPSWHGHVRXWLHQjO·LQGXVWULHGHV3URJUDPPHV)12 und bezieht für jede der drei Staffeln 126 500 Euro, was von den Autorenvereinigungen mit der Begründung, dass die Sendung keinem der konstitutiven Gattungskriterien entspreche, beanstandet wurde. Doch der französische Staatsrat (&RQVHLO G·eWDW) wies die Beschwerde als unbegründet zurück. Das Urteil lautet schließlich, dass Popstars »a pour principal objet de présHQWHUDXSXEOLFO·HQWUDvQHPHQWODIRUPDWLRQHWOD progression, dans le domaine de la chanson, des personnes sélectionnées et de décrire un début de carrière effective, au sein des métiers du spectacle«.13
Außerdem heißt es, die Sendung enthalte Elemente eines Drehbuchs und weise Inszenierung und Schnitt auf, typische Elemente HLQHV¿)HUQVHKZHUNHV¾. »/H &RQVHLO G·eWDW D UHOHYp TXH O·pPLVVLRQ FRPSRUWDLW FHUWHV GHV pOpPHQWV de jeu et de variétés, mais que ceux-FLQHSUpVHQWDLHQWTX·XQFDUDFWqUHDFFHVVRLUH HW Q·pWDLHnt pas de nature à faire regarder Popstars comme relevant principalement du jeu et des variétés.«14
Das Urteil streicht, wie man sieht, die Verankerung der Sendung in der Wirklichkeit auf Kosten der fiktiven Welt und der Spiel-Welt hervor. Wenn man sich daran hält, muss angenommen werden, dass die Dokumentation eine Welt filmen kann, die eigens für die Dreharbeiten inszeniert wird, was allerdings den Erkenntnissen von Bildtheoretikern und Filmschaffenden widerspricht. 12 Anmerkung der Übers.: Staatlicher Förderungsfond für die Entwicklung audiovisueller Produktionen, der sich über eine Steuer auf die Einnahmen der Sender finanziert. 13 Dt.: »>«@ in erster Linie dem Publikum das Training, die Ausbildung und die Entwicklung von ausgewählten Personen im Bereich des Chansons präsentiert und den Beginn einer tatsächlichen Karriere im Bereich der Unterhaltungsindustrie zeigt«. 14 $XV GHP $UEHLWVEHULFKW GHV &RQVHLO 6XSpULHXU GH O·$XGLRYLVXHO Gt.: »Der Staatsrat hat festgestellt, dass die Sendung gewiss Elemente von Spiel- und Unterhaltungssendungen enthält, dass aber diese nur eine untergeordnete Rolle spielen und nicht so geartet sind, Popstars in erster Linie als Spiel und Unterhaltungssendung aufzufassen.«
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François Jost 'DV 9HUVSUHFKHQ EHGHXWHW IU 5LF±XU GLH 'HPRQVWUDWLRQ GHU Authentizität der Person, ihrer Ipseität, weil es eine »préservation de soi«, ein »défi au temps« und ein »déni de changement« voraussetzt.15 Das Versprechen fordert das Vertrauen des Anderen in die Beständigkeit der Verbindlichkeit desjenigen, der es äußert. Infolgedessen hängt die Zustimmung der Zuordnung einer Sendung zu einem Genre auch von dem Vertrauen ab, das man der Äußerungsinstanz entgegenbringt, im vorliegenden Fall dem Sender, der sich aus diesem Grund eine quasi anthropomorphe Identität gibt. Dies geht besonders deutlich am Schulbeispiel der gefälschten belgischen Fernsehnachrichten hervor. An diesem Tag wird das vom RTBF16 gesendete Magazin Questions à la une plötzlich durch eine Sonderausgabe der Fernsehnachrichten unterbrochen, präsentiert vom Starjournalisten des Senders François de Brigode, der die Teilung Belgiens bekannt gibt: Flandern habe soeben einseitig seine Autonomie erklärt. Über zwanzig Minuten kleben die Fernsehzuschauer an ihren Bildschirmen, durch die Nachricht versteinert; sie versuchen nicht, sie nachzuprüfen, 89% der Zuschauer schenken ihr Glauben. Einige Tage später plädiert einer der Verantwortlichen der Sendung, der Produzent des Magazins Strip-tease, der angesichts des verursachten Skandals zur Rechenschaft gezogen wird, der Fehler liege bei den Fernsehzuschauern, die »nicht gelernt haben, Bilder zu lesen«. Noch mehr Zeit verstreicht, und er spricht von einem Scherz, reiht sich selbst in die Nachfolge des belgischen Surrealismus ein und pocht auf seinen Sinn für Scherze. Beim FIPA (Festival international des programmes audiovisuels)17 2007, einem französischen Filmfestival, werden diese gefälschten Fernsehnachrichten schließlich als »Doku-Fiktion« präsentiert. Der Regisseur wundert sich, wie man nur den der Sendung vorausgehenden Hinweis »Dies ist vielleicht keine Fiktion« übergehen und wie die Anspielung auf den berühmten Schriftzug »FHFL Q·HVW pas une pipe«18 der Trahison des images von Magritte dem Fernsehzuseher entgehen konnte. Die Frage ist entweder naiv oder unaufrichtig: Wie hätte ein Zuschauer das Genre der Nachrichtensendung als Fiktion auffassen können, das ontologisch auf die Wirklichkeit 15 3DXO 5LF±XU Soi-même comme un autre, Paris: Seuil, 1995, S. 149; dt.: »Bewahrung des Selbst«, »Herausforderung der Zeit«, »Absage an die Veränderung«. 16 Anmerkung der Übers.: Die Abkürzung RTBF steht für Radio-télévision belge de la Communauté française (dt. Hörfunk und Fernsehen der französischen Gemeinschaft Belgiens). Es handelt sich dabei um den belgischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in französischer Sprache. 17 Anmerkung der Übers.: Das FIPA ist ein Festival für Fernsehproduktionen, das seit 1987 einmal jährlich in Biarritz stattfindet. 18 Dt.: »Dies ist keine Pfeife.«
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»Mode« oder »monde« verweist und dessen Wahrheitsgehalt von einem seriösen Sender wie RTBF garantiert wird? Er hätte sowohl dem Genre als solchem als auch dem Sender, der sich dazu verpflichtet, wörtliche und ernsthafte Aussagen zu treffen, keinen Glauben schenken dürfen. Dies würde einen Fernsehzuschauer voraussetzen, der einem Sender, dessen Verpflichtung zu Wahrheitstreue und Objektivität verbindlich sind, prinzipiell misstrauisch gegenüber stünde. Wir kehren somit zu unserem Ausgangspunkt, einem auf Äußerungsmodalitäten basierenden Modell, zurück. Denn die Fernsehnachrichten sind wahrscheinlich das einzige Genre, wo die im Bild anwesende Äußerungsinstanz dafür garantiert, dass die getätigten Aussagen tatsächlich auf die Wirklichkeit verweisen. Aber zu dieser ersten Ebene ist eine weitere hinzugekommen: jene der Institution, die auf dem Bildschirm nicht sichtbar ist, die ihrerseits für die Aussagen ihres Starjournalisten bürgt. An diesem Punkt wird die Bedeutung deutlich, die der Identität eines Senders zukommt, wenn es darum geht, dass ein Zuschauer dem pragmatischen Versprechen des Anbieters Glauben schenkt. Denn da das Versprechen als Garant für die Ipseität fungiert, für die Identität der Person, da es eine verbindliche Zusage über die Zukunft darstellt, ist auch die Genrebezeichnung durch den Sender mehr oder weniger glaubwürdig, je nachdem, welches Bild man vom jeweiligen Sender hat. Abschließend könnte man auf die eingangs gestellte Frage folgendermaßen antworten: Das Genre als Äußerungsmodus zu begreifen, fällt in den Bereich einer Semio-Narratologie und setzt voraus, dass die wesentliche Trennlinie zwischen Fiktion und Realität durch das Subjekt der Äußerung und nicht durch das repräsentierte Objekt verläuft. Nun genügt es aber, diverse Debatten sowie Rezeptionsberichte aufmerksam zu verfolgen um festzustellen, dass die kopernikanische Wende, von der Käte Hamburgers Theorie ausgeht, keineswegs in den Köpfen angekommen ist. Es genügt schon, dass ein Film vorgibt, sich auf eine wahre Begebenheit zu stützen, damit die Grenzen in den Augen den Zuschauer verschwimmen und der Film letztendlich auf die Seite der Wirklichkeit geschlagen wird (wie es auch die Bezeichnung von Valse avec Bachir als Dokumentarfilm beweist). Die für das Genre konstitutiven Regeln, wie zum Beispiel die Verankerung eines Dokumentarfilms in einem realen Ich-Ursprung, stellen nur für jene ein ontologisches Versprechen dar, die über ein theoretisches Wissen darüber verfügen, was sie von einem Genre erwarten können. Gleichermaßen ist auch die Liste von Folgerungen, die ein Zuseher aus einer Genrebezeichnung zieht, nur für jene gültig, die wissen bzw. berücksichtigen, was man von einem bestimmten Genre erwarten darf (ein wenig der Frage der Kantischen Moral folgend: »was darf ich hoffen?«).
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François Jost Nun ist es aber nicht nötig, Erzähltheorie studiert zu haben, um einen Film rezipieren zu können. Und selbst wenn man weiß, was einen Dokumentarfilm ausmacht, ist es durchaus möglich, einen fiktionalen Fernsehfilm als Dokumentation zu vermitteln (was auf zahlreiche »Doku-Fiktionen« zutrifft, angefangen bei der Odyssée de O·HVSqFH bis hin zu bestimmten historischen Fernsehfilmen). Das Fernsehen ist ein kommunikativer Prozess, gerade weil es seine Objekte bzw. Sendungen in einen den Produzenten, Sendern, Vermittlern und Fernsehzusehern gemeinsamen Raum schickt und weil jeder einzelne sich diese Objekte in einem Prozess aneignet, den man als Verankerung in einer Welt definieren kann. Im Gegensatz zur Beschreibung des Genres aufgrund von Äußerungsmodalitäten, die Vorwissen erfordert, setzt diese Verankerung in einer Welt keine einzige Gewissheit voraus. Sie bezeichnet einen Vorgang der Zuordnung, der allen Akteuren der Kommunikation gemeinsam ist, aber dessen Resultat unterschiedlich ausfallen kann, je nachdem, ob man leichtgläubig, kritisch oder nachsichtig ist und auch entsprechend dem Bild, das man vom Sender besitzt und der Fähigkeit, über die man verfügt, um dessen Autorität in Frage zu stellen (wie es uns die gefälschten belgischen Fernsehnachrichten vor Augen führen). Wie auch jedes literarische Objekt kann dieselbe Sendung verschiedenen Genres angehören. Eine Talkshow bezieht sich auf die reale Welt, als Wortduell kann sie aber auch als Spiel betrachtet werden. Gleichwohl ist es möglich, konstitutive Regeln für das, was die Welten, die den Genres als Interpretanten dienen, sind oder eben nicht sind, aufzustellen: Dies erfordert eine tiefer gehende Reflexion über das Verhältnis von Realität und Fiktion bzw. Fiktion und Spiel. Es ist Sache des Theoretikers ² des Semiotikers oder Philosophen ² diese Kriterien zu erarbeiten. So betrachtet müssen alle Zuweisungen genauer untersucht werden, wenn sie auch nicht gleicher Maßen zulässig sind. Zu akzeptieren, dass ein Gesangswettbewerb dem Bereich des Dokumentarischen zugerechnet wird, erweist sich zum Beispiel als nicht zulässig, wenn man einräumt, dass eine Dokumentation von einer Situation berichtet, die ihr vorausgeht und nicht eigens erschaffen wird, um gefilmt zu werden. Entsprechend dieser Regeln und abhängig von seiner Aufmerksamkeit und seiner Bildung ist der Fernsehzuschauer mehr oder weniger geneigt, die Bedeutungsvorschläge des Senders als gültig anzuerkennen. Eine Fernsehpädagogik muss sich also an der Schnittstelle zwischen Sender und Empfänger ansiedeln. Unter Berücksichtigung der Bedeutungsvorschläge der Sender sowie seines Wissens über die für die Welten konstitutiven Regeln, ist der Empfänger der Mittelsmann, der erwägt, wie viel Vertrauen man ihnen schenken kann, stets die doppelte Unterscheidung im Sinn behaltend, die Ro-
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»Mode« oder »monde« land Barthes seinen Mythologien zugewiesen hat: »die semiologische Demontage« und die »Ideologiekritik«.19 Aus dem Französischen von Veronika Thiel
Literatur Barthes, Roland: Mythologies, Paris: Seuil 1971 [1957]. Eco, Umberto: »Télévision: la transparence perdue«, in: ders., La guerre du faux, Paris : Livre de Poche 1987 [1985], S. 196-220 (»TV. La trasparenza perduta« 1983). Gaudreault, André: Du littéraire au filmique. Système du récit, Paris/Québec: Méridiens Klincksieck/3UHVVHVGHO·8Qiversité Laval 1988. Genette, Gérard: Fiction et diction, Paris: Seuil 1991. Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung, Stuttgart: Klett 1957. Jost, François: Un Monde à notre image. Énonciation, Cinéma, Télévision, Paris: Méridiens-Klincksieck 1992. Jost, François: »La promesse des genres«, Réseaux 81, Jän./Feb. 1997, S. 11-33. Jost, François: »Quand y a-t-il énonciation télévisuelle?«, in: Jérôme Bourdon und François Jost (Hg.), Penser la télévision, Paris: Nathan 1998, S. 29-58. 5LF±XU, Paul: Soi-même comme un autre, Paris: Seuil 1995. Schaeffer, Jean-Marie: 4X·HVW-FH TX·XQ JHQUH OLWWpUDLUH?, Paris: Seuil 1989. Sperber, Dan und Wilson, Deirdre: Relevance. Communication and cognition, Oxford: Blackwell 1986.
19 Roland Barthes: Mythologies, Paris: Seuil 1971 [1957].
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Dokufiktion ² zur Entwicklung hybrider Formen und Formate im Fernsehen CHRISTIAN VON TSCHILSCHKE
Dokufiktion als transmediale, transkulturelle und transgenerische Tendenz Es ist wohl kaum übertrieben zu behaupten, dass die markanteste Tendenz in der Entwicklung des Fernsehens in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren in der Auflösung und massiven wechselseitigen Überschreitung der traditionell festgefügten Grenzen zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Sendeformen besteht. Als Urheber und Produkte dieser Grenzüberschreitung haben sich zahlreiche neue Übergangs- und Mischformate etabliert, unter denen die Doku-Soap und das Reality-TV die bekanntesten sind. Wirft man einen Blick in die Programme der Fernsehanstalten inner- und außerhalb Europas, gewinnt man in der Tat rasch den Eindruck, dass die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion heute so durchlässig ist wie nie zuvor.1 Dabei beschränken sich die Emergenz neuer, hybrider Genres und die Proliferation der zu ihrer Beschreibung und Vermarktung kreierten Begriffe keineswegs auf das Medium Fernsehen. Vielmehr deutet Manches darauf hin, dass sich seit einigen Jahren eine allgemeine und grundlegende Transformation und Neubewertung des Verhältnisses zwischen dokumentarischen und fiktionalen Darstellungsformen vollzieht. So ist neben der Revitalisierung traditioneller Genres wie der (Auto-)Biographie, des historischen Romans, des historischen Films, des Dokumentartheaters und des Dokumentarfilms etwa seit Mitte der 1990er Jahre in den europäischen, 1
9JO 5LFKDUG .LOERUQ ª>@ LQ WRGD\·V EURDGFDVWLQJ ZRUOG WKH ERXQGDULHV between what is imaginatively conceived and what is allegedly factually based are becoming progressively more blurred [...]«. Richard Kilborn: »Playing the Reality Card: Factual TV Programming for a New Broadcasting Age«, Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik, 56/2 (2008), S. 143-151, hier: S. 143.
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Christian von Tschilschke aber auch den außereuropäischen Kulturen eine außerordentliche Konjunktur hybrider Formen zu beobachten, in denen sich fiktionale und faktuale Elemente, Verfahren und Darstellungsstrategien verschränken. Auf den großen internationalen Filmfestivals von Cannes, Venedig und Berlin ist die Annäherung von Dokumentarfilm und Spielfilm nicht zu übersehen und kommt auch bei der Preisvergabe zum Tragen.2 Das Medium, in dem der Trend zur Dokufiktion, wie ich dieses Phänomen nennen möchte, seine größte Dynamik entfaltet, ist jedoch zweifellos das Fernsehen.3 Das Beispiel Spanien, das hier ² mit Seitenblicken auf Frankreich und Deutschland ² im Mittelpunkt stehen soll, bestätigt die allgemeine Tendenz. So gilt etwa die Überlagerung von Dokumentarismus und Fiktion als »uno de los aspectos más llamativos del cine español actual«.4 Und für den in Spanien bislang vergleichsweise schwach ausgeprägten Bereich des Dokumentarfilms hebt Jean-Claude Seguin hervor: »Desde los años de la transición política, nunca el documental había ocupado un lugar tan señalado como desde el nuevo milenio«.5 Dabei schätzt Seguin ebenfalls die Hybridisierung als das dominante Merkmal der aktuellen Ent-
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Auf dem Filmfestival in Cannes 2008 gingen beispielsweise die wichtigsten Auszeichnungen an zwei Dokufiktionen: Entre les murs von Laurent Cantet erhielt die Goldene Palme und Gomorra von Matteo Garrone den Großen Preis der Jury. John Parris Springer und Gary D. Rhodes sprechen allgemein von einer »prevalence of [...] hybrid forms in contemporary media culture«. John Parris Springer/Gary Don Rhodes: »Introduction«, in: Docufictions. Essays on the Intersection of Documentary and Fictional Filmmaking, hg. von Gary Don Rhodes und John Parris Springer, Jefferson, N.C./London: McFarland 2006, S. 1-9, hier: S. 5. Vgl. Fritz Wolf: »Die Vermischung von Wirklichkeit und Inszeniertem, das Spiel mit dem Fiktionalen ist ein wichtiger Bestandteil der ganzen visuellen Kultur geworden. Sie wird allerdings vom Fernsehen als dem Leitmedium ebenso vorangetrieben wie auch in ihm gespiegelt.« Fritz Wolf: Alles Doku ² oder was? Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen, Düsseldorf: Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen 2003, S. 57. Dt.: »einer der auffallendsten Aspekte des aktuellen spanischen Kinos«. Burkhard Pohl/Jörg Türschmann: »Introducción«, in: Miradas glocales. Cine español en el cambio de milenio, hg. von Burkhard Pohl und Jörg Türschmann, Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert 2007, S. 15-25, hier: S. 21. Dt.: »Seit den Jahren des politischen Übergangs zur Demokratie hat der Dokumentarfilm keine so bedeutende Stellung mehr innegehabt wie seit dem neuen Jahrtausend.« Jean-Claude Seguin: »El documental español del tercer milenio: las formas de la transgresión«, in: ebd., S. 55-69, hier: S. 56.
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Hybride Formen und Formate wicklung ein.6 Es überrascht daher kaum, dass sich in der spanischen Erzählliteratur und im Theater der Gegenwart vergleichbare Tendenzen erkennen lassen.7 Doch auch in Spanien ist das Fernsehen der eigentliche Trendsetter. Um sich von der Richtigkeit dieser Feststellung zu überzeugen, genügt eine Stichprobe aus dem TV-Programm der letzten Jahre ² zu einem beliebigen Zeitpunkt.8 Zwischen dem 10. April und 3. Mai 2009 strahlte beispielsweise Televisión Española (TVE), die gebührenfreie, aus öffentlichen Geldern und Werbeeinnahmen finanzierte staatliche spanische Fernsehanstalt, neben Españoles en el mundo, einer Reportageserie, die in jeder Sendung das Schicksal mehrerer jeweils in ein bestimmtes Land ausgewanderter Spanier verfolgt, 112. Héroes en la calle aus, eines der beliebten, an US-amerikanische Vorbilder angelehnten ª¿$FFLGHQWDQG(PHUJHQF\¾-Formats«,9 das zuvor schon in ähnlicher Form in den beiden seit 1988 bzw. 1990 bestehenden privaten Sendern Antena 3 (Alerta 112) und Telecinco (U-24) gelaufen war. Auf Antena 3 konnte man außerdem die Gewichtsverlustserie Cuestión
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Vgl. ebd.: »Este resurgir de un género muy minoritario en el cine español se señala por una doble evolución. Por una parte, la desaparición de los OtPLWHV HQWUH HO FLQH GH ILFFLyQ TXH VH YD ¿GRFXPHQWDOL]DQGR¾ \ HO FLQH GRFXPHQWDO TXH VH HVWi ¿ILFFLRQDOL]DQGR¾ FRQVWLWX\H XQD QRYHGDG HQ HO panorama hispano. Por otra parte, el género juega a su vez con formas narraWLYDV SURSLDV GHO FLQH GH ILFFLyQ >«@© (Dt.: »Dieser Bedeutungszuwachs eines im spanischen Kino stark randständigen Genres ist an einer zweifachen Entwicklung abzulesen. Auf der einen Seite stellt das VerVFKZLQGHQ GHU *UHQ]HQ ]ZLVFKHQ GHP ILNWLRQDOHQ )LOP GHU VLFK ¿GRNuPHQWDULVLHUW¾XQGGHPGRNXPHQWDULVFKHQ)LOPGHUVLFK¿ILNWLRQDOiVLHUW¾HLQ Novum in der spanischen Kinolandschaft dar. Auf der anderen Seite spielt das Genre seinerseits mit narrativen Formen, die dem Spielfilm eigen sind >«@© Vgl. z.B. José Carlos Mainer: Tramas, libros, nombres. Para entender la literatura española, 1944-2000, Barcelona: Anagrama 2005, bes. S. 209217, 223; Christian von Tschilschke/Dagmar Schmelzer (Hg.): Docuficción. Enlaces entre ficción y no-ficción en la cultura española actual, Frankfurt am Main: Vervuert 2010 (im Druck) und José A. Sánchez: Prácticas de lo real en la escena contemporánea, Madrid: Visor 2007. Vgl. zur Situation in Deutschland Dirk Werle: »Fiktion und Dokument. Überlegungen zu einer gar nicht so prekären Relation mit vier Beispielen aus der Gegenwartsliteratur«, in: DokuFiktion, hg. von David Oels, Stephan Porombka und Erhard Schütz, Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen, 1/2 (2006), S. 112-122 und Franz Wille: »Die nuller Jahre«, Theater heute. Jahrbuch (2009), S. 126-138, hier: S. 130-133. Zur Entwicklung des spanischen Fernsehens siehe Manuel Palacio: Historia de la televisión en España, Barcelona: Gedisa 2005. Kilborn: »Playing the Reality Card«, S. 146.
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Christian von Tschilschke de peso, die Gästeeinladungsserie Ven a cenar conmigo und die Hausrenovierungsserie Esta casa era una ruina sehen. Der Kanal Cuatro (seit 2005) zeigte die Dating-Show Elígeme, Telecinco die Kennenlern-Sendung Mujeres y hombres y viceversa sowie die zu den »reality game-docs«10 zu rechnende, dem Muster der britischen Sendung Survivors folgende Inselshow Supervivientes, und La Sexta (seit 2006) bot Crímenes imperfectos an, eine aus den USA importierte Serie über die Auflösung realer Kriminalfälle. Zwei einschläJLJH6HULHQGLHJOHLFKZRKO]XGHQJU|WHQ¿4XRWHQEULQJHUQ¾LPVSDnischen Fernsehen überhaupt gehören, pausierten zum Zeitpunkt der Stichprobe gerade: die seit 2001 von TVE gesendete, mittlerweile bei der elften Staffel angelangte Kultserie Cuéntame cómo pasó, die den Übergang der spanischen Gesellschaft von der Francodiktatur zur Demokratie aus der Perspektive der Alltags- und Familiengeschichte rekonstruiert, und, als Gegenstück zum populären Qualitätsfernsehen und bekanntestes Beispiel für die sogenannte telebasura, das Trash-Fernsehen, die seit 2000 auf Telecinco verbreitete, gleichfalls inzwischen in die elfte Staffel gegangene spanische Big Brother-Version Gran Hermano.11 Die unbestreitbare Fülle und Vielfalt des dokufiktionalen Programmangebots ² in Spanien, aber auch darüber hinaus ² wirft eine Reihe von Fragen auf, denen im Folgenden nachgegangen werden soll. Was sind die möglichen Ursachen für die aktuelle Konjunktur der Dokufiktion im Fernsehen? Wie kann man das Spektrum der unterschiedlichen Formen und Formate adäquat beschreiben? Die 9HUZHQGXQJ GHV %HJULIIV ¿'RNXILNWLRQ¾ LPSOL]LHUW KLHU EHUHLWV HLQH Antwort, die noch zu begründen sein wird. Und weiter: Doku-fiktionale Formate gibt es zwar in allen nationalen Fernsehprogrammen, wie aber lassen sich die kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten und die zweifellos ebenso vorhandenen länderspezifischen Unter-
10 Ebd., S. 147. 11 Zu demselben Zeitpunkt waren im französischen Fernsehen unter anderem das aus Großbritannien stammende Coaching-Format Super Nanny und die DXIGHP%DXHUQKRIDQJHVLHGHOWH¿.XSSHOVKRZ¾ /·DPRXUHVWGDQVOHSUp zu sehen, beide auf dem Privatsender M6, der sich vor allem der Doku-Soap und der télé-réalité angenommen hat. Auf M6 wurden in den Jahren 2001/2002 auch die beiden ersten Staffeln der französischen Version von Big Brother, Loft Story, ausgestrahlt. Das Format wurde dann als Les colocataires (2004) auf M6 bzw. unter den Titeln Nice People (2003) und Secret Story (seit 2007) auf TF1 fortgesetzt. Die größte Zahl dokufiktionaler Sendungen war im fraglichen Zeitraum jedoch im deutschen Fernsehen festzustellen. Allein auf dem Sender RTL 2, der sich als »der Sender für Doku-Soaps« anpreist, wurden sechs Doku-Soaps angeboten, darunter die neunte Staffel von Big Brother. Daneben liefen allein drei Auswanderer-Doku-Soaps, bei Vox, Kabel 1 und der ARD.
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Hybride Formen und Formate schiede erklären? Unterschiede im dokufiktionalen Programmangebot existieren offensichtlich aber auch zwischen privaten und staatlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Sendern. Worin bestehen sie und welches sind ihre Ursachen?
Dokufiktion als neues/altes Phänomen Wer behauptet, dass Dokufiktion ein vergleichsweise neues, allenfalls zehn bis fünfzehn Jahre altes Phänomen sei, sieht sich zunächst mit einer Reihe durchaus berechtigter Einwände konfrontiert. So haben Anthropologen, Ethnologen, Dokumentarfilmer und DQGHUH ¿)HOGIRUVFKHU¾QDWrlich seit jeher um das Paradox gewusst, dass allein ihre Anwesenheit bzw. die der Kamera und der Akt der Beobachtung ausreichten, um das Beobachtete zu beeinflussen. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Akt der Abbildung selbst unvermeidlich eine Abweichung von der Wirklichkeitswahrnehmung zur Folge hat, da für den Zuschauer die filmischen Operationen der Auswahl des Blickobjekts, der Eingrenzung des Blickfeldes, der Festlegung der Blickdauer und der Gestaltung der Blickweise immer schon vollzogen sind. Dabei ist der eigentliche Sündenfall des Dokumentarfilms, der gestaltende Eingriff in die vorgefundene Wirklichkeit, wie das in diesem Zusammenhang immer wieder zitierte Beispiel Robert J. Flahertys (1884-1951) lehrt, so alt wie das Genre selbst. Vieles von dem, was in Flahertys Pionierfilm Nanook of the North (1922) zu sehen ist, etwa die spektakuläre Walross-Jagd, wurde bekanntlich eigens für die Kamera arrangiert, rekonstruiert und inszeniert.12 Eine solche Vorgehensweise ist heute bei jeder Doku-Soap üblich. Das wirft zumindest rückwirkend die Frage auf, RE)ODKHUW\QLFKWHKHUDOV¿(UILQGHUGHU'RNXILNWLRQ¾GHQQDOV¿9DWHU GHV 'RNXPHQWDUILOPV¾ DQ]XVHKHQ VHL13 Schließlich darf auch aus der umgekehrten Perspektive der Hinweis nicht fehlen, dass sich der Spielfilm seinerseits nicht selten der Formen und Techniken des Dokumentarfilms bedient hat ² YRQ 2UVRQ :HOOHV· Citizen Kane 12 9JO ]X GHQ ¿0DQLSXODWLRQHQ¾ )ODKHUW\V %ULDQ :LQVWRQ Claiming the Real. The Griersonian Documentary and Its Legitimations, London: British Film Institute 1990, S. 99-103. 13 Vgl. François Garçon: »Le documentaire historique au péril du docufiction«, Vingtième Siècle 88 (2005), S. 95-108, hier: S. 104, der den Produzenten Yves Jeanneau zitiert. Einen ähnlich ambivalenten Gründungsstatus kann Luis Buñuels surrealistischer Dokumentarfilm Las Hurdes/Tierra sin pan (1932) für die spanische Kultur beanspruchen. Mit dem Verhältnis dieser beiden Filme zueinander beschäftigt sich Jared F. Green: »This Reality Which Is Not One: Flaherty, Buñuel and the Irrealism of Documentary Cinema«, in: Rhodes/Springer: Docufictions, S. 64-87.
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Christian von Tschilschke (1941) über Woody Allens Zelig (1983), Oliver Stones JFK (1991) und Robert Zemeckis Forrest Gump (1994) bis hin zu Daniel Myricks und Eduardo Sánchez·The Blair Witch Project (1999). Abgesehen von der grundsätzlichen Kritik an der Authentizitätsillusion des Dokumentarischen und dem Verweis auf die immer schon bestehenden Wechselwirkungen zwischen Dokumentar- und Spielfilm, lässt sich gegen die Behauptung, dass insbesondere die televisuelle Dokufiktion eine relativ neuartige Erscheinung sei, natürlich auch das Argument ins Feld führen, dass das Fernsehen sowieso das hybride Medium schlechthin sei, weil sich in ihm von Anfang an und in weit größerem Ausmaß als in anderen Medien faktuale und fiktionale Anteile mischen: Es wechseln Livesendungen und Aufzeichnungen, Studioszenen und Außenaufnahmen, Dokumentarfilme und Spielfilme, es folgen Nachrichten auf Wettbewerbe, Shows auf Berichte, Magazine auf Spiele und Serien usw., unterbrochen von Werbespots innerhalb einzelner Sendungen und dazwischen. Diese Mischung ² Ausdruck der dominanten Unterhaltungsfunktion des Fernsehens ² ist durch das Sendegebot insgesamt und das Programmschema jedes einzelnen Senders im Voraus festgelegt, wird aber unter Umständen vom Zuschauer durch Zappen noch zusätzlich verstärkt.14 Darüber hinaus kann aus dieser Perspektive geltend gemacht werden, dass sich schon in frühen Fernsehdokumentationen erste Spuren der Vermischung von Faktischem und Fiktionalem finden lassen. So stellte man etwa aus Mangel an authentischem Archivmaterial Szenen nach ² das sogenannte Re-Enactment ² oder griff auf Ausschnitte aus Spielfilmen zurück, ohne diese eigens kenntlich zu machen. Für die spanische Fernsehanstalt TVE hat das ab 1967 unter anderem Jaime Barroso gezeigt.15 Barroso verweist auch auf die Serien Vivir cada día (1978-1982/1983-1988), die in dramatisierter Form Einblicke in das Berufs- XQG $OOWDJVOHEHQ GHV ¿HLQIaFKHQ¾ 6SDQLHUV YHUPLWWHOWH XQG Crónicas urbanas (1991-1992), die fiktionale Episoden zu gesellschaftlich sensiblen Themen (Spielsucht, Schwangerschaften von Jugendlichen, Rassismus, Sektenwesen etc.) mit journalistischen Elementen (Interviews, Expertenge14 Vgl. ebenso Fritz Wolf: »Das Fernsehprogramm als Ganzes ist ein hybrides Konstrukt, in dem sich Reales und Inszeniertes, Gefundenes und Erfundenes mischen. Wer häufig durch die Kanäle zappt, rührt sich selbst ständig seinen Genre-Mix an. Wer niemals auf andere Kanäle schaltet, bekommt trotzdem ein hybrides Programm vorgesetzt.« Wolf: Alles Doku ² oder was?, S. 71. 15 Jaime Barroso: »Docudrama y otras formas en el límite de la ficción televisiva española«, in: Nada es lo que parece. Falsos documentales, hibridaciones y mestizajes del documental en España, hg. von María Luisa Ortega, Madrid: Ocho y medio 2005, S. 171-206, hier: S. 177-183.
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Hybride Formen und Formate sprächen, Statistiken etc.) verschmolz. Beide Serien stellen nach Barroso frühe Formen des fernsehspezifischen Hybridgenres DokuDrama dar. Trotz der genannten Einwände, die alle auf der Künstlichkeit der Dichotomie Dokument/Fiktion insistieren, sei es in Bezug auf die mediale Repräsentation der Wirklichkeit im Allgemeinen oder das Medium Fernsehen bzw. einzelne Fernsehgenres im Besonderen, lässt sich mit guten Gründen behaupten, dass sich in den 1990er Jahren ein qualitativer und quantitativer Wandel im Verhältnis fiktionaler und faktualer Darstellungsformen vollzogen hat. Dieser Wandel ging in entscheidendem Maße vom Fernsehen bzw. der radikalen weltweiten Transformation der Fernsehsysteme aus und lieferte überhaupt erst den Anlass dafür, dass verstärkt auch frühere Formen der Annäherung von Dokument und Fiktion in den Blick genommen wurden.16 Außerdem ist es sicherlich symptomaWLVFK GDVV DXFK GDV $XINRPPHQ GHV %HJULIIV ¿'RNXILNWLRQ¾ LQ GLHsen Zeitraum fällt. Im Bereich des Fernsehens, der seit dem Ende der 1980er und dem Beginn der 1990er Jahre von der Multiplikation der Kanäle, der Fragmentierung des Publikums, der Ausbildung von Nischenprogrammen, der Entstehung digitaler Angebote und einem gestiegenen Kommerzialisierungsdruck geprägt ist, lässt sich die Tendenz zur Hybridisierung des Fiktionalen und des Faktualen als Ergebnis eines dreifachen Konvergenzprozesses erklären.
Dokufiktion als Produkt einer dreifachen Konvergenz Dieser Konvergenzprozess betrifft zunächst das Verhältnis von öffentlich-rechtlichem Fernsehen und Privatfernsehen. Dabei war es, anders als es das Klischee will, keineswegs ausschließlich so, dass das öffentliche Fernsehen unter dem Druck der Einschaltquoten das Programmangebot der Privatsender einfach nachgeahmt hätte. Historisch gestaltete sich die Annäherung zwischen öffentlichem und privatem Fernsehen vielmehr in Form eines Chiasmus. Natürlich verdankt sich die forcierte Entwicklung neuer Formen des Dokumentarischen im öffentlichen Fernsehen einem letztlich ökonomisch begründeten Zwang zur Unterhaltung, der ursprünglich 16 Vgl. John Parris Springer und Gary Don Rhodes: »It was not until the last quarter of the twentieth century, under the influence of television and other new media, that filmmakers (and then critics and theorists) began questioning the old dichotomies that had held narrative and documentary film apart for so long.« Springer/Rhodes: »Introduction«, S. 3. Die Autoren bezeichnen docufiction als »emerging genre which, paradoxically, is as old as the cinema itself.« Ebd., S. 9.
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Christian von Tschilschke von den Privatsendern ausging. Doch gerade in Bezug auf bestimmte innovative Formate, wie etwa die extrem erfolgreiche DokuSoap, kam der entscheidende Impuls von öffentlichen Anstalten, in diesem Fall der BBC, die das Format Mitte der 1990er Jahre entwickelte, um sich gegenüber der neuen Konkurrenz der Privatsender zu behaupten.17 In umgekehrter Richtung ist vor allem bemerkenswert, dass mit den hybriden Formaten und im Anschluss an sie ² wie oberflächlich diese Adaption im konkreten Fall auch immer sein mag ² Formen der Dokumentation ins Privatfernsehen Einzug hielten, in dem Dokumentarisches bis dahin keinen Platz hatte. Die Konvergenz zwischen öffentlichem und privatem Fernsehen spiegelt sich außerdem in der Kontamination faktualer und fiktionaler Sendungen in den Programmschemas der jeweiligen Sender selbst.18 In den öffentlichen Programmen schlug sich dieser Prozess YRUDOOHPDOV7UHQG]XP¿,QIRWDLQPHQW¾QLHGHU'LH9HUVWlUNXQJGHV Unterhaltungsaspekts in den von Haus aus primär auf Information und Bildung ausgerichteten nicht-fiktionalen Formaten erfolgte im Wesentlichen über den Aufbau von Spannungs- und Emotionspotenzialen. Das wiederum bedeutete Narrativisierung und Fiktionalisierung. In den privaten Programmen kam es dagegen zu einer Ausweitung der dokumentarischen Anteile. Hier wurde die Erkenntnis wirksam, dass sich durch den kalkulierten Einsatz der Codes, Konventionen und Verfahren des Dokumentarfilms die Attraktivität des dominant auf Unterhaltung ausgelegten Programms erheblich steigern ließ. Konvergenz lässt sich schließlich auch auf der Ebene der Ausbildung einzelner hybrider Formate beobachten, und zwar in Gestalt der zunehmenden Mischung faktualer und fiktionaler Elemente innerhalb bestimmter Sendungen. Diese Entwicklung resultiert hauptsächlich aus dem Zwang zur quotenabhängigen ¿Formatierung¾ der Fernsehprogramme.19 Die Formatierung wiederum zieht
17 Die notorische Vorreiterrolle der BBC charakterisiert Richard Kilborne wie folgt: »By the early 1990s, for instance, the BBC had begun to recognize that, in the face of stiff competition from its commercial rivals, it would need to popularize at least part of its programme provision in order to be in a better bargaining position with the British government over the setting of the TV license fee. It was, arguably, this popularizing imperative that led in part to the mini-explosion of docu-soaps, that graced UK screens in the mid to late 1990s.« Kilborn: »Playing the Reality Card«, S. 145. 18 Vgl. dazu die Metaphorik des spanischen Autors und (Fernseh-)Regisseurs Javier Maqua: »el virus del docudrama infectaba toda la programación« (dt.: »der Virus des Doku-Dramas infizierte die gesamte Programmgestaltung«). Zit. nach Barroso: »Docudrama«, S. 196. 19 Vgl. die Definition von Fritz Wolf: »Die Formatierung des Programms dient der quotenbezogenen Optimierung der Inhalte, ihrer Präsentationsformen
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Hybride Formen und Formate die Ausdifferenzierung vorhandener Genres nach sich und macht die Abgrenzung der einzelnen Formate immer schwieriger, denn einerseits müssen die Sender den Zuschauern ständig Neues bieten, andererseits dürfen sie die durch das Format geweckten Erwartungen nicht enttäuschen. Das ändert nichts daran bzw. ist gerade einer der Gründe dafür, dass sich die öffentlichen Fernsehanstalten weiterhin auf ihren Bildungs- und Informationsauftrag und die damit verbundenen höheren ethisch-journalistischen Maßstäbe berufen, auch wenn sie in der Sache genauso auf den Voyeurismus der Zuschauer spekulieren wie die in dieser Hinsicht weniger zurückhaltenden Privatsender. So wurde beispielsweise anlässlich der Premiere der von TVE anfänglich freitags zur Prime Time ausgestrahlten Notfall- und Rettungsserie 112. Héroes en la calle betont, dass kein Blut gezeigt und die Personenwürde geachtet werde.20 Die Einsätze, die in der ersten Folge mitzuerleben waren ² der Brand in der Wohnung eines taubstummen Ehepaars, der Frontalzusammenstoß zwischen einem Motorrad und einem PKW etc. ² appellierten dann jedoch unverhohlen an die Sensationsgier der Zuschauer. Die Tatsache, dass gerade das Medium Fernsehen, zumal unter Bedingungen zunehmender Formatierung, der Vermischung der Genres und Darstellungsformen in besonderer Weise entgegenkommt, darf indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gleichzeitig auch genauer als andere Medien darauf achten muss, dem Zuschauer über eine geeignete desambiguierende Rahmung verlässlich zu signalisieren, ob er grundsätzlich von der Faktizität oder der Fiktionalität des Gezeigten auszugehen hat. Fakes können sich weder im öffentlichen noch im privaten Fernsehen behaupten. Das Risiko des Glaubwürdigkeitsverlusts ist zu hoch.21 Ironischer-
und Zuschaueradressierungen. Formate sind ein logisches Resultat der Organisation von Fernsehprogrammen in Sendeschemata. Diese sollen gewährleisten, dass die Zuschauer in der Fülle der Programme bekannte Sendungen wiederfinden. Sie sollen auch sicherstellen, dass Zuschauer beim eingeschalteten Kanal bleiben, weil sie wissen, dass eine bestimmte Sendung auf sie zukommt oder jedenfalls ein bestimmter Sendungstyp in einer erwartbaren Stimmungslage. Formatierung dient auch als Mittel, den ¿DXGLHQFH IORZ¾ ]X VLFKHUQ© )ULW] :ROI Trends und Perspektiven für die dokumentarische Form im Fernsehen. Eine Fortschreibung der Studie »Alles Doku ² oder was. Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen«, Düsseldorf 2005, S. 3f.; http://www.-dokville.de/dokville 2005/schriften/Fritz-Wolf.pdf . 20 Vgl. 112. Héroes en la calle (12.10.2008); http://www.cosasdetv.es/112heroes-calle/ . 21 So meint etwa Jaime Barroso: »Sin embargo, el falso documental (fake, mockumentary« TXH GHVGH SDUHFH KDEHU WHQLGR fortuna entre
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Christian von Tschilschke weise wird das gerade an der Diskussion um Big Brother deutlich. Nachdem sich das Realitätsversprechen, die Aussicht, einem wertvollen und lehrreichen Sozialexperiment beizuwohnen, mit dem die Sendung ursprünglich vermarktet wurde, nicht halten ließ, haben sich Produzenten, Zuschauer und Kritiker schnell darauf geeinigt, VLHDOV¿ILNWLRQDO¾HLQ]XVWXIHQ22
Elemente einer Poetik der televisuellen Dokufiktion Die Vielzahl, die zum Teil kurze Lebensdauer und die ständige Ausdifferenzierung hybrider Formen machen ihre Beschreibung und Klassifizierung, aber auch jede verallgemeinernde Aussage außerordentlich schwierig. So werden die eingangs zitierten Sendungen ]XP %HLVSLHO DOV ¿'RNXVKRZ¾ ¿'RFXUHDOLW\¾ ¿'Rku-6RDS¾ ¿5HDO-Life'RNX¾ ¿5HDOLW\VKRZ¾ XVZ DQJHERWHQ 0HLQHUVWHU 9RUVFKODJ LVW Gaher, den gesamten Gegenstandsbereich mit dem Oberbegriff ¿'RNXILNWLRQ¾ ]X EH]HLFKQHQ (V JLEW ]XU]HLW NHLQHQ anderen Ausdruck, mit dem sich die in Frage stehenden hybriden Gebilde in so prägnanter und ökonomischer Form benennen ließen. Das Wort ¿'RNXILNWLRQ¾ füllt eine lexikalische Lücke ² und das gleich in mehreren Sprachen, denn es unterscheidet sich kaum von seinen grupos de cineastas experimentales o contractuales, no ha tenido parangón ni apenas existencia en la televisión más allá de algún caso de reportaje fraudulento que una vez descubierto ha generado la correspondiente sanción laboral e incluso el procesamiento judicial.« (Dt.: »Der falsche DoNXPHQWDUILOP >«@ GHU VHLW XQWHU H[SHULPHQWHOOHQ RGHU IUHLVFKDIfenden Filmemachern einen gewissen Erfolg zu haben schien, hat jedoch im Fernsehen keine Nachahmer und auch sonst kaum einen Niederschlag gefunden, wenn man von dem einen oder anderen Fall einer gefälschten Reportage absieht, die sofort nach ihrer Aufdeckung die entsprechenden arbeits- und sogar strafrechtlichen Sanktionen nach sich gezogen hat.« Barroso: »Docudrama«, S. 201. Vgl. zum Thema falscher Dokumentarfilm Jordi Sánchez-Navarro/Andrés Hispano: Imágenes para la sospecha. Falsos documentales y otras piruetas de la no-ficción, Barcelona: Glenat 2001. Natürlich kommen Fakes und Hoaxes dennoch immer wieder vor, wie zum Beispiel die 2007 im niederländischen Fernsehen ausgestrahlte, am Ende als Täuschung enttarnte Game-Show De Grote Donorshow, in der eine menschliche Niere als Spenderorgan zu gewinnen war. 22 Am Beispiel der französischen Version Loft Story hat François Jost diesen Einstellungswandel beschrieben (IntroGXFWLRQ j O·DQDO\VH GH OD WpOpYLVLRQ, Paris: Ellipses Édition Marketing 32007 [1999], S. 156f.) Vgl. auch Kilborn: »Playing the Reality Card«, S. 148 und Ángel Custodio Gómez González: »Cuando la historia se hace ficción: nuevos nombres y nuevas formas para el documental televisivo de grán público en España«, in: Ortega: Nada es lo que parece, S. 207-234, hier: S. 210.
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Hybride Formen und Formate fremdsprachigen Äquivalenten (engl. docufiction; frz. docufiction; span. docuficción). Allerdings hat diese Leistung ihren Preis. Er besteht in einer unvermeidlichen semantischen Unschärfe, denn entweder wird dabei das Dokumentarische mit dem Faktischen gleichgesetzt, wodurch der Bedeutungsunterschied zwischen den beiden Begriffen verschwindet, oder es werden mit ¿Dokument¾ und ¿Fiktion¾ zwei Begriffe einander gegenübergestellt, die nicht auf derselben logischen Anschauungsebene liegen. Mein zweiter Vorschlag zielt darauf ab, Dokufiktion nicht als Gattung, Genre oder Format zu definieren, sondern als medien- und gattungsübergreifenden Darstellungsmodus, in dem sich, auf jeweils medienspezifische Weise, dokumentarische und fiktionale Elemente, Verfahren und Strategien verschränken. Dokumentarisch soll in diesem Fall heißen: womit sich der Anspruch auf Faktizität verbindet, fiktional: woran dieser Anspruch nicht gestellt wird. SoZHLW VLH ]XU (U]HXJXQJ GHV (LQGUXFNV HV PLW ¿Fiktion¾ ]X WXQ ]X haben, beitragen, sollen dabei dem Pol der Fiktion auch die Kategorien Narration, Inszenierung und Spiel zugeschlagen werden, ohne die bei der Beschreibung von Dokufiktion nicht auszukommen ist, die aber natürlich bei einer stärker analytischen Vorgehensweise eine gesonderte Behandlung erfahren müssten.23 Zur Klassifizierung des Gegenstandsfeldes bietet es sich zunächst an, von bestimmten hybriden fernsehspezifischen Grundformen auszugehen, die sich historisch herausgebildet haben. Diese Grundformen zeichnen sich durch mehr oder weniger feste Kopplungen dokumentarischer und fiktionaler Bestandteile aus. Relativ verfestigte Formen sind das Doku-Drama und die Doku-Soap, die mittlerweile auch als eigene Genres betrachtet werden. Während sich das Doku-Drama auf der Grenze zwischen den Genres Spielund Dokumentarfilm bewegt ² dokumentarische Elemente wie Archivaufnahmen und Interviews mit Zeitzeugen werden mit inszenierten, von Schauspielern verkörperten Handlungselementen kombiniert ², folgt die Doku-Soap in dokumentarischem Stil und in der Regel in Parallelmontage den dramaturgisch strukturierten Erlebnissen verschiedener Protagonisten ² Richard Kilborn spricht von »character-centred storylines«24 ² über mehrere Folgen hinweg. Der %HJULII¿5HDOLWlWVIHUQVHKHQ¾LVWGDJHJHQZHLWHUJHIDVVWHUEHWRQWGHQ Ereignischarakter des Dargestellten ² ob in natürlichen oder künst-
23 So unterscheidet beispielsweise François Jost zwischen drei verschiedenen Weltbezügen des Fernsehens: »monde réel« (»Wirklichkeit«), »monde fictif« (»Fiktion«) und »monde ludique« (»Spiel«). Ebd., S. 31f. 24 Kilborn: »Playing the Reality Card«, S. 146.
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Christian von Tschilschke lichen Situationen. Reality-TV ist in der Regel seriell, häufig kommen Spielelemente dazu.25 Eine solche synthetische, an Gattungsvorstellungen orientierte und auf die Bildung von Typologien ausgerichtete Vorgehensweise stößt allerdings im Bereich der Dokufiktion sehr schnell an ihre Grenzen. Sie entspricht zwar bis zu einem gewissen Grad dem Formatierungszwang der Programmplanung, kollidiert jedoch andererseits mit dem Innovationsdruck, der zu ständig neuen Produkten und Namensbildungen führt. Die Beschreibungsform, die der Dokufiktion daher am ehesten beizukommen verspricht, ist ein Baukastenprinzip, das es erlaubt, Hybridisierung in der widersprüchlichen Enkodierung auf der Ebene des vorfilmischen Raums, der Abbildung durch die Kamera und der Montage sowie im Zusammenspiel dieser Ebenen untereinander zu erfassen. Dabei kommt der Frage nach der Konzeption des vorfilmisch Realen ² die sich schon für die Dokumentarfilme Flahertys stellte ² besonderes Gewicht zu: Handelt es sich um eine vorgefundene oder eine eigens hergestellte Situation, hat ein Casting stattgefunden oder nicht, welche Rolle spielen Planung und Zufall usw.? So sehr sich der Gegenstandsbereich der Dokufiktion einer stichhaltigen Typologisierung entzieht, so nachdrücklich bietet er sich doch zu einer Skalierung, einer Einteilung nach graduellen Unterschieden an. Kaum jemand, der sich mit Dokufiktion beschäftigt, verzichtet auf einen entsprechenden Vorschlag.26 Eine hybride Reportageserie wie 112. Héroes en la calle, die reale, mit Handkamera und in Originalton aufgezeichnete Rettungseinsätze zu spanQHQGHQ XQG DP 6FKOXVV MHZHLOV PLW HLQHU ¿0RUDO¾ YHUVHKHQHQ Mikrodramen verdichtet, müsste demnach auf einer Skala der DoNXILNWLRQ GHP 3RO ¿'RNXPHQW¾ ]XJHRUGQHW ZHUGHQ 'LH ILNWLYH DEHU historischer Authentizität verpflichtete und audiovisuelle Originaldokumente geschickt einsetzende Geschichts-Soap Cuéntame cómo pasó ZlUHGDJHJHQQDKHDP3RO¿)LNWLRQ¾]XORNDOLVLHUHQ
25 Unter den zahlreichen Publikationen zum Thema seien die folgenden hervorgehoben: Derek Paget: No other way to tell it. Dramadoc/docudrama on television, Manchester: Manchester University Press 1998; Richard Kilborn: Staging the real. Factual TV programming in the age of »Big Brother«, Manchester/New York: Manchester University Press 2003; Wolf: Alles Doku ² oder was?. 26 Derrick de Kerckhove unterscheidet beispielsweise nach dem »Gesetz der abnehmenden Realität« auf einer siebenstufigen Skala zwischen Live-Sendungen auf der einen und historischen Spielfilmen auf der anderen Seite. Derrick de Kerckhove: »Brauchen wir, in einer Realität wie der unseren, noch Fiktionen?«, in: Medien-Welten, Wirklichkeiten, hg. von Gianni Vattimo und Wolfgang Welsch, München: Fink 1998, S. 187-200, hier: S. 190. Siehe auch die achtstufige Skala bei Barroso: »Docudrama«, S. 174-177.
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Hybride Formen und Formate
Dokufiktion kulturspezifisch Wenn man einmal von singulären Fällen wie Cuéntame cómo pasó absieht, zeichnen sich Fernsehformate heute in der Regel durch eine hohe Migrationsdynamik aus. Dokufiktionale Formate machen davon keine Ausnahme. Sie wandern innerhalb eines Fernsehprogramms von einem Sendeplatz auf den anderen, sie wechseln zwischen den Sendern, auch zwischen öffentlichen und privaten, und sie zirkulieren zwischen verschiedenen Ländern, ganz im Sinne der Produktionsgesellschaften, die ihre Formate möglichst weltweit verkaufen wollen. Mit der wachsenden internationalen Verbreitung dieser Formate stellt sich im Gegenzug auch verstärkt die Frage nach ihrer kulturspezifischen Anpassung und Ausprägung. Die im Folgenden angeführten Beispiele werfen ein Schlaglicht auf diesen Problemkreis, der ansonsten meist zugunsten historischer und systematischer Aspekte in den Hintergrund tritt. Ungeachtet des überall wirksamen Prozesses der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung, unterscheiden sich die nationalen Fernsehsysteme weiterhin durch bestimmte Eigenarten. So ist etwa die bereits erwähnte Auswanderer-Serie Españoles en el mundo, die im Übrigen in der historischen Problematik der Arbeitsemigration und des politischen Exils einen spezifisch spanischen Hintergrund besitzt, als direkte Antwort auf entsprechende sehr erfolgreiche Programmangebote der Fernsehanstalten der autonomen Regionen zu betrachten, deren Sendungen Afers exteriors (3 Televisió de Catalunya), Aragoneses por el mundo (Aragón Televisión), Andaluces por el mundo (Canal Sur Televisión) oder Asturianos por el mundo (Radiotelevisión del Principado de Asturias) heißen. Was die Notfall-Serie 112. Héroes en la calle betrifft, so versteht sie sich nicht nur explizit als Hommage an eine Berufsgruppe (Ärzte, Sanitäter, Polizisten, Feuerwehrleute etc.), die dem Gemeinwohl dient, sondern bekräftigt auch stillschweigend das Sicherheitsversprechen des Staates gegenüber den Bürgern, ohne dabei die Leistung der lokalen und regionalen Einsatzkräfte zu schmälern. Das im Ganzen versöhnliche Geschichtsbild schließlich, das die Serie Cuéntame cómo pasó vermittelt, besitzt ebenfalls integrativen Charakter.27 In allen drei Fällen handelt es sich nicht nur um Sen27 So auch Elena Cueto Asín, deren Urteil hier stellvertretend für zahlreiche Untersuchungen zitiert wird, die sich bereits mit der Serie befasst haben: »Se trata de una revisión en gran medida reconciliadora pero progresivamente inquisitiva.« (Dt.: »Es handelt sich um eine in hohem Maße versöhnliche, aber zunehmend inquisitive Revision.«). Elena Cueto Asín: »Memorias de progreso y violencia: la Guerra Civil en Cuéntame cómo pasó«, in: Historias de la pequeña pantalla. Representaciones históricas en la
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Christian von Tschilschke dungen der öffentlich-rechtlichen Televisión Española, es geht jeweils auch darum, die Einheit des spanischen Nationalstaats als ¿LPDJLQHGFRmPXQLW\¾%HQHGLFW$QGHUVRQ ]XVWlUNHQJHJHQGHQ ² so muss man unterstellen ² zentrifugalen Medieneinfluss der autonomen Regionen. Diese Spannung zwischen Staat und Region, die bis in die dokufiktionalen Formate hineinwirkt, darf als ein spezifisches Merkmal des nationalen spanischen Fernsehsystems gelten, das über den allgemeinen Gegensatz von öffentlichen und privaten Anbietern hinausgeht.28 Das am häufigsten untersuchte und auch schon vielfach kontrastiv behandelte Beispiel, an dem sich die landesspezifische Ausprägung weltweit in Lizenz vermarkteter Formate am besten studieren lässt, ist nach wie vor das von der niederländischen Firma Endemol, die heute dem spanischen Telekommunikations- und Medienkonzern Telefónica gehört, entwickelte Format Big Brother (Gran Hermano, Loft Story etc.).29 Nicht nur, dass die Sendung in den einzelnen Ländern unterschiedlichen Erfolg hat, auch das Grundarrangement, die Dramaturgie und die Auslotung der Tabugrenzen, die Dosierung dessen, was jeweils gezeigt wird und was nicht, variieren von Land zu Land.30 Spanien ist schon deswegen ein besonderer Fall, weil hier international und vor allem auch im Vergleich mit Deutschland und Frankreich bei weitem die höchsten Marktanteile erzielt wurden, das Publikum durchschnittlich gebildeter war, die Kritik trotz ausgiebig zur Schau gestellter Intimitäten insgesamt weniger scharf ausfiel und das dauerhafteste Interesse zu beobachten ist. Wenn man außerdem berücksichtigt, dass Gran Hermano gerade auch in Spanien als soziologisches Experiment positioniert wurde, dann leuchtet Elke Kronwalds Erklärung ein, dass für den singulären Erfolg, den die Sendung in Spanien verzeichnen konnte, spezifische Kulturstandards ausschlaggebend sind, bei
televisión de la España democrática, hg. von Francisca López u.a., Madrid/Frankfurt am Main: Ibero-americana/Vervuert 2009, S. 137-156, hier: S. 155. 28 Vgl. Richard Maxwell: »Spatial Eruptions, Global Grids: Regionalist TV in Spain and Dialectics of Identity Politics«, in: Refiguring Spain. Cinema/Media-/Representation, hg. von Marsha Kinder, Durham/London: Duke University Press 1997, S. 260-283, hier: S. 266: »[...] the Spanish media experience is theoretically decisive because it is constituted by a clear, if conflict-ridden, articulation of local, national, and transnational media spaces.«. 29 Vgl. z.B. Ernest Mathijs/Janet Jones (Hg.): Big Brother International. Formats, Critics and Publics, London/New York: Wallflower Press 2004. 30 Vgl. das Kapitel »Local regulatory cultures«, in: Jonathan Bignell: Big Brother. Reality TV in the Twenty-first Century, New York: Palgrave Macmillan 2005, S. 49-52.
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Hybride Formen und Formate denen soziale Faktoren und Werte eine besonders große Rolle spielen.31 Ein drittes und letztes Beispiel soll den Einfluss kulturspezifischer Diskurse auf die Bewertung der Dokufiktion verdeutlichen. Es betrifft die historisch-didaktischen Blockbuster-Dokudramen La odisea de la especie//·2G\VVpH GH O·HVSqFH und Pompeya, el último día/Les Derniers jours de Pompéi, die in den Jahren 2003 und 2004 in Spanien und Frankreich zur Prime Time ausgestrahlt wurden. Die beiden internationalen Koproduktionen, die jeweils von einem Making-of und vertiefenden Dokumentationen begleitet wurden, erzielten die höchsten Einschaltquoten, die Filme mit dokumentarischem Charakter je erreichen konnten, und wurden als epochaler Einschnitt wahrgenommen, der in beiden Ländern eine grundsätzliche Aufwertung des Dokumentarischen im Programmschema zur Folge hatte und in Frankreich wesentlich zur Etablierung des %HJULIIV ¿OH GRFX-ILFWLRQ¾ EHLWUXJ32 Während diese neue Form, Geschichte auf spannend-unterhaltsame Weise und mit Hilfe computergenerierter Darstellungsverfahren im Fernsehen zu präsentieren, in Spanien als Triumph des Qualitätsfernsehens über die telebasura begrüßt wurde, gab es in Frankreich auch misstrauische Stimmen.33 Das Misstrauen richtete sich gegen die Dokufiktion als amerikanischen Import, verbunden mit dem Hinweis: »Mais, en France, la frontière séparant la fiction du documentaire à vocation
31 Elke Kronewald: Big Brother in Deutschland ² Gran Hermano in Spanien. Presseberichtserstattung im Vergleich, München: Reinhard Fischer 2002, S. 10, 24f., 112. Zu Spitzenzeiten konnte Telecinco mit Gran Hermano einen Marktanteil von 71% (ca. zwölf Millionen Zuschauer) erzielen; die Quote lag bei 30% im Vergleich zu 10% in Deutschland (ebd., S. 18-21). Außerdem knüpfen die Big Brother-Varianten, wie François Jost gezeigt hat, nicht nur an bestimmte kulturelle Codes, sondern auch an jeweils unterschiedliche Fernsehtraditionen an. Jost: Introduction, S. 162. 32 Vgl. den Eintrag von Adeline Percept: »Docu-fiction«, in: Dictionnaire de la télévision française, hg. von Agnès Chauveau und Yannick Dehée, Paris: Nouveau Monde 2007, S. 183f. Eine Analyse der beiden spanischen Filme findet sich in Ángel Custodio Gómez González: »Cuando la historia se hace ficción: nuevos nombres y nuevas formas para el documental televisivo de grán público en España«, in: Ortega: Nada es lo que parece, S. 207-234. La odisea de la especie kam beispielsweise in Spanien auf 24,9% (vier Millionen) Zuschauer ² der Höhepunkt von 33,1% wurde bei einer Kopulationsszene unter Neandertalern erreicht ² und in Frankreich auf 34,2% (neun Millionen) Zuschauer (ebd., S. 216f.). 33 Vgl. zur Diskussion um die telebasura in Spanien Paul Julian Smith: Television in Spain. From Franco to Almodóvar, Woodbridge: Tamesis 2006, S. 113-142.
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Christian von Tschilschke savante a toujours été franche.«34 Diese Reaktion zeigt exemplarisch, dass die Einschätzung des Verhältnisses Fiktion/Nicht-Fiktion diskursabhängig ist und von den Beteiligten durchaus als identitätsrelevant aufgefasst wird.
Hypothesen über Funktion und Wirkung der Dokufiktion Von den kulturellen Besonderheiten der Dokufiktion ist es nicht weit zur Frage nach ihrer Funktion. Ich möchte daher abschließend einige Hypothesen über die Funktion des Darstellungsmodus Dokufiktion im Fernsehen formulieren bzw. mögliche Gründe für die Konjunktur und den Erfolg der entsprechenden Fernsehformate nennen, die über den bereits beschriebenen, durch die Formatierung der Programme verschärften Zwang, Innovation und Risikominimierung zu vereinen, hinausgehen. Natürlich lassen sich diese Hypothesen nicht oder nur ansatzweise empirisch überprüfen. Doch spricht Einiges dafür, dass der Trend zur Hybridisierung von Fiktionalem und Faktualem als Reaktion auf veränderte Kontextbedingungen erklärt werden kann. Dokufiktion stellt offenbar ein Wirkungspotenzial bereit, das aktuellen Anforderungen und Bedürfnissen in besonderer Weise entgegenkommt. Ein nicht allein das Fernsehen betreffender Grund für die transmediale, transkulturelle und transgenerische Aktualität der Dokufiktion ist sicherlich in der Tatsache zu sehen, dass das Bewusstsein für die Fiktionalität und die mediale Konstruiertheit der Wirklichkeit längst nicht nur zu einem gängigen theoretischen Deutungsmuster, sondern auch, und nicht zuletzt unter dem Einfluss des Fernsehens, zu einem festen Bezugspunkt der Alltagserfahrung geworden ist. Ist es nicht plausibel, dass sich vor diesem Hintergrund dann in einer Art dialektischer Gegenbewegung ein gesteigertes Verlangen nach authentischer Erfahrung, Identifikation und echtem Erleben ² die »Sehnsucht nach Wirklichkeit«35 ², dem Leben der Anderen und der Vergegenwärtigung der Vergangenheit entwickelt hat? Parallel zur Wiederkehr des Interesses am Dokumentarischen und zur Entstehung neuer, hybrider Genres und Begriffe scheint 34 Dt.: »Aber in Frankreich ist die Grenze zwischen der Fiktion und dem wissenschaftlichen Dokumentarfilm immer sehr deutlich gewesen.« Garçon: »Le documentaire historique«, S. 95. 35 So lautet zumindest die Diagnose des Zeitgeistes, die Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel, die Herausgeber der Kulturzeitschrift Merkur, abgeben. Karl Heinz Bohrer/Kurt Scheel: »Zu diesem Heft«, Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Sonderheft: Wirklichkeit! Wege in die Realität 9/10 (2005), S. 749-750, hier: S. 749.
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Hybride Formen und Formate sich zudem eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber epistemologischen Provokationen eingeschlichen zu haben: Die Vermischung von Fakten und Fiktionen wird zunehmend als selbstverständlich hingenommen. Das Urteil des Dokumentarfilmers Torsten Truscheit über die Produzenten von Doku-Soaps bekräftigt diese Vermutung: »Abgesehen davon vertreten diese Realisatoren ohnehin die Meinung, dass dem Zuschauer egal sei, was real oder inszeniert ist, Hauptsache es ist spannend und emotional.«36 Unterdessen zeichnet sich gegenwärtig auch innerhalb der öffentlich-intellektuellen sowie der primär wissenschaftlichen Diskurse ein signifikanter Wandel theoretischer Präferenzen und Einstellungen ab: Während die Faszination postmoderner Konzepte wie ¿Panfiktionalität¾, ¿Simulation¾ und ¿Dekonstruktion¾ entscheidend nachgelassen hat, ist das theoretische Interesse an ¿Performanz¾, ¿Ereignis¾, ¿Aura¾, ¿Authentizität¾ und ¿Präsenz¾XVZHQRUPJHVWLHJHQ37 Konkret in Bezug auf das Fernsehen ist überdies auffällig, dass Dokufiktion ² und zwar vor allem als Doku-Drama ² häufig in Kontexten vorkommt, in denen es um die Anstiftung bzw. Verstärkung jeweils aktueller medialer Trends und Debatten geht, die bestimmten sozialen Bedürfnislagen, nationalen Befindlichkeiten und gesellschaftlichen Verhandlungsprozessen Ausdruck verleihen und in der Regel ein hohes öffentliches Aufmerksamkeitspotenzial garantieren. In Deutschland waren das in der letzten Zeit Themen wie Vogelgrippe (Das globale Virus. Wie gefährlich ist die Vogelgrippe?, 2006), Überalterung der Gesellschaft (2030 ² Aufstand der Alten, 2007) und Pharmaindustrie (Eine einzige Tablette, 2006). In Spanien werden dagegen gesellschaftlich relevante Themen wie Drogen, Euthanasie, häusliche Gewalt und illegale Immigration eher im Kinofilm
36 Torsten Truscheit: »Wie dokumentarisch ist die Doku-Soap? Ein Praxisbericht«, in: Oels/Porombka/Schütz: DokuFiktion, S. 198-207, hier: S. 200. 37 So fragt etwa der kanadische Medientheoretiker und McLuhan-Nachfolger Derrick de Kerckhove angesichts des Ausmaßes virtueller Realität, mit der wir uns inzwischen konfrontiert sehen, bereits im Titel eines Aufsatzes: »Brauchen wir, in einer Realität wie der unseren, noch Fiktionen?«, in: Vattimo/Welsch: Medien-Welten, S. 187. Eckart Voigts-Virchow und Christiane Schlote heben die entscheidende Bedeutung hervor, die den Terroranschlägen vom 11. September 2001 als Wendepunkt innerhalb des intellektuellen Diskurses zukommt, der sich unter dem Eindruck der Ereignisse von den an Hyperrealität und Simulation ausgerichteten Gegenwartsdiagnosen Baudrillards abkehrt und dem Gedanken einer unverhofften Rückkehr des Realen zuwendet. Eckart Voigts-Virchow/Christiane Schlote: »InWURGXFWLRQ ¿7KH &UHDWLYH 7UHDWPHQW RI $FWXDOLW\¾ ² New Documentarism«, Constructing Media Reality: The New Documentarism, hg. von Eckart Voigts-Virchow und Christiane Schlote, Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik, 56/2 (2008), S. 107-116, hier: S. 107-109.
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Christian von Tschilschke abgehandelt.38 Im Fernsehen überwiegt das historischen Ereignissen gewidmete Doku-Drama (Expulsados 1609: La tragedia de los moriscos, 2009). Festzustellen ist auch, dass die Verknüpfung dokumentarischer und fiktionaler Strategien vermehrt im Zusammenhang mit der Bewältigung traumatischer Kollektiverlebnisse auftritt, die in einem bestimmten Abstand zur Gegenwart stehen: in besonderer Nähe wie etwa die Anschläge vom 11. September 2001 in New York (9/11: The Twin Towers, 2006) und am 11. März 2004 in Madrid (La película del 11-M, 2005) oder in einer gewissen Ferne wie der Zweite Weltkrieg in Deutschland und der Bürgerkrieg bzw. die FrancoDiktatur in Spanien. Dabei kommen in diesem letzteren Fall oft widersprüchliche Motive zum Tragen. So steht der Wunsch nach Dokumentation, Information und identifikatorischem Verstehen bisweilen neben dem Bedürfnis nach moralisch entlasteter, ästhetisch-sentimentalischer Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Für Deutschland sind hier zum Beispiel die Titel Speer und Er (2004) von Heinrich Breloer, einem der Pioniere des Doku-Dramas, und Das Drama von Dresden (2005) zu nennen, für Spanien etwa Cuéntame cómo pasó (2001ff.) oder Auschwitz: Los nazis y la solución final (2005).39 Die Fähigkeit, unterschiedliche und traditionell als gegensätzlich aufgefasste Bedürfnisse zu bedienen, scheint überhaupt ein wesentlicher Wirkungsfaktor der Dokufiktion zu sein. Während im traditionellen Programmschema dokumentarische und fiktionale Sendungen deutlich voneinander abgegrenzt waren und sich auf diese Weise korrigieren und ergänzen konnten,40 ist dieser Unterschied durch die Ausbreitung der neuen hybriden Formate im doppelten Sinn des Wortes aufgehoben worden: Er ist jetzt in der hybriden Sendung selbst enthalten. Das Ergebnis ist ein ästhetischer Synkretismus, der mit seinen dokumentarischen Anteilen die Sehnsucht der Zuschauer nach Wirklichkeit und Authentizität befriedigt und mit seinen fiktionalen Elementen dazu beiträgt, dass dabei das Bedürfnis nach Unterhaltung, Identifikation und intensi38 Vgl. Burkhard Pohl: »Kino in Spanien«, in: Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, hg. von Walther L. Bernecker, Frankfurt am Main: Vervuert 2008, S. 423-441, hier: S. 434-439. 39 Siehe zu letzterem Gómez González: »Cuando la historia se hace ficción«, S. 227-231. 40 Die »Vorstellung vom Dokumentarfilm als Korrektiv des Fernsehalltags« entwickelt beispielsweise Dietrich Leder: »Das dokumentarische Prinzip als permanente Kritik des Fernsehens im Fernsehen. Eine Versuchung«, in: Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, hg. von Christa Blümlinger, Wien: Sonderzahl 1990, S. 176-192, hier: S. 187.
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Hybride Formen und Formate ven Gefühlen nicht zu kurz kommt. Mit ihrer Doppelkodierung von Realität und Fiktion garantiert Dokufiktion paradoxerweise einen besonders starken Immersionseffekt, weil sie auf einem ¿Re-entry¾ beruht, der die Spannung zwischen Fiktion und Wirklichkeit potenziert.41 Jenseits ihrer Übereinstimmung mit der kulturellen und epistemologischen Identität der Gegenwart und über ihre ausgeprägte Anschlussfähigkeit an gesellschaftliche Diskurse hinaus erscheint Dokufiktion damit generell als ökonomisches und ästhetisches Erneuerungsprogramm des Fernsehens, das auf die Erschöpfung und Abnutzung sowohl fiktionaler als auch dokumentarischer Darstellungs- und Wahrnehmungsformen reagiert. Überschritten werden im Zuge dieses Erneuerungs- und Erweiterungsprogramms aber nicht nur herkömmliche Gattungs-, sondern auch Mediengrenzen. Denn die meisten dokufiktionalen Formate werden von einem umfangreichen Online-Angebot flankiert, das ² neben Werbung ² Blogs, Clips und Chat-Foren, Zusatzinformationen und Archivmaterial oder auch die Möglichkeit zum Live-Streaming und zur Abstimmung durch die Zuschauer enthält. Noch ist es zu früh, um in dieser Kombination von Fernsehen und Internet ein Indiz für das Ende des herkömmlichen Fernsehens zu sehen.42 Aber sie ist Teil eines tiefgreifenden Wandels, von dem auch die Dokufiktion nur ein ² wenn auch zentraler ² Aspekt ist.
Literatur Bignell, Jonathan: Big Brother. Reality TV in the Twenty-first Century, New York: Palgrave Macmillan 2005. Bohrer, Karl Heinz/Scheel, Kurt: »Zu diesem Heft«, Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Sonderheft: Wirklichkeit! Wege in die Realität 9/10 (2005), S. 749-750. Cueto Asín, Elena: »Memorias de progreso y violencia: la Guerra Civil en Cuéntame cómo pasó«, in: Francisca López u.a. (Hg.), Historias de la pequeña pantalla. Representaciones históricas en 41 Aus der empirischen Rezeptionsforschung ist überdies bekannt, dass das Zuschauerinteresse dann am intensivsten ist, wenn Realität und Fiktion miteinanGHUNRPELQLHUWZHUGHQ'DVKDW]XP%HLVSLHOGDV¿'HWUDFWRU-ExpeULPHQW¾JH]HLJWGDVGHUamerikanische Psychologe Ed Palmer 1969 mit Zuschauern der Fernsehserie Sesame Street durchführte. Malcolm Gladwell: The Tipping Point. How Little Things Can Make a Big Difference, New York u.a.: Little, Brown and Company 2000, S. 105f. 42 Vgl. dagegen Javier Pérez de Silva: La televisión ha muerto. La nueva producción audiovisual en la era de Internet: La tercera revolución industrial, Barcelona: Gedisa 2000.
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Christian von Tschilschke la televisión de la España democrática, Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert 2009, S. 137-156. Garçon, François: »Le documentaire historique au péril du docufiction«, Vingtième Siècle 88 (2005), S. 95-108. Gladwell, Malcolm: The Tipping Point. How Little Things Can Make a Big Difference, New York u.a.: Little, Brown and Company 2000. Jost, François: ,QWURGXFWLRQ j O·DQDO\VH GH OD WpOpYLVLRQ, Paris: Ellipses Édition Marketing 32007 [1999]. Kerckhove, Derrick de: »Brauchen wir, in einer Realität wie der unseren, noch Fiktionen?«, in: Gianni Vattimo und Wolfgang Welsch (Hg.), Medien-Welten, Wirklichkeiten, München: Fink 1998, S. 187-200. Kilborn, Richard: Staging the real. Factual TV programming in the age of »Big Brother«, Manchester/New York: Manchester University Press 2003. Kronewald, Elke: Big Brother in Deutschland ² Gran Hermano in Spanien. Presseberichterstattung im Vergleich, München: Reinhard Fischer 2002. Leder, Dietrich: »Das dokumentarische Prinzip als permanente Kritik des Fernsehens im Fernsehen. Eine Versuchung«, in: Christa Blümlinger (Hg.): Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Wien: Sonderzahl 1990, S. 176-192. Mainer, José Carlos: Tramas, libros, nombres. Para entender la literatura española, 1944-2000, Barcelona: Anagrama 2005. Mathijs, Ernest/Jones, Janet (Hg.): Big Brother International. Formats, Critics and Publics, London/New York: Wallflower Press 2004. Maxwell, Richard: »Spatial Eruptions, Global Grids: Regionalist TV in Spain and Dialectics of Identity Politics«, in: Marsha Kinder (Hg.): Refiguring Spain. Cinema/Media/Representation, Durham/London: Duke University Press 1997, S. 260-283. Oels, David/Poromba, Stephan/Schütz, Erhard (Hg.): DokuFiktion. Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen, 1/2 (2006). Ortega, María Luisa (Hg.): Nada es lo que parece. Falsos documentales, hibridaciones y mestizajes del documental en España, Madrid: Ocho y medio 2005. Paget, Derek: No other way to tell it. Dramadoc/docudrama on television, Manchester: Manchester University Press 1998. Palacio, Manuel: Historia de la televisión en España, Barcelona: Gedisa 2005. Percept, Adeline: »Docu-fiction«, in: Dictionnaire de la télévision française, hg. von Agnès Chauveau und Yannick Dehée, Paris: Nouveau Monde 2007, S. 183f.
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Hybride Formen und Formate Pérez de Silva, Javier: La televisión ha muerto. La nueva producción audiovisual en la era de Internet: La tercera revolución industrial, Barcelona: Gedisa 2000. Pohl, Burkhard/Türschmann, Jörg: (Hg.): Miradas glocales. Cine español en el cambio de milenio, Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert 2007, S. 15-25. Pohl, Burkhard: »Kino in Spanien«, in: Walther L. Bernecker (Hg.): Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt am Main: Vervuert 2008, S. 423-441. Sánchez, José A.: Prácticas de lo real en la escena contemporánea, Madrid: Visor 2007. Sánchez-Navarro, Jordi/Hispano, Andrés: Imágenes para la sospecha. Falsos documentales y otras piruetas de la no-ficción, Barcelona: Glenat 2001. Smith, Paul Julian: Television in Spain. From Franco to Almodóvar, Woodbridge: Tamesis 2006. Springer, John Parris/Rhodes, Gary Don (Hg.): Docufictions. Essays on the Intersection of Documentary and Fictional Filmmaking, Jefferson, N.C./London: McFarland 2006. Tschilschke, Christian von/Schmelzer, Dagmar (Hg.): Docuficción. Enlaces entre ficción y no-ficción en la cultura española actual, Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert 2010 (im Druck). Voigts-Virchow, Eckart/Schlote, Christiane (Hg.): Constructing Media Reality: The New Documentarism. Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik, 56/2 (2008), S. 107-116. Wille, Franz: »Die nuller Jahre«, Theater heute. Jahrbuch (2009), S. 126-138. Winston, Brian: Claiming the Real. The Griersonian Documentary and Its Legitimations, London: British Film Institute 1990. Wolf, Fritz: Alles Doku ² oder was? Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen, Düsseldorf: Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen 2003. Internetquelle: Wolf, Fritz: Trends und Perspektiven für die dokumentarische Form im Fernsehen. Eine Fortschreibung der Studie »Alles Doku ² oder was. Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen« (2005): http://www.dokville.de/dokville2005-/schriften/Fritz-Wolf.pdf.
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Dispositiv und Format des Fernsehens am Beispiel der US-amerikanischen Fernsehserie Battlestar Galactica (2004-2009) KATHRIN ACKERMANN
Der Begriff Dispositiv Der Begriff Dispositiv hat sich in den letzten Jahrzehnten fast inflationär verbreitet. Dies gilt noch weitaus mehr als für das Deutsche für das Französische, wo dispositif ein wesentlich breiteres Bedeutungsspektrum besitzt.1 Den Aufstieg zu einer ¿Superstruktur¾ hat das Dispositiv Michel Foucault zu verdanken, in dessen Denken es eine entscheidende strategische Funktion einnimmt. Nach Giorgio Agamben treffen im foucaultschen Dispositivbegriff drei Momente zusammen: 1. Das Dispositiv »ist eine heterogene Gesamtheit, die potentiell alles Erdenkliche, sei es sprachlich oder nichtsprachlich einschließt: Diskurse, Institutionen, Gebäude, Gesetze, polizeiliche Maßnahmen, philosophische Lehrsätze usw. Das Dispositiv ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann.«2 Es schreibt sich somit 2. in ein Machtverhältnis ein und verschränkt dieses 3. mit Wissensverhältnissen.
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Vgl. Günter Dammann, der die Verwendungsweise der beiden Begriffe im Französischen und im Deutschen gegenüber stellt. Während frz. dispositif »ein seit der Frühen Neuzeit eingeführtes und dem allgemeinen Wortschatz zuzurechnendes Wort« sei, fungiere der deutsche Neologismus Dispositiv als eine auratisch belegte Tabula rasa »ohne geschichtlichen und semantiVFKHQ *HKDOW© *QWHU 'DPPDQQ ª¿/H GLVSRVLWLI¾ DOV ¿GDV 'LVSRVLWLY¾%HPHUNXQJHQ]XP)DOOHiner Nicht-Übersetzung«, Tiefenschärfe 2002/03, S. 4-6, hier S. 6. Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv?, Zürich: Diaphanes 2008 [Che FRV·qXQGLVSositivo?, 2006], S. 9.
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Kathrin Ackermann Obgleich es Dispositive unterschiedlichster Art gibt (das Gefängnis, die Schule, die Beichte, die Fabrik,...), hat in jüngerer Zeit insbesondere eine Art von Dispositiven die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gezogen, in denen der technische Aspekt ganz offensichtlich ist: die Mediendispositive. Der Medienbegriff beinhaltet an sich schon das Vorhandensein eines vermittelnden Apparates, sei es das beschriebene Papier, seien es Kamera, Bildschirm oder Leinwand. Der Vorteil des Dispositivbegriffs besteht darin, dass er eine Schnittstelle zwischen den technischen Apparaten und den von ihnen vermittelten Inhalten, Bedeutungen und Strukturen herstellt. Er eröffnet damit die Chance, Gegensätze zu überwinden, binäre Dichotomien aufzulösen, wahrnehmungstheoretische, technische und politische Aspekte miteinander zu verschränken. Beispielhaft demonstrierte dies JeanLouis Baudry in seinen Aufsätzen über das Kinodispositiv, in denen er die ideologieerzeugenden Effekte des Zusammenwirkens von zentralperspektivischer räumlicher Anordnung, Bewegungskontinuität der Bilder und Immobilisierung des Zuschauers aufdeckte.3 Parallel dazu kam in den 1960er Jahren, also noch vor Baudry, eine andere Verwendungsweise von dispositif im Bereich der Fernsehpraxis auf. Der Radiokunstpionier Pierre Schaeffer verstand unter »dispositif de recherche« eine Anordnung, die es erlaubte, unter den Bedingungen der Direktübertragung Menschen gleichsam einzufangen, um sie besser beobachten zu können, ähnlich wie Tiere in einer Falle.4 In den folgenden Jahren wurde der Begriff einerseits differenziert, um mit Bezeichnungen wie »dispositif scénographique«, »dispositif de plateau«, »dispositif de tournage« usw. technische bzw. Anordnungsaspekte in den Vordergrund zu stellen, andererseits erfährt dispositif aber auch eine Bedeutungserweiterung, die den Begriff an die foucaultsche Verwendungsweise anbindet. Etienne Allemand etwa versteht das Fernsehen als ein gigantisches soziales Überwachungsdispositiv, das die Verfügung individualisierter Massen über Raum und Zeit organisiert.5
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Jean-Louis Baudry: »Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat«, Eikon 5 (1993), S. 34-43 [Effets idéologiques SURGXLWV SDU O·DSSDUHLO GH EDVH, 1970]; ders.: »Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks«, in: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, hg. von Claus Pias u.a., Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2002, S. 381-404 [Le dispositif: approches métapsycholoJLTXHVGHO·Lmpression de réalité, 1975]. *X\ /RFKDUG ª3DUFRXUV G·XQ FRQFHSW GDQV OHV pWXGHV WpOpYLVXHOOHV TrajecWRLUHV HW ORJLTXHV G·HPSORL© Hermès 25 (1999), S. 143-151, hier S. 144. Ebd., S. 146.
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Dispositiv und Format des Fernsehens Wir können also festhalten, dass es einerseits eine diskurstheoretisch-generalisierende, andererseits eine medientechnisch-partikularisierende Verwendung des Begriffs Dispositiv gibt. Erstere verwendet ihn als gesellschaftskritische Vokabel, die auf den Sachverhalt verweist, dass mit jeder Technik bereits ideologische Wegweisungen präjudiziert sind, letztere versteht dispositif als variablen Terminus technicus für eine Vielzahl spezieller Vorrichtungen, Anordnungen und Rahmenbedingungen, die dazu vorgesehen sind, eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Wenngleich die rein pragmatische Verwendungsweise den Begriff keineswegs aus seinem Machtzusammenhang lösen kann, ist seit einiger Zeit zu beobachten, dass die ideologiekritische Auffassung vom Dispositiv einer offeneren Verwendungsweise zu weichen beginnt. In der Einleitung zu der Sondernummer Le Dispositif: entre usage et concept der Zeitschrift Hermès weisen Hugues Peeters und Philippe Charlier darauf hin, dass der Dispositivbegriff zwar immer noch mit Machtaspekten verbunden sei, aber nicht mehr auf diese reduziert werde. Gegenüber Foucault sei der Begriff also weniger panoptisch, dafür pragmatischer und stärker auf Interaktion ausgerichtet. Dem Benutzer werde die Fähigkeit zuerkannt, im Umgang mit den jeweiligen (Medien-) Dispositiven seine Intelligenz und seine Moral einzubringen. Es findet somit eine Rezentrierung auf das autonome Individuum als Träger einer eigenen Intentionalität statt.6
Kinodispositiv vs. Fernsehdispositiv Dadurch wird es möglich, die ursprüngliche Stärke des Begriffs, nämlich seine Eigenschaft als Schnittstelle, zurückzugewinnen, indem man nach dem gegenseitigen Austausch von Inhalten und Technik fragt. In diesen Kontext gehört der Versuch von Karl Sierek, das Spezifische der Dispositive Kino und Fernsehen herauszuarbeiten. Sierek geht es nicht darum, zwei trennscharfe Dispositive voneinander abzugrenzen, sondern »Orientierungspunkte oder Idealtypen«7 herauszuarbeiten, die wertfrei die Merkmale des Kinemato-graphischen und des Televisionären aus ihren dispositiven Voraussetzungen heraus beschreiben. Als Merkmale des Kinodispositivs nennt Sierek die Isolation und Konzentration des Zuschauers, die starke Bindung an die Leinwand, die Auslieferung an die einströmenden Bilder sowie den »Auf-
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Hugues Peeters/Philippe Charlier: »Contributions à une théorie du dispositif«, Hermès 25 (1999), S. 15-23. Karl Sierek: Aus der Bildhaft: Filmanalyse als Kinoästhetik, Wien: Sonderzahl 1993, S. 107.
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Kathrin Ackermann bau einer diegetischen Räumlichkeit >«@, die als Grundlage narrativer Prozesse dient.«8 Dem Fernsehen hingegen spricht er diese (narrative) Möglichkeit ab. Dem von den »disparaten und sprunghaften Bild- und Tonmäandern« des Fernsehens produzierten »nomadischen« Subjekt fehle die Fähigkeit, sich zu sammeln. Es »schweift an allem Umgebendem vorbei, bleibt an der Oberfläche der Erscheinungen und verfließt damit selbst, ebenso wie die Objekte um es herum.«9 Obwohl Sierek bewusst die Dynamik der technischen Entwicklung im Bereich der Audiovision im Auge hatte, müssen viele der von ihm genannten Eigenschaften angesichts der jüngsten technischen und institutionellen Transformationen des Fernsehmarktes relativiert werden. Das Fernsehen beschränkt sich längst nicht mehr auf das behäbige, zum Mobiliar gehörende Gerät im Wohnzimmer, sondern ist allerorts präsent, ob auf dem Handy, dem iPod, in Internetstreams oder -downloads; Speichermedien wie die DVD, der Festplattenrecorder und der Computer machen es möglich, TVProduktionen unabhängig vom Programm, unabhängig vom televisiven flow zu rezipieren; durch die Entwicklung von HDTV schließlich nähern sich das Kinobild und das Fernsehbild immer mehr an. Eine Verschmelzung der Dispositive des Kinos und des Fernsehens war wenige Jahre vor Sierek von Siegfried Zielinski prognostiziert worden. Er erwartete für die Zukunft einerseits »Kinos mit Wohnzimmerambiente«, in denen Öffentliches und Privates eine Symbiose eingehen, andererseits Wohnzimmer, in die typische Merkmale des Kinos implementiert sind, die also den Zuschauer in ähnlicher Weise an seinen Platz binden wie der Sessel des Lichtspieltheaters und die auch eine stärkere Abdunklung des Raums notwendig machen.10
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Ebd., S. 85 [Herv. im Original]. Ebd., S. 74. Dies würde bedeuten, dass ein im Fernsehen ausgestrahlter Film vollkommen anders rezipiert wird als im Kinosaal. So meint auch Joachim Paech, dass »das Fernsehen nur Fernsehen, aber keine Filme zeigen kann« (zit. nach Andrzej Gwózdz: »Zwei Apparate treffen einander. Zur Semiotik der Oberflächlichkeit...«, in: Der kinematographische Apparat: Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte, hg. von Robert F. Riesinger, Münster: Nodus 2003, S. 237-235, hier S. 237). Laut Gwózdz sind im Fernsehen ausgestrahlte Kinofilme Fremdkörper; als solche werden sie aufgrund formaler Merkmale (z.B. Vorspann) und aufgrund der Kennt-nis des kinematographischen Codes wahrgenommen (ebd.). 10 Siegfried Zielinski: Audiovisionen: Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 249f.
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Dispositiv und Format des Fernsehens Eingetreten ist weder das eine noch das andere. Anstatt zu einer Verschmelzung der Dispositive Kino und Fernsehen kam es vielmehr zu einer Integration verschiedenster Dispositive. Die neuen Medien Computer und Internet haben sich die Produkte des kinematographischen und des televisuellen Systems nicht nur einverleibt, sondern sie durch neue Möglichkeiten der Vernetzung, der zeitlichen und räumlichen Organisation einer tiefgreifenden dispositiven Veränderung unterzogen. Man darf dabei nicht vergessen, dass an diesem Wandel auch dasjenige Dispositiv beteiligt ist, dem, wohl aus Gründen der Habitualisierung, in der aktuellen Mediendiskussion die geringste Aufmerksamkeit zuteilwird: das Buch. Die Lektüre eines Buches teilt eine Reihe von dispositiven Eigenschaften mit dem Fernsehen: Sie erfolgt in der Regel nicht kontinuierlich, sondern in mehr oder weniger großen Zeiteinheiten; es ist möglich, mehrere Bücher parallel und nur ausschnittweise zu lesen; es kommt häufig vor, dass der Leser abgelenkt ist, so dass er die Lektüre entweder unterbricht oder mit verminderter Aufmerksamkeit liest. Symptomatisch für die Integration des Mediums Buch in die Dispositive der neuen Medien ist der iPod, der nicht nur, wie bereits der Videorecorder, die Möglichkeit des Vor- und Zurückspulens oder des Aufsuchens bestimmter Stellen aufweist,11 sondern auch maximale Mobilität, wie sie bislang neben dem Walkman nur das Buch bietet. Zudem kann der iPod ähnlich wie ein Buch gehalten werden. Die Frage, die ich daran anschließen möchte, ist, welche Eigenschaften des Lektüredispositivs durch diese Veränderung der audiovisuellen Technik (zurück)gewonnen werden und welche Auswirkungen dies auf unsere Auffassung von bestimmten Fernsehformaten hat. Ich möchte dieser Frage am Beispiel einer ausgewählten Fernsehserie nachgehen und damit auch der vielfach gestellten Aufforderung nachkommen, Fernsehtexte nicht als medientheoretisches Demonstrationsmaterial zu verwenden, sondern sich ästhetisch mit ihnen auseinanderzusetzen.12
11 Vgl. Joachim Paech: »Den Film lesen wie einen Text. Anmerkungen zum praktischen Umgang mit Filmen«, medien praktisch 1 (1986), S. 10-13. 12 Vgl. Charlotte Brunsdon: »Television: Aesthetics and Audiences«, in: Logics of Television. Essays in Cultural Criticism, hg. von Patricia Mellencamp, Indianapolis: Indiana U.P. 1990, S. 59-72; Jason Jacobs: »Issues of judgement and value in television studies«, International Journal of Cultural Studies 4,4 (2001), S. 427-447; Sarah Cardwell: »Television Aesthetics«, Critical Studies in Television 1,1 (2006), S. 72-80.
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Kathrin Ackermann
Battlestar Galactica Mein Beispiel ist die von dem US-amerikanischen SciFi Channel in Zusammenarbeit mit dem britischen Sender Sky One produzierte Science-Fiction-Serie Battlestar Galactica, die in Großbritannien und den USA von 2004 bis 2009 ausgestrahlt wurde. Sie bietet sich aus mehreren Gründen als Untersuchungsgegenstand an: 1. Aufgrund ihrer hohen Qualität, die ihr zahlreiche Preise und Nominierungen für die schauspielerische Leistung, den sorgfältig komponierten Soundtrack und den für eine TV-Serie ungewöhnlich hohen Aufwand bei den Spezialeffekten eingebracht hat. Hinzu kommt ein wachsendes Interesse im akademischen Bereich, das sich bisher vor allem auf die philosophischen und gesellschaftskritischen Fragestellungen der Serie sowie die Genderthematik konzentrierte.13 2. Obwohl Battlestar Galactica für das Fernsehen produziert wurde, wird die Serie häufig auf anderem Weg rezipiert. Sie erzielte nach ihrer Erstausstrahlung durch Sky One am 18. Dezember 2004 sensationelle Downloadraten über das Filesharing-Programm BitTorrent und gilt als Beispiel dafür, dass die »Mund-zu-Mund«oder besser gesagt »Computer-zu-Computer«-Propaganda durch illegale Internetdownloads dem Sender durchaus zum Vorteil gereichen kann.14 Die Serie wird außerdem überproportional häufig über den Online-Dienst iTunes heruntergeladen oder über DVDs verkauft.15 Man kann daraus folgern, dass sie in besonders großem Maß »gelesen« wird. Dies schlägt sich in der hohen Qualität vieler InternetFanseiten, Forumsbeiträge, Blogs u.a. nieder, die ein für eine TVSerie ungewöhnliches Interesse für ästhetische Fragestellungen erkennen lassen. Darüber hinaus werden die im Fernsehen ausgestrahlten Folgen durch Webisodes ergänzt, kurze, ungefähr vier Minuten lange Clips, die zusammen die Länge einer Episode ergeben und zwischen den Staffeln über das Internet verbreitet werden, außerdem durch separate Fernsehfilme (Razor [2007], The Plan [2009]) und wöchentliche Podcasts von der Länge jeweils einer Episode, in denen der Showrunner Ronald D. Moore, den man durch-
13 Vgl. v. a. die Sammelbände Jason T. Eberl (Hg.): Battlestar Galactica and Philosophy: Knowledge Here Begins Out There, Malden, Mass.: Blackwell 2008; Tiffany Potter/C. W. Marshall (Hg.): Cylons in America: Critical Studies in Battlestar Galactica, New York: Continuum 2008. 14 Vgl. Mark Pesce: »Piracy is Good? New Models for the Distribution of Television Programming« (2005), http://hyperreal.org/~mpesce/piracyis good.pdf [Stand: 04.08.2009]. 15 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Ronald_D._Moore [Stand: 04.08.2009].
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Dispositiv und Format des Fernsehens aus als ¿$XWRU¾ der Serie betrachten kann, die einzelnen Folgen kommentiert.16 3. Battlestar Galactica weist mehr als die meisten Fernsehserien den Charakter eines ¿Werkes¾ auf. Aufgrund des zugrunde liegenden Plots ist die Handlung von Anfang an auf ein Ende hin angelegt; auch wurde vom produzierenden Sender schon früh angekündigt, dass die vierte Staffel, unabhängig von den Zuschauerquoten, definitiv die letzte sein würde. Eine solche Festlegung auf narrative Abgeschlossenheit in einer TV-Serie ist zwar nichts vollkommen Neues ² ein frühes Beispiel dafür ist The Fugitive (1963-1967). In diesem Fall hat aber das Ende eine entscheidende Auswirkung auf den Stellenwert einzelner Ereignisse.17 Die Endlichkeit begünstigt eine von Endlos-Serien abweichende Rezeptionshaltung. Zwar ist es für den Fernsehzuschauer, der die Serie von Woche zu Woche, unterbrochen von monatelangen Staffelpausen, verfolgt, oft schwierig, den Gesamtzusammenhang präsent zu halten. Hingegen ermöglicht es die kontinuierliche Rezeption über ein Speichermedium, die Strategien des Überblicks und der Geschlossenheit zu erkennen,18 die typisch für literarische oder kinematographische Werke sind. Auf diese Weise lassen sich aus den televisiven Bildern und Tönen eine geschlossene diegetische Räumlichkeit und ein homogenes imaginäres Universum konstruieren.19
Format und Genre Wie der Begriff des Dispositivs wird auch der des Formats im Deutschen und im Französischen unterschiedlich verwendet. Gegenüber dem deutschen Formatbegriff ist die Bedeutung des französischen
16 Zur Autorschaft im Fernsehen vgl. Thomas Elsaesser: »Literature after Television: Author, Authority, Authenticity«, in: Writing for the Medium: Television in Transition, hg. von Thomas Elsaesser u. a., Amsterdam: Amsterdam UP 1994, S. 137-148; Roberta Pearson: »The Writer/Producer in American Television«, in: The Contemporary Television Series, hg. von Michael Hammond und Lucy Mazdon, Edinburgh: Edinburgh University Press 2005, S. 11-26. 17 Dies betrifft die zeitliche Situierung der Handlung, von der der Zuschauer bis zum Schluss nicht weiß, ob sie in der Zukunft oder in der Vergangenheit spielt. 18 Diese Strategien sind nach John Ellis kennzeichnend für die kinematische und literarische Narration, im Gegensatz zur kontinuierlichen Aufbereitung und Aktualisierung von Ereignissen mit offenem Ende, die für das Fernsehen typisch sind. John Ellis: Visible Fictions: Cinema, Television, Video, London: Routledge 2003, S. 147. 19 Vgl. Sierek, Aus der Bildhaft, S. 77, 85.
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Kathrin Ackermann format deutlich restriktiver und bezieht sich im Bereich des Fernsehens auf das Bildformat oder die Dauer einer Sendung.20 Im Deutschen hingegen hat sich »Format« in Verwendungsweisen eingebürgert, die vielfach dem französischen dispositif im technischen Sinn entspricht, wobei insbesondere der lizenzrechtliche Aspekt eine zentrale Rolle spielt.21 Maßgeblich für das Format in diesem Sinne ist die ² nicht zuletzt auch juristisch relevante ² strikte Einhaltung eines vorgegebenen Konzepts, das in Hinblick auf die ökonomische Verwertbarkeit ausgearbeitet wurde. Dies unterscheidet das Format von den verwandten Begriffen der Gattung und des Genres, welche die Variation eines Grundmusters in den Mittelpunkt stellen.22 Ich möchte den Begriff des Formats etwas weiter fassen und darunter jede gattungstypologisch relevante Festlegung auf Vorgaben verstehen, die mit der Vermarktung und der Ausstrahlung innerhalb eines Programmschemas zu tun haben. Insofern dem Format in dieser Bedeutung eine bestimmte Intentionalität eingeschrieben ist, kann es als synonym mit dem französischen dispositif im technisch-partikularisierenden Sinn gelten. Bezüglich des Formats handelt es sich bei Battlestar Galactica um ein prime-time serial oder dramatic serial, vergleichbar mit anderen Genres zugehörigen Serien wie Emergency Room, Six Feet under, The Sopranos, The West Wing u. a. Der US-amerikanische Medienwissenschaftler Michael Z. Newmann bezeichnet den prime-time serial als einen »Gruppenstil«, der sich, unabhängig von jeglichen Qualitätsmerkmalen, durch eine gemeinsame formale Basis auszeichnet.23 Zu den Merkmalen dieses Formats gehören neben der abendlichen Ausstrahlungszeit die Dauer von etwas über 40 Minu-
20 Vgl. Jean-Claude Soulages: Les rhétoriques télévisuelles: Le formatage du réel, Bruxelles/Paris: De Boeck 2007, S. 55. 21 Vgl. Knut Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart [u.a.]: Metzler 2003, S. *UDHPH 7XUQHU ª*HQUH )RUPDW DQG ¿/LYH¾ Television«, in: The Television Genre Book, hg. von Glen Creeber u. a., London: British Film Institute 2001, S. 6-7. 22 Es ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll, strikt zwischen Gattungen und Genres zu unterscheiden (was im Französischen, wo nur genre zur Verfügung steht, gar nicht möglich ist), da die Klassifizierungs- und Abgrenzungskriterien zu heterogen sind. Sofern »Genre« nicht einfach als auf den Film bezogene Variante zu dem eher literarisch konnotierten »Gattung« verwendet wird, besteht allenfalls ein gewisser Konsens darüber, dass »Genre» stärker inhaltlich definiert ist als »Gattung«. 23 Michael Z. Newman: »From Beats to Arcs: Toward a Poetics of Television Narrative«, The Velvet Light Trap 58 (2006), S. 16-28. Diesem Beitrag sind die folgenden Ausführungen zum prime-time serial entnommen. Vgl. außerdem Jason Mittell: »Narrative Complexity in Contemporary American Television«, The Velvet Light Trap 58 (2006), S 29-40.
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Dispositiv und Format des Fernsehens ten pro Folge, die Anzahl von um die 24 Folgen pro Staffel und die Überwachung sämtlicher Folgen durch einen »showrunner«, der als GHU ¿$XWRU¾ der Serie betrachtet werden kann. Die einzelnen Folgen sind durch das Prinzip sowohl der mise en feuilleton als auch der mise en série24 miteinander verbunden, wobei je nachdem das eine oder das andere Verfahren der Serialisierung überwiegen kann. Hinsichtlich der Erzählstruktur zeichnet sich der prime-time serial durch die Übereinanderlagerung von beats, acts und arcs aus. Der beat ist die narrative Basiseinheit des Serial; er entspricht dem, was in der klassischen Filmanalyse »Szene« genannt wird. Bei der Umsetzung einer story in ein Skript besteht der erste Schritt darin, die Geschichte »herunterzubrechen«, d. h. in beats aufzuteilen ² in der Regel zwischen zwanzig und vierzig pro Folge, was bedeutet, dass jede Szene im Schnitt ungefähr zwei Minuten dauert. Jeder beat muss eine neue Information beinhalten, sei es, dass er die Handlung vorantreibt, sei es, dass er die Reaktion einer oder mehrerer Figuren auf bereits bekannte Handlungselemente zeigt. Der beat muss außerdem neue Zuschauer in die Lage versetzen, der Handlung zu folgen, wobei im Idealfall zusammenfassende Informationen über weiter zurückliegende Handlungselemente mit Informationen über Reaktionen bei anderen Figuren verbunden werden. Die nächsthöhere Ebene bildet die Episode. Sie ist einerseits in sich abgeschlossen, insofern sie eine Antwort auf bestimmte Fragen gibt, andererseits wirft sie neue Fragen auf, die erst in den nächsten Folgen beantwortet werden. Die einzelne Episode ist gewöhnlich in vier Akte eingeteilt, die durch die Werbeunterbrechungen getrennt sind. Den Aktschlüssen, auch »curtains« genannt, gilt eine ähnliche Aufmerksamkeit wie dem Schlusssegment der Episode, insofern sie durch klar fokussierte Fragen oder cliffhanger die Neugier auf die Fortsetzung aufrechterhalten sollen. Auf der Makroebene schließlich sind die so genannten »Bögen« (arcs) und die »Staffelakte« (season acts) angesiedelt. Arcs sind auf die Figuren bezogen, welche sich im Serial signifikant verändern können,25 in einer Art und Weise, wie es im Bereich der Literatur nur der Roman vermag. Im Gegensatz dazu bildet der season act die makrostrukturelle Einheit in Bezug auf die story. Die Staffel wird dabei in sechs bis acht Handlungssequenzen unterteilt, die mit den »Bögen« übereinstimmen können, aber nicht müssen. Während 24 Vgl. Jörg Türschmann: »Aspekte einer Typologie von Fernsehserien«, in: medien ² zeit ² zeichen. Dokumentation des 19. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums 2006, hg. von Christian Hißnauer und Andreas Jahn-Sudmann, Marburg: Schüren 2007, S. 100-107. 25 Im Gegensatz zur Serie (engl. series) mit in sich abgeschlossenen, voneinander unabhängigen Episoden.
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Kathrin Ackermann beats und acts auch in Spielfilmen möglich sind, eröffnen Bögen und Staffelakte neue Möglichkeiten, die für die narrative Langform Fernsehserie spezifisch sind. Diese Grundregeln für den Entwurf von Serials sind zwar in erster Linie durch ökonomische Erfordernisse bedingt. Die Sender haben ein starkes Interesse daran, dass die Zuschauer nach der Werbeunterbrechung nicht wegzappen, dass sie zu bestimmten Zeiten des Jahres, insbesondere nach den Sommerferien, in eine neue Serie starten können, die sie über mehrere Folgen hinweg in Atem hält, und dass auch Zuschauer, die mit dem bisherigen Geschehen nicht vertraut sind, die Möglichkeit haben, in einen Handlungsbogen einzusteigen. Diese strukturellen Merkmale müssen aber nicht von vornherein Einschränkungen des künstlerischen Potentials sein. Wie uns die Autorengruppe Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle) gelehrt hat, ist die Einhaltung von Regeln keine Knebelung der künstlerischen Freiheit, sondern kann im Gegenteil die Kreativität anregen und ein bislang unausgeschöpftes Potential aktivieren.26 Die Aufgaben, die die Autoren von Fernsehserien zu lösen haben, sind vergleichbar mit denen von Autoren klassischer Tragödien. Es geht zum Beispiel darum, die expositorischen Informationen möglichst knapp und organisch zu vermitteln, den Stoff über fünf Akte zu verteilen oder ein dénouement vorzubereiten. Nicht zufällig sind bestimmte Konventionen des Serial-Writing der Dramentheorie entlehnt, so z. B. die Bezeichnungen »act« oder »curtain«. Wenngleich es nicht zu den einzigen und auch nicht den herausragendsten Verdiensten von Battlestar Galactica gehört, ist hier der Umgang mit dem narrativen Material mit großem Geschick gelöst. Inhaltlich knüpft Battlestar Galactica an die gleichnamige Serie aus den 70er Jahren an.27 Sie wird daher auch als deren Remake bezeichnet. Allerdings dient nur die erste Folge der Originalserie als unmittelbare Vorlage, wohingegen sich die weitere Handlung anders entwickelt. Die Hauptfiguren wurden weitgehend übernommen, zum Teil jedoch mit verändertem Geschlecht. Die neuerfundene (»reimagined«) Serie verändert aber vor allem die ideologische Ausrichtung. Stand die Originalserie noch im Zeichen des Kalten Krieges, so ist die neue Serie eine Antwort auf den Irakkrieg, den Anschlag auf das World Trade Center und den »Krieg gegen den Terror«. 26 Vgl. u. a. Oulipo: La littérature potentielle, Paris: Gallimard 1973; Oulipo: Atlas de littérature potentielle, Paris: Gallimard 1981. 27 In der Originalversion ist der Titel beider Serien derselbe; die neue Serie wird in der Regel durch den Zusatz »re-imagined« gekennzeichnet. Im Deutschen trug die Originalserie den Titel Kampfstern Galactica, für die neue Serie wurde der englische Titel übernommen.
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Dispositiv und Format des Fernsehens Nach einem Angriff der Zylonen ² von den Menschen geschaffene Roboter, die gegen ihre Schöpfer rebelliert haben ² werden die zwölf Planeten der Kolonien zerstört. Nur einige wenige Raumschiffe, die sich zum Zeitpunkt des Überfalls im Weltall befinden, können sich retten, darunter die Galactica, ein altes Kampfschiff, das am selben Tag bei einer feierlichen Zeremonie stillgelegt werden sollte. Die Handlung konzentriert sich zunächst auf die Flucht vor den Zylonen, welche die Überlebenden verfolgen, nicht nur mit ihren Raumschiffen, sondern auch durch Sabotage innerhalb der Flotte. Denn die Zylonen haben menschliche Modelle entwickelt, die unerkannt an Bord der Galactica leben. Der staffelübergreifende Spannungsbogen wird durch die Suche nach dem neuen Heimatplaneten Erde bestimmt, der legendären dreizehnten Kolonie gemäß den religiösen Schriften der Menschen. Die Frage nach der Existenz der Erde, die von vielen angezweifelt wird, bekommt im Midseason-Finale der vierten Staffel eine scheinbare Antwort ² in den wohl deprimierendsten Bildern, die jemals eine Fernsehserie gezeigt hat: Nachdem die Zuschauer ebenso lange wie die Flotte, nämlich vier Jahre, auf diesen Moment gewartet haben, wird die Erde endlich gefunden ² sie ist jedoch ein von nuklearen Waffen zerstörter, unbewohnbarer Planet. Es handelt sich freilich um einen Trugschluss ² der Planet ist zwar die legendäre dreizehnte Kolonie, ihre Bewohner waren jedoch ebenfalls (menschliche) Zylonen, die von ihren eigenen Roboterzylonen vernichtet wurden. Es bestätigt sich somit ein zentraler Glaubenssatz sowohl der menschlichen als auch der Zylonenreligion: »All of this has happened before and it will all happen again.«28 Am Ende gelangen die Menschen gemeinsam mit einer sektiererischen Gruppe von Zylonen auf unserer heutigen Erde 150 000 Jahre vor unserer Zeit an. Sie lassen sich dort nieder und beschließen, ihre Technik zu vernichten, um den Zyklus der Zerstörung zu beenden. Die letzte Sequenz zeigt das heutige New York, was die Frage aufwirft, ob dieses Ziel erreicht wurde oder nicht. Eine eindeutige Antwort wird darauf nicht gegeben. Battlestar Galactica hält sich sehr genau an das Format des prime-time serial. Abweichungen gibt es jedoch bezüglich des Genres. Es handelt sich zwar um eine Science-Fiction-Serie, es gehörte aber von Anfang an zum Projekt von Battlestar Galactica, die Genrekonventionen zu unterlaufen. Der Showrunner Ronald D. Moore prägte für seine Neukonzeption der SF-Serie die Bezeichnung »naturalistische Science-Fiction«. In einem Mission Statement fasst er zu-
28 Dieser leitmotivisch, teilweise in leicht modifizierter Form wiederkehrende Satz zitiert den Beginn von Walt Disneys Zeichentrickfilm Peter Pan (1953).
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Kathrin Ackermann sammen, welche Neuerungen hinsichtlich des filmischen Stils, der Montage, der Geschichte und des Umgangs mit der Wissenschaft ihm vorschwebten. Battlestar Galactica sollte sich durch einen dokumentarischen Stil auszeichnen, der sich am cinéma vérité orientierte und nicht an den schnellen Schnitten und aufpeitschenden Soundtracks der Mainstream-SF. Lange Einstellungen, geräuschlose Raumschlachten, genreuntypische Settings sollten die Erwartungen an eine SF-Serie unterlaufen. Im Zentrum sollte nicht die Geschichte stehen, sondern die Figuren und darüber hinaus die Gesellschaft, der sie angehören, so dass diese als Allegorie unserer heutigen Gesellschaft angesehen werden kann.29 Nicht alle diese Programmpunkte konnten Moore und sein Team verwirklichen. So musste er Abstriche an seiner Vorstellung von »realistischen« Raumschlachten machen. Andere Abweichungen vom ursprünglichen Konzept sind weniger durch die Ausrichtung auf die Publikumserwartung bedingt als durch die Geschichte selbst.30 Dies betrifft v.a. die Rolle übernatürlicher, mit unserem heutigen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis inkompatibler Elemente. Die Serie ist keineswegs frei von unerklärlichen Vorgängen und Ereignissen ² diese werden allerdings nicht durch SF-typische pseudowissenschaftliche Theorien motiviert, sondern durch die Religion der dargestellten Gesellschaften.31 Der breite Raum, der in Battlestar Galactica der Religion gewährt wird, stellt die wohl größte genrespezifische Neuerung dar, ist es doch in der Science-Fiction umgekehrt üblich, für Phänomene, die zuvor durch göttliches Einwirken erklärt wurden, eine wissenschaftlich Begründung zu liefern. In Battlestar Galactica sind die Menschen Anhänger einer polytheistischen Religion. Sie legen großen Wert auf die Tradition ihrer Schriften, sie kennen Priester und Priesterinnen, religiöse Zeremonien, Kultobjekte. Die Zylonen hingegen vertreten eine monotheistische Religion. Als von den Menschen geschaffene Maschinen verstehen sie sich als Kinder der Menschheit und glauben daher ihre Eltern töten zu müssen, um erwachsen zu werden. Eine Gruppe von aufständischen Zylonen erkennt dies jedoch als einen Fehler und versucht den Plan Gottes, der ihnen den Auftrag gegeben hat, die besseren Menschen zu werden, dadurch zu verwirklichen, dass sie wahrhaft »menschlich« und das heißt sterblich werden. Was die Figuren begrifft, so weichen diese in bemerkenswerter Weise vom konventionellen Gut-Böse-Schema ab. Auch diejenigen 29 Vgl. Ronald D. Moore: »Naturalistic Science Fiction, http://en.battlestar wiki.org/wiki/Naturalistic_science_fiction [Stand: 04.08.2009]. 30 »Ron Moore on Religion vs. Humanism in Star Trek and BSG«, http://liberalvaluesblog.com/?p=584 [Stand: 04.08.2009]. 31 Battlestar Galactica überschreitet dennoch niemals die Grenze zur Fantasy.
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Dispositiv und Format des Fernsehens Figuren, zu denen der Zuschauer eine besondere Sympathie und Nähe aufbaut, treffen häufig falsche und fragwürdige Entscheidungen, erscheinen unsympathisch, ja sogar unwürdig. Andere Figuren sind durch und durch ambivalent, wie z. B. der Exterrorist und Sozialrevolutionär Tom Zarek, der zum Vizepräsidenten gewählt wird und bei dem man nie genau weiß, ob er aus hehren politischen Zielen heraus handelt oder zur Befriedigung seines Egos, oder der Wissenschaftler Gaius Baltar, der zu Beginn der Erzschurke ist, weil er einer Zylonin den Zugang zum menschlichen Verteidigungssystem ermöglicht hat, der dann eine zwielichtige Rolle als Präsident übernimmt, nach seiner Amtszeit als Kollaborateur angeklagt und in einem spektakulären Prozess freigesprochen wird (obwohl sich der Zuschauer eigentlich Baltars Bestrafung wünscht), sich später zur Zylonenreligion bekennt, um seine Schuldgefühle zu bewältigen, und am Schluss in gewisser Weise sogar zum Retter der Menschheit wird, weil er in einem wichtigen Moment eine richtige Entscheidung trifft. Es gibt schließlich auch Figuren, die tragisch scheitern wie der loyale Offizier Felix Gaeta, der nach dem Pakt Admiral Adamas mit den Zylonen gegen die neue Politik rebelliert und einen Putsch anzettelt. Die Themen der Serie weisen eine Vielzahl von Parallelen zu den Ereignissen des elften September, zum Angriff der USA auf den Irak oder zum Folterskandal von Abu Ghraib auf, ohne dass es möglich ist, die Serie als unmittelbare Allegorie aufzufassen. Die Präsidentin der Kolonien ist ebensowenig George W. Bush wie die Zylonen AlQaida sind. Stattdessen ermöglichen die wechselnden Perspektiven auf Themen wie Selbstmordattentate, Umgang mit politischen Gefangenen und Kollaborateuren einen verfremdenden und nicht selten verstörenden Blick auf die Situation der heutigen USA.32 Es geht um Fragen wie: Darf eine Militärführung das Kriegsrecht verhängen, wenn sie davon überzeugt ist, dass die zivile Führung von religiösem Fanatismus verblendet ist? Ist es legitim, in Zeiten massiver Bedrohung durch einen übermächtigen Feind die Freiheitsrechte einzuschränken? Moores Mission Statement ist kein poetologischer Essay, sondern ein Werbetext, mit dem er dem Sender sein Projekt anpreist. Er nennt daher bei weitem nicht alle innovativen Merkmale der Serie, vor allem nicht solche, denen gewinnorientierte TV-Produzenten eher skeptisch gegenüberstehen. Wenngleich Battlestar Galactica durchaus auch ein Massenpublikum anspricht, das Gefallen an
32 Vgl. Woody Goulart/Wesley Y. Joe: »Inverted Perspectives on Politics and Morality in Battlestar Galactica«, in: New Boundaries in Political Science Fiction, hg. von Donald M. Hassler und Clyde Wilcox, Columbia: University of South Carolina Press 2008, S. 179-197.
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Kathrin Ackermann spektakulären Raumschlachten, an dramatisch zugespitzten Konfliktsituationen, aber auch an Geschichten von Liebe und Eifersucht findet, kann man eine Vielzahl metaphorischer, intertextueller und selbstreferentieller Verfahren erkennen, die an das Abstraktions- und Reflexionsvermögen der Zuseher appellieren. Ein Beispiel für filmische Metaphern, die verstärkt die Reflexionstätigkeit des Zuschauers anregen, sind die mitten ins Showfinale eingefügten Bilder von Lee Adama, der vergeblich versucht, mit einem Besenstil eine Taube aus einem Zimmer zu verjagen, oder die Visualisierung des »different prism«,33 einer von Moore häufig gewählten Metapher, mit welcher er seine veränderte Sicht auf das Genre Science-Fiction ausdrücken will. Abb. 1: Commander Adama betrachtet alte Fotos durch das »Prisma« einer Flasche
Battlestar Galactica, Staffel 2, Folge 3 (Fragged)
Intertextualität findet sich beispielsweise bei der Darstellung des Attentats, das Cally Tyrol an der Zylonin Boomer verübt, die ihrerseits auf Commander Adama geschossen hat. Die Bildregie dieser Szene ist nach den bekannten Fotografien vom Schuss auf den Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald stilisiert. Insbesondere allegorisiert die Grundfrage der Serie, nämlich die QDFKGHP3ODQ*RWWHVGLH)UDJHQDFKGHP3ODQGHV¿Autors¾Xmso mehr, als sich die formatspezifische Produktionsweise, bei der mehrere Skriptwriter, Drehbuchautoren und Regisseure zusammenarbeiten, in der polytheistischen Religion der Kolonialen widerspiegelt.
33 Ron Moore on Religion vs. Humanism in Star Trek and BSG (10.11.2006), http://liberalvaluesblog.com/?p=584 [Stand: 04.08.2009].
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Dispositiv und Format des Fernsehens Auch Dispositive werden in Battlestar Galactica selbstreferentiell thematisiert: Büchern, Kunst und Literatur wird hier ein hoher Stellenwert zugestanden. Die Kolonialen besitzen eine Kultur der Endlichkeit, der Individualität und der Erinnerung, im Gegensatz zur zylonischen Kultur, die sich durch endlose Wiederholung, Uniformität und virtuelle Projektion auszeichnet, so wie dies auch bei einer Fernsehserie der Fall ist.34 Abb. 2: Die Attentäterin Boomer wird von Cally erschossen
Battlestar Galactica, Staffel 2, Folge 4 (Resistance) Es ist also möglich, einen Zugang zu Battlestar Galactica zu wählen, der nicht die fernsehspezifischen Verfahren hervorhebt ² z.B. die mehr oder weniger gelungene Realisierung des Formats prime-time serial, die Verfahren der Zuschauerbindung, die Maximierung der Spannung usw. ², sondern das, was Roger Odin den »ästhetischen Modus« nennt im Gegensatz zum »Kunstmodus«.35 Der Kunstmodus bezieht sich auf die institutionelle Zuordnung eines Gegenstandes zum Bereich der Kunst. Der ästhetische Modus hingegen zielt auf die Entdeckung ästhetischer Werte ab, die erst nach Überwindung verschiedener Widerstände aufgefunden werden können. Diese Werte sind nicht als die Botschaft des Werkes zu verstehen, sondern werden erst im Zusammentreffen des Subjekts mit dem
34 Das für die SF zentrale Verhältnis zur Technik wird hier insofern umgekehrt, als die Menschen eine sichtbare, gegenüber unserem heutigen Stand in einigen Bereichen sogar bewusst zurückentwickelte Technik besitzen, während die Zylonen zwar über eine überlegene Technik verfügen, diese aber unsichtbar bleibt (man könnte sagen, die Zylonen benutzen Technik nicht, sie sind Technik). 35 Roger Odin: »Kunst und Ästhetik bei Film und Fernsehen. Elemente zu einem semio-pragmatischen Ansatz«, Montage/AV 11,2 (2002), S. 42-57.
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Kathrin Ackermann Objekt konstruiert. Dabei liegt das Wesentliche nicht im Gehalt dieser Werte, sondern »in der Bewegung, in der Suche nach ihnen.«36
Fernsehen als Kunst? Um bei Werken der Television den ästhetischen Modus in Gang zu setzen, ist es aber notwendig, sie vom flow des Fernsehens abzukoppeln. Durch die Veränderung des televisiven Dispositivs, genauer gesagt durch die Annäherung an das Dispositiv der Lektüre, wird es vielleicht möglich sein, innerhalb des Fernsehens einen Bereich von ¿TextHQ¾ RGHU ¿Werken¾37 auszumachen, die einen ähnlichen Stellenwert einnehmen wie innerhalb der Gesamtheit des Schrifttums GHUMHQLJH GHQ ZLU DOV ¿Literatur¾ bezeichnen. Bekanntlich stützen sich die Versuche, Literatur zu definieren, entweder auf das Merkmal der besonderen Sprachverwendung oder auf jenes der Fiktionalität; da beide Kriterien allein nicht ausreichend sind, muss man zur Bestimmung von Literatur auf soziale und kulturelle Konventionen zurückgreifen. Übertragen auf den Bereich des Fernsehens bedeutHW GLHV GDVV VLFK EHVWLPPWH ¿:HUNH¾ durch die Besonderheit ihrer audiovisuellen Sprache auszeichnen, andere wiederum durch ihren fiktionalen Charakter. In der Schnittmenge beider lässt sich ein literaturanaloger %HUHLFK DXVPDFKHQ GHQ PDQ DOV ¿AutorenfeUQVHKHQ¾ bezeichnen könnte ² ein Bereich also, in dem es möglich ist, aus der dispositiven Logik des Fernsehens auszubrechen.38 Ronald Moore hat angedeutet, dass er viele seiner Ideen nur deshalb verwirklichen konnte, weil die Sender zwar generell Angst vor widersprüchlichen Botschaften haben, diese aber gar nicht wahrnehmen, sobald sie im Gewand einer Science-Fiction-Serie da-
36 Ebd., S. 47. 37 Zum Werkbegriff im Fernsehen vgl. Stéphane Benassi: »Les fictions téléviVXHOOHV ±XYUHV RX SURGXLWV"© LQ 7pOpYLVLRQ 1RWLRQ G·±XYUH QRWLRQ G·DXWHXU, hg. von René Gardiès und Marie-Claude Taranger, Paris: Harmattan 2003, S. 57-74. 38 Vgl. Zielinski zum Vorläufer der DVD, dem Videorecorder, der ursprünglich zu einem ganz anderen Zweck entwickelt worden war, in den Händen der Zuschauer dann aber »zur Herstellung nicht von gemeinsamen, sondern singularisierten audiovisuellen Erfahrungen, der Herstellung von anarchischen Fern-Sehverhältnissen im zeitbezogenen Sinne« diente. Der Nutzer bekommt durch den Videorecorder eine Autonomie, die ihm zuvor nur die Schrift ermöglicht hatte. Zielinski spricht daher von einem »Literarisierungsprozeß von Audiovisuellem« (Audiovisionen, S. 237).
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Dispositiv und Format des Fernsehens her kommen.39 Ob es sich also beim Autorenfernsehen um eine Option für GLH=XNXQIWKDQGHOWRGHUHLQHQ¿%HWULHEVXQIDOO¾ des Fernsehens, bleibt abzuwarten.
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DIE LUST AM SERIELLEN
Das Format »Abendfüllende Kriminalserie« in Frankreich und Deutschland KLAUS-PETER WALTER
1. Einleitung Den Ausgangspunkt für die nachfolgende Sichtung hat der vertraute Umgang mit dem deutsche Fernsehen geliefert: Als einem ausgesprochenen Liebhaber von deutschen Fernsehkrimis in der sogenannten ¿abendfüllenden¾ Langform,1 und hier verwöhnt vom Wochenend-Angebot der beiden öffentlich-rechtlichen Marktführer ARD (sonntags mit Tatort und Polizeiruf 110) sowie ZDF (mit den diversen Ausprägungen des Samstagskrimis), stellt sich dem professionellen Französisten die Frage, ob im Fernsehsystem des Nachbarlandes das fragliche Phänomen in ähnlicher Ausprägung existiert bzw. mit welchen Spezifika das TV-Format ¿abendfüllender Kriminalfilm¾ in Frankreich vermarktet wird. Die Eingrenzung des Korpus auf ¿abendfüllende SerienProduktionen¾ bedarf der Erläuterung. Das dem Kinofilm affine 8590-Minuten-Format bringt die Chance mit sich, dass relativ komplex erzählt werden kann: An die Stelle einer konzentrierten und damit zwangsläufig zum Mechanischen tendierenden Fallaufklärung, wie sie das Zeitbudget von 45 bis 52 Minuten mit sich bringt, bietet die Langform die Möglichkeit zu einer nicht ausschließlich linearen Intrigenführung, in deren Verlauf konkurrierende Versionen der Wahrheitsrekonstruktion und unterschiedliche Ansätze der Ermittlungsarbeit sowie Peripetien inszeniert werden können, womit bei den Zuschauern die Hypothesenbildung und damit das SichHineinversetzen in die Welt der erzählten Verbrechens- und Aufklärungsfiktion stimuliert wird. Hinsichtlich der erzählten Welt eröffnet die zur Verfügung gestellte Zeit die Chance, im Sinne der tendenziell 1
Nachfragen bzw. Reaktionen auf das vorliegende Unterfangen haben übrigens ergeben, dass diese Sehgewohnheit gerade auch in universitären Kreisen keineswegs eine Ausnahmeerscheinung darzustellen, ja recht eigentlich schon »Kult-Status« einzunehmen scheint.
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Klaus-Peter Walter sich eröffnenden Totalität des filmischen Wirklichkeitsausschnitts die jeweils durchgespielte Delikt-Thematik intensiver auf die inneren Bedingungszusammenhänge des Tatmotivs, aber auch der Verhaltensweisen im Umfeld des Falls und der Aufklärungsarbeit auszumodellieren und damit auszuleuchten. Darüber hinaus wird dank der die Einzelfälle übergreifenden Konstituierung dauerhaft arbeitender Ermittlerfiguren bzw. -teams ein Serien-Effekt erzeugt, der durch die entstehende Vertrautheit, um nicht zu sagen Familiarität, die stärkere Identifikation mit der so als ¿professionell¾ markierten Aufklärungsarbeit, also der Auseinandersetzung mit den kriminellen Handlungen und den Modi ihrer Bereinigung, ermöglicht. Dass zugleich natürlich auch die doppelte Gefahr der Typisierung von Figuren und der Standardisierung von kriminellen und kriminalistischen Verhaltensweisen besteht, soll nicht verschwiegen werden, ohne dass hier einer für unsere Erkenntnisinteressen irrelevanten Diskussion über die Zurechnung von Fernsehkrimis zur wie auch immer gearteten ¿Trivial¾-Unterhaltung des Mediums Fernsehen Vorschub geleistet werden müsste.2 Das Untersuchungskorpus setzt sich unter den genannten Prämissen der Filmlänge und des Seriencharakters wie folgt zusammen: Von deutscher Seite wurden die Serienprodukte der beiden führenden öffentlich-rechtlichen Kanäle ARD und ZDF im Kalenderjahr 2009 zur Analyse herangezogen, also in der ARD die sonntäglich ausgestrahlten Tatorte und der regional ebenfalls unterschiedlichen Kriminalgeschichten von Polizeiruf 110, seitens des ZDF die unter dem Oberbegriff Der Samstagskrimi ausgestrahlten Filme.3 Auf französischer Seite wurden die drei einschaltstärksten Kanäle TF1 (privat, Marktführer mit 26%), FRANCE 2 und FRANCE 3 (beide
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3
Die vorliegende Studie versteht sich in erster Linie als empirische Sichtung zu Erscheinungsweise und Funktion des Genres ¿DEHQGIOOHQGHU 79.ULPLQDOILOP¾LQQHUKDOEGHUJHJHQZlUWLJHQ3URJUDPPVWUXNWXUGHVIUDQ]|Vischen und des deutschen Fernsehens, weshalb auf eine Theoriediskussion zur Theorie der Fernsehserie und die Berücksichtigung von Befunden zu früheren Erscheinungsformen verzichtet wurde. Zur Serien-Theorie sei auf die Arbeiten von Boll (1994), Hickethier (1991), Jost (2009) und Mikos (1992) und zum TV-Kriminalfilm für Frankreich auf Jost (2004) und für Deutschland auf Brück u.a. (2003) verwiesen. Wenn als übergeordnetes Konstitutivum des deutschen Fernsehkrimis die aus den föderalistischen Prämissen resultierende regionale Streuung der Figuren und Ermittlungsstile gilt, ist zu bedauern, dass es den Rahmen gesprengt hätte, die so originelle Kultur des österreichischen Fernsehkrimis (Kottan ermittelt, Trautmann, Polt usf.) in die Untersuchung mit einzubeziehen.
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»Abendfüllende Kriminalserie« öffentlich-rechtlich; 17% resp. 12%)4 zur Sichtung herangezogen, wobei sich die Inventarisierung, der wöchentlichen Programmstruktur Rechnung tragend, etwas komplizierter darstellte. Da sich die Ermittlung relevanter Serien-Teile nicht auf die Wochenenden beschränken konnte, wurden die Kanäle auf ihr komplettes Wochenangebot gesichtet, allerdings mit der Eingrenzung auf das Abendprogramm zwischen 20:30 Uhr und 00:00 Uhr.5 In Zeiten, in denen sich Globalisierung gerade auch als Signum der Massenmedien manifestiert, muss ein Untersuchungsansatz wie der vorliegende als Abenteuer anmuten: Eigentlich ist davon auszugehen, dass sich die Spezifität krimineller Kapitalverbrechen und Machenschaften sowie der sie bekämpfenden Ermittlungspersonen und der von ihnen angewendeten Methoden grenzüberschreitend einheitlich darstellt, womit auch die Wahrscheinlichkeit, dass die filmisch-narrative Aufbereitung von Fernseh-Kriminalistik globalen Inszenierungsstrategien folgt, eher groß ist. Der Gefahr der Unergiebigkeit war sich diese Sichtung deshalb von Anfang an ebenso bewusst wie der daraus resultierenden Verlockung, gewissermaßen ¿gewaltsam¾ irgendwelche distinktiven Merkmale innerhalb der deutschen und der französischen Fernseh-Krimi-Produktion zu ermitteln, um auf jeden Fall einen Ertrag der aufwändigen Auswertung vorzeigen zu können. Dennoch beansprucht das Unterfangen für sich, gleich in vierfacher Hinsicht signifikante Unterschiede aufzeigen zu können.
2. Der Kriminalfilm im Programmangebot des deutschen und des französischen Fernsehens. Eine quantitative Auswertung Um es vorwegzunehmen: Es mutet eigentümlich an, dass eine Kulturnation, die mit Schriftstellern wie Émile Gaboriau, Georges Simenon, Léo Malet oder San Antonio und deren legendären Ermittlerfiguren ihren maßgeblichen Anteil an der Herausbildung und Kanonisierung der literarischen Gattung Kriminalroman beigetragen hat, nicht ohne Grund der eigentlich auf Amerika fokussierten Kinogattung des film noir ihren Namen gab und darüber hinaus mit Regisseuren wie Jacques Becker, Jules Dassin, Jean-Pierre Melville,
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Es handelt sich um die Jahresdurchschnittswerte für 2009 (Quelle: InternetAusgabe von Le Nouvel Observateur, www.teleobs.nouvelobs.com vom 04.01.2010). Für die inhaltsanalytische Auswertung in den Kapiteln 3-5 wurde gelegentlich auf die häufigen Nachmittagswiederholungen alter Episoden-Ausstrahlungen für besonders aussagekräftige Konfigurationen zurückgegriffen.
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Klaus-Peter Walter Yves Boisset oder Claude Chabrol eine kinematographische Kultur des Krimis mit Weltgeltung realisiert hat, der Ausstrahlung ¿langer¾ Kriminalfilme für die häusliche Bildschirmrezeption eine derart geringe Beachtung schenkt, wie die nachstehende Auszählung erweisen wird. Die Gesamtauswertung des Programmangebots in den Kalenderwochen zwei bis 26 (04.01. bis 27.06.2009) und 37 bis 51 (06.09. bis 20.12.2009) (also insgesamt 40 Kalenderwochen unter Ausklammerung der Sommerferien und der Weihnachts-/Neujahrszeit) fördert folgendes kontrastives Erscheinungsbild zwischen deutschen und französischen Verhältnissen zu Tage: An den fraglichen Sonntagabenden zwischen 20:15 und 21:45 Uhr präsentiert die ARD 32 neue Tatorte und fünfmal Polizeiruf 110, verzichtet also lediglich an drei Sonntagen auf die gewohnte KrimiRation.6 Etwas spärlicher fällt im ZDF das Kontingent an Samstagskrimis aus, die unter der Konkurrenz diverser ¿volkstümlicher Hitparaden¾ und durch Wetten, dass... leiden, es in Gestalt einzelner Episoden der Serien nichtsdestoweniger aber auf die Belegung der 22 von 40 möglichen Samstags-Sendeplätzen zur begehrten Primetime 20:15 bis 21:45 Uhr bringen.7 Nur auf den ersten Blick vermag demgegenüber das KrimiAngebot des Marktführers TF1 aus der Perspektive unserer Fragestellung zu beeindrucken. Zwar nicht immer auf den beliebtesten Sendeplätzen direkt nach den Abendnachrichten (ab 20:55 Uhr), dafür aber nahezu täglich finden sich Einheiten von Kriminalserien im Abendprogramm, so dass für die untersuchten 40 Kalenderwochen ein Gesamtwert von 23.420 Minuten an Polizei- und Detektivfilm-Einheiten aufaddiert werden konnte, was einem wöchentlichen Ausstrahlungskontingent von knapp 10 Stunden entspricht. In geradezu erdrückender Weise (95%, bezogen auf Sendeminuten) wird dieses Angebot allerdings von kurzen Serien-Folgen dominiert, und hier von den einschlägigen 40-Minuten-Erfolgsreihen US-amerikanischer Provenienz wie Les experts (CSI, Crime Scene Investigation); New York, section criminelle; New York, unité spéciale (Law and Order); Lost, les disparus u.a., die für sich genommen mehr als drei Viertel der gesamten Kriminal-Sendezeit beanspruchen. Demselben Kurz-Format, wenn auch im nationalen Standard von 52 Minuten pro Einheit, gehören französische Serienproduktionen wie R.I.S., Police scientifique, Profilage oder Section de recherches an. Dass es sich bei der Verabreichung von kurzformatigen Einheiten um einen 6
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Zweimal verdrängt die Bundestagswahl den Krimi. Am 22.11. suspendiert die Fernseh-Erstaufführung des Kinoerfolgs Der Baader-Meinhof-Komplex, Teil I für eine Woche die Auslastung mit Tatort/Polizeiruf. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Serien: Bella Block, Das Duo, Ein starkes Team, Kommissarin Lucas, Lutter, Rosa Roth, Stubbe: Von Fall zu Fall, Wilsberg.
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»Abendfüllende Kriminalserie« ausgesprochenen Trend der gegenwärtigen Krimi-Ausstrahlung in Frankreich handelt, macht ein ins Auge springender Umstand deutlich: Bei vier weiteren französischen Serien dieses Formats handelt es sich um z.T. sehr populäre Reihen, die früher in Langform gesendet und ab 2008/2009 auf die 52er Einheiten zurechtgestutzt worden sind (Diane, femme flic; Brigade Navarro; Femmes de loi; Alice Nevers: le juge est une femme). Die Gründe für diese geradezu flächendeckende Format-Reduzierung dürften rezeptionsseitig in der griffigeren Konsumierbarkeit auszumachen sein, diffusionsseitig kommt zugleich in völlig ungenierter Weise ein kommerzielles Kalkül zum Tragen: Die Miniaturisierung ermöglicht häufigere Werbeunterbrechungen zwischen und innerhalb der inhaltlich unabhängigen Einheiten, von denen in der Regel zwei oder drei direkt aufeinander folgen. So bleiben für die uns interessierenden Langfolgen auf TF1 in den beiden fraglichen Zeiträumen von insgesamt 40 Wochen 12 Filme mit einer Netto-Gesamtlänge von rund 990 Minuten ² ganze 4% des Gesamtvolumens an Krimi-Ausstrahlungen, denen dann immerhin der Primetime-Platz im Donnerstagabend-Programm zugestanden wird. Vier dieser Filme sind allerdings als nicht-serielle Einzelfilme abzurechnen, so dass ganze acht abendfüllende SerienEpisoden übrig bleiben: vier Episoden (davon zwei Wiederholungen) um die eher unernst aufgezogenen Verbrecherjagden der OrdensVFKZHVWHU 6±XU 7KpUqVH XQG GLH $XVVWUDKOXQJ GHU 6WDIIHO GHU Erfolgsserie Julie Lescaut in Gestalt von vier über das Jahr verstreuten Episoden ² unser eigentliches Korpus bezüglich TF1. 8 Erwartungsgemäß reduziert im quantitativen Ausmaß (6.524 Krimi-Sendeminuten), in der Tendenz jedoch ganz ähnlich stellen sich die Verhältnisse auf FRANCE 2 dar. Auf den PrimetimeSendeplätzen montags und freitags wird das Feld von seriellen Kurz-Krimis beherrscht, die 78% des Programmsegments für sich beanspruchen. Nicht anders als bei der privaten Konkurrenz von TF1 handelt es sich in erster Linie um US-Importe (FBI, portés disparus [Without A Trace] und Cold Case, affaires classées). Aus der einheimischen Produktion ragt im kurzen Segment P.J. heraus, eine Serie, die trotz respektabler Einschaltquoten (zuletzt 4,2 Millionen Zuschauer) nach 145 Episoden im Mai 2009 zu Ende geführt wurde, ohne bis dato einen gleichwertigen Nachfolger gefunden zu haben. Da den öffentlich-rechtlichen Kanälen seit 2009 Werbung im 8
Zur Einordnung: Die zuletzt ausgestrahlte Julie-Lescaut-Episode, »Passions aveugles«, erreicht am 12.11.2009 7,87 Millionen Zuschauer, was einer Quote von 32,1% entspricht (nach www.toutelatele.com). Zum Vergleich: Tatorte bringen es im Schnitt auf 7,5 bis 8,5 Millionen Zuschauer (22-25% Einschaltquote; vgl. dazu die insgesamt äußerst informative InternetAdresse www.tatort-fundus.de).
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Klaus-Peter Walter Abendprogramm verboten worden ist, stellt sich für FRANCE 2 das bei TF1 festgestellte Phänomen der Formatreduzierung bewährter Langzeit-Serien auf 52 Minuten gar nicht erst. 17 abendfüllende Kriminalfilme, allesamt französischer Provenienz, konnten bei FRANCE 2 in den beiden Untersuchungszeiträumen ausfindig gemacht werden, was immerhin einem Anteil von 24% am kriminalistischen Sendeaufkommen entspricht. Allerdings muss auch hier genauer hingeschaut werden ² mit der Konsequenz, dass sich der Vorrat an ¿eigentlichen¾ Kriminalfilmen serieller Natur deutlich reduziert. Bei zwei Filmen handelt es sich um Einzelprodukte, die Geschichten um die 3HWLWVPHXUWUHVG·$JDWKD&KULVWLHverstehen sich, wie der Titel insinuiert, eher als Literaturverfilmungen klassischer Kriminalstoffe, und der dreifache Serien- und Titelheld Nicholas Le Floch ist gar eine im Paris des 17. Jahrhunderts agierende Ermittlerfigur. Damit kommen für unsere Vergleichsbetrachtung im engeren Sinn nur die beiden Serien Un flic (drei Folgen) und vor allem Boulevard du Palais (fünf Episoden, davon allerdings nur drei neue Folgen, die im September und November 2009 ausgestrahlt wurden) in Frage. Eine weitere Enttäuschung im Verhältnis zu unserem deutschen Krimi-Angebot bietet schließlich FRANCE 3 ² auch hier gegen den ersten Anschein. Zunächst beeindruckt der Regional- und Kulturkanal des öffentlich-rechtlichen Systems in Frankreich durch die Dominanz seiner langen Kriminalfilme: Während hier KurzEpisoden (übrigens mehrheitlich aus französischen Produktionen) nur knapp ein Viertel des Sende-Kontingents im Kriminal-Segment ausmachen, hält der Kanal vornehmlich im Programm von Samstag- und Sonntagabend 46 Fernseh-Kriminalfilme im 85/90Minuten-Format vor. 18 dieser Produktionen stellen allerdings ² französische ² Einzelfilme dar, wovon zwölf wiederum zum Teil sechs bis zehn Jahre alte Wiederholungen sind. Immerhin bleiben 28 zu Serien gehörige Ausstrahlungen, von denen jedoch schlagartig 26 aus unserer Auswahl ausscheiden, da es sich um britische Produktionen handelt, die den Sonntagabend-Platz um 20:35 Uhr für sich beanspruchen (Inspecteur Lewis, dann Inspecteur Barnaby). So bleiben letztendlich nur die beiden im März und Mai 2009 ausgestrahlten Folgen von La Louve als Beitrag von FRANCE 3 zur französischen Serienproduktionen im Langformat übrig. Fassen wir zusammen: Den 59 Originalproduktionen an seriengebundenen Kriminalfilmen zur Samstag- bzw. Sonntagausstrahlung bei ARD und ZDF stehen verschwindende 18 französische Entsprechungen (TF1: acht, FRANCE 2: acht, FRANCE 3: zwei), fünf Wiederholungen eingerechnet, gegenüber. Das Moment der Identifikation mit einheimischen Ermittlerfiguren und -teams, ihrer Interaktion und ihren Aufklärungsmethoden inmitten einer erzählten
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»Abendfüllende Kriminalserie« Lebenswelt scheint keine sonderliche Relevanz für das französische TV-Publikum zu besitzen und allenfalls in Gestalt der eher hastig abgehandelten Kurzermittlungen über 40 oder 52 Minuten zur Geltung zu kommen. So lässt sich aus dieser objektiven Vernachlässigung des Serien-Faktors im französischen Fernsehkrimi schließen, dass wir die Verlagerung des Erkenntnisinteresses vom vertrauten Umgang mit den Ermittlungsinstanzen auf die Wucht des spezifischen Verbrechensfalls selbst und/oder die Individualität des Täters zu konstatieren haben. Man könnte der Interpretation der numerischen Befunde zu den französischen Krimi-Verhältnissen als ¿defizitär¾ im Vergleich zur deutschen Sendepraxis entgegenhalten, dass es auch ein einzelner deutscher Serienermittler, sei es im Tatort, bei Polizeiruf oder im ZDF-Samstagskrimi, genau wie seine französischen Kolleginnen und Kollegen auch nur auf zwei bis maximal vier Neuauftritte im Jahr bringt. Das stimmt, jedoch sind es die übergeordneten Quantitäten, die die ausschlaggebende Rolle spielen. Die Tatsache, dass faktisch Woche für Woche ein neues Identifikationsangebot mit dem seriellen Prinzip besteht, ob in Berlin, München, Hamburg, Halle, Saarbrücken oder Regensburg lokalisiert, verweist auf die Bedeutung, die der Arbeit von vertrauten Ermittlerteams bei der Verbrechensbekämpfung zugemessen wird und trägt natürlich unter dieser verbindenden Vorgabe auch der föderalen Erfahrung in der deutschen Lebenswelt Rechnung. Es scheint sich also so zu verhalten, dass der französische Zentralismus die skizzierte Dosierung bei der Ausstrahlung langer Kriminalfälle im selben Maß konditioniert, wie der deutsche Krimi seine nicht abreißende Attraktivität gerade aus dem föderalen Zwang zur regionalen Streuung gewinnt.
3. Unterschiede in der narrativen Aufbereitung von Verbrechen und Wahrheitsfindung Auf den Punkt gebracht, lässt sich die narrative Inszenierung der untersuchten französischen Fernsehkrimis als ¿sachlich¾ kennzeichnen. In aller Regel setzt die Diegese nach verübtem Gewaltverbrechen mit der Auffindung des Opfers und dem Beginn der Ermittlungsarbeit ein. Wenn die Tat selbst filmisch erzählt wird, kommt es zwar zu den für die Verschleierung von Täterschaft und Tatmotiv erforderlichen Kaschierungsmaßnahmen (Einnahme einer Kameraperspektive, die die vollständige Einsicht in die Szenerie verweigert, Wechsel des Fokus am Tatort oder weg von ihm im entscheidenden Augenblick, Einbringung einer kurzen Erzählkerbe, die den unmittelbaren Moment des Hergangs ausblendet), jedoch sind selbst solche Strategien der Zuschauerverunsicherung noch um Plausibili87
Klaus-Peter Walter sierung bemüht und beschränken sich auf ein Minimum an Tricks zur Verrätselung. In der Folge legen die Abläufe im Prozess der Wahrheitsfindung die Affinität mit dem Mechanismus eines Uhrwerks an den Tag: ¿Aufgezogen¾ durch die Tat selbst, läuft die Maschinerie der Ermittlungsarbeit dann nach kausal-logischen Gesichtspunkten ab (Ansammeln von Ermittlungsbefunden, Aufstellen von Hypothesen und dadurch Suggestionen zu Tatverdächtigen, Verifikationen und Falsifikationen), wobei natürlich Peripetien, oft in Verbindung mit spektakulären Action-Szenen, dafür zu sorgen haben, dass im Rhythmus von Spannungsverdichtung und (kurzfristiger) -entladung die Aufklärung des jeweiligen Falls bis zur 80. oder 85. Minute, wohldosiert zwischen Erkenntnisfortschritt und Informationsdefiziten, retardiert werden kann. Verstärkt wird dieser Eindruck einer Mechanik in Handlungsführung und Fallbereinigung im Übrigen durch die stereotype Ausgestaltung der Schluss-Sequenzen. Ob im Falle von Julie Lescaut im Weggehen oder -fahren mit strahlendem Gesichtsausdruck bzw. heiter-entspanntem Zusammensein mit ihrer Tochter, ob in Form der gemeinsamen Abschlusspromenade von Untersuchungsrichterin Lintz und Kommissar Rovère im traulichen Zwiegespräch, ganz zu schweigen von der kitschig-herzigen Umarmung, die Isabelle Florent, die polizeiliche »Frau von Ehre«, ihrem heranwachsenden Sohn jedes Mal in der gefrierenden Schlusseinstellung von Une femme G·KRQQHXU angedeihen lässt, stets wird der Aufklärungserfolg mit solchen gleichbleibenden Einstellungsfolgen ritualisiert. Der direkte Vergleich mit den Schlussbildern deutscher Fernsehkrimis lässt den Schematismus dieser französischen happy ending-Vollzugsbekräftigung noch deutlicher hervortreten: Je nach Fallinhalt und inszenierter Grundstimmung loten die ARD- und ZDF-Produktionen die Spielräume zur individuellen erzählerischen Anpassung des Endes an das zuvor Gezeigte aus, wobei dann neben die üblichen Neckereien zwischen den Ermittlerpartnern Perspektiven offen bleibender Fragen treten, wenn nicht nachdenkliche oder regelrecht aufwühlende Filmenden den beruhigenden Eindruck einer wiederhergestellten Ordnung torpedieren.9
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Aufwühlend: Der Stuttgarter Lokalpolitiker Högele ist korrupt und hält sich für seine perversen Sexualpraktiken eine Geliebte, an deren Ermordung er indirekt beteiligt ist; jedoch ist ihm nicht nur nichts nachzuweisen, sondern die beiden Tatort-Kommissare müssen ohnmächtig auf dem Fernsehbildschirm verfolgen, wie Högele die anstehende Kommunalwahl triumphal gewinnt und lautstark die moralische Wende zu mehr Recht und Ordnung in seiner Stadt verkündet ² Abspann (»Das Mädchen Galina«, ARD, 21.06.2009).
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»Abendfüllende Kriminalserie« In diesem Zusammenhang lassen sich zwei inszenatorische Prinzipien der deutschen Krimi-Narration ausfindig machen, die in ihrer Spezifik grundsätzlich so nicht in den französischen SerienEpisoden anzutreffen sind und deshalb ex negativo deren wesentlich ¿glattere¾ Handlungsführung veranschaulichen. Erstens handelt es sich um die Gestaltung des Filmeinstiegs, genauer gesagt um die gleichsam ¿mutwillige¾, d.h. unmotivierte Verwirrung bzw. Irreführung der Zuschauer mit dem Ziel, eine noch intensivere Konzentration auf den Handlungsablauf zwecks Entwirrung der zunächst völlig rätselhaften Zusammenhänge zu bewerkstelligen. Die gezielte bildliche Irreführung anlässlich der anfänglichen Beobachtung eines Verbrechens, die chronologische Verschiebung von Sequenzen oder, besonders drastisch im Münsteraner Tatort »Tempelräuber« (ARD, 25.10.2009), das Einmontieren völlig rätselhafter, weil aus scheinbar tatfremden Wirklichkeitsbereichen stammenden und zudem verschwommenen Einstellungen in die filmische Dokumentation des Mordverlaufs sind Beispiele für diese intensiv betriebene Strategie der anfänglichen Grund-Verunsicherung des Zuschauers. Eine zweite narrative Maßnahme besteht genau umgekehrt in der strikt wirklichkeitsgetreu-chronologisch verfahrende Anwendung der auktorialen Erzählperspektive, eigentlich ein narratives Unding in einem Genre wie dem Fernsehkrimi, dem es doch um Spannungserzeugung und das Wechselspiel von Verrätselung und sukzessiver Aufklärung gehen müsste. Plakatives Beispiel für diese Spielart ist »Herz aus Eis« (Tatort aus Konstanz, ARD 22.02.2009):10 Von Anfang an werden wir Zeugen der minutiös inszenierten Vorbereitung und Durchführung des raffinierten Mordes an einem Internatsschüler. ¿Spannung¾ entsteht trotz des Grundverstoßes gegen die Informationsdosierung des Kriminalfilms durch das Interesse des Zuschauers am Agieren der Ermittler (Kommissarin Klara Blum und ihr Assistent), die es mit zwei geradezu teuflisch intelligenten und gewaltbereiten Gegenspielern zu tun haben. Mehr noch: Erst das bedingungslose Wissen um die Wahrheit des Falls erlaubt es überhaupt, ein derart ausdrucksstarkes Psychogramm der beiden Täter, ihrer persönlichen Problemlagen, Handlungsmotive und der Wucherungen ihrer kriminellen Intelligenz auf dem Bildschirm zu entwerfen, wie es die schonungslos offene Art der Nacherzählung gewährleistet. Das Faszinosum, das die Persönlichkeiten der beiden Bösewichter bieten, entschädigt ebenso eindrucksvoll für die vorzeitige Preisgabe der Wahrheit wie die Befriedigung über die Vereitelung ihrer Straffreiheit in extremis durch die noch scharfsinnigere Klara Blum. In der auf Mechanik angelegten Organisation der fran-
10 Dasselbe narrative Dispositiv findet sich im ersten Tatort des Jahres 2010, »Weil sie böse sind« (in Frankfurt am Main spielend, ARD, 03.01.2010).
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Klaus-Peter Walter zösischen Kriminal-Handlungsführung hingegen ließe eine derart konsequente Instrumentalisierung der auktorialen Option die angefangene Erzählung nach wenigen Minuten regelrecht kollabieren, weil die Fokussierung auf die Täterperspektive den aufwändigen Ermittlungsapparat, dramaturgisch gesprochen, ins Leere laufen lassen würde.
4. Das Ermittlungspersonal Auch wenn in beiden TV-Kriminalsystemen die Arbeit der Verbrechensaufklärung nahezu ausnahmslos von beamteten Kommissaren und Kommissarinnen (in Frankreich auch gemäß dem dortigen Justizsystem meistens in Gestalt der unmittelbaren Zusammenarbeit zwischen Polizei und UntersuchungsrichterInnen) geleistet wird, ergeben sich hinsichtlich des Erscheinungsbildes und der Arbeitsweise des Personals doch auffällige Unterschiede zwischen französischen und deutschen Ermittlerfiguren. Zum einen fällt hinsichtlich der französischen Arbeitspraxis als Unterscheidungsmerkmal gegenüber den deutschen Gegebenheiten auf, dass hier wesentlich intensiver die Arbeit in größeren Teams geleistet wird, auch wenn die markante Leitung der Aktionen zur Verbrechensbekämpfung natürlich den jeweiligen Titelfiguren bzw. Hauptheldinnen und -helden als Einzelpersonen (Julie Lescaut, Schneider in Un flic) oder im Gespann (Rovère und Lintz in Boulevard du Palais) obliegt. Selbstverständlich verfügen auch die Tatort- und PolizeirufKommissare und Kommissarinnen samt ihren Kolleginnen und Kollegen vom ZDF über Assistenten, Praktikanten, Erkennungsdienstmitarbeiter, Gerichtsmediziner und werden von verständnislosen Staatsanwälten zu Eile, Effizienz und Diskretion gedrängt. Jedoch ist die Personalausstattung deutlich geringer und darüber hinaus die Funktion dieser Team-Mitglieder in der Regel eher auf ZulieferDienste zugunsten der herausgehobenen Tandem-Aktivität von gleichsam ¿doppelten Einzelkämpfern¾ beschränkt.11 Demgegenüber schenkt die französische Wahrnehmung der Polizeiarbeit dem Wirken des nachgeordneten Dienstpersonals in französischen Kommissariaten und Untersuchungsgerichtsbarkeiten, ob es sich um auszuführende Routinearbeiten oder um Eigeninitiativen handelt, eine wesentlich stärkere Aufmerksamkeit, wie auch diese Figuren maßgeblicher in die finale Bereinigung der einzelnen Fälle involviert sind. Zweifellos kann deshalb die französische Art der Darstellung
11 Als Ausnahme wäre die in Berlin beheimatete ZDF-Serie Ein starkes Team zu nennen.
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»Abendfüllende Kriminalserie« des arbeitsteiligen Ermittlungsvollzugs vom Ansatz her als ¿realistischer¾ bezeichnet werden. Dieser Ansatz zur Inszenierung von Ermittlungsarbeit geht mit der Tatsache einher, dass das Charakterprofil der einzelnen Führungspersönlichkeiten deutlich flacher ausfällt. In erster Linie wird gezeigt, wie effizient sie ihren Dienst tun. Wenn die geschiedene Julie gewisse Probleme mit ihrem derzeitigen Liebhaber hat oder sich mit den beruflichen und persönlichen Sorgen ihrer RechtsanwaltsTochter auseinandersetzen muss, wird diese ihre Privatsphäre, von der jeweiligen Schlusseinstellung abgesehen, nur diskret zum Gegenstand der Diegese. Ähnliches gilt für das Ermittler-gespann von Boulevard du Palais: Die Untersuchungsrichterin Nadia Lintz hat in jeder Folge mit Beziehungskonflikten zu kämpfen und leidet zudem unter einem Vater-Trauma, da ihr Vater, der ihr aufopferungsvoll die Karriere ermöglicht hatte, Kollaborateur war und sich am Besitz deportierter Juden bereichert hatte. Der eigenbrötlerische Commandant Rovère verliert nach dem frühen Tod seines einzigen Kindes seinen Halt und ist zum Alkoholiker geworden (ungeniert zückt er bei der Ausübung seiner amtlichen Tätigkeiten den Flachmann). Jedoch verlieren diese Individualitätssignale durch die mechanische Rekurrenz, mit der sie in jeder Folge evoziert werden, ihre Brisanz und fungieren nur noch als kontrapunktisch rhythmisierende Unterbrechungen der Ermittlungshandlung. Demgegenüber würde die Veranschaulichung all jener individuellen Probleme, mit denen jeder einzelne deutsche Kriminalkommissar und ebenso die Kommissarinnen zu kämpfen haben und die in extenso zum Gegenstand der dargestellten Wirklichkeit, ja in den Verbrechens- und Aufklärungsverlauf eingewoben werden, den Rahmen der Untersuchung sprengen (Bella Block oder die TatortKommissarin Sänger und der Kommissar Lannert gäben besonders signifikante Demonstrationsbeispiele ab). Noch einmal in diesem Zusammenhang zurück zur französischen Spielart: Tatsächlich ist hier doch ein die Ermittlungsinstanzen betreffendes Problemfeld auszumachen, das durchaus Gegenstand der Kriminalfiktion werden kann, nämlich die Summe der Dysfunktionalitäten, die während und infolge der Dienstausübung entstehen. Hierarchiebedingte Friktionen zwischen Vorgesetzten und ihren Assistenten, Fehlverhalten der nachgeordneten Mitarbeiter (Anbahnung eines Liebesverhältnisses mit einer Zeugin; die Verlockung, drückende Schulden durch den Zugriff auf die sichergestellte Beute in der Asservatenkammer zu bereinigen, Eigenmächtigkeiten beim Ermitteln), seitens der Vorgesetzten die Schwierigkeiten, die beim ¿Decken¾ von Fehlleistungen der Untergebenen und bei Ermittlungspannen entstehen, Spannungen, die etwa der Einsatz eines Betriebspsychologen im Büro hervorruft, dies alles
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Klaus-Peter Walter sind Handlungs-Versatzstücke, die in relativ ausführlicher Weise als zur kriminalpolizeilichen Realität dazugehörig filmische Berücksichtigung finden und somit einmal mehr die Akzentuierung des ¿Dienstlichen¾ gegenüber dem deutschen Individualismus als Anspruch des französischen Fernsehkrimis unterstreichen.12 Geradezu im Gegensatz zu einer solchen Authentizitätsvorgabe steht die zweite Besonderheit im Rahmen der französischen Art der Ausmodellierung des Ermittlungspersonals. Bereits die einschlägigen Serientitel ² Julie Lescaut, Alice Nevers, Femmes de loi, Une IHPPHG·KRQQHXU, La Louve ² insinuieren, dass die polizeiliche Verbrechensbekämpfung nachgerade flächendeckend (auch in Boulevard du Palais ist Richterin Lintz die Ermittlungspartnerin und Vorgesetzte von Commandant Rovère) Frauensache sei ² eine Vorgabe zur Personalorganisation, die natürlich den tatsächlichen Gegebenheiten in dieser Berufssparte (sowohl in Frankreich als auch in Deutschland) in krasser Weise widerspricht.13 Die Tatsache, dass mit Ausnahme von La Louve (FRANCE 3)14 alle hier genannten Serien von dem kommerziellen TV-Kanal TF1 ausgestrahlt werden, gibt bereits den entscheidenden Hinweis auf den Grund für diese Wirklichkeitsverzerrung: Es ist die Anziehungskraft des exotischen Moments, also der Fremdartigkeit gegenüber dem eigentlichen beruflichen Anforderungsprofil, wenn die einschlägigen femininen Gesetzeskräfte, die entweder die Physiognomie von Models aufweisen (Alice Nevers, Femmes de loi ) oder prononciert mütterlich in Szene gesetzt werden (Julie Lescaut), den Kampf gegen das Verbrechen aufnehmen. Die Ausfabulierung von Begebenheiten, in denen die Vertreterinnen des ¿schwachen Geschlechts¾ ihre angestammten
12 Wenn im deutschen Krimi Unstimmigkeiten im Rahmen von Organisation und Ausübung des Polizeidienstes thematisiert werden, machen die Drehbuchautoren daraus direkt skandalträchtige Plots über Amtsmissbrauch und mafiöse Zustände im Polizeidienst. Vor allem die ZDF-Serie Unter Verdacht hat sich auf solche Vorfälle spezialisiert, aber auch im Tatort werden solche Skandale thematisiert (etwa in »Wir sind die Guten», ARD, 13.12.2009). 13 Die Deutsche Polizeigewerkschaft im Beamtenbund gibt für 2007/08 im Durchschnitt aller Bundesländer den Anteil von Frauen im gehobenen Dienst (ohne den eher weiblich spezifizierten Tätigkeitsbereich Verwaltung) mit rund 15% an (www.dpolg.de); in Frankreich beziffert eine sich auf das Innenministerium berufende Quelle für 2003 den weiblichen Anteil innerhalb der Police Nationale auf 12-13% (www.diffusion.vie-publique.fr). 14 Der Raum reicht nicht aus, um dieser interessanten Ermittlerin (bislang in drei ausgestrahlte Episoden) mehr als eine Fußnote zu widmen. Die Figur der Laurence Louve kommt mit der in aller Deutlichkeit ausgestalteten Persönlichkeitsproblematik und ihrer leidenden Grundbefindlichkeit (s.u.) der typischen deutschen Kommissarin im TV-Krimi erstaunlich nahe.
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»Abendfüllende Kriminalserie« Rollen zweckentfremden, um gnadenlose Härte fordernde ¿Männersachen¾ zu erledigen, übt offenbar auf ein Publikum beiderlei Geschlechts eine quotenmäßig bestens vermarktbare Faszination aus. Männer delektieren sich daran nach zu verfolgen, ob und wie sich Julie Lescaut und Konsortinnen auf dem Feld männlicher Herausforderungen unter Beibehaltung ihres ¿Wesens¾ (Schönheit, Mütterlichkeit, Zartheit und Aufopferungsbereitschaft) bewähren, Frauen können den Polizeieinsatz ihrer Geschlechtsgenossinnen als SpielArt weiblicher Emanzipation decodieren. Den Grenzgang zwischen Rollenbestätigung und -hinterfragung vermag eine Ermittlerin geradezu emblematisch zu illustrieren, deren Wirken (natürlich bei TF1) seit März 2008 suspendiert worden ist ² Isabelle Florent als »Frau von Ehre« und damit Titelfigur in der gleichnamigen Serie 8QHIHPPHG·KRQQHXU. In den sieben Einzeleinstellungen des Episoden-übergreifenden Serienvorspanns bringt die Figur den Wirkungsmechanismus der geschlechtsspezifischen Rollenbesetzung auf den Punkt: Zu forsch rhythmisierten PercussionStakkatos wird in Naheinstellungen gezeigt, wie Isabelle, bereits in weißen Diensthandschuhen, das Ankleiden ihrer Uniform vollendet; in den Einstellungen 1 bis 4 bringt sie den Klett-Aufkleber »GENDARMERIE« auf der Bluse an, zieht Krawatte, Gürtelschnalle und Hoheitsabzeichen fest; dann überprüft sie in 5 das reibungslose Entsichern des Revolvers; es folgen in 6 und 7 zwei als ¿erotisierend¾ zu bezeichnende Einstellungen: Beim Anziehen der Schuhe wird ihre bestrumpfte Beinpartie bis zum Oberschenkel gut wahrnehmbar freigelegt (6); 7 zeigt in Detailaufnahme, wie sie das Rouge ihrer Lippen nachzieht. Nur auf den ersten Blick handelt es sich hier also im Akt des Sich-Anziehens formal um einen negativen Strip Tease, denn tatsächlich enthüllt die Zeige-Kombination von ObrigkeitsAccessoires, Gefährlichkeit (Revolver) und unübersehbarer Erotik von Kopf bis Fuß die tiefere Bedeutung der sich in Szene setzenden Polizistin, die faszinierenderweise doch Frau bleibt. Auch der enigmatische Serientitel spielt mit dieser Ambivalenz, wenn er die BerufsbezeichnunJ ¿3ROL]LVWLQ¾ PLW GHP 6\QRQ\P ªIHPPH G·KRQQHXU© EHOHJW PlQQOLFKHUVHLWV ZUGH PDQ VLFKHUOLFK nicht auf einen solchen Begriff für den Serientitel rekurrieren). Sollte die Formulierung etwa insinuieren, dass eine Frau nur dann »ehrenhaft« im Sinne ihrer Tugend und/oder gesellschaftlicher Anerkennung sein kann, wenn sie als Vertreterin von Recht und Ordnung in Erscheinung tritt? Dann wäre mit der Formel aber auch konnotiert, dass sie das Polizistinnendasein vom ¿Makel¾ ihrer offenbar unehrenhaften Weiblichkeit erlöst. In jedem Fall muss sie sich der beruflichen Rolle erst einmal anverwandeln, wie der Filmeinstieg mit seinen visuellen Mitteln ausdrücklich betont. In der Lebenspraxis deckt die »Frau von Ehre« dann das ganze Spektrum
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Klaus-Peter Walter weiblicher Rollenerwartungen ab, von der rührend um ihren halbwüchsigen Jungen besorgten Mutter und beschürzten Hausfrau über die dienstlich soignierte Gendarmerie-Kommissarin im Leutnants-Rang bis zur Leiterin einer Einsatzgruppe im Kampfanzug, die sich von einem Felsvorsprung abseilt oder die Übeltäter im Karate-Einsatz zur Strecke bringt. Wenn mit Hilfe dieses Beispiels die beeindruckend dynamische Effizienz der lebensbejahenden französischen Ermittlerinnen herausgearbeitet werden kann, so muss der Gegenentwurf überraschen. Auch der deutsche Fernseh-Krimi modelliert in fast einheitlicher Art und Weise die Figur der Polizeikommissarin aus, wobei sich hier vor allem die ZDF-Samstag-Abends-Krimis als Inszenierungsraum auszeichnen (freilich auch unterstützt von einigen ihrer Tatort-Kolleginnen). Gemeinsam ist Kommissarinnen wie Bella Block, Rosa Roth, Eva-Maria Prohacek (Unter Verdacht ) und vor allem Ellen Lucas (Charlotte Sänger vom Frankfurter Tatort passt ebenfalls in diese Reihe) ihr Auftritt als wahre Schmerzensfrauen, die von den Widrigkeiten des Schicksals gebeutelt werden und aus ihrer Grundverfasstheit des Leidens, aber auch ihrer Leidensfähigkeit, im Zuge der Ermittlungsarbeit kein Hehl machen. Die Bandbreite des jeweiligen Persönlichkeitsdefizits reicht vom Hörsturz infolge Arbeitsüberlastung (Roth) über Mobbing am Arbeitsplatz (Prohacek), Angst vor privater und professioneller Altersinsuffizienz (Block) bis zu traumatisierenden Schicksalsschlägen. Paradebeispiel für diesen weiblichen Personal-Typ ist Kommissarin Lucas. Sie leidet grundsätzlich, weil sie sich nach Regensburg hat versetzen lassen, um ihren schwerkranken Mann, der dort in einer Spezialklinik behandelt wird, zur Seite zu stehen ² vergebens, denn er stirbt bald, so dass sie einsam und ohne sonderliche kollegiale Rücksicht ihre Verbrechensaufklärung betreiben muss. Aber auch konkret führt Ellen Lucas in der bis dato letzten Folge »Vergessen und vergeben« (ZDF, 16.05.2009) die Implikationen dieses weiblichen Leidens im wahrsten Wortsinn vor Augen: Bereits zu Beginn der Kriminalhandlung wird sie hier als Geisel genommen und schwebt ständig in der Gefahr, vom äußerst brutalen Geiselnehmer getötet zu werden. Bezeichnenderweise besteht über weite Strecken der Handlung ihr ganzer Einsatz darin, mit ihrem zugleich schmerzverzerrten und vorwurfsvollen Blick (sprechen kann sie selten, da man ihr den Mund zuklebt) den Widersacher und seine Partnerin solange zu verunsichern, bis diese einen Fehler begehen ² was im Show Down des Films dank der sanften, aber effizienten Tyrannei der Leidenden tatsächlich eintritt. Entscheidend ist, dass das in Szene gesetzte Leiden in allen Fällen der jeweiligen Persönlichkeit und deren Beeinträchtigung durch selbstverschuldete, fremdverschuldete oder schicksalshafte Anfech-
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»Abendfüllende Kriminalserie« tungen zugeschrieben wird (womit sich im Übrigen unser allgemeiner Befund zur filmimmanenten Figurencharakteristik im deutschen TV-Krimi bestätigt). Keine dieser deutschen Polizistinnen käme angesichts eines noch so großen Leidensdrucks auf den Gedanken, die Sinnhaftigkeit ihres kriminalistischen Tuns vom Grundsätzlichen her in Frage zu stellen. Genau dies ist jedoch anlässlich des einzigen Beispiels eines ² natürlich weiblichen ² Verzweiflungsausbruchs innerhalb des französischen Krimi-Systems der Fall. Gleich in mehreren Folgen gehört es zur Rolle der noch recht jungen Untersuchungsrichterin Lintz, Zweifel an der Berufsausübung selbst zu artikulieren. [Nadia Lintz und ihr Lebensgefährte Philippe befinden sich in einer Beziehungskrise. Im Zuge eines Streits macht Philippe ihr zum Vorwurf, dass sie ihm nie von ihrem Beruf erzählt:] 1DGLD ª4X·HVW-FH TX·LO \ a à raconter de toute façon? 4XH F·HVW XQ PRQGH DWURFHKHLQXQPRQGHGHPHUGHF·HVWoDTXHWXYHX[HQWHQGUH"4X·HVW-ce que tu veux que je te dise 3KLOLSSH" -H Q·DUULYH SDV 7RXW FH TXH MH IDLV F·HVW Uemuer des saloperies, du sang, des larmes. Ça sert à rien. Pourquoi je te parle SDVGHPRQERXORW"3DUFHTXHMHQ·HQSHX[SOXVGHPRQERXORWdDIDLWGHVDnnées, des années, des années que je trime, que ça dure, et je vois des salopeULHVTXHWXSHX[PrPHSDVLPDJLQHUFHTXHF·HVW-·HQSHX[SOXV© [Sie bricht in Tränen aus.] 15
Trotz des übertriebenen Pathos und der Künstlichkeit der punktuell bleibenden Ausbrüche, die auch sonst keine bleibenden Schäden bei der ansonsten erfreulich zupackenden Gesetzesvertreterin hinterlassen, sind diese Reaktionen im Inhalt eher dazu angetan, die Realität der professionellen Verbrechensbekämpfung widerzuspiegeln als die entsprechenden deutschen Persönlichkeitsstilisierungen gerade der weiblichen Ermittlerfiguren.
15 Boulevard du Palais, Folge »Loin du soleil« (2009, FRANCE 2, 09.09.2009), 0:48:01 ff.). Dt.: »Was gibt es da zu erzählen? Dass das eine grässliche, eine Scheiß-Welt ist ² willst du das hören? Philippe, was soll ich dir sagen? Ich kriege es nicht auf die Reihe. Ich mache nichts anderes, als in Schweinereien, Blut und Tränen herumzurühren. Und es führt zu nichts. Warum ich dir nicht von meinem Job erzähle? Weil ich ihn nicht mehr packe, meinen Job. Jahre sind es, Jahre und wieder Jahre, wo ich schufte, wo das so weitergeht und weitergeht und ich nur Abgründe und Gemeinheiten sehe, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Ich kann nicht mehr.«
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5. Delikte und Tatmotive Fragt man nach dem ¿Wesen¾ der Verbrechen, mit denen es die immer wieder aufs Neue in Erscheinung tretenden Einzelermittler und Teams in ihrer Kriminalwelt zu tun haben, so manifestiert sich auf diesem Feld der Untersuchung die sicherlich eindeutigste Differenz zwischen französischer und deutscher TV-Kriminalfiktion. Beginnen wir hier zunächst mit der Situation in ARD und ZDF. Ausgehend von einer kriminalistischen Grund-Kategorisierung nach privaten oder im weitesten Sinn gesellschaftlich motivierten Delikten, offenbart sich mit zwingender Eindeutigkeit, dass im deutschen Kriminalfilm massiv gesellschaftlich und/oder politisch konditionierte Fälle zum Gegenstand der Aufklärungsarbeit gemacht werden. Gerade die besonders beliebte Tatort-Serie (aber nicht nur sie) hat sich mehr und mehr zu einem Forum der fiktionalen Ausgestaltung und Diskussion von Konflikten und Skandalen aus der aktuellen gesellschaftlichen Realität entwickelt. In nicht weniger als in 24 der 34 im Kalenderjahr 2009 ausgestrahlten Folgen der Serie ordnen die Drehbuchschreiber die Entfaltung der kriminellen Energie einschlägigen gesellschaftlichen oder politischen Problemlagen und Missständen zu. So widmen sich die deutschen Fall-Studien krimineller Praxis der Veranschaulichung im öffentlichen Diskurs thematisierter Skandale wie Kindesmisshandlung, Gewalt in der Ehe, kriminellen Praktiken in der Baubranche, illegalem Mädchen-, Sperma- und Fleischhandel mit Osteuropa, der Gefährdung der Verkehrssicherheit durch Unfallgaffer (in Verbindung mit dem Voyeurismus von Youtube), der Geißel der Ausländerfeindlichkeit und rechtsextremistischer Gewalt im Alltag bis hin zum gnadenlosen Machtkampf an der Spitze von Großgewerkschaften. Entweder implizit durch die ¿sprechende¾ Ausgestaltung der Verbrechens- und Aufklärungsverläufe oder explizit durch entsprechende Statements der Betroffenen besitzen die Kriminalgeschichten einen offen thesenartig-belehrenden Charakter. Dasselbe prononcierte Engagement wohnt auch denjenigen häufig anzutreffenden Kriminalstories inne, die in naturalistischer Manier Milieustudien betreiben. Hier wird neben und durch die Kriminalhandlung hindurch über bestimmte gesellschaftliche Missstände informiert, ob es sich um die Lebensbedingungen der Obdachlosen in der Großstadt Köln, die Machenschaften der Großwinzer an Mosel und Saar, die menschenverheizenden Schifffahrts-Praktiken vom Konkurs bedrohter Reederei-Unternehmen oder die besonders eindringlich und appellativ aufbereitete Enquête zu den menschenverachtenden Folgen des Priesterzölibats (der Münsteraner Tatort »Tempelräuber«, ARD, 25.10.2009) handelt.
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»Abendfüllende Kriminalserie« Wie weit der pragmatische Anspruch dieser im öffentlichen Leben verankerten Verbrechensgeschichten, mit ihren Themensetzungen einen Beitrag zum »öffentlichen Räsonnement« (Habermas) zu leisten, reicht, dokumentieren als Extrembeispiele der Tatort »Kassensturz« (Ludwigshafen; ARD, 01.02.2009), in dem es um die skandalös ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in den Filialen der Discounter-Ketten geht, sowie die Polizeiruf 110-Folge mit dem Titel »Fehlschuss« (Halle; ARD, 05.04.2009), wo die Jugendkriminalität in den Plattenbau-Siedlungen der ostdeutschen Großstädte per Mordfall unter die Lupe genommen wird. Die Ausstrahlung beider Krimis nahm die im allsonntäglichen ARD-Sendeschema sich unmittelbar anschließende Experten-Runde und Polit-Talkshow Anne Will zum Anlass, um jeweils die in der Kriminalfiktion quasi beispielhaft aufgeworfene Problematik von Politikern, Journalisten, Buchautoren und Betroffenen, auch mithilfe von Filmausschnitten, debattieren zu lassen.16 Ebenso hat zeitgleich mit der heftigen Debatte um den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan und den Kundus-Vorfall der am 29.11.2009 ausgestrahlte Kriminalfilm »Klick gemacht« (Polizeiruf 110) eine in ihrer Schonungslosigkeit überraschend eindeutige Protestposition gegen die Beteiligung deutscher Soldaten an der Friedenstruppe in Afghanistan zum Ausdruck gebracht, indem die Verheizung von Soldaten aus Gründen der Öffentlichkeitsdarstellung und der fanatische ¿Ehren¾-Kodex rücksichtsloser Führungsoffiziere nicht nur unverhohlen gezeigt, sondern auch als Ursache einer (fast schon legitim anmutenden) Entführung mit BeinaheTodesfolge vorgestellt wurde. Insgesamt beschwört der deutsche Kriminalfilm also das Bild einer Gesellschaft voller Krisenherde, die dazu angetan ist, am laufenden Band Kriminalität zu generieren, indem sie Individuen sich in diese skandalgesättigten Mechanismen verstricken lässt. Man wird lange (und zumeist vergeblich) suchen, um auch nur in Ansätzen eine entsprechende sozialkritische Funktionalisierung des Kriminalfilms in Frankreichs Fernsehen zu finden. Allenfalls die Julie Lescaut-Episode »Volontaires« (TF1, 05.03.2009) kann in diesem Zusammenhang angeführt werden. Die Episode hat als Verbrechensmotiv den Rachefeldzug eines Mannes zum Thema, der als Versuchskaninchen im Rahmen einer illegal durchgeführten Testreihe für ein noch in der Erprobung befindliches Risikomedikament seine körperliche und psychische Gesundheit verloren hat und jetzt
16 Im Jahr 2007 führte die Ausstrahlung des Hannoveraner Tatorts »Wem Ehre gebührt« (ARD, 23.12.2007), in dem es um Missbrauch und Inzest in einer alevitischen Familie ging, zu Demonstrationen der aufgebrachten Glaubensgemeinschaft und zu einer Anzeige gegen den Sender wegen Volksverhetzung.
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Klaus-Peter Walter die gewissenlosen Verantwortlichen des Pharmakonzerns nach dem Motto »Auge um Auge...« zur Rechenschaft zieht. Wie sehr der französische Krimi dazu tendiert, gegenüber öffentlich brisanten Verbrechensanlässen ein regelrechtes Vermeidungsverhalten an den Tag zu legen, verdeutlicht die deutsch-französische Gegenüberstellung des Themas ¿Eheliche Gewalt gegen Frauen¾ in diesem Zusammenhang. Der skandalöse Sachverhalt wird im deutschen Fernsehkrimi 2009 gleich mehrfach als Motiv bei Tötungsdelikten erzählerisch ausgestaltet (Tatort »Schwarzer Peter«, ARD, 18.01.2009 und besonders drastisch in der Folge »Wölfe und Lämmer« in der ZDF-Reihe Das Duo, 10.10.2009). Auch das entsprechende französische Krimiangebot von 2009 evoziert dieses Thema, bezeichnenderweise jedoch in buchstäblich marginalisierender Aufbereitung: Während der Sachverhalt in beiden deutschen Filmen als handlungsbestimmender unübersehbar zentral positioniert ist (in »Wölfe und Lämmer« dient sogar die Konstruktion zweier gleichzeitiger und handlungsmäßig miteinander verschlungener Missbrauchsfälle der Dramatisierung des Delikts), figuriert dasselbe Thema im französischen Fall lediglich in Gestalt einer Nebenhandlung des eben erwähnten Medikamenten-Krimis »Volontaires« (Julie Lescaut). Ein Polizist, der indirekt Julies Brigade angegliedert ist, entpuppt sich als der entsprechende Schläger, weil seine Frau zufällig die Freundin von Julies Tochter, der Rechtsanwältin, ist, der sie sich zaghaft und verklausuliert anvertraut. Diese Konstellation hat zur Folge, dass zu keinem Zeitpunkt konkrete Einblicke in die brutale Alltagsrealität gegeben werden, sondern der Tatbestand der Gewalttätigkeit wie auch die psychischen Konsequenzen ¿aseptisch¾, d.h. gesprächsweise angedeutet werden. Die deutschen Beispiele hingegen bringen ihre Anklage gegen den allzu oft anzutreffenden Missbrauch durch die unter die Haut gehende Darstellung der brutalen Übergriffe zum Ausdruck und heben darüber hinaus mit visuellen Mitteln und auf der Tonspur die Traumatisierung der Opfer, aber auch der darunter leidenden Kinder hervor. Bezeichnenderweise spart sich die Wahrnehmungsinstanz der Kamera bei Julie Lescaut die männliche Handgreiflichkeit weniger skandalös für den Show Down auf, wo der gewalttätige Ehemann Julies Tochter mit dem Dienstrevolver bedroht, weil sie seine Ehe ruiniert habe, bevor er unschädlich gemacht werden kann. Öffentlich virulente oder gar heikle politische Problemlagen wie etwa die Immigrationsproblematik oder die Kriminalität in den Vorstädten unter Jugendlichen wird man in der Ausmodellierung der französischen Kriminalfiktion weitgehend vermissen. Man kann sogar noch weiter gehen und feststellen, dass dort, wo die deutschen Filme Missstände eindringlich vor Augen führen und öffentliche Anklage erheben, die französische Motiv-Gestaltung zurücksteckt, in-
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»Abendfüllende Kriminalserie« dem sie die Verbrechensbegründung letztendlich ins Private abbiegt. Gerade auch durch die Gegenüberstellung mit themengleichen deutschen Beispielen ließe sich eine Reihe derartiger Inszenierungsbeispiele benennen, beschränken wir uns jedoch zur Demonstration auf die bis dato letzte Julie Lescaut-Folge »Passions aveugles« (TF1, 12.11.2009): Der Mord an einem blinden Mädchen wird bis zehn Minuten vor seiner endgültigen Aufklärung mit dem illegalen Handel von Hornhaut-Transplantaten, die in China exekutierten Todeskandidaten entnommen und nach Frankreich gebracht werden, in Verbindung gebracht (die junge Frau, die dank modernster Elektronik in der Buchhaltung ihrer Blindenanstalt arbeitete, konnte anhand der Einzahlungsbilanzen dem Skandal auf die Spur kommen und droht, ihn publik zu machen). An diesem Punkt der vermeintlich definitiven Auflösung der Ermittlungsarbeit angelangt, geht Julie Lescaut noch einmal in sich, wägt die Indizien ab und rekonstruiert den eigentlichen Tatzusammenhang: Die ebenfalls blinde Leiterin des Foyers konnte nicht ertragen, dass die bevorstehende Operation dem Opfer das Augenlicht und damit seine existenzielle Unabhängigkeit zurückgegeben hätte; deshalb hatte sie »ihrem Kind« einzureden versucht, der behandelnde Chefarzt habe die Operation als völlig aussichtslos abgelehnt, was das Mädchen nicht glauben konnte. Im Streit der beiden Frauen war es dann zur Eskalation von Eifersucht und Angst vor Zurücksetzung seitens der Heimleiterin gekommen, so dass sie die junge Frau im Affekt (!) erwürgte. Auch der Folgemord, dem der besagte Augenarzt zum Opfer fiel, rechtfertigt den bezeichnenden Serientitel Blinde Leidenschaften: Der Geliebte der Mörderin verübte die Tat, um so die Spur auf den Cornea-Handel zu lenken und dafür zu sorgen, dass kein Verdacht auf seine Partnerin fallen würde. Von daher kann die erstaunte Schlusserkenntnis von Julie Lescauts Vorgesetztem fast schon als programmatisch für die französische Art der Intrigengestaltung und -konstruktion gelten: »$ORUV ILQDOHPHQW F·pWDLW XQ crime passionnel«.17 Ob in der linearen Entfaltung von Anfang oder durch die Einbringung von Peripetien wie der skizzierten, im abendfüllenden französischen Kriminalfilm dominiert hinsichtlich der Ausgestaltung von Verbrechensmotiven eindeutig die Fallkonstituierung im Privaten. Die untersuchten Folgen arbeiten die ganze Bandbreite von Tötungen aus Habgier, Leidenschaft, Rachsucht, persönlicher Verzweiflung oder familiären Kalamitäten ab ² eine Art der Themengewichtung, die sicherlich der kriminalistischen Alltagserfahrung eher entsprechen dürfte als die deutsche Manier, die fernsehfiktionale
17 Dt.: »Aha, letztendlich war es dann doch ein Verbrechen aus Leidenschaft.« (Julie Lescaut, »Passions aveugles«, TF1, 12.11.2009, 1:27:58).
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Klaus-Peter Walter Verbrechensdarstellung als gleichsam gesellschaftlichen Aufklärungsauftrag aufzufassen.
6. Fazit Um den zuletzt genannten Befund aufzugreifen und zu verallgemeinern: Ob in der als ¿mechanisch¾ gekennzeichneten Filmerzählung der Ermittlungsarbeit, der eher ¿dienstlichen¾ Inszenierung des Polizeipersonals in Erscheinung und Interaktion oder der ¿realistischeren¾ Ausgestaltung der Fall-Beispiele, als übergeordnetes distinktives Merkmal scheint der französischen Kriminalfilm-Ästhetik das Grundbemühen innezuwohnen, die Aufbereitung des Verbrechens und seiner Bekämpfung als unterhaltendes Programmsegment stärker an den Prämissen einer Nachahmung der Wirklichkeit auszurichten. Dies würde im Übrigen auch die derzeit im französischen System so auffällige Reduzierung der Sendelängen auf das 52Minuten-Format erklären, mit dem die genannten Gestaltungskomponenten kompatibler sind. Narrative Eigenständigkeit, Persönlichkeitsstilisierungen und die Zurechnung von Kapitalverbrechen auf gesellschaftliche Triebkräfte wären demgegenüber die Materialeigenschaften, die in der deutschen Krimiunterhaltung favorisiert werden und damit zugleich auch die ungebrochene Popularität der Langform als Rahmen zur Entfaltung dieser Wirkungsstrategien plausibilisieren. Es ging der vorliegenden Erkundung um das Aufzeigen von Tendenzen. Ob die ermittelten distinktiven Befunde dazu tauglich sein könnten, Extrapolationen auf das Vorhandensein einer unterschiedlichen ¿Kultur¾ der Fernsehunterhaltung und/oder einer kollektiven Wahrnehmung von ¿Kriminalität¾ zuzulassen, muss als (skeptische) Frage im Raum stehen bleiben.
Literatur Boll, Uwe: Die Gattung Serie und ihre Genres, Aachen: Alano-Verlag 1994. Brück, Ingrid/Guder, Andrea/Viehoff, Reinhold/Wehn, Karin: Der deutsche Fernsehkrimi. Eine Programm- und Produktionsgeschichte von den Anfängen bis heute. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003. Hickethier, Knut: Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens. Lüneburg: Faulstich 1991. Jost, François: Comprendre la télévision et ses programmes. Paris: Colin 22009.
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»Abendfüllende Kriminalserie« Jost, François: »Séries policières et programmation«, in: Pierre Beylot und Geneviève Sellier (Hg.), Les séries policières. Colloque de Bordeaux 2002, 3DULVO·Harmattan 2004, S. 57-84. Mikos, Lothar: »Serien als Fernsehgenre. Zusammenhänge zwischen Dramaturgie und Aneignungsweisen des Publikums«, Serien im Alltag. Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 33, 43 (1992), S. 19-27. Internetquellen: www.diffusion.vie-publique.fr www.dpolg.de www.tatort-fundus.de www.teleobs.nouvelobs.com www.toutelatele.com
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Fernsehformate und Fernsehkulturen. Am Beispiel der französischen Serie Suspectes. Chaque femme a un secret BIRGIT WAGNER
Jede Typologie von Fernsehsendungen muss sich der Einsicht stellen, dass sie es mit instabilen Strukturen zu tun hat: »Chaque émission est une sorte de mélange instDEOH GH WRXW FH TXL O·D précédé«, schreibt François Jost in einer Publikation des Jahres 2001.1 ¿Sendungen¾, aufgefasst als Einheiten, deren Anfang und Ende im Programmfluss eines Senders deutlich gekennzeichnet sind, können zunächst zwei verschiedenen Kategorien zugeordnet werden: den Genres und den Formaten. Doch diese beiden gängigen Begriffe können ihrerseits stabile Klassifikationen mehr suggerieren als tatsächlich leisten, insofern sie sich im Spannungsfeld von Produzenten- und Senderinteressen sowie Publikumserwartungen situieren und fortwährenden Mutationen unterworfen sind.2 Jost hat die Instabilität der Kategorie ¿Genre¾ mehrfach am Beispiel der Verkaufs- und Kommunikationsstrategien analysiert, die die Ausstrahlung der ersten Staffel von Loft Story (2001), der französischen Adaption des Formats von Big Brother, begleiteten und drei verschiedene Gattungsversprechen anboten, die ² je nach Stand der öffentlichen Diskussion der Sendung ² von den Strategen des Senders M6 unterschiedlich genutzt wurden.3 Die im Verlauf der Staffel
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»Jede Sendung ist eine Art unstabile Mischung all ihrer Vorgängerinnen«, François Jost: Promesses et territoires des genres télévisuels. Università di Urbino, Documents de Travail et pré-publications 309, Dezember 2001, S. 22. Übersetzungen hier und in der Folge von der Verf. Vgl. François Jost: Comprendre la télévision, Paris: Armand Colin 2005, S. 41-50, sowie Milly Buonanno: Le formule del racconto televisivo. La sovversione del tempo nelle narrative seriali, Mailand: Sansoni 2002, S. 26-30. Zusammenfassend in Comprendre la télévision, S. 109-115. Das (international erfolgreiche) Format von Loft Story diskutiert der Autor kritisch im
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Birgit Wagner nacheinander akzentuierten Gattungsversprechen führten zu einer Gattungsmigration: »>«@ XQH pPLVVLRQ SHXW PLJUHU G·XQ JHQre à O·DXWUH©.4 In einem im englischen Sprachraum weit verbreiteten Lehrbuch, Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, findet sich schon 1997 die Einsicht, dass Genremigration Genreevolution bedeutet und somit einen Motor für die internationale TV-Produktion darstellt.5 Dasselbe gilt auch für Fernsehformate. Als Format sei hier eine Matrix struktureller Eigenschaften aufgefasst, die ein wiederholbares ² und häufig auch verkäufliches ² Set von Merkmalen anbietet, in dem unterschiedliche Genres verwirklicht werden können.6 Ein Format in diesem Sinn ist zum Beispiel die fiktionale PrimetimeSerie, die serielle Erzählungen ² gleich welchen Genres und welcher Länge ² für ein erwachsenes Publikum produziert. Ebenso wie Genres mutieren können und im Bereich des profitorientierten Fernsehens auch müssen, können Formate auf Wanderschaft durch Länder und Kontinente gehen. Die Prozesse der Transformationen und die kulturellen Hybridisierungen, die sie dabei durchlaufen, stehen im Zentrum dieses Beitrags.
Formate und Genres auf Wanderschaft Formate, die in andere Sprach- und Kulturräume verkauft oder in diesen nachgeahmt werden, passen sich im Zuge dieses Prozesses den jeweiligen lokalen bzw. nationalen Fernsehkulturen an, ohne die Charakteristika ihrer Herkunftskultur völlig abzulegen. 7 Für kein Genre (verstanden als spezifische Formatrealisation) ist das überzeugender nachweisbar als für die Fernsehserie des Modells
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Zusammenhang mit der Geschichte der Avantgarde in: Le culte du banal. De Duchamp à la télé-réalité, Paris: CNRS Éditions 2007. »Eine Sendung kann von einem Genre in ein anderes wechseln«, Jost, Promesses et territoires des genres télévisuels, S. 21. Christine Gledhill: »Genre and Gender: The case of the soap opera«, in: Stuart Hall (Hg.), Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London: Sage 1997, S. 337-386, hier S. 357f.: »>«@the boundaries between genres are not fixed either: rather we find a sliding of conventions from one genre to another according to changes in production and audiences. This sliding of conventions is a prime source of generic evolution. [«]. Our knowledge of any generic system can only be provisional.« Vgl. Jost, Comprendre la télévision, S. 49. Enrico Menduni definiert das (Fernseh-) Format als ein Programmschema, das ge- und verkauft oder als Lizenz vergeben werden kann: I linguaggi della radio e della televisione. Teorie, tecniche, formati, Rom/Bari: Laterza 2006, S. 213. Vgl. dazu auch den Beitrag von Christian von Tschilschke in diesem Band.
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Fernsehformate und Fernsehkulturen des Feuilletons und der Saga, die mittlerweile auf verschiedenen Kontinenten und in verschiedenen kulturellen und religiösen Kontexten die Aufmerksamkeit und leidenschaftliche Anteilnahme höchst unterschiedlicher Sehergemeinden auf sich zieht: von den brasilianischen telenovelas bis zum Orbit der Bollywood-Fiktionen. Wie kommt es zu dieser weltweiten Beliebtheit eines Genres, das sich chamäleonartig den jeweiligen kulturellen Gegebenheiten anzupassen vermag? Die überwältigende Beliebtheit erklärt sich zunächst damit, dass das serielle Erzählen, ein uraltes Erzählmodell, wohl ein anthropologisches Grundbedürfnis befriedigt und habituelle seelische Entlastung von ermüdenden Alltagsroutinen zu bieten vermag.8 Darüber hinaus ist das serielle Erzählen schon auf Grund seiner schieren Länge bestens dazu geeignet, kulturell diversifizierte Plotstrukturen und mit ihnen Repräsentationen unterschiedlicher Weltbilder und entsprechende Identifikationsangebote zu integrieren. So ist die Wanderschaft von Formaten wie der Primetime-Serie und Genres wie dem Feuilleton und der Saga nicht nur ein medienwissenschaftliches, sondern auch ein kulturwissenschaftlich zu untersuchendes Phänomen.9 Zu berücksichtigen ist dabei, dass in einer zunehmend globalisierten Mediengesellschaft nationale Fernsehkulturen, wie sie sich in den von staatlichen Monopolen beherrschten ersten Phasen dieses Mediums ausgebildet haben, nicht unverändert als solche fortgeschrieben werden. Zumal in Europa verfügen Fernsehzuseher über ein breit diversifiziertes Angebot von nationalen und internationalen Sendern. Nicht zuletzt ökonomische Erwägungen wie Einschaltziffern und Vermarktbarkeit im DVD-Sektor führen dazu, dass europäische Produzenten, Regisseure und Drehbuchautoren sich an erfolgreichen internationalen, häufig US-amerikanischen Modellen orientieren, die dem jeweiligen Publikum vertraut sind. Das gilt auch für das traditionell so sehr auf sich selbst konzentrierte und im Bereich der Film- und Fernsehproduktion auf einen eigenständigen Weg pochende Frankreich. In der Produktion von Fernsehserien kommt es auch in diesem Land zu hybriden VerVFKUlQNXQJHQ ZREHL ¿typisch FraQ]|VLVFKHV¾ ¿OH JRW GX WHUURLU¾
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Vgl. Buonanno, Le formule del racconto televisivo, S. 77-89, sowie Christine Mielke: Zyklisch-serielle Narration. Erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie, Berlin: De Gruyter 2006. So schreibt Lucy Mazdon im Vorwort eines neueren Sammelbandes zu Fernsehserien, dass diese heute »part of a process of transnational traffic and exchange« sind, »which raise new questions about the national identity of contemporary television and its audience.« Lucy Mazdon: »Preface«, in: Michael Hammond/Lucy Mazdon (Hg.): The Contemporary Television Series, Edinburgh Univ. Press 2005, S. X.
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Birgit Wagner die regionale Markierung) mit Stereotypen, Bild-Topoi und InszenierungsgewRKQKHLWHQ¿typisch amerikaniVFKHU¾ Serien verwoben wird. Das Format der Primetime-Serie ist also ein privilegierter Schauplatz, an dem Fernsehkulturen einander durchdringen bzw. in anderen als den ursprünglichen Kontexten angeeignet werden. Das möchte ich am Beispiel der 2007 gesendeten,10 achtteiligen Miniserie Suspectes. Chaque femme a un secret diskutieren, deren VorBilder (und Ein-Bildungen) man mit gleichem Recht bei Claude Chabrol wie bei Desperate Housewives suchen kann.
Bordeaux meets USA: die Serie Suspectes Die Miniserie, ein Sendeformat mit wenigen Episoden, die in rascher Folge hintereinander ausgestrahlt werden, erzeugt eine kurzfristige starke Zuseherbindung und genießt häufig ein kulturelles Prestige, das dem des Autoren-Kinos zumindest nahe kommt. Sie wird in der Regel aufwändiger als die Endlosserie produziert, beschäftigt Schauspieler, die aus dem Kino bekannt sind und erzeugt in ihrer temporalen Verknüpfung teleologisch ausgerichtete Erzählmuster.11 Fast alle dieser Kennzeichen treffen auf Suspectes zu; eine Ausnahme bildet, wie noch zu zeigen ist, die fehlende narrative Schließung. Diese Miniserie wurde für den französischen Privatsender M6 produziert, denselben, der 2001 mit der ersten Staffel von Loft Story einen so bemerkenswerten Erfolg beim Publikum und eine anhaltende Diskussion bei den Fernsehkritikern erzeugte. M6, der zweitgrößte Privatsender Frankreichs nach TF1, präsentiert sich auf seiner Website vorwiegend mit Musik- und Unterhaltungssendungen sowie mit Serien.12 Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Kapitels sendet er unter anderem Folgen von Navy CIS, Desperate Housewives und Twilight (typisch US-amerikanische Exporterfolge), aber auch die französischen Produktionen Les Bleus und Kaamelott.13 Die acht Folgen von Suspectes dauern jeweils 46 Minuten und wurden, jeweils zwei pro Abend, 2007 zwischen 21 und 23 Uhr ausgestrahlt, im Sommer 2008 programmierte M6 eine Wiederholung. Das Drehbuch verfassten Céline und Martin Guyot, die bereits für eine andere erfolgreiche Serie, nämlich Femmes de loi (2001-2009, mittlerweile neunte Staffel!), verantwortlich zeichnen; der Regisseur 10 Serienstart in Frankreich: 16.5.2007, in der Schweiz: 23.5.2007, in Ungarn (!): 11.5.2007. Englischer Serientitel: Secrets. 11 Milly Buonanno, Kap. »Una formula ibrida. La miniserie«, in: Le formule del racconto televisivo, S. 142-160. 12 URL: http://www.m6.fr 13 Zu diesem Kurzformat s. Sabine Schrader in diesem Band.
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Fernsehformate und Fernsehkulturen ist Laurent Dussaux, der überwiegend für das Fernsehen arbeitet, aber auch Kinofilme gedreht hat.14 Zwei der Hauptdarsteller, Karina Lombard und Saïd Taghmaoui, sind aus Kinofilmen und amerikanischen Fernsehserien bekannt. Auch in Suspectes stehen wie in Femmes de loi Frauen im Mittelpunkt, was aber nicht bedeutet, dass sich die Sendung vorrangig an ein weibliches Publikum richten würde. Die offizielle Gattungsbezeichnung lautet »policier« (»Kriminalserie«), doch in Wahrheit vereint Suspectes im Format der Primetime-Serie verschiedene (kinematographische und televisuelle) Genrebezüge: den Kriminalfilm mit seinen Elementen analysis und action,15 Momente wiederkehrender und wieder erkennbarer Situationskomik und melodramatische Beziehungsgeschichten, die all das erzählen, was diesbezüglich in diesem Format erwartet wird: Partnersuche, Liebe, Sex, Untreue, Eifersucht, Verzweiflung und Selbstmordversuche. Die Schicksale der vier Hauptfiguren, drei Frauen und ein Mann, werden ineinander verwoben und mithilfe der mittlerweile formattypischen mikro-episodischen Montage verfolgt: Darunter verstehe ich jene Form der multiplen Parallelmontage, die innerhalb einer Folge abwechselnd die Geschicke der jeweiligen Hauptfiguren vorführt, was den Zusehern sowohl den Eindruck partieller Gleichzeitigkeit von Sequenzen als auch die Ereignischronologie vermittelt, und die dadurch jenes dichte Geflecht von Bezügen herstellt, das für eine längere Erzähldauer unerlässlich ist. Der Handlungsschauplatz von Suspectes ist nicht Paris, sondern die Stadt Bordeaux und ihre unmittelbare Umgebung (die durch die Handlung motivierten Kurzreisen zweier Figuren nach Paris bzw. nach Genf bleiben visuell ungenützt). Durch die Wahl eines ¿UHJLRQDOHQ¾ Schauplatzes wird der Sendung ein Lokalkolorit verliehen, das sie einerseits in der französischen Fernsehlandschaft individualisiert und andererseits mit jenen US-amerikanischen Serien in eine Reihe stellt, die höchst erfolgreich Klein- und Mittelstädte in den Blickpunkt gerückt haben.16 Auch in dieser Hinsicht kann man von einer französischen Aneignung einer bewährten amerikanischen Fernsehstrategie sprechen. Im französischen Kontext bilden jedenfalls Serien, die in einem urbanen Kontext, aber nicht in Paris 14 Zum Beispiel $YDQWTX·LOQHVRLWWURSWDUG (2005). 15 Vgl. dazu Ulrich Schulz-%XVFKKDXV· nach wie vor erhellende Studie Formen und Ideologien des Kriminalromans, Frankfurt am Main: Athenaion 1973. 16 Zwei bekannte Beispiele: das Städtchen Snoqualmie östlich von Seattle, Schauplatz der von David Lynch und Mark Frost konzipierten Serie Twin Peaks (1990-1991), und Pittsburgh (Pennsylvania) aus der Kultserie Queer as folk (2000-2005), wobei letztere in Toronto gedreht wurde, obwohl die EHKDXSWHWH ¿3URYLQ]LDOLWlW¾ 3LWWVEXUJKV KlXILJ GHQ +DQGOXQJVPRWRU Dntreibt, indem sie Figuren zur Abwanderung nach New York oder Kalifornien bewegt.
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Birgit Wagner spielen, die Ausnahme. Ähnlich wie bei den amerikanischen Modellen, ergibt sich dadurch eine doppelte Perspektivierung des Schauplatzes und der ihm zugeschriebenen urbanen Identität: durch einheimische sowie durch zugewanderte Figuren, die auf eine stark ausgeprägte lokale Identität stoßen. Die vielfältig ineinander verschlungenen Erzählstränge verbinden Privates mit der polizeilichen Untersuchung eines mysteriösen Vorfalls. Den Auftakt bildet eine spektakuläre Szene: Eine halbnackte, mit einem Revolver bewaffnete junge Frau stürzt durch ein Glasdach in das Foyer des Luxushotels Victory, und das just im Moment der Eröffnungsfeier nach einer Renovierungsphase des Hauses, daher vor den Augen vieler Gäste. Unter ihnen befindet VLFKGHU&RPPDQGDQW6WDQLVODV/DPHUDW6DȴG7DJKPDRXL GHU]ukünftige Leiter der polizeilichen Ermittlung. In der Hand hält die junge Frau ein Stück Papier, auf dem die Namen von vier Frauen vermerkt sind, von denen eine kurz vor dem Vorfall im Victory unter ungeklärten Umständen gestorben ist. Die drei anderen Frauen werden daraufhin als bedroht eingestuft, wobei sie aber von Anfang an nicht nur als potentielle Opfer, sondern auch als Verdächtige, eben als »suspectes« vorgestellt werden, denn, wie der Untertitel der Serie auf der Basis eines alten Gender-Topos verspricht: »chaque femme a un secret« («jede Frau hat ein Geheimnis«). Dieses Geheimnis, das zu dem Auftraggeber der vermeintlichen Mordserie führen soll, herauszufinden, ist die Aufgabe des Commandant.17 Die drei Geheimnisträgerinnen repräsentieren verschiedene, jedoch durchwegs gut- bis großbürgerliche weibliche Lebensentwürfe: Die gefühlvolle Marina Devaux (Ingrid Chauvin) ist die Frau eines wohlhabenden Arztes und Mutter zweier kleiner Kinder, Claude Perkins (Karina Lombard) ist eine ebenso erfolgreiche wie zynische Schönheitschirurgin,18 und die jüngste des Trios, die zugleich naive und durchtriebene Juliette Valle (Elodie French) steht am Beginn einer viel versprechenden Karriere in der Werbeabteilung der Kosmetikfirma Evan. Alle drei repräsentieren den glamourösen Frauentyp, wie er aus den amerikanischen Serien seit Dallas bekannt ist: immer gut gestylt und in jeder denkbaren Lebenssituation sexy.
17 »Hidden secrets and their exposure« sind ein Genremerkmal der soap opera. Gledhill: »Genre and gender«, S. 352. 18 Karina Lombard ist eine Schauspielerin mit internationaler Karriere; bekannt wurde sie u.a. durch ihre Rolle in der US-amerikanischen Fernsehserie The L Word (2004-20 GHP OHVELVFKHQ ¿*HJHQVWFN¾ ]X Queer as folk.
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Fernsehformate und Fernsehkulturen Juliette, Claude und Marina
Suspectes, 1. Folge Rund um die drei Frauen und den Commandant gravitieren eine Fülle von Nebenfiguren: ein Ehemann, ein Ex-Ehemann, der sich mittlerweile als Schwuler geoutet hat und ein Nachtlokal für queeres Publikum betreibt, eine Reihe von Liebhabern aus Vergangenheit und Gegenwart, eigene und andere Kinder sowie Figuren aus dem Berufsleben der Frauen: Untergebene, Vorgesetzte und Konkurrenten; schließlich die Mitarbeiter des Commandant und die Handlanger des vermeintlichen Auftragsgebers der virtuellen Mordserie. Zwei Morde an Nebenfiguren halten die Spannung der Kriminalhandlung aufrecht. Die Drehbuchautoren haben dabei ihren Aristoteles gut gelesen: Die vier Protagonisten eQWVSUHFKHQH[DNWGHP7\SXVGHV¿mittleren HelGHQ¾,19 sie sind die Sympathieträger, doch jeder und jede besitzt seine/ihre Schwachstellen. Der Commandant, der sich im Laufe der Episoden in die kühle Claude verliebt, spielt, wie sich erst ganz zum Schluss herausstellt, ein doppeltes Spiel, in dem er nicht den Schutz der vermeintlich bedrohten Frauen zum Ziel hat, sondern einen privat motivierten Rachefeldzug führt. Die Schwäche der drei Frauen liegt, wie zu erwarten, in ihren »Geheimnissen«, die sich allmählich enthüllen und zunächst in Bezug auf die Haupthandlung meist als falsche Fährten herausstellen. Unter ihrer jeweiligen glänzenden Fassade verbergen die Protagonistinnen jedenfalls Abgründe, die ² wie in den in der Provinz spielenden Filmen von Chabrol ² die dunklen Seiten einer nach außen makellos sich gebenden Bürgerlichkeit darstellen. Auch von den von Aristoteles empfohlenen und in USamerikanischen Serien überaus beliebten dramaturgischen Mitteln der Anagnorisis und der Peripetie machen die Drehbuchautoren
19 Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, Stuttgart: Reclam 1982, Abschnitt 13, S. 39.
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Birgit Wagner reichlich Gebrauch: Juliette erweist sich als die biologische Tochter der autoritären Besitzerin der Kosmetikfirma, und in der vorbildlichen Familienmutter Marina erkennt ein neu hinzugezogener Nachbar ein ehemaliges Pariser Luxus-Callgirl. Die spektakulärste Peripetie ergibt sich in der letzten, der achten Folge, deren Schlusssequenz so wie die Eingangssequenz wieder im Foyer des Victory spielt: Wieder stürzt jemand durch das Glasdach ² diesmal ist es Mme Evan, Juliettes Mutter, wie die Zuseher mittlerweile erfahren haben ² und auch sie hält ein beschriebenes Blatt in der Hand, das zwar für die Zuseher vieles aufklärt, für die fiktive Handlung aber keine Lösung bringt: »Que la partie commence« (»die Partie ist eröffnet«), fordert der geheimnisvolle Drahtzieher im Hintergrund den Commandant auf, der somit mit seinem Rachefeldzug gescheitert ist. So endet das Feuilleton zwar mit der Aufklärung der Geheimnisse der drei Protagonistinnen sowie der Enthüllung der Vorgeschichte des polizeilichen Ermittlers, doch das Ende der fiktiven Handlung bleibt offen. Ein offenes Ende gehorcht nicht den gängigen Handlungsmustern der Miniserie. Man kann es in diesem Fall der Spekulation der Produzenten auf eine zweite Staffel zuschreiben, es entspricht aber auch einer internationalen Tendenz zur Nicht-Schließung von Feuilletons.20 Die sehr verschlungenen Handlungsstränge werden durchwegs professionell erzählt, ohne dass je die Grenze zu einem ästhetischen Wagnis überschritten würde. Im Wesentlichen handelt es sich um eine gekonnte Abfolge von dramatischen und spannungsreichen sowie von komischen oder melodramatischen Sequenzen; da dieses Feuilleton durch seinen Grundplot der analysis des Kriminalgenres verpflichtet ist, muss es notwendigerweise zu vielen Flashbacks kommen. Auch diese werden völlig risikolos eingebaut, das heißt meist mehrfach markiert: durch den Wechsel von Farbe zu Schwarz-Weiß oder, wenn die Farbe beibehalten wird, zumindest zu einer beschleunigten Schnittfolge, und immer durch die akustische Unterstützung eines geeigneten Markers, der den Wechsel der Zeitebene anzeigt. Die Vorliebe für Glamour, durchgestylte Lebensräume und ebensolche Figuren übernimmt Suspectes aus der entsprechenden Linie US-amerikanischer Serien, die von Dallas (1978-1991) bis Desperate Housewives (seit 2004) führt und in der rezenten Kultserie Mad Men (seit 2007) konsequent historisiert wird.21 Zu den visu-
20 Vgl. Angela Ndalianis: »Television and the Neo-Baroque«, in: Hammond/ Mazdon (Hg.): The Contemporary Television Series, S. 83-101. 21 Die bereits mehrfach preisgekrönte Serie Mad Men spielt in der Werbebranche des New York der frühen 1960er Jahre (Ausgangspunkt: 1959), wobei
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Fernsehformate und Fernsehkulturen ellen Topoi dieser Serienlinie gehören jene Schauplätze, die François Jost als die Sozialisationsorte der televisuellen Fiktion bezeichnet,22 das Sofa im Wohnzimmer und unüblich großräumige Badezimmerund Toilettenanlagen. Amerikanische Vorbilder kann man auch für die Verknüpfung von Komik und Melodramatik, von privaten und kriminalistischen Handlungssträngen namhaft machen; unerreichtes künstlerisches Modell dafür ist natürlich Twin Peaks.
Aneignungspraktiken Wie erfolgt nun die Aneignung dieser auch dem französischen Publikum vertrauten Serien-Strukturen und -Orte im Rahmen eines Feuilletons, das in einer französischen Provinzstadt spielt? Vorauszuschicken ist, dass eine Dialogführung auf Französisch sich im »Ton« erheblich von Dialogen unterscheidet, die im amerikanischen Englisch geführt werden;23 im Fall von Suspectes liegen die Vorbilder für die Dialogführung im französischen Kino. Davon abgesehen, sind intentionale Adaptionsstrategien auf mehreren Ebenen auszumachen, die in der Folge zu erörtern sein werden: auf der Ebene der referentiellen Funktion der televisuellen Bilder, in bestimmten Formen eines als französisch konnotierten Lebensstils und schließlich durch den intramedialen Verweis auf einen Filmemacher, der das Doppelbödige großbürgerlichen Provinzlebens in Frankreich vielfach thematisiert hat, nämlich Claude Chabrol.24 Zunächst zu den als referentiell lesbaren Bildern: Dem (Sub-) Format der Miniserie entspricht es, dass Außenaufnahmen eine große Rolle spielen und die Inszenierung sich nicht auf wiederkehrende, bestimmten Handlungssträngen zugeordnete Innenräume beschränkt.25 So gibt es in jeder Folge eine Reihe von Einstellungen, die die Stadt Bordeaux erkennbar ² und zwar meist im Sinne einer touristischen Werbeästhetik ² visualisieren; diese Einstellungen wiederholen sich durch alle Folgen in leichten Variationen und werden damit zu Bildtopoi der Serie. Dazu gehören Panoramaaufnah-
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die überwiegend in Innenräumen angesiedelten Sequenzen sich durch äußerst sorgfältige Rekonstruktion des historischen Ambientes auszeichnen. Jost, Promesses et territoires des genres télévisuels, S. 17. Zum Begriff des »Tons« einer Sendung (einer Sprechweise, die die Pragmatik einer Situation prägt) vgl. Jost, Comprendre la télévision, S. 39f. Intramedial ist dieser Verweis insofern, als Versatzstücke von Chabrols Aufnahmetechnik und Inszenierungsstil für die televisuelle Erzählung adaptiert werden, ohne dass das zu einer spezifisch televisuellen Erzählform führen würde. Buonanno, Le formule del racconto televisivo, S. 144.
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Birgit Wagner men der historischen Schauseite der Stadt am Garonne-Ufer, Einstellungen, die die Brücken und das Hotel Victory fokussieren. Bordeaux: Schauseite
Suspectes, 5. Folge Das Victory, ein klassizistischer Prunkbau, ist außerhalb der Fiktion ein Theatergebäude, nämlich die Oper von Bordeaux. Einmal ² in der ersten Folge ² wird der Croiseur Colbert gezeigt, ein außer Dienst gestellter croiseur lance-missiles (raketenbewehrter Kreuzer), der am Garonne-Ufer seinen letzten und musealen Ankerplatz gefunden hat ² mittlerweile geht er seiner Abwrackung entgegen ² und den man in Hinblick auf seine historische Bedeutung als einen Gedächtnisort im Sinne von Pierre Nora bezeichnen kann.26 Mehrfach sieht man im selben Ambiente der Uferpromenaden die ortsüblichen Verkehrsmittel, nämlich Flussschiffe und eine Straßenbahnlinie, ferner Altstadtgässchen, repräsentative alte Stadthäuser, eine französische école primaire (Grundschule) mit ihrer unverwechselbaren Bauform, einen alten Friedhof. Manchmal führt die Handlung auch in die unmittelbare Umgebung der Stadt und bietet die Gelegenheit, die Pinienwälder der Landes27 und die im baskischen Stil gebauten Fachwerkhäuschen zu präsentieren. Alle diese Einstellungen, die entweder nur die Orte oder die handelnden Figuren im visuellen Kontext des jeweiligen Ortes fokalisieren, sind nicht nur wieder erNHQQEDUVRQGHUQDXFK¿VFK|Q¾ 26 Auf diesem Schiff, das eine Zeit lang das Flaggschiff der französischen Mittelmeerflotte war, fuhr General De Gaulle im Juli 1967 nach Kanada, wo er durch seinen berühmt gewordenen Ausspruch »Vive le Québec libre« (»Es lebe das freie Québec«) in die kanadische Innenpolitik eingriff. Der einzige Kriegseinsatz des Kreuzers erfolgte im ersten Golfkrieg. Zum Begriff des Gedächtnisortes s. Pierre Nora (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs, München: Beck 2005. 27 Die Landes sind das Departement, das zwischen Bordeaux und der Atlantikküste liegt.
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Fernsehformate und Fernsehkulturen im Sinne der Werbeästhetik.28 Dasselbe gilt auch für die Interieurs, die gezeigt werden: von Claudes Schönheitsklinik über das Hotel Victory bis zur Schwulen- und Lesbenbar am Flussufer. Der hässlichste Ort, der in den acht Folgen vorgeführt wird, ist die Polizeistation, ein seelenloser Betonbunker. Ansonsten aber gibt es keine televisuellen Bilder, die in irgendeiner )RUP HLQHQ ¿SUREOHPDWLVFKHQ¾ Ort konstruieren würden. Selbst Juliettes beruflicher Konkurrent, den sie beim Bewerbungsgespräch mithilfe eines Schlafmittels, das sie ihm ins Wasserglas schüttet, ausschaltet, ein Langzeitarbeitsloser, wohnt in einem ansprechenden einstöckigen Häuschen. Die attraktiven Menschen der Handlung wohnen also schön in einer schönen alten Stadt, und sie gehören alle derselben Gesellschaftsschicht und derselben Generation an: junge Erwachsene, fünfundzwanzig bis maximal fünfundvierzig Jahre alt, mit Kindern oder ohne Kinder. Die Handlung integriert, außer in unbedeutenden Momenten, keine älteren Menschen und keine Figuren, die sozial außerhalb des Bildungs- und Besitzbürgertums angesiedelt wären, auch keine Figuren mit Migranten-Identität. Der Schauspieler Saȴd Taghmaoui, Sohn einer marokkanischen Migrantenfamilie, der den Commandant Stanislas Lamerat spielt, stellt in der Fiktion einen français de souche HLQHQ ¿HFKWHQ¾ Franzosen, dar.29 Die Probleme, die das Feuilleton konstruiert, haben also keinen Hintergrund, der schwerwiegende sozioökonomische oder identitäre Konflikte vorführen würde. Solche in jeder größeren französischen Stadt existierenden Problemkonfigurationen werden also ausgeblendet und FrankUHLFKDOV¿IUDQ]|VLVFKHU¾ und bürgerlicher konstruiert als es ist. Die Probleme der Figuren resultieren eben nicht primär aus sozialen Spannungen oder ökonomischen Interessenskonflikten, sondern vielmehr aus dem Verschwiegenen, das sich hinter den sorgfältig gepflegten Fassaden auftut: Es geht um Schein und Sein, mithin um serientypische Figurenpsychologie, nicht um Milieurealismus. Interessant ist indes, wie in Suspectes mit der Frage der sexuellen Orientierung umgegangen wird. Die männliche Homosexualität wird insgesamt durch die Handlung valorisiert: Claudes Ex-Mann und sein neuer Lebenspartner sind, obwohl sie auch in komischen Szenen auftreten, im Wesentlichen positive Figuren, und das Fest im Victory, mit dem das Feuilleton endet, wird aus Anlass ihres
28 Man kann Suspectes als gelungenen Werbefilm für Bordeaux lesen, ebenso wie Woody Allans rezente Kinoproduktion Vicky, Cristina, Barcelona (2008) für die katalanische Hauptstadt wirbt. 29 Saʀd Taghmaoui, geboren in der Pariser banlieue Villepinte, begann seine Filmkarriere als Ko-$XWRU YRQ XQG 6FKDXVSLHOHU LQ 0DWKLHX .DVVRYLW]· Eekanntem Film La Haine (Hass, 1995). Mittlerweile ist er auch in zahlreichen Hollywood-Produktionen (Kinofilmen und Fernsehserien) aufgetreten.
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Birgit Wagner eben eingegangenen PACS veranstaltet.30 Juliette hingegen begegnet im beruflichen Kontext einer jungen Vorgesetzen, die sie über das Intranet der Firma zunächst sexuell belästigt und sie schließlich durch Erpressung in ihr Bett zu bekommen versucht. Diese Figur scheitert jedoch mit ihren Absichten, und zwar scheitert sie komisch, was unvermeidlich eine Abwertung weiblicher Homosexualität zur Folge hat. Vom Lebensstil der Figuren, die keine ernsthaften finanziellen Probleme kennen, war schon die Rede. Hier ist noch hinzuzufügen, dass sich dieser Lebensstil auch in der Wahl der Getränke manifestiert. Ob im privaten Rahmen oder in einem Lokal ² in diesem televisuellen Bordeaux scheint es nur zwei Getränke zu geben, nämlich eben Bordeaux oder aber Champagner, und das vom Mittagessen bis in die späte NDFKW KLQHLQ $XFK GDV LVW HLQH ¿IUDQ]|VLVFKH¾ Aneignung amerikanischer Vorbilder, bei denen in der Mehrzahl der vergleichbaren Szenen amerikanischer Kaffee getrunken würde. Eine letzte, wichtige französische Referenz sind die Einstellungsfolgen, die auf Chabrols im Großbürgertum und in der Provinz angesiedelte Filme verweisen, vor allem auf die Filme der »période pompidolienne«: La femme infidèle (Die untreue Frau, 1968), Que la bête meure (Das Biest muss sterben, 1969), La rupture (Der Riss, 1970) usw.31 Es handelt sich dabei durchwegs um Filme, die im Gegensatz zur ästhetischen Orthodoxie der Nouvelle Vague die Grenze zwischen Autoren- und Genrekino nicht respektieren.32 Chabrols Vorliebe für die moralischen Abgründe des Bürgerlichen ist bekannt, ebenso seine unverwechselbare Filmsprache, die aus gepflegten Landsitzen Orte tödlicher Leidenschaften und Museen zerstörter Familien zu machen imstande ist. Diese Filmsprache, die den Schluss vRQ¿schöQHQ¾ Bildern auf den fassadenhaften Charakter der bürgerlichen (Familien-)Ordnung suggeriert, wird in Suspectes in zwei Handlungssträngen zitiert, in denen jeweils prunkvolle Landsitze in der Umgebung von Bordeaux den Schauplatz liefern. Auch wenn es sich nicht um Vor-Bilder im Sinn von 30 PACS: »pacte civil de solidarité« (Gesetz vom 15.11.1999), eingetragene Partnerschaft, die unverheirateten Paaren in Frankreich einen Rechtsstatus verleiht. 31 Vgl. Wilfrid Alexandre: Claude Chabrol. La Traversée des apparences. Biographie, Paris: Editions du Félin 2003, S.124-132; Guy Austin behandelt dieselbe Periode unter dem Titel »The Hélène cycle«: Claude Chabrol, Manchester/New York: Manchester University Press 1999, S. 42-81. 32 »&KDEURO·V ILOPV EUHDN GRZQ WKH GXELRXV FULWLFDO EDUULHU EHWZHHQ DUW FLnema and popular cinema. Commercial as well as artistic considerations are crucial to his film-making, and he remains disdainful of those directors (like Godard) whose films are elitist rather than populist. « Austin, Claude Chabrol, S. 3.
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Fernsehformate und Fernsehkulturen nachgestellten Gemälden handelt, ist es gerechtfertigt, hier auf Joachim Paechs Begriff des Vor-Bilds zurückzugreifen:33 Es handelt sich um Zitate von (Film-)Bild-Konfigurationen, die für ein französisches Fernsehpublikum lesbar werden als eine Bildsprache, die eine durch und durch semantisierte ¿Welt¾ evoziert, die Welt eines dem Schein verpflichteten Großbürgertums. Die erste dieser zitierenden Bild-Konfigurationen betrifft eine Nebenfigur, die Ex-Frau von Juliettes Liebhaber Lionel, die zweite Juliette selbst. Juliette, die Grund zur Annahme hat, dass Mme Evan, ihre Firmenchefin, ihre leibliche Mutter ist, wird von dieser aufgefordert, sie auf ihrem Landsitz aufzusuchen, um ihr die aktuellen Verkaufszahlen der Firma zu überbringen. Juliette rüstet sich für die bevorstehende Begegnung und die von ihr erwartete Anagnorisis mit einer Pistole. Wie sie dann aus ihrem kleinen roten Auto aussteigt und, aus der Obersicht gefilmt, allein und klein die imposante Treppe zum Anwesen Mme Evans hinaufsteigt, ist im puren Chabrol-6WLO JHILOPW GLH ¿6FK|QKHLW¾ des Ambientes potenziert den psychischen Stress, den die Figur zum Ausdruck bringen soll. Juliette vor der Anagnorisis
Suspectes, 8. Folge Dasselbe gilt für die Anagnorisis-Szene selbst, die vor einem großen, goldgerahmten Spiegel im Salon des Château stattfindet. Die Blicke von Mutter und Tochter werden reflektiert und gerahmt vom Spiegel, dem filmischen Zeichen doppelter Enunziation und dem psychoanalytischen Zeichen der (verfehlten) Selbst-Erkennung. Hierzu gibt es in der Tat auch zahlreiche Vor-Bilder aus der Geschichte der
33 Joachim Paech: Passion oder die Einbildungen des Jean-Luc Godard, Frankfurt am Main: Schriftenreihe des Deutschen Filmmuseums 1989 (= Kinematograph Nr. 6).
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Birgit Wagner europäischen Malerei, in der der Spiegel häufig als »Metapher der Selbstverkennung« fungiert.34 Anagnorisis vor dem Spiegel
Suspectes, 8. Folge Die Sequenz endet, wenn schon nicht mit einem Mord, so doch in großer Verzweiflung: Die Schatten der Vergangenheit siegen über die Versuche Mme Evans, eine neue Gegenwart zu konstruieren, und ihr schönes Haus birgt eben das, was auch bei Chabrol häufig der Fall ist: moralisches Elend und menschliches Leid.
Rezeption Serien und Miniserien, die erfolgreich sind, werden heute nicht nur im ¿Fluss¾ des Fernsehprogramms konsumiert, sondern im Netz diskutiert und als DVD gekauft,35 sie besitzen also ein Nachleben von Epitexten und bleiben eine Weile auf dem Markt verfügbar. Wie ist Suspectes mit seinem franko-amerikanischen Genreund Stilmix beim französischen Publikum angekommen? Einen Einblick in die Publikumsreaktionen bietet das Forum der offiziellen Website der Miniserie.36 Als durchschnittliche Einschaltquote der einzelnen Episoden (erste Ausstrahlung) wird die Zahl von 3,9 Millionen Zuschauern und Zuschauerinnen angegeben, was offenbar unter der Erwartung der Produzenten lag und wohl mit ein Grund dafür war, dass das offene Ende der Serie nicht zu einer neuen Staf34 Daniela Hammer-Tugendhat: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2009, S. 175-191, hier S. 181. 35 Diesem Beitrag liegt folgende DVD-Produktion zugrunde: M6/Marathon 2007. 36 Forum-Zitate aus: http://www.m6.fr/serie-suspectes (letzter Zugriff: 7.12.2009).
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Fernsehformate und Fernsehkulturen fel genützt wurde. In den verschiedenen Rubriken dieses Forums finden sich jedoch zahlreiche und dringliche Bitten um eine Fortsetzung der Geschichte, die einerseits artikulieren, was dem Wesen einer solchen Fangemeinde entspricht, nämlich den Wunsch, weiterhin mit einer lieb gewonnenen fiktionalen Welt zu leben. Andererseits ist es gerade das offene Ende, die ungelösten Rätsel und Geheimnisse, die die Zuseher erregt haben. Eintragungen wie »eine Fortsetzung muss unbedingt her, das kann nicht einfach so enden!!!!!!«37 formulieren diesen Wunsch nach fiktionaler Schließung in aller Deutlichkeit. Fan-fictions, die mögliche Fortsetzungen skizzieren, zeugen von ebenso leidenschaftlicher wie kreativer Anteilnahme. Besonders interessant im Zusammenhang dieses Beitrags ist die Rubrik »Même là, les américains nous envahissent« (»Sogar hier werden wir von den Amerikanern besetzt«). Worüber tauscht man sich in diesem Teil des Forums aus? Keineswegs über die Facetten der Aneignung eines amerikanischen Formats, die ich dargestellt habe, sondern vielmehr über inszenatorische Details und Objektrealismus. Eine Person, die sich unter dem Namen »dead_like_me« identifiziert, schreibt Folgendes: »Ich habe gerade die letzten Teile gesehen, die ich gestern aufgenommen habe, und war schockiert, als ich einen schweren Fehler bei der Geräuschmontage feststellte. Denn in dem Moment, als Claude ihren misslungenen Selbstmordversuch im Flashback wieder sieht, wird das Schließen der Bahnschranken vom akustischen Signal einer amerikanischen Schrankenanlage begleitet. Wenn dann der Zug vorbeifährt, hört man das Hupen eines amerikanischen Zugs. Dabei ist es doch gar nicht schwer, den Klang einer französischen Signalanlage oder eines französischen Warntons zu bekommen!«38 Dieser Eintrag ist typisch für den detailscharfen Blick, den Fangemeinden entwickeln können.39 Die Antworten auf den zitierten Eintrag variieren zwischen »et alors« (»na und«) und folgender Aussage einer als »darkelle« identifizierten Person: »Vielleicht haben sie einfach die Geräusche genommen, die sie zur Verfügung hatten, ohne sich um neue Aufnahmen zu scheUHQ« 0LFK VW|UW GDV ZLUNOLFK QLFKW (V LVW QLFKW VR DOV RE 37 »il faut absolument une suite ca [sic] peut pas finir comme ca [sic] !!!!!!« 38 ª9HQDQWMXVWHGHUHJDUGHUOHVGHUQLqUHVSDUWLHVTXHM·DYDLVHQUHJLVtrées hier VRLUM·DLpWpFKRTXpGHFRQVWDWHUXQHpQRUPHDQRPDOLHGXPL[DJHVRQ(Q effet, au moment où Claude revoit la non réussite de son suicide, le PasVDJHjQLYHDXVHIHUPHDFFRPSDJQpG·XQHVRQQHULHG·XQ31DPpULFDLQ(nVXLWH TXDQG OH WUDLQ SDVVH RQ HQWHQG OH NOD[RQ G·XQ WUDLQ DPpULFDLQ ,O Q·HVWSRXUWDQWSDVGLIILFLOHG·REWHQLUOHVRQG·XQHVRQQHULHG·XQ31IUDQoDLV QLFHOXLG·XQDYHUWLVVHXUVonore de train français!« 39 »The popular audience, far from being the passive consumers constructed within the ideology of mass culture, are required to be expert readers «© Gledhill, »Genre and Gender«, S. 355.
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Birgit Wagner sie die Serie auf Englisch gedreht hätten, um sie dann zu synchronisieren. Oder wenn sie die Handlung in eine amerikanische Stadt verlegt hätten.«40 Wie man sieht, hat die regionale Verankerung durchaus ihr Identitätsangebot verwirklicht und eine entsprechende Wirkung erzeugt. Die Schreiberin darkelle bietet den Lesern und Leserinnen noch folgende, als Oscar Wilde-Zitat ausgewiesene Weisheit: »,W·VWKH spectator, and not life, that art really mirrors.« Zumindest mag das für Fernsehserien des Typus gelten, den Suspectes verwirklicht. Sie »haben Anteil an der Produktion und Zirkulation von kulturellen Bedeutungen«41 und entstehen in einem Feld, das von stets sich entwickelnden Publikumserwartungen, Genre- und Formattraditionen, Verkaufsstrategien und ästhetischen Verfahren gebildet wird und daher stets im Fluss bleibt. Kulturelle Hybridisierungsprozesse, wie sie im Fall von Suspectes festgestellt werden können, machen dabei für die Zuseher ein doppeltes Angebot von Wiedererkennbarkeit: das Angebot, sich im Modus der Identifikation in einem französischen Lokalkolorit und französischen Inszenierungsstilen wieder zu finden, und die Möglichkeit, gleichzeitig ihre Erfahrung mit internationalen Fernsehprodukten zu aktivieren, mitzulesen und daraus Vergnügen zu gewinnen.
Literatur Alexandre, Wilfrid: Claude Chabrol. La Traversée des apparences. Biographie, Paris: Editions du Félin 2003. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, Stuttgart: Reclam 1982. Austin, Guy: Claude Chabrol, Manchester/New York: Manchester University Press 1999. Buonanno, Milly: Le formule del racconto televisivo. La sovversione del tempo nelle narrative seriali, Mailand: Sansoni 2002. Gledhill, Christine: »Genre and Gender: The case of the soap opera«, in: Stuart Hall (Hg.), Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London: Sage 1997, S. 337-386. Hammer-Tugendhat, Daniela: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2009. 40 »Peut-être ont-LOVIDLWDXSOXVVLPSOHHQSUHQDQWOHVEUXLWDJHVTX·LOVDYDLHQW jGLVSRVLWLRQVDQVV·HPErWHUjDOOHUHQIDLUHGHQRXYHDX[«&D[sic] ne me dpUDQJHYUDLPHQWSDVSRXUPDSDUW&·HVWSDVFRPPHV·LOVDYDLHQWWRXUQp la série en anglais pour la doubler après. 2 V·LOV DYDLHQW SODFp O·LQWULJXH dans une ville américaine.« 41 ª>«@SRSXODUILFWLRQVSDUWLFLSDWHLQWKHSURGXFWLRQDQGFLUFXODWLRQRIFXOWural meanings«, Gledhill, »Genre and gender«, S. 339.
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Fernsehformate und Fernsehkulturen Hammond, Michael/Mazdon, Lucy (Hg.): The Contemporary Television Series, Edinburgh Univ. Press 2005. Jost, François: Promesses et territoires des genres télévisuels. Università di Urbino, Documents de Travail et pré-publications 309, Dezember 2001. Jost, François: Comprendre la télévision, Paris: Armand Collin 2005. Jost, François: Le culte du banal. De Duchamp à la télé-réalité, Paris: CNRS Éditions 2007. Menduni, Enrico: I linguaggi della radio e della televisione. Teorie, tecniche, formati, Rom/Bari: Laterza 2006. Mielke, Christine: Zyklisch-serielle Narration. Erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie, Berlin: De Gruyter 2006. Nora, Pierre (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs, München: Beck 2005. Paech, Joachim: Passion oder die Einbildungen des Jean-Luc Godard, Frankfurt am Main: Schriftenreihe des Deutschen Filmmuseums 1989 (= Kinematograph Nr. 6). Schulz-Buschhaus, Ulrich: Formen und Ideologien des Kriminalromans, Frankfurt am Main: Athenaion 1973. Internetquelle: http://www.m6.fr/serie-suspectes.
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Zur Serialität des Komischen in der französischen Fernsehserie Kaamelott SABINE SCHRADER
»Camelote« meint in der französischen Umgangssprache so etwas wie »Schund« oder »Trash«, und es will fast so scheinen, als beziehe sich diese alte Redewendung direkt auf die Fernsehserie Kaamelott,1 in der sich die Suche nach dem Heiligen Graal genauso schwierig gestaltet wie Arthurs Versuche, sein Reich zu zivilisieren. Der König muss sich mit seinen chevaliers de la ronde plagen, sei es, dass sie die Bedeutung der table ronde nicht kennen, oder sei es, dass sie in den Schlachten die Zeichen nicht zu lesen vermögen. Aber auch Zuhause hat Arthur es nicht leicht. Seine Frau versteht ihn nicht und seine Schwiegermutter lässt bei Tisch keine Gelegenheit ungenutzt, ihn zu attackieren. Kaamelott ist eine Parodie auf die Artuslegende, und das sehr erfolgreich. Im Jahr 2006 wurde die Serie auf dem 8e festival de la fiction TV als »0HLOOHXUH 6pULH G·$FFHVV Prime Time ou Day Time« gekürt und lockte werktags Millionen Zuschauer vor den Fernseher.2 Auch die sechste und vermutlich letzte Staffel gewinnt auf dem 11e festival de la fiction TV im September 2009 in der Kategorie »Meilleure série de la Prime time« und wird in den darauffolgenden Monaten im Fernsehen ausgestrahlt. Im Vergleich zu den meisten Fernsehserien sind die Folgen sehr kurz; sie dauern zwischen dreiundeinhalb und sieben Minuten, und so fällt es den Fernsehkritikern auch schwer, das ungewöhnliche Format zu bestimmen. Im Dictionnaire de la télévision wird die Serie etwas umständlich als »Feuilleton quotidien au format ultra-court« definiert,3 im Internet, einem der wichtigsten Inszenierungsorte von Kaamelott, mischen sich Angaben zur Länge mit inhaltlichen Be1 2 3
CALT TV/M6, 2005-2009, Regie und Hauptdarsteller: Alexandre Astier. URL: http://www.festival-fictiontv.com/archives-du-festival/festival-2006 (20.10.2009). Laurent Aknin: »Kaamelott«, in: Dictionnaire de la télévision française, hg. von Agnès Chauveau und Yannick Dehée, Paris: Nouveau monde 2007, S. 300.
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Sabine Schrader schreibungen. Auf der offiziellen Kaamelott-Seite findet man die Bezeichnung »fiction courte médiévale«,4 auf Wikipédia hingegen verschwinden die Angaben zur Länge zugunsten einer vor allem inhaltlichen Beschreibung: »série télévisée française humoristique et dramatique de fantaisie historiqueµ5 und France soir findet das neue Format schlichtweg »indescriptible«,6 während Le progrès am 18. September 2006 begeistert jubelt: »Les plus courtes sont les meilleures«.7 Im vorliegenden Beitrag wird zunächst das junge, im deutschsprachigen Raum unbekannte Format, das in Frankreich aus der Taufe gehoben wurde, am Beispiel der ersten Staffel von Kaamelott näher beschrieben, um dann zu diskutieren, wie die Regeln des Formats und des Seriellen auch dramaturgisch und thematisch zur Komik der Serie beitragen.
Sendeplatz und Format Die ersten vier Staffeln von Kaamelott umfassen Episoden von jeweils dreiundeinhalb Minuten Dauer, die von Montag bis Freitag gegen 20.40 Uhr, also nach den Nachrichten, und zwischen zwei in der Regel US-amerikanischen Serien oder von M6 produzierten Magazinen gesendet wird,8 also kurz vor der offiziellen französischen Primetime. Am Samstagnachmittag wird wiederum das wöchentliche Best-off ausgestrahlt.9 Produziert wird Kaamelott von CALT für M6,10 einem der erfolgreichsten privaten Fernsehsender Frankreichs, der vorrangig auf Magazine und Serien setzt, die meistens aus den USA importiert werden, wie beispielsweise Prison Break (2005-2009, prod. Paul Scheuring) oder Bones (2005, prod. 20th Century Fox). M6 hat ² neben den kurzen Formaten ² auch einige eigene Serienproduktionen wie den Sommerhit von 2007 Suspectes hervorgebracht.11
4 5 6 7 8 9 10
URL: http://www.m6.fr/serie-kaamelott/ (20.10.2009). URL: http://fr.wikipedia.org/wiki/Kaamelott (20.10.2009). Emilie-Anne Jodier: »/·HIIHW.DDPHORWW© France Soir, 18.9.2006, S. 15. O.A.: »Les plus courtes sont les meilleures«, Le progress, 18.9.2006, S. 30. Vgl. Abb. 1. Die Episoden werden immer wieder am Morgen des Folgetags wiederholt. Erstmals von der Mediagruppe Métropole Télévision am 1. März 1987 mit der Unterstützung von RTL Télévision im Kanal M6 auf Sendung geschickt, vgl. dazu Patrick Éveno: M6, Agnès Chauveau/Yannick Dehée (Hg.): Dictionnaire de la télévision française. Paris: Nouveau Mode éditions 2007, S. 322-325. 11 Vgl. Birgit Wagner in diesem Band.
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Zur Serialität des Komischen Der Sender ist für eine innovative Programmgestaltung bekannt. So war er der erste Fernsehsender, der mit Loft Story (2001) eine Reality Show ausstrahlte und mit durchschnittlich 8,2 Millionen Zuschauer, also mit einem Marktanteil von 37,5%, erfolgreich war.12
Abb. 1: Les bilans du&RQVHLOVXSpULHXUGHO¶DXGLRYLVXHODQQpH S. 12. http://www.csa.fr (20.10.2009) Jede Episode von Kaamelott wird zusätzlich viermal unterteilt, um Werbung zu zeigen. Die Schnitte sind so gesetzt, dass ein Cliffhanger auf den nächsten Abschnitt warten lässt ² von Szenen kann man nicht im klassischen Sinn reden, da es in der Regel keinen Ortswechsel gibt. Das feste Figureninventar wird durch Guest Stars ergänzt, die wiederum in der Regel über mehrere Episoden hintereinander oder regelmäßig mitspielen.13
12 Zu Loft Story vgl.: François Jost: »La télévision de jeux de rôles: généalogie et succès de Loft Story«, French Cultural Studies 13, 39 (2002), S. 337-359. 13 Zu nennen wären in Kaamelott Emma de Caunes als maîWUHVVH G·$UWKXU Antoine de Caunes als seigneur Dagonnet, Bruno Salomone als romain trop proche des bretons, Elie Semoun als chrétien hystérique, aber auch Léa
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Sabine Schrader Die Struktur der Serie erklärt sich zudem über ihre Funktion als Werbetrenner, schließlich trennen die Episoden Werbeblöcke, auch wenn sie nochmals durch kurze Werbeeinschübe unterbrochen werden. Die Episoden erinnern ein wenig an die Mainzelmännchen im deutschen Fernsehen, die im ZDF seit 1963 zwischen den Werbeblocks geschaltet werden. Allerdings verzichten die Mainzelmännchen schon allein wegen der Kürze ihrer Auftritte (heute nur noch drei Sekunden) auf den Aufbau eines Spannungsbogens. Kaamelott hingegen avanciert mit seiner kompakten Erzählung schnell zum ¿Hingucker¾ kurz vor der Primetime, so dass der Zuschauer während der Werbung nicht wegschaltet, um die Fortsetzung von Kaamelott nicht zu verpassen. Das »Feuilleton quotidien au format ultra-court« dient also im permanenten Konkurrenzkampf des Fernsehens um Zuschauer vor allem dazu, das Weiterzappen während der Werbung zu vermeiden und den Zuschauer an den Sender zu binden. Das Format ist dann aber so erfolgreich, dass Kaamelott schon während der ersten Staffel zusätzliche Zuschauer anzieht, seitdem beträgt die durchschnittliche Zuschauerzahl 4,5 Millionen, die sich in Spitzenzeiten auf 5,6 Millionen steigern lässt, d.h. die Serie verbucht einen Marktanteil von ungefähr 16-18%.14 Im Jahr 2007 hat Kaamelott laut Communication & Business News M6 angeblich die höchsten Werbeeinnahmen gebracht.15 Bis zum Ende der zweiten Staffel folgen die Episoden keiner bestimmten Ordnung, erst dann werden diese miteinander in Beziehung gesetzt. Am Ende der dritten Staffel beginnt der Regisseur Alexandre Astier mit Cliffhangern zu arbeiten, die eben nicht nur die einzelnen Abschnitte einer Episode miteinander verbinden, sondern auch die Episoden untereinander. Astier dehnt die anfängliche Episodendauer immer mehr aus. Ab der fünften Staffel verwendet er Siebenminüter, und zusätzlich werden zur Primetime noch zwei Episoden à 52 Minuten ausgestrahlt, also mit einer ÃNODVVLVFKHQ¶ Episodendauer. Dennoch versucht er die Prinzipien des format court und der Serialität mit der längeren Form zu verbinden, indem er eine Geschichte aus dreizehn Erzähleinheiten in drei Perspektiven erzählt, d.h. die gleiche Geschichte wird in Variationen gezeigt. Die 52-Minüter gelten darüber hinaus als eine Ergänzung und ersetzen Drucker oder François Rollin. Einige der Gaststars wie der PDvWUH G·DUPH, gespielt von Christian Bujeau, kommen sehr regelmäßig vor. 14 Julien Mielcarek: »Kaamelott en prime séduit les moins de 50 ans«, OZAP, URL:http://www.ozap.com/actu/kaamelott-prime-seduit-50-ans116228 (1.5.2007). M6 ist mit diesem Programm Marktführer für die unter 50Jährigen. 15 CB News, 11.10.2007, gefunden auf dem Blog von Jean-Marc Morandini http://www.jeanmarcmorandini.com/article-8787-classement-des-program mes-tele-qui-rapportent-le-plus.html (20.10.2009).
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Zur Serialität des Komischen nicht die kurzen Episoden. Die sechste Staffel wiederum passt sich noch mehr an US-amerikanischen Serien an und besteht aus acht Episoden à 40 Minuten. Einen vorläufigen Schlusspunkt plant Astier mit einer Filmtrilogie, die spätestens 2010 in die Kinos kommen soll, so wird aus der lockeren Episodenfolge ein Mehrteiler für das Kino, was natürlich Implikationen für die Erzählweise haben wird, und es bleibt abzuwarten, inwiefern der Kinofilm Kaamelott erfolgreich sein kann. Die Serie wird zunächst in französischsprachige Länder verkauft, 2006 in die Schweiz, nach Belgien und 2007 nach Kanada, genauer gesagt nach Québec, wo sie allerdings in einer 30minütigen Fassung läuft. 2008 findet sie einen spanischen Käufer. Als Kaamelott am 3. Januar 2005 bei M6 auf Sendung geht, ersetzt sie die schon erfolgreiche Comedy-Serie Caméra café.16 Caméra café ist eines der ersten kurzen Formate mit sieben Minuten pro Episode, von dem im Zeitraum zwischen August 2001 und Dezember 2003 in Frankreich 700 Episoden laufen. Innerhalb der ersten sechs Wochen hat Kaamelott jedoch so viel Marktanteile wie Caméra Café in drei Jahren eingespielt. 17 Caméra Café wiederum war die Antwort von M6 auf Un gars/une fille,18 meines Erachtens die erste europäische Produktion dieses kurzen Formats, die mit 486 Episoden ebenfalls sehr erfolgreich war ² beide werden in Wiederholungen immer wieder gezeigt.19 Die französische Produktion hatte das Konzept der gleichnamigen Sitcom von Radio-Canada gekauft, in der ein kinderloses komischstereotyp gezeichnetes Paar im besten Alter über Themen des alltäglichen Zusammenlebens diskutiert. Allerdings war die kanadische Fassung zwischen 1997 und 2003 noch für 26 Minuten pro Folge konzipiert, das kanadische Konzept wird dann auf sieben Minuten gekürzt und auf das französische Publikum zugespitzt und kurz vor den Nachrichten gesendet. Neben der Pointiertheit, dem großen Identifikationspotential und dem Sendeplatz, der eine kathartische Wirkung des Lachens vor bzw. nach den Nachrichten garantierte, verhalf die glokale Struktur dem Format zum Durchbruch. Gemeint 16 Auch von Caméra Café gab es übrigens einen Kinofilm, Espace détente (2005, R.: Bruno Solo, Yvan Le Bolloc'h), der im Vergleich zum format court schwach blieb und beim Publikum durchfiel. 17 Christophe Bottéon: »&$/7 SURGXLW GH OD ERQQH ¿.DDPHORWW¾«, Écran total, 26.4.-2.5.2006, S. 16. 18 Auf France 2 von 1999 bis 2003 montags bis freitags von 19.50 Uhr bis 20.00 Uhr zu sehen. 19 Vgl. zu den beiden Serien, mit denen ein neues »genre« geboren wurde: Benjamin Campion: »Un gars une fille /Caméra Café«, Culture série, http://www.culture-series.fr/Analyses-croisees?debut_mois=23 (17.12.2006).
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Sabine Schrader ist damit die Universalität eines Themas, wie hier der Paarkonflikt, der aber jeweils national konturiert bzw. gestaltet werden kann; der Serienexperte Richard Allen hat gezeigt, dass beispielsweise das glokale Konzept von Gute Zeiten, Schlechte Zeiten auf RTL seit 1992 erst die erfolgreiche internationale Ausstrahlung ermöglicht.20 Das kurze, französische Format Un gars/une fille wird in 22 Länder verkauft, u.a. nach Spanien, wo es erfolgreich unter dem Titel El y ella ausgestrahlt wird.21 Auch das Konzept von Caméra café wird angeblich in 55 Länder exportiert,22 was allerdings nicht heißt, dass das Konzept auch immer realisiert wird. Vor allem in Frankreich produzieren seit den letzten zwei Jahren andere Sendeanstalten ebenfalls kurze Formate, aber auch in Italien lief seit dem 5. April 2007 ein Kurzformat, und zwar 150 Episoden von Piloti.23 Es handelt sich, wie gesagt, um marktökonomisch orientierte Produktionen, die hohe Einschaltquoten während und nach der Werbung garantieren sollen. Die Formate werden in einigen Ländern ² jeweils abhängig von den nationalen Medienrechten ² vollständig über einen Sponsor finanziert, damit er seine Werbung entsprechend platzieren kann. Diametral entgegengesetzt wirken allerdings die Produktionsbedingungen von Kaamelott. Ideengeber, Drehbuchschreiber, Komponist der Filmmusik und Hauptdarsteller ist Alexandre Astier, der mit seinem Kurzfilm Dies irae (15 min. Länge) 2003 den Publikumspreis auf dem Kurzfilmfestival OffCourts in Trouville erhielt. Dies irae enthält in nuce schon Verfahren und Themen der späteren Serie Kaamelott, die Astier in Zusammenarbeit mit der französischen Produktionsfirma CALT weiter entwickelt und dann an M6 verkauft. Es handelt sich bei Kaamelott, 20 Vgl. Robert C. Allen: »Introduction«, in: 7R EH FRQWLQXHG«6RDS 2SHUDV around the world, hg. von Robert C. Allen. London/New York: Routledge 1995, S. 1-26, S. 14. Allen beschreibt das Phänomen, den Begriff Glokalisierung hat der britische Soziologe Roland Robertson in die Diskussion gebracht: Roland Robertson. »Glocalization: Time-Space and HomogeneityHeterogeneity«, in: Global Modernities, hg. von Mike Featherstone, Scott Lash und Roland Robertson, London: Sage 1995, S. 25-44. 21 Läuft seit 2001 auf TV3 montags bis freitags von 21.55 Uhr bis 22.05 Uhr. 2004 läuft die Serie dann auch in Italien auf Italia 1 unter dem Marketingtitel Love bugs (2004-2005). Die erste Staffel ist mit Fabio De Luigi und Michelle Hunziker prominent besetzt. 22 Die Zahl stammt aus einem Vergleich mit Kaamelott: Charles Decant: »Kaamelott s'exporte en Espagne«, OZAP, http://www.ozap.com/actu/ kaamelott-exporte-espagne/135066 (9.4.2008). 23 Auf Rai 2 montags bis freitags von 19.50 Uhr bis 20.10 Uhr. Vgl. z.B. Téva Vous les femmes (seit 13.3.2007, werktags 20.30-20.50) oder TF1 Que de Bonheur (seit 01.2008, tägl. 19.50-19.55) und Code Barge (seit 7.2008, werktags 20.40-20.45). Ich danke Sonja Behrens von TV SISTERS für die Recherchen.
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Zur Serialität des Komischen so will es zumindest die Presse, nicht wirklich um eine Auftragsarbeit, der von vornherein ein bestimmtes Konzept zugrunde lag, sondern um eine Idee, die sich ihr Format suchte und dann immer wieder mit anderen Formen experimentierte, verantwortlich sei also ein Autor als kreativer Kopf. Die Filmproduktion selbst ist darüber hinaus ein Familienbetrieb. Alexandre Astiers Vater, Lionnel Astier, spielt den Léodagan, seine Mutter Joëlle Sevilla die Séli, sein Bruder Simon den Yvain, Astiers Ehefrau Anne-Gaëlle Daval ist die leitende Kostümbildnerin und seine Kinder spielen in einzelnen Episoden mit. Kaamelott ist dabei ein sehr effizientes Unternehmen, mit zwei professionellen HD-Kameras werden während der Dreharbeiten von 40 Tagen einhundert Episoden gedreht. Eine Episode kostet laut der Fachzeitschrift Ecran total 20.000 Euro.24 Das Zusammenspiel zwischen der individuell gezeichneten Autorschaft bzw. der familiär und daher auch spontan anmutenden Produktion und dem wirtschaftlich äußerst erfolgreichen Produkt Kaamelott wird zu einem Markenzeichen der Serie und macht sicher einen ihrer Reize aus. In den kurzen Formaten verdichten sich die Merkmale zahlreicher Fernsehserien, in deren Zentrum in der Regel alltägliche Probleme und damit auch Beziehungsgeflechte stehen. So wie der Zuschauer die Serie in seinen Alltag integriert und das Fernsehen damit ritualisiert, genauso alltäglich ist das Erzählte.25 Im Zentrum von Caméra Café beispielsweise steht ein Kaffeeautomat in einer Büroetage, vor dem sich die Mitarbeiter auf ein Gespräch treffen, das jeweils in einer Folge überspitzt darstellt wird. Sie werden aus einer leichten Vogelperspektive von einer Standkamera aufgenommen,26 so dass durch die Perspektive zum einen der Eindruck einer versteckten Kamera entsteht, zum anderen aber ein Verfremdungseffekt, der die Gespräche auch visuell verzerrt. Inszeniert wird in Caméra café also eine Szene vor einer immer gleich bleibenden Kulisse und mit einer Standkamera. Kaamelott ist diesbezüglich um einiges raffinierter mit mehreren Standkameras gedreht, aber der Dialog und seine filmische Realisierung im Schuss-GegenschussVerfahren sind wie in vielen langen Serien konstitutiv.27 Die wenig abwechslungsreiche Kameraführung ist eine notwendige Vorausset24 Christophe Bottéon: »&$/7SURGXLWGHODERQQH¿.DDPHORWW¾«, S. 16. 25 Vgl. Lothar Mikos: »Serien als Fernsehgenre. Zusammenhänge zwischen Dramaturgie und Aneignungsweisen des Publikums«, in: Serie, Kunst im Alltag, hg. von Knut Hickethier und Lothar Mikos. Berlin: Vistas 1992, S. 19-27, S. 21 und den Forschungsüberblick von Daniela Cardini: La lunga serialità televisiva. Origini e modelli, Rom: Carocci 2008, S. 75ff. 26 Vgl. Abb. 2. 27 Vgl. zu normierten Kameraführung in Series und Serials: Jennifer Hayward: Consuming Pleasures: Active Audiences and Serial Fictions from Dickens to Soap Opera, Lexington: University of Kentucky 1997, S. 157.
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Sabine Schrader zung dafür, dass die Serie im Programmfluss vom Zuschauer gleich erkannt wird, und neben den wiederkehrenden Protagonisten schafft auch die sich wiederholende Quadrierung Vertrautheit und Halt im Programmfluss, was umso wichtiger für die kurzen Formate ist, die in der sich stetig erneuernden und schnell geschnittenen Bilderwelt der Werbung leicht zu verschwinden drohen.
Abb. 2: Screenshot Caméra Café
Die Parodie Die Wiederholung, die permanente Variation derselben Erzählung ist nicht nur konstitutiv für die Fernsehserie schlechthin, sondern wird auch zum Erzählprinzip in Kaamelott und damit auch zur Ursache zahlreicher komischer Verfahren, wie sie in der Parodie oder in anderen intra- und intermedialen Bezügen zum Tragen kommen kann.28 Als zentrales Stilmittel der Komik durch Wiederholung muss der running gag genannt werden, der ebenfalls konstitutiv für Kaamelott ist. Das zentrale Verfahren der Komik ist aber die Parodie, die man mit Linda Hutcheon als »repetition with a critical difference, which 28 Vgl. zur Typisierung der Wiederholung: Umberto Eco: »Tipologia della ripetizione«, in: L'immagine al plurale. La serialità nel cinema e nella televisione, hg. von Francesco Casetti. Venedig: Marsilio 1984, S. 19-35.
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Zur Serialität des Komischen marks difference rather than similarity« verstehen kann,29 die wiederum in einer langen transmedialen Tradition steht und nun in einem neuen Format hervorgebracht wird. Dominanter Prätext ist in diesem Fall die Artussage mit ihrem Figureninventar Arthur, Iwein, Perceval, Lancelot, Gawain, Galahad, ergänzt allerdings mit neuen Figuren, sowie mit den einzelnen Erzählsträngen wie beispielsweise der Suche nach dem Graal, aber auch der Entwicklung Guineveres hin zum Ehebruch mit Lancelot. Der von Hutcheon angesprochene Unterschied zur Vorlage lässt in der Parodie in der Regel eine Inkongruenz entstehen, die wiederum für den komischen Effekt verantwortlich ist, da zwei- oder mehr Bezüge auf eine ungewohnte Art und Weise überraschend miteinander kombiniert werden. Diese parodistische Differenz entsteht in Kaamelott ² wie unten zu sehen sein wird ² zunächst durch die Differenz zwischen mittelalterlichem Setting und zeitgenössischen Themen, d.h. zwischen Form und Inhalt, so dass man Kaamelott als einen klassischen Gegengesang, d.h. als eine komische Gegenwelt zur Artussage bezeichnen kann. Die Inkongruenz resultiert darüber hinaus zum einen aus der Charakterisierung der Figuren und ihren Gesprächen. Aus den heldenhaften, klugen Rittern werden in der Fernsehserie einfältige, oft ängstliche Männer. Wenn Schlachten in den Blick geraten, treffen die Ritter auf einen Hunnenkönig, der noch schlichter ist als sie es sind (I, 5),30 oder sie verlieren diese, weil sie nicht in der Lage sind, die Situation richtig einzuschätzen bzw. vermeintliche Zeichen richtig zu deuten (I, 8). Diese Demystifizierung eines kanonisierten (Schul)Textes der französischen Literatur übt einen nicht zu unterschätzenden Reiz auf die Zuschauer aus. Kaamelott spielt daher, mit Adorno gesprochen, zunächst mit der »ungemilderte[n] Negativität des Erhabenen«.31 Dieses Spiel mit der Hochkultur setzt sich auch in der Struktur der Serie fort. Die kurzen Episoden sind in Anlehnung an die Dramenstruktur nach einem Prolog in drei Akte aufgeteilt, dem wiederum ein Epilog folgt. Im Prolog mit der anschließenden Erkennungsmelodie wird das Thema aufgeworfen, das die folgenden drei Teile miteinander verbindet, der Epilog beendet die Episode häufig mit einem abschließenden, resümierenden Dialog der Protagonisten. Die Struktur suggeriert zwar die des klassischen Dramas, ermöglicht aber vor allem, dass Werbung zwischen29 Linda Hutcheon: Theory of Parody. The Teaching of Twentieth-Century Art Forms, New York/London: Meuthen 1985, S. 6. 30 Die Angaben beziehen sich auf die Staffel- und Episodenzahl, also Staffel I, Episode 5. 31 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 296.
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Sabine Schrader geschaltet werden kann. Die intermedialen Bezüge auf die Hochkultur werden in den zur Serie gehörenden merchandizing-Produkten fortgesetzt. Auf der DVD heißen die Staffeln livres und die einzelnen Episoden chapitres. Statt von großen Abenteuern erzählen die Episoden von den Tücken des mittelalterlichen, längst nicht heldenhaften Alltags. Perceval schildert beispielsweise den Freunden an der table ronde seine Abenteuer, wozu sie einen geistlichen Schreiber geladen haben, um die Geschichten für die Nachwelt festhalten zu lassen. Doch Perceval erinnert sich nicht richtig, so dass der Geistliche ständig Streichungen und Verbesserungen vornehmen muss, was zur Folge hat, dass der Text nicht mehr lesbar ist; entstanden seien somit die ersten Miniaturen für die mittelalterlichen Handschriften (I, 51). In Szenen wie dieser wird ein naiver und damit verfremdender Blick auf mittelalterliche Verfahren wie das Erzählen und Aufschreiben geworfen und dabei die Überlieferung der Artussage in den mittelalterlichen Handschriften parodiert. Die kritische Differenz zum Prätext entsteht zum anderen durch weitere inter- und intramediale Bezüge aus der zeitgenössischen Populärkultur, die wiederum die Alltagserfahrungen der Fernsehzuschauer aufgreifen. Die Einladung eines Spielmanns zum sonntäglichen Mittagstisch führt beispielsweise dazu, dass Arthur sich nicht mehr von der gerade gehörten Melodie des bekannten Kinderliedes A la volette befreien kann und diese ständig summt (I, 26). Die Tatsache, dass in der ersten Staffel die Episode, in der Arthur eine Erscheinung der Dame du Lac hat, den Titel Le sixième sense trägt, ist nur einer der vielen intramedialen Bezüge auf heutige Mainstreamfilme. Zu den bedeutsamen intermedialen Bezügen auf die Populärkultur zählen auch die auf Asterix und Obelix, die Figur des Merlin beispielsweise und die zahlreichen Anspielungen auf Druiden und Römer rekurrieren auf die Bandes dessinées von René Goscinny und Albert Uderzo. Darüber hinaus werden die Bezüge auch hier wieder über die Titel markiert, u.a. durch das Zitat des Titels Le Combat des chefs (III, 7), der den Titel des ebenfalls siebten Bandes von Asterix und Obelix aufnimmt. Gespielt wird in den letzten beiden Beispielen mit der Erwartungshaltung der Zuschauer, so dass sich die Artussage und The Sixth Sense32 bzw. Asterix und Obelix gegenseitig parodieren. Der Alltag der Zuschauer ist darüber hinaus durch ihm vertraute Geschichten und Probleme präsent, dazu gehört auch der Kauf der namensgebenden table ronde in einer der ersten Episoden der ersten Staffel La table de Breccan (I, 3). Arthur ist mit der in Auftrag gegebenen table ronde nicht zufrieden, da er lieber einen Tisch aus
32 1999, R.: M. Night Shyamalan.
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Zur Serialität des Komischen Stein und nicht aus Holz und Leder gehabt hätte ² und befürchtet, dass der Tisch beschädigt werden könnte. Dabei wird der Tischverkäufer zum Prototyp eines Verkäufers, der sein Produkt möglichst diplomatisch zu verteidigen versucht. Bei seiner sich wiederholenden Replik »après, ça, pour le détail, je sais pas«33 kann man zwar aufgrund der Kürze der Episode noch nicht von einem running gag sprechen, doch führt seine Wiederholung die Sinnlosigkeit dieses Gesprächs vor. Ein weiteres typisches Verfahren offenbart sich in dieser Episode: Parodiert wird in La table de Breccan der Namen des chevalier de la table ronde, indem die symbolische Bedeutung auf eine sehr konkrete reduziert wird, nämlich den Kauf eines Tischs und die Unmöglichkeit, einen Steintisch die Wendeltreppe hoch zu tragen. Ganz ähnlich funktioniert die wortwörtliche Deutung von Sprichwörtern. Perceval versucht in Le fléau de Dieu (I, 5) z.B. verzweifelt, Arthur daran zu hindern, den Thronsaal zu betreten, wo der gefährliche Attila Platz genommen hat. Perceval: »Là où il passe, O·KHUEHQHUHSRXVVHSDV« ² Attila: »Y a pas G·herbe dans la salle de trône.«34 Potenziert wird die Komik durch die visuelle Gestaltung der Szene, denn die Ritter suggerieren in entsprechenden Kostümen und in einem mittelalterlich anmutenden Dekor einen scheinbar originalgetreuen Rahmen.35 Im Setting liegt auch ein wesentlicher Unterschied zu Monty Python and the Holy Grail (1975). Monty Python setzt allein schon durch das Schlagen der Kokosnüsse, um Pferde zu imitieren, die Artifizialität der Erzählung bewusst in Szene. Das Setting von Kaamelott ist hingegen aufwändig gestaltet und mutet authentisch an (im Sinne der erwartbaren Mittelaltervorstellungen der Zuschauer), wodurch eben die Kluft zu den Dialogen noch größer wird. Der private Alltag ist nicht nur in Anspielungen präsent, sondern strukturiert auch die Dialoge und damit die Sprache. Es bleibt dabei nicht bei der Übernahme zeitgenössischer Kommunikationssituationen und Themen, sondern diese werden darüber hinaus absurd abgehandelt, was exemplarisch an der zweiten Folge der ersten Staffel Tarte aux myrtilles (I, 2) erläutert werden soll. Gezeigt wird die Königsfamilie bei Tisch:36 Der Bruder Arthurs schmollt, weil er lieber bei seinem Freund gegessen hätte, niemand möchte eigentlich mehr Nachtisch, zu dem die Anwesenden aber von der Mutter genötigt werden, die nämlich ² weil ihr Leben unausgefüllt ist ² sich darin erstmals versucht hat. 33 Dt.: »Na gut, was die Details angeht, das müssen Sie sehen.« 34 Dt.: Perceval: »Da, wo er vorbei kommt, wächst kein Gras mehr.« ² Attila: »Im Thronsaal wächst kein Gras.« 35 Vgl. Abb. 3. 36 Vgl. Abb. 4.
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Sabine Schrader
Abb. 3: Screenshot Kaamelott (I, 3)
Abb. 4: Screenshot Kaamelott (I, 2) Die Familie kommt über die fast nicht genießbare tarte aux myrtilles auf Arthurs Kinderlosigkeit zu sprechen, die seine Mutter beklagt, denn für diese Kinder würde sie gerne kochen bzw. backen, und ihr Mann könnte mit ihnen angeln gehen. Die Gesprächsbeiträge überkreuzen bzw. überlappen sich, sind widersinnig und kehren jeweils das Gesagte ins Absurde. Die Gegenwart des Zuschauers findet sich in dieser Szene ² wenn auch zugespitzt ² nicht nur in den Themen, sondern sehr deutlich in der Sprache wieder. Zwar siezen sich die
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Zur Serialität des Komischen Rittersleute, gleichzeitig aber verwenden sie sowohl umgangssprachliche Redewendungen wie »Allez >«@, on se met au boulot.« und »Oui, ça va pas se faire tout seul«37 als auch eine zeitgenössische Körpersprache der Gegenwart in Gestik und Mimik. So auffällig wie typisch ist dabei die große Ernsthaftigkeit der Protagonisten, die auf den ersten Blick der Ernsthaftigkeit der Artussage geschuldet ist, letztlich aber von der völligen Abwesenheit von (Selbst-)Reflexion oder Humor der Protagonisten zeugt. Gelacht wird demnach in Kaamelott nicht, das hieße nur die Ernsthaftigkeit des Settings zu konterkarieren, das Lachen wird den Zuschauern überlassen. Die ungerührte Akzeptanz des Absurden, das schon manchmal an kindliche Blödelei grenzt, wird damit zu einem entscheidenden Merkmal der Komik in Kaamelott ² eine Eigenschaft, die die Serie mit Victor von Bülows Loriot teilt. 38 Der Alltag ist in Kaamelott einförmig, und so kreisen die Gespräche in der Regel um Banalitäten. Die alltägliche Kommunikation dient selten der Verständigung, sie wird vielmehr als Austausch von Gemeinplätzen inszeniert. Astier greift hier auf ein Verfahren zurück, mit dem Flaubert schon in seinem Dictionnaire des idées reçues versuchte, die Dummheit der alltäglichen Phrasen bloßzustellen: Statt logischer Argumentation wählt er beliebige, oft irrelevante Assoziationen, die nicht immer etwas mit dem zu beschreibenden Begriff zu tun haben;39 und genauso funktioniert die Komik in Tarte aux myrtilles. Es ist die Unfähigkeit eines angemessenen Verstehens bzw. die Abwesenheit von Sinn, die Komik erzeugt, und zwar auf zweifacher Ebene: einerseits durch die scheinbare Banalisierung des ritterlichen Alltags und andererseits durch die Gespräche selbst, in denen jedes mehrdeutige Sprechen auf Unverständnis stößt, was wiederum die Zuschauer erkennen und sie zum Lachen anregt. Die Ursache für die Komik der Dummheit liegt, so Uwe Wirth, im Erstaunen, dass jemand bestimmte Fakten und Zusammenhänge nicht (er)kennt, die uns selbstverständlich erscheinen.40 Selbstständiges Denken als Mehrwert von Sinn wird entsprechend wegrationalisiert, worüber der Zuschauer überlegen lachen kann. Es gibt dabei kaum visuelle Gags oder Slapstickeinlagen. Die Komik wird vielmehr fast ausschließlich über Sprache erzeugt. Sie 37 Dt.: »Los, ran an die Arbeit« ² »Ja, los, die Arbeit macht sich nicht von alleine«. 38 Vgl. zu Loriot: Ralph Müller: Theorie der Pointe, Paderborn: mentis 2003, S. 301ff. 39 Gustave Flaubert: Dictionnaire des idées reçues, Paris: Garnier Flammarion 1997. 40 Uwe Wirth: »Diskursive Dummheit«, in: Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft, hg. von Jürgen Wertheimer und Peter V. Zima, München: Beck 2001, S. 46-57, S. 47, 53.
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Sabine Schrader zielt auf die Logik und damit auf die ratio, und daher wird das Nicht-Verstehen als Dummheit inszeniert. Die Mimik der Figuren ist ² abgesehen von dem expressiven Augenrollen Arthurs ² eher zurückhaltend. Es dominieren die unbewegten Gesichter der Ritter, allen voran Percevals, dessen Ausdruckslosigkeit zum Spiegel seiner Begriffsstutzigkeit wird. Diese auch geistige Unbeweglichkeit wird auch durch die Kamera visuell hervorgebracht, die auf Techniken wie Zoom oder Schwenk weitgehend verzichtet. Die Kamera wechselt in der Regel zwischen Halbtotale und Halbnahe und ordnet sich mit Schuss und Gegenschuss den Dialogen unter. Die Statik der Bilder wiederum ist, wie oben erläutert, auch dem Format geschuldet, das sich so vom Programmfluss abgrenzt. Es ist daher nicht nur der holzschnittartige Charakter der Figuren, sondern auch ihre Einfältigkeit, die zwar variiert, sich aber nur graduell unterscheidet, die Ursache dafür, dass die Zuschauer sich zwar mit den Themen, aber nicht mit den Figuren identifizieren können. Ihnen fehlt ein angemessenes Verhalten, das nach Knut Hickethier maßgeblich für den Erfolg zahlreicher Fernsehserien ist,41 wie übrigens auch für die beiden anderen französischen Serien des kurzen Formats Un gars/une fille und Caméra café. Die Wiederholung wird in Kaamelott auch noch anders als Mittel der Komik eingesetzt, und zwar in den in der Regel figurbezogenen running gags, die einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenhang der Episoden leisten. Bei einem running gag handelt es sich um eine mehrmalige »Wiederkehr identischer, spiegelverkehrter oder überraschend abgewandelter Handlungseinheiten«.42 Im Film muss ein gewisses Erwartungsmuster aufgebaut werden, damit ein running gag funktionieren kann. D.h. die Ausgangssituation muss für die Zuschauer weitgehend erkennbar sein, was umso einfacher ist, wenn diese wenig komplex gestaltet wird. Die Komik ist dem Publikum genauso vertraut wie die Figuren selbst und zeigt doch jedesmal wieder die Sinnentleertheit der Dialoge. Perceval und Karadoc beispielsweise reagieren auf Sachverhalte, die sie nicht zu begreifen vermögen, mit dem Kommentar »&·HVWSDVIDX[«.43 Da sie sich ständig am Rande des Unverständnisses bewegen, wird dieser Satz zum running gag. Auch der eigentlich etwas hellere Arthur hat immer wieder kognitive Ausfälle. Dazu gehört, dass Yvain sein Schwager 41 Angemessenheit richtet sich nach dem jeweiligen Verhaltensspielraum, der wiederum auf der der Gesellschaft zugrunde liegenden Werteskala beruht, vgl.: Knut Hickethier: Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens, Lüneburg: Universität Lüneburg 1991, S. 48f. 42 Harald Fricke/Angelika Salvisberg: »Art. Bühnenkomik«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Bd. 1, hg. von Klaus Weimar u.a., Berlin: de Gruyter 1997, S. 279-282. 43 Dt.: »Das ist nicht falsch.«
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Zur Serialität des Komischen ist. »-·DL SDV GH EHDX-frère! Ah si! Merde! -·DUULYH SDV j O·LQWpJUHU celui-là!«44 Es werden aber auch ganze Dialoge in einem anderen Setting wiederholt,45 allerdings immer nur einmal, was sich also an der Grenze des running gag befindet. Über das Zusammenspiel der Inszenierung von Dummheit, der Wiederholung und der Komik gibt Bergsons Le rire Aufschluss, ohne dass ich sein Gesamtkonzept übernehmen möchte. Bergsons Augenmerk liegt auf dem ¿Immergleichen¾ als unlebendiges und damit auch unmenschliches Verhalten. Jede Form, jede Starre, die Automatismen hervorruft, erkennt der gesunde Menschenverstand als Abweichung vom Lebendigen und verlacht sie. Komisch sind seiner Meinung nach also all die Haltungen und Gebärden, die an gewöhnliche Mechanismen erinnern.46 Diese Mechanismen setzt er gegen das lebendige Zusammenspiel der menschlichen Dinge, gegen Perspektivenwechsel und Einmaligkeit, wonach der Mensch strebt. In den die Komik auslösenden Automatismen zeigt sich dann auch die Dummheit, die Bergson als erstarrten Geist, der sich in Wiederholungen erschöpft, begreift, und der seiner Meinung nach verlacht werden muss. Wiederholung und Starre bzw. die durch Wiederholungen geschaffene Statik sind zentral für Kaamelott. Dazu gehört neben den running gags natürlich auch die Unbeweglichkeit der Charaktere, was sich in den Gesichtern genauso widerspiegelt wie in ihren floskelhaften Dialogen. Komik ist bei Bergson eine gesellschaftliche Abstrafung der mechanischen Wiederholung, die die Überlegenheit der Lachenden sichert. Diese Überlegenheit empfindet dann auch der Zuschauer den Gemeinplätzen, der Banalität und auch dem Automatismus des Alltags gegenüber, die wiederum das Fernsehen in seinen Serien, Talkshows etc. bekanntlich aufnimmt. Schließlich parodiert das Format letztlich auch die Phrasenhaftigkeit der Werbung. »Wer lacht«, so Karlheinz Stierle, »tritt aus dem Kommunikationszusammenhang des Handelns heraus und wird zum Betrachter«.47 Das Lachen über Kaamelott kann somit als Befreiung verstanden werden, eine Befreiung von der großen Literatur, aber vor allem vom eigenen Alltag, den die Fernsehzuschauer in verfremdeter 44 Dt.: »Ich habe keinen Schwager! Ach, doch, Mist, ich kann mir den einfach nicht merken«; vgl. z.B. in: Dîner dansant (I, 11), Le Cas Yvain (I, 39), Le Prodige du fakir (I, 60), Sous les verrous (II, 14). 45 Z.B. greift die Folge La Rémanence (IV-51) wortwörtlich Dialoge aus der ersten Staffel auf. 46 Henri Bergson: Le rire. Essai sur la signification du comique (1909), Paris: Éditions Alcan 1924, S. 13ff. 47 Karlheinz Stierle: »Komik der Handlung, der Sprachhandlung, der Komödie«, in: Das Komische, hg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München: Fink 1976, S. 237-268, hier S. 372.
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Sabine Schrader Form wiederfinden. Mit Kaamelott tritt der Zuschauer entsprechend sowohl aus seinem Alltag als auch aus dem Programmfluss für eine kurze Zeit heraus. Dass dies möglich ist, liegt auch an der Kürze des Formats, das immer nur punktuell zum Einsatz kommt. Hier ähnelt es dem Sketch, der allerdings ohne die serielle Fortsetzung auskommt.48 Lachen ist, wie Bergson bemerkte, ein »geste social« und daher ein gemeinschaftsstiftendes Phänomen.49 Aber anders als in Le rire akzentuiert, in dem das Lachen gegen das Normabweichende gesetzt wird, stiftet es in Kaamelott wie in vielen zeitgenössischen Serien über das Fernsehen hinaus Solidarität und Konsens einer Fernsehgemeinde. Percevals und Karadocs »&·HVW SDV IDX[« beispielsweise ist längst zu einer stehenden Redewendungen vor allem in der Jugendsprache geworden. Das Internet macht Fanforen für viele Menschen zugänglich, womit die Serien ihren früheren Kultcharakter verlieren und im »cultural mainstream« angekommen sind.50 Im Netz finden sich Zusammenstellungen der »répliques cultes«,51 und in Foren wie kaamelottite werden die neuesten running gags diskutiert.52 Kaamelott ist auch in zahlreichen Blogs präsent. Nun ist das interaktive Publikum, so belegt Henry Jenkins an Beispielen anderer erfolgreicher Fernsehserien, weniger als »semiotic democracy« zu denken, sondern vielmehr als ein geschicktes Marketingkonzept,53 haben Serien wie Kaamelott doch einen beeindruckenden Internetauftritt, mit dem einige Foren verlinkt sind. Und nicht zuletzt sei auf die recht professionell anmutende französische Wikipediaseite im Internet hingewiesen.54 Wenn Jean-Marc Morandini im Interview mit Alexandre Astier den Erfolg der Serie als »business Kaamelott« bezeichnet,55 meint er weder die interactive audience noch die Marktanteile für M6, son-
48 Müller, Pointe, S. 264ff. 49 Bergson, Rire, S. 16. 50 Kult wird in Forschung, auf die sich Matt Hills bezieht, gerne als camp wahrgenommen. Vgl. Matt Hills: »Defining Cult TV. Text, inter-text [sic] and fan audiences«, in: The Television Studies Reader, hg. von Robert C. Allen und Annette Hill, New York: Routledge 2004, S. 509-523. 51 http://www.fluctuat.net/5147-Kaamelott-les-repliques-cultes (20.10.2009). 52 http://kaamelottite.phpbb9.com/forum.htm (20.10.2009). 53 Henry Jenkins: »Interactive audience?«, in: The New Media Book, hg. von Dan Harries, London: British Film Institute 2002, S. 157-170, hier S. 158. 54 Vgl. http://www.kaamelott.com/(20.10.2009) bzw. http://fr.wikipedia. org/wiki/Kaamelott (20.10.2009). 55 Jean-Marc Morandini in einem Interview mit Alexandre Astier während seiner Sendung Morandini! anläßlich des Erscheinens der vierten Staffel auf DVD und des dritten Comicbandes (1.12.2008). Mitschnitt: http: video.filestube.com/video,50f42956466e68bf03e9.html (5.5.2009).
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Zur Serialität des Komischen dern die geschickte Vermarktung der Staffeln auf DVD, wo ab der zweiten Staffel auch Bonusmaterial geboten wird. Neben den üblichen missglückten Szenen, die nochmals mehr die Komik der Macher zur Schau stellen, findet sich auch ein über mehrere Staffeln fortgesetzter Dokumentarfilm Aux sources de Kaamelott von Christophe Chabert, diesmal in vier ¿AkteQ¾,56 der sich unter anderem mit Hilfe von Interviews mit Historikern auf die Suche nach der Arthursage und der mittelalterlichen Welt begibt. 2007 sind darüber hinaus auch zwei Geschichtsbücher erschienen, die explizit die Filme zum Anlass nehmen, mittelalterliche Geschichte neu zu erzählen bzw. neu zu vermarkten.57 Dazu kommen die üblichen Merchandizingprodukte wie T-Shirts, aber auch die von Alexandre Astier und Steven Dupré geschriebenen dreibändigen Bandes dessinées.58
»Die Kurzen sind die Besten« Mit dem Start von Caméra Café wurde in der Presse die Geburt eines neuen französischen Genres bzw. Formats gefeiert, das Kaamelott erfolgreich fortsetzt. Die Serie unterbricht die Werbeprogramme und damit eben den Fluss des Immergleichen. Sie bietet eine Abwechslung zwischen den oft ebenfalls sinnlosen Dialogen der Werbung, ohne dass Kaamelott allzu große Aufmerksamkeit vonseiten der Zuschauer fordert. Die Kürze, der damit verbundene geringe Komplexitätsgrad ² eine Handlung, ein Ort ², die Typenhaftigkeit der Charaktere und der Fokus auf die Sprechsituation lässt den Zuschauer die Serie schnell wieder erkennen und sich dort heimisch fühlen. Dank des Seriellen kennt er auch die Verfahren der Komik, was seine Zuspitzung im running gag findet, der wiederum neben der Erwartungshaltung auch eine Fernsehgemeinde braucht, die diesen wieder kommentiert und sich damit bestätigt. Voraussetzung für Kaamelott ist das Wissen um die Artussage bzw. das auf der Sage beruhende kulturelle Gedächtnis. Es mischen sich dabei zwei Komikkonzepte, nämlich eins, das auf Inkongruenz beruht, mit dem, dem ein Überlegenheitsgefühl zugrunde liegt; und auch der Gegengesang ist auf mehreren Ebenen angesiedelt. Er zielt zunächst auf die parodistische Differenz zwischen Heldentum und der Banalität des Alltags ab, diese Differenz wird nochmals durch 56 Acte I: /HV0±XUVHWOHV)HPPHV, Acte II: /D0DJLHHWO·eJOLVH, Acte III: /·$UW de la guerre, Acte IV: Géopolitique du Royaume. 57 Éric Le Nabour: Kaamelott, t. I: $XF±XUGX0R\HQÇJH, Paris: Perrin 2007, ders.: Kaamelott, t. II: À la table du Roi Arthur, Paris: Perrin 2007. 58 Im Interview mit Astier: http://www.actuabd.com/Alexandre-Astier-StevenDupre-On-veut-que-la-BD-existe-y-compris-pour-ceux-qui-ne-connaissentpas-la-serie (20.10.2009).
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Sabine Schrader einen Alltag potenziert, der der Alltag der Zuschauer sein könnte, was unter anderem durch die Umgangssprache vermittelt wird. Wesentlich ist dabei die absolute Ernsthaftigkeit der in der Regel geistlosen Dialoge, kurzum, die Ernsthaftigkeit, mit der der Einzelne sowohl im Programmfluss als auch im Alltag verstrickt zu sein scheint und dessen Mechanik für eine kurze Zeit verlacht werden kann.
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FORMATE (GESELLSCHAFTS-)POLITISCHER INTERVENTION
BLOB. Jede Videocracy hat ihre Parasiten ANNE PRECKEL »Wärme, Rauschen, Wirbel. Der Parasit war unvermeidlich.«1
Ein italienischer Fernsehabend im Jahr 1976. Im Wohnzimmer flimmert das Quiz eines Lokalsenders über den Bildschirm, Zuschauer können von zu Hause aus Fragen beantworten. Bei jeder richtigen Antwort wird ihnen ein bisschen heißer, denn dann erhebt sich die mollige Hausfrau neben dem Moderator im schwarzen Anzug, führt einen kurzen Tanz auf und lässt ein Kleidungsstück fallen. Unbeholfen sind ihre Bewegungen, doch der Strip zeigt Wirkung: Das Format ist überaus erfolgreich. So erfolgreich, dass die Mischung aus Interaktion, Sex und Unterhaltung noch gut dreißig Jahre später in vielfachen Variationen die Kanäle des italienischen Fernsehens füllen wird. Von dieser Erfolgsgeschichte erzählt der Dokumentarfilm Videocracy (2009), der im selben Jahr auf dem Filmfestival von Venedig in der Sektion »Settimana Internazionale della Critica« präsentiert wurde. Der Regisseur Eric Gandini entwirft darin sein Heimatland als »Videocracy«, als Staatsgebilde, in dem der Schlüssel zur Macht in der Beherrschung des Fernsehens und der Bilderwelt liegt. Auf seiner Reise hinter die Kulissen von Berlusconis Medienimperium befragt der Dokumentarfilmer die Bediener der Unterhaltungsmaschinerie: Medienzaren und Produzenten, Regisseure und Paparazzi. Denn wer weiß in einer »Videocracy« besser über Bilder und Macht Bescheid als deren Wirte und Parasiten?
Vom Zapping zur Kulturkritik 8P HLQHQ ¿ParasitHQ¾ im besten Sinne soll es auch hier gehen. Die italienische Fernsehsendung Blob, seit zwanzig Jahren feste Größe 1
Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 302f.
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Anne Preckel im Abendprogramm des öffentlich-rechtlichen Senders Rai Tre, besteht fast vollständig aus Ausschnitten des italienischen Fernsehprogramms.2 In zehn bis fünfzehn Minuten Sendezeit treffen dort täglich Shows auf Nachrichten, Werbung auf Serien, Kinofilme auf Reality. Was auf den ersten Blick wie Zapping durch Genres und Kanäle anmutet, ist jedoch mehr als exaltierte Sinnvernichtung. Zwanzig Jahre Politik und Populär-Kultur, ein rauschender Fluss aus Bildern, Stimmen und ErHLJQLVVHQJLQJ LQ GHP NOHLQHQ ¿FensWHU]XP)HUQVHKHQ¾ bis heute über den Bildschirm. Von den neuen Unterhaltungstrends der Achtziger über die politischen Skandale der Neunziger bis hin zur Vermarktung der Anschläge des elften Septembers im Fernsehen hat die Sendung alle Ereignisse, die Italien mehr oder weniger bewegten, behandelt. Dabei hat sich Blob im Laufe der Zeit zu einer parodistischen Form der Kulturkritik entwickelt. Der italienische Fernsehwissenschaftler Aldo Grasso beschreibt die Sendung als »eine Form von Fernsehkritik nur aus Bildern, die uns das Fernsehen jeden Abend in ungeschönter Form zeigt«.3 Ausschnitte 1989-2001
Fernsehmitschnitte aus Blobsendungen
2 3
Vgl. Anne Preckel: Zapping als Fernsehkritik. Die italienische Telecollage Blob, Berlin: Avinus 2008. Aldo Grasso: »La comunicazione anulare«, in: Atlante della radio e della televisione 1990, hg. von Piero Dorfles, Rom: Rai Eri 1990, S. 44; ital.: »Blob è una specie di rubrica critica sulla televisione fatta solo di immagini la quale ci fa vedere la tv ogni sera senza maschere.«
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Jede Videocracy hat ihre Parasiten
KEIN KOMMENTAR Die Besonderheit der Sendung im Vergleich zu anderen Formen »parodistischer Fernsehkritik«4 ist in der Tat der fehlende Kommentar. Dekontextualisierung und Montage sind die Hauptmerkmale des collagenartigen Programms. Einen Erzähler oder Moderator gibt es nicht. Nur ein links oben im Bild prangender farbiger Schriftzug verpasst den wechselnden Fernsehbildern sloganähnliche Überschriften, die häufig Variationen des Programmtitels »Blob« sind. Im Entstehungsjahr 1989 war die an Dada und Popart erinnernde Sendung fernsehästhetisch Avantgarde, nicht nur in Italien, denn in anderen europäischen Ländern trat erst Jahre später Vergleichbares auf. So ging in Frankreich 1991 das Programm Zapping (Fox) auf Sendung, auf dem deutschen Kanal Premiere zwei Jahre später die unkommentierte Gagshow Zapping. Ein mit Blob in Ansätzen vergleichbares Programm in Österreich war die schnell geschnittene ORF-Fernsehsendung Die Sendung ohne Namen, bei der auf einen rasch gesprochenen Kommentar Bilder aus Fernsehen und Öffentlichkeit montiert wurden. Nach fünf Jahren Sendezeit wurde das Programm von David Schalko und Fred Schreiber im Jahr 2007 allerdings eingestellt. Blob entstand im Jahr 1989 ursprünglich als experimentelles Format des Fernsehsenders Rai Tre, der auf die Konkurrenz des kommerziellen Privatfernsehens mit einer Umstrukturierung des Programms reagierte. Ende der achtziger Jahre hatte sich die für den italienischen Fernsehmarkt typische Duopolsituation5 bereits herausgebildet: Die drei öffentlich-rechtlichen Sender der RAI teilten sich mit Silvio Berlusconis Megaunternehmen Fininvest neunzig Prozent des nationalen Fernsehmarktes und neunzig Prozent des Zuschaueranteils. Durch die Konkurrenz der unterhaltungsorientierten Privatsender war das staatliche Fernsehen in einen Zwiespalt zwischen seiner traditionellen Servicefunktion und der Notwendigkeit geraten, mit mehr Werbung und Unterhaltung die Haushaltsbilanz zu retten. Mit dem Aufkommen der privaten Kanäle veränderten sich Angebot und Erscheinungsbild der Sender. Schnell produzierte Unterhaltungssendungen und Shows drängten den Gesamtanteil an Filmen, Dokumentationen und Informationssendungen zurück. Infotainment und Unterhaltung setzten sich
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Joan Kristin Bleicher: »Medien kritisieren Medien. Formen intermedialer und medieninterner Kritik«, in: Perspektiven der Medienkritik, hg. von Hertmut Weßler, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 77-88. Die italienische Fernsehforschung spricht von einem »duopolio imperfetto«, vgl. z.B. Peppino Ortoleva/ Maria Teresa Di Marco: Luci del teleschermo. Televisione e cultura in Italia, Turin: Electa 2004, S. 185.
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Anne Preckel schon bald auch in den öffentlich-rechtlichen Anstalten durch. Vertraulichkeit wurde zum Grundton dieses neuen Fernsehens, das sich zum selbstbezüglichen »Neofernsehen«6 wandelte. Rai Tre, Bildungsfernsehen und politisch links stehend, beschritt zu diesem Zeitpunkt einen Mittelweg zwischen Innovation und den Bedürfnissen des breiten Publikums. So bot man den Zuschauern einerseits Filme, Serien und realitätsnahe Serviceprogramme an. Zu letzteren ¿Bürgersendungen¾ zählten etwa die Suchsendung &KL O·KD YLVWR" (Wer hat ihn/sie gesehen?, 1989) oder die Gerichtssendung Un giorno in pretura (Ein Tag bei Gericht, 1988), für die man reale Strafverfahren abfilmte. Andererseits experimentierte man mit neuen Vermittlungsformen und griff dafür auch auf die eigenen Archive zurück. In der kurzen Geschichte des italienischen Fernsehens hatte sich schon beträchtliches Bildmaterial angesammelt, das nun kostengünstig wiederverwertet werden konnte. In den Sendungen Schegge (Splitter, 1988) und Vent'anni prima (Vor zwanzig Jahren, 1988) wurden etwa italienische Nachrichten- und Magazinsendungen sowie ausgewähltes Filmmaterial aus den sechziger Jahren gezeigt. Während sich andere Kanäle den neuen Maßstäben des Privatfernsehens unterordneten, setzte Rai Tre auf eigenwillige Produktionen und Programmvielfalt. Blob war in diesem Kontext als unterhaltsamer Querschnitt durch das Fernsehprogramm gedacht. Vorlage war ein Pressespiegel der Zeitung Il Manifesto, bei dem unterschiedliche Meldungen in origineller Form zusammengebracht wurden. In der Sendung wollte man aktuelle Ereignisse aufgreifen und, so der Bloberfinder Enrico Ghezzi, die bekannten »journalistischen Informationsrituale« 7 durchbrechen. Andererseits nahm man die Veränderungen der Fernsehlandschaft in den Blick, insbesondere die neuen Unterhaltungssendungen und die Kommerzialisierung des Programms. Mit der Herausbildung des Medienimperiums von Silvio Berlusconi und vor dem Hintergrund des Machtverlustes der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) nach dem Fall der Berliner Mauer wurde die politische Bedeutung des Senders Rai Tre akzentuiert, der Blob als Sprachrohr linker Kritik begriff. Darauf deutet auch der Titel der Sendung hin, der sich auf die subversive Monstermasse aus dem amerikanischen Science Fiction-Film The Blob (1958) bezieht.8 Die Platzierung der Sendung in der Hauptsendezeit kurz nach 20:00 6 7 8
Vgl. dazu Umberto Eco (1983): »Tv: la trasparenza perduta«, in: Sette anni di desiderio. Cronache 1977-1983, Mailand: Bompiani 1985, S. 163-179. Preckel, Zapping als Fernsehkritik, S. 45. In diesem Film, der zur Zeit des Kalten Krieges entstand, kann die rote, anonyme Monstermasse in dem Film, als Metapher für den Kommunismus gedeutet werden. In deutschen Kinos lief der Film 1960 unter dem Titel Schrecken ohne Namen.
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Jede Videocracy hat ihre Parasiten Uhr, zeitgleich zu den Blockbustern der Privatsender und andererseits genau zwischen den Nachrichtensendungen der RAI und des Berlusconikanals Canale 5, war ein klares Signal an Konkurrenz und Zuschauer. Blob führte mit seiner Zappingform die Relativität der anderen Programmangebote vor und bot zugleich eine extravagante Alternative. Mit Erfolg, denn bis 1992 stiegen die Einschaltquoten auf fast acht Prozent. Die unterhaltsame Collage aus den »besten und schlechtesten Fernsehmomenten des Vortages«9 schien vor allem dem Geschmack der jungen Zuschauer zu entsprechen, was sich unter anderem am Eingang des Wortes »Blob« in die italienische Jugendsprache ablesen lässt.10 Auch unter Fernsehschaffenden wurde Blob zum regelrechten Kult. Verweise auf die Sendung in anderen Programmen häuften sich, und immer öfter kam es zu willkürlichen Selbstinszenierungen von Fernsehmoderatoren, Journalisten, Politikern und Gästen in Fernsehshows, die darauf spekulierten, in der Sendung zitiert zu werden. Zuschauer schrieben an die Redaktion und wiesen auf Fernsehausschnitte hin, die sie in Blob sehen wollten. Darüber hinaus begann die Sendung, sich zunehmend selbst zu zitieren. Es entstanden Unterrubriken und Spezialsendungen, in denen Blob Ausschnitte der eigenen Ausgaben wiederholte und sich Schwerpunktthemen widmete.
BILDERRAUB, ZWECKFREI Blob wollte jedoch »niemals nur eine Effekte heischende oder voyeuristische Best-of-Show des Fernsehens« sein, wie die Autoren betonen.11 Der Fernsehparasit speist sich zwar zu großem Teil aus Unterhaltungssendungen, wirft aber immer wieder ernüchternde Blicke hinter die Kulissen des Showgeschäfts. Das lässt sich zum Beispiel an Bildzitaten ablesen, die hinsichtlich der Unterhaltungskonventionen des italienischen Fernsehens als nebensächlich oder unerwünscht gelten: Pausen, Schweigen und verwackelte Einstellungen, mit denen den Zuschauern die mediale Künstlichkeit in Erinnerung gerufen wird. Weiterhin werden selbst gedrehte Backstage-Aufnahmen in die Sendung eingestreut und anderen Programmen wortwörtlich »die Show gestohlen«. Der Blobautor Pino Roggero erklärt:
9 Enrico Ghezzi/ Marco Giusti: Il libro di Blob, Turin: Rai Eri 1993, S. 12. 10 Das Wort »Blob« gewann 1991 im Jugendsprachwettbewerb »Bada come parli« (Achte auf deine Sprechweise) und wurde dort als »zufällige oder unwillkürliche, tollpatschige oder seltsame Aktion, die Gelächter hervorruft« beschrieben. 11 Preckel, Zapping als Fernsehkritik, S. 11.
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Anne Preckel »Ich filme Vorbereitungen von Unterhaltungssendungen oder Interviewproben, die dann im Anschluss montiert und bearbeitet werden sollen. Die Aufnahmen senden wir dann einfach in unserer Sendung, manchmal sogar früher als die Show selbst. Und wir senden das Material ungeschnitten, lassen die für solche Programme unerlässliche Montage einfach weg. Und die Leute regen sich dann auf und sagen: ¿Du zeigst ja unsere ganze Armut!¾ Man klaut dort wirklich an der Quelle«.12
An der Quelle klaut auch der italienische »Paparazzi-König« Fabrizio Corona, der im Film Videocracy vorgestellt wird. Der Fotograf macht mit heimlichen Schnappschüssen von italienischen Berühmtheiten Millionen. »Wenn ich bekannte Menschen sehe, sehe ich Geld«, so der skrupellose Unternehmer, der selbst noch Aufnahmen der eigenen Scheidung oder seiner Entlassung aus dem Gefängnis zu vermarkten weiß. »Basta apparire« (es genügt, zu erscheinen) lautet sein Credo und generell GDV 0RWWR GHU ¿Videocrac\¾, in der Menschen nur für und durch Bilder zu existieren scheinen. Der von der Sendung Blob betriebene Bilderraub ist zweckfrei. Es geht nicht um Einschaltquoten und Millionen, sondern ± in Anlehnung an künstlerische Verfahrensweisen ± um eine DemaskierunJ GHU ¿*HVHOOVFKDIW GHV 6SHNWDNHOV¾ und die Umdeutung ihrer symbolischen Formen. Die Blobautoren sind sozusagen die Situationisten der italienischen Fernsehlandschaft, die Fernsehbilder und Programme durch De- und Neukontextualisierung umdeuten.13 Hier kommt die medienskeptische Handschrift der Sendung zum Zug, denn mittels Montage wird nicht nur der Fernsehtext neu gedeutet, sondern auch dessen Künstlichkeit ausgestellt und Kritik an den Machern und Bedienern des Mediensystems geübt. Auf den kleinsten Nenner gebracht lässt sich Medienskepsis als Zweifel an dem definieren, was uns Medien im Augenblick ihrer Rezeption versprechen. Im Fall des Fernsehens sind diese Versprechen Echtzeit und Nähe, Authentizität und Transparenz. Fernsehskepsis meint in diesem Sinne das Bewusstmachen der Künstlichkeit und Relativität der Bilder, Programme und Vermittlungsweisen des Mediums. Mit den Worten des Medienkritikers Alexander Kluge ausge-
12 Ebd., S. 74, ital.: »Riprendo le prove per trasmissioni di ascolto comiche oppure interviste le quali poi devono essere montate ed elaborate, per esempio per le trasmissioni Striscia la notizia oppure Le Iene. Noi mandiamo in onda le immagini a volte prima di loro, lasciando via il montaggio che è quello su cui vivono. E questi si arrabbiano e ci dicono: tu fai vedere tutta la nostra pochezza! Lì si ruba proprio all'origine.« 13 In der Tat nennt Ghezzi den Situationismus als einen Bezugspunkt der Sendung. Er bezieht sich zum Beispiel auf Guy Debord und dessen Schrift Die Gesellschaft des Spektakels (1967).
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Jede Videocracy hat ihre Parasiten drückt, ist das »Unterscheidungsvermögen«14 die Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung von Zusammenhängen und ihrer Vermitteltheit. Als Gestaltungsform bezieht Medienskepsis dementsprechend Differenzerfahrungen und Brüche in die mediale Inszenierung ein und versucht, Unterschiede zwischen »der Welt da draußen« und der Fernsehwelt zu markieren. Das Debüt von Blob als Fernsehkritik15 fällt in die Zeit des zweiten Golfkrieges in den Jahren 1990/91. Hinsichtlich des kritischen Selbstverständnisses der Sendung stellte dieser ¿Fernsehkrieg¾ ein Initiationsereignis dar. Im italienischen Fernsehen stand die Allgegenwart des Golfkrieges im Widerspruch zum Fluss von tatsächlichen Nachrichten zur aktuellen Lage. Brennpunktsendungen und Talkshows thematisierten den Krieg und mimten Betroffenheit, ohne etwas von den kriegerischen Auseinandersetzungen zu wissen.16 Die immer gleichen Bilder wurden mit denselben Nachrichten unterlegt. Diese redundante Darstellungsweise kommentierte Blob in der zweiteiligen Ausgabe Warblob am 9. und 16. Februar 1991 in satirischer Form. Die Sendung schnitt die Kriegsberichterstattungen direkt aneinander, führte dabei die Ratlosigkeit der Nachrichtensprecher und Journalisten vor, unterlegte Nachtbilder, die die Bombardements auf Bagdad zeigten, mit Schlagermusik und kombinierte Rohfilmmaterial17 mit Werbespots. Dabei verwendete Blob zum Beispiel auch Ausschnitte des arabischen Nachrichtenkanals Al-Jazeera, der die humanitären Folgen des Krieges im Irak anders als westliche Nachrichtensender aus nächster Nähe zeigte.18 Im Gegensatz zur Aufbereitung des Rohfilmmaterials nach den journalistisch gültigen Standards sendete Blob unkommentiert und teilweise ungeschnitten und erzeugte damit erschütternde Perspektiven. Auf diese Weise gab der Fernsehparasit dem auf der Mattscheibe so nahen und doch so fernen Krieg ein Stück weit den Schrecken zurück.
14 Alexander Kluge/ Oskar Negt: Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. 15 Ich verwende den Begriff hier im Sinne von Kulturkritik, da die Sendung überwiegend Kritik an Medieninhalten und dem italienischen Mediensystem übt. Von einer wissenschaftlichen und/oder künstlerischen Auseinandersetzung mit Medialität kann bei Blob nur begrenzt die Rede sein. 16 Vgl. dazu Sara Bentivegna: La guerra in diretta, Rom: Rai Eri 1993. 17 Das RAI-intern als »Informationssendung« gekennzeichnete Programm hat genau wie die Nachrichtensendungen Zugang zum ungeschnittenen Rohfilmmaterial. 18 Vgl. dazu Jamila Adobhani: »Bilder eines angekündigten Krieges«, in: Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien, hg. von Christer Petersen, Kiel: Ludwig 2004, S. 233-250.
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Anne Preckel Die provokante Montage und Mischung zeigte Wirkung: Die Ausgabe Warblob löste eine öffentliche Debatte um die Darstellung des Krieges im Fernsehen aus. Teile des Fernsehpublikums und der Presse empfanden die ungeschönte Präsentation des Krieges in der bisher als Unterhaltungssendung wahrgenommenen Sendung als unverhohlenen Tabubruch. Selbst für eingefleischte Zuschauer war diese Form der Darstellung nur schwer erträglich. Das zeigt die Reaktion eines Blobfans: »Warblob sollte eine Entgiftung von der Kriegsheuchelei des Fernsehens sein, stattdessen hat mir die Sendung eine Überdosis von unnützem Zynismus verpasst. Sie hat mir alles gezeigt, was sie nicht hätte zeigen dürfen. Das ist Sadismus, nicht Satire.«19
$XV GHP XQWHUKDOWVDPHQ ¿=DSSLQJVSLHO¾ war provokante Fernsehkritik geworden, denn Blob hatte begonnen, die Verflachung der in Programmschemata gepressten Wirklichkeit und die Gewöhnung der Zuschauer daran sichtbar zu machen. Mit der Verdichtung und Gegenüberstellung von Fernsehbildern des Golfkrieges stellte sich die Sendung zugleich als Beobachter des Fernsehens dar, der ² anders als die feuilletonistische Fernsehkritik der Zeitungen und anders auch als Fernsehsendungen, in denen über Fernsehen gesprochen wird ² ohne verbale Kritik auskam. Vom unerwarteten Potential der Sendung angetrieben definierten die Erfinder Blob nach dem Golfkrieg als »Mechanismus der Wahrheit, um die Mechanismen der Kommunikation aufzudecken und sie zur Diskussion zu stellen«.20 Tatsächlich fand Blob bei italienischen Journalisten und Medienkritikern in dieser Zeit zunehmend als parodistische Form der Fernsehkritik Anerkennung. In Spezialsendungen begannen die Autoren, Themen vertiefend zu behandeln und aus einem kulturellen oder historischen Kontext heraus zu kommentieren. Ausgehend von aktuellen Vorfällen fasste Blob rückblickend Ereignisse unter einem Thema zusammen und setzte sie in Bezug zueinander. In den Spezialsendungen wurden zum Beispiel die Tangentopoli-Prozesse (Blob & Money, 17. Februar 1993), die Mafia-Morde an den Richtern Falcone und Borsellino (Elegia Mafiosa, 19. September 1992), der erste Wahlsieg Silvio Berlusconis und seiner Partei Forza Italia im Jahr 1994 (Blob Elezioni, 29. März 1994) sowie die politischen Entwicklungen seit den Anschlägen des elften Septembers bis zum Irakkrieg (Afghaniraq, 20. März 2005) reflektiert. Der Politik war die unberechenbare Sendung, die sich seit der Golfkriegsdebatte zunehmend auch politischen Inhalten zuwandte, 19 Martino Ragusa: »Totem e tv«, La Repubblica, 27. Januar 1991. 20 Ghezzi/ Giusti, Il libro di Blob, S. 15.
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Jede Videocracy hat ihre Parasiten teilweise ein Dorn im Auge. Während der Tangentopoli-Prozesse im Jahr 1992, in denen eine Reihe von Korruptionsfällen unter Politikern und Unternehmern aufgedeckt wurden, forderten Politiker parteienübergreifend ihre Abschaffung. Ein weiterer Versuch, die Sendung zu zensieren, erfolgte zur Zeit des Wahlkampfes im Jahr 1994. So empfahl die Kommission des Parlamentes der Sendung, »alle karikaturalen und satirischen Darstellungen von Personen des institutionellen und politischen Lebens und im Zusammenhang mit dem Wahlkampf«21 zu vermeiden. Bis heute darf die Sendung in den Wochen des Wahlkampfes keine Ausschnitte aus dem Politikbereich verwenden. Im Zeitraum 1998 bis 2000, zur Zeit der Linksregierung XQWHU 0DVVLPR '·$OHPD ZXUGH Blob sogar kurzzeitig eingestellt. Das Programm hatte sich zum unbequemen Kommentator der politischen Szene entwickelt und nahm Politiker aller Parteien in die Mangel. Ausschnitte Blackblob 26.07.01
Fernsehmitschnitte Beim Globalisierungsgipfel der G8-Staaten im Jahr 2001 kam es in der italienischen Hafenstadt Genua zu massiver Gewalt bei Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Demonstranten. In der Spezialausgabe Blackblob vom 26. Juli 2001 verwendete Blob Aufnahmen, die von einem Mitarbeiter der Redaktion während des Gipfels gedreht wurden. Dort sind unter anderem Straßenschlachten zwischen Polizisten und Demonstranten aus nächster Nähe zu sehen. Diese Aufnahmen dokumentieren Fehlhandlungen von Polizisten, die Gewalt gegenüber friedlichen Demonstranten anwenden.
21 Corriere della sera, 4. März 1994.
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Anne Preckel Die Sendung ließ sich im Kontext der Berichterstattung zum G8Gipfel als paralleler »Subtext«22 zu den italienischen Nachrichten lesen. Die Gewalteskalation in Genua wurde in der Sendung als regressiver Rückschlag auch der Staatsgewalt interpretiert. Ausgiebig zeigte die Sendung die Prügelserien der Polizei. Diese Darstellung war insofern einseitig, als sie die Gewalt der Demonstranten teilweise aussparte, stellte jedoch damals eine wichtige Ergänzung zu den Nachrichtensendungen dar. Diese hielten sich während des internationalen Treffens eher bedeckt. Der angekündigten Ausstrahlung von Demonstrantenvideos im Fernsehen kamen die Sender der RAI lange Zeit nicht nach, und auch in der Presse wurden die widersprüchlichen Reaktionen der Regierung auf die Geschehnisse kaum thematisiert.23 Die Bilder der Straßenschlachten stellte Blob unter den Titel »Odyssee 2001« und verband sie mit Filmbildern aus Kubrickfilmen wie Odyssee 2001 (1968), Clockwork Orange (1971) und einem französischen Chanson. Mittels der asynchronen Verwendung von Bild und Ton, der Differenz von Schrift und Bild und der Kontrastmontage wurden in der Ausgabe Blackblob neue filmische Synthesen erzeugt. In einer eindringlichen Montagesequenz sieht man den toten Demonstranten Carlo Giuliani, der bei den Ausschreitungen ums Leben kam und im Anschluss zu einer Ikone der No-GlobalBewegung wurde. Blob kombinierte Fotografien des Getöteten auf der Tonebene mit dem Atmen des Astronauten aus Odyssee 2001. Das schwere Atemgeräusch erinnerte dabei auch an die in Genua verwendeten Gasmasken der Polizei. Auf diese Weise wurde der Leichnam in der Sendung scheinbar reanimiert, zugleich wurde dem Zuschauer mit dem beweiskräftigen Foto die Realität des Todes vor Augen gehalten. Blob erzeugte so durch Montage eine neue filmische Realität, in der sich Zuschreibungen wie Opfer, Täter, Akteur oder Zuschauer auflösten.
ROT AUF WEISS Viele Blobausgaben, die sich mit der nationalen Politikerszene beschäftigen, sind satirisch gestaltet. Fernsehausschnitte aus dem 22 Christina Scherer verwendet diesen Begriff im Zusammenhang mit den häufigen Verweisen auf die Filmgeschichte in Alexander Kluges Kulturmagazinen. Vgl. dazu Christina Scherer: »Arbeit an der Filmgeschichte. Die Filmrezeption in den Fernsehsendungen Alexander Kluges«, in: Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, hg. von Christian Schulte und Winfried Siebers, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 181. 23 Vgl. dazu Nicola Tranfaglia: »Informationsmedien«, in: Berlusconis Italien ² Italien gegen Berlusconi, hg. von Friederike Hausmann, Berlin: Wagenbach 2001, S. 117-131.
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Jede Videocracy hat ihre Parasiten Programmbereich der Information und Politik haben in Blob im Laufe der Sendegeschichte anteilmäßig zugenommen; das Verhältnis der zitierten Shows und Informationssendungen hat sich seit 1989 etwa umgekehrt. Die Schwerpunktverlagerung zum Politikbereich steht in keinem Zusammenhang mit einer Politisierung der Sendung, sondern mit der Anpassung der politischen Entscheidungsträger an die Kommunikationsformen der Massenmedien. Mit der Ausdehnung des Fernsehmarktes in den neunziger Jahren durchsetzte die »Medienlogik« auch in Italien die »Parteienlogik« und prägte dem politischen System die eigenen kommunikativen Standards auf.24 Anschauliches Beispiel für diesen Trend sind im europäischen Fernsehen heute zum Beispiel die Fernsehduelle während des Wahlkampfes, die als politische Schaukämpfe konzipiert sind. Kein anderer verkörpert wohl besser die Verquickung von Spektakel und Politik, Bild und Macht als der italienische Unternehmer und Ministerpräsident Silvio Berlusconi. Die zwanzigjährige Sendegeschichte von Blob OlVVW VLFK DOV ¿televisueller ParallelkomPHQWDU¾ zur Karriere und Selbstinszenierung des Medienmoguls lesen. Blob kann im Fall von Berlusconi auf ein breites Spektrum an Montagen zurückblicken, die den Cavaliere in parodistischer und satirischer Weise vorführen. Zum Beispiel werden in der Sendung Berlusconis Worte gegen ihn selbst verwendet, seine Versprechen direkt mit seinen Skandalen abgeglichen oder seine Politik als Showgeschäft vorgeführt. Im September und Oktober 2005 wurde in jeder Blobaus-gabe ein Wahlwerbespot parodiert. Gerahmt durch das Logo der italienischen Realityshow Isola dei Famosi (Insel der Berühmten), das in den Titel »Penisola degli eletti« (Halbinsel der Gewählten) umgewandelt wurde, wurden Aussagen der politischen Gegner Romano Prodi und Silvio Berlusconi in Kurzform gegenübergestellt. Mit leisem Geigengedudel unterlegt wurden die Ansprachen der Politiker als heuchlerisches Gerede vorgeführt ² der italienische Begriff »sviolinare« bedeutet übersetzt so viel wie »Süssholz raspeln«. In der Ausgabe Best of Berlusconi aus dem Jahr 2004 (18. April 2004) wurden dagegen Wahlplakate der Partei Forza Italia verballhornt. Durch Bildbearbeitung wurde Berlusconi auf den Bannern als Filmfigur stilisiert und seine Wahlversprechen in absurde Statements verwandelt. So erschien er etwa unter dem abgewandelten Slogan »Più bugie per tutti« (mehr Lügen für alle, ursprünglich: weniger Steuern für alle) als langnasiger Pinocchio oder auf einem anderen Plakat unter dem Titel »Un sogno della vita:
24 Vgl. dazu Paolo Mancini/ Gianpiero Mazzoleni: I media scendono in campo, Rom: Rai Eri 1995.
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Anne Preckel Essere Silvio Berlusconi« (Ein Lebenstraum: Being Silvio Berlusconi) als vervielfachter John Malkovic-Klon. Ausschnitte Cronicario 31.12.09
Fernsehmitschnitte In diese parodistische Form der Kommentierung mischt sich seit einiger Zeit ein ernsterer Ton. So wird Berlusconi in neueren Blobausgaben häufig mit Endlichkeitsmetaphern und dem Tod assoziiert. In dem dreiteiligen Jahresrückblick Cronicario vom 31. Dezember 2009 inszenierte Blob den Politiker als gekreuzigten Christus. Mit dem Leidensbild bezog sich die Sendung auf die jüngsten Rückschläge des Politikers: Nicht nur Schnappschüsse von Feiern des Cavaliere mit leicht bekleideten Mädchen und die Enthüllungen einer Edelprostituierten setzen ihm zu, sondern auch seine gerichtliche Niederlage im Fall Lodo Alfano sorgte für negative Schlagzeilen. Berlusconis Versuch, die Gültigkeit des Immunitätsgesetzes für sein eigenes Amt zu garantieren, war offiziell gescheitert. Überhaupt gab die Rückblickssendung Cronicario keine Jahreshöhepunkte wieder, sondern führte die Dekadenz der politischen Elite vor: Die bitteren Worte von Berlusconis in Scheidung lebender Ehefrau Veronica Lario, die nach den jüngsten Skandalen um ihren Gatten in einem Schmähbrief öffentlich mit ihm und seinem politischen Stil abrechnete, wurden unter dem Titel »veronycon« auf Bilder von Federico Fellinis Film Satyricon (1969) montiert. Mit Zeitlupenaufnahmen schweigender und lächelnder Politiker der Parteien Partito Democratico (PD) und Unione Democratici Cristiani (UDC), unterlegt mit melancholischer Musik und versehen mit der Überschrift »desertorosso« (rote Wüste), führte Blob die Stagnation und Kraftlosigkeit der politischen Opposition vor. Den stärksten Eindruck in diesem morbiden Bilderreigen hinterließ aber ein Bild, das sich der italienischen Öffentlichkeit ins Gedächtnis gebrannt hatte: Berlusconis blutüberströmtes Gesicht, als der Politiker am 13. Dezember 2009 in Mailand einem Anschlag
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Jede Videocracy hat ihre Parasiten zum Opfer fiel und nur knapp ernsteren Verletzungen entging. Mit dieser Aufnahme bildete Blob einen Tabubruch ab: Blutspritzer auf der Maske der Macht ± das stoische Gesicht, sonst ewig lächelnd und scheinbar alterslos, bekam auf einmal menschliche, allzumenschliche Züge. Bei der Attacke auf den wichtigsten Medienmann Italiens, die von Fernsehkameras aufgezeichnet worden war, VFKLHQ GLH JHVDPWH ¿Videocracy¾ für einen Moment zu implodieren. Bereits in früheren Sendungen hatte Blob die Allianz zwischen Medium und Politik symbolisch zerstört, indem die Sendung zum Beispiel Aufnahmen von Ansprachen des Politikers mit Bildern eines ¿televisuelOHQ %ODFNRXWV¾ verbunden hatte. Für die Bilanzsendung Cronicario musste Blob nicht auf Montage zurückgreifen, um Berlusconi zu demaskieren ² es war die Wirklichkeit, die den Politiker eingeholt hatte.
»Cronacarte« Im April 2009 feierte das Programm Blob sein 20-jähriges Bestehen. Tausende Ausgaben sind bis heute über den Bildschirm gegangen. Die Gesamtheit der Sendungen kann als medien- und zeitgeschichtliches Zeugnis verstanden werden, das Themen und Ästhetiken des italienischen Fernsehens abgebildet hat. So hat Blob etwa durch das Zitat von Ausschnitten aus anderen Fernsehsendungen die Zunahme von Unterhaltungssendungen und Mischformaten im italienischen Fernsehen seit 1989 dokumentiert. Zugleich bietet die Sendung bis heute ein kaleidoskopartiges Bild der italienischen Politik, Kultur und Gesellschaft. Darüber hinaus ist die Mischform Blob Symptom für die Veränderungen des italienischen Fernsehens und der Sehgewohnheiten der Zuschauer. Während die Telecollage in den ersten Sendejahren noch als »Geschoss«25 erscheinen musste, unterscheidet sie sich heute in ästhetischer Hinsicht weniger vom übrigen Programm, das sich durch Zurschaustellung und Inszenierung von Stil26 charakterisiert. Hier stellt sich die Frage, ob eine Kritik, die im WesentliFKHQ EHU GLH ¿AndersverwendXQJ¾ von Fernsehbildern funktioniert, nicht früher oder später wirkungslos wird.
25 Walter Benjamin verwendet den Begriff in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1963, S. 38. 26 Vgl. dazu John Thornton Caldwell: »Televisualität« (1995), in: Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie ² Geschichte ² Analyse, hg. von Ralph Adelmann u.a., Konstanz: UVK 2001, S. 311-335.
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Anne Preckel Die gültigste Definition der Sendung gibt meiner Meinung nach der Blobautor Vittorio Manigrasso. Er fasst Blob als »Cronacarte«,27 als Sendung mit Aktualitätsbezug (cronaca), die Inhalte und Formen der Massenkommunikation durch Montage und künstlerische Mittel (arte) verfremdet. Die von Blob produzierte semantische Offenheit ist wie bei dem Autor und Filmemacher Alexander Kluge als Kritik an Vorstellungen von Abgeschlossenheit, Zusammenhangslosigkeit und Produktförmigkeit zu verstehen.28 Es scheint fast so, als ob das Programm mit der Montage disparater Bilder und Themen, der Ausführung von Nuancen und Details und dem Einstreuen von Originalstimmen all das an die Oberfläche des Bildschirm holen möchte, was im glatten Fahrwasser des einzelnen Fernsehkanals verloren geht oder gar nicht erst auftaucht. So zielt Blob, verstanden als Fernsehkritik, auf ein Jenseits des Fernsehens. Manigrasso sagt über seine Montagearbeit: »Deine Aufgabe ist die Negation. Du bist dazu da, die Bilder neu ins Spiel zu bringen, ihr Potential wachzurufen und über ihre ursprünglichen Bedeutungen hinauszugehen«.29 Im Rückblick auf die Sendegeschichte vermutet Manigrasso, dass das Programm eine ganze Generation von Fernsehzuschauern geprägt hat: »Vielleicht war in all den Jahren die Funktion von Blob, die Sehgewohnheiten der heute Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen, die mit der Sendung aufgewachsen sind, neu zu definieren. Ich glaube, dass unser Programm in diesem Sinne tatsächlich eine Schule des Fern-Sehens angeregt hat«.30 Inwiefern diese »Schule des FernSehens« im Sinne einer Ausbildung von »Unterscheidungsvermögen«31 für den einzelnen Zuschauer funktioniert, ist kaum pauschal zu beantworten. Es liegt jedoch nahe, dass eine essayistische Fernsehsendung, die insgesamt mit Sinndeformationen und Sinnvervielfältigungen arbeitet, dem Zuschauer mehr geistige Aktivität abverlangt als eine Sendung mit vorhersagbaren und schematischen Darstellungsstandards: »Unsere Empfindung schließt sich zu rasch über einem reinen Zeichen. Die vollkommene Lesbarkeit der Szene, die Tatsache, dass sie in Form gebracht ist, dispensiert uns davon, das Bild in seiner Ungewöhnlichkeit aufzunehmen«.32 27 28 29 30 31 32
Zit. in Preckel, Zapping als Fernsehkritik, S. 79. Vgl. dazu Schulte/ Siebert (Hg.): Kluges Fernsehen. Zit in: Preckel, Zapping als Fernsehkritik, S. 107. Ebd., S. 143. Kluge/ Negt: Maßverhältnisse des Politischen. %DUWKHV·%HREDFKWXQJHQ]XU:LUNXQJGHU6FKRFNIRWRJUDILHODVVHQVLFKDXFK auf die Differenz zwischen Blob und den »in Form gebrachten« Fernsehprogrammen anwenden; vgl. dazu Roland Barthes: »Schockfotos« (1957), in: Theorie der Fotografie III: 1945-1980, hg. von Wolfgang Kemp, München: Schirmherr/ Mosel 1999, 106-108.
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Jede Videocracy hat ihre Parasiten Hartmut Winkler geht davon aus, dass der Zuschauer aus geswitchten Sendungen einen neuen Sinn produziert.33 Demnach lassen sich die Bedeutungseffekte, die sich im Moment des Zappings ergeben, mit Montage vergleichen. So erinnert das mehrfache Umschalten zwischen zwei unterschiedlichen Programmen zum Beispiel an die Parallelmontage des Spielfilms. Der neue Sinnzusammenhang entsteht dabei aus dem Zusammenspiel von Zufall, dem Eingriff des Zuschauers und den bestehenden Strukturen des Fernsehprogramms. Auf Grundlage dieser Differenzerfahrung entsteht eine dynamische Rezeptionssituation, denn einerseits greift der Zuschauer auf das Medium spielerisch zu, andererseits wird er VHOEVW¿EHVSLHOW¾. Blob leitet aus dem Zapping eine Montageform ab, bei der Zufälligkeit in den kreativen Prozess mit einbezogen wird. Die Autoren der Sendung befinden sich sozusagen zwischen Rezeption und filmischer Produktion, sind sie doch einerseits selbst Fernsehzuschauer und Zapper, andererseits Monteure, die sich mit Gesetzen der Filmmontage auskennen. Ähnlich wie beim Zappen erhält das Produzierte eine offene Struktur, denn die angefangenen und angedeuteten Geschichten, die durch die Assoziation des heterogenen Materials entstehen, werden in Blob nicht zu Ende erzählt. Es entstehen Lücken, die vom Zuschauer imaginär ausgefüllt werden müssen. Lücken und fehlende Anschlüsse hält das Fernsehen in inhaltlicher Hinsicht natürlich selbst schon bereit: Unterschiedliche Zeiten und Realitätsbezüge, Krieg und Werbung, Fiktion und Reality stehen direkt nebeneinander. Da das Medium aber ununterbrochen auf Sendung ist, werden diese Diskrepanzen vom Zuschauer im Allgemeinen nicht als Lücken wahrgenommen. Der Programmfluss selbst füllt sie aus, Unterschiede werden auf der Ebene des Mediums nivelliert. Mit der Ästhetik des Zapping wird von Blob wie bei einem »offenen Kunstwerk«34 eine neue »gewollte Zufälligkeit«35 in das Fernsehen hineingetragen und damit der gleichmäßige Ablauf des Mediums ein Stück weit gestört. Diese Störung kann ² wie etwa bei den Fernsehparodien des Entertainers Harald Schmidt ² auch durch die Moderation erfolgen. So ist Schmidt zum Beispiel für sein verbales »Rüberzappen« zu parallel laufenden Angeboten der
33 Hartmut Winkler: Switching, Zapping. Ein Text zum Thema und ein parallel laufendes Unterhaltungsprogramm, Frankfurt am Main: Jürgen Häuser Verlag 1991. 34 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. 35 Ebd., S. 201.
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Anne Preckel Senderkonkurrenz bekannt.36 Blob stört dagegen ausschließlich durch Montage und schafft damit im Blick des Zuschauers auf das Fernsehen ² so könnte man es mit Eco ausdrücken ² ein »Möglichkeitsfeld«,37 in dem Platz für neue Sinngebung ist. Wenn in Blob Seifenopern in realen Katastrophen enden oder sich Citizen Cane und Berlusconi begegnen, werden auf jeden Fall die »romanhaften Instinkte«38 der Zuschauer enttäuscht.
Subversiv statt explizit In einem Land, in dem das Fernsehen für die politische Meinungsbildung eine enorme Rolle spielt,39 ist dieses Medium der sicherste Schlüssel zu Einfluss und Erfolg. Das gilt sowohl für politische Machthaber als auch ihre Kritiker. In der andauernden Ära Berlusconi wird jedoch Pluralismus auf dem Medienmarkt untergraben. Das Fernsehen nimmt eine zentrale Stellung ein, ohne wirkliche Stimmenvielfalt zu bieten. Und auch kontroverse Stimmen hatten es in den letzten Jahren immer wieder schwer, sich Gehör zu verschaffen. So wurden den beiden bekannten RAI-Journalisten Enzo Biagi und Michele Santoro im Juni 2002 die Verträge gekündigt, nachdem Berlusconi sich kurz zuvor über sie beschwert hatte. Beide Moderatoren galten als Kritiker des ¾Cavaliere½ und erzielten mit ihren politischen Fernsehsendungen hohe Einschaltquoten. Auch unbequeme Komiker sind im Medienimperium Berlusconi unerwünscht. Den Komiker und politischen Aktivisten Beppe Grillo einzuladen wurde für viele italienische Talkshows zur Gefahr. So handelte sich der oben erwähnte Journalist Santoro, der Grillo im Mai 2008 in der Talkshow Anno Zero zu Wort kommen ließ, eine Klage von Seiten der RAI-Direktion ein.40 Grillo nutzte parallel das Internet, um seine Meinung kund zu tun; sein politischer Blog gilt heute als einer der meistbesuchten Italiens. Auch Verfechter der politischen Satire haben es in Berlusconis Italien schwer. Sabina Guz-zantis Sendung Raiot (Rai Tre) wurde 2003 nach nur einer von sechs geplanten Folgen aus dem Fernsehprogramm genommen. In 36 Vgl. dazu Joan Kristin Bleicher: »Fernsehen über Fernsehen«, in: Mediennutz und Medienlust, hg. von Wolfgang Hoffman-Riem/Louis Bosshart, München: Ölschläger 1994, S. 147-162. 37 Eco, Das offene Kunstwerk, S. 203. 38 Ebd., S. 203. 39 Trotz guter Medienversorgung in italienischen Haushalten wird das Fernsehen mit über 95 Prozent als Hauptinformationsquelle genutzt; vgl. dazu Giancarlo Bossetti/ Mauro Buonocuore: Giornali e tv negli anni di Berlusconi, Venedig: Marsilia 2005. 40 Aldo Fontanarosa: »Bufera su Santoro«, La Repubblica, 3. Mai 2008.
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Jede Videocracy hat ihre Parasiten der Sendung übte die bekannte Regisseurin und Schauspielerin direkte Kritik an Berlusconi und rechnete mit der italienischen Medienlandschaft ab. Dabei kamen die maßgeschneiderten Gesetze für Berlusconis Unternehmen Mediaset ebenso zur Sprache wie die Konzentrierung von Werbeeinnahmen und die Manipulation des Informationssystems. Der Verwaltungsrat der RAI begründete das Aus für Raiot mit einer Verleumdungsklage von Mediaset gegen das staatliche Fernsehen. Dass die genannten Sendungen alle im öffentlich-rechtlichen Fernsehen liefen und dort abgesetzt wurden, zeigt ein weiteres Mal die Ausprägung des Lobbyismus und die teilweise fatale Verquickung von politischen Interessen und öffentlichem Service in Italien.41 Die Sendung Blob kommentiert seit zwanzig Jahren täglich italienische Kultur, Politik und Gesellschaft. Dennoch ist das Programm niemals ernsthaft in Schwierigkeiten geraten. Erhitzte Gemüter beruhigten sich schnell, und die Versuche von Seiten der Politik, das Programm einzuschränken oder abzusetzen, verliefen auf lange Sicht erfolglos. Auch in finanzieller Hinsicht war die billig produzierte Sendung nie ein Sorgenkind. Nach Ansicht von Grasso liegt in der parasitären Form der Kultsendung ihre Resistenz. Blob wirke wie ein kommunikativer Katalysator, der Diskurse vor und hinter dem Bildschirm am Laufen halte: »All das Seltsame, all das Differente wird in den Kreislauf der Normalität zurückgeführt, mit einem gefälligen ironischen Hauch. Blob ist die wohl unterhaltsamste und funktionalste Entdeckung der Autoreferenz«.42 ,Q ,WDOLHQV ¿9LGHRFUDF\¾ ist Blob eine paradoxe Form des Widerstandes. Die Sendung betreibt eine »Politik des subversiven Zitates«.43 Sie ist vollständig abhängig von den Inhalten des Fernsehens, selbst Teil des Massenmediums und nutzt die spektakuläre Schubkraft des Fernsehens parasitär aus. Andererseits laufen Ästhetik, Produktionsweise und Selbstverständnis von Blob den Standards des Fernsehens zuwider. Denn nicht Bilder stehen bei Blob ² oder der Utopie von Blob ² im Mittelpunkt, sondern das imaginäre und kritische Potenzial der Menschen vor dem Bildschirm. Und so ist Blob, wie Ghezzi sagt, auch »nicht das Porträt eines Landes, sondern das Porträt eines jeden Zuschauers«.44
41 Ermanno Menduni: Televisione e società italiana 1975-2000, Mailand: Bompiani 2002, S. 53. 42 Aldo Grasso: Storia della televisione italiana, Mailand: Garzanti 2004, S. 508. 43 Greil Marcus: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk. Kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert, Hamburg: Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins 1991, S. 184. 44 Ghezzi in: Preckel, Zapping als Fernsehkritik, S. 14.
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Anne Preckel
Literatur Adobhani, Jamila: »Bilder eines angekündigten Krieges. Zur Mediengeschichte des Irakkonflikts im Jahr 2003«, in: Christer Petersen (Hg.): Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien. Bd. 1: Nordamerika und Europa, Kiel: Verlag Ludwig 2004. Barthes, Roland: »Schockfotos«, in: Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie III: 1945-1980, München: Schirmherr/Mosel 1999, 106-108 [1957]. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963 [1936]. Bentivegna, Sara: La guerra in diretta. La copertura televisiva del conflitto nel Golfo, Rom: RAI-Eri 1993. Bleicher, Joan Kristin: »Medien kritisieren Medien. Formen intermedialer und medieninterner Kritik«, in: Hertmut Weßler u.a. (Hg.): Perspektiven der Medienkritik. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit öffentlicher Kommunikation in der Mediengesellschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 77-88. Bleicher, Joan Kristin: »Fernsehen über Fernsehen. Formen und Funktionen selbstreferentieller Sendungen im Unterhaltungsprogramm der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in den achtziger Jahren«, in: Hoffmann-Riem, Wolfgang/Bosshart, Louis (Hg.): Mediennutz und Medienlust. Unterhaltung als öffentliche Kommunikation, München: Ölschläger 1994, S. 147-162. Bossetti, Giancarlo/Buonocore, Mauro: Giornali e tv negli anni di Berlusconi, Venezia: Marsilio 2005. Caldwell, John Thornton: »Televisualität«, in: Adelmann, Ralf u.a. (Hg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie ² Geschichte ² Analyse, Konstanz: UVK 2001, S. 165-205. Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Edition Tiamat 1996 [1967]. Eco, Umberto: »Tv: la trasparenza perduta», in: ders.: Sette anni di desiderio. Cronache 1977-1983, Mailand: Bompiani 1985, S.163-179. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 (ital. Originaltitel: Opera aperta, 1962). Fontanarosa, Aldo:»Bufera su Santoro«, La Repubblica, 3. Mai 2008. Ghezzi, Enrico/Giusti, Marco: Il libro di Blob, Turin: Rai Eri 1993. Grasso, Aldo: Storia della televisione italiana. I cinquanta anni della televisione, Mailand: Garzanti 2004. Grasso, Aldo: »La comunicazione anulare«, in: Piero Dorfles (Hg.), Atlante della radio e della televisione 1990, Rom: Rai Eri 1990. Hausmann, Friederike: Berlusconis Italien ² Italien gegen Berlusconi, Berlin: Wagenbach 2001.
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Jede Videocracy hat ihre Parasiten Kluge, Alexander/Negt, Oskar: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972. Kluge, Alexander/Negt, Oskar: Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. Mancini, Paolo/Mazzoleni, Gianpietro: I media scendono in campo, Rom: Rai Eri 1995. Marcus, Greil: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk. Kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert, Hamburg: Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 1992. Menduni, Ermanno: Televisione e società italiana 1975-2000, Mailand: Bompiani 2002. Ortoleva, Peppino/Di Marco, Maria Teresa: Luci del teleschermo. Televisione e cultura in Italia, Turin: Electa 2004. Preckel, Anne: Zapping als Fernsehkritik. Die italienische Telecollage Blob, Berlin: Avinus Verlag 2008. Ragusa, Martino: »Totem e tv«, La Repubblica, 27. Januar 1991. Serres, Michel: Der Parasit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. Schulte, Christian/Siebert, Winfried: Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Warhol, Andy: The Philosophy of Andy Warhol (From A to B & Back Again), New York: Harcourt Brace Jovanovich 1975. Winkler, Hartmut: Switching, Zapping. Ein Text zum Thema und ein parallel laufendes Unterhaltungsprogramm, Frankfurt am Main: Jürgen Häusser Verlag 1991.
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Die Darstellung von AIDS im französischen Fernsehen. Über den Fernsehfilm Sa raison G·rWUH (2008) RENAUD LAGABRIELLE
»Tu es programmateur de télévision. Tu sais, quoi que tu fasses, que les gens regardent la télévision. Tu sais, quoi que tu fasses, que le public de la télévision est un ¿mauvais public¾: il vaque, mange, pisse, dort, zappe, bavarde, songe, s·autorise à être con et prend plaisir à regarder ce qu·il n·aime pas... Tu le sais bien, mais tu cherches malgré tout à ce que ce soit devant ta chaîne qu·il fasse tout cela. Tu ne sais plus qui a dit: ¿la programmation de la télévision est un art de la rencontre¾ ² mais tu ne sais toujours pas qui tu dois rencontrer ni ce que veulent les gens. [...] Tu fais des paris sur ce que tu penses être less objectionnable (sic): des Noirs, mais pas trop; des pédés, mais artistes; des gros, mais sympas; des femmes, mais jolies [...] des Arabes? ² pas encore.«1
Das, was die ersten Zeilen des Buchs des französischen Fernsehund Mediensoziologen Éric Macé, La société et son double. Une journée ordinaire de télévision, illustrieren, soll die Leitfrage des folgenden Beitrags mit einem Anflug von Humor einführen, unter an-
1
Éric Macé: La société et son double. Une journée ordinaire de télévision, Paris: Armand Colin 2006, S. 7. Dt.: »Du bist Programmgestalter fürs Fernsehen. Dir ist bewusst, was auch immer du tust, die Leute sehen fern. Dir ist bewusst, was auch immer du tust, das Fernsehpublikum ist ein ¿schlechtes Publikum¾: Es geht seinen Beschäftigungen nach, isst, pinkelt, schläft, zappt, plaudert, träumt, erlaubt sich, dumm zu sein und hat daran Vergnügen, etwas anzuschauen, das ihm nicht gefällt. Du bist dir dessen wohl bewusst, und trotzdem versuchst du, dass es das alles vor deinem Fernsehkanal tut. Du weißt nicht mehr, wer gesagt hat, dass »die Programmgestaltung fürs Fernsehen eine Kunst der Begegnung ist« ² aber dir ist immer noch nicht klar, wem du begegnen sollst und auch nicht, was die Leute wollen. [...] Du setzt auf Dinge, die du für less objectionnable (sic) hältst: Schwarze, aber nicht zu viele; Schwule, aber Künstler; Dicke, aber nette; Frauen, aber hübsche [...] Araber? ² Nein, die noch nicht.«
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Renaud Lagabrielle derem auch deshalb, weil dieser in der Folge keinen Platz mehr finden wird. Nicht nur, weil es oft schwierig ist, über AIDS mit Humor zu sprechen. Sondern auch und vor allem, weil der Fernsehfilm, um den es hier geht, in seiner Darstellung der Krankheit für Humor keinen Platz vorgesehen hat. Diese Tatsache, auf die ich später zurückkommen werde, gibt einer weiteren Feststellung Macés Recht: die Programmgestaltung des französischen Fernsehens »setzt auf den Realismus von Darstellungen, die oft unsere schlechte kollektive Fähigkeit ausdrücken, wenn es darum geht, die Welt anders als durch ihre Stereotypen zu definieren.«2 Der folgende Beitrag geht der Frage nach, inwiefern Sa raison d´être eine Art Gratwanderung in einer Programmgestaltung darstellt. Eine Gratwanderung, vor der die EntscheidungsträgerInnen des Programms eines Fernsehkanals gestellt werden, wenn es darum geht, einen Fernsehfilm über AIDS auszustrahlen, in dem noch dazu die Geschichte aus der Perspektive eines schwulen Mannes erzählt wird; wenn es also darum geht, den Graben zwischen einem zweifach segmentierenden Thema und dem Wunsch nach einem möglichst großen Fernsehpublikum zu überbrücken. Und wenn es darum geht, die Fernsehzuschauer und -zuschauerinnen durch eine Fiktion daran zu erinnern, wie wichtig es heute noch ist, sich vor einer möglichen Infizierung mit dem HI-Virus zu schützen ² und dies, ohne in die Falle einer erbaulichen didaktischen Darstellung zu gehen.
Sa raison d´être ² Chanson, Zweiteiler und mehr Fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Kinostart von André Téchinés Les témoins am 7. März 2007, der den Beginn der AIDSEpidemie zum Thema machte, wurde der zweiteilige Fernsehfilm Sa raison d´être am 26. März und am 2. April 2008 auf France 2 ausgestrahlt. Der téléfilm en deux parties,3 in dem die Geschichte einer französischen Familie mit der der Pandemie von ihrem Ausbruch bis heute verflochten ist, zeichnet sich in dieser Hinsicht zweifach aus. Was das Format betrifft einerseits. Als téléfilm, ein Fernseh2
Macé, La société et son double, S. 8. Frz.: »parie sur le réalisme de représentations qui souvent expriment notre bien faible capacité collective à dé-
3
ILQLUOHPRQGHDXWUHPHQWTX·jWUDYHUVVHVVWpUpotypes.« Hier folge ich der strengen Typologie Stéphane Benassis in ders.: Séries et feuilletons T.V. Pour une typologie des fictions télévisuelles, Liège: CÉFAL 2000, insb. Kap. 2 »Téléfilm, feuilleton et série: illustration par genres et mise en évidence de sous-genres«, S. 51-97. Bezeichnenderweise steht diese Subgattung mit den »feuilletons haut-de-gamme« (Dt.: hochqualitativ) im Zusammenhang (vgl. S. 62-63).
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Die Darstellung von AIDS im französischen Fernsehen format, das als ¿Erbe¾ des Formats des dramatique betrachtet werden kann,4 gehört nämlich diese »fresque historique«5 zu den am wenigsten ausgestrahlten Formaten der TV-Fiktionen.6 Andererseits ist 6D UDLVRQ G·rWUH der erste téléfilm en deux parties mit AIDS als zentralem Thema, der im französischen Fernsehen gezeigt wurde. Während das Kino die AIDS-Thematik schon Mitte der 1980er Jahre aufgegriffen hat,7 fällt es auf, dass das Fernsehen erst spät ² und zwar 1994 ² begonnen hat, Fiktionen zu diesem Thema auszustrahlen. Auch die Zahl solcher Fiktionen bleibt bis heute gering. 8 SDUDLVRQG·rWUH wurde von France 2 mit produziert und von Renaud Bertrand nach einem Drehbuch von Pascal Fontanille und Véronique Lecharpy gedreht.9 Der Film wurde an zwei aufeinander folgenden Mittwochabenden in der Primetime ausgestrahlt, d.h. zu einem Sendetermin, wo auf France 2 traditionellerweise Fernsehfilme ausgestrahlt werden, die Gesellschaftsfragen gewidmet und oft Teil eines thematischen Abends sind. Die Ausstrahlung von Sa raison G·rWUH folgt somit der Logik der Programmgestaltung von France 2,
4 5 6 7
8
9
Vgl. ebd., S. 39f. Lucas Armati, »Il était quatre fois le sida«, Télérama 3036 (2008). Zu lesen auf: http://www.telerama.fr [23.10.2009]. Siehe das Barometer der $VVRFLDWLRQ SRXU OD SURPRWLRQ GH O·DXGLRYLVXHO (apa): http://www.apa-tv.fr [23.10.2009]. Es handelt sich um Mauvais sang (Leos Carax 1986). Eine ausführliche Filmographie findet man etwa in David Caron: »Sida (au cinéma)«, in: Dictionnaire des cultures Gays et Lesbiennes, hg. von Didier Eribon, Paris: Larousse 2003, S. 433-435. Nathalie Giraudeau nennt in ihrem Buch /HVLGDjO·pFUDQReprésentations de la séropositivité et du sida dans les fictions filmiques3DULV/·+DUPDWWDQ 1998, S. 14-16, sieben französische Fernsehfilme, denen man zwei weitere hinzufügen muss, die in Brigitte Rollet, Télévision et homosexualités. 10 ans de fictions françaises 1995-2005 3DULV /·+DUPDWWDQ DXIJHOLVWHW werden, wobei einer, /·KRPPHTXHM·DLPH (Stéphane Giusti 1997) auf Arte ausgestrahlt wurde, das ja eine andere Logik der Programmgestaltung hat. Wie mittlerweile jede Fiktion besitzt auch 6D UDLVRQ G·rWUH seine eigene Homepage, auf der man weitere Informationen zur Produktion finden kann: http://programmes.france2.fr/sa-raison-detre/index.php?numsite=382& page=article&id_article=934&id_rubrique=383 [23.10.2009]. Hier sei nur angemerkt, dass einerseits P. Fontanille auch der Drehbuchautor eines anderen, von France 2 mit produzierten Fernsehfilms, Un amour à taire (2005) ist, in dem es um das Schicksal von französischen Homosexuellen unter dem Nazi-Regime und der deutschen Besatzung in Frankreich geht; dass andererseits Renaud Bertrand der Regisseur der von France 2 produzierten Serie Clara Sheller (2005) ist, der ersten französischen (Mini-) Serie mit einem schwulen Protagonisten. Eine Analyse beider Produktionen bietet etwa Brigitte Rollet in Télévision et homosexualités, S. 260-274 und S. 145-152.
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Renaud Lagabrielle wo es am Mittwochabend unter anderem darum geht, eine direkte Verbindung zwischen der in der Fiktion erzählten Geschichte und der Realität der Zuschauer und Zuschauerinnen herzustellen, um diese zum Nachdenken zu animieren.10 Dies wird außerdem einerseits durch das realistische Genre von 6D UDLVRQ G·rWUH gefördert, andererseits durch die Tatsache, dass die fiktive Handlung bis ins Jahr der Ausstrahlung des Films hineinreicht, wodurch AIDS als aktuelles Thema und aktuelle Gefährdung präsentiert wird. Die Programmgestaltung von 6D UDLVRQ G·rWUH schreibt sich in einen größeren Rahmen, den von Sidaction 2008, ein. Sidaction wurde 1994 ins Leben gerufen. Es handelt sich unter anderem um verschiedene Programme im Fernsehen, die dazu dienen sollen, das Bewusstsein über die Gefährdung durch die Krankheit wach zu halten und Geld für Forschung und Prävention zu sammeln. Der erste Teil von 6DUDLVRQG·rWUH wurde am Mittwoch zwei Tage vor dem Beginn von Sidaction ausgestrahlt, der zweite Teil am Mittwoch darauf, drei Tage nach dem Ende von Sidaction 2008. Es ist daher wenig verwunderlich, wenn der Zweiteiler immer in Bezug auf Sidaction erwähnt wird. Auf der Homepage von France 2 ist das Logo der Initiative mit einem Link zu sehen, und die ² durchaus positiven ² Kritiken, von Télé 7 jours bis Télérama, erwähnen den Film immer im Kontext von Sidaction. Während etwa die erste Zeitschrift in einem kurzen Vorstellungstext von einem »téléfilm audacieux« und einer »passionnante et bouleversante saga familiale« spricht,11 nimmt die zweite 6DUDLVRQG·rWUH in einen Artikel auf, der der Darstellung von AIDS im (Fernseh-)Film gewidmet ist. Auch wenn der Autor des Artikels, Lucas Armati, bedauert, dass »die historische Dimension des Projekts und der Wille, eine verdrängte Vergangenheit LP 'HWDLO ]X HUIRUVFKHQ >«@ GLH (U]lKOXQJ PDQFKPDO HUVWicken«, betont er gleichzeitig, dass dieser »téléfilm intimiste« »das achtenswerte Porträt einer geopferten Generation ist.«12 Die Aussagen der Produzentin und der Produzenten sowie der Drehbuchautorin und des Drehbuchautors lassen ihrerseits wiederum keinen Zweifel
10 Vgl. François Jost, Comprendre la télévision, Paris: Armand Colin 2005, S. 88; ders.: ,QWURGXFWLRQjO·DQDO\VHGHODWpOpYLVLRQ, Paris: Ellipses 32007, S. 111-112. 11 Dt.: »gewagten Fernsehfilm« und »fesselnden und erschütternden Familiensaga«. Siehe: http://tele.premiere.fr/Videos/Bandes-annonces/Decouvrez-la-premiere-partie-du-telefilm-Sa-raison-d-etre-le-26-mars-a-20h55-surFrance-2 [23.10.2009]. 12 Lucas Armati, »Il était quatre fois le sida«. Frz: »la dimension historique du SURMHWHWODYRORQWpG·H[SORUHUHQGpWDLOXQSDVVpUHIRXOp>«@pWRXIIHQWSDrfois le souffle narratif «; »LOUHVWHO·KRQRUDEOHSRUWUDLWG·XQHJpQpUDWLRQVacrifiée.«
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Die Darstellung von AIDS im französischen Fernsehen an den engen Verbindungen zwischen Sidaction und dem Fernsehfilm: »Nous voulions faire passer un message simple: le sida est toujours là. On continue à en mourir, ici et là-bas, et notre premier devoir est de nous protéger et de protéger ceux que nous aimons. Et ce mesVDJHQRXVYRXORQVTX·LOWRXFKHOH plus grand nombre de spectateurs possibles. La télévision est le seul endroit où SHXWDYRLUOLHXFHWWHUHQFRQWUHODUHQFRQWUHG·XQILOPTXHQRXVYRXOons digne et émouvant, avec son public.«13
Der Filmtitel stellt selbst eine Verbindung mit Sidaction her: EinerVHLWV NDQQ -pUpPLH DOV GLH ªUDLVRQ G·rWUH© YRQ %UXQR XQG 1LFRODV verstanden werden;14 DQGHUHUVHLWVLVWª6DUDLVRQG·rWUH©HLQ=LWDWGHV Titels eines Liedes, das der Sänger Pascal Obispo zehn Jahre davor für Sidaction 1998 geschrieben und mit einem Ensemble von Interpreten und Interpretinnen gesungen hatte. Die Bewerbung des Films erfolgte selbstverständlich nicht nur über die Presse und das Presse-Dossier von France 2. Die bandeannonce, die Vorschau, wurde auf France 2 immer wieder gezeigt. Auch wenn mir keine genauen Zahlen vorliegen, kann man annehmen, dass der Zweiteiler eine ähnliche Bewerbungslogik wie der frühere, zum Teil vom selben Team realisierte und 2005 ausgestrahlte Film-Événement, Un amour à taire (2005) genoss, dessen Vorschau 34 Mal in der Woche vor der Ausstrahlung lief.15 Diese bande-annonce ist vielversprechend: Durch Einblendungen neben dem Logo von France 2 wird 6D UDLVRQ G·rWUH als etwas ganz Neues (»inédit«) und als ein Ereignis (»événement«) angekündigt. Auch die Bilder und das, was die Off-Stimme verspricht, sollten ein möglichst breites Publikum ansprechen und als verbindend wirken:16 Es geht um Familie ² noch dazu um eine Familie wie jede andere (»une famille comme tout le monde«) ² und um verschiedene Generationen, um Jugend, Liebe und Feiern. Der Ton der OffStimme und die Musik führen in den dominierenden, tragischen
13 Dt.: »Wir wollten eine einfache Botschaft mitteilen: AIDS ist immer noch da. Man stirbt weiterhin daran, hier und anderswo, und unsere erste Pflicht ist es, uns und diejenigen, die wir lieben, zu schützen. Und wir wollen, dass diese Botschaft eine möglichst große Zahl von Zuschauern erreicht. Das Fernsehen ist der einzige Ort, wo diese Begegnung stattfinden kann; eine Begegnung zwischen einem Film, den wir voller Würde und bewegend wollen, und seinem Publikum.« Siehe die Homepage von 6DUDLVRQG·rWUH. 14 Jérémie ist der Sohn der bei einem Attentat verstorbenen Isabelle. Bruno, der zu dem Zeitpunkt mit Isabelle zusammen lebte, und Nicolas, Isabelles Bruder, beschließen, Jérémie gemeinsam großzuziehen. 15 Vgl. Rollet, Télévision et homosexualités, S. 252. 16 Vgl. dazu Jost, Comprendre la télévision, S. 57.
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Renaud Lagabrielle Ton des Films ein; die Ankündigung eines unerwarteten Feindes,17 der zu einem angekündigten Tod führen wird, sorgt für Spannung und Emotionalisierung. Während der Schauspieler Nicolas Gob dem queeren Fernsehpublikum aus der Mini-Serie Les Bleus (Stéphane Giusti, 2005) bekannt sein könnte, fokussiert die Vorschau die allen bekannte Schauspielerin Clémentine Célarié, die zwei Mal gut zu sehen ist.18 Diese Werbestrategien sowie die Tatsache, dass 6DUDLVRQG·rWUH über ein Budget von 4,2 Millionen Euro verfügte,19 vor seiner Ausstrahlung im Fernsehen beim Festival international du film de télévision von Luchon 2008 gezeigt wurde20 und zugleich auf DVD erschienen ist, betten den Zweiteiler in die téléfilms de prestige ein, die meistens literarischen und historischen Figuren bzw. Ereignissen gewidmet sind und die dem Kinofilm am ähnlichsten sind. Die in Bezug auf die bande-annonce erwähnte Spannung und Emotionalisierung sind auch die grundlegenden Strategien, auf die der Fernsehfilm rekurriert, um zu versuchen, die ZuschauerInnen für den zweiten Teil zu gewinnen.21 Der erste Teil endet nämlich mit HLQHU GUDPDWLVFKHQ 6HTXHQ] 1LFRODV· -XJHQGIUHXQG -pU{PH VWLUEW an den Folgen von AIDS, und Nicolas und Bruno, der durch eine Bluttransfusion mit dem HI-Virus infiziert wurde, gehen in die Leichenhalle, um den Verstorbenen, dessen Körper von zahlreichen Spuren der Krankheit gezeichnet ist, anzuschauen. Am Ende dieser Szene leisten beide Protagonisten in Nahaufnahme gefilmt einander einen Schwur,22 dessen Verwirklichung eben erst im zweiten Teil er17 Es geht um eine »génération rattrapée par un ennePLTX·HOOHQ·DYDLWSDVYX venir.« Dt.: »eine Generation, die von einem Feind erwischt wird, den sie nicht kommen sehen hatte.« 18 Laurent Fonnet betont, dass die Wahl eines/einer bekannten Schauspielers/Schauspielerin eine der Strategien ist, um das Risiko, das eine neue Fiktion darstellt, zu minimieren. Vgl. dazu Fonnet, La programmation G·XQHFKDvQHGHWpOpYLVLRQ, Paris : DIXIT 2003, S. 89. 19 9JO /RXLV 0DXU\ ª8QH UDLVRQ G·HVSpUHU"© Têtu 128 (Dezember 2007), S. 151. 20 Wo die zwei Protagonisten Nicolas Gob (der im Film Bruno spielt) und Michael Cohen (Nicolas) den 3UL[ G·LQWHUSUpWDWLRQ PDVFXOLQH (den Preis für den besten männlichen Schauspieler) gewannen. 21 Leider liegen mir keine ZuschauerInnenzahlen für den ersten Teil vor. Der zweite Teil wurde von 3,4 Millionen ZuschauerInnen gesehen (das sind 14,4 % der möglichen Zuschauerzahl). Diese Zahl ist zwar nicht besonders glänzend, allerdings, wie es auf http://www.allô ciné.com [23.10.2009] zu lesen ist, bleibt sie »assez honorable« (»recht achtenswert«), wenn man bedenkt, dass zu diesem Sendetermin auf anderen Kanälen ein Fußballspiel und La Nouvelle Star ausgestrahlt wurden. 22 »Jure-moi qX·WXYDVSDVP·ODLVVHUYLYUHoD«, sagt Bruno zu Nicolas, der ihm DQWZRUWHWª-·WHO·MXUH©ª9HUVSULFKPLUGDVVGXPLch das nicht erleben las-
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Die Darstellung von AIDS im französischen Fernsehen fahren werden kann. Zum Schluss wird das für die mise en feuilleton typische »à suivre« (Fortsetzung folgt) eingeblendet, und es werden zentrale Szenen des zweiten Teils gezeigt. Bruno und Nicolas betrachten Jérômes Körper in der Leichenhalle
6DUDLVRQG·rWUH7HLOOHW]WH6HTXHQ]
Erzähl- und Darstellungsstrategien: des larmes et des cris Wie schon erwähnt, wird die Geschichte aus der Perspektive eines homosexuellen Mannes, Nicolas, erzählt, was im französischen öffentlichen Fernsehen selten genug ist und daher verdient, hervorgehoben zu werden. Wie Brigitte Rollet es am Schluss ihres Buches zur Homosexualität in französischen TV-Fiktionen festhält, wird nämlich homosexuellen ProtagonistInnen in diesen Fiktionen keine narrative Autonomie zugestanden.23 Auf originelle Weise hört man in 6D UDLVRQ G·rWUH 1LFRODV· 6WLPPH LPPHU ZLHGHU DOV voix-off oder voix-over, die verschiedene Funktionen und Wirkungen hat. Bald dient sie dazu, zeitliche Ellipsen zu füllen, bald ermöglicht sie den Zuschauerinnen und Zuschauern DQ1LFRODV· ,QQHQOHEHQ WHLO]XKaben, was Nähe und Vertrautheit kreiert. Die voix-over erscheint auch hie und da als eine Art Kommentar, aber auch als eine Art historisches Zeugnis über das Geschehene, was in diesem Kontext besonders wichtig erscheint, da das Schweigen über die Krankheitszustände jahrelang auf den Betroffenen lastete. Schließlich ist 1LFRODV·6WLPPHDXFKHLQ0LWWHOXP6WDWHPHQWVEHU$,'6VRZRKO als Krankheit als auch als politisch verhandeltes Phänomen mitzuteilen. In der letzten Sequenz des Films verschmelzen all diese
sen wirst.« /»Ich verspreche es dir.« Das Spiel der Akteure, mehr noch als der Ernst der Situation, bewirkt, dass diese Worte weder oberflächlich oder lächerlich noch als Zitat einer Camp-Ästhetik wirken, wie es in einer soap der Fall wäre, sondern in ihrer vollen Dichte aufgenommen werden. 23 Rollet, Télévision et homosexualités, etwa S. 281.
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Renaud Lagabrielle Funktionen und Wirkungen, worauf ich später zurückkommen werde. In der Klassifizierung von Médiamétrie24 wird Sa UDLVRQG·rWUH als »drame psychologique« bezeichnet, was nicht überraschend erscheint. Auch wenn Beispiele aus dem Theater, dem (Kino-)Film oder dem Comic bekannt sind, die sich für das Komische ² und damit zum Teil für die Camp-Ästhetik ² in ihrer Thematisierung von AIDS entschieden haben,25 mag es doch schwierig erscheinen, eine Komödie über AIDS zu machen, vor allem im Hinblick auf die deklarierte Wirkungsabsicht. Zwischen Komödie und hoher Dramatik liegt allerdings ein weites Feld von Möglichkeiten. Meines Erachtens hat die Hyperdramatisierung in 6DUDLVRQG·rWUH nicht nur mit dem Thema der Krankheit zu tun, sondern auch mit der Tatsache, dass Homosexuelle bzw. Homosexualität eine tragende Rolle spielen. Im Kontext von AIDS, wo so viele Menschen gestorben sind, mag diese Behauptung etwas zynisch klingen. Es ist aber doch meistens so, dass Homosexualität in den TV-Fiktionen mit Unglück, Traurigkeit und Tod assoziiert wird.26 Als wäre der Themenkomplex HIV/AIDS nicht traurig genug, wird in 6DUDLVRQG·rWUH eine Häufung von tragischen Geschichten erzählt, die die genannte Hyperdramatisierung ausmachen. So stirbt etwa Brunos Lebensgefährtin in einem AttenWDWZRUDXILKUH0XWWHUGLHDXFK1LFRODV·0XWWHULVWGHSUHVVLYXQG alkoholsüchtig wird und sich schließlich auf eine besonders dramatisch wirkende Weise das Leben nimmt, indem sie sich langsam im See am Ende des Gartens ertränkt. Auch der Mann von Nadja, der ergebenen Krankenschwester, lässt sich schließlich von ihr scheiden, da er meint, dass sie sich nicht mehr genug Zeit für die Familie nimmt. Und so weiter. Hinzu kommt eine formale Strategie, und zwar alternieren im Film fast konsequent eine Sequenz, in der das Glück dominiert, und eine traurige bzw. tragische Sequenz, was letzteren einen noch dramatischeren Charakter verleiht. Diese Hyperdramatisierung und die Charakterisierung der Protagonistinnen und Protagonisten erinnern in vielerlei Hinsicht an die Soap opera und an das Dokudrama27 und spielen mit dem, was der Literaturwissenschaftler Vincent Jouve als »einen Code der Affekte« bezeich24 Médiamétrie ist die Institution, die die Zuschauer- und Zuhörerzahlen der in Frankreich ausgestrahlten Sendungen (im Fernsehen, Kino, Radio und Internet) misst. 25 Man denke hier an Copi, Une visite inopportune (1987) und an die zwei Filme des Regisseure-Duos Olivier Ducastel und Jacques Martineau, den Musikfilm Jeanne et le garçon formidable (1997) und Drôle de Felix (2000), und, aus dem deutschsprachigen Raum, an Rosa von Praunheims Ein Virus kennt keine Moral (1986) und an Ralf Königs Kondom des Grauens (1987). 26 Vgl. Rollet, Télévision et homosexualités, S. 285. 27 Vgl. dazu Benassi, Séries et feuilletons T.V., S. 57-58.
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Die Darstellung von AIDS im französischen Fernsehen net, wobei er betont, dass »das Wahrnehmen einer Figur durch die gemeinsame Thematik der Intimität und des Leidens notwendigerweise Saiten erklingen lässt« und dass die leidende Figur als ein »privilegierter Träger des Anteilnahme«28 betrachtet werden kann. Besonders die Charakterisierung der zwei männlichen Protagonisten, Bruno und Nicolas, ruft bekannte Bilder ab. Auch wenn sich der Film in seiner Darstellung homosexueller Männer durch bis jetzt in französischen Fernsehfilmen bzw. Serien kaum gesehenen Bildern ² wie etwa Küsse zwischen Männern ² auszeichnet,29 erinnern doch die meisten Charakterisierungen an Altbekanntes. Während etwa der heterosexuelle Bruno einen handwerklichen Beruf ausübt ² er ist Tischler ² und leidenschaftlich gern Fußball spielt, schlägt der homosexuelle Nicolas eine intellektuelle Karriere in der Politik ein und spielt nur deshalb Fußball, um mit Bruno, in den er sich natürlich verliebt hat, zusammen sein zu können ² vor allem unter der Dusche nach dem Training. Solche banalen Klischees sind wohl als eine der Strategien zu verstehen, um zu versuchen, ein größeres Publikum zu erreichen. Diese Klischees können nämlich zum Teil als Zugeständnisse an das in Zahlen dominierende heterosexuelle Publikum verstanden werden. Und sie erfüllen den Zweck, dieses Publikum in seinen Bildern von Homosexuellen zu bestätigen. Wie Brigitte Rollet und vor ihr Éric Macé schon feststellten, bedarf es dieser Bestätigung. Andererseits, so paradox es auch erscheinen mag, wird Homosexualität für das heterozentrisch denkende Publikum durch Bilder einer authentischen Liebe und von Elternschaft legitimiert, was sich in 6DUDLVRQG·rWUH in der Figur Nicolas· wiederfindet.30 Auch gibt es in diesem Zweiteiler keinen Platz für sexuelle Ambiguität, was den Ängsten heterozentrischer ZuschauerInnen entgegenkommen soll. Wie Éric Macé festhält: »Gerade diese Aufhebung der identitären Gender-=XVFKUHLEXQJHQ >«@ scheint am verwirrendsten zu sein und löst die meisten Reserven
28 Vgl. Vincent Jouve: /·HIIHW-personnage dans le roman, Paris: PUF 1992, S. 132-144. Zitat S. 140f. (Frz.: »code affectif«; ª/D UpFHSWLRQ G·XQ SHUVRnQDJHjWUDYHUVODWKpPDWLTXHFRQMRLQWHGHO·LQWLPLWpHWGHODVRXIIUDQFHQH peut PDQTXHU G·DYRLU GHV UpVRQQDQFHV« ; »VXSSRUW SULYLOpJLp GH O·investissement affectif«). 29 Alain Brassart erinnert daran, dass Küsse zwischen Männern im Fernsehen ein großes Problem für die Produzenten darstellen und zitiert unter anderem den Wunsch von France 2, im Fernsehfilm -XVWHXQHTXHVWLRQG·DPRXU (Christian Faure, 2000) einige Kussszenen wegzulassen. Vgl. ders.: /·KRPRVH[XDOLWp GDQV OH FLQpPD IUDQoDLV, Paris: Nouveau monde 2007, insb. das Kapitel 11 »La fin des stéréotypes? (1) ² La télévision«, S. 213231, S. 220-221. 30 Vgl. Rollet, Télévision et homosexualités, z.B. S. 285; Macé, La société et son double, S. 244.
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Renaud Lagabrielle >«@VHLWHQVGHU+HWHURVH[XHOOHQDXV.« 31 Bezeichnenderweise kommt in jedem Teil eine Szene vor, in der sich die zwei Männer näher kommen, wo sich aber Nicolas beide Male von Bruno sagen lassen muss, dass dieser dezidiert heterosexuell ist. Der Fernsehfilm zeichnet sich außerdem durch die ² wohl störendere ² Verbindung aus, die zwischen der jeweiligen sexuellen Orientierung beider Protagonisten und der Weise, wie sie sich mit dem HI-Virus infizieren, hergestellt wird. Bruno wird im Laufe einer Bluttransfusion nach einem Attentat in der Rue des Rosiers infiziert, während Nicolas im betrunkenen Zustand durch ungeschützten Sex mit einem Mann positiv wird. Durch die Art von Brunos Infizierung wird zwar der Scandale du sang contaminé32 (Skandal des infizierten Blutes) thematisiert und an die vor allem in den Anfängen der Pandemie gängige Unterscheidung zwischen dem »unschuldigen« und dem »schuldigen«, für seine Infizierung verantwortlichen Kranken erinnert ² zu denen, wie etwa Susan Sontag in ihrem schönen Essay AIDS and Its Metaphors notiert, Drogenabhängige und noch mehr homosexuelle Männer zählten.33 Diese Unterscheidung wird im Film nicht nur nicht in Frage gestellt, sie wird geradezu transportiert. Nathalie Giraudeau stellt in ihrem Buch Le sida à O·pFUDQ ebenfalls fest, dass der Opferstatus eines Protagonisten eine der Strategien zu sein scheint, um Empathie seitens der Zuschauerinnen und Zuschauer zu fördern.34 Dass Bruno und nicht Nicolas ein Opfer des Virus ist, wird sowohl explizit im ersten Teil des Films gesagt als auch implizit im zweiten Teil suggeriert, und zwar durch Nicolas, dessen Stimme in der neunzigsten Minute, also kurz vor Ende, seine Mitschuld an der Infizierung betont: »-·DYDLV KRQWH SDUFH TXH FRPPH XQ FRQ M·DYDLV pWp FRQWDPLQp 3DUFH TXH FRPPH XQ FRQ PDOJUp FH TX·RQ DYDLW YpFX PDOJUp FH TX·DYDLHQWYpFX %UXQR
31 Macé, La société et son double6)U]ªF·HVWSUpFLVpPHQWFHWWHOevée des assignations identitaires de genre [...] qui semble le plus troublant et qui provoque le plus de réticences [...] de la part des hétérosexuels«). 32 In den Jahren 1984 und 1985 wurden in Frankreich vom Centre National de Transfusion Sanguine Hämophilen Blut mit dem HI-Virus übertragen, da die notwendigen sanitären Maßnahmen nicht getroffen wurden. Ein überaus spannendes Buch über die Geschichte des infizierten Blutes in Frankreich, d.h. auch über die Anfänge von AIDS, ist Laurence Lacours Le chant sacré. Une histoire du sang contaminé 1955-1983, Paris: Stock 2008. 33 Vgl. Susan Sontag: Le Sida et ses métaphores, Paris: Christian Bourgois 1993 [1989], insb. S. 150-151; Philippe Mangeot: »Sida«, in: Dictionnaire GH O·KRPRSKRELH, hg. von Louis-Georges Tin, Paris: PUF 2003, S. 373-378, insb. S. 377. 34 Vgl. Giraudeau, /HVLGDjO·pFUDQ, S. 32.
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Die Darstellung von AIDS im französischen Fernsehen -pU{PHHWOHVDXWUHVM·DYDLVRXEOLpGHPHSURWpJHU-·DYDLVKRQWHSDUFHTXHMH ne pouvais pas dire que je ne savais pas.« 35
Wie schon erwähnt, mag es schwierig erscheinen, in einem Film, in dem es um AIDS geht, Homosexualität, Krankheit und Unglück völlig getrennt voneinander zu halten. Allerdings erscheint mir das gerade Dargestellte als problemtisch, insofern dadurch die seit dem neunzehnten Jahrhundert dauernde und durch die AIDS-Pandemie neubelebte Assoziierung von Homosexualität und Krankheit ² und daher Gefahr ² weitergeführt wird.36 Eine andere, den Fernsehfilm prägende Darstellungsstrategie, um die Pandemie zu inszenieren, ist der Rekurs auf schonungslose Bilder von Figuren, die mit dem HI-Virus infiziert sind bzw. AIDS entwickeln ² allen voran Bruno. Diese Direktheit hat zweifellos mit den anfangs erwähnten Zielen des Zweiteilers zu tun. Die Erzählung der zahlreichen opportunistischen Infektionen,37 die Bruno befallen, wirkt umso prägender, als der Verlauf der Krankheit fast im ganzen zweiten Teil von 6D UDLVRQ G·rWUH inszeniert wird und immer mit glücklichen und hoffnungsvollen Momenten in Kontrast steht. So verliebt sich etwa Bruno in eine neue Frau, mit der er eine neue Zukunft plant. Außerdem übernimmt er eine neue Tischlerwerkstatt, während er davor ausgerechnet wegen seiner Infektion seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Eine Figur spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, und zwar der heranwachsende Sohn Jérémie. In der vierten Minute des zweiten Teils ² der eine Zeitspanne von 22 Jahren umfasst, während die Geschichte im ersten Teil nur sechs Jahre dauert ², fragt der Junge seinen ¿Adoptivvater¾ Bruno, ob dieser sterben werde. Worauf Bruno antwortet, dass er nicht sterben werde, weil er Jérémie das Motorradfahren beibringen will und zusehen will, wie er sich in wunderschöne Frauen verliebt. Daraufhin erklären beide, wie sehr sie sich lieben. Von da an wird Jérémie fast immer präsent sein, wenn es um die Verschlechterung von Brunos Zustand geht. 80 Minuten später besucht er den dem Tode nahen Bruno im Spital, wo er ihn bittet, Papiere für die Vaterschaftsanerkennung zu unterschreiben. Danach organisiert er mit 35 Dt: »Ich schämte mich, weil ich wie ein Trottel infiziert worden war. Weil ich wie ein Trottel vergessen hatte, mich zu schützen, trotz unserer Erfahrungen, trotz der Erfahrungen von Bruno, Jérôme und anderen. Ich schämte mich, denn ich konnte nicht behaupten, nicht informiert zu sein.« 36 Für eine sehr überzeugende Analyse dieser Assoziierung im homophoben Diskurs vgl. etwa Judith Butler: Le pouvoir des mots. Politique du performatif, Paris: Éditions Amsterdam 2004 [1997], insb. S. 167-199. 37 Unter «opportunistischen Infektionen» versteht man Infektionen verschiedener Typen (Viren, Bakterien, Pilze etc.), die beim geschwächten Immunsystem ² also besonders häufig bei Menschen mit HIV/AIDS ² auftreten.
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Renaud Lagabrielle dem Rest der Clique Brunos Flucht aus dem Spital, damit dieser mit ihnen zu Hause das Finale der Fußballweltmeisterschaft von 1998 anschauen kann. Währenddessen gibt Nadja dem Todkranken eine Injektion mit Gift, und Bruno stirbt in Mitten seiner Liebsten.
»Un travail de mémoire« Die zahlreichen Szenen im Krankenhaus, die durch den sich verschlechternden Zustand Brunos im zweiten Teil des Films immer häufiger werden, lenken nicht nur die Aufmerksamkeit auf die Symptome und den Verlauf der Krankheit. Mit diesen Szenen vollzieht der Film eine Art Erinnerungsarbeit zu verschiedenen Aspekten, die mit der Geschichte von AIDS eng verbunden sind, von der Entwicklung des medizinischen Wissens über die Krankheit, über die Therapiemöglichkeiten, über die so genannte »medicalized homophobia«38 bis hin zum Engagement von Ärzten, Ärztinnen, Krankenschwestern und Pflegern, die sich dem Kampf gegen den HI-Virus und AIDS gewidmet haben.39 Solche Szenen in Pflege- bzw. ärztlichen Strukturen wurden bis jetzt in den französischen Produktionen kaum dargestellt.40 Im Presse-Dossier zu 6DUDLVRQG·rWUH erklärt der Regisseur, dass er mit diesem Zweiteiler auch »eine kollektiv verdrängte Vergangenheit« (»une histoire collectivement refoulée«)41 aufarbeiten wollte. Nicht zufällig heißt der Arzt, der Bruno behandelt, »le grand Jacques«, wahrscheinlich in Anspielung auf einen der damals im Kampf gegen HIV-AIDS engagierten Ärzte, Jacques Leibowitch. Auch der Name eines anderen, nicht-fiktionalen HIV/AIDS-Arztes, Willy Rozenbaum ² er ist einer der Entdecker des Virus ², ist mehrmals zu hören. Dieses Engagement und die Solidarität auf mehreren Ebenen, wo sich medizinisches Wissen und Freundschaft nach und
38 David Caron: AIDS in French Culture. Social Ills, Literary Cures, Wisconsin: The University of Wisconsin Press 2001, S. 124. 39 Für einen kurzen Überblick zu diesen Punkten, vgl. Anne Laporte: »Sida O·pSLGpPLH © &KULVWRSKH %URTXD HW 2OLYLHU )LOOLHXOH ª6LGD OHV DVVRFLations)« und Christophe Broqua: »Sida (les politiques de prévention)«, in: Dictionnaire des cultures Gays et Lesbiennes, hg. von Didier Eribon, Paris: Larousse 2003, S. 429-433. 40 Siehe dazu die Ausführungen Nathalie Giraudeaus im Kapitel »/·XQLYHUV médical« in ihrem Buch, /HVLGDjO·pFUDQ, S. 51-53. Darstellungen des bald sehr schlechten, bald sehr guten Arzt/Ärztin-Patienten-Verhältnisses finden sich im Gegensatz dazu in sog. »AIDS-Romanen«, allen voran in dem bahnbrechenden $O·DPLTXLQHP·DSDVVDXYpODYLH (1990) und seinem »zweiten Teil«, Le protocole compassionnel (1991) von Hervé Guibert. 41 Siehe die Homepage von 6DUDLVRQG·rWUH.
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Die Darstellung von AIDS im französischen Fernsehen nach vermischen, durchqueren den Film, unter anderem mit der Figur der Krankenschwester Nadja. Durch diese Figur einer so genannten »beurette«42, deren Mann Nabil ein Aktivist von SOSRacisme43 ist, wird wiederum auf die sich in der Mitte der 1980er Jahre entwickelnde Solidarität für und innerhalb diskriminierter Gruppen aufmerksam gemacht.44 Fabienne und Bruno bei Sidaction
6DUDLVRQG·rWUHTeil Der Rekurs auf nicht-fiktionale Namen und Ereignisse ist ein weiteres, immer wiederkehrendes Merkmal in 6D UDLVRQ G·rWUH, das der Erinnerungsarbeit entspricht. Die Vermischung von fiktiven und nicht-fiktiven Elementen kulminiert im zweiten Teil des Filmes, als die erste Sendung von Sidaction in den Film eingebaut wird. In dieser Sequenz, die als ein »darstellendes Zitat« betrachtet werden kann,45 werden Bruno und seine neue Lebensgefährtin Fabienne in 42 »beurette« ist seit den 1990er Jahren eine (Selbst-)Bezeichnung für französische Frauen der zweiten bzw. dritten Migrantengeneration aus dem Maghreb. 43 SOS-Racisme ist ein 1984 gegründeter französischer Verein, der sich gegen Rassismus und diskriminierende Aktionen engagiert. Siehe http:// www.sos-racisme.org [14.12.2009] 44 1984 wurde auch AIDES, ein Verein, der HIV-Infizierten und AIDS-Kranken unterstützte, gegründet. Siehe http://www.aides.org [14.12.2009] 45 Frz.: »la citation-représentation«. Dieser Typus von Zitat wird von MarieFrance Chambat-Houillon in ihrer Analyse des Zitierens anderer Medien im Fernsehen erarbeitet, wobei sie als Merkmale u. a. Folgendes festhält: »la citation-représentation propose davantage une re-création de cette littéralité (entre le texte cité et le texte citant, R.L.)« und »les indices de démarcation entre le texte cité et le texte citant sont beaucoup plus labiles, moins explicites que pour la citation-réplique«. (Dt.: »das darstellende Zitat leistet eher die Neu-Schaffung dieser Wörtlichkeit (zwischen dem zitierten und dem zitierenden Text, R.L.)« und »die Trennungsindizien zwischen dem zitierten Text und dem zitierenden Text sind viel labiler, weniger explizit als für das wiederholende Zitat«), in: dies.: »La répétition citationnelle dans le discours télévisuel«, in: Penser la télévision. Actes du colloque de Cerisy, hg. von Jérôme Bourdon/François Jost, Paris: Nathan 1998, S. 97-107. Zitate S. 102 u. 103. Einen Teil der deutschen Übersetzung verdanke ich Birgit
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Renaud Lagabrielle das reale Publikum eingeblendet. Comme par hasard war diese Sendung der Ort, wo die Schauspielerin Clémentine Célarié einen an AIDS Erkrankten auf den Mund geküsst hat. Das Spiel mit dem Fiktiven und Nicht-Fiktiven sowie manche Kommentare in voix-over von Nicolas tragen dazu bei, der Fiktion einen dokumentarischen Charakter zu verleihen. Diese Strategie erreicht einen weiteren Höhepunkt in der letzten Sequenz des Films, in der Nicolas sowohl das Ende seiner Geschichte als auch die letzten Fakten und Daten über die Situation von HIV/AIDS erzählt. Während dies anfangs auf die bis dahin übliche Art geschieht ² d.h., man sieht Nicolas und hört seine Stimme als voix-over ², kommen plötzlich die Wörter aus 1LFRODV· 0XQG DOV GLHVHU ZLHGHU LP %LOG zu sehen ist, was seiner Stimme als historischem Zeugnis ihre ganze Bedeutung verleiht. Der Protagonist hebt sein Gesicht und schaut in die Kamera ² ein Verfahren, das in Dokumentarfilmen und nicht in Spielfilmen üblich ist. Erinnern wir uns an die Gratwanderung, die ich zu Beginn dieses Beitrags erwähnt habe, wenn es darum gehen soll, durch eine Fiktion Zuschauerinnen und Zuschauer daran zu erinnern, wie wichtig es ist, sich vor einer HIV-Infektion zu schützen. Eine Sequenz wie die letzte des Films stellt eines der Verfahren dar, auf die in 6DUDLVRQG·rWUH rekurriert wird, um diesem Zweck zu dienen. Es ist allerdings fraglich, inwiefern solche Mitteilungen mit einem mehr oder weniger explizit didaktischen Charakter auch tatsächlich beim Publikum wirken.46 Nicolas erzählt von seinem Leben und von der aktuellen Lage von HIV/AIDS
6DUDLVRQG·rWUH7HLOOHW]WH6HTXHQ]
Wagner, die der Fragestellung des Zitierens von Fernsehserien im Autorenkino in einem Aufsatz nachgeht, wo ein guter Teil ihrer Analyse sich mit dem »AIDS-Film« Drôle de Félix auseinandersetzt: Birgit Wagner, »Invitation to Love, oder wie Fernsehserien im Autorenkino zitiert werden«, in: Transpositionen des Televisiven. Fernsehen in Literatur und Film, hg. von Kathrin Ackermann und Christopher Laferl, Bielefeld: Transcript 2009, S. 169-188. 46 An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Frage der Wirkungskraft einer Präventionsmethode wohl eine der schwierigsten ist, vor die sich damit befassende Menschen gestellt werden.
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Die Darstellung von AIDS im französischen Fernsehen SDUDLVRQG·rWUH darf bzw. soll allerdings nicht auf die Ebene seiner Wirkung im Sinne einer Präventionsarbeit reduziert werden, es handelt sich ja um einen Fernsehfilm und nicht um einen Film für eine Präventionskampagne. Als Fernsehfilm stellt er in seiner Form, aber auch in seinen Inhalten, eine neue Art und Weise dar, im Fernsehen AIDS zur Sprache zu bringen. Der hyperdramatische Aspekt der Geschichte und einige Darstellungen von Homosexuellen erinnern zwar an alte Muster, von denen sich der Film hätte verabschieden können, um damit an Qualität zu gewinnen. Vielleicht ist es aber eine notwendige Strategie, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Und darüber hinaus: Der Blick auf die Krankheit, die direkte Konfrontation mit dem Tod, und die Entscheidung, AIDS historisch zu rekontextualisieren wie auch als ein Element einer Geschichte zu erzählen, in der Familie, Freundschaft, Liebe und Solidarität verflochten sind, all dies wurde bis jetzt selten im französischen Fernsehen gezeigt. Diese Verflechtung, kombiniert mit einer sehr gelungenen Bildästhetik und einer ausdrucksvollen Musik, dürfte für große Emotionen, breit gefächerte Identifikationsgebote und Empathie sorgen. Das Format des Zweiteilers selbst, in dem auf besondere Art Spannung erzeugt werden kann und gleichzeitig ein weiter Reflexionsraum eröffnet wird, scheint hier als Teil der Strategie zu verstehen zu sein, um ein möglichst breites Publikum für die Gefahr durch AIDS zu sensibilisieren.
Literatur Benassi, Stéphane: Séries et feuilletons T.V. Pour une typologie des fictions télévisuelles, Liège: Céfal 2000. Brassart, Alain: /·KRPRVH[XDOLWp GDQV OH FLQpPD IUDQçais, Paris: Nouveau Monde 2007. Butler, Judith: Le pouvoir des mots. Politique du performatif, Paris: Éditions Amsterdam 2004 [1997]. Caron, David: AIDS in French Culture. Social Ills, Literary Cures, Wisconsin: The University of Wisconsin Press 2001. Chambat-Houillon, Marie-France: »La répétition citationnelle dans le discours télévisuel«, in: Jérôme Bourdon/François Jost (Hg.), Penser la télévision. Actes du colloque de Cerisy, Paris: Nathan 1998, S. 97-107. Dictionnaire des cultures Gays et Lesbiennes, hg. von Didier Eribon, Paris: Larousse 2003. Fonnet, Laurent: /DSURJUDPPDWLRQG·XQHFKDvQHGHWpOpYLVLRQ, Paris: DIXIT 2003.
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Renaud Lagabrielle Giraudeau, Nathalie: LH VLGD j O·pFUDQ 5HSUpVHQWDWLRQV GH OD VpUopositivité et du sida dans les fictions filmiques3DULV/·+DUPDWtan 1998. Guibert, Hervé: $O·DPLTXLQHP·DSDVVDXYpODYLH, Paris: Gallimard 1990. Ders.: Le protocole compassionnel, Paris: Gallimard 1991. Jost, François: Comprendre la télévision, Paris: Armand Colin 2005. Ders.: ,QWURGXFWLRQjO·DQDO\VHGHODWpOpYLVLRQ, Paris: Ellipses 32007. Jouve, Vincent: /·HIIHW-personnage dans le roman, Paris, PUF 1992. Lacour, Laurence: Le chant sacré. Une histoire du sang contaminé 1955-1983, Paris: Stock 2008. Macé, Éric: La société et son double. Une journée ordinaire de télévision, Paris: Armand Colin 2006. Mangeot, Philippe: »Sida«, in: 'LFWLRQQDLUH GH O·KRPRSKRELH, hg. von Louis-Georges Tin, Paris: PUF 2003, S. 373-378. 0DXU\ /RXLV ª8QH UDLVRQ G·HVSpUHU"© Têtu 128, (Dezember 2007), S. 151. Rollet, Brigitte: Télévision et homosexualités. 10 ans de fictions françaises 1995-20053DULV/·+DUPDWWDQ Sontag, Susan: Le sida et ses métaphores, Paris: Christian Bourgois 1993 [1988]. Wagner, Birgit, »Invitation to love, oder wie Fernsehserien im Autorenkino zitiert werden«, in: Kathrin Ackermann/Christopher Laferl (Hg.), Transpositionen des Televisiven. Fernsehen in Literatur und Film, Bielefeld: Transcript 2009, S. 169-188. Internetquellen: Armati, Lucas : »Il était quatre fois le sida«, Télérama 3036 (2008), auf: http://www.telerama.fr $VVRFLDWLRQSRXUODSURPRWLRQGHO·DXGLRYLVXHO(apa): http://www.apa-tv.fr http://programmes.france2.fr/sa-raison-detre http://tele.premiere.fr/Videos/Bandes-annonces/Decouvrez-lapremiere-partie-du-telefilm-Sa-raison-d-etre-le-26-mars-a20h55-sur-France-2 http://www.aides.org http://www.sos-racisme.org
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Teledramaturgie in Brasilien: Mini-séries als televisive Literaturverfilmungen KATHRIN SARTINGEN
Einführung Die Eingangsszene des Films O Auto da Compadecida1 zeigt die zwei Protagonisten João Grilo und Chicó auf ihrem wort- und gestenreichen Werbe-Gang für eine abendliche Dorfveranstaltung.2 Kein filmisches Zitat könnte besser ins Thema einführen als die Ankündigung durch die beiden brasilianischen Filmhelden. Aufgerufen wird zur dörflichen Filmvorführung in der Kirche, gegeben wird ein Passionsspiel, angekündigt als Abenteuer oder mystery-Film. Mit diesem geradezu naiven Aufruf spiegelt sich die Vielschichtigkeit der komplexen Medienspiele mit ihrer kreativen Durchmischung existierender Formen wider: Film, Theater, Messe, Fernsehen und Literatur werden zu einem grenzüberschreitenden Spektakel vermengt. 3 Mehr und mehr beginnt sich in Brasilien ein Format durchzusetzen, das genau eine solche Durchmischung aufweist: die minisérie televisiva4. Als ¿unreines¾ mediales Produkt im Zwischenraum zwischen literarischem Text, Fernsehserie und Spielfilm konstruiert, scheint dieses televisive Sub-Format eine Lücke in der brasilianischen Medienlandschaft zu füllen.5 In den medienwissenschaf-
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Das Spiel von Unserer Lieben Frau der Mitleidvollen. Übersetzungen hier und in der Folge von der Verf. Vgl. Guel Arraes: O Auto da Compadecida, Manaus: Columbia TriStar Home Entertainment do Brasil 2001, Minuten 0:00:04-0:02:07. Vgl. Tânia Pellegrini et al.: Literatura, cinema e televisão, São Paulo: Senac 2003, S. 15, und Thais Flores Nogueira Diniz: Literatura e Cinema. Tradução, hipertextualidade, reciclagem, Belo Horizonte: Faculdade de Letras da UFMG 2005, S. 81ff. Fernseh-Miniserie. Vgl. André Bazin: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln: Dumont 1975, und Vicente Sánchez-Biosca: Una Cultura de la Fragmen-
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Kathrin Sartingen tlichen Betrachtungen noch weitgehend ausgeblendet, erreichen die mini-séries ein zunehmend breites Publikum, und dies aufgrund von drei wesentlichen Voraussetzungen: 1. Zum einen ähnelt ihr kurzes, serielles Fernseh-Format den in Brasilien beliebten und alles dominierenden telenovelas.6 Als televisive Adaptationen orientieren sich die mini-séries perfekt an den brasilianischen Sehgewohnheiten einer Zuschauerschaft, die an die allabendlichen telenovelas gewöhnt ist. 2. Zum anderen handelt es sich bei den ausgewählten Stoffen häufig um Literaturverfilmungen von bekannten Texten der brasilianischen Literatur.7 Indem die mini-séries als Ausgangspunkt einen literarischen Text oder beispielsweise die Biographie einer bekannten Persönlichkeit wählen, greifen sie gezielt auf einen besonderen, im kollektiven Gedächtnis verankerten Namen oder einen bekannten Stoff zurück und knüpfen damit an die Erwartungshaltung der Rezipienten an. Über den Rückgriff auf nationale Namen oder Stoffe der Eigenkultur wird gewährleistet, sich in kurzer Zeit, an oft nur vier oder fünf Tagen Sendezeit, rasch eine Zuschauerquote aufzubauen.8 Sowohl aufgrund ihrer medialen Form, der Nähe zu den telenovelas, als auch ihrer Inhalte, den Stoffen der Eigenkultur, konnte sich also mit den mini-séries ein neues Sub-Format erfolgreich etablieren: Sie werden zunehmend gewählt, um gerade literarische Stoffe zu visualisieren. 3. Der dritte Grund für den seit den 90er Jahren zu beobachtenden Aufschwung der mini-séries in Brasilien besteht nicht zuletzt in einer Finanzierungslücke, die durch den Wegfall von Embrafilme Anfang der 1990er Jahre entstanden ist.9 Mit dem Wegbrechen
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tación. Pastiche, relato y cuerpo en el cine y la televisión, Valencia: Ediciones Textos Filmoteca 1995, S. 18. Vgl. Claudius Armbruster: »Endloses, alltägliches Erzählen in der brasilianischen Telenovela«, in: Rundfunk und Fernsehen 3, 34. Jahrgang, 1986, S. 331-350, und Pellegrini et al., Literatura, cinema e televisão. Vgl. Nogueira Diniz, Literatura e Cinema, S. 18. Dazu wird beispielsweise auf den Namen eines bekannten Autors oder einer anderen Persönlichkeit des kulturellen oder öffentlichen Lebens rekurriert, um in kurzer Zeit eine hohe Quote zu garantieren. Vgl. zum Beispiel die mini-série zum Leben von Juscelino Kubitschek (Präsident Brasiliens von 1956 ² 1961 und Verantwortlicher für die Erbauung Brasílias): JK, Regie: Denis Carvalho, Rede Globo 2006. Embrafilme: Empresa Brasileira de Filmes S.A. (Brasilianische Filmproduktions- und Distributionsgesellschaft), die im Jahre 1969 durch die Militärregierung geschaffen und 1990 durch den damaligen Präsidenten Collor de Mello wieder aufgelöst wurde. Vgl. Telmo Estevinho: »Algumas informa-
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Teledramaturgie in Brasilien der staatlichen Förderung waren plötzlich keine hochwertigen Literaturverfilmungen mehr möglich.10 Da man aber ¿Klassiker¾ als bekanntes kulturelles Eigentum verfilmen wollte, wurde nach einer Finanzierung gesucht, die dieses Loch in der staatlichen Förderung zu schließen half. Die Lösung lag im Rückgriff auf ein anderes Medium: das Fernsehen. Das TV-Format der mini-séries bot eine hervorragende Plattform für Literaturverfilmungen. Neben der mini-série wurde ² und dies ist das Besondere ² gleichzeitig, basierend auf dem produzierten Material, eine Kinofassung mit konzipiert. Dieses Konzept der Partnerschaft zwischen Film und Fernsehen auf der Basis der mini-séries erwies sich als überaus erfolgreich und praktisch: Die Finanzierungskosten trug die Fernsehgesellschaft, die auch über die Erstverwertungsrechte verfügte; die mini-série diente zudem noch als Test und Werbeplattform für die spätere Kinofassung.11 Aufwändige Literaturverfilmungen waren auf diesem Weg über das Fernsehen wieder möglich geworden.
Medienästhetischer und kulturell-rezeptionsspezifischer Kontext Aus obigen Vorüberlegungen im Zusammenhang mit den mini-séries lassen sich drei Thesen ableiten, die in enger Korrelation zu den medienästhetischen, kulturellen und rezeptionsspezifischen Kontexten in Brasilien stehen: These 1: Die mini-série ermöglicht einen Formatwechsel, der ansonsten nicht möglich wäre bzw. unüblich ist: Das Format der Serie wird in direkter Form in das Format Spielfilm überführt. These 2: Die mini-série ist in Brasilien ein geeignetes Sub-Format für Literaturverfilmungen. These 3: Die mini-série führt die bereits für das brasilianische Theater festgestellte Tradition der Komödien fort.12 ções sobre a Embrafilme«, http://www.estevinho.prof.ufu.br/artigo%20 embrafilme.htm (Letzter Zugriff: 26.10.2009). 10 Erst im Jahre 2001 ist mit der ANCINE: Agência Nacional do Cinema (Nationale Filmförderungsbehörde) eine Fortsetzung staatlicher Filmförderung gegründet worden. Vgl. ANCINE: http://www.ancine.gov.br/cgi/cgilua.exe/ sys/start.htm? tpl=home (Letzter Zugriff: 26.10.2009). 11 Vgl. zur Partnerschaft Film/Fernsehen: »Guerra de Canudos«, http:// www.teledramaturgia.com.br/canudos.htm (Letzter Zugriff 24.10.2009). 12 Vgl. Kathrin Sartingen: Zwischen-Spiel: Lateinamerikanisches Theater zwischen Eigen- und Fremdkultur (am Beispiel Brasiliens), Wien: Praesens 2007.
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Kathrin Sartingen Zu These 1: Die mini-série ermöglicht einen Formatwechsel, der ansonsten nicht möglich bzw. unüblich ist. Das Format der Serie wird in direkter Form in das Format Spielfilm überführt. Im brasilianischen Kontext ist die mini-série ein folhetim televisivo,13 das heißt eine televisive Fortsetzungsgeschichte. Sie ist ein Subformat des Formats der Serien, ebenso wie auch die telenovelas, die die Medienlandschaft nach wie vor dominieren.14 Format wird hier verstanden als eine televisive Sendeform, die jeweils formale und inhaltliche Äquivalenzen aufweist, wobei innerhalb eines Formats zahlreiche Subformate auszumachen sind: Abb.1: Medium, Format, Sub-Format
Medium
Fernsehen
Information
Nachrichten
Dokumentation
Unterhaltung
Show
Serie
Talk
telenovela
mini-série
Format
Film
Kinofilm
TV-Film
Doku-Film
Sub-Format
Das Sub-Format der mini-séries ist demzufolge äquivalent zum SubFormat der telenovelas. In ihrem Fortsetzungscharakter, ihrer Kapiteleinteilung und ihrer Kohärenzsicherung über Cliffhanger,15 Spannungsbögen und Vorverweise ist die mini-série den allabendlichen Serien des brasilianischen Fernsehens sehr ähnlich, doch anders als diese sind Kapitelfolge und Plot von Anfang an festgelegt. Damit entsteht ein Serienformat, das eine Tele-Dramaturgie mit festem Handlungsverlauf, psychologischer Tiefenschärfe sowie vor-
13 Vgl. zum Begriff des folhetim televisivo Eva A. de Oliveira: »O Cotidiano na tela da TV: Emergência do insignificante na esfera educacional«, http://www.tiosam.com/?q=Folhetim_televisivo (Letzter Zugriff 26.10. 2009). 14 Vgl. Mauro Alencar: A Hollywood brasileira. Panorama da telenovela no Brasil, Rio de Janeiro: Senac 2002. 15 Vgl. Thomas Koebner (Hg.): Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart: Reclam 22007, S. 119.
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Teledramaturgie in Brasilien gezeichnetem Spannungsverlauf mit Peripetie und Auflösung besitzt. Im Gegensatz zur telenovela erzählt die mini-série eine geschlossene Geschichte, deren Handlung dem Regisseur und den Schauspielern von Anfang an bekannt ist, und nicht, wie in der telenovela, im Verlauf der Dreharbeiten fortgeschrieben wird. Zudem besteht die mini-série aus weit weniger Folgen und stellt ² wie erwähnt ² sehr häufig eine Literaturverfilmung dar.16 Von dieser Formatstruktur her entspricht sie also eher dem deutschen Mehrteiler und nicht der traditionellen deutschen Serie wie z.B. Derrick, Der Bulle von Tölz oder Alarm für Cobra 11.17 Letztere schildern voneinander unabhängige Episoden, lediglich verbunden durch einzelne rekurrente Personen oder Motive. Das Auffällige in Brasilien ist nun, dass dieses neue Subformat des ¿Mehrteilers¾ Verschiebungen in der medialen Verwertungskette und damit letztlich einen gesamten Formatwechsel hervorruft. Um diese Verschiebungen im Einzelnen nachvollziehen zu können, muss zunächst die traditionelle Verwertungskette in Erinnerung gebracht werden. Diese sieht nämlich in der Regel vor, zuerst einen Kinofilm zu produzieren, der später als solcher im Fernsehen ausgestrahlt wird. Bei der in den 1990er Jahren entstandenen Partnerschaft zwischen Fernsehen und Film in Brasilien drehte sich diese Verwertungskette aber um: Als erstes wurde ein Stoff für das Fernsehen produziert, eben in Form der mini-série, und zwar schon auf película (also im Breitwandformat des Kinofilms), oder direkt digital in der hochauflösenden Fernsehnorm HDTV gedreht.18 Zur Wahl der HDTV-Norm sagt der Regisseur Guel Arraes: »No Brasil, sem dúvida o HDTV abre uma nova perspectiva na ligação entre cinema e TV. As vantagens são inúmeras, sobretudo para um diretor de TV como eu: o equipamento é mais leve, não há problemas de gastar película, todo o processo é mais fácil e mais rápido. [...] No caso do HDTV não há esta transição, a integração entre TV e cinema é imediata [...].« 19
16 Ca. 50% aller mini-séries sind Literaturverfilmungen. 17 Mit einem entscheidenden Unterschied: Es gibt eben in Deutschland keine Mehrteiler, die ins Kino kommen. (Einzige Ausnahme: Raumschiff Orion; allerdings ist die Serie 1966 ausgestrahlt, der Film aber erst 2003 produziert worden). 18 HDTV = High Definition TV (hochauflösende Fernsehnorm). 19 GloboFilmes: »Caramuru ² A Invenção do Brasil«, http://globo filmes.globo.com/GloboFilmes/Imprensa/download/0,,1630-1,00.pdf (Letzter Zugriff 24.10.2009), S. 9; dt. »In Brasilien eröffnet HDTV zweifelsohne eine neue Perspektive in der Beziehung zwischen Kino und Fernsehen. Die Vorteile sind unzählig, insbesondere für einen Fernsehregisseur wie mich: Die Ausrüstung ist leichter, es gibt keine Probleme mit dem Materialverbrauch, der gesamte Prozess ist einfacher und schneller [...].«
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Kathrin Sartingen Mit diesem brasilianischen Finanzierungskonzept ist also eine andere Verwertungskette und damit Rezeptionskette entstanden: vom Fernsehen hin zum Kino zurück zum Fernsehen. Vor allem hat über den Umweg des Medienwechsels aber ein Formatwechsel stattgefunden, der von der Serie im Fernsehen (über den Kino-Film) hin zum (Kino-)Film im Fernsehen verläuft. Das Subformat der mini-série lässt also einen direkten Formatwechsel zu. Noch dazu vollzieht sich dieser Formatwechsel ohne größere Anpassungen an das neue Format. Vielmehr stellt der KinoFilm im Fernsehen letztlich nichts anderes als einen Extrakt des Subformats der mini-série dar, eine mögliche Lesart, eben eine ¿TeleVision¾ der Serie. Dieser direkte Formatwechsel verlangt keinen neuen Plot, keine neue Dramaturgie, keine neuen Personen oder Szenen; betroffen ist lediglich die Auswahl einzelner Szenen sowie deren bloßes Zusammenschneiden, also eine subjektive, autorbedingte Reduktion.20 Durch die mini-série wird also eine Durchlässigkeit der Formatgrenzen erreicht. Das Sub-Format der telenovela lässt einen solchen unmittelbaren Formatwechsel beispielsweise nicht zu; hier müssten erhebliche Adaptationen an das neue Format vorgenommen werden. In einem derartigen Fall hätten wir es aber nicht mehr mit einem Formatwechsel zu tun, vielmehr würde es sich um die Neuschaffung eines medialen Produkts mit Systemerwähnungen und intermedialen Referenzen des Ursprungsformats handeln. In dieser Art kennen wir zahlreiche Filme auf der Basis bekannter TV-Serien: Auf der Flucht, Mission Impossible, Star Trek, Sex in the city, Akte X. Auch Serien auf der Basis erfolgreicher Filme sind nicht unüblich: beispielsweise Stargate oder Indiana Jones. Doch in all diesen Beispielen liegen keine direkten Formatwechsel ohne medienästhetische Anschließbarkeiten vor. Der mini-série hingegen gelingt es, auf dem Weg über den Medienwechsel vom Fernsehen über das Kino zum Fernsehen ² und das ist die entscheidende Erkenntnis ² einen direkten Formatwechsel von der mini-série zum Film im Medium Fernsehen zu vollziehen. Zu These 2: Die mini-série ist in Brasilien ein geeignetes (Sub)Format für Literaturverfilmungen. Aufgrund bestehender Rezeptionsgewohnheiten und Sehdynamiken ² wie erwähnt ist die serielle Darbietungsform ein enger Anschluss an die beliebten telenovelas ist es über die mini-série möglich, bekannte Werke der eigenkulturellen Literatur dem brasilianischen Publikum nahezubringen.
20 Wobei Kritikerstimmen und Diskussionen im Internet zeigen, dass oftmals gerade einzelne ausgelassene Szenen für wichtig gehalten wurden. Vgl. Andrélia Amaral: »O encontro com a Compadecida«, http://www.ezine. jor.br/jrn7a/andrelia/index.htm (Letzter Zugriff 24.10.2009).
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Teledramaturgie in Brasilien Dadurch, dass gerade auf nationale, literarische Texte zurückgegriffen wird, entwickelt sich ein hohes identifikatorisches Potential, das es ermöglicht, auch einem breiten und an das Medium Fernsehen gewöhnten Nicht-Lesepublikum literarische Stoffe zu vermitteln.21 Hierbei wird zunehmend auf bekannte, im kulturellen Imaginarium verankerte Texte der Popularkultur rekurriert: »Nos últimos anos, as emissoras particulares vém implementando, mesmo que amiúde, uma linguagem que privilegia textos concebidos por autores que tém ligação direta com a cultura popular [...].« 22
Das televisive Format der mini-séries fungiert damit als Brücke zwischen der Literatur und dem brasilianischem Publikum, das kaum liest, aber viel fernsieht.23 Denn in der brasilianischen Medienlandschaft ist das Medium Fernsehen immer noch das Medium der Wahl, insbesondere das Format der Serien bzw. die Sub-Formate der telenovelas und der mini-séries.24 In enger Abhängigkeit also vom Erwartungshorizont der brasilianischen Rezipienten bietet die mini-série eine Art ¿kollektives Sehen¾: Ihr vormals literarisch medialisierter Stoff wird zum televisiven Alltagsstoff, von der Individuallektüre zum allgemeinen Gesprächsthema. Allein aufgrund dieser veränderten medialen Dispositive bietet die mini-série nicht nur einen Beitrag zur kollektiven Identitätsbildung, sondern zeichnet Möglichkeiten sozialer Praxis und individueller Handlungsfähigkeit vor, die durchaus gesamtgesellschaftliche Relevanz besitzen.
21 Vgl. Kathrin Sartingen: Brecht no teatro brasileiro, São Paulo: Hucitec 1998, S. 41. 22 Luciano Zarur: »Auto da Compadecida: Uma revolução silenciosa nos meios de comunicação de massa audiovisuais brasileiros«, in: Comum, vol. 7, Nr. 19, Rio de Janeiro 2002, S. 194-208, hier S. 195; dt.: »In den letzten Jahren führen die privaten Sender zunehmend eine (Film)sprache ein, die Texte von Autoren bevorzugt, die eine direkte Verbindung zur Popularkultur aufweisen.« 23 Ebd., S. 199; dt.: ª>«@ 'HU *URWHLO GHU )HUQVHK]XVFKDXHU ² der überwiegend daran gewöhnt ist, sich fast ausschließlich über den kleinen Bildschirm zu informieren und zu vergnügen«. 24 »Telenovelas drehen ist dort eine Industrie. Seit Jahrzehnten laufen in Brasilien Telenovelas mit großem Erfolg. Auf TV Globo gibt es die Sechs-, die Sieben- und die Acht-Uhr-Novela, der Sender zählt zu den größten der :HOW ,Q MHGHP 5HVWDXUDQW LP JDQ]HQ /DQG OlXIW GRUW HLQH *ORW]H >«@© schrieb die Süddeutsche Zeitung im März 2008. Vgl. Peter Wagner: »Wie Pierre der Bösewicht in einer brasilianischen Telenovela wurde«, http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/424070/2/1#texttitel (Letzter Zugriff 23.10.2009).
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Kathrin Sartingen Zu These 3: Die mini-série führt die bereits für das brasilianische Theater festgestellte Tradition der Komödien fort. Deren Merkmale, die sich durchgehend seit dem 16. Jahrhundert für das brasilianische Theater als maßgeblich konstatieren lassen,25 werden in den mini-séries erfolgreich weitergeführt. Es existiert ein paradigmatisches Muster an Themen, Figuren und sprachlichem Registern, das von den theatralen Komödien ins Fernsehen übernommen wird. Die gattungstypischen Charakteristika ² erheiternder Handlungsablauf mit glücklichem Ende, übertriebene Darstellung, schillernde Gesellschaftsbilder, Melodramatik sowie groteske Selbstironie - werden in Film und Fernsehen fortgeführt, ja sogar durch die neuen medialen Möglichkeiten stilisierend überhöht. Hier wie dort fühlen sich die Zuschauer zu den Figuren auf Bühne oder Bildschirm entweder hingezogen, weil sie sich in ihnen wieder erkennen, oder aber sie distanzieren sich, weil diese Schwächen aufweisen, die es zu vermeiden gilt. Aufgrund der unterschiedlichen medialen Kontexte und (Re-) Produktionsprozesse ² hier spielen sicherlich postproduktive Prozesse wie Schnitt und Montage eine wichtige Rolle, die dem neueren Medium des Films und damit den mini-séries im Vergleich zur Theaterinszenierung die Möglichkeit zur formalen Nachgestaltung geben, wie z.B. über Zusammenfassungen, Ausblicke, Cliffhanger oder andere Spannungsbögen ² ergeben sich natürlich medienspezifische Transformationen. So weist das Fernsehformat in seinem Rückgriff auf die Folie der Komödien eine eigene Dramaturgie, eine eigene Struktur und Figurenkonstellation auf, die jedoch in der intermedialen Referenzierung ihre Hypogattung durchscheinen lassen. Die Dramaturgie der Komödie, die in ihrem Rückgriff auf eigenkulturelle Mythen und Legenden stets enge Anschließbarkeiten an die brasilianische Popularkultur suchte,26 findet in den miniséries ihre ² überzeichnete ² Übertragung ins Fernsehen. Die Analyse des Beispieltextes O Auto da Compadecida wird das im Folgenden noch zeigen.
25 Vgl. Sartingen, Zwischen-Spiel: Lateinamerikanisches Theater zwischen Eigen- und Fremdkultur. 26 Vgl. Sabine Möller-Zeidler: Sozialkritisches Volkstheater in Brasilien in den siebziger Jahren. Eine Untersuchung unabhängiger Theaterarbeit in einer Phase der politischen Repression (Diss.), Berlin 1986.
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Teledramaturgie in Brasilien
Die mini-série in Brasilien Insgesamt gibt es das Format der mini-série erst seit 1982, als die erste mini-série mit dem nationalen Thema Lampião e Maria Bonita gedreht wurde.27 Bis heute sind über 70 mini-séries gedreht worden, mit zwischen drei und 30 Folgen, häufig Literaturverfilmungen, z.B. Dona Flor e seus dois maridos28 oder Tenda dos milagres.29 Für unsere Überlegungen ist der Zeitraum der 1990er Jahre ausschlaggebend, weil sich in dem Vakuum nach Ende der Embrafilme und vor Ansetzen einer neuen Filmförderung im Jahre 2001 durch die staatliche ANCINE eine Partnerschaft zwischen Fernsehen und Kino entwickelte. Denn in dem entstandenen Finanzierungsloch begann die größte brasilianische Fernsehgesellschaft Rede Globo, miniséries von drei bis fünf Folgen zu produzieren, deren Material es erlaubte, direkt im Anschluss einen Literaturfilm im Kino zu lancieren. Über das Vehikel der mini-série wurde diese Partnerschaft von Fernsehen und Kino sehr erfolgreich. Nach Guerra de Canudos30 von 1997 war O Auto da Compadecida31 die zweite Produktion aus dieser Zusammenarbeit. Bis heute gilt O Auto da Compadecida als die erfolgreichste mini-série von Rede Globo überhaupt.32 Diese Partnerschaft zwischen Film und Fernsehen war ein gezieltes Projekt, in dem bewusst das Format der mini-série gewählt wurde, um Literatur zu verfilmen und zu verbreiten, und es kann sicherlich als eine der Wurzeln für das später erfolgreich aufgelegte projeto quadrante gesehen werden.33 Während das projeto quadrante sich jedoch auf 27 Lampião war gegen Ende des 19. Jahrhunderts einer der berühmtesten Anführer von verbrecherischen Banden Gesetzloser, die im Zuge von Armut und Dürre als cangaços Städte und Dörfer im Nordosten Brasiliens überfielen und plünderten. Maria Bonita wurde 1929 seine Gefährtin und damit die erste Frau, die einer solchen Bande angehörte. 1982 wurde die minisérie Lampião e Maria Bonita unter der Regie von Paulo Afonso Grisolli für den Fernsehsender Rede Globo TV gedreht. 28 Dona Flor und ihre zwei Ehemänner, Regie: Mauro Mendonça Filho, Rede Globo 1997. 29 Die Geheimnisse des Mulatten Pedro, Regie: Paulo Afonso Grisolli, Rede Globo 1985. 30 Der Krieg um Canudos, Regie: Sérgio Rezende, Morena Filmes 1997. 31 Regie: Guel Arraes, GloboFilmes 1999. 32 Weitere wichtige Produktionen im Rahmen dieser Partnerschaft waren Luna Caliente (Regie: Jorge Furtado, GloboFilmes 1999) und die ebenfalls sehr erfolgreiche mini-série Caramuru - A invenção do Brasil (Regie: Guel Arraes, GloboFilmes 2001). 33 Das projeto quadrante (Projekt Quadrant) ist ein Projekt zur Verfilmung brasilianischer literarischer Texte von Rede Globo, unter der Leitung und
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Kathrin Sartingen das Medium Fernsehen beschränkt, ist es gerade das Wechselspiel zwischen Medien und Formaten, das O Auto da Com-padecida als mini-série und Film seinen besonderen Reiz verleiht. Auch wenn sich die Wege von Film und Fernsehen in dieser Form seit der Rückkehr der staatlichen Filmförderung wieder getrennt haben, so zeigt gerade das projeto quadrante, dass sich die Auffassung, die mini-série sei für die filmische Adaptation literarischer Prätexte in Brasilien das adäquate Format, konsolidiert hat.
Umsetzung am Beispiel von O Auto da Compadecida O Auto da Compadecida geht auf das gleichnamige Theaterstück von Ariano Suassuna34 aus dem Jahre 1957 zurück, einen religiösen Einakter, der im Nordosten Brasiliens spielt. Der Untertitel Auto Sacramental ist den mittelalterlichen Kirchenspielen entliehen und stellt eine deutliche Anlehnung an Calderón de la Barca dar. Das Stück erinnert in der thematischen Anlage an die iberischen Marienmirakel aus dem Mittelalter, in der episodenhaften Gewitztheit an die Dramaturgie eines Gil Vicente. Die Umsetzung des religiösen Stoffes ² unter Verwendung zahlreicher traditioneller Farcen- und Legendenmotive ² in die dörfliche Welt des brasilianischen sertão mit seinen typischen Figuren, populären Mythen und folkloristischen Glaubensbekenntnissen lässt durchaus Anspielungen auf die Aktualität zu.35 Das Stück beginnt mit einer Version des anonymen Farcenstoffs vom Testament des Hundes. Der weltliche und geldgierige Bischof gestattet einem seiner Priester die lateinisch-katholische Beerdigung eines Hundes, aber erst, als ihm zu Ohren kommt, dass der Hund ein Testament hinterlassen hat, das dem Bischof eine hohe Geldsumme verheißt. In diesem Ränke- und Intrigenspiel überfallen plötzlich Räuber die Stadt und töten alle bis auf Chicó, den Geschichtenerzähler und Freund des eulenspiegelartigen Helden Regie von Luiz Fernando Carvalho. Ins Leben gerufen im Jahre 2007, dient es der Rückbesinnung auf die eigennationale (Popular-)Kultur und Literatur. Vgl. Globo: »Projeto Quadrante«, http://quadrante.globo.com/ (Letzter Zugriff 24.10.2009). 34 Wobei der Titel des Theaterstücks keinen Artikel aufweist (vgl. Ariano Suassuna: Auto da Compadecida, Rio de Janeiro: Agir 251990 [1957]). 35 Vgl. Kathrin Sartingen: »Gott und Teufel im Land der Compadecida ² Ariano Suassunas Verhältnis zur iberischen Kultur«, in: ABP. Zeitschrift zur portugiesischsprachigen Welt, Heft 1: »Portugal und Brasilien: Dialog und Diskussion der Kulturen, Literaturen und Medien«, hg. vom Zentrum Portugiesischsprachige Welt, Frankfurt a.M.: IKO Verlag für Interkulturelle Kommunikation 2005, S. 88-95, hier S. 89.
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Teledramaturgie in Brasilien João Grilo. Im letzten Teil müssen alle vor Jesus, hier als Schwarzer mit Namen Manuel,36 vor dem Letzten Gericht erscheinen. Der Teufel fungiert als Ankläger und erklärt den gesamten Klerus sowie die habgierigen Vertreter des Volkes wegen Scheinheiligkeit, Hochfahrenheit, Vorurteilen, Lügen und Selbstbereicherung für schuldig. Doch bevor es ihm gelingt, alle in die Hölle zu bringen, appelliert João an die Barmherzige Nossa Senhora da Compadecida. Maria erscheint und verteidigt die verlorenen Seelen, die zwar gesündigt, aber eben nur allzu menschlich gehandelt haben. Sie erwirkt für alle das Fegefeuer bis auf João, der auf Bewährung wieder ins Leben zurückgeschickt wird. Dieser João Grilo ist ein moderner pícaro-Held, ein typischer brasilianischer malandro, dessen ungewöhnliche Abenteuer den roten Handlungsfaden bilden.37 Mit origineller Bauernschläue und anekdotisch-witzigen Tricks will João Grilo lediglich ohne größere Komplikationen dem jeweiligen Augenblick möglichst gefahr- und schadlos entkommen. Eingeschrieben in die Tradition von Mário de Andrades Macunaíma,38 des herói sem nenhum caráter,39 erinnern seine kleinen Streiche in ihrer Mischung aus melodramatischen und costumbristischen Episoden immer wieder an das brasilianische Volkstheater oder auch die orale Erzähltradition der literatura de cordel, eine Fortsetzungs-Blättchen-Literatur aus dem Nordosten.40 In all diesen Rückgriffen auf die kleinen und großen Intertexte der brasilianischen Literatur und Kultur zeigt das Theaterstück ein hohes intertextuelles Potenzial. Dieses wird noch gesteigert durch das kontinuierliche Aufrufen des europäischen Literaturerbes ² beispielsweise Gil Vicente, Calderón de la Barca, die &RPPHGLD GHOO·-Arte, die literatura picaresca und natürlich der Don Quijote ² sowie des größten Prätextes, der Bibel, die alle zumindest als Narrateme, als transmediale Subtexte stets präsent
36 Hier eine Referenz auf den jüdisch-christlichen Gottvater Immanuel. 37 Der malandro ist eine typisch brasilianische Figur: ein Kleingauner, Ganove und Überlebenskünstler, der zahlreiche Fiktionalisierungen erfahren hat (vor allem in Sambatexten, Literatur und Film). 38 Macunaíma (1928) von Mário de Andrade ist eines der Hauptwerke des brasilianischen Modernismus, in dem mit der Geburt des Antihelden Macunaíma ein Gründungsmythos Brasiliens entworfen wird. 39 Macunaíma wird als »Held ohne Eigenschaften« beschrieben; so lautet auch der Untertitel des Romans (Mário de Andrade: Macunaíma ² o herói sem nenhum caráter, Belo Horizonte/Rio de Janeiro: Garnier 312000 [1928]). 40 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Auto da Compadecida und literatura de cordel Nilo Jerónimo Vieira: Auto da Compadecida ² Do livro para as telas do cinema (unveröffentlichte Diss.), São Paulo: Universidade de Taubaté 2006, S. 15; vgl. auch Möller-Zeidler, Sozialkritisches Volkstheater in Brasilien in den siebziger Jahren.
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Kathrin Sartingen sind. Dadurch ergibt sich ein insgesamt ludisch-ironisches, nahezu anthropophagisches Eintauchen in das iberisch-europäischuniversale Kulturerbe, all das in fröhlicher Vermengung mit brasilianischer Folklore. Sein gezieltes Einschreiben in die brasilianische Komödien-Tradition macht Auto da Compadecida, mit den Worten des Theaterkritikers Sábato Magaldi, zum »>«@ texto mais popular do moderno teatro brasileiro.«41 Im Jahre 1998 dreht Guel Arraes die mini-série O Auto da Compadecida. Um den Rahmenbedingungen des dramatischen Textes von Ariano Suassuna möglichst nahe zu kommen, werden die Drehorte in den armen Nordosten Brasiliens verlegt, und zwar in den sertão von Paraíba, eine dürre Steppenlandschaft, ganz in der Nähe von Taperoá, dem Originalschauplatz des Theaterstücks. Produziert von Rede Globo, ausgestrahlt vom fünften bis zum achten Januar 1999, also an vier Abenden in Folge,42 erreicht die mini-série mit ihren zahlreichen bekannten Darstellern aus Film, Fernsehen und Theater eine Einschaltquote von knapp 40% und übertrifft damit sogar die traditionell beliebteste novela das oito,43 und das trotz ihres Sendeplatzes um 22.30 Uhr. O Auto da Compadecida wird zur »[...] mini-série do maior sucesso da rede globo até hoje.«44 Aus dem vorhandenen Drehmaterial erstellt der Regisseur Guel Arraes einen Kinofilm, der im Herbst 2000 mit einer Laufzeit von ungefähr einer Stunde weniger in die brasilianischen Kinos kommt und dort mit über zwei Millionen Zuschauern zum erfolgreichsten brasilianischen Film des Jahres avanciert.45 Für den Film werden keine größeren Anpassungen vorgenommen. Ein Vergleich von Film und mini-série zeigt, dass Arraes lediglich einzelne Szenen herausgeschnitten hat. Die Erstaufführung dieses Kinofilms im Medium des Fernsehens erfolgt dann 2002 bei Rede Globo. Damit ist der oben formulierte Formatwechsel vollzogen. Dasselbe Material läuft in zwei unterschiedlichen Formaten im Fernsehen, und zwar in der oben beschriebenen, unüblichen Reihenfolge: erst als mini-série und dann als Film. Aus der vorliegenden 41 Sábato Magaldi: Panorama do teatro brasileiro, vol. 4, Rio de Janeiro: Ministério de Educação e Cultura/ Funarte/ Serviço Nacional de Teatro 2 1976, S. GW ª>«@ SRSXOlUVWH>Q@ 7H[W GHV PRGHUQHQ EUDVLOLDQLVFKHQ Theaters«. 42 Ihre Gesamtlaufzeit beträgt zwei Stunden und 40 Minuten, ausgestrahlt an vier Abenden zu je einer Stunde inklusive Werbeblöcken. 43 Die Novela das oito ist die telenovela um 20 Uhr, zur primetime. 44 Vieira, Auto da Compadecida ² Do livro para as telas do cinema, S. 15; dt.: ª>«@HUIROJVUHLFKVWH>Q@mini-série von Rede Globo bis heute«. 45 Vgl. Zarur, »Auto da Compadecida: Uma revolução silenciosa nos meios de comunicação de massa audiovisuais brasileiros«, S. 200.
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Teledramaturgie in Brasilien DVD ist leider nicht ersichtlich, wie die Szenen nach dem Schnitt wieder zusammenmontiert wurden, an welcher Stelle die einzelnen Folgen der mini-série enden, ob Cliffhanger, Zusammenfassungen, Ankündigungen oder Raffungen genutzt wurden. Lediglich an einer Stelle der DVD ist eine Art Ankündigung zu erkennen, die in der Filmversion fehlt.46 Als Einstieg in seine eigene Verfilmung wählt der Regisseur Arraes ebenfalls eine Filmvorführung ² es handelt sich um einen alten Film über ein Passionsspiel ² in der Dorfkirche.47 Das Medium Film, dessen er sich für seine Theateradaptation bedient, wird also direkt zu Beginn platziert. Quasi als Prolog wird der Film im Film sowohl visuell als auch verbal in Szene gesetzt. Diese intramediale mise-en-abyme endet damit, dass der Protagonist João Grilo symbolisch die Leinwand, auf der zuvor die dörfliche Filmvorführung stattfand, niederreißt und damit dem Medium Film zunächst eine Absage erteilt. Die darauf folgende Ankündigung der nächsten Sequenz stellt innerhalb der mini-série eine multimodale Hinführung zum eigentlichen Geschehen dar und dient zugleich als Verweis auf das Medium, das hier in Wirklichkeit referiert wird: das Theater. Das Kapitel beginnt, die Seite wird aufgeschlagen. Direkter kann der metatextuelle Dialog zwischen Verfilmung und Theaterstück nicht inszeniert sein. Bereits an diesem Eingangsbild wird die gesamte Poetik der mini-série deutlich: Die Verfilmung ist von Anfang an als mehrfach intertextuelles Spiel inszeniert. War die Aufrufung des filmischen Passionsspiels der erste Reflex auf die Zitathaftigkeit des gesamten Films, so bestätigt die gedruckte Ankündigung der Kapitelfolge wie eine Art Aktansage im Theater, dass Intermedialität hier Programm ist. Zugleich wird an dieser Textstelle der mini-série das Medium Bild in Form einer Druckgraphik visuell eingewoben, als geschickter Aufruf der literatura de cordel, der populären Fortsetzungs-Heftchenliteratur, deren Texte stets juxtamediale Verschränkungen mit Druckgraphiken sind.48
46 Vgl. Arraes, O Auto da Compadecida, Minuten 00:04:24. 47 Zur Bedeutung des Kinos in der Kirche vgl. Vieira, Auto da Compadecida ² Do livro para as telas do cinema, S. 30. 48 Zur Juxtamedialität von Bild und Text vgl. Wolfram Aichinger: »Text und Bild«, in: Diskurs ² Text ² Sprache. Eine methodenorientierte Einführung in die Sprachwissenschaft für Romanistinnen und Romanisten, hg. von Michael Metzeltin, Wien: Praesens 22006, S. 319-334, hier S. 326ff.
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Kathrin Sartingen Abb. 2: Kapitel-Ankündigung
Quelle: Arraes 2001: Minuten 00:04:24 Dem Zuschauer von O Auto da Compadecida wird also die Ästhetik der mini-série von Anbeginn an als Leben im Zitat vor Augen geführt: Er wird in ein dichtes Wechselspiel sowohl mit dem dramatischen Ausgangstext als auch mit den verschiedensten brasilianischen und europäischen Intertexten versetzt. Dabei gelingt es nicht nur, den dramatischen Prätext in ein anderes Medium zu überführen. Vielmehr wird dessen technische Multimedialität genutzt, um mit teledramaturgischen Einfällen und Grenzverletzungen eine ureigene, konzeptionell-ästhetische Intermedialität herbeizuführen. Vor allem wird immer wieder auf die Tradition des mündlichen Geschichtenerzählens hingewiesen, auf formelhafte Versatzstücke der Oratur, das kontinuierliche Eintauchen in die Legenden- und Mythenwelt der Popularkultur des brasilianischen Nordostens.49 Die Verfilmung arbeitet also mit den gleichen intertextuellen Verfahren, die wir bereits aus dem Theaterstück kennen. Doch verfügt sie über weit mehr Möglichkeiten: Hier können die multimedialen Referenzen und Verweise viel deutlicher und vielstimmiger hervortreten. Sie finden ihre Umsetzung nicht nur in verbalen und nonverbalen Systemerwähnungen, sondern werden in den unverbunden hineingeschnittenen Halluzinationen des pícaro-malandro Chicó zugleich verbal, visuell und performativ heraufbeschworen, eingeleitet durch berauschenden Rauch und Musik. Die animierten Versatzstücke, die Chicós mündliche Erzählungen illustrieren, sind eine liebevolle Rekurrenz auf das Scherenschnitt-Theater und damit letztlich ein weiteres metamediales Anzitieren des Ausgangsmediums Theater.
49 Vgl. Möller-Zeidler, Sozialkritisches Volkstheater in Brasilien in den siebziger Jahren.
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Teledramaturgie in Brasilien Abb. 3: Scherenschnitt-Theater im Film
Quelle: Arraes 2001: Minuten 00:41:42 Auch die Figur des Antihelden João Grilo ist in engem Dialog mit dem Theaterstück konzipiert. Auf dem Figurenkonzept des modernen pícaro-Antihelden basiert die gesamte Dramaturgie der Verfilmung. João Grilo steuert die Handlung, er führt in Ort, Zeit und Figuren ein, er ist derjenige, der dem Höhepunkt vor dem Jüngsten Gericht, einen Schritt vor dem Fegefeuer, gewitzt die dramatische Spitze nimmt, indem er sich über Gottes dunkle Hautfarbe lustig macht. Abb. 4: Der pícaro im Spiel zwischen Gott und Teufel
Quelle: Arraes 2001: Minuten 01:20:33 Aber nicht nur dramaturgisch, sondern auch rezeptionshistorisch gesehen ist João Grilo die entscheidende Figur: Als typischer 193
Kathrin Sartingen Vertreter des brasilianischen malandro ist er zugleich eine ideale Identifikationsfigur für das brasilianische Fernsehpublikum. Sein ständiges virar-se und dar um jeitinho steht sicherlich für die Lebenserfahrung vieler Zuschauer.50 Die Verfilmung visualisiert diesen malandro mit überzogen stereotypen Attributen: Seine Maskerade besteht aus auffallend schlechten Zähnen, überstaubigen Sandalen und zerrissenen Lumpen, all das sehr offensichtlich künstlich arrangiert und maßlos ¿theatralisch¾ inszeniert. Die zahlreichen Großaufnahmen und die häufig zentrale Kadrierung seines Gesichts bzw. seiner Figur lassen ihn dem Publikum geradezu ¿bühnenreif¾ nah kommen. Insgesamt reichert die mini-série den dramatischen Text mit »>«@ muito mais romantismo >«@« an:51 Wahrscheinlich benötigt das visuelle Medium der mini-série ein Mehr an Intrige und Gefühl; nicht zuletzt, um den Rezeptionshorizont der brasilianischen Zuschauer genau zu treffen. So zeigt sich die Tradition der Komödie oder auch des Melodramas wirkmächtiger und pointierter als in den literarischen Vorläufern: Intonation, Mimik, Gestik, Proxemik, ¿Theatralik¾, all dies wird in der medialen Transposition so überhöht stilisiert, wie man es meist nur aus den telenovelas kennt. Abb.5: Theatralik einer telenovela
Quelle: Arraes 2001: Minuten 00:30:18
50 Virar-se heißt sich durchschlagen; dar um jeitinho tricksen, etwas irgendwie hinbiegen. 51 ª>«@YLHOPHKU5RPDQWLN>«@© 9JOGD]XGDV,QWHUYLHZPLWGHP5HJLVVHXU (Arraes, O Auto da Compadecida, Extras).
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Teledramaturgie in Brasilien
Schlussfolgerungen Mit ihrer besonderen Teledramaturgie nehmen die mini-séries genau eine Zwischenposition zwischen der Alltags-telenovela und der schriftlich fixierten Literatur ein. Die mini-série von Guel Arraes hat den Geist der kulturellen und medialen Mischung aus intra- und intertextuellen Versatzstücken, literatura picaresca und literatura de cordel, europäischer Schrift-Literatur und mündlichen Legenden, nationaler Komödientradition und iberischem Theater aufgegriffen und dramaturgisch in ein Format gebracht, das sowohl ein brasilianisches Publikum findet als auch, über seine Doppelkonzeption für Film und Fernsehen, eine geeignete mediale Form der Literaturverfilmung darstellt. Aufgrund der Durchlässigkeit der Formatgrenzen im Zusammenhang mit dem Medienwechsel konnte die Literaturverfilmung auf einmal auf unterschiedliche, bislang getrennte Kommunikationsdispositive zurückgreifen. Gerade das grenzüberschreitende Wechselspiel zwischen Medien und Formaten verleiht O Auto da Compadecida als mini-série und Film seinen brasilianisch-hybriden Reiz und sorgt für die eingangs aufgerufene produktive Durchmischung innerhalb der visuellen Kunst: »A cultura contemporânea é sobretudo visual. [...] Na medida em que examiQDPRVSRQWRVGH¿miscigenação¾ de literatura, cinema e televisão, promovemos um estimulante diálogo intertextual.«52
Und so enden mini-série und Film intermedial-unrein eher wie die Performanz eines Conférenciers im Theater oder die Geschichte eines Geschichtenerzählers. Die Figuren inszenieren einen dreifachen Abgang, indem sie erstens aus dem filmischen Bild gehen, zweitens aus dem Theaterstück hinaus ins Leben laufen ² sie verlassen sozusagen die Bühne ² und drittens sich aus der mündlich erzählten Geschichte verabschieden; mit der für jede typische orale Erzählung formelhaften Wendung am Ende, hier aus dem Munde Chicós: »Não sei. Só sei que foi assim.«53
52 Pellegrini et al., Literatura, cinema e televisão, S. 15; dt.: »Die zeitgenössische Kultur ist vor allem visuell. In dem Maße, in dem wir Punkte der Å9HrPLVFKXQJ´ zwischen Literatur, Kino und Fernsehen untersuchen, führen wir den intertextuellen Dialog anregend-intertextuell fort.« 53 Arraes, O Auto da Compadecida, Minuten 02:36:23; dt.: »Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass es so war«.
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Kathrin Sartingen
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SPANIEN: FERNSEHFORMATE SCHREIBEN GESCHICHTE
Transición und demokratische Konsolidierung in Spanien 1974-1977: Die Rolle des spanischen Fernsehens (TVE) MANUEL PALACIO Der Begriff Transición bezeichnet einen historischen Brückenmoment in Spanien, der den Bogen von einem diktatorischen Regime zu einer offenen, freien Gesellschaft spannte und die Basis für bis heute gültige Übereinkünfte über Normen des sozialen Zusammenlebens im Land schuf. Unter Historikern gibt es unterschiedliche Lehrmeinungen über Beginn und Ende des Demokratisierungsprozesses: Die engste Definition reicht vom Tod Francisco Francos am 20. November 1975 bis zur Abhaltung der ersten freien Wahlen am 15. Juni 1977. Ein weiteres Verständnis der Transición setzt ihren Beginn bereits in den Jahren des Spätfranquismus an, vom Attentat gegen Admiral Carrero Blanco am 20. Dezember 1973 bis zur Eingliederung Spaniens in die Europäische Union am 1. Januar 1986. Die Transición gilt in der dominanten gesellschaftlichen Deutung als Phase der Versöhnung, während derer es dem Land gelang, trotz bestehender Diskrepanzen die Vergangenheit hinter sich zu lassen und die Basis für eine gemeinsame Zukunft zu definieren. Für diesen Kompromiss zwischen den Plänen der aus den Reihen der Franquisten hervorgegangenen Reformisten und den Forderungen der demokratischen Opposition wurde der Leitbegriff »ruptura pactada« geprägt: gemeinsam ausverhandelter Bruch. Die internationale Vorbildfunktion des spanischen Demokratisierungsprozesses und der Rolle König Juan Carlos· für lateinamerikanische und europäische Länder in ähnlichen Übergangsphasen wird in diesem Zusammenhang gerne betont: In Spanien sei es gelungen, das Land zu modernisieren und den Anschluss an Mitteleuropa zu vollziehen. In den vergangenen Jahren wurden aber auch kritische Stimmen laut, die monieren, dass der Pakt zwischen den Mehrheitsparteien nur um den Preis einer gesamtgesellschaftlichen Amnesie über die während des Franquismus begangenen Verbrechen möglich wurde. 201
Manuel Palacio Man kann zwar davon ausgehen, dass Prozesse der demokratischen Konsolidierung in der Regel auch in anderen Transitionsstaaten einen ähnlichen Verlauf nehmen, dennoch ist differenzierend einzuwenden, dass Spanien im Gegensatz zu vergleichbaren Ländern Ende der 1970er Jahre bereits auf dem Weg in eine Konsumgesellschaft war. Um 1980 bewegten sich die Wirtschaftskurven in vielversprechenden Bereichen, und das spanische Pro Kopf-Einkommen überstieg bei weitem das der Sowjetunion, anderer osteuropäischer Staaten oder das der Bürger Argentiniens, Portugals, Brasiliens oder Chiles. Auch das spanische Modell des öffentlich-rechtlichen Fernsehens unterschied sich damals von jenem der erwähnten Staaten, das Fernsehpublikum war bereits mit konsumfördernden Werbe- und Marketingpraktiken wie Fernsehspots, Werbejingles und Verkaufsslogans vertraut. In den 1970er Jahren teilen sich zwei öffentliche Sender das Monopol über den spanischen Fernsehmarkt: TVE 1 und TVE 2. Televisión Española ist mit Abstand das wichtigste Informationsund Unterhaltungsmedium der Spanier. Es erübrigt sich also beinahe, die tragende Rolle der beiden Sender im öffentlichen Leben des Landes sowie für den Sozialisationsprozess der spanischen Bevölkerung hervorzuheben. Damals erreichte TVE 1 90% der Bevölkerung. Da große Teile des Landes, darunter auch einige Provinzhauptstädte wie Cádiz, Málaga, Granada, Las Palmas, Santa Cruz de Tenerife, Salamanca, Badajoz oder Girona TVE 2 nicht empfangen konnten, gelangte der zweite Kanal mit einer Reichweite von 50% etwas ins Hintertreffen. Zu dieser Zeit gab es in Spanien rund acht Millionen Fernsehgeräte, darunter 10% Farbfernseher. Insgesamt sahen täglich etwa zwanzig Millionen Spanier fern. In der Primetime saßen rund zwölf Millionen Bürger gleichzeitig vor den Bildschirmen.1 In der historischen Rückschau tritt deutlich zutage, dass das spanische Fernsehen mehr als nur Spiegel und Dokument des historischen Wandels ist. Vielmehr sollte man es als einen am Demokratisierungsprozess maßgeblich beteiligten Akteur verstehen. Dieser Artikel umfasst den Zeitraum ab Francos Tod im Herbst 1975 bis zur Erarbeitung der Verfassung Ende 1977 und zeichnet im Folgenden wesentliche Eckpunkte der Programmpolitik und Entwicklung des spanischen Fernsehens zur Zeit der Transición nach.
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Vgl. RTVE: Nuestro libro del año, RTVE: Madrid 1976.
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Transición und demokratische Konsolidierung in Spanien
Der Spätfranquismus: Herbst 1975 Als Franco starb, war TVE das größte Kommunikationsunternehmen des Landes. Seine rund viertausend Beschäftigten arbeiteten zum Großteil in der Madrider Niederlassung. TVE verfügte aber auch über andere Standorte: In Barcelona gab es mit über fünfhundert Angestellten ein sehr großes Regionalstudio, dazu kamen rund zweihundert Mitarbeiter auf den Kanarischen Inseln und mehr als fünfhundert in Sevilla und Bilbao. Rafael Ansón, der von 1976 bis 1977 den Generaldirektor von RTVE stellte, gab zu einem späteren Zeitpunkt in einem Interview an, die Hälfte seiner damaligen Bediensteten seien Regimegegner gewesen. Das klingt nach einer Verallgemeinerung. Als verbürgt gilt aber, dass während der letzten Jahre des Franquismus in den Journalismus- und Filmakademien des Landes eine Generation von um 1945 geborenen Journalisten und Medienfachleuten herangereift war, die sich stark demokratisch-liberalen Grundwerten verpflichtet fühlten. Im Zuge der sozialen Umwälzungen während der Phase des Spätfranquismus entstanden neue, wenn auch kleine Handlungsspielräume, die diese nach Kräften zu nutzen versuchten, um den Spaniern über das Medium Fernsehen neue Horizonte zu erschließen. Diese Beobachtung trifft insbesondere auf eine Reihe von Sendeformaten zu, die ab Ende der 1960er Jahre, also noch zu Lebzeiten Francos, produziert wurden. Deren Schöpfer vertraten offen ideologische Standpunkte, die den Glaubenssätzen des Regimes diametral entgegengesetzt waren. Welche Rolle der Fernsehbranche im generellen Demokratisierungs- und Modernisierungsprozess Spaniens in den Jahren der Transición zukommt, wurde bis dato nicht untersucht. Eine Studie darüber ist nach Ansicht des Autors aber nicht möglich, ohne folgende Sendeformate zu berücksichtigen: Último Grito (»Der letzte Schrei«; 1968-1970), Cuentos y leyendas (»Geschichten und Legenden«; 1972-1974), Los pintores del Prado (»Die Maler des Prado«; 1974), Kinosendungen wie CineClub oder die Komödien von Jaime de Armiñán und Adolfo Marsillach nährten den kulturellen Widerstand gegen den Franquismus und leisteten demokratische Basisarbeit. Indem die Zensur geschickt umgangen wurde, konnten ein Verbot der Sendung oder Eingriffe in die Programmgestaltung vermieden werden. Aber obwohl immer noch viele Projektideen von den Zensoren im Keim erstickt oder im Schneideraum verstümmelt wurden und so manche Filmrollen auch einfach verschwanden ² wie bei Basilio Martín Patinos Umsetzung von Rinconete y
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Manuel Palacio Cortadillo2 (1971) geschehen ², war es dennoch möglich, an der Zensur vorbei Sendungen zu produzieren, die damals wie heute durch ihre Gewagtheit überraschen. Einige dieser noch zu Francos Lebzeiten produzierten Sendungen genießen mittlerweile wegen ihrer fernsehhistorisch wegweisenden Qualität Kultstatus. Dazu zählen die unter der Regie von Juan Guerrero Zamora 1970 produzierte und nicht vor April 1975 ausgestrahlte Version von Fuenteovejuna, sowie La Cabina (1972) von Antonio Mercero, die bis heute einzige spanische Fernsehproduktion, die mit einem Emmy ausgezeichnet wurde. Nicht zu vergessen sind auch die Produktionen Juan Soldado und die Serie El Pícaro, beide 1973 bzw. 1974 unter der Regie von Fernando Fernán Gómez produziert.3 Der damalige Generaldirektor für Kinematographie, Carlos Gortari, meinte sogar, Juan Soldado sei für ihn ² abgesehen von El espíritu de la Colmena (»Der Geist des Bienenstocks«; Víctor Erice 1973) ² der beste spanische Film seit El verdugo (»Der Henker«; Luis García Berlanga 1963).4 Im traditionell einer größeren Kontrolle ausgesetzten Nachrichtensektor ist vor allem die Wochenschau Informe semanal relevant. Sie thematisierte im Zuge der Berichterstattung über internationale Ereignisse vom Regime tabuisierte Agenden wie Scheidung oder Abtreibung.5 General Francisco Franco erlag schließlich nach zwei Monaten der Ungewissheit am 20. November 1975 seinen Leiden. Seine Beisetzung wurde zum bis dato größten Medienereignis der spanischen Fernsehgeschichte. Und noch während ganz Spanien hoffnungsvoll und ängstlich der Berichterstattung über die Agonie des Diktators folgte, sendete TVE Programme, die explizit den ideologischen Grundsätzen des franquistischen Regimes widersprachen. Vom Studio in Barcelona produziert, wurde mit Silvia Ocampo der erste katalanischsprachige Fernsehfilm ausgestrahlt: Terenci Moix adaptierte Llorenç Villalongas Roman für das Fernsehen, Regie führte Sergi Schaff und in den Hauptrollen waren Rosa María Sardá, Montserrat Carulla und Enric Majó zu sehen. In Bilbao entstand Euskalerría, die erste Nachrichtensendung auf Baskisch, die schließlich am 12. Dezember 1975 ausgestrahlt wurde. 2 3
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Anm. d. Übers.: Novelle von Miguel de Cervantes in der Tradition des Pikaroromans (1613). Vgl. Javier López Izquierdo: »Juan Soldado«, in: Las cosas que hemos visto. 50 años y más de TVE, hg. von Manuel Palacio, Madrid: RTVE (Instituto) 2006, S. 50-51. Vgl. ebenda, S. 51. Z.B. Aborto (»Abtreibung«;14.4.1973), Divorcio en Italia (»Scheidung in Italien«; 11.5.1974), Aborto en Italia (»Abtreibung in Italien«; 26.4.1975), ¿Divorcio en España? (»Scheidung in Spanien?«; 6.11.1976 und 13.6.1976).
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Transición und demokratische Konsolidierung in Spanien Auch in den zentralen Studios des Prado del Rey in Madrid arbeitete man an subversiven Fernsehproduktionen. Im Herbst 1975 wurde unter der Regie von Antonio Mercero die dreizehnteilige Serie Este señor de negro (»Dieser Herr in Schwarz«) erstausgestrahlt, in der Hauptrolle José Luis López Vázquez. Unter dem Vorwand, ein Sittenbild des vergangenen und zeitgenössischen Spaniens zu zeichnen, entstand ein scharfes Plädoyer gegen die ewig gestrigen Haltungen der spanischen Reaktionäre und für eine demokratische Gesinnung im Land. In eine ähnliche Bresche schlägt die Kindersendung Cuentopos. Regie für die Sendung führte Miguel Picazo, Ideengeberin war die argentinischen Autorin Maria Elena Walsh. Der Cast von Cuentopos liest sich trotz der Existenz nicht weniger schwarzer Besetzungslisten innerhalb des Senders wie ein Who is who linksgerichteter Künstler des Augenblicks: Tina Sainz, Juan Diego, Pilar Bardem, Rosa León, Josep Maria Pou oder Mitglieder der Theatergruppe Tábano, die in Festnahmen rund um den Streik der Schauspieler im Februar 1975 verwickelt war. Cuentopos, ein Meisterwerk der Zweideutigkeiten und antiautoritären Diskurse, verschreibt sich klar dem Ziel, innerhalb der Bevölkerung ein Bewusstsein für Freiheitswerte zu schaffen. Insbesondere einige antimilitaristisch und antiimperialistisch orientierte Folgen der Sendung erregten Aufruhr. Nachdem Cuentopos aber im Kinderprogramm gezeigt wurde, was bedeutet zu wenig quotenträchtigen Sendezeiten, und die Monate Oktober und November 1975 von starken politischen Wirren gezeichnet waren, entging das Programm einem Verbot.
Reform oder Bruch: Die Mobilmachung des Jahres 1976 Nach dem Tod Francos entwickelte sich eine intensive Diskussion um die Frage nach der zukünftigen politischen Ausrichtung Spaniens. Es formierten sich verschiedene Blöcke: Die sogenannten Inmovilistas (»Die Unbeweglichen«) vertraten eine Fortführung des franquistischen Regimes, auch ohne Franco. Im Volksmund wurden sie DXFKDOV¿GHU%XQNHU¾ bezeichnet. Ihr Kopf war der damalige Regierungschef Carlos Arias Navarro. Weiter gab es den Block der Reformer, der sich aus verschiedenen Gruppierungen bildete, die später in der UCD (Unión de Centro Democrático) ihre neue politische Heimat fanden, und schließlich die antifranquistische demokratische Opposition, vertreten von den linken und nationalistischen Parteien, die einen totalen Bruch mit dem Franquismus und seiner Rechtsordnung anstrebten. Es gilt die Ansicht, dass die von den antifranquistischen Parteien initiierten Demonstrationen und Streiks der ersten Monate des Jahres 1976 schließlich in der von 205
Manuel Palacio Arias Navarro propagierten Strategie verebbten, die Transición solle zu einem franquistisches Spanien ohne Franco führen. Die Redaktionen von TVE arbeiteten nach 1977 und vor den ersten freien Wahlen ganz klar konform mit der Politik der Regierung. Wie auch in anderen Ländern in ähnlichen historischen Momenten zu beobachten war, war das staatliche spanische Fernsehen der Transitionszeit ein außerordentlich linientreues: In den Büros der führenden Köpfe am Prado del Rey war man einer Meinung mit der Regierung. Bis zur Ausrufung des Estatuto de la Radio y la Televisión 1980 war Televisión Española dem Ministerium für Information und Tourismus zugeordnet. Diese Abhängigkeit ging sogar soweit, dass sich das offizielle Büro der Generaldirektoren von RTVE in einem Gebäude des Ministeriums auf dem Paseo de la Castellana in Madrid befand. Während der Transición warf man TVE deshalb gerne vor, einer der großen Verhinderer eines Bruchs mit dem Regime zu sein; die Wochenzeitung Cambio 16 sprach von TVE als Seitenhieb auf die Einheitspartei Falange Española y de las JONS nur als »Televisión Española y de las JONS«. Tatsächlich aber haben viele Sendungen ihren Beitrag dazu geleistet, die Pläne Carlos Arias Navarros und der Inmovilistas zu durchkreuzen, die unfähig waren, den Freiheitsdrang vieler Spanier nachzuvollziehen. Der Generaldirektor von Radiodifusión y Televisión (RTVE) war bis Juli 1976 Gabriel Peña Aranda; Adolfo Martín Gamero, ein bekennender Reformist, stellte den Minister für Information und Tourismus. Die Ernennung beider resultierte aus einer Übereinkunft zwischen Manuel Fraga und José María de Areilza, die damit die Kontrolle über die Informationspolitik der Wendezeit sowie über die Imagebildung zu König und Monarchie behalten wollten. Gabriel Peña Aranda ist der erste Generaldirektor von RTVE, der sich der Öffentlichkeit als bekennender Monarchist präsentierte. Der damals Neununddreißigjährige kann dem schweigenden Block christdemokratisch-liberal Orientierter zugeordnet werden und verfügte über keinerlei Vorerfahrung in der Fernsehbranche, sondern war ausgebildeter Luftfahrtsingenieur, der vor seiner Bestellung in den Rüstungsfirmen des INI (Instituto Nacional de Industria) diverse Funktionen ausübte, zu denen er später auch wieder zurückkehren sollte. In den ersten Monaten des Jahres 1976 bestand das Hauptziel von TVE darin, den Spaniern in einer Zeit, in der eine Rückkehr zur Monarchie wenig demokratische Legitimation besaß, ein positives Image des Königs zu vermitteln. Aus diesem Grund wurde die Übertragung der Rede des Königs zu Weihnachten 1975 minutiös vorbereitet, und auch der Besuch Juan Carlos· in den USA im Juni
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Transición und demokratische Konsolidierung in Spanien 1976 war TVE ein großes Medienaufgebot wert.6 Unbedeutender, aber ebenfalls effizient waren Einflussnahmen auf die Inhalte bestimmter Sendeformate: In der ersten Ausstrahlung nach der Wiederaufnahme der legendären Sendung Un, dos, tres« responda otra vez (»(LQV]ZHLGUHL«nächste Antwort«) am 19. März 1975 wurden die Quizteilnehmer gleich zu Beginn der Sendung nach »Namen spanischer Könige wie Juan Carlos I« befragt. Im stark politischen Interventionen ausgesetzten Nachrichtensektor gestaltete es sich für demokratisch gesinnte Sendungsgestalter schwierig, ihren Zuschauern einen Eindruck des gesellschaftlichen Wandels in Spanien zu vermitteln: Über die großen Streiks und Demonstrationen, die in den ersten Monaten des Jahres 1976 in ganz Spanien stattfanden (Metro de Madrid, Bajo Llobregat), so wie über die Morde von Montejurra oder Vitoria7 wurde auf TVE nicht berichtet. Dennoch zeigen die sieben Monate Regierungszeit Arias Navarros klar, wie im Fernsehen genauso wie durch viele andere Aktivitäten seitens der Zivilgesellschaft versucht wurde, die von ihm vertretenen Pläne zu unterlaufen. Eine Analyse der Zeit lässt die Bemühungen der Mitarbeiter von TVE erkennen mitzugestalten, was bald das neue demokratische Spanien sein würde. In einem Land ohne offizielles Recht auf freie Meinungsäußerung wurden bis heute unvergessliche Sendungen der spanischen Fernsehgeschichte produziert: würdige Programme für die Geburtsstunde einer Demokratie. Die heute für ein intellektuelles, politisiertes Fernsehpublikum denkwürdigste all dieser Sendungen ist vermutlich La clave (»Der Schlüssel«), die auf TVE 2 am 28. Januar 1976 in schwarz-weiß erstausgestrahlt wurde. In der ersten Folge der Sendung wurde über Glücksspiel debattiert. Spielen war zu jener Zeit etwas, das
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TVE schickte 22 Personen auf eine transatlantische Rundfahrt und sendete Direktübertragungen einiger wichtiger Momente der Reise, wie die Ankunft der Königsfamilie im Weißen Haus oder der Empfang durch Präsident Gerald Ford. Im Zuge der Neuverhandlung der Kollektivverträge der Arbeiter entstand zu Beginn des Jahres 1976 eine Streikbewegung, in der arbeitsrechtliche Forderungen mit allgemeinen politischen Forderungen nach der Anerkennung der Unabhängigkeit von Gewerkschaften und anderer Bürgerrechte verschmolzen. Der Streik der Angestellten von Metro Madrid oder die Streiks in Arbeiterbezirken Barcelonas (Bajo Llobregat) waren besonders weitreichend. In Vitoria (Baskenland) eröffnete die Polizei das Feuer auf Streikende, mehrere Menschen starben. Auch in Montejurra (Navarra) kam es bei Ausschreitungen von Rechtsextremisten gegen eine friedliche Demonstration von Karlisten zu Todesopfern; vgl. Virginie Philippe: Transition et Télévision en Espagne. Le Rôle de la TVE (1973-1978), Paris: /·+DUPDWWDQ
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Manuel Palacio man im Untergrund praktizierte; die Legalisierung des Glücksspiels ist ein Symbol unter vielen für die Rückerlangung bürgerlicher Freiheiten. La clave ist ohne Zweifel eines der bedeutendsten Programmformate in der Geschichte von TVE und scheint in einer Umfrage über die besten Sendungen der Fernsehgeschichte als eine der meistgenannten auf.8 La clave dauerte etwa drei Stunden und wurde in einem Moment, als Direktübertragungen bei anderen europäischen Fernsehsendern noch nicht üblich waren, live übertragen. Das Sendekonzept bestand in der Ausstrahlung eines Spielfilms und einer anschließenden Diskussionsrunde, deren Inhalte sich leicht an denen des davor gezeigten Films anlehnten. La clave zeigt, dass während der Transición aus der Beschäftigung mit Kino eine bestimmte Form der Sozialisierung und kulturellen Selbstversicherung entstand. Das Sendekonzept nutzte gekonnt die starke Identifizierung dieser Generation mit dem spanischen Film. Cinephilie, ein fortschrittlicher Geist und die Propagierung eines demokratischen Kulturverständnisses durch kontrovers geführte Diskussionsrunden sind die Zutaten für den Erfolg der Sendung, die die Periode der Demokratisierung prägte.9 Am 11. April 1976 debattierten die Studiogäste über Los espías (»Spione«). Der militaristische ¿%XQNHU¾-Block empörte sich über die Einmischung von Zivilisten in militärische Themen und erwirkte ein Verbot des Programms durch Carlos Arias Navarro. Erst vierzehn Monate später, im Juli 1977, folgte die zweite Staffel, diesmal bereits in Farbe. Eine weitere Diskussionssendung, die in den Fernseherinnerungen der Spanier einen besonderen Platz einnimmt, ist A fondo (»Nachgefragt«), das von Joaquín Soler Serrano moderiert und am 16. Januar 1976 in Anwesenheit des Schriftstellers Camilo José Cela erstmals gezeigt wurde. Wegen des hohen Prestiges seiner Studiogäste genoss A fondo mit den Jahren einen ausgezeichneten Ruf.10 Schließlich ist Encuentros con las artes y las letras (»Treffpunkt Kunst und Kultur«) als der Prototyp einer Kultursendung und Vorreiter aller in den folgenden zwanzig Jahren im spanischen Fernsehen entwickelten Kultursendungen zu erwähnen: Die Erstausstrahlung erfolgte am 7. Mai 1976 durch TVE 2. Produziert wurde das Format von Carlos Vélez, einem kritischen Geist der ersten
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Vgl. Manuel Palacio: Historia de la televisión en España, Barcelona: Gedisa 2001, S. 14. 9 Vgl. Juan Carlos Ibañez: »La clave«, in: Las cosas que hemos visto, S. 51. 10 Obwohl viele Sendungen noch in Schwarzweiß gesendet wurden, existiert eine Kauf-DVD der Sendereihe, die von nahezu allen Universitätsbibliotheken angekauft wurde.
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Transición und demokratische Konsolidierung in Spanien Stunde.11 Er versammelte in der ersten Staffel der Sendung Intellektuelle unterschiedlichster Bereiche wie Daniel Sueiro, Paloma Chamorro, José Luis Lover, Andrés Trapiello, José Miguel Ullán, Miguel Bayón, Fernández Sánchez Dragó oder Miguel Bilbatua. Sein erklärtes Ziel war es, den kulturellen Nachholbedarf des Landes mit Kommentaren, Interviews und Diskussionen mit den wichtigsten Künstlern und Schriftstellern des Landes zu stillen. Das bedeutendste fiktionale Fernsehformat dieser Periode ist Paisaje con figuras (»Landschaftsstilleben mit Menschen«), eine Serie unter der Regie von Antonio Gala. Er ist vermutlich der spanische Intellektuelle, der am häufigsten für das Medium Fernsehen gearbeitet hat, und konzipierte hier ein Projekt, in dem in humoristischem, innovativen Ton historische Größen Spaniens zu Wort kommen, die zu ihrer Zeit keine rechte Würdigung erfuhren. Die Positionierung war ganz klar eine liberale, die Inszenierung der Biographien von Francisco de Pizarro, Juan Sebastián Elcano, Juan Martín el Empecinado, Francisco Quevedo, Goya oder Mariana Pineda aus einem franquistischen Geschichtsverständnis heraus zweifelsohne haarsträubend. Am 18. Februar 1976 erwirkte Präsident Carlos Arias Navarro mit der Begründung, eine derartige Geschichtsdarstellung würde die junge Monarchie unterminieren, ein Verbot der Sendung. Paisaje con figuras wurde eingestellt, kehrte aber als Spielball des Kräftemessens der unterschiedlichen Machtblöcke mit der Regierungsübernahme durch Adolfo Suárez wieder auf die Fernsehschirme zurück. 12
Suárez und die UCD (1976-1977) Am 4. Juli 1976 wurde Adolfo Suárez von König Juan Carlos als Ministerpräsident angelobt. Unter seiner Ägide nahm die Transición den Verlauf, der schließlich zur Ruptura pactada und in weiterer Folge zur Ausarbeitung der Verfassung führte. Am 24. Juli desselben Jahres wurde Rafael Ansón im Ministerrat zum Generaldirektor von RTVE gewählt. Mit der Führung dieser Schlüsselinstitution betraute Suárez einen Experten in Öffentlichkeitsarbeit,
11 Vgl. Jordi Gracia: Estado y cultura. El despertar de una conciencia crítica bajo el franquismo, 1940-1962, Madrid: Anagrama 2006. 12 Auch unter Suárez konnte eine der spanischen Freiheitskämpferin Mariana Pineda gewidmete Sendung nur unter Schwierigkeiten ausgestrahlt werden. Die Drehbücher der Serie wurden veröffentlicht, einige Folgen sind auf DVD im Handel erhältlich; vgl. Miguel Fernández Labayen: »Paisaje con figuras«, in: Las cosas que hemos visto, S. 72.
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Manuel Palacio Meinungsbildung und Propaganda. Unter anderem fungierte Ansón zuvor als Präsident des Instituto de la Opinión Pública, dem heutigen CIS (Centro de Investigaciones Sociológicas). Er stellte die gesamte Maschinerie von TVE in den Dienst der Reform, der Monarchie und des politischen Transitionsprozesses (und nebenbei auch in die Dienste Adolfo Suárez· und der Partei, der dieser ab 1977 vorstand). Nicht zufällig hatte Adolfo Suárez, der letzte noch nicht demokratisch gewählte Regierungspräsident, seine Karriere gerade beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen gestartet. Er war sich aus diesem Grund der Schlüsselposition dieses Mediums für die öffentliche Meinungsbildung sehr bewusst. Und so verkündete und übermittelte seine Regierung dem spanischen Volk, ohne je gewählt worden zu sein, also ohne demokratische Legitimität, ihre wichtigsten Entscheidungen über den Fernsehbildschirm. Diese an das Volk gerichteten Belangsendungen wurden mit wechselnden Trailern angekündigt: Habla el Presidente (»Es spricht der Präsident«), El Gobierno informa (»Die Regierung informiert«) oder Avance Informativo (»Nachrichtenüberblick«). Adolfo Suárez präsentierte etwa das Proyecto de Ley para la Reforma Política (»Gesetzentwurf zur politischen Reform«) am selben Tag im Fernsehen, als der Ministerrat beschloss, es an den Nationalrat zurückzuweisen, also noch bevor das Gesetz die franquistischen Cortes erreichte (am 10. September 1976). Am 17. Dezember 1976 unterbrach Rodolfo Martín Villa, der Innenminister, die Ausstrahlung von Un, dos, tres«, um den Entführern von Antonio Oriol y Urquijo13 und der Bevölkerung mitzuteilen, dass man auf die Forderungen der Terroristen nicht eingehen würde. Ein weiteres Beispiel für die Instrumentalisierung des Fernsehens durch die Regierung bietet der Auftritt des Vizepräsidenten Manuel Gutiérrez Mellado am 15. Juni 1977, Vorabend der ersten freien Wahlen. In seine Generalsuniform gekleidet und mit einem Foto des Königs im Bildhintergrund appellierte er an das spanische Volk, sich in »Gelassenheit und Vertrauen« zu üben. Wenn nun Adolfo Suárez einen Ideen- und Bilderverkäufer mit der Leitung von TVE beauftragt hatte, darf es nicht überraschen, dass jedes Projekt der Reformisten von TVE mit Publicitymaßnahmen begleitet wurde. Beispielhaft für diese Vorgehensweise ist die Kampagne um das Referendum über die Ley de la Reforma Política. Noch bevor das Gesetz von den Cortes verabschiedet werden konnte, kontaktierte die Regierung eine Reihe von Werbeagenturen ² ein Zeichen dafür, wie sicher man sich über den Aus13 Anm. der Übers.: Anwalt und Politiker, der während Franquismus und Transición unterschiedlichste hohe politische Funktionen ausübte, zuletzt Presidente del Consejo de Estado (Präsident des Staatsrats;1973-1979). Er wurde am 11. November 1976 von linksextremen Terroristen entführt und zwei Monate später durch eine Polizeiaktion befreit.
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Transición und demokratische Konsolidierung in Spanien gang der Abstimmung war. Die Presse damals wie die Historiker heute übten und üben Kritik an dieser Vereinnahmung von TVE. Die demokratische Opposition hatte keinerlei Zugang zu den Fernsehdebatten, die den Gesetzesbeschluss begleiteten, und auch sonst wurde ihr keine Möglichkeit geboten, ihre Ansichten darzulegen. Natürlich war Spanien im Jahr 1976 auch noch kein nach Regeln der Demokratie funktionierendes Land. Für die reformistische Administration unter Suárez bestand kein Zweifel daran, dass der Gesetzesentwurf ähnlich einem Konsumprodukt an den Bürger gebracht werden musste. Repetitive Slogans dominierten die Medien: »Demokratie, ein guter Grund, um mit Ja zu stimmen«, »Freiheit, ein guter Grund, um mit Ja zu stimmen«, »6LFKHUKHLW« :RKOVWDQG« politische Mitbestimmung des 9RONHV« ein guter Grund, um mit Ja zu stimmen«. Die Werbekampagne verfolgte drei Ziele: den Inhalt des Gesetzes erklären, die Bürger zum Urnengang motivieren und drittens, sie zu einem positiven Votum bewegen. Die Vorgehensweise, politische Kommunikation mit den Mitteln der Werbung zu betreiben, wie sie hier unter Rafael Ansón für das Fernsehen etabliert wurde, beeinflusste und prägte den Stil der Kampagnen der politischen Parteien für die Wahlen 1977. In den ersten Monaten des Jahres 1977 musste die noch junge Regierungsform legitimiert werden, indem eine neue Rechtsordnung für politische Tätigkeiten, Parteien und Politiker geschaffen wurde, die den überholten, autoritätshörigen, bürokratischen Filz des Postfranquismus ablösen sollte. Die ersten Fernsehauftritte von politischen Führern wie Felipe González, Jordi Pujol oder Santiago Carillo wurden zu Ritualen eines demokratischen Wandels, die ganz Spanien gespannt vor den Fernsehern verfolgte. Den radikaleren linken Parteien gegenüber zeigte sich TVE weniger liberal. Auch über die Protestbewegung für eine Amnestie für politische Häftlinge, die sich im Mai 1977 im Baskenland und in Navarra formierte, wurde nur eingeschränkt berichtet. Besonders augenfällig ist die Inszenierung der Wahlen als Freudenfeier. Der berühmte Slogan »Fiesta de la Democracia« als Synonym für die Wahl, der noch heute von den Medien verwendet wird und der in anderen europäischen Länder unbekannt ist, wird verständlicher, beobachtet man die an Wahlabenden übliche Programmpolitik des Senders: Meist stehen Varietéprogramme auf dem Spielplan, Prototypen einer damals noch unüblichen Spektakelund Entertainmentkultur. Am 15. Juni 1977, dem Tag der ersten freien Wahlen in Spanien seit 1936, zeigte TVE zur Verkürzung der Wartezeit auf die ersten Auszählungen eine Folge von Esta noche fiesta (»Heute Abend wird gefeiert«). Diese Show, in der populäre
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Manuel Palacio Musiker wie Julio Iglesias, Isabel Pantoja, Manolo Escobar, Georgie Dann oder Karina auftraten, wurde sonst üblicherweise am Silvesterabend ausgestrahlt. Auch in der Nacht des Referendums über die Verfassung am 6. Dezember 1978 zeigte TVE ein Unterhaltungsformat nach dem anderen: von einem UEFA Championsleague-Spiel (Valencia gegen West Bromwich) über eine Sondersendung zu Silvie Vartan bis zur Ausstrahlung von Publikumsschlagern wie Charlie·s Angels oder Love Boat. Nach den Wahlen im zweiten Halbjahr 1977 zeichnete sich eine neue Verteilung des Stimmgewichts der Parteien ab. Diese fand sofort auch in der Programmgestaltung der beiden öffentlichen Fernsehsender ihren Niederschlag. Die ideologischen Gewichtungen verschoben sich. Da die Reformisten der UCD und die Linke sehr unterschiedliche Vorstellungen von Programmpolitik vertraten, teilten sie sich die Sendelandschaft auf: Die Reformisten und die Rechte zeichneten weiterhin verantwortlich für die charakteristischen Varietés und Shows, die der erste Kanal im Hauptabendprogramm ausstrahlte. Aus heutiger Sicht ist es etwas überraschend, dass es bis ins Jahr 1977 hinein geladenen Stars wie Lola Flores oder Andrés Pajares möglich war, ungestört und sanktionslos ihre sehr eigene Sicht über die Wahlen und die Demokratie zu verbreiten. Die Linke ihrerseits konzentrierte ihre Innovationen auf Kulturprogramme im zweiten Kanal; eine Hochphase der Fernsehproduktion setzte ein, die ein Jahrzehnt lang anhielt (in etwa bis zu La Edad de Oro (»Das goldene Zeitalter«) unter der Regie von Paloma Chamorro, 1983-1985). Besonders hervorzuheben ist etwa Popgrama (1977), »La revista de rock y rrollo«,14 wie der Headliner des Formats verhieß. Unkonventionelle Moderatoren führten der jungen Demokratie eine neue musikalische Aufgeschlossenheit vor. Ein spezielles Interesse der Linken galt auch Kinderprogrammformaten im Stile von Los Jueves Locos (»Verrückte Donnerstage«; Fernández Méndez Leite, Lolo Rico, 1977), das eine Reihe von progressiven Kindersendungen nach sich zog, bis hin zu La Bola de Cristal (»Die Kristallkugel«; Lolo Rico, 1984-1988). In den auf Film festgehaltenen und deshalb heute am leichtesten zugänglichen Programmformaten bemühte sich das Fernsehen der Transición, zu einem politischen Konsens zu finden, um gemeinsam am Demokratieverständnis der Spanier zu arbeiten. Insgesamt vermittelten diese Sendeformate den Bürgern noch un-
14 Wortspiel mit 5RFN Q· Roll: »Das Magazin für Rock und anderen Schmarren« (wobei des doppelte r ² korrekterweise schreibt man »rollo« ² als Ironiesignal zu deuten ist).
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Transición und demokratische Konsolidierung in Spanien gewohnte Werte wie Dialogbereitschaft und gegenseitigen Respekt und die Notwendigkeit einer Modernisierung des Landes. La señora García se confiesa (»Frau García beichtet«; 1976) von Adolfo Marsillach etwa, in der er selbst und Lucía Bosé mitwirken, richtet sich an das aus dem Franquismus entstandene, angepasste Bürgertum der spanischen Provinz, dem die Sendung die Vorteile des Umbruchs vermitteln sollte. Der Versuch, der Demokratie den passenden Mythos zu schaffen, in dem sie als logische Fortsetzung des Desarrollismo15 der 1960er Jahre inszeniert wird, führte zu La España de los Botejara (»Das Spanien der Botejaras«; 1977). Regie führte das enfant terrible des Franquismus, Alfredo Amestoy. La España de los Botejara ist eine höchst interessante Produktion im Grenzbereich von Dokumentarfilm und Fiktion, deren Soundtrack mit dem eingängigen Titelsong von Pablo Guerrero punkten konnte. Ab 1978 folgten schließlich die großen Serien, zu Beginn Adaptionen der Werke bekannter republikanischer Autoren wie Cañas y barro (Sumpffieber) und La Barraca (Die Scholle) von Vicente Blasco Ibañez oder La plaça del diamant (Auf der Plaça del Diamant) von Mercè Rodoreda. Sie können als gemeinsamer Wunsch seitens der Reformisten der UCD verstanden werden, allen Spaniern die Erinnerung an die Schrecken des Bürgerkriegs vor Augen zu führen und die Wichtigkeit von Werten wie Vergebung und Eintracht hervorzuheben. Curro Jiménez (1976-1978) ist eine Serie, die vor allem von linker Seite finanziert wurde. Erstausgestrahlt wurde sie am 22. Dezember 1976 unter Mitwirkung bekannter Künstler wie Mario Camus, Pilar Miró, Antonio Drove oder Joaquín und Rafael Romero Marchent. Die Sendung wurde als Abenteuerserie nach dem Vorbild europäischer Western konzipiert und basiert auf Legenden, die sich um die napoleonischen Kriege ranken. Historisch ist dieser Krieg einer der wenigen Momente, über deren Deutung bei Links und Rechts Einigkeit herrscht. Der große Erfolg der Serie und der abgeschlossene Charakter jeder Folge machte es möglich, verschiedene Regisseure zu engagieren. Sie machten wahres linkes politisches Kino, indem sie die Sympathien der Zuschauer auf die Bandoleros (»Banditen«) lenkten, die sich Folge für Folge gegen ungerechte Machthaber zur Wehr setzen und Leitwerte wie Freiheit und Solidarität verteidigen.
15 Phase der Industrialisierung und Modernisierung der spanischen Gesellschaft, die die Regierung ab 1963 durch verschiedene Entwicklungspläne voranzutreiben und zu steuern versuchte.
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Manuel Palacio
Der Wandel im spanischen Fernsehgeschmack Die Transición steht nicht zuletzt für gemeinsame Bemühungen der spanischen Bevölkerung um einen Wandel der sozialen Praktiken, die sich während des Franquismus etabliert hatten. Diese gesellschaftlichen Veränderungen wurden auf der Straße und im öffentlichen Raum erwirkt: nicht nur durch die breite Beteiligung der Bevölkerung an Demonstrationen oder ihre überwältigende Zustimmung zur spanischen Verfassung, sondern weil die Spanier in ihrem Alltag mit den hierarchischen und autoritären Normen der Diktatur brachen und einen in einer Demokratie üblichen Umgang miteinander zu pflegen begannen: die Argumente ¿GHV $QGHUHQ¾ anzuhören, Minderheiten zu respektieren oder für die Ausweitung ihrer Bürger- und Arbeitsrechte einzustehen. Schenkt man Theorien Glauben, die das Fernsehen als Spiegel jener Gesellschaft verstehen, für die es gemacht wird, sollte man genau beobachten, ob ab November 1975 ein Wandel im Fernsehgeschmack der Spanier feststellbar ist. Zwar ist es nicht unproblematisch, ausgehend von der Nachfrage des Publikums Schlüsse auf dessen Geschmack zu ziehen. Die Nachfrage ist immer auch in Beziehung zum bestehenden Angebot zu setzen. Dennoch ist die Wirkung der Programmgestaltung auf Sozialisierungsprozesse in einer Gesellschaft eine starke. Um nachzuvollziehen, wie sich der politische Wandel auf die Entwicklung der Publikumsvorlieben auswirkte, sind in der folgenden Tabelle die Sendungen aufgelistet, die laut Panel de Aceptación de Programas de TVE16 vom spanischen Publikum am besten bewertet wurden: Die populärsten Programme der Transición (1976-1978): TVE 117 1976 1. Heidi
2. Un, dos,
3. Vivir para
4. Little
5. El hombre
tres...
ver
House on the
y la tierra
Prairie Zeichentrick Quizshow
Talk Show
US-Serie
Bildungs-
9. Sandokan
10. Born Free US-Serie
-serie
fernsehen
6. Movin On
7. Shaft
8. El circo de
US-Serie
US-Serie
Kinder-
Itaslienische
sendung
Serie
TVE
16 Erhebung der Publikumsakzeptanz der TVE-Programmgestaltung: eine qualitative Erhebung des Publikumsgeschmacks, über die der Erfolg des ersten Kanals von TVE evaluiert wurde. 17 Auswertung: Manuel Palacio.
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Transición und demokratische Konsolidierung in Spanien 1977 1. Vivir para
2. El hombre
3. Un, dos
4. Little
5. Una città
ver
y la tierra
tres«
House on the
in fondo alla
Prairie
strada
US-Serie
Italienische
Talk Show
Bildungs-
Quizshow
fernsehen
Serie
6. El circo de 7. 625 líneas
8. Escuela de 9. Misterio
10. Curro
TVE
salud
Jiménez
Kinder-
Unterhaltung Bildungs-
US-Serie
sendung
fernsehen
1. El hombre 2. Cañas y
3. Escuela de 4. Captains
y la tierra
salud
Spanische Serie
1978 barro
5. Undersea-
and the Kings world de Jacques Cousteau
Bildungs-
Spanische
Bildungs-
fernsehen
Serie
fernsehen
6. Miguel
7. Sábado
8. 625 líneas
Strogoff
cine
US-Serie
Französischer Dokumentarfilm
9. Little
10. Man
House on the
About the
Prairie Italienische
Kinoformat
Unterhaltung US-Serie
Serie
House Britische Serie
Gemäß den Daten des Panel de Aceptación de Programas wurden 1976 jene Sendungen am besten bewertet, die, ganz nach Geschmack des volkstümelnden Franquismus, heiles Familienglück vermitteln: Heidi, El circo de TVE, Little House on the Prairie, Born Free. 1977 und 1978 verlieren genau diese Sendungen an Popularität. Die neuen Rankings führen Familienformate an, die mit einem starken Bildungsauftrag verbunden sind: Más vale prevenir (»Vorsorge ist besser«) gibt Tipps und Ratschläge zu einer großen Bandbreite an Gesundheitsthemen, El hombre y la tierra (»Mensch und Natur«) von Félix Rodríguez de la Fuente ist Vorreiter in der Bemühung um die Schaffung eines ökologischen Bewusstseins. Außerdem lässt sich ein signifikanter Wandel des Geschmacks weg von Studiounterhaltungsprogrammen hin zu aufwändig produzierten fiktionalen Fernsehserien feststellen, von denen sich einige wie Cañas y Barro und Man about the House an ein erwachsenes Publikum richten. Spanien und der Geschmack des spanischen Fernsehpublikums unterschieden sich immer weniger von den
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Manuel Palacio Vorlieben anderer europäischer Länder, der Franquismus rückte in immer weitere Ferne.18 Aus dem Spanischen von Hanna Hatzmann
Literatur Fundación Pablo Iglesias (Ausstellungskatalog): Tiempos de transición (1975-1982), Madrid: Editorial Pablo Iglesias 2007. Gallego, Ferran: El mito de la transición. La crisis del franquismo y los orígenes de la democracia (1973-1977), Barcelona: Crítica 2007. Gracia, Jordi: Estado y cultura. El despertar de una conciencia crítica bajo el franquismo, 1940-1962, Madrid: Anagrama 2006. Mari, Antoni/Risques, Manel/Vinyes, Ricard: En Transición, Barcelona: Centre de Cultura Contemporània de Barcelona. Dirección de Comunicación de la Diputación de Barcelona 2007. Palacio, Manuel (Hg.): Las cosas que hemos visto. 50 años y más de TVE, Madrid: RTVE (Instituto) 2006. Palacio, Manuel: Historia de la televisión en España, Barcelona: Gedisa 2001. Philippe, Virginie: Transition et Télévision en Espagne. Le Rôle de la TVE (1973-1978), Paris: /·+DUPDWWDQ 2007. RTVE: Nuestro libro del año, RTVE: Madrid 1976.
18 Diese Forschungsarbeit wurde im Rahmen des Projekts »Los medios audiovisuales en la Transición española (1975-1985): Las imágenes del cambio democrático« (»Audiovisuelle Medien während der spanischen Transición: Bilder des demokratischen Wandels«) durchgeführt.
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»Subastas para no dormir«:1 Die Game Show Un, dos, tres als Autorenfernsehen JÖRG TÜRSCHMANN
Der Produzent, Drehbuchautor, Moderator, Schauspieler und Regisseur Narciso Ibáñez Serrador schuf von 1972 bis 2004 eine Game Show, die laut einer aktuellen Internetseite »das am meisten vermisste und beliebteste Programm des spanischen Fernsehens« ist.2 Sie hieß 8Q GRV WUHV« UHVSRQGD RWUD YH], zu Deutsch »Eins, zwei drei... antworten Sie noch einmal«. Am 4. Dezember 1972 wurde eine Ausgabe zum Thema »El terror« ausgestrahlt ² seit dem Beginn der Show am 24. April 1972 nach 15 Folgen ohne Thema eine der ersten, die einen inhaltlichen Schwerpunkt setzte.3 Der Titel ist eine Anspielung auf Ibáñez Serradors Vorliebe für das Horrorgenre. Er produzierte von 1965 bis 1982 die Fernsehserie Historias para no dormir.4 Die Game Show-Folge »El terror« zeigt vor ihrem zweiten Teil eine Abwandlung der Vorspannanimation der Serie, die eine 1 2
3
4
Wörtlich: »Auktionen zum Nicht Schlafen«; besser: »Versteigerungen, die den Schlaf rauben«. Francisco López Cámara: »Un, dos, tres... responda otra vez«, http://www.undostres.org [Stand: 05.03.2010]: »El programa más añorado y querido de la televisión española.« Vgl. http://es.wikipedia.org/wiki/Un_dos_tres [Stand: 10.03.2010]. Ibáñez Serrador selbst spricht von acht Folgen; vgl. Gloria Saló: ¿Qué es lo del formato? Cómo nace y se desarolla un programa de televisión, Madrid: Gedisa 2007, S. 39. »El terror« ist auf der Archivseite von RTVE zu sehen; vgl. RTVE: »Estrenamos Un, dos, tres. Especial ¿(O terror¾© http:// www.rtve.es/rtve/20081030/estrenamos-dos-tres/186034.shtml [Stand: 06.03.2010]. Wörtlich: »Geschichten zum Nicht Schlafen«; besser: »Geschichten, die den Schlaf rauben«; vgl. Jörg Türschmann: »Historias para no dormir. Eine frühe spanische Fernsehserie«, in der Dokumentation der Tagung »Serielle Formen«, Universität Zürich, September 2009, hg. v. Robert Blanchet, Kristina Köhler, Tereza Smid und Julia Zutavern, die 2010 erscheint.
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Jörg Türschmann sich öffnende Tür im Gegenlicht darstellt: Statt »Historias para no dormir« heißt es »Subastas para no dormir«. Und statt dem Schöpfer Ibáñez Serrador wird der Moderator Kiko Ledgard genannt. Ankündigung des zweiten Teils von »El terror«
Diese Verschränkung von Serie und Game Show diente sicherlich dazu, die Serie dem Publikum ins Bewusstsein zu rufen. Zusätzlich ist Ibáñez Serrador selbst in der Show wie in der Serie zu sehen und zu hören. Die allseitige Präsenz seiner eigenen Person und seiner Produktionen kann als Autorenfernsehen interpretiert werden. Wie aus der Kombination verschiedener Formate damals eine innovative Sendung entstand, soll im Folgenden nachgezeichnet werden.
Fernsehen als Spiel Hinsichtlich seiner Weltbezüge steht das Spiel im Fernsehen zwischen den Sendungen, die ihre Beziehung zur Wirklichkeit unter Beweis stellen, und denen, die das immanente Gefüge eines fiktionalen Universums erzeugen.5 Insofern der Zuschauer ständig überprüft, mit welchem dieser drei Modi er es zu tun hat, kann ein und dieselbe Sendung die ganze Breite einer Ontologie des Fernsehens aufweisen. Es findet laut dieser Theorie keine Verschmelzung statt, sondern eine Folge wechselnder Modi, die jeweils ein neues Versprechen der Bezugnahme bergen. Eine Sendung, die die verschiedenen Weltbezüge durchspielt, ist mit gutem Recht »OmnibusSendung« genannt worden.6 Sie hat den Charakter eines eigenen Programms.
5 6
Vgl. den Beitrag von François Jost in diesem Band. Francesco Casetti/Roger Odin: »Vom Paläo- zum Neo-Fernsehen. Ein semiopragmatischer Ansatz«, in: Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie ² Geschichte ² Analyse, hg. von Ralf Adelmann u.a., Konstanz: UVK 2001, S. 311-333, hier S. 322-323.
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Un, dos, tres als Autorenfernsehen Das Spiel im Fernsehen ist also unter Umständen nur ein Moment in einer Sendung. Das Spielen mit dem Fernsehen ist aber für den Zuschauer sowohl Grundlage des Umgangs mit jeder Sendung als auch Grundlage des allgemeinen Umgangs mit dem Fernsehen. Der Programmcharakter einer Sendung macht dem Zuschauer ein Angebot, das dessen spielerischen Umgang mit dem Fernsehen daher entgegenkommt. Trifft es zu, dass das Fernsehen vorrangig der Unterhaltung und der Entspannung dient, dann nimmt das Spiel eine zentrale Stellung ein und erklärt letztlich, warum die meisten Zuschauer Spielsendungen bevorzugen.7 Das Fernsehen ist ein »Spielmedium«.8 Beim Zuschauen zählt laut dieser Theorie anders als bei der Programmentwicklung nur der Unterhaltungswert. Die spielerische Tätigkeit bietet die meiste Unterhaltung. So kann der Zuschauer beim Zappen eine Programmstruktur nach eigenem Geschmack erzeugen. Diesen »programmorientierten Spielen« stehen »sendungsorientierte Spiele« gegenüber. Dazu gehören die Zuschaueransprache durch Moderatoren und Nachrichtensprecher, die spannungsgeladenen Spiele der Fernseherzählungen, die spielerische Wertediskussion in Gesprächssendungen und die »gestaltungsorientierten Spiele«, in denen Ort und Zeit des Geschehens sowie die Bild- und Klangästhetik attraktiv sind. Beide Orientierungen machen das »Fernsehen als Spiel« aus. Das »Fernsehen als Spiele-Vermittler« zeigt dagegen Sportveranstaltungen, Preisverleihungen, Hit-Paraden und Lotterieauslosungen. Das »Fernsehen als Spiele-Organisator« inszeniert schließlich eigene Spiele. Das Quiz und die Game Show sind fernsehspezifische Spiele. Das Quiz ist ein reines Wissensspiel. Die Game Show enthält dagegen auch physische, sportliche Wettbewerbe, Geschicklichkeits- oder Glücksspiele. Dementsprechend ist Un, dos, tres eine Game Show. Dass es sich um Fernsehen als Spiele-Organisator handelt, kann trotz der
7
8
Vgl. Walter Grassia: Game Show. Format, logica e mercato, Neapel: ScriptaWeb 2009, S. 47: »Oltre ad intervenire direttamente sul discorso televisivo o a simulare la propria participazione al gioco, i telespettatori prendono SDUWH DOO·DWWLYLWj OXGLFD DQFKH DWWUDYHUVR XQD IRUPD GL SDUWHFLSD]LRQH YLFariale, un agire per delega direttamente connesso con la pratica stessa della visione televisiva.« Dt.: »Außer direkt in den Fernsehdiskurs einzugreifen oder die eigene Teilnahme am Spiel zu simulieren, nehmen die Fernsehzuschauer an der spielerischen Aktivität auch teil durch eine Form von stellvertretender Teilnahme, durch ein Handeln im Auftrag, das direkt mit der Praxis selbst des televisuellen Sehens verbunden ist.« Die folgenden Überlegungen stützen sich auf Gerd Hallenberger: »Fernsehen, Unterhaltung und Spiel. Exploration eines Dreiecksverhältnisses«, in: Gerd Hallenberger/Hans-Friedrich Foltin: Unterhaltung durch Spiel. Quizsendungen und Game Shows des deutschen Fernsehens, Berlin: Wissenschaftsverlag Volker Spiess 1990, S. 20-73.
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Jörg Türschmann vielen disparaten Elemente behauptet werden, weil das Spiel hier zwar weder »ausschließlicher«, aber doch »wesentlicher Inhalt« ist. Besonders an Un, dos, tres ist nun, dass die Show einen Programmcharakter aufweist, der sie in drei völlig getrennte Teile, also fast drei Sendungen zerfallen lässt, deren alleinige Klammer ihr Autor Ibáñez Serrador ist.
Quiz, Wettkampf, Auktion Die drei Teile ergaben sich aus Ibáñez Serradors Überlegung, dass es nur drei Arten von Spielen gibt: das Wissensspiel, den sportlichen Wettbewerb und das Glücksspiel. Er entschied sich für eine Kombination aller drei und soll daher die Sendung Un, dos, tres genannt haben. Da er als Regisseur von Horrorfilmen bekannt war, wurde für die ersten 15 Wochen, in denen die Folgen ohne Themenbindung liefen, der Produzent und Regisseur Eugenio Pena als Schöpfer der Show in der Öffentlichkeit angegeben.9 Nachdem der Erfolg eingetreten war, gab sich Ibáñez Serrador zu erkennen. Die erste Themenfolge war dann dem Stierkampf gewidmet. Traditionell wurde die Show am späten Montagabend ausgestrahlt, durchaus zur Primetime, wenn man die spanischen Lebensgewohnheiten bedenkt, erst spät zu essen und am Wochenende Freunde und Familie zu treffen. Die drei Teile haben jeweils eine eigene Entstehungsgeschichte. Sie ist in Zusammenhang mit der ersten, noch in Schwarzweiß produzierten Staffel zu verstehen, die sich ab April 1972 über ein Jahr erstreckte. Im Lauf von über drei Jahrzehnten wurde vieles geändert, doch die Dreiteilung wurde beibehalten. Der erste Teil, ein reines Quiz, ging auf eine Show namens 8QGRV«1HVFDIp zurück, die Ibáñez Serrador zuvor in Argentinien produziert hatte. Der dritte Teil, die Auktion, war ein Beitrag von Kiko Ledgard, dem ersten Showmaster von Un, dos, tres. Er hatte in Peru die Show Haga un negocio con Kiko (»Machen Sie mit Kiko ein Geschäft«) präsentiert, ein Import aus den USA von /HW·V Make a Deal, dort selbst eine äußerst erfolgreiche Spielshow.10 Der mittlere Teil, die so genannte 9
Vgl. http://es.wikipedia.org/wiki/Un_dos_tres und http://en.wikipedia.org/ wiki/Un,_dos,_tres..._responda_otra_vez [Stand: 10.03.2010]. Auf der Archivseite von RTVE, wo auch »El terror« zu sehen ist, war früher ein Artikel der Zeitschrift TeleRadio zur ersten Folge vom 24. April 1972 zu lesen, in dem Eugenio Pena, der schon in den frühen 1960er Jahren aktiv war, als Erfinder der Sendung Una [sic] GRV WUHV« UHVSRQGD RWUD YH] vorgestellt wird. 10 Vgl. David Schwartz/Steve Ryan/Fred Wostbrock: TV Game Shows, 3. Auflage, New York: Facts on File 1999, S. 125-126.
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Un, dos, tres als Autorenfernsehen »eliminatoria«, also die Ausscheidungsrunde, diente der Verbindung vom ersten und dritten Teil. Hier ging es um Geschicklichkeit und Geschwindigkeit. Ein Thema wie »El terror« wurde durch die Spielideen, Kulissen und Kostüme in den letzten beiden Teilen inszeniert. Im ersten Teil der Un, dos, tres-Ausgabe »El terror«, der »tanda de preguntas«, der Fragerunde, treten vier Paare gegeneinander an, das Gewinnerpaar der vorherigen Woche und drei neu eingeladene. In 45 Sekunden müssen sie im Wechsel Begriffe eines Bedeutungsfelds nennen: Raubvögel, Länder am Atlantik, Berufsgruppen einer TV-Produktion, Nationalflaggen mit der Farbe Rot, Elemente des Wilden Westens, Teile einer Raumfahrtrakete, berühmte Griechen, Namen spanischer Provinzen ohne »a« am Ende, weibliche Figuren des Alten Testaments, Gründe für einen Autounfall, französische Herrscher. Wenn eine Antwort doppelt oder falsch gegeben wird, bricht die Zeit vorher ab. In der »eliminatoria«, der Ausscheidungsrunde, müssen die Paare im Wettlauf mit der Zeit dem Thema »El terror« entsprechend aus Pappmaché-Teilen Frankensteins Monster zusammensetzen. Hier gewinnt das Paar, das bereits in der Showausgabe zuvor Gesamtsieger gewesen ist und deshalb noch einmal teilnehmen darf. Die Verlierer bekommen zum Trost von Kiko Ledgard Geld geschenkt. Die »subasta«, die Auktion oder Versteigerung, ist kein eigentliches Spiel mehr, sondern eine Gelegenheit, beliebige Requisiten zum Thema »El terror« ins Bild zu setzen. Das Gewinnerpaar bekommt auf einem Auktionstisch einzelne verpackte Geschenke präsentiert, die es vor dem Auspacken ablehnen kann, um sich ein anderes geben zu lassen. Hier bietet der Moderator steigende Geldsummen, damit es sich für eines entscheidet. Entscheidet es sich gegen ein Geschenk, öffnet Ledgard daraufhin die Verpackung, um den Inhalt zu präsentieren. Es werden von Totengräbern, Hexen, einer Spinne und einer Mumie Geschenke, Gewinnzettel und Pakete herangetragen, in denen sich teilweise wiederum nur ein Zettel in Form einer Traueranzeige befindet, auf dem eine Gewinnsumme steht. Der Höhepunkt dieses Teils und der gesamten Folge besteht darin, dass das Gewinnerpaar in der letzten Geschenkrunde zwischen drei Türen auswählen muss, hinter denen sich jeweils Vampire, Geister und Hexen mit Gewinnen verbergen sollen. Schließlich öffnet sich die entscheidende Tür und gibt den Hauptgewinn preis: ein Auto. Die Teile haben also eine unterschiedliche Erlebnisqualität. Bieten das Quiz und die Ausscheidungsrunde Verlaufsspannung, so steht in der letzten Runde die Erwartung des Ergebnisses im Vordergrund. Auffällig ist die Steigerung der Schauwerte. Im Quiz sitzen die Kandidaten regungslos hinter einem Pult. In der Ausschei-
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Jörg Türschmann dungsrunde bewegen sie sich im Studio auf und ab. In der dritten Runde, die eigentlich trotz ihres Namens keine Auktion ist, gewinnen die Kulissen und Kostüme die Oberhand.
Die Protagonisten von »El terror« Alle Beteiligten agieren im selben Raum. Dies bedeutet, dass sich berühmte Künstler und unbekannte Personen auf Augenhöhe begegnen. Ein Unterschied besteht in der Un, dos, tres-Ausgabe »El terror« darin, dass die Kandidaten von unbekannten Personen gestellt werden, während die Prominenten in Musiknummern oder für ein Gespräch mit dem Moderator auftreten. Dann gibt es noch die zahlreichen Helfer, die Ledgard zur Seite stehen und ihre Bekanntheit ausschließlich ihrer Rolle in der Show verdanken. Das Publikum ist im Studio ein weiterer Protagonist. Schließlich ist Ibáñez Serrador selbst präsent, auf den hier nach einer Kurzbiographie erst am Schluss eingegangen werden soll. Die Kandidatenpaare vertreten scheinbar zufällig verschiedene spanische Regionen, denn eines ist aus Badajoz, zwei aus Madrid und eines aus Barcelona. Letzteres wird auf Katalanisch begrüßt, was angesichts der repressiven Sprachpolitik des noch franquistischen Spaniens bemerkenswert ist. Alle Paare sind Ehepaare oder aber auch befreundet. Es ist also in dieser Zeit für ein unverheiratetes Paar in Spanien durchaus möglich, im Fernsehen aufzutreten. Die folgenden beiden Gruppen verdanken ihre Existenz einem Manichäismus, der sicherlich auf den Einfluss des Horrorgenres zurückgeführt werden darf, das Ibáñez Serrador so schätzte. Im Vorspann werden sie abstrakt als »parte positiva« und »parte negativa« bezeichnet. Für den negativen Teil griff Ibáñez Serrador auf Versatzstücke aus seinen früheren Historias de la frivolidad zurück. Daraus stammte die Figur des Don Cicuta (»Schierling«; freier: »Miesepeter«), dargestellt von Valentín Tornos. Der Fernsehproduzent Mikel Lejarza bewertet diese Figur als eine »intelligente Karikatur« des schwarzen konservativen Spaniens und als Ausdruck von Neid und Missgunst, wie sie auch in den letzten Jahren des Franquismus immer noch herrschten.11 Ibáñez Serrador nennt sie ein Ebenbild des Zensors.
11 Mikel Lejarza: »Semblanza sobre Narciso Ibáñez Serrador«, http://www.angelfire.com/emo/concurso123/2008/director/semblanz.htm [Stand: 05.03.2010]. »Tacañon« heißt »knauserig«; so wurden Don Cicutas Nachfolger genannt.
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Un, dos, tres als Autorenfernsehen Don Cicuta
Mit langem grauen Bart repräsentiert diese Mischung aus Greis, Zwerg und Zauberer das erstarrte System Spaniens im Spätfranquismus. Er stammt aus dem imaginären Dorf Tacañón del Todo, dessen Bewohner nach den Gewohnheiten des 19. Jahrhunderts lebten. Don Cicuta sieht aus wie ein Totengräber aus dem 19. Jahrhundert, begleitet wird er von den Figuren Remigio und Amaldo Cicutilla. Er wurde zu einer TV-Ikone der frühen 1970er Jahre und trat auch bei anderen Gelegenheiten und im Rahmen von Merchandising-Aktionen auf, konnte aber aus gesundheitlichen Gründen 1976 an der zweiten Staffel nicht mehr teilnehmen. Don Cicuta korrigierte die Kandidaten und freute sich über ihr Scheitern. Er stritt für die guten Sitten und war deshalb der Gegenspieler der attraktiven »azafatas«, Hostessen, die auch »secretarias« genannt wurden. Sie assistierten dem Moderator und besaßen zwei Markenzeichen: riesige Brillen und Miniröcke. Die freizügige Kleidung wurde Ibáñez Serrador vom Sender und der Zensur zunächst verboten, er konnte sie aber mit einer List durchsetzen. Der Moderator Kiko Ledgard war Peruaner und vierter Sohn des deutschen Honorarkonsuls in Lima.12 Als Sportler schwamm und boxte er erfolgreich in zahlreichen peruanischen Wettbewerben. Weil er bereits für eine Werbeagentur, die Coca Cola in Peru lancierte, gearbeitet hatte, wurde er gefragt, ob er für ein neues Waschmittel von Lever-Pacocha namens Seis eine Spielshow schreiben könne. Da sich niemand fand, der die Show präsentieren wollte, stand er zum ersten Mal vor einer Fernsehkamera. In den 1970er Jahren wurde das peruanische Fernsehen verstaatlicht. Ledgard ging nach Spanien und verkaufte an Ibáñez Serrador die Idee von Haga negocio con Kiko. Daneben trat er in anderen spanischen Shows auf 12 Folgendes nach Clipper Ledgard: »Kiko Ledgard«, http://reocities.com/ TelevisionCity/Network/6474/kiko/resumen.htm [Stand: 10.03.2010]
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Jörg Türschmann wie der berühmten Todo es posible el domingo (»Alles ist sonntags möglich«), die wiederum von Ibáñez Serrador in den Historias para no dormir zitiert wird. Ledgards Markenzeichen waren, dass er ² und das war trotz Schwarzweiß-Fernsehen bekannt ² bunte Socken und mehrere Armbanduhren gleichzeitig trug sowie regelmäßig aus seinem Jackett Geldscheine zog, um sie großzügig zu verteilen. Er moderierte die erste Staffel. Am Ende des dritten Teils der Ausgabe »El terror« geht er auf Abstand zu den Kandidaten. Denn er bietet ihnen wie bei einer Auktion bei einigen verpackten Geschenken immer mehr Geld, damit sie sich dafür entscheiden. Es kann sich beim Geschenk allerdings auch um eine Niete handeln, sodass sich Ledgard letztlich zwischen der positiven und der negativen Partei positioniert. Zu erwähnen ist, dass es in der Ausgabe »El terror« eine Darbietung gibt, die mit dem Wettbewerb nichts zu tun hat. Ein Theaterschauspieler entsteigt einem strahlend hellen, eher heiter geschmückten Sarg und rezitiert die Passage eines Stücks, das er zurzeit in einem Theater spielt, wie er anschließend erklärt. Der Autor des Stücks kommt dazu, und beide können so für ihre Arbeit im ungewohnten Rahmen einer Fernsehshow Werbung machen. Der hochkulturelle Anspruch, der die in gebundener Rede vorgetragene Rezitation vermittelt, wird durch die musikalische Begleitung eines Flamenco-Gitarristen sowie die Gegenwart der in prächtige andalusische Kleider mehr oder weniger gehüllten Hostessen abgeschwächt. Ein anderes Zwischenspiel gibt es schon vorher. Zwei Totengräber nehmen die Körpermaße des Siegerkandidatenpaares und kommen schließlich zur Belustigung aller mit einem Partnersarg zurück. Das Publikum ist im Quiz der Ausgabe »El terror« zu Beginn kaum im Bild, im zweiten und dritten Teil jedoch häufig. Im ersten Teil stehen Ledgard, die Kandidatenpaare und die Hostessen vor den Kulissen und scheinen sich zugleich an das Publikum im Studio und vor den Fernsehgeräten zu richten. In Bezug auf diese Anordnung kann der zweite Teil im Großen und Ganzen als ein Gegenschuss auf die Publikumstribüne verstanden werden. Die Kandidaten und der Moderator agieren fast ausschließlich vor den Studiobesuchern, so dass diese fast immer mit im Bild sind. Im dritten Teil kommen die verkleideten Mitwirkenden, also die Totengräber, Hexen und Prominenten dazu. Es findet nun eine Kombination der Schwerpunktperspektiven aus den ersten beiden Teilen statt. Die dem Publikum gegenüberliegende, aufwändige Kulisse, die den Hauptpreis verbirgt, und der Auktionstisch vor der Tribüne machen eine Schuss-Gegenschuss-Montage zwingend.
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Un, dos, tres als Autorenfernsehen Das Publikum reagiert in »El terror« zum Teil heftig. Besonders erstaunlich ist der Schrecken, den Horrorfiguren im Studio hervorrufen. Monster und Mumie
Als das leblose Frankensteinmonster des Siegerpaares in eine große Kiste für den Versand nach Deutschland gestellt worden ist, öffnet sich die Kiste wieder und das Monster wankt von dannen. Als Kiko Ledgard seinen Kandidaten wieder einmal eine Reihe von Preisen zur Auswahl auf dem Auktionstisch anbietet, steigt scheinbar unerwartet eine Mumie die Publikumstribüne herunter, um eine weitere Schachtel mit einem Preis abzugeben. Beide Auftritte werden von nicht fingierten Schreckensschreien der Zuschauer begleitet. Männer und Frauen verschiedener Altersgruppen und auch einige wenige Kinder erleben die Inszenierung mit ungebremster Emotion, was aus heutiger Sicht eine verloren gegangene Sensibilität dokumentiert.
Narciso (¿Chicho¾) Ibáñez Serrador Ibáñez Serradors Biographie soll hier nur als Vorgeschichte zu Un, dos, tres dargelegt werden. Es ist davon auszugehen, dass die zugänglichen Informationen Teil einer Selbstinszenierung sind.13 Ibáñez Serrador wurde 1935 in Uruguay geboren und begleitete schon als Kind seine Eltern bei ihrer Theaterarbeit durch Amerika. Er kam 1947 mit seiner Mutter nach Spanien, machte sein Abitur in Salamanca und begann mit 18 Jahren, das Mittelmeer und den Mittleren Orient zu bereisen. Er arbeitete als Pressefotograf und als Kellner in einem Nachtclub in Kairo. Nach seiner Rückkehr nach Spanien war er als Mechaniker und Elektriker tätig. Er begann 1951, als Schauspieler aufzutreten. In drei Jahren arbeitete er an 34 Stücken mit. Als Regisseur feierte er seinen Einstand mit dem 13 Vgl. http://es.wikipedia.org/wiki/Narciso_Ib%C3%A1%C3%B1ez_Serrador [Stand: 10.03.2010].
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Jörg Türschmann Stück El Zoo de Cristal (Die Glasmenagerie) von Tennessee Williams im Windsor-Theater von Barcelona. Ende der 1950er Jahre fing er an für das Fernsehen zu arbeiten. Es handelte sich in dieser Zeit um Sendungen, die man gemäß deutschsprachiger Terminologie als ¿Bildungsfernsehen¾ bezeichnen würde. Aufschlussreich sind die Titel: Los premios Nobel (»Die Nobelpreise«), España y su teatro (»Spanien und sein Theater«), in der die berühmte Schauspielerin Margarita Xirgu zum ersten Mal im Fernsehen auftrat, oder 1960 Obras Maestras del terror (»Meisterwerke des Schreckens«), die auf Klassiker der englischen Schauerromantik zurückgingen. Doch auch das Komödiantische war vertreten. An der preisgekrönten Theaterproduktion Aprobado en inocencia (etwa: »Unschuldsprüfung bestanden«) war er 1959 als Autor, Regisseur und Schauspieler beteiligt. Dieser Erfolg führte dazu, dass seine Komödien in Deutschland, Portugal, Israel, Belgien, Brasilien und einigen lateinamerikanischen Ländern aufgeführt wurden. Doch er bevorzugte das Fernsehen und kam gerade zur rechten Zeit, als es in Spanien einem breiteren Publikum zugänglich wurde. In den Pionierjahren von 1958 bis 1962 schrieb er Komödien, Filmdrehbücher und an die 80 Drehbücher. Er reiste durch die ganze Welt, vor allem Afrika und Asien, lebt längere Zeit in Hong Kong, wo er als Korrespondent für die BBC arbeitete. Er kam über China nach Saigon, wo er den Beginn des Vietnamkrieges erlebte. Schließlich verbrachte er in Nepal eine Zeit lang bei den Mönchen des Dalai Lama. Ibáñez Serrador wurde 1968 für einige Monate Auslandsprogrammdirektor von TVE. Er verzichtete jedoch nicht auf das Kreative. Er arbeitete für das Radio und schrieb Komödien unter dem Pseudonym Luis Peñafiel. Die Verfilmung der Obras Maestras del terror war 1962 für Ibáñez Serrador der Beginn seiner Karriere im Kino. Als Kinoregisseur drehte er 1969 La residencia mit Lilli Palmer in einer Rolle, 1976, also erst zwischen der ersten und zweiten Staffel von Un, dos tres, seinen zweiten Film ¿Quién puede matar a un niño? (»Wer kann ein Kind töten?«). Ibáñez Serradors viele Reisen und Aktivitäten können vielleicht Grund dafür sein, dass Un, dos, tres mit einer großen Zahl an Themen und Elementen so lange produziert werden konnte.
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Un, dos, tres als Autorenfernsehen
Merchandising und Politik Den größten finanziellen Coup landete Ibáñez Serrador durch Zufall. Das spanische Fernsehen war bei Un, dos, tres nicht am Merchandising interessiert. So konnte er allein alle Gewinne daraus einstreichen. Das Merchandising wirkte sich auf das Figureninventar der Show aus. Die Un, dos, tres-Ausgabe »El terror« zeigt einen Anfang davon, als nämlich im dritten Teil einer der Gewinne in einem Kürbis aus Pappmaché versteckt ist. Der Kürbis kehrte später gleich in mehreren Rollen wieder, ganz nach dem Muster von Gut und Böse: als verhasster »Calabaza« (»Kürbis«), als geschwätziger und freundlicher »Chollo« (»Glücksbringer«), als missgelaunter »Antichollo« und andere mehr. Außerdem gab es die dicke Ruperta, ebenfalls kürbisförmig, mit der Stimme von Ibáñez Serrador. Botilde war ein hässlicher alter Schuh, der den Verlierern negative Preise übergab.14 Eine ganz andere Einnahmequelle war Spielzeug. Schon in »El terror« wird ein Set mit Verkleidungsstücken an die Kandidaten verschenkt, mit denen man sich in Don Cicuta verwandeln kann. Bereits für die erste Staffel wurden Comics, Püppchen, Plakate, Schallplatten, Lernspiele, Wimpel, Schlüsselanhänger, Klebebildchen und T-Shirts verkauft.15 Bis heute hat sich diese Vermarktung beständig gehalten, wie ein Videospiel von 2008 zeigt. Alle diese Artikel sollten gute Laune verbreiten, waren also das genaue Gegenteil von Horror und Schrecken. Die Verkleidung als Don Cicuta mag dabei ein Versuch gewesen sein, das Beschwerliche im Leben spielerisch zu meistern. So ausdrücklich wie in keiner späteren Version forderte der Text des Titellieds zu Heiterkeit und Fröhlichkeit im Leben auf, wenn es etwa zu Beginn des Refrains heißt: »Nein, nein, nein, seien Sie kein Miesepeter, vertreiben Sie ihn aus Ihrem Leben, lachen ist am besten«.16 Mit der Aufforderung zum Konsum und dem Versprechen von Sorglosigkeit war die erste Staffel von Un, dos, tres der Höhepunkt einer frühen Phase der Game Shows in Spanien ab den 1960er Jahren. Diese Staffel wird heute allerdings auch als Teil einer Verblendungsstrategie gewertet, »darauf angelegt, aus dem entstehenden Konsum das offizielle Bild zu machen, das den unschönen Ursprung des Franquismus legiti-
14 Vgl. Francisco López Cámara: »Mascotas«, http://www.angelfire.com/ emo/concurso123/2008/mascotas/mascotas.html [Stand: 05.03.2010]. 15 Vgl. Franciso López Cámara: »Merchandising«, http://www.angelfire.com/ emo/concurso123/2008/merchandising/m70.html [5.3.2010]. 16 Francisco López Cámara: »Letras«, http://www.angelfire.com/emo/ concurso123/2008/letras/letrasy.html [Stand: 05.03.2010]: »No, No, No, no sea Usted cicuta/Apártele de la vida/reír es lo mejor.«
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Jörg Türschmann mieren und den herrschenden Autoritarismus verbergen konnte«.17 Die bekannte Streitfrage, ob das Unpolitische politisch ist, wird von dieser Kritik verneint. Doch selbst wenn es keine politische Unschuld gibt, legten die Konsumartikel, die in dieser Zeit noch häufig importiert werden mussten, vor allem Fernseher und Autos, eine Grundlage für die Annäherung der spanischen Alltagswirklichkeit an die westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften.18 Außerdem verkörperte eine Figur wie Don Cicuta nicht nur einen beliebigen Griesgram, sondern war eine Personifizierung spanischer Vergangenheit. Die Kandidaten schließlich bekamen es ganz offen mit Politik zu tun, so am 19. März 1975, also bereits einige Monate vor Francos Tod, als sie die Namen spanischer Herrscher nennen mussten. Aktuelles Vorbild aller Herrscher war Juan Carlos, der den legitimen Übergang vom Franquismus in die Demokratie repräsentieren sollte.19
Spektakel Ibáñez Serrador betont in einem Interview mehrfach, dass das Besondere an Un, dos, tres das Spektakel war.20 Er hält vor allem bei den späten Staffeln die Musikeinlagen für das Einzige von künstlerischem Wert. Die Schauwerte, die die Auftritte prominenter Künstler, vor allem Musiker, Tänzer und Komiker, aber auch die Kulissen zu Themen wie 1001 Nacht und Paris in der Belle Epoque garantierten, überzeugten auch ausländische Sendeanstalten und Fernsehproduzenten. Ibáñez Serrador hebt vor allem seine Freundschaft mit Joop van Ende hervor, der Un, dos, tres in Holland produzierte und dank der Verbindung mit einer landesweiten Lotterie rasch zu Reichtum kam. Dieses Geld war die Grundlage für das Medienimpe-
17 Enrique Bustamante: Radio y televisión en España. Historia de una asignatura pendiente de la democracia, Madrid: Gedisa 2008, S. 45: »>«@ empeñado en hacer del consumismo naciente la imagen oficial que podía legitimar el origen espurio del franquismo y camuflar el autoritarismo reinante.« 18 Vgl. Virginie Philippe: Transition et télévision en Espagne. Le rôle de la TVE 1973-1978, Paris: /·+DUPDWWDQ 2007, S. 59: »Utilisée par le franquisme pour dépolitiser la société, elle [TVE] offre parallèlement une fenêtre sur O·pWUDQJHU HW SHUPHW DX[ (VSDJQROV GH VDLVLU O·DPSOHXU GHV FKDQJHPHQWV qui bouleversent le pays.« Dt.: »Vom Franquismus gebraucht, um die Gesellschaft zu entpolitisieren, bietet es [das spanische Fernsehen] parallel ein Fenster zum Ausland und erlaubt den Spaniern, die Breite der Veränderungen zu begreifen, die das Land umwälzen.« 19 Vgl. den Beitrag von Manuel Palacio in diesem Band. 20 Vgl. Saló, ¿Qué es lo del formato?, S. 111-119.
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Un, dos, tres als Autorenfernsehen rium Endemol, das van Ende mit John de Mol schuf und deren berühmtestes Produkt Big Brother ist. Viele Länder adaptierten Un, dos, tres. Im deutschen Fernsehen trat der Holländer Rudi Carrell in den 1980er mit der Show Die verflixte Sieben auf. Ibáñez Serrador konnte bei diesen ausländischen Produktionen nicht immer seine Urheberrechte geltend machen. So musste er in Peru erleben, dass seine Idee ohne seine Beteiligung an den Einnahmen eins zu eins übernommen worden war. Wer auf Youtube einige der unzähligen Ausschnitte von Un, dos, tres anschaut, ist überrascht von der Opulenz der Studioausstattung. Diese Qualität war selbstverständlich nicht von Anfang an gegeben, sondern das Ergebnis jahrelanger Erfahrungen im Umgang mit dem Publikum. Die Komplexität des Aufbaus der Show ist mit der von :HWWHQGDVV« durchaus vergleichbar. Bereits die Un, dos, tres-Ausgabe »El terror« geizt nicht mit spektakulären Einlagen, sei es durch die Kulissen, die Spiele oder die Auftritte prominenter Künstler. Dennoch läuft nicht immer alles so glatt wie gewünscht. So müssen die Sekretärinnen im ersten Teil die Kandidaten der kommenden Woche auslosen. Sie benutzen dafür ein Gerät mit einer runden Trommel, die sich drehen lässt und in der sich nummerierte Kugeln befinden, die den Bewerbern zugeordnet sind. Die Panne geschieht, als eine der Kugeln aus diesem Behälter auf den Boden springt, sich die Hostess bücken und zwischen den Requisiten herumkriechen muss, um die abhanden gekommene Kugel wiederzufinden. Im dritten Teil kommt eine als Hexe verkleidete Assistentin zu Ledgard, um ihm ² warum auch immer ² in gebrochenem Englisch zu erklären, welchen Preis die Kandidaten bekommen. Dabei verspricht sie sich so sehr, dass Ledgard nur mit Mühe verstehen kann, worum es geht. Am Schluss liefert der Moderator selber den besten Beweis für den Live-Charakter der Show. Als sich die letzte Tür öffnen soll, um den Hauptgewinn preiszugeben, verrät er schon vorher, was sich dahinter verbirgt. Ihm ist anzusehen, dass er sich klar ist, den Überraschungseffekt verpatzt zu haben. Diese Pannen sind aber der Wirkung der Show nicht abträglich. Solange sie den Ablauf nicht unterbrechen, verstärken sie eher den Eindruck, dass die Verantwortlichen an ihre Grenzen gehen. Wie die Kandidaten zeigen die Spielemacher ein Engagement, das die Spannung steigert. Es handelt sich offensichtlich um unvorhergesehene Zwischenfälle. Sie passen aber gut zu den Auftritten der Mumie und von Frankensteins Monster, die beim Publikum für große Aufregung sorgen. Ledgard gibt sich beide Mal überrascht und dann amüsiert. Es findet ein rascher Wechsel von einer uneingeschränkten Beteiligung an der Situation zu einem wissenden Überblick statt.
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Jörg Türschmann Dieser Wandel an der Grenze zwischen kalkulierter Inszenierung und Zufall findet schon in den Miniröcken der Sekretärinnen seinen Ausdruck. Ibáñez Serrador erklärt im erwähnten Interview, dass die Kostüme vom Zensor zwar genehmigt worden waren, nachdem er ihm verdeutlicht hatte, dass solche Röcke tagtäglich auf der Gran Vía von Madrid zu sehen seien. Ibáñez Serrador ließ anschließend aber die Röcke noch mehr kürzen und brachte damit etwas auf den Bildschirm, was so nicht von der Zensur genehmigt worden war. Ob das nun eher der Wirklichkeit außerhalb des Studios entsprach oder nicht, sei dahingestellt. Jedenfalls stehen die Miniröcke für ein Wagnis, das gut zur gesamten Ausrichtung der Show passt. Die Bewegungen der Sekretärinnen wirken zum Teil sehr bedacht und vorsichtig, als ob sie befürchteten, die Kontrolle über ihre Kleidung zu verlieren und sich eine ungewollte Blöße zu geben. Es mag hier so gesehen noch an Professionalität mangeln.
Fingierte Autorschaft Kurz vor der Transición (1973-1982), dem Übergang Spaniens von der Diktatur zur Demokratie, stellte Ibáñez Serrador eine Medienpersönlichkeit dar, die nicht mit elitärem Dünkel, sondern mit augenzwinkernder Beiläufigkeit ihren Anspruch auf die Rolle des alleinigen Ideengebers erhob. Der Kommunist und Regisseur Eloy de la Iglesia formulierte 1978 die ideologische Kritik an der Vorstellung des Autors eines Kinofilms: »Ich bin gegen das Konzept des Autors, es dient nur dazu, die Idee davon zu aufrecht zu erhalten, was man ¿Kunst¾ nennt, was eine ideologische wie verächtliche Auffassung ist: Ich glaube, dass in diesem Konzept die ganze Unterdrückung durch die herrschenden Klassen steckt, indem man den beherrschten Klassen das sagt, einredet und erzählt, was man erzählen will und von dem man will, dass es diese Klassen denken und überQHKPHQ>«@,FKJODXEHGDVV es in einer freieren Gesellschaft weniger ¿Autoren¾ geben wird, weil der ¿Autor¾, der ¿Künstler¾, nichts anderes als ein repressives Subjekt ist.«21
21 Zit. n. Javier Herández Ruiz/Pablo Pérez Rubio: Voces en la niebla. El cine durante la Transición democrática (1973-1982), Barcelona: Paidos 2004, S. 72: »Yo estoy en contra del concepto de autor, sólo sirve para perpetuar XQD LGHD GH HVR TXH OODPDQ ¿DUWH¾, que es una concepción ideológica que desprecio: creo que en ese concepto está toda la opresión de las clases dominantes, diciendo, hablando, y contando a las clases dominadas lo que se quiere contar y lo que se quiere que esas clases piensen y asimilen. [...] &UHR TXH HQ XQD VRFLHGDG PiV OLEUH KDEUi PHQRV ¿DXWRUHV¾ SRUTXH HO ¿DuWRU¾HO¿DUWLVWD¾QRHVRWUDFRVDVLQRXQDJHQWHUHSUHVRU«
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Un, dos, tres als Autorenfernsehen Wird bei der Definition des Subjekts oder Autors vom Politischen, Elitären und Genialen abgesehen, ergibt sich mit Blick auf die Stellung der Game Show zwischen Fiktion und Dokumentation die Position des Subjekts einer »fingierten Wirklichkeitsaussage«.22 Käte Hamburger versteht Aussagen über die Wirklichkeit als Aussagen von etwas. Es gibt ein reales Subjekt, das von einem Objekt eine Aussage macht. Anders in der Fiktion: In der Er-Erzählung spielt ein reales Subjekt keine Rolle. Es gibt keine Subjekt-ObjektRelation wie bei der Wirklichkeitsaussage. Es gibt keinen Erzähler, sondern eine Erzählfunktion, die sich eben in der Abwesenheit eines realen Subjekts zeigt. Es wird nicht von etwas ausgesagt, sondern etwas wird ausgesagt, die Aussage ist seine Existenz. Dies gilt auch für die Figuren einer Er-Erzählung. Es wird hier gemäß Aristoteles· Begriff der Mimesis der Schein von Wirklichkeit erzeugt. Die Figuren und ihre Handlungen scheinen reales Leben zu sein, sie sind es aber nicht, sie treten jedoch als echtes Leben auf. Diese fiktive Wirklichkeit existiert unabhängig von einem realen Aussagesubjekt. Schließlich die Ich-Erzählung: Es handelt sich hierbei um eine »fingierte Wirklichkeitsaussage«. Ein fingiertes Aussagesubjekt täuscht den Anspruch auf objektive Wahrheit vor und erhebt ihn nicht wie das echte Aussagesubjekt der Wirklichkeitsaussage, aber täuscht auch nicht die Darlegung von Erlebniswirklichkeit vor, über die das echte Subjekt des lyrischen Ich etwas aussagt. Die IchErzählung ist von einer »Als Ob-Struktur« geprägt, die Fiktion dagegen von einer »Als-Struktur«. Fiktion ist reiner Schein des Lebens und Nicht-Wirklichkeit. Fingiertheit dagegen ist Täuschung, ein vorgetäuschter Wirklichkeitsbezug, »weil die Als Ob-Wirklichkeit nicht die Wirklichkeit ist, die sie vorgibt zu sein«.23 Entscheidend ist, dass nichts außerhalb der Perspektive des Ich existiert. Die Täuschung ist sichtbar oder unsichtbar, sie enthält aber in jedem Fall den der Wirklichkeitsaussage eigenen Anspruch auf einen Objektbezug. Hamburger begreift neben der Literatur auch den Spielfilm als Fiktion, als Scheinwirklichkeit, die besteht, weil sie aus sich selbst heraus existiert. Fotografie und Gemälde sind dagegen ein Als Ob. In Bezug auf unbewegte Abbildungen von historischen Personen ist niemals von fiktiven Figuren die Rede, bei der Darstellung von historischen Personen in Epik, Film und Drama schon. Es kann nur spekuliert werden, ob Hamburger bei Fotografie und Gemälde den
22 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Käte Hamburger: Logik der Dichtung, 3. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta 1977, S. 53-59, 111-117, 176186, 245-251, 258-268, insbesondere S. 54-55 und 262. 23 Hamburger, Logik der Dichtung, S. 55; Hervorhebung K.H.
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Jörg Türschmann Blick der abgebildeten Personen auf den Betrachter stillschweigend voraussetzt. Bei einem solchen Blick wäre in der Tat auch außerhalb des Spielfilms, etwa auf einem Plakat, die Abbildung eines Filmschauspielers, der in seinem Kostüm im Film eine fiktive Figur darstellt, ein Als Ob. Gleiches könnte trotz des Bewegtbildes für den Blick in die Kamera bei einer direkten Adressierung des Fernsehzuschauers angenommen werden und damit für Ibáñez Serradors eigenen Auftritt in »El terror«. Das fingierte Aussagesubjekt einer IchErzählung ist nun wie folgt vielleicht als Autor einer publikumswirksamen Aussage, wie sie eine Game Show darstellt, denkbar. Es besteht so unter Umständen bei Un, dos, tres die Möglichkeit, zunächst am historischen Einzelfall aufzuzeigen, wie die Game Show in einer Theorie des Autorsubjekts berücksichtigt werden kann.24
Der Autor von »El terror« Ibáñez Serrador kommt an vier Stellen in der Un, dos, tres-Ausgabe »El terror« vor. Er ist im mehrfachen Sinn des Wortes auf phantastische Weise präsent. Als zwischen Ledgard und Don Cicuta Uneinigkeit über die Lösung einer Quizfrage herrscht, ertönt Ibáñez Serradors Stimme im Studio und trifft eine Entscheidung. Don Cicuta versucht sich immer wieder über diese Obrigkeit lustig zu machen, erkennt aber die Autorität unbestritten an. Vor dem zweiten Teil wird ein Zwischenspiel außerhalb des Fernsehstudios gezeigt. Ibáñez Serrador befindet sich in freier Landschaft vor der offenen Motorhaube eines Autos, das anscheinend wegen einer Panne liegengeblieben ist. Er blickt in die Kamera und erklärt dem Fernsehzuschauer, dass er eine neue Leidenschaft habe. Er wolle deutlich machen, dass er sich nicht nur für Horror interessiere, wie man ihm immer unterstelle. Dann schließt er die Motorhaube und grüßt die Zuschauer zum Abschied. Die Kamera fährt zurück und gibt den Blick auf das Fahrzeug frei, das sich als ein Leichenwagen herausstellt, mit dem er davonfährt. 24 Für das Quiz wird dies allerdings bestritten; vgl. William Boddy: »The Quiz Show«, in: The Television Genre Book, hg. von Glen Creeber u. a., London: British Film Institute 2001, S. 79-81, hier S. 79-80: »As nearly authorless texts, the quiz show has frustated traditional auteurist and generic methods of analysis imported from literature and film studies.« ² Vgl. aber für die Rezeptionsästhetik der Game Show Lothar Mikos: Film- und Fernsehanalyse, Konstanz: UVK 2003, S. 117 und 172: Der doppelte situative Rahmen des Studios als afilmische Austragungsstätte des Spiels und als profilmisches Milieu der Kamerainszenierung sowie der Als Ob-Charakter der Face-to-Face-Situation durch den Blick in die Kamera bestätigen das Paradox, das der fingierten Wirklichkeitsaussage zugrunde liegt.
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Un, dos, tres als Autorenfernsehen Ibáñez Serrador im Zwischenspiel von »El terror«
Mit Blick auf Ibáñez Serradors Sorge, dass seine bisherigen Produktionen die Verbreitung seines Namens in Zusammenhang mit Un, dos, tres verbieten, wirkt dieses Zwischenspiel wie überhaupt das Thema »El terror« als Angriff im Sinn der besten Verteidigung. Drittens tritt in »El terror« Ibáñez Serradors Vater auf, Narciso Ibáñez Menta, ein häufiger Hauptdarsteller in den Historias para no dormir. Wie zufällig wählt Ledgard den ihm scheinbar Unbekannten unter den Studiogästen als Assistenten aus und bietet ihm schließlich Geld für seine Hilfe. Als Ibáñez Menta abgehen möchte, erinnert sich Ledgard daran, dass er Verwandten von Leuten, die an der Produktion beteiligt sind, keine Gage zahlen dürfe, womit Ibáñez Serradors Autorität ein weiteres Mal bestätigt wird. Im Vorspann, der sich schließlich auf die gesamte Show bezieht, werden Kameraleute und andere mit dem Satz vorgestellt: »Wenn etwas schiefgeht, sind die Verantwortlichen:«,25 worauf die Namen der Mitwirkenden folgen. Bevor Ibáñez Serradors Name erscheint, heißt es: »Und wenn alles schiefgeht, wird der Schuldige sein:«,26 worauf Ledgard mit dem eingeblendeten Namen von Ibáñez Serrador ins Bild kommt, während der Name des Moderators gleich zu Beginn nach dem Titel der Show genannt worden ist. Es sind also im Bild gleichzeitig Moderator und Spiritus rector präsent. Die Negativität der Ankündigung zeugt entweder von Koketterie oder tatsächlich von der Unsicherheit, ob die Risiken der Inszenierung zu bewältigen sein werden. Ibáñez Serrador scheint sich seinerseits bereits im Vorspann als Sündenbock zu sehen oder anzubieten.
25 »Si fallan cosas, los responsables son:«. 26 »Et si falla todo, el culpable será:«.
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Jörg Türschmann Ankündigung von Ibáñez Serrador in »El terror«
Durch das Bild hinter der Schrift scheint die negative Aussage zwar von Don Cicuta und seinen Gehilfen zu stammen. Dass Ibáñez Serrador aber offenlegen lässt, dass er der Schuldige sein könnte, kann als fingierte Opferbereitschaft oder Klage verstanden werden, die seine Autorschaft belegen soll: Er übernimmt bei Fehlern die volle Verantwortung oder wird die Verantwortung zugeschoben bekommen. Die Verbindung von Ledgard im Bild und Ibáñez Serrador in der Schrift weist deutlich auf den logischen Ort eines Fernsehmachers hin, der dank seiner umfassenden Mitwirkung der Autor einer fingierten Wirklichkeitsaussage genannt werden kann. Die irreführende Identifizierung macht Ledgard zum verlängerten Arm von Ibáñez Serrador, der sich als Autorsubjekt zwischen externer realer Person und interner Moderatorfigur platziert. Dies passt auch zur oben gezeigten Imitation der Ankündigung der Historias para no dormir. Wo sonst »Ibáñez Serrador« geschrieben steht, heißt es nun »Kiko Ledgard«. Die Ankündigung im Vorspann vor Ibáñez Serradors Namen und Ledgards Bild sind eine Erfindung der eigenen Rolle, die bei aller Täuschung mit einer realen Person zu tun haben soll. Dies alles passt schließlich gut zur Zwischenstellung, die Ibáñez Serrador und Ledgard zwischen Gut und Böse einnehmen, jener als Autor zwischen Amüsement und Horror, dieser als Geld bietender Losverkäufer von Gewinn oder Niete in der letzten Runde der Auktion. Die Stimme aus dem Jenseits erlaubt wiederum ein »akusmatisches Hören«, wenn sie wie im antiken griechischen Theater hinter einem Vorhang ertönt.27 Sie erscheint gottgleich, ist aber dennoch als die Stimme einer unsichtbaren Person im unmittelbar angrenzenden Studiobereich vorstellbar. Damit ist der Einfluss der dahinterstehenden Person noch nicht zu Ende. Denn später muss
27 9JO 5RJHU 2GLQ ª$ SURSRV G·XQ FRXSOH GH FRQFHSWV VRQ LQ YVVRQ RII© Linguistique et sémiologie 6 (1978), S. 93-125, hier S. 107-112.
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Un, dos, tres als Autorenfernsehen sich schließlich noch der eigene Vater den Anweisungen des Sohnes fügen, wobei jedermann weiß, dass es sich nur um eine fingierte Situation handelt. Die Fingiertheit prägt weite Teile der Un, dos, tres-Ausgabe »El terror«, was wohl nicht das Format der Game Show als solches definiert, aber den individuellen Umgang Ibáñez Serradors mit seiner Kreation belegt und seine Rolle als Pionier dieses Fernsehformats in Spanien bestätigt. Hamburger nennt als Beispiel des Als Ob das Wachsfigurenkabinett, wo etwas Nicht-Lebendiges als Lebendiges erscheinen soll.28 Als Frankensteins Monster und die Mumie sich durch das Studio bewegen, liegen solche Fälle vor. Frankensteins Monster ist außerdem wie auf einem Porträt ganz aus dem Zusammenhang der Erzählung gerissen, der es entstammt. Die Bewegungen der Figuren, laut Hamburger für das Fiktive des Spielfilms grundlegend, vollzieht hier jemand abseits der Mimesis, sodass die Illusion dokumentierter Lebendigkeit entsteht. Bewegung erzeugt im Film, im Fernsehen und in den dort wiedergegebenen, zirzensischen wie theatralischen Aufführungsmodi einen neuen Raum: »Der Raum wird durch Bewegung funktional erzeugt, die Kamera (wie der Merleau-Pontysche Körper) öffnet den Raum in der Bewegung und erzeugt bewegliche, unbestimmte Räume.«29 Bei Frankensteins Monster in Un, dos, tres ist es der Raum einer Als Ob-Struktur. Hamburger erwähnt in Zusammenhang mit dem Wachsfigurenkabinett die täuschend echt gemalten Kirschen des Zeuxis als weiteres Beispiel für Fingiertheit.30 Es handelt sich bei diesem Gemälde eben nicht um Fiktion. »Die Form der Fiktion setzt sich aus sich selbst heraus die Abgrenzung von jeglicher Wirklichkeit. Die Form der fingierten historischen Wirklichkeitsaussage enthält diese AbJUHQ]XQJ QLFKW XQG GLHV >«@ XPVR ZHQLJHU MH JHULQJHU GHU *UDG der Fingiertheit ist oder erscheint.«31 Die Kirschen des Zeuxis wer-
28 Hamburger, Logik der Dichtung, S. 54. 29 Gertrud Koch: »Zwischen Raubtier und Chamäleon. Das Schicksal der Filmwissenschaft«, Zeitschrift für Medienwissenschaft 1 (2009), S. 65-73, hier S. 72. 30 Vgl. den Zusammenhang zwischen der Malerei des Zeuxis, computergenerierten Sauriern in Spielbergs Jurassic Park und der Bewertung der Fernsehbilder vom Attentat des 11. September 2001 als Kunst durch Karl Heinz Stockhausen in Jörg Türschmann: »Metalepse«, Montage/AV 16,2 (2007), S. 105-112, hier S. 108. 31 Hamburger, Logik der Dichtung, S. 265; vgl. umgekehrt S. 259: »Der Inhalt eines Er-Romans kann noch so naturalistisch geprägten Wirklichkeitsstoff enthalten ² er wird dennoch als nicht-wirklich, als die fiktive Wirklichkeit fiktiver Personen erfahren. Der Inhalt einer Ich-Erzählung kann noch so märchenhaft unwirklich sein, noch so wenig mit erfahrbarer Wirklichkeit übereinstimmen ² sie erreicht dennoch ebensowenig die Fiktion wie jede
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Jörg Türschmann fen die Frage nach der Reaktion des Publikums auf, als es vorübergehend vor dem Monster erschrickt. Das Nachleben des Monsters als Motiv außerhalb seines Ursprungsnarrativs zeigt durch die »Herstellung absoluter Ähnlichkeit >«@LQGHU7DWGLH=XNXQIWHLQHU generischen Wiederkehr vergangener Welten«.32 Das anschließende Gelächter des Publikums dementiert nicht die Kraft der Illusion des Motivs, sondern belegt sie aus der paradoxen Position einer verstehenden Außensicht heraus, die dem Konstruktcharakter der fingierten Wirklichkeitsaussage nachspürt. Der Programmgestus der Show, der die Formen des spielerischen Umgangs mit dem Fernsehen durch den Zuschauer in sich vereint und 1972 spätere Formen teilweise sogar vorwegnimmt, zerstört nicht den durchgängigen Charakter einer Ich-Erzählung. Denn letztlich steuert alles auf den Höhepunkt am Ende zu, als der Hauptpreis vergeben wird. Dieser Preis birgt die ganze Zeit über das Versprechen, dass die Gewinner ihn ins reale Leben mitnehmen dürfen. Die Gewinner sowie die Geld- und Sachpreise sind jedoch während der Sendung gemäß der fingierten Wirklichkeitsaussage nur der »Form« nach Wirklichkeit. Denn der Preis ist erst nur ein potenzieller Gewinn, ein Versprechen des Autorsubjets. Und die Personen entkommen während der Sendung weder den Kulissen und Kostümen in die Wirklichkeit, noch entwickeln sie das Eigenleben fiktiver Figuren. Grund für die unmögliche Fiktionalisierung ist, dass der Ich-Erzähler täuschend echt wie bei der Wirklichkeitsaussage »von anderen Personen nur als von Objekten sprechen kann. Er kann diese niemals [wie bei der Fiktion; J.T.] aus seinem eigenen Erlebnisfeld entlassen, seine Ich-Origo ist immer anwesend, sie verVFKZLQGHW QLFKW >«@«33 Kurz gesagt: Die Personen sind nicht ganz bei sich, weder in der Wirklichkeit, noch in der Fiktion, und die Preise sind nur ein Versprechen. Ibáñez Serrador gelang also mit der Als Ob-Inszenierung die völlige perspektivische Kontrolle über sein Universum. Er steigerte diese Inszenierung dadurch, dass er in seiner Fernsehserie und Show beide, Show und Serie, gegenseitig verschränkte und dadurch die Versenkung in eine Erzählwelt und die verstehende Außensicht in der Fingiertheit verband. Die Erzähllogik hilft diese Aussageform zu begreifen. Damit wird sich angesichts der gesellschaftlichen Umwälzungen in Spanien eine Kritik historisch bedingter Mentalitäten nicht zufrieden geben können. Eine solche Kritik der Subjekt-Objekt-Relation wird verlanphantasierende Aussage auch. Es ist die Form der Ich-Aussage, die auch der extremsten Unwirklichkeitsaussage noch den Charakter der Wirklichkeitsaussage beläßt.« 32 Zu Jurassic Park und den Bildern des Zeuxis in diesem Sinn Koch, »Das Schicksal der Filmwissenschaft«, S. 69. 33 Hamburger, Logik der Dichtung, S. 249.
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Un, dos, tres als Autorenfernsehen gen, beispielsweise den Status der Kandidaten oder der ¿Sekretärinnen¾ zu hinterfragen. Un, dos, tres hat in jedem Fall eine Resonanz auch im Ausland gehabt wie keine andere spanische Fernsehproduktion bisher. Im Inland ist die Show bis heute ebenfalls einzigartig geblieben. 1972 entstand »vielleicht >«@das wichtigste spanische Format in der Geschichte des Fernsehens in Spanien.«34 Die einende Funktion von Un, dos, tres scheint für drei Generationen von Spaniern unbestritten: »Ein gemeinsamer Ort, ein Topos, in einer immer stärker in Teilbereiche zergliederten Gesellschaft«.35
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34 Saló, ¿Qué es lo del formato?, S. 38: »[...] quizás [...] el formato español más importante en la historia de la televisión en España.« 35 Javier López Izqierdo/Manuel Palacio: »Un, dos, tres... responda otra vez«, in: Las cosas que hemos visto. 50 años y más de TVE, hg. von Manuel Placio, Madrid: RTVE (Instituto) 2006, S. 64-65, hier S. 65: »Un lugar común, un topoi [sic], en una sociedad cada vez más divertida en compartimentos« (Hervorhebung J.L.I. und M.P.).
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Jörg Türschmann López Izqierdo, José/Palacio, Manuel: »Un, dos, tres... responda otra vez«, in: Manuel Palacio (Hg.), Las cosas que hemos visto. 50 años y más de TVE, Madrid: RTVE (Instituto) 2006, S. 64-65. Mikos, Lothar: Film- und Fernsehanalyse, Konstanz: UVK 2003. Odin, Roger: »$SURSRVG·XQFRXSOHGe concepts: son in vs. son off«, in: Linguistique et sémiologie 6 (1978), S. 93-125. Philippe, Virginie: Transition et télévision en Espagne. Le rôle de la TVE 1973-19783DULV/·Harmattan 2007. Saló, Gloria: ¿Qué es lo del formato? Cómo nace y se desarolla un programa de televisión, Madrid: Gedisa 2007. Schwartz, David/Ryan, Steve/Wostbrock, Fred: TV Game Shows, 3. Auflage, New York: Facts on File 1999. Türschmann, Jörg: »Metalepse«, Montage/AV 16,2 (2007), S. 105112. Internetquellen: http://es.wikipedia.org/wiki/Narciso_Ib%C3%A1%C3%B1ez_Serrad or [Stand: 10.03.2010] http://es.wikipedia.org/wiki/Un_dos_tres [Stand: 10.03.2010] http://en.wikipedia.org/wiki/Un,_dos,_tres..._responda_otra_vez [Stand: 10.03.2010] Ledgard, Clipper: »Kiko Ledgard«, http://reocities.com/Television City/Network/6474/kiko/resumen.htm [Stand: 10.03.2010] Lejarza, Mikel: »Semblanza sobre Narciso Ibáñez Serrador«, http://www.angelfire.com/emo/concurso123/2008/director/se mblanz.html [Stand: 05.03.2010] López Cámara, Francisco: »Letras«, http://www.angelfire.com/emo/ concurso123/2008/letras/letrasy.html [Stand: 05.03.2010] López Cámara, Francisco: »Mascotas«, http://www.angelfire.com/ emo/concurso123/2008/mascotas/mascotas.html [Stand: 05.03.2010] López Cámara, Francisco: »Merchandising«, http://www.angelfire. com/emo/concurso123/2008/merchandising/m70.html [05.3.2010] López Cámara, Francisco: »Un, dos, tres... responda otra vez«, http://www.undostres.org [Stand: 05.03.2010] RTVE: »Estrenamos Un, dos, tres. Especial ¿(O terror¾© http:// www.rtve.es/rtve/20081030/estrenamos-dos-tres/186034. shtml [Stand: 06.03.2010]
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Lorca, muerte de un poeta: Eine spanische TV-Miniserie als Erinnerungstext VERENA BERGER
Biographie ² Filmporträt ² TV-Miniserie Biographien, sei es in schriftlicher Form oder als Filmporträts, gründen im Wesentlichen auf der Illusion der Narrativierung der Lebensgeschichte einer vorfilmisch existierenden Figur im Kontext ihrer Epoche. Biopics (»biographical pictures«) geraten damit zu einem besonders attraktiven Format, das einem breiten Publikum eine starke Identifikationskulisse bietet. Mit einer durchschnittlichen Dauer von 90 bis maximal 120 Minuten unterliegen herkömmliche Spiel- oder Dokumentarfilme der Notwendigkeit, eine stringente Auswahl relevanter Episoden zu treffen, um ihre Protagonistinnen und Protagonisten zu filmischen Figuren ausgestalten zu können.1 Auch für biographische Fernsehserien gilt das Prinzip der Selektion, so dass Filmporträts generell auf gängige DrehbuchKonzepte setzen müssen: Zentrale Konflikte als Mittel zur Charakterisierung der tragenden Rolle, Dynamisierung der Handlung sowie Betonung der Performance als Schnittstelle zwischen Filmporträt, biographischer Figur, Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Setting stehen im Vordergrund. Die Vorteile von biographischen Fernsehserien liegen daher in erster Linie in der Serialität: Die filmische Umsetzung einer Biographie in einer Fernsehserie ermöglicht eine umfangreichere Gesamtspielzeit und Sendetermine über einen längeren Zeitraum hinweg. Serielle Filmporträts implizieren folglich eine ausführlichere Narrativierung der biographischen Figur und fördern eine profundere Rezeption seitens des Publikums. TV-Miniserien gelten als relativ junges Format: Ihren Ursprung nahmen sie in Großbritannien mit The Forsyte Saga (1967), Elisabeth R. (1971) oder Henry VIII and His Six Wives (1973), erfreuten 1
Zum Konzept der biographischen Figur vgl. Henry M. Tayler: Rolle des Lebens. Die Filmbiographie als narratives System, Marburg: Schüren 2002, S. 100 ff.
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Verena Berger sich jedoch auch in Kontinentaleuropa und in den USA rasch ebenso großer Beliebtheit: In Italien mit Leonardo da Vinci (1971), in Frankreich mit Le grand amour de Balzac (1975) und in den USA mit Roots (1977) und Holocaust (1978), um nur einige Beispiele zu nennen. Anfänglich dienten Miniserien vorwiegend der Adaptierung von Spielfilmen sowie der Verfilmung literarischer Werke für das Fernsehen. Ausschlaggebend für die Beliebtheit des neuen Formats war in erster Linie die Möglichkeit der längeren Gesamtspielzeit.2 Welche anderen Merkmale können darüber hinaus für eine Genredefinition relevant sein? Im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit TV-Miniserien unterscheidet der spanische Medienwissenschaftler José Ángel Cortés Lahera folgende Definitionsparameter: Miniserien bestehen aus 2-3 bis maximal 13 Folgen, wobei die einzelnen Kapitel zwischen 60 bis 90 Minuten dauern und im Hauptprogramm an aufeinanderfolgenden Tagen oder en bloc ausgestrahlt werden. Als Format verschreiben sich Miniserien hohen Qualitätsansprüchen. Renommierte Schauspielerinnen und Schauspieler wirken mit und sollen angesichts ihres Bekanntheitsgrades die Einschaltquoten erhöhen. Die Dreharbeiten implizieren ein aufwändiges Setting, wobei originäre Schauplätze bevorzugt werden. Für die Produktion von Miniserien steht ein umfangreiches Budget zur Verfügung.3 Im Sinne einer näheren Definition von TV-Miniserien sind den genretheoretischen Kategorien von Cortés Lahera zwei weitere Bestimmungskategorien hinzuzufügen: Die Dauer herkömmlicher Fernsehserien ist a priori unbekannt, zumal ihre Fortsetzung in der Regel vom Publikumserfolg und von Einschaltquoten abhängig gemacht wird. Die Zahl der Folgen einer Miniserie ist hingegen von Anfang an festgelegt. Im Hinblick auf die Rezeption ist der Aspekt der Nachhaltigkeit von essentieller Bedeutung: TV-Miniserien erreichen ihr Publikum nicht nur in Form von Programmwiederholungen, sondern auch über ihre Vermarktung als analoge und digitale Träger wie VHS und DVD. In die Geschichte des spanischen Fernsehens hielten die TVMiniserien in den 1970er Jahren ihren Einzug, als der staatliche Fernsehkanal Televisión Española (TVE) die Verfilmung literarischer Werke zu fördern begann.4 Ab 1983 nahm die Produktion von TVMiniserien ² zumeist Koproduktionen mit France Télévisions, RAI, 2
3 4
Vgl. dazu die umfassende Einführung in die Geschichte der TV-Miniserien bei José Luis Mena: Las mejores miniseries de la historia de la televisión, San Sebastián de los Reyes/Madrid: Cacitel 2008, S. 4. Vgl. José Angel Cortés Lahera: La estrategia de la seducción. La programación en la neotelevisión, Pamplona: Eunsa 1999, S. 180-181. Vgl. Manuel Palacio: Historia de la televisión en España, Barcelona: Gedisa ²2005, S. 153-154.
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Eine Miniserie als Erinnerungstext ZDF oder dem britischen Channel 4 ² dank steigendem Budget kontinuierlich zu,5 wobei sich drei Subgenres herauskristallisierten: Verfilmungen literarischer Werke wie Fortunata y Jacinta (1980)6 von Benito Pérez Galdós, Los pazos de Ulloa (1985)7 von Emilia Pardo Bazán oder Pepe Carvalho (1986)8 von Manuel Vázquez Montalbán; Miniserien mit historischem Hintergrund, darunter Curro Jiménez (1976-1978) und Los desastres de la guerra (1983);9 biographische Miniserien wie Teresa de Jesús (1984), Goya (1985) oder Lorca, muerte de un poeta (1986).10
Federico García Lorca ² Mythos des Weltkinos Mit der TV-Miniserie Lorca, muerte de un poeta brach der spanische Regisseur Juan Antonio Bardem im Jahr 1987 ein Tabu, das seit der Ermordung von Federico García Lorca im Jahr 1936 während des Franquismus (1939-1975) bis in die 1980er Jahre mit wenigen Ausnahmen aufrecht geblieben war: Bis zur Produktion von Lorca, muerte de un poeta durch TVE war es in Spanien undenkbar, die Figur von García Lorca oder seine Biographie in einem Spiel- oder Dokumentarfilm, sei es für das Kino oder für das Fernsehen, zu thematisieren. Die sechsteilige TV-Miniserie Lorca, muerte de un poeta entstand somit zu einem Zeitpunkt, als die Phase der sogenannten Transición11 zwar bereits abgeschlossen, eine Aufarbeitung der Geschehnisse während des Spanischen Bürgerkriegs (19361939) und der Franco-Diktatur (1939-1975) hingegen noch kaum in Angriff genommen worden war.
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Vgl. José María Álvarez Monzoncillo/Jean Luc Iwes: El futuro audiovisual en España. Las transformaciones ante el nuevo marco europeo, Madrid: Fundesco 1992, S. 37-39. 6 Dt.: »Fortunata und Jacinta« (Übersetzung des gleichnamigen Romans von Kurt Kohn). Soweit nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen von der Verf. 7 Dt.: »Das Gut von Ulloa« (Übersetzung des gleichnamigen Romans von Ute Frackowiak). 8 Dt.: »Der Privatdetektiv Pepe Carvalho«. 9 Dt.: »Die Schrecken des Krieges«. 10 Dt.: »Federico García Lorca - Der Tod eines Dichters«. Zur Geschichte spanischer TV-Miniserien siehe die ausführliche Zusammenfassung bei Palacio: Historia de la televisión en España, S. 153-162. 11 Unter Transición (Dt. »Übergang«) ist der Zeitabschnitt zwischen dem Ende der Franco-Diktatur im Jahr 1975 und dem Inkrafttreten der Spanischen Verfassung 1982 zu verstehen.
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Verena Berger Während der Mythos García Lorca im Ausland des Öfteren Filmund Fernsehproduktionen als Motiv diente ² erwähnt sei der von der BBC produzierte Dokumentarfilm Deep Song, Black Sound (1968, P. Luke) ², legte das Franco-Regime einen Mantel des Schweigens über die Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit. Eine Auseinandersetzung mit der Biographie oder gar der Ermordung des berühmten Schriftstellers am Beginn des Bürgerkriegs blieb dem spanischen Kino und Fernsehen bis zum Tod von General Franco im Jahr 1975 verwehrt.12 Die einzigen Ausnahmen scheinen der während des Spanischen Bürgerkriegs gedrehte, elfminütige Schwarz-Weiß-Kurzfilm von Justo Labal mit dem Titel A Federico García Lorca (1937)13 und die Fernsehproduktion von TVE La Granada de García Lorca (1968) von Jesús Fernández Santos zu sein.14 Gründe für die kaum erfolgte filmische und televisive Rezeption der Figur von García Lorca sind sowohl in seiner Homosexualität, seinem Engagement für die Spanische Republik und den Umständen seines Todes als auch in den während des Franquismus herrschenden Zensur-Mechanismen zu suchen. Selbst nach dem Ende des Regimes hatte der Regisseur Jesús García de Dueñas mit der Zensur zu kämpfen, zumal er in seiner siebenteiligen biographischen TV-Miniserie Manuel de Falla. Siete cantos de España (1976) die Ermordung García Lorcas nicht ausklammerte.15 Folglich waren es auch unmittelbar nach 1975 vor allem ausländische Fernsehanstalten, die Dokumentarfilme über García Lorca produzierten: Alessandro Cane drehte für das italienische Fernsehen (Radiotelevisione Italiana) L'Assassinio di Federico Garcia Lorca (1976),16 Humberto López y Guerra für das schwedische Fernsehen die 1980 in Spanien ausgestrahlte Dokumentation Federico García Lorca: Murder in Granada (1976). Als erster spanischer Regisseur griff der Baske Juan Antonio Zorrilla 1976 in einem 19-minütigen Kurzspielfilm mit dem Titel El barranco de Víznar17 das Motiv der Ermordung García Lorcas auf. 1977 wurden die Dokumentarfilme España debe saber18 von Eduardo Manzanos und
12 Vgl. Juan F. Cerón Gómez: El cine de Juan Antonio Bardem, Murcia, Universidad de Murcia 1998, S. 264. 13 Dt.: »Federico García Lorca gewidmet«. 14 Dt.: »Granada und Federico García Lorca«. Vgl. Rafael Utrera Macías: Federico García Lorca ² Cine: El cine en su obra, su obra en el cine, Alicante: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes 2001. 15 Dt.: »Manuel de Falla. Sieben Lieder aus Spanien«. Vgl. Palacio: Historia de la televisión en España, S. 153. 16 Dt.: »Die Ermordung von Federico García Lorca«. 17 Dt.: »Die Schlucht von Víznar«. 18 Dt.: »Was Spanien wissen sollte«.
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Eine Miniserie als Erinnerungstext Lorca y La Barraca19 von Miguel Alcobendas uraufgeführt. Im Gegensatz zu den ausländischen Filmproduktionen spielen die Filme der spanischen Regisseure jedoch nur indirekt auf die Figur des Dichters an. Ähnlich verfahren Jaime Chávarri und Jaime Camino in den ersten Spielfilmen, die sich nach dem Ende der FrancoDiktatur an die Thematik heranwagen: A un dios desconocido (1977)20 von Chávarri nähert sich nur metaphernhaft der Figur des Dichters, El balcón abierto. Homenaje a Federico García Lorca (1984)21 von Camino ist im Stil der subjektiven Kamera gedreht und lässt García Lorca ebenso keine explizite Rolle zukommen. Am 19. August 1986, 50 Jahre nach der Ermordung des Schriftstellers, strahlte das spanische Fernsehen den Dokumentarfilm Lorca: Memorias de un poeta («García Lorca: 50 años después») (1986) von Juan Caño Arecha aus.22 Erwähnenswert ist des Weiteren der Dokumentarfilm La Barraca. Lorca sobre los caminos de España (1994)23 von Edgardo Cozarinsky, der gemeinsam mit José Luis Garci das Drehbuch verfasste. Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Geburtstages García Lorcas entstanden zahlreiche weitere Dokumentarfilme: Lorca (1998, Iñaki Elizalde), Lorca en el Río de la Plata (1998, Eduardo Mignogna)24, Lorca en La Habana (1998, Juan Carlos Tabío)25, Lorca en Nueva York (1998, Manuel Palacio)26 und Lorca, así que pasen cien años (1998, José Luis López-Linares/Javier Rioyo).27 In seinem Dokumentarfilm Lorca. El mar deja de moverse (2006)28 analysiert Emilio Ruiz Barrachina nicht nur die Umstände des Todes des spanischen Dichters, sondern auch die Familiengeschichte der García Lorcas. Von Marcos Zurinaga stammt der biographische Thriller Death in Granada (La desaparición de García Lorca) (1996). Die jüngste Filmproduktion mit dem Titel Little Ashes (2008, Paul Morrison) illustriert die Freundschaft zwischen García Lorca und dem Maler Salvador Dalí.
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Dt.: »Lorca und die Theatergruppe La Barraca«. Dt.: »Vierzig Jahre nach Granada«. Vgl. URL: www.imdb.com (20.12.2009). Dt.: »Der offene Balkon. Homage an Federico García Lorca«. Dt.: »Lorca: Erinnerung an einen Dichter (García Lorca: 50 Jahre danach)«. Vgl. Joel del Río: »Proyector de luna: el ojo y la palabra«, La Jiribilla 6, 2006. Dt.: »La Barraca. Lorca unterwegs in Spanien«. Dt.: »Lorca am Río de la Plata«. Dt.: »Lorca in Havanna«. Dt.: »Lorca in New York«. Dt.: »Lorca, 100 Jahre danach«. Dt.: »Lorca ² Das Meer steht still«.
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Verena Berger
Republikanischer Dichter ² kommunistischer Cineast Lange Jahre gingen dem Entwurf für einen herkömmlichen Spielfilm mit dem Titel Lorca, muerte de un poeta voraus, bevor Bardem sein Projekt in die Tat umsetzen konnte. Die Lektüre von Ian Gibsons 1975 in spanischer Sprache veröffentlichtem Werk La muerte de Federico García Lorca: la represión nacionalista de Granada en 193629 sowie eine persönliche Begegnung mit dem bekannten García Lorca-Biographen im November 1979 führten schließlich zur Konkretisierung des Vorhabens. 1982 schloss Bardem die erste Fassung des Drehbuchs für den geplanten Spielfilm ab, in dessen Mittelpunkt die letzten vier Wochen im Leben García Lorcas stehen sollten. Im darauffolgenden Jahr schlug TVE vor, statt eines Spielfilms eine TV-Miniserie auszugestalten und die gesamte Biographie des Schriftstellers zu integrieren.30 In Zusammenarbeit mit Ian Gibson und dem spanischen Filmregisseur Mario Camus entstand schließlich das neue Drehbuch für eine sechsteilige TV-Miniserie und damit ein relevanter filmischer Erinnerungstext.31 Maßgeblich für den politischen Kurswechsel hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Leben und Werk García Lorcas und implizit mit der Geschichte Spaniens waren die Konsolidierung der Demokratie sowie die Etablierung des PSOE,32 der bei den Parla29 Dt.: »Der Tod von Federico García Lorca: Die nationalistische Unterdrückung von Granada im Jahr 1936«. 30 Vgl. L.V.: »Se rueda la serie Lorca, muerte de un poeta, un ambicioso proyecto dirigido por el veterano Juan A. Bardem«, in: La Vanguardia (19.6.1987), o. S. Abgesehen von der TV-Miniserie Lorca, muerte de un poeta (1986) drehte Bardem noch zwei weitere Fernsehserien: La huella del crimen: Jarabo (1985) (Dt.: »Die Spur des Verbrechens: Jarabo«) und El joven Picasso (1994) (Dt.: »Der junge Picasso«). Vgl. dazu Manuel Palacio/Juan Carlos Ibáñez: »Biografía y ficción histórica en la obra del %DUGHP ¿WHOHYLVLYR¾ -1992)«, in: El cine a codazos: Juan Antonio Bardem, hg. von José Luis Castro de Paz und Julio Pérez Perucha, Ourense: Festival del cine de Ourense 2004, S. 141; Cerón Gómez: El cine de Juan Antonio Bardem, S. 261-286. 31 In seiner Studie über Filmbiographien unterstreicht Henry M. Taylor die Funktion von Biopics als Erinnerungstexte: »Biopics sind Erinnerungstexte. Insofern ist ihnen von Anbeginn eine Futurum-exactum-Struktur des »was gewesen sein wird« eingeschrieben und ein gewisser Hauch der Nostalgie fast unvermeidlich.« Vgl. Taylor: Rolle des Lebens. Die Filmbiographie als narratives System, S. 250; Robert A. Rosenstone: »History in Images/History in Words: Reflections on the Possibility of Really Putting History onto Film«, in: Screening the Past (61999), S. 1174. 32 PSOE (»Partido Socialista Obrero Español«; Dt.: Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) steht für die sozialdemokratische Partei Spaniens.
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Eine Miniserie als Erinnerungstext mentswahlen im Jahr 1982 die absolute Mehrheit erhielt. Zwischen 1985 und 1989 übernahm die spanische Regisseurin Pilar Miró die Leitung von TVE. Film- und Fernsehpolitik fokussierten in der Folge auf eine intensive Auseinandersetzung mit der historischen Vergangenheit, was populär auch als eine Strategie der »Gesichtswäsche für Spanien« bezeichnet wird.33 Im Mittelpunkt stand die beginnende Aufarbeitung von mehr als 40 Jahren politischer und kultureller Repression durch den Franquismus.34 Vor diesem Hintergrund wurde 1986 Bardems TV-Miniserie Lorca, muerte de un poeta mit einer Gesamtdauer von 354 Minuten in Koproduktion mit Beta Films, RAI und dem französischen Kanal La Sept für das spanische Fernsehen gedreht.35 Mit der Finanzierung des Projekts durch TVE würdigte die sozialdemokratische Regierung Spaniens nicht nur die Figur García Lorcas, der als Homosexueller, Künstler und Anhänger der Spanischen Republik am Zeitgeist seiner Epoche scheiterte, sondern auch einen unbequemen Cineasten, der seit 1943 im Untergrund Mitglied des unter dem Franquismus verfolgten PCE36 war und dessen künstlerisches Schaffen unter einem ähnlich ungünstigen Stern gestanden hatte.37
Leben und Tod im Auge der Kamera Als Hybridgenre zwischen Filmbiographie, Historienfilm und Dokudrama illustriert die sechsteilige TV-Miniserie das Leben des spanischen Dichters und Dramatikers von der Kindheit bis zu 33 »[...] lavarle la cara a España«. Siehe dazu Núria Triana-Toribio: Spanish National Cinema, London: Routledge 2003, S. 116. 34 Vgl. Barry Jordan/Ricky Morgan-Tamosunas: Contemporary Spanish Cinema, Manchester: Manchester University Press 1998, S. 16. 35 Lorca, muerte de un poeta wurde im Rahmen der XXXII. Semana Internacional de Cine de Valladolid im Oktober 1987 uraufgeführt. TVE strahlte die TV-Miniserie von November 1987 bis Januar 1988 an sechs aufeinanderfolgenden Samstagen im Hauptabendprogramm aus. 1987 erschien auch der gleichnamige Spielfilm Lorca, muerte de un poeta (121 Min.), der gleichzeitig zur TV-Ausstrahlung der ersten Episode am 28.11.1987 anlässlich der Eröffnung des XVIII. Festival Cine Iberoamericano de Huelva uraufgeführt wurde. Vgl. Cerón Gómez: El cine de Juan Antonio Bardem, S. 268. Im deutschsprachigen Raum war die TVMiniserie zwischen Oktober und Dezember 2002 auf Premiere 7 zu sehen. Vgl. dazu Kinofilme im Kino und Fernsehen, URL: http://www.filmdb.de (3.8.2009). 36 PCE (»Partido Comunista de España«); Dt.: Kommunistische Partei Spaniens. 37 Zu Bardems Filmschaffen während des Franquismus siehe Cerón Gómez: El cine de Juan Antonio Bardem, S. 22.
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Verena Berger seiner Ermordung im Jahr 1936.38 Bardem fokussiert dabei nicht ausschließlich auf die biographische Figur, auf entscheidende Wendepunkte seines literarischen Werdegangs oder auf die Visualisierung des kreativen Prozesses, wie es für das Genre des biographischen Künstlerfilms charakteristisch ist. Vielmehr verankert der Regisseur den Protagonisten auch in seinem familiären Umfeld, in Begegnungen mit bedeutenden Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sowie in seinen Liebesbeziehungen. Die erste Episode »Impresiones y paisajes«39 spannt den Bogen von 1903 bis 1918 und schildert García Lorcas Kindheit und Jugend bis zum Beginn seines literarischen Wirkens. Im Mittelpunkt der zweiten Folge »La Residencia 1918-1923« stehen die Studienjahre von 1918-1923 in der Residencia de Estudiantes40 in Madrid und im Kreis der Generación del 27.41 Das dritte Kapitel »El amor oscuro«42 beleuchtet García Lorcas Liebesbeziehungen und seine Homosexualität. Die vierte Episode »El llanto 1929-1935«43 widmet sich den Reisen nach New York, Kuba und Argentinien sowie dem Erfolg des Dichters als Lyriker und Dramatiker. Die fünfte und sechste Folge »Una Guerra Civil 1935-1936« und »La muerte 1936«44 illustrieren schließlich jeweils die letzten Monate und Tage vor García Lorcas Hinrichtung am 19. August 1936. Mit einer hohen Dichte an Detailtreue und Realitäts38 Sowohl die TV-Miniserie als auch der gleichnamige Spielfilm wurden in den 1990er Jahren als VHS kommerzialisiert. Anlässlich des 50jährigen Jubiläums von TVE brachte Divisa Home Video 2006 die besten TVSerienklassiker neu heraus, wobei das vorhandene Filmmaterial einem Remaster-Prozess unterzogen wurde. Alle nachfolgenden Filmzitate beziehen sich auf die Neuauflage von Juan Antonio Bardems TV-Miniserie Lorca, muerte de un poeta, Valladolid: Divisa Ediciones 2006 (2 DVDs), 354 Min. 39 Die erste Folge (Dt.: »Impressionen und Landschaften«) ist nach dem gleichnamigen, 1918 im Verlag P.V. Traveset (Granada) erschienenen Band García Lorcas benannt. Vgl. dazu Ian Gibson, Federico García Lorca. Biographie, Frankfurt am Main/Leipzig: Suhrkamp 1991, S. 107-113. 40 Die Residencia de Estudiantes, auf die der Titel der zweiten Folge anspielt, war zwischen der Gründung im Jahr 1910 und dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges 1936 ein Studentenwohnheim und beherbergte eine Vielzahl angehender spanischer Schriftsteller und Künstler. 41 Die Bezeichnung Generación del 27 steht für eine Gruppe von spanischen Schriftstellern, die sich 1927 im Rahmen eines Lyrikkongresses anlässlich des 300. Todestages des spanischen Barockdichters Luis de Góngora im Ateneo von Sevilla formierte. Neben García Lorca zählten Rafael Alberti, Vicente Aleixandre, Dámaso Alonso, José Bergamín, Luis Cernuda, Gerardo Diego, Miguel Hernández und Pedro Salinas zu ihren bedeutendsten Vertretern. 42 Dt.: »Die dunkle Liebe«. 43 Dt.: »Das Wehklagen 1929-1935«. 44 Dt.: »Ein Bürgerkrieg 1935-1936«; »Der Tod 1936«.
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Eine Miniserie als Erinnerungstext nähe lenkt Bardem die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Schicksal des Schriftstellers zwischen Leben und Tod. Dabei bleibt die Figur García Lorcas mit Ausnahme der Originalaufnahmen aus Dokumentarfilmen in beinahe jedem Segment der Fernsehserie präsent und der narrativ signifikante Bezugspunkt. Gleichzeitig verknüpft der Regisseur die Lebensgeschichte des Protagonisten mit der Aufarbeitung eines zunehmend radikalisierten politischen Klimas, das letztlich zum Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges im Jahr 1936 führen sollte.
Serialität, Segmentierung und Verflechtung Im Gegensatz zu herkömmlichen Spielfilmen zeichnet sich eine Fernsehserie in erster Linie durch Serialität, Segmentierung und Verflechtung aus: »Das Kontinuum einer Serie wird durch periodische Abfolge hergestellt; die einzelnen Serienfolgen stellen von ihrer Dramaturgie und ihrer Produktionsstruktur her erkennbare, abgegrenzte Einheiten dar, die in unterschiedlicher Weise Anknüpfungen an vorangegangene Folgen herstellen und Anknüpfungspunkte für die nachfolgenden bieten. Serien bilden Ketten von Einzelfolgen.«45
Eine Analyse von Fernsehserien impliziert folglich die Integration der inhärenten Doppelstruktur auf der Ebene der einzelnen Kapitel und übergreifend auf der Ebene der gesamten Staffel. Relevante Aussagen sind vor allem im Hinblick auf die Fragestellungen zu erwarten, wie die Segmentierung der Narration und ihre Verflechtung von Folge zu Folge verlaufen, wie sich die Serienstruktur hinsichtlich des Spannungsbogens gestaltet und in welcher Weise sich serienspezifische Merkmale manifestieren. Narrative und visuelle Anknüpfungen am Beginn jeder Episode, sich wiederholende Erzählstrukturen sowie Spannungssteigerung durch Cliffhanger am Ende jeder Folge offenbaren das System einer Fernsehserie. In den sechs Folgen der TV-Miniserie Lorca, muerte de un poeta kommt die Chronologie der Lebensgeschichte des Protagonisten nicht gleichmäßig zum Tragen: Die ersten vier Folgen geraten zu einer Synthese von dreißig Lebensjahren und thematisieren vorrangig das Privatleben ² das Verhältnis zu Familie und Freunden sowie Liebesbeziehungen ², den Werdegang als Künstler sowie García Lorcas Engagement für die spanische Republik. Im Vergleich dazu blenden das fünfte und sechste Kapitel stark auf und fokussieren 45 Vgl. Knut Hickethier: Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens (Schriftenreihe: Kultur - Medien - Kommunikation), Lüneburg: Lüneburger Beiträge zur Kulturwissenschaft 2, 1991, S. 8.
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Verena Berger jeweils auf die letzten dreieinhalb Monate bzw. auf die letzten 28 Tage vor der Hinrichtung des Schriftstellers. Während die ersten fünf Folgen jeweils ca. 50 bis 56 Minuten dauern, gerät das letzte Kapitel mit über 80 Minuten bereits zu einem Spielfilm. Auch die Gewichtung von Erzählzeit und erzählter Zeit verläuft in den Einzelfolgen unterschiedlich, wie die nachfolgende Aufstellung zeigt: Tabelle 1: Erzählte Zeit - Erzählzeit Erzählte Zeit
Erzählzeit
Episode 1 15 Jahre
53:30 Min.
Episode 2 5 Jahre
54:38 Min.
Episode 3 3 Jahre
56:26 Min.
Episode 4 6 Jahre
50:33 Min.
Episode 5 ca. 3,5 Monate (28. März-22. Juli 1936)
53:48 Min.
Episode 6 28 Tage (23. Juli-19. August 1936)
82:40 Min.
Besonders die letzten beiden Kapitel heben sich hinsichtlich des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit durch eine starke Autonomie von der Gesamtstaffel ab. Lorca, muerte de un poeta zeichnet sich durch eine alle Episoden übergreifende, lineare Chronologie aus, die dem kontinuierlichen Aufbau von Wissen über García Lorca und seine Epoche dient. In der Binnenstruktur einzelner Folgen bleibt die lineare Erzählstruktur der Gesamtstaffel hingegen nicht konstant erhalten: Die erste Episode weist mehrmalige Brüche in der Chronologie der Ereignisse auf, indem der Zeitraum von 1903 bis 1918 mittels erklärender Vorund Rückblenden illustriert wird. Das letzte Kapitel wiederum integriert mehrere Flashbacks aus vorangegangenen Folgen ² die Uraufführung des Theaterstücks Yerma, die Jahre des studentischen Wandertheaters La Barraca oder Augenblicke aus der Kindheit, die Erinnerungen des Protagonisten im Angesicht des bevorstehenden Todes visualisieren. Ein besonderes Merkmal aller sechs Folgen ist des Weiteren, dass jede Episode mit einer Rückblende eröffnet, womit letztlich kein einziges Kapitel in seiner Binnenstruktur ausschließlich linear ist. Dieser sich wiederholende ¿Trailer¾ konfrontiert das Publikum mit den letzten Augenblicken kurz vor der Hinrichtung García Lorcas. Die Wiederholungen dieses Vorspanns fallen in den einzelnen Folgen jedoch nicht gleich lang aus, sondern verkürzen sich kontinuierlich durch Weglassung von Einstellungen: Während in
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Eine Miniserie als Erinnerungstext der ersten Episode die namentliche Aufrufung des zum Tode Verurteilten, das Besteigen des Lastwagens, Groß- und Nahaufnahmen von García Lorca sowie von den drei anderen zum Tode Verurteilten,46 die Fahrt nach Víznar sowie die Hinrichtung im Morgengrauen durch Falangisten, Bauern und Angehörige der Guardia Civil47 noch zu sehen sind, wird der Vorspann in den folgenden Kapiteln durch eine synthetische Montage progressiv verkürzt: Tabelle 2: Vorspann - Verkürzung Vorspann
Verkürzung
Episode 1 00.08-03:59
3:51 Min.
Episode 2 00.08-02:49
2:41 Min.
Episode 3 00:08-02:14
2:06 Min.
Episode 4 00:08-02:05
1:57 Min.
Episode 5 00:08-02:01
1:53 Min.
Episode 6 00:08-01:11
1:03 Min.
In der ersten Folge dauert die Rückblende fast vier Minuten, reduziert sich jedoch in der Anzahl der Einstellungen bis zur sechsten Episode auf die Dauer von nur noch etwas mehr als eine Minute, wobei die Auslassungen in erster Linie die Fahrt mit dem Lastwagen und die Einstellungen kurz vor der Hinrichtung betreffen. Die sich kontinuierlich verkürzende Expositionsstruktur wirkt zudem in allen Folgen als strukturierendes, einführendes Handlungsmuster, das den Spannungsverlauf rhythmisiert. In jeder Folge nimmt der sich wiederholende Einstieg den Ausgang der Fernsehserie vorweg und stimmt auf eine dramatische Erzählung und das fehlende Happy-End ein: Das Publikum hat gegenüber der Figur García Lorcas einen konstanten Informationsvorsprung. Damit verstärkt sich die Emotionalisierung, weil dem Zuseher bereits bekannt ist, was dem nicht-wissenden Protagonisten widerfahren wird. Der auf diese Weise generierte, sich steigernde melodramatische Spannungsbogen zielt darauf ab, das Publikum über die Vorwegnahme des Todes des Schriftstellers kontinuierlich 46 Die drei Mitgefangenen García Lorcas waren der Lehrer Dióscoro Galindo sowie die beiden Stierkämpfer und Anarchisten Joaquín Arcollas und Francisco Galardí. Vgl. Gibson, Federico García Lorca. Biographie, S. 620. 47 Obwohl die Mitwirkung der Guardia Civil an García Lorcas Ermordung historisch nicht belegt ist, hält Bardem in seiner TV-Miniserie an dieser Version fest. Vgl. Magí Crusells: Cine y Guerra Civil española, Madrid: JC 2006, S. 14.
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Verena Berger über die gesamte Serienstaffel hinweg zu fesseln. Die Betonung der Melodramatik in der Exposition wird damit zum Katalysator für die Einforderung eines historischen Gedächtnisses, indem die TVMiniserie die Aufmerksamkeit des Publikums mittels systematisch aufgebauter Emotionalisierung und impliziter Einflechtung des soziopolitischen Kontexts Spaniens narrativ und visuell direkt auf die zentralen Motive lenkt: Wer war Federico García Lorca, welche politischen Umstände führten zu seiner Ermordung und welche Konstellationen lösten den Spanischen Bürgerkrieg aus? Der Vorspann wird damit zu einer Schlüsselszene, die der TVMiniserie als übergreifendes Leitmotiv dient und in jeder Folge in einem Standbild endet, das den Akt der Erschießung festhält.48 Dem ¿Trailer¾ vorangestellt erscheint in jeder Episode ein Insert,49 das in García Lorcas Schriftzügen als Emblem der Signatur und damit als eine spezifische Form medialer Selbstinszenierung den Satz »Lo que más me importa, es vivir« visualisiert.50 Mittels dieser Kontrapunkte stellt Bardem die gesamte Staffel narrativ, auditiv und visuell in ein starkes Spannungsfeld zwischen Lebenslust und Tod. Die TV-Miniserie gerät auf diese Weise zu einem bio-death-pic, das melodramatischen Pathos generiert.51 Hinsichtlich der Verflechtung der Handlungsstränge am Ende jeder Episode lassen sich keine spannungsgenerierenden Brüche, Leerstellen oder Cliffhanger verzeichnen. Auffallend ist hingegen die Hybridität der narrativen Perspektive, die sich am Ende der einzelnen Folgen in zweifacher Weise manifestiert: Fiktionale Handlungen werden mit einem authentifizierenden Voice-Over-Kommentar kombiniert, der aus der Perspektive des Protagonisten in Form eines Ich-Erzählers aus dem literarischen Werk des Schriftstellers rezitiert: Am Ende der ersten Folge liest García Lorca gemeinsam mit seiner Mutter Cristo - tragedia religiosa (1919-1920), in der fünften Episode rezitiert er einige Zeilen von Gacela de la muerte oscura aus dem Gedichtband Diván del Tamarit/Sonetos del amor oscuro (1936) und die letzte Folge schließt mit Alma ausente aus Llanto por Ignacio Sánchez Mejías (1935). Fiktionale Handlungen werden häufig mit dokumentarischem Bildmaterial kombiniert und mit einem kommentierenden bzw.
48 Vgl. dazu die ausführliche Analyse von María M. Delgado: Federico García Lorca, London: Routledge 1998, S. 180. 49 Vgl. 00:03-00:08. 50 Dt.: »Das, was mir am meisten bedeutet, ist zu leben.« 51 Zum Begriff bio-death-pic im Sinne einer »nekrophile[n] Romanze mit dem Tod« vgl. Henry M. Taylor: »Memento mori. Der Anfang im biographischen Spielfilm«, in: Montage/AV (12/2/2003), S. 49.
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Eine Miniserie als Erinnerungstext informierenden Voice-Over-Kommentar unterlegt. Ein Beispiel dafür sind die Originalaufnahmen des Staatsstreichs von General Primo de Rivera im September 1923 in der zweiten Folge, die durch Montage mit Bildern der filmischen Figuren García Lorcas und Buñuels beim Verlassen eines Kinos, in dem ein Buster Keaton-Film läuft, hybridisiert werden.52 Insgesamt zeichnet sich die TV-Miniserie hinsichtlich des Spannungsaufbaus durch eher schwache Übergänge zwischen den sechs Folgen der Staffel und durch flache Finalspannung der einzelnen Episoden aus.
Authentifizierung, Dokufiktion und Fiktion Eine der relevanten Genrekonventionen von Filmbiographien ist die Generierung des Eindrucks von Glaubwürdigkeit und Authentizität. Zwecks Authentifizierung orientierte sich Bardem an den Forschungsarbeiten von Ian Gibson, allem voran an den 1985 und 1986 erschienenen Bänden Federico García Lorca. I.- De Fuente Vaqueros a Nueva York. 1898-1929 und Federico García Lorca. II.De Nueva York a Fuente Grande.1929-1936. Eine Lektüre von Gibsons Lorca-Biographie53 parallel zur Sichtung der Miniserie untermauert Bardems Bestreben, die Fiktion in höchstem Maße dem Prinzip der Glaubwürdigkeit unterzuordnen. Der Cineast verknüpft in seinem Filmporträt historische Hintergründe über den dokumentarischen und den dokumentarisierenden Modus sowie nicht authentifizierbare Gespräche im Kreis der Familie oder mit Freunden über den fiktionalen Modus. Die filmische Darstellung der biographischen Figur wird auf diese Weise »mit ihrem konkreten Verwurzeltsein in den konkret historischen, menschlichen, gesellschaftlichen Beziehungen ihres Daseins untrennbar« verknüpft.54 Alle Folgen weisen stark dokumentarische bzw. dokumentarisierende Modi auf, zumal Bardem den historischen Hintergrund des jeweiligen Lebensabschnitts des Protagonisten mit Hilfe von Ausschnitten aus Dokumentarfilmen und Archivmaterial untermauert.55 Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die den Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898, den Ersten Weltkrieg, die Spanische Grippe 1919, die 52 Vgl. 50:14-53:26. 53 Die deutschsprachige Fassung Federico García Lorca. Biographie beruht auf den beiden Bänden, die 1989 unter dem Titel Federico García Lorca. A Life im Verlag Faber & Faber (London) erschienen. 54 Vgl. Georg Lukács: Wider den mißverstandenen Realismus, Hamburg: Claassen 1958, S. 16. 55 Vgl. dazu das Interview mit Bardem bei Utrera Macías: Federico García Lorca - Cine: El cine en su obra, su obra en el cine.
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Verena Berger Russische Revolution, die Ausrufung der Spanischen Republik am 14. April 1931 oder den Beginn des Spanischen Bürgerkriegs 1936 thematisieren, haben demzufolge sowohl authentifizierenden als auch didaktischen Charakter und veranschaulichen dem Publikum die Umstände der historischen Epoche in Verflechtung mit der Biographie García Lorcas. Die Originalaufnahmen, nachgestellte Schwarz-Weiß-Aufnahmen wie die pro-republikanische Demonstration in der vierten Folge als Mittler zwischen Realität und Fiktion sowie die allmähliche Überblendung in nachfolgende Farbaufnahmen des televisiven Filmporträts werden zudem durch einen erklärenden Voice-Over-Kommentar verstärkt. Authentifizierungsmodus 1
Quelle: Lorca, muerte de un poeta - Episode 4 [11:49] Abgesehen vom Rekurs auf filmisches Archivmaterial sind Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Tagebücher und Briefe zu erwähnen, die in die einzelnen Folgen eingearbeitet sind und die Verflechtung von dokumentierter Realität und filmischer Fiktion unterstreichen. In einer Sequenz der ersten Folge, die zudem zu den zahlreichen Beispielen für die filmische Gestaltung der Übergänge mit Voice-Over, Tonbrücken und Überblendungen zählt, lässt Bardem die Figur von Antonio Segura Mesa, García Lorcas Musiklehrer, eine Aussage wortwörtlich nachsprechen, die Gibson in seiner García Lorca-Biographie belegt56 und auf ein Interview mit Isabel
56 Vgl. 12:58-13:57. Es handelt sich um die wörtlich festgehaltene Aussage: »Bitte umarmen Sie Ihren Sohn von mir! Es wäre nicht korrekt, wenn ich es selbst täte. Er spielt göttlich!«, die Antonio Segura Mesa gegenüber Doña Vicenta, der Mutter García Lorcas, tätigte. Vgl. dazu Gibson, Federico García Lorca. Biographie, S. 69.
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Eine Miniserie als Erinnerungstext García Rodríguez, einer Tante des Schriftstellers, am 15. Juli 1966 zurückgeht.57 Bardem orientierte sich zwecks Authentifizierung des filmischen Bildmaterials auch an historischen Fotografien und hielt sich streng an Figurenkonstellationen, Setting und Komposition der Originale. In der dritten Folge der TV-Miniserie hält der Protagonist ein Foto in Händen, das in Anlehnung an eine Aufnahme von García Lorca und Buñuel auf einem Jahrmarkt 1923 entstanden und für die TVMiniserie nachgestellt worden war.58 In der vierten Episode werden die Überlandfahrten der Theatergruppe La Barraca nachempfunden,59 das von Salvador Dalí entworfene Bühnenbild für die Uraufführung von Mariana Pineda im Teatro Goya in Barcelona am 17. Juni 1927 dient in der dritten Folge als visuelle Vorlage für die detailgetreue filmische Rekonstruktion,60 ebenso wie die SchwarzWeiß-Fotografie, die García Lorca und Buñuel 1927 in Cadaqués zeigt und die der Regisseur in der Filmbiographie nachstellt. Authentifizierungsmodus 2
Quelle: Archiv Margarita Xirgu61/ Lorca, muerte de un poeta - Episode 3 [11:58] Auf der visuellen Ebene ist es im Fall von Filmporträts zudem von außerordentlicher Bedeutung, die Rolle der biographischen Figur möglichst realistisch zu besetzen. Für Bardem stand daher die Notwendigkeit einer hohen physiognomischen Ähnlichkeit mit dem Protagonisten im Vordergrund, weshalb die Wahl letztlich auf den britischen Schauspieler Nickolas Grace fiel. Ähnlich verfuhr der Regis57 58 59 60 61
Vgl. Gibson, Federico García Lorca. Biographie, S. 643. Vgl. 40:53-41:19. Vgl. 17:50. Vgl. 22:36. Vgl. Archiv Margarita Xirgu, URL: http://margaritaxirgu.es (03.08.2009).
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Verena Berger seur auch beim Casting des restlichen, sehr umfangreichen Personeninventars.62
Künstlerfiguren, Kunst und Overflow Im Fall eines Künstler-Biopics ist die Aufarbeitung der Laufbahn der Hauptfigur und die Entstehung des künstlerischen Werks relevant. Auch im Fall einer TV-Miniserie wie Lorca, muerte de un poeta stellt sich daher die Frage, in welcher Form die Narration eine Homologie zwischen Handlung und filmischer Ästhetik hervorbringt und der Overflow-Effekt zum Tragen kommt.63 In welcher Form prägt das künstlerische Schaffen García Lorcas Bardems televisives Filmporträt? Lässt sich die ¿Aura¾ von Literatur, Musik oder Malerei mittels kinematographischer Techniken transportieren? Lorca, muerte de un poeta ist zwar auf den ersten Blick vor allem ein biographisches Filmporträt. Dennoch können zahlreiche Strategien ausgemacht werden, die das Bestreben des Regisseurs untermauern, ein möglichst umfassendes Bild von García Lorca als vielfältige künstlerische Persönlichkeit zu kreieren. Auf der narrativen Ebene fokussiert Bardem auf das soziale Umfeld des spanischen Dichters: die Studienjahre in der Residencia de Estudiantes, die Freundschaft mit Buñuel und Dalí oder der Kreis der Dichter der Generación del 27, die auf Leben und Werk des Künstlers einen großen Einfluss ausübten, werden ebenso integriert wie viele andere Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, darunter der Komponist Manuel de Falla, die Schauspielerin Margarita Xirgu, die Sängerin Encarnación López Júlvez, genannt »La Argentinita«, oder der Stierkämpfer Ignacio Sánchez Mejías. Vor allem in den ersten vier Folgen lässt sich eine hohe Konzentration der Hinweise auf Lyrik, Theater, Malerei und Musik ausmachen, die sich in den Figurenkonstellationen und im Setting manifestieren. Ein Schwerpunkt der TV-Miniserie liegt auf der filmischen Repräsentation García Lorcas als Schriftsteller. Das literarische Werk des Protagonisten, aber auch das anderer Autoren, ist in erster Linie auditiv präsent und wird in Form von Voice-Over-Kommentaren 62 Mehr als 200 Schauspielerinnen und Schauspieler, darunter auch zahlreiche Laiendarstellerinnen und -darsteller, wirkten bei den Dreharbeiten mit. Gedreht wurde an Originalschauplätzen in Andalusien, Madrid, Valladolid, Santander, Cadaqués, Buenos Aires und New York. Vgl. Cerón Gómez: El cine de Juan Antonio Bardem, S. 266. 63 Unter Overflow-Effekten versteht Henry M. Taylor »Übertragungseffekte von der Welt der filmischen Geschichte und der Handlungsfunktion des Protagonisten auf den narrativen Stil«. Vgl. Taylor: Rolle des Lebens. Die Filmbiographie als narratives System, S. 320.
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Eine Miniserie als Erinnerungstext wiedergegeben, die Ausschnitte aus Tagebüchern oder Gedichten enthalten. Gleichzeitig rekurriert der Regisseur auf die Visualisierung von Lesungen einzelner Werke sowie auf die filmische Rekonstruktion von Uraufführungen von Theaterstücken, darunter in der zweiten Folge auf El maleficio de la mariposa (22. März 1920, Madrid), in der dritten Folge auf Mariana Pineda (24. Juni 1927, Barcelona) und in der vierten Folge auf Bodas de sangre (8. März 1933, Madrid) sowie Yerma (29. Dezember 1934, Madrid). Der eigentliche künstlerische Schaffensprozess als Schriftsteller wird hingegen selten visualisiert. Eine der wenigen Sequenzen, die dem Akt des Schreibens gewidmet ist, zeigt den Protagonisten in der ersten Episode beim Verfassen des Gedichts ¡Cigarra!,64 das mittels Voice-Over rezitiert wird.65 Federico García Lorca als Schriftsteller
Quelle: Lorca, muerte de un poeta - Episode 1 [43:15] Stattdessen fließt García Lorcas Leidenschaft für Musik, Klavierspiel und Gesang häufig in die filmische Narration ein. In der ersten Episode spielt er vor größerem Publikum Danza de la vida breve von Manuel Falla am Klavier66 und in der vierten67 und sechsten Folge68 begleitet und singt er das während des Spanischen Bürgerkriegs populäre andalusische Volkslied Anda Jaleo, dessen Text der Schriftsteller durch seine Recherchen der Nachwelt überlieferte. Auch die Malerei, die oftmals als García Lorcas »heimliche Geliebte«
64 Vgl. 43:10-44:15. 65 Das Gedicht entstand am 3. August 1918 in Fuente Vaqueros und ist seiner Jugendliebe María Luisa Natera gewidmet. Vgl. Jesús Ruiz Mantilla, »La novia de Lorca y otros amores«, in: El País, 8. März 2009, o.S. 66 Vgl. 12:58-13:57. 67 Vgl. 11:08-13:01. 68 Vgl. 25:27-26:58.
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Verena Berger bezeichnet wird,69 kommt in Form von Zeichnungen vor allem im Setting zur Geltung: Das Bild Virgen de los siete dolores (1924) schmückt in der dritten Folge das Zimmer des Protagonisten in der Residencia de Estudiantes.70 Die größere Attraktivität der filmischen Darstellung von Musik und bildender Kunst in biographischen Filmporträts rückt damit auch in Lorca, muerte de un poeta in den Vordergrund.71 Hervorzuheben ist schließlich der poetisierende Overflow in der filmischen Umsetzung der gesamten Staffel. Am offensichtlichsten lässt sich dies anhand der stilistischen Gestaltung zahlreicher Filmbilder veranschaulichen, in denen vom Mond erleuchtete Landschaften dominieren. Als Symbol spielt der Himmelskörper im Fundus des malerischen und lyrischen Werks García Lorcas immer wieder eine entscheidende Rolle und steht nicht nur für Erotik und Fruchtbarkeit, sondern auch für Schmerz, Leid und Tod.72 Bei Überleitungen zwischen einzelnen Sequenzen rekurriert Bardem häufig auf die ästhetische Wirksamkeit sprachgewaltiger Gedichte, in denen der Mond einen Schatten auf die menschliche Existenz wirft oder jegliche Illusion einer glücklichen Kindheit zerstört.73 Der Fokus liegt jedoch nicht vorrangig auf der filmischen Einbindung von Mondscheinnächten oder einer implizit ästhetisierten Anschlussfähigkeit zwischen einzelnen Filmsequenzen und Narrationssträngen. Vielmehr knüpft die Visualisierung des Mondes häufig an Emotionen und Stimmungslagen des Protagonisten an: Die letzte Sequenz der fünften Folge spielt am 20. Juli 1936, zwei Tage nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges. Eröffnet wird mit einer Großaufnahme des Mondes und einem anschließenden Schwenk über den Nachthimmel und Palmenkronen hinweg in eine Vogelperspektive des Innenhofs des elterlichen Landguts Huerta de San Vicente, wo der Protagonist ruhelos auf- und abgeht. Im Zwiegespräch mit der Mutter verweist die filmische Figur darauf, dass die Kanonenschüsse mit dem aufgehenden Mond verhallt wären. Die Todesahnung des Dichters vorausnehmend, werden in einem Voice-Over-Kommentar Verse aus Gacela de la muerte oscura aus der Sammlung Diván del Tamarit/Sonetos del amor oscuro rezitiert, 69 Vgl. Gregorio Prieto: Lorca y la generación del 27, Madrid: Editorial Biblioteca Nueva 1977, S. 2 70 Vgl. 04:37. 71 Vgl. Jürgen Felix: »Künstlerleben im Film. Zur Einführung«, in: Genie und Leidenschaft. Künstlerleben im Film, hg. von Dems., St. Augustin: Gardez!, 2000, S. 14. 72 Vgl. Manuel A. Arango L.: Símbolo y simbología en la obra de Federico García Lorca, Madrid: Fundamentos, S. 59. 73 Vgl. Candelas Newton: Lorca, una escritura en transe: Libro de poemas y Diván del Tamarit, Amsterdam: John Benjamins 1992, S. 106.
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Eine Miniserie als Erinnerungstext während ein weiterer langsamer Schwenk nach oben erneut den Nachthimmel und schließlich den Mond in den Mittelpunkt rückt und die Sequenz damit schließt:74 »Ich möchte ein Weilchen schlafen, ein Weilchen, eine Minute, ein Jahrhundert; doch alle sollen wissen, ich bin nicht gestorben; [...]«75
Bildungsauftrag eines televisiven Filmporträts Mit der TV-Miniserie Lorca, muerte de un poeta beschränkte sich der Regisseur Juan Antonio Bardem nicht ausschließlich auf die Gestaltung einer mehrteiligen Filmbiographie. Vielmehr entwarf der Cineast, um unbedingte Treue gegenüber den geschichtlichen Daten und Fakten bemüht, ein historisches Fresko mit hohem Kunstanspruch, das den Esprit einer Epoche der spanischen Geschichte integriert. Über García Lorcas Figur hinaus gestaltete Bardem ein Zeitporträt des gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Klimas in Spanien am Beginn des 20. Jahrhunderts.76 Mit Lorca, muerte de un poeta entstand folglich ein umfangreicher filmischer Erinnerungstext, der gleichermaßen den Bildungsauftrag von Fernsehen als Massenmedium erfüllt: Mittels der Klammerung ¿individuell/kollektiv¾ forderte die TV-Miniserie bereits Ende der 1980er Jahre die Notwendigkeit eines kinematographischen und historischen Gedächtnisses im post-franquistischen Spanien ein. Implizit gelang es dem Regisseur, das biographische Subjekt als Symptom sozialer Widersprüche im Spannungsfeld von Kollektiv und Individuum einem breiten Fernsehpublikum näher zu bringen und damit in Spanien zur Popularisierung von historischem Wissen beizutragen.
74 Vgl. 50:16-52:15. 75 Dt. »Gasele VIII: Vom dunklen Tod«, in: Federico García Lorca: Diwan des Tamarit/Diván del Tamarit. Sonette der dunklen Liebe/Sonetos del amor oscuro, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 25 (Übertragung von Rudolf Wittkopf und Lothar Klünner). 76 Lorca, muerte de un poeta wurde 1987 mit dem Preis Teleprograma de Oro für die beste spanische Fernsehserie ausgezeichnet. 1988 wurde die TV-Miniserie mit einigen internationalen Kritikerpreisen (Filmfestivals von Monte Carlo, Marrakesch und Bagdad) sowie mit dem Preis des Centro de Investigaciones Film-Historia ausgezeichnet. Vgl. Cerón Gómez: El cine de Juan Antonio Bardem, S. 311.
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Verena Berger
Literatur Álvarez Monzoncillo, José María/Iwes, Jean Luc: El futuro audiovisual en España. Las transformaciones ante el nuevo marco europeo, Madrid: Fundesco 1992. Arango L., Manuel Antonio: Símbolo y simbología en la obra de Federico García Lorca, Madrid: Fundamentos ²1998. Cerón Gómez, Juan Francisco: El cine de Juan Antonio Bardem, Murcia: Universidad de Murcia 1998. Cortés Lahera, José Angel: La estrategia de la seducción. La programación en la neotelevisión, Pamplona: Eunsa 1999. Crusells, Magí: Cine y Guerra Civil española, Madrid: JC 2006. Delgado, María M.: Federico García Lorca, London: Routledge 2008. García Lorca, Federico: Diwan des Tamarit/Diván del Tamarit. Sonette der dunklen Liebe/Sonetos del amor oscuro, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. Gibson, Ian: La muerte de Federico García Lorca: la represión nacionalista de Granada en 1936, Paris: Ruedo Ibérico 1975. Ders.: Federico García Lorca. I.- De Fuente Vaqueros a Nueva York. 1898-1929, Barcelona: Grijalbo 1985. Ders.: Federico García Lorca. II.- De Nueva York a Fuente Grande. 1929-1936, Barcelona: Grijalbo 1986. Ders.: Federico García Lorca. Biographie, Frankfurt am Main/Leipzig: Suhrkamp 1991. Felix, Jürgen: »Künstlerleben im Film. Zur Einführung«, in: ders. (Hg.) Genie und Leidenschaft. Künstlerleben im Film, St. Augustin: Gardez! 2000, S. 9-18. Hickethier, Knut: Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens (Schriftenreihe: Kultur - Medien - Kommunikation), Lüneburg: Lüneburger Beiträge zur Kulturwissenschaft 2, 1991. Jordan, Barry/Morgan-Tamosunas, Ricky: Contemporary Spanish Cinema, Manchester: Manchester University Press 1998. Lukács, Georg: Wider den mißverstandenen Realismus, Hamburg: Claassen 1958. L.V.: »Se rueda la serie Lorca, muerte de un poeta, un ambicioso proyecto dirigido por el veterano Juan A. Bardem«, in: La Vanguardia (19. Juli1 987), o. S. Mena, José Luis: Las mejores miniseries de la historia de la televisión, San Sebastián de los Reyes/Madrid: Cacitel 2008. Newton, Candelas: Lorca, una escritura en transe: Libro de poemas y Diván del Tamarit, Amsterdam: John Benjamins 1992. Palacio, Manuel: Historia de la televisión en España, Barcelona: Gedisa ²2005.
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Eine Miniserie als Erinnerungstext Palacio, Manuel/Ibáñez, Juan Carlos: »Biografía y ficción histórica HQ OD REUD GHO %DUGHP ¿WHOHYLVLYR¾ -1992)«, in: José Luis Castro de Paz/Julio Pérez Perucha (Hg.), El cine a codazos: Juan Antonio Bardem, Ourense: Festival del Cine de Ourense 2004, S. 141-151. Prieto, Gregorio: Lorca y la generación del 27, Madrid: Editorial Biblioteca Nueva 1977. Ruiz Mantilla, Jesús: »La novia de Lorca y otros amores«, in: El País (08. März 2009), o.S. Taylor, Henry M.: Rolle des Lebens. Die Filmbiographie als narratives System, Marburg: Schüren 2002. Ders.: »Memento mori. Der Anfang im biographischen Spielfilm«, in: Fin d'un début - Ende eines Anfangs. Montage/AV - die Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation (2003), S. 39-51. Triana-Toribio, Núria: Spanish National Cinema, London: Routledge 2003. Internetquellen: Archiv Margarita Xirgu, http://margaritaxirgu.es (03.08.2009). del Río, Joel: »Proyector de luna: el ojo y la palabra«, La Jiribilla, Revista digital de cultura cubana 6 (2006), http://www.la jiribilla.co.cu (02.08.2009). Rosenstone, Robert A.: »History in Images/History in Words: Reflections on the Possibility of Really Putting History onto Film«, in: Screening the Past (61999), http://www.latrobe.edu.au/ screeningthepast (22.07.2009). Utrera Macías, Rafael: Federico García Lorca - Cine: El cine en su obra, su obra en el cine, Alicante: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes 2001, http://www.cervantesvirtual.com/(03.08.2009).
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»¡Hola, mis queridísimos amigos y bienvenidos como siempre a nuestro queridísimo Cine de Barrio!«1 ² Der Nostalgieboom im staatlichen spanischen Fernsehen HANNA HATZMANN
Einleitung Meine erste Begegnung mit Carmen Sevilla und »Cerezito« war unerwartet und nachhaltig. Ich saß auf dem Sofa einer Madrider Freundin, als am Bildschirm ² wie gespiegelt ² ein zweites Wohnzimmer Gestalt annahm. Eine barock gekleidete und toupierte Dame um die siebzig hieß die Zuschauerschaft überschwänglich gestikulierend bei Cine de Barrio2 willkommen. Wie mir meine Freundin auf mein Nachfragen erklärte, handelte es sich dabei um die Filmlegende Carmen Sevilla. Zu ihrer Rechten blickte ein wesentlich jüngerer Co-Moderator, den sie schmeichelnd »Cerezito« nannte, mit leicht fatalistischem Gesichtsausdruck in die Kamera. Unterlief ihr ein Versprecher oder eine Entgleisung, was häufig vorkam, soufflierte er vorsichtig die richtigen Worte. Angesichts der hilflosen Komik von Sevillas Fernsehpräsenz, der opulenten Ästhetik der Studiokulisse, der Videoclips volkstümlicher Canciones und anderer nationaler Hits und angesichts des anschließend ausgestrahlten Folklorefilms drängten sich mir Fragen auf: War diese Sendung Ergebnis eines Fernsehexperiments von Pedro Almodóvar? Wurde hier die franquistische Fernsehkultur der 1970er Jahre parodiert? Oder meinten die verantwortlichen Redakteure es ernst?
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Ritueller Einstiegssatz der Sendung: »Guten Tag, meine über alles geliebten Freunde und wie immer herzlich willkommen zu unserem geliebten Cine de Barrio!« Übers. hier und in der Folge von der Verf. Spanische Bezeichnung für kleine Nahversorgerkinos in Dörfern und Stadtteilen großer Städte.
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Hanna Hatzmann Carmen Sevilla kann man zu Recht als Fossil der spanischen Medienlandschaft bezeichnen. Als eine der Wenigen gelang ihr in den 1950er Jahren der Sprung nach Hollywood. Nachdem sie zur Zeit des »Destape«3 Ende der 1960er Jahre mit frivoleren Filmen den Wiedereinstieg nach einer Kinderpause versuchte, folgte Ende der 1970er Jahre wegen vermeintlicher Unvereinbarkeit von Ehe und Karriere ein Rückzug aus der Öffentlichkeit. Auf einem Bauernhof in Andalusien widmete sie sich fortan der Schafzucht. Schließlich startete sie wie manch andere ihrer Weggefährten in den 1990ern mit dem Aufstieg der Privatsender ein Comeback im Fernsehen.4 Cine de Barrio wird seit 10. Juli 1995 unter wechselnden Generaldirektoren unterschiedlicher politischer Couleurs ohne Pause gesendet. Meine Verwunderung darüber, dass sich ein derart anachronistisches Sendeformat unter der nicht selten peinlich senilen Gastgeberin Sevilla in der Programmgestaltung des ersten Kanals des spanischen Staatsfernsehens einen Fixplatz erobern konnte, wird von vielen Spaniern geteilt. Das belegen zahlreiche Parodien und Kommentare in Internetforen. Paco Umbral stilisiert Sevilla in seiner Kolumne in El Mundo vom 16.4.1994 zur Personifizierung einer Kultur des geistigen Stillstands in Spanien:5 »&DUPHQ 6HYLOOD >«@ VDOH SRU OD WHOH D FRQIXQGLUVH D KDFHUOR PDO D PHWHU XQ pie, y se ha convertido ya en la supermaruja, en la vecindona agrafa y buena de todos los españoles, en la vecina del perejil prestado y el roneo hortera. Carmen es la ignorancia como categoría estética y la aceptación que tiene es lo que nos da el nivel medio de la cultura popular, que a su vez es la cultura del paro, incluido el paro visual, osea que aquí nadie lee ni el revés de la quiniela.«6
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Hier Bezeichnung für die neue (erotische) Freizügigkeit nach Francos Tod. U.a. in Telecupón (1991-1997, Telecinco), La noche de Carmen und die Serie Ada Madrina (beides Antena 3). 2005 Teilnehmerin des Tanzwettbewerbs Mira quien baila auf TVE, Gastauftritte in diversen Shows, zuletzt in En noches como esta (TVE) oder Los mejores años de nuestra vida (TVE) (vgl. http://es.wikipedia.org/wiki/Carmen_Sevilla, 14.5.2009). Francisco Umbral: »Los placeres y los días. Carmen Sevilla«, El Mundo, 16.2.1994. Übers.: »&DUPHQ6HYLOOD>«@WULWWLP)HUQVHKHQDXIQXUXPvon einem Versprecher zum nächsten zu stolpern, ihre Inkompetenz zur Schau zu stellen, ins Fettnäpfchen zu treten. Sie hat sich in die Superklatschtante verwandelt, in das liebe, analphabetische Hausmütterchen aller Spanier, in die Nachbarin der geliehenen Petersilie und des geschmacklosen Tratschs. Carmen ist die Unwissenheit als ästhetische Kategorie, und ihre Popularität spiegelt wider, was das Mittelmaß der Popularkultur zu bieten hat. Sie repräsentiert eine Kultur des geistigen und ästhetischen Stillstands und ist der lebende Beweis dafür, dass in diesem Land niemand etwas liest, nicht einmal die Rückseite des Lottoscheins.«
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Nostalgieboom im spanischen Fernsehen Für viele ältere Spanier ist Sevilla aufgrund ihres eben umrissenen Werdegangs aber eine echte Identifikationsfigur. An seinem Sendeplatz am Samstag Vorabend von 18 bis 21 Uhr stellte Cine de Barrio über Jahre den Quotenführer. Spitzenquoten von 40% zu Beginn der Ausstrahlung pendelten sich bis 2003 auf etwa 20% ein.7 Dieses Publikum als geistlos und reaktionär abzutun, wäre zu kurz gegriffen. Die widersprüchliche Rezeption der Sendung und ihrer Moderatorin zeigt hingegen meiner Ansicht nach klar, dass sie einen gesellschaftlichen Nerv trifft. »Nostalgia sells«, und so ist es wenig verwunderlich, dass Cine de Barrio Vorreitersendung einer Trendwelle Richtung Retro, Kitsch und Nostalgie ist, die im staatlichen spanischen Fernsehen in den letzten Jahren über alle Sendeformate hinweg zu beobachten war. Die donnerstags zur Primetime programmierte Familienserie Cuéntame cómo pasó8 ist soeben am Ende der elften Staffel angelangt. Wochentags im Nachmittagsprogramm wird die ebenfalls eigenproduzierte Telenovela Amar en tiempos revueltos9 gezeigt, in der die entbehrungsreichen Jahre nach Ende des Bürgerkriegs als Folie für Erzählungen von Liebe und Verrat genutzt werden. Die zur Primetime am Dienstag ausgestrahlte Retro-Show Los mejores años de nuestra vida: Canción a Canción 10 wurde aus dem angelsächsischen Raum für Spanien adaptiert. Der Kulturwissenschaftler Paul Grainge analysierte in seinem Aufsatz »Nostalgia and Style in Retro America«11 Nostalgiesendungen des US-amerikanischen Fernsehmarkts der 1990er Jahre. Er zeigt auf, dass Nostalgie einerseits ein von breiten Gesellschaftsgruppen empfundenes Gefühl (»mood«) der Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit bezeichnet, die aus einem Unbehagen an der Gegenwart entsteht. Im Zusammenhang mit Medienprodukten ist damit laut Grainge andererseits aber auch eine formale und ästhetische Modalität (»mode«) gemeint. Seiner Ansicht nach ist der »Nostalgie Modus«12 im Kontext der boomenden Heritage Industry oder »Economy of pastness«13 eine Strategie von Medienunternehmen, um in sehr gesättigten Märkten bei genau diesen Gesellschaftsgruppen Quoten zu erwirtschaften und sich ein unverwechselbares Profil zu kreieren: 7 8 9 10 11
Durchschnittsquote 27,6% oder 2.344.000 Zuschauer. Übers.: Erzähl mir von damals. Übers.: Liebe in Zeiten des Aufruhrs. Übers.: Die besten Jahre unseres Lebens: Song für Song. Vgl. Paul Grainge: »Nostalgia and Style in Retro America. Moods, Modes and Media Recycling«, in: Journal of American and Comparative Cultures, 23/1 (2000), S. 27-34. 12 Ebd., S. 28 ff. 13 Ebd.
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Hanna Hatzmann »[Nostalgia] is not, in other words, symptomatic of cultural or consumer longing but is an index of commodities, media products, and programming orientations, that draw upon notions of tradition or use an idea of past to position themselves within particular niche markets.«14
Inwiefern sich diese Beobachtung auf den Vergangenheits-Boom im öffentlich-rechtlichen spanischen Fernsehen anwenden lässt, soll infolge beantwortet werden. Das Fallbeispiel Cine de Barrio hilft außerdem auszuloten, welche gestalterischen Mittel von den Sendungsmachern eines Nostalgieformats angewandt werden, um Vergangenheit und Gegenwart zum harmonischen Kontinuum verschmelzen zu lassen, oder mit anderen Worten: um zu zeigen, wie Nostalgie auf dem Bildschirm Gestalt annimmt.
Cine de Barrio: Harmonie als oberstes Gestaltungsprinzip DAS FORMALE UND INHALTLICHE SENDUNGSKONZEPT Der Beginn von Cine de Barrio wird durch einen vorüberziehenden Filmstreifen in grellen Farben angekündigt, während die Schlussakkorde eines der populärsten spanischen Volkslieder ertönen: La bien pagá15, interpretiert von Miguel de Molina. Anschließend folgt eine Totale auf das Studio. Es ist einem Wohnzimmer oder feineren Salon nachempfunden, soll eine intime, vertrauliche und trotzdem distinguierte Atmosphäre schaffen. Mit den Jahren ist der Dekor im Vergleich zu den Anfängen der Sendung unter José Manuel Parada16 etwas zurückhaltender und dezenter geworden: zwei weiße Sofas, zwei opulente Tischgedecke, ein roter Teppich dazwischen, in der Mitte thront auf Beinen, die griechischen Säulen nachempfunden sind, ein Glastisch. Die beiden Wände im Hintergrund zieren
14 Ebd., S. 30. 15 Übers.: Die reich Bezahlte. Erzählt von einem Freier, der seine käufliche Geliebte verlässt, weil er sich in eine ehrbare Frau verliebt hat, die ihn allein durch einen Kuss für sich gewonnen hat. 16 Der Societylöwe Parada war von 1995 bis 2003 Moderator und Produzent der Sendung. Dann führten wiederholte mediale Skandale zu seiner Absetzung. Informell wurde berichtet, seine Produktionsfirma habe sich an der Sendung bereichert. So übernahm im Januar 2004 putschartig die 78jährige Carmen Sevilla die Ägide der Sendung (vgl. Lorenzo Díaz: 50 años de TVE, Madrid: Alianza 2006, S. 356f.).
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Nostalgieboom im spanischen Fernsehen Filmplakate. Opulent und üppig geblieben sind Carmens mit jeder Sendung wechselnde barocke Kostüme und Frisuren, die bösen Zeitungsberichten zufolge einen großen Anteil des Sendebudgets beanspruchen. Establishing Shot aus Cine de Barrio
Quelle: Cine de Barrio, 20.9.2008 Jede Sendung folgt einem am Kirchenjahr, Jahreskreis oder Festtagskalender orientierten Leitmotiv, auf das die Auswahl der Filme und Gäste abgestimmt ist. Cine de Barrio vom 12.7.2008 ist dem Día de San Cristobal, Schutzheiliger aller Autofahrer, gewidmet. Als Film der Woche steht Sor Citroën17 (Pedro Lazaga, 1967) auf dem Spielplan: eine Comedia del desarrollismo18, in der eine progressive Nonne, dargestellt von Gracita Morales, für ihr Kloster ein Auto ersteht, mit der Steuerung des Gefährts aber anfangs eher überfordert ist. Ins Studio geladen wurde in jener Woche Antonia Hernández Peralta alias La Perla de Huelva19, Interpretin des Schlagers Amigo Conductor20. In der folgenden Woche, am 26.7.2008, wurde anlässlich des Tags der Großeltern eines der zwölf Enkelkinder von Don Paco (Paco Martínez Soria) interviewt und El abuelo tiene un plan21 (Lazaga, 1973) ausgestrahlt. In den im Laufe des Studiogesprächs eingespielten Fernsehzusammenschnitten wird auf Karrierehöhepunkte der Gäste zurückgeblickt, werden unterschiedliche Interpretationen eines Volkslieds oder Schlagers zum Rahmenthema angespielt oder wird
17 Übers.: Schwester Citroën. 18 Genre des spanischen Populärkinos der 1960er Jahre. Zum einen werden die Wunder der Modernisierung Spaniens gepriesen, andererseits wird aber auch die Wichtigkeit der Beibehaltung katholischer, patriarchaler Werte eingemahnt. 19 Übers.: Die Perle von Huelva. 20 Übers.: Lieber Autofahrer. 21 Übers.: Großvater hat einen Plan.
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Hanna Hatzmann eine bereits verstorbene Person des Show- oder Volksliedbusiness anlässlich ihres Geburts- oder Sterbetages geehrt. Bestandteil jeder Sendung ist ein Jahresrückblick. In der Folge vom 12.4.2008 wird anlässlich der Ausstrahlung von Relaciones casi públicas22 (José Luis Sáenz de Heredia, 1968) auf das emblematische Jahr 1968 zurückgeblickt. Elf Minuten lang werden 46 kurze Clips eingespielt. Ein Drittel davon hat Fernsehdarbietungen populärer musikalischer Hits zum Thema, ein Drittel Medien- und Fernsehgeschichte, ein weiteres Drittel beschäftigt sich mit Ereignissen, vornehmlich gesellschaftlichen Events wie Königshochzeiten oder Staatsbesuche, in Spanien und im Ausland. Eine Ausnahme stellt die wie beiläufige Erwähnung der Blockade von Gibraltar und der Studentenproteste in Frankreich und in Spanien dar. Jahresrückblick 1968
Quelle: Cine de Barrio, 12.4.2008 In der Kompilation der Videoclips, durch die J.C. Cerezo in beschwingtem Voiceover führt, erfolgt also zwischen innenpolitischen, außenpolitischen, fernsehgeschichtlichen oder gesellschaftlichen Ereignissen keine Hierarchisierung. Im Gegenteil liegt das Hauptaugenmerk auf Harmonisierung: Auf das Video eines Gospelsongs der Los Pop Tops folgen, während auf der Tonebene noch dessen Refrain »No I cannot understand, no I never understand! Oh Lord, why lord« nachklingt, auf der Bildebene bereits Aufnahmen Pflastersteine werfender Studenten im Mai ·68 in Paris. Auf einer zweiten Tonspur kommentiert Cerezos Stimme beschönigend: »Y mientras en Francia los estudiantes se enfrentaban a la policía, pidiendo lo imposible, en España algunos profesores y estudiantes eran apar-
22 Relaciones públicas ist einerseits die spanische Übersetzung für Public Relations. Andererseits bedeutet der Titel: Ein fast öffentliches Verhältnis. Concha Velasco spielt eine PR-Dame, die einem noch unbekannten Sänger (Manolo Escobar) zu Ruhm verhelfen möchte. Die beiden verlieben sich, brauchen aber lange, um es sich in aller Öffentlichkeit einzugestehen.
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Nostalgieboom im spanischen Fernsehen tados de las aulas.«23 Die Begleitmusik wattiert die konfliktive Botschaft von Voiceover und Bildebene in melancholisch-positive Emotionen. Der Songtext wirkt wie ein anklagendes Werturteil zu den Bildern rebellierender Studenten. Auf der Ebene der mise en scène wird Kontinuität suggeriert, indem die Kulisse einem Wohnzimmer nachempfunden wurde. Im Studio wird so die Rezeptionssituation der Zuschauer gespiegelt. Unsere Blickachse trifft auf die der Moderatoren. Eine intime, persönliche Kommunikationssituation wird generiert. Vergangenheit und Gegenwart stellen sich als ein Kontinuum dar, wenn durch die Verquickung von Archiv-, Film- und Studiobildern Joselito dem Publikum sowohl als Niño prodigio als auch als sein um vierzig Jahre gealtertes Alter Ego auf dem Fernsehbildschirm entgegenblickt. Auch die Stars im Studio sind wie deren Fans vor den Fernsehgeräten älter geworden, die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen, und doch sind sie unverkennbar dieselben. Joselito gestern und heute
Cine de Barrio, 20.9.2008 Knut Hickethier bezeichnet diese Sendungsstruktur, die performative Live-Texte durch vorproduzierte Beiträge unterbricht und auflockert, als »kombinierten Fernsehtext« und hebt daran ebenfalls dessen »doppelt präsentischen Charakter« hervor: »Er liefert einerseits eine Vergegenwärtigung des vergangenen Geschehens im filmischen Text, andererseits die Gegenwartsstruktur des Live-Textes. Beide Prinzipien überlagern sich und werden zum Ausgangspunkt einer vom Zuschauer weitgehend homogen erfahrenen zeitlichen Einheit: einerseits gegenwärtig zu sein, andererseits auch die Vergangenheit nach Belieben in den Text ]XLQWHJULHUHQ>«@«24
23 Übers.: »Während sich in Frankreich die Studierenden Gefechte mit der Polizei lieferten und das Unmögliche einforderten, wurden in Spanien einige Studenten und Professoren aus den Hörsälen entfernt«. 24 Ebd. Knut Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart: Metzler 2003, S. 112.
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Hanna Hatzmann Durch die inhaltliche Orientierung am Kalenderjahr dominiert wie in den franquistischen NO-DOs25 ein zirkuläres Zeitverständnis des ewig und verlässlich Wiederkehrenden über das lineare Zeitverständnis von Entwicklung und Fortschritt.26 Paul Julian Smith spricht von einer »conversion of the present into static, imperial ceremony«.27 Diese Beschreibung der formalen Sendungsgestaltung zeigt anschaulich, wie eine Sendung wie Cine de Barrio Vergangenheit vergegenwärtigen und positive Emotionen erzeugen kann, obwohl die nostalgisch ersehnte Zeit von Konflikten, Repression und Zensur geprägt war: Indem Reibungsfelder durch Vereinfachung und NeuZusammenfügung einzelner unzusammenhängender Versatzstücke aus der Vergangenheit ausgeblendet oder harmonisiert werden. Das Ergebnis dieser Operation ist Kitsch, ein »Recycling des Abfalls zurück in die Kultur«.28 Dadurch wird nach Meinung Vilém Flussers ein in post-industrialisierten Gesellschaften stark vorhandenes Bedürfnis nach vormoderner, zirkulärer Zeit gestillt. Indem das Linearitätsdiktum der Moderne außer Kraft gesetzt wird, schließt Kitsch an den performativen Charakter individueller Erfahrungen an, die ebenfalls auf ständigem Wiedererleben basieren. Da diese Vergangenheitsbruchstücke für sich genommen nur noch oberflächliche Reste der Information des Ursprungsprodukts enthalten, sind sie leicht verdaulich und erwecken gebündelt in einer Fernsehsendung doch den Eindruck von Informationsreichtum.29 Der Zusammenhang von Nostalgie und Kitsch stellt sich meiner Ansicht nach als das Verhältnis von Inhalten zu deren ästhetischer Materialisierung dar: Das Bedürfnis nach Harmonie, positiven
25 Noticias Documentales (No-Dos). Seit 1943 verpflichtend im Kino gezeigte Wochenschauen des Regimes; erst 1981 endgültig abgeschafft (vgl. Rafael R. Tranche/ Vicente Sánchez-Biosca: NO-DO. El tiempo y la memoria, Madrid: Cátedra 2006, S.IX). 26 Vgl. Paul Julian Smith: Television in Spain. From Franco to Almodóvar, Woodbridge: Tamesis 2006, S. 63 und Tranche/ Sánchez Biosca: NO-DO, S. 277. 27 Smith: ebd. 28 Vilém Flusser: »Gespräch, Gerede, Kitsch. Zum Problem des unvollkommenen Informationskonsums«, in: Kitsch. Texte und Theorien, hg. von Ute Dettmar und Thomas Küpper, Stuttgart: Reclam 2007, S. 293. 29 Hier stellt Flusser den Zusammenhang zwischen Kitsch und Faschismus her: »Ein Musterbeispiel dafür bietet der Nazismus: halb verbrauchter Nationalismus, Sozialismus, halb verbrauchte Mythen, Wissenschaftshypothesen und Geschichtshypothesen werden zusammengeklebt, um den Eindruck von etwas Neuem zu erwecken und dabei doch leicht verdauliche Klumpen zu bilden« (ebd.).
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Nostalgieboom im spanischen Fernsehen Emotionen und wohligen Erinnerungen, dessen Erfüllung man in einem Wiedererleben der Vergangenheit zu finden glaubt, findet im Mode des Kitschs seine Realisierung.
DIE FILMAUSWAHL Auch der Titel Cine de Barrio suggeriert Kontinuität: Er nimmt auf einfache, kleine Nahversorgerkinos in den Dörfern und Randbezirken der Städte Bezug. Sie erlebten in den 1950ern und 60er Jahren ihre Blütezeit und wurden dann in den 1970er Jahren zunehmend vom neuen Massenmedium Fernsehen verdrängt.30 Es scheint logisch, dass mittlerweile gerade eine Fernsehsendung für die treuen Kinobesucher von damals und ihre Kinder und Kindeskinder diese Atmosphäre des wochenendlichen Kinobesuchs im Kreis der Familie wiederauferstehen lässt. »Difundir y promocionar el cine nacional, recuperando para el gran público las películas más entrañables de nuestro cine«31 ist das angesichts der tendenziösen Schwerpunktsetzung auf ideologisch eher rechtslastige Filme sehr euphemistisch formulierte Ziel des Senders. Gemeint sind keine Autorenfilme von Bardem, Berlanga oder Saura, sondern kommerzielle Produktionen einfacher und serieller Machart für den Massenkonsum: Filme von regimenahen Regisseuren wie Antonio del Amo, Juan de Orduña, Pedro Lazaga oder José Luis Sáenz de Heredia, Heimatfilme, Musikfilme mit den Niños prodigios32 Joselito und Marisol oder mit Manolo Escobar, Españoladas33 mit Carmen Sevilla, Rocío Jurado oder Lola Flores, Komödien mit Alfredo Landa. Volksmusik ist in allen gewählten Filmen wie auch in den Einspielungen während des Studiogesprächs ein entscheidendes Identifikationsmoment. Nach den bereits erwähnten Comedias del desarollismo brach nach Francos Tod die Zeit des Destape an: frivolere Filme, in denen dazumal katholisch-keusche Darstellerinnen wie Carmen Sevilla oder ehemalige Kinderstars wie Marisol Haut zeigten. Trotz viel Freikörperkultur in den jüngeren der Filme dominiert ein sehr traditionelles Rollenverständnis. Sie propagieren einerseits eine positive Einstellung gegenüber den materiellen Vorzügen der freien Marktwirtschaft, mahnen aber gleichzeitig ein, dem unter Franco
30 Selbst ein abgeschiedenes 1000-Seelen-Bergdorf wie Almendral de la Cañada im Bezirk Toledo verfügte in den 1960ern über 2 Kinos. 31 Übers.: »Dem nationalen Kino ein Forum zu schaffen und für das breite Publikum die mitreißendsten Filme unserer Geschichte neu aufzubereiWHQ«©Vgl. Webauftritt des Senders: www.rtve.es. 32 Übers.: Wunderkinder 33 Adaptation von Volkstheaterstücken und Operetten für das Kino.
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Hanna Hatzmann ausgerufenen Slogan »España es diferente«34 getreu nationale Werte wie Familie, Ehe, Kirche oder Patriotismus weiterhin zu pflegen.35 All diese Filme sind Teil des emotionalen Gedächtnisses mehrerer Generationen. Sie finden aus diesem Grund trotz ihrer klar revisionistischen Inhalte beständigen Anklang. Den aus der Mottenkiste hervorgeholten, mit ihrem Publikum alternden Helden des wertkonservativen franquistischen Kinos bescheren sie neue Popularität. Vicente Sánchez Bioscas36 Darstellung der Selbstinszenierung des Regimes in den NO-DOs ab Ende der 1950er Jahre bietet eine Erklärung dafür, warum gerade dieser Filmschwerpunkt gesetzt wurde: 1956 wurden mit mehreren Großereignissen und Filmproduktionen »25 Jahre Frieden« zelebriert. Spanien hatte sich gerade aus seiner internationalen Isolation befreit. Tourismus, Industrialisierung und Arbeitsmigration nach Westeuropa brachten eine Idee von Wohlstand ins Land. Franco wurde zunehmend weniger als Militär und Staatsmann und mehr als liebender Großvater und Freizeitmensch in Szene gesetzt. Eine Entpolitisierung des Landes wurde bewusst vorangetrieben. Einendes Moment waren der Konsum, das Streben nach ersten Luxusgütern wie einer Waschmaschine, einem Fernsehgerät oder später einem eigenen Auto.37 Die harmonisierende Botschaft der Filme dieser Phase des Franquismus deckt sich mit dem Sendekonzept von Cine de Barrio: Dem Publikum soll eine friedvolle Reise in Spaniens ganz und gar nicht friktionsfreie Vergangenheit geboten werden. Es wird also auf den Ebenen der Studiogestaltung, der formalen Sendungsstruktur, auf der Inhaltsebene sowie durch die Filmauswahl der Eindruck eines Kontinuitätsverhältnisses zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschaffen. Das sorgt für jenes positive Harmoniegefühl, das die Attraktion von Nostalgiesendungen ausmacht. Der Tod Francos und der Sieg der Sängerin Massiel beim Songcontest 1968 erfüllen unterschiedslos dieselbe Aufgabe: Die 34 Übers.: Spanien ist anders! 35 Vgl. Román Gubern: Historia del Cine Español. Madrid: Cátedra 2005, S. 331 ff. 36 Vicente Sánchez Biosca: Cine de Historia, Cine de memoria. La representación y sus límites, Madrid: Cátedra 2006, S. 45-64. 37 Die erste Folge von Cuéntame beginnt nicht zufällig mit dem langersehnten Ratenkauf eines Fernsehers durch den Familienvorstand Carlos Alcántara. Rechtzeitig, bevor der Eurovisionssongcontest übertragen wird, bei dem Massiel 1968 für Spanien mit ihrem Song »La, la, la« gewann, versammelt sich die Familie zum ersten Mal vor dem Bildschirm. Dieser Sieg galt viele Spaniern als Symbol dafür, dass Spanien sich zunehmend an den Rest Europas annäherte.
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Nostalgieboom im spanischen Fernsehen Zuschauer sollen in ihre »televisive Autobiographie«38 eintauchen und Erinnerungen, Emotionen oder Erfahrungen, die sie mit einem bestimmten politischen Ereignis, Bild, Lied oder Schauspieler assoziieren, neu durchleben dürfen. Die Bedeutung von Musik ist dabei herausragend. Rationales Begreifen tritt hinter das an die eigene Autobiographie rückgebundene emotionale Erinnern zurück. 39
TVE als Gedächtnisort der Nation Cine de Barrio wurde von der Qualitätspresse wegen seiner franconostalgischen Kuriosität peinlich berührt übergangen oder hämisch kritisiert. Den Erfolg der Serie Cuéntame como pasó werteten dieselben Kritiker dagegen als Zeichen für ein auf allen Ebenen neu erwachtes Interesse der Spanier und Spanierinnen an Zeitgeschichte. Nichtsdestotrotz werden viele der oben analysierten Gestaltungsprinzipien auch in dieser Serie angewandt: Wenn die Fernsehfamilie Alcántara in einer anderen zeitlichen Dimension und doch zeitgleich mit den Spaniern von heute Weihnachten feiert, verschmelzen wie in Cine de Barrio fiktionale Zeit und Kalenderzeit. Immer wieder werden bekannte Gesichter von damals wie Tony Leblanc oder Fernando Fernán Gómez eingeladen, Gastrollen zu spielen, und fungieren damit als so etwas wie personifizierte Gedächtnisorte innerhalb der Sendung.40 Ähnliches lässt sich auch über das bereits erwähnte Format Los mejores años sagen, in der Stars verschiedener Jahrzehnte um die Gunst einer jugendlichen Jury buhlen. Stets sind der Kult um Alltagsgegenstände und Mode von früher, das Recycling von Archivaufnahmen und deren Re-Montage zu Patchworktexten sowie ein klarer Fokus auf intuitives Erfühlen vor rationalem Begreifen die Erfolgsfaktoren, die TVE an vielen Abenden die Quotenführerschaft bescheren. Anlässlich des 2006 zelebrierten 50-jährigen Jubiläums von Televisión Española wurden Kult-Fernsehserien wie Verano Azul,41 Crónicas de un pueblo42 oder Historias para no dormir 43 wieder neu 38 Smith: Television in Spain, S. 17. 39 Ebd., S. 18; 21. 40 Vgl. dazu: Burkhard Pohl: »¶+HPRVFDPELDGRWDQWR·(OWDUGRIUDQTXLVPRHQ el cine español«, in: Cine, nación y nacionalidades en España, hg. von Nancy Berthier und Jean-Claude Seguin, Madrid: Casa de Velázquez 2007, S. 217-231; Isabel Estrada: »Cuéntame cómo pasó o la revisión televisiva de la historia española reciente«, Hispanic Review, Autumn 2004, S. 547-564; Paul Julian Smith: Television in Spain, 2006. 41 Übers.: Ein blauer Sommer. 42 Übers.: Chroniken eines Dorfes. 43 Übers.: Geschichten zum Gruseln.
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Hanna Hatzmann auf DVD verlegt. Das Internet erlebt innerhalb dieser Recyclingkultur ebenfalls eine zunehmende Nutzung: Unter dem neuen Generaldirektor Luis Fernández Fernández wurde eine eigene Direktion für interaktive Medien (iRTVE) aufgebaut, mit dem Ziel der Internetmarktführerschaft im spanischsprachigen Raum.44 Im Mai 2008 startete RTVE sein reformiertes Webportal, das viele der hauseigenen Sendungen und Serien on demand anbietet. Die meisten Shows, Serien und Telenovelas verfügen innerhalb dieses Portals über eine eigene Homepage mit einer Vielzahl interaktiver Elemente. Unter der Rubrik Los espectadores, protagonistas 45 wird die Fan Community anlässlich der zehnten Staffel von Cuéntame dazu aufgefordert, Fotos zur Frage Qué hacías tu en el verano de ¶"46 einzusenden. Fiktionale Fernsehbilder von heute und private Schnapp-schüsse von damals sind in ihrer Ästhetik nahezu nicht unterscheidbar, was die Identifikation mit der Serie als Dokument spanischer Alltagsgeschichte seitens des Publikums verstärkt. 2006 wurde die spanische Fernsehnation unter dem Slogan La imagen de tu vida47 dazu aufgerufen, die für sie bedeutendste Szene der spanischen Fernsehgeschichte der vergangenen 50 Jahre per SMS oder Internetvoting zu wählen. Es handelt sich nicht zufällig um dasselbe Bilderrepertoire, das auch in Cine de Barrio und in den oben genannten Sendungen wiederholt verwertet wird. Diese Flut an Nostalgie- und Retroprodukten wirft die Frage auf, was TVE mit diesem Programmschwerpunkt beabsichtigt. Reagiert das spanische Fernsehen damit sensibel auf Bedürfnisse der Spanier nach Kontinuität und Stabilität, die in einem Klima des gesellschaftlichen Umbruchs und der Globalisierung aufkommen? In einem Land wie Spanien, in dem zusätzlich zu globalen Entwicklungen in viel kürzerer Zeit als in den Ländern Mitteleuropas ein weitreichender gesellschaftlicher Wandel stattgefunden hat, scheint es mir plausibel, dass derartige Sehnsüchte existieren. In diesem Fall wäre TVE hauptsächlich als Rädchen in einem kulturpolitischen Getriebe zu verstehen, das in einer globalisierten Medienwelt im Partikularen, im Lokalen die Einzigartigkeit des Eigenen sucht und so Anhaltspunkte für Definitionen nationaler und regionaler
44 Vgl. http://www.rtve.es: Sala de Prensa, 10.5.2007: »Rosalía Lloret, nueva Directora de medios interactivos de la Corporación (iRTVE)«. 45 Übers.: Unsere Zuschauer als Protagonisten. 46 Übers.: Wie hast Du den 6RPPHU¶verbracht? Vgl. http://www.rtve.es/television/cuentame/participa/ (14.5.2009). 47 Übers.: Das Bild deines Lebens. Vgl. dazu z.B. http://www.vayatele.com/ tve-1/la-imagen-de-tu-vida-llega-a-su-fin.
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Nostalgieboom im spanischen Fernsehen Identitäten bietet.48 Das kann, wie im Fall von Cine de Barrio meiner Ansicht nach eingetreten, in Spanien leicht mit mehr oder weniger explizitem Revisionismus Hand in Hand gehen, da der Franquismus dieses Bestreben in Reinkultur verkörperte. Dass diese Fusion möglich ist und das staatliche Fernsehen dieses Sendeformat seit Jahren in seinem Programm weiterführt, sagt einiges über die scheinbar sehr weit definierten Grenzen des Möglichkeitsraums aus, innerhalb dessen Vergangenheit in Spanien vergegenwärtigt und interpretiert werden darf. Ein weiterer Erklärungsansatz hat mit der Stellung TVEs innerhalb des nationalen Fernsehmarkts zu tun: Seit der Zulassung des Privatfernsehens im Jahr 1990 steht der ehemalige Monopolist in einem harten Konkurrenzkampf mit den geschichtslosen Privaten Antena 3, Telecinco, La Cuatro und La Sexta. Da in Spanien keine Fernsehgebühren eingehoben werden, musste TVE seit 1983 mehr als die Hälfte seiner Einnahmen über Werbung lukrieren.49 Meiner Ansicht nach nutzte TVE geschickt sein Monopol auf das Bildergedächtnis der Nation, um dieses eben beschriebene Bedürfnis zu bedienen, sich als Gedächtnisort (lieu de mémoire) der Nation und damit als DER nationale Sender zu inszenieren und sich im Kampf um Werbekunden einen Wettbewerbsvorteil zu sichern. In Kürze soll allerdings eine im Zeichen der Finanzkrise und einer zunehmenden Verschuldung der Privatsender im Mai 2009 beschlossene neue »Ley de financiación de RTVE«50 in Kraft treten, die Werbung im öffentlich rechtlichen Fernsehen generell unterbindet. Im Gegenzug sollen Telekommunikationsunternehmen 24%, die Privatsender 10% der Ausgaben von TVE übernehmen.51 Befürworter erhoffen sich dadurch eine demokratischere Medienlandschaft und ein öffentlich rechtliches Fernsehen, das tatsächlich einen Bildungsauftrag wahrnimmt.52 Diese jüngsten Entwicklungen
48 Vgl. Roland Robertson: »After Nostalgia? Wilful Nostalgia and the Phases of Globalization«, in: Theories of Modernity and Postmodernity, hg. von Bryan Turner, London: Sage Publications 1990, S. 45-61. 49 Vgl. José Carlos Rueda Laffond und Maria del Mar Chicharro Merayo: La Televisión en España 1956-2006. Política, consumo y cultura televisiva, Madrid: Fragua 2006, S. 282-309 50 Übers.: Gesetz zur Finanzierung von Radio Televisión Española. 51 Vgl. I. Longhi-Bracaglia: »Adiós a la publicidad en la pública. Las televisiones privadas financiarán el 10% de TVE con 120 millones de euros«, El mundo, 5.5.2009. http://www.elmundo.es/elmundo/2009/05/05/comunicacion/124153087 0.html (30.10.2009). 52 Vgl. »Luz verde a la tramitación de la ley que suprime la publicidad en RTVE«, El mundo, 8.7.2009.
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Hanna Hatzmann entkräften einerseits meine obige Erklärung. Damit kann Paul Grainges These für Spanien nur rückblickend gelten. Doch gilt andererseits auch für die Zukunft, dass TVE sich mit diesem Schwerpunkt eine unverwechselbare Marke schafft, und das nicht nur am Fernsehmarkt, sondern auch im vielleicht wichtigeren Internetsektor. Dem quotenträchtigen Schwerpunkt der Privatsender auf Reality-Formate wird ein Fokus auf Information und Patriotismus entgegengehalten, der sich besser mit einem öffentlichrechtlichen Auftrag vereinbaren lässt. Hinzu kommt, dass Recycling kostengünstiger und weniger personalintensiv ist als die Produktion neuer Inhalte: TVE kann zusätzlich zu seinem eigenen umfangreichen Video- und Filmarchiv auch kostenlos auf das Archiv der NO-DOs zugreifen.
Literatur Díaz, Lorenzo: 50 años de TVE, Madrid: Alianza 2006. Estrada, Isabel: »Cuéntame cómo pasó o la revisión televisiva de la historia española reciente«, Hispanic Review, Autumn 2004, S. 547-564. Flusser, Vilém: »Gespräch, Gerede, Kitsch. Zum Problem des unvollkommenen Informationskonsums«, in: Ute Dettmar/Thomas Küpper (Hg.), Kitsch. Texte und Theorien, Stuttgart: Reclam 2007, S. 288-298. Grainge, Paul: »Nostalgia and Style in Retro America. Moods, Modes and Media Recycling«, Journal of American and Comparative Cultures, 23/1 (2000), S. 27-34. Gubern, Román: Historia del Cine Español, Madrid: Cátedra 2005. Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart: Metzler 2003. Pohl, Burkhard: »¿Hemos cambiado tanto¾. El tardofranquismo en el cine español«, in: Nancy Berthier/Jean-Claude Seguin (Hg.), Cine, nación y nacionalidades en España, Madrid: Casa de Velázquez 2007, S. 217-231. Robertson, Roland: »After Nostalgia? Wilful Nostalgia and the Phases of Globalization«, in: Bryan Turner (Hg.), Theories of Modernity and Postmodernity, London: Sage Publications 1990, S. 45-61. Rueda Laffond, José Carlos/Chicharro Merayo, Maria del Mar: La Televisión en España 1956-2006. Política, consumo y cultura televisiva, Madrid: Fragua 2006. Sánchez Biosca, Vicente: Cine de Historia, Cine de memoria. La representación y sus límites, Madrid: Cátedra 2006.
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AUTORINNEN UND AUTOREN Ackermann, Kathrin, geb. 1961, lehrt französische und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Salzburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der literarischen Spannung und die Beziehungen zwischen Literatur und Fernsehen. Berger, Verena, lehrt am Institut für Romanistik der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der iberoromanischen und der frankophonen Kultur, insbesondere der Filmund Medienwissenschaft. Hatzmann, Hanna, geb. 1981, arbeitet an einer Dissertation zu autobiographischem Dokumentarfilm in Spanien und unterrichtet spanische Medienwissenschaft an der Universität Wien. Jost, François, lehrt Fernsehanalyse, Narratologie und Semiologie an der Sorbonne Nouvelle-Paris III und ist Leiter des Centre G·eWXGHV VXU O·LPDJH HW OH 6RQ 0pGLDWLTXHV (CEISME). Er ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel zu Kino und Fernsehen, darunter Le récit cinématographique (mit A. Gaudreault, 1990) und Comprendre la télévision (2005). Lagabrielle, Renaud, geb. 1977, lehrt französische Sprache, Literatur- und Landeswissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Wien. Aktuelles Forschungsvorhaben zu Liebesdiskursen im spanischen und französischen Musikfilm. Palacio, Manuel, Professor an der Universidad Carlos III de Madrid, ist Autor mehrerer Monographien zur spanischen Film- und Fernsehgeschichte und konzipiert Sendeformate für das spanische Fernsehen. Preckel, Anne, geb. 1978, Studium der Kultur- und Theaterwissenschaft in Berlin. Freie Journalistin (Hörfunk/TV) in Berlin und Rom, Tätigkeiten für RAI Uno TV und Radio Vatikan.
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TV global Sartingen, Kathrin, geb. 1963, Professorin für Ibero-Romanistik an der Universität Wien. Zu ihren Forschungs- und Lehrschwerpunkten gehören lusophone und hispanoamerikanische Literaturen, Kulturen und Medien (Film, Theater, Fernsehen). Schrader, Sabine, geb. 1965, Professorin für italienische Literaturund Kulturwissenschaft an der Universität Innsbruck. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen der italienische Stummfilm, Kino der Migration sowie französische und italienische Fernsehserien. Tschilschke, Christian von, geb. 1966, Professor für Romanische Literaturwissenschaft/Genderforschung an der Universität Siegen. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist das Verhältnis zwischen Literatur und audiovisuellen Medien in Frankreich und Spanien. Türschmann, Jörg, geb. 1962, lehrt französische und spanische Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Feuilletonroman und Fernsehserie. Wagner, Birgit, geb. 1956, lehrt französische und italienische Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Aktuelle Publikation: Nuovo Cinema Italia. Der italienische Film meldet sich zurück, hg. gem. mit Daniel Winkler (Maske und Kothurn 1/2010). Walter, Klaus-Peter, geb. 1953, lehrt romanische Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Medienwissenschaft an der Universität Passau. Zahlreiche Publikationen zum Kino und Fernsehen in Frankreich und Spanien.
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