Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung [1 ed.] 9783428491216, 9783428091218

Der Abbruch einer mit technischen Hilfsmitteln betriebenen medizinischen Behandlung berührt grundlegende Fragen aus dem

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German Pages 331 Year 1997

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Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung [1 ed.]
 9783428491216, 9783428091218

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CHRISTIAN SCHNEIDER

Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. onl. Professor der Rechte an der Universität Hamburg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder onl. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrem der deutschen Universitäten

Band 105

Thn und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung

Von Christian Schneider

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Franz Streng, Erlangen

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Schneider, Christian:

Tun und Unterlassen beim Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlung / von Christian Schneider. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Bd. 105) Zug\.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09121-3

d29 Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-09121-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Meinen Eltern

Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 1996/1997 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation vorgelegt. Das Manuskript ist Ende November 1996 fertiggestellt worden. Für die Drucklegung konnte Literatur teilweise bis März 1997 Berücksichtigung finden. Meinem hochverehrten Lehrer und Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Franz Streng, schulde ich für die Betreuung bei der Erstellung der Arbeit und die außergewöhnliche Förderung, die ich als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl erfahren habe, besonderen Dank. Zahlreiche gemeinsame Gespräche mit ihm waren Grundlage für das notwendige Interesse am Strafrecht und für den Zugang zum wissenschaftlichen Arbeiten. Ich habe von ihm in meiner Zeit als wissenschaftlicher Assistent in fachlicher und persönlicher Hinsicht sehr viel lernen dürfen. Ohne seine wohlwollenden Ratschläge hätte die Arbeit nicht entstehen können. Mein Dank gilt außerdem Herrn Prof. Dr. Klaus Laubenthal, der sich bereit erklärte, das Zweitgutachten zu erstellen. Herrn Prof. Dr. Friedrich-Christian Schroeder und Herrn Prof. Dr. Eberhard Schmidhäuser bin ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Strafrechtliche Abhandlungen" dankbar. Wertvolle Mithilfe bei den Korrekturen leistete Frau stud. jur. Katrin Lindner, der ich an dieser Stelle ebenfalls herzlich danken möchte. Erlangen, im April 1997 Chris(ian Schneider

Inhaltsverzeichnis 1. Teil

Einführung in die Problematik

21

A. Themenkomplex ...................................................................................... 21 B. Ausgangsfall: LG Ravensburg ................................................................. 24 C.

Gang der Untersuchung .......................................................................... 29

2. Teil

Tun und Unterlassen A.

31

Unterlassung trotz körperlichen Handeins? .............................................. 31

B. Ausgangsfall: Einverständlicher Abbruch einer technisch unterstützten medizinischen Behandlung ......... .............................................................. 34 Too ood Unterlassen bei Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) ..................... 34

ll. Konsequenzen der Weichenstelloog UnterlasSWlgsdelilct oder Begehoogsdelilct ................................................................................................. 39 I.

Strukturunterschiede von ooechtem UnterlasSWlgsdelilct ood Begehoogsdelilct: Garantenpflicht als maßgebende einschränkende Strafbarkeitsvoraussetzung .................................................................. 39

2.

Folgen eines Einverständnisses in den Behandloogsabbruch ................ 43 a) b)

Situation beim Unterlassoogsdelilct .............................................. 43 Situation beim Begehoogsdelilct ................................................... 45

Ill. Fazit. ............................................................................................................ 47

C. Zur Notwendigkeit eines restriktiven Umgangs mit Garantenpflichten ........ 50 D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen ........... ........ 53

10

Inhaltsverzeichnis

I.

Herkömmliche Einteilung: ontologische und normative Kriterien ................ 53 1.

Abgrenzung anhand ontologischer Kriterien ......................................... 55 a) Voruberlegung .............................. .................................. .............. 55 b) Die Kriterien im einzelnen ............................................................ 55 aa) Köq>erbewegungskriterium .................................................... 55 bb) Energieeinsatzkriterium ........... .. .................................. .......... 57 cc) Kausalitätskriterium .............................................................. 59 a) Kausalität als Teil der Realität? ...................................... 59 ß) Kausalität als Abgrenzungskriterium von Tun und Unterlassen .................................................................... 65

2.

Abgrenzung anhand normativer Kriterien ............................................. 72 a) Voruberlegung .......................... .................................................... 72 b) Die Kriterien im einzelnen ............................................................ 73 aa) Werturteilskriterium .............................................................. 73 bb) Ausschöpfung des Unrechtsgehalts ........................................ 74 cc) Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ........................................... 75 dd) Soziale Sinnbedeutung des Verhaltens ................................... 77 ee) hn Zweifel positives Tun ....................................................... 78 fl) Kriterium der Gefahrsteigerung bzw. Risikoerhöhung ............ 80 gg) Kriterium des Achtungsanspruchs des Rechtsguts .................. 80

11. Vorgehensweise nach dem Zerlegungsverfahren .......................................... 81 I.

Voruberlegung ..................................................................................... 81

2.

Inhaltliche Darstellung des Zerlegungsverfahrens ................................. 82

m. Unterlassungsdelikte durch Tun (bzw. durch Begehen) .................... .... ......... 83 1.

Voruberlegung ..................................................................................... 83

2.

Inhaltliche Darstellung der Lehre vom Unterlassen durch Tun .............. 83

E. Kritische Würdigung der einzelnen dargestellten Abgrenzungsmerkmale .................................................................................................................. 87 I. Voruberlegung ............................................................................................ 87 11. Auseinandersetzung mit dem Köq>erbewegungskriterium............................ 87

m.

Auseinandersetzung mit dem Energieeinsatzkriterium ................................. 90

IV. Auseinandersetzung mit dem Kausalitätskriterium ........"............................. 92

1.

Kausalität bei der Unterlassung ........................................................... 92 a) "Quasi-Kausalität" oder "hypothetische Kausalität"? ..................... 94 b) Unterlassen als sog. "Nichts"? ....................................................... 96 c) Kausales Unterlassen im Sinne eines Zulassens des Erfolges ........ 99

Inhaltsverzeichnis

d) e) t)

g)

2.

11

aa) Kausalität als "Ursache-Wirkungs-Zusammenhang" ............... 99 bb) Bewirkensqualität des "Zulassens" eines Erfolges ................ 101 Feststellung der Kausalität beim Unterlassen .............................. 111 Kausalität trotz Hinzudenkens einer Handlung ............... .. .......... 112 Kausalität und Garantenpflicht... ................................................ 113 aa) Garantenpflicht als Zurechnungsmerkmal? ...... .... .... ............ 114 bb) Garantenpflicht als Kausalitätssurrogat? .............. .. .............. 116 cc) Garantenpflicht als "Gebotsbegrenzung" ............ .. ................ 117 Vorzüge echter Kausalität... ........................................................ 118 aa) Erfolgsdelikte und Erfolgsverursachung ............................... 118 bb) Unechtes UnterlassungsdeIikt und Vorsatz .......................... 119

Praktikabilität des Kausalitätskriteriums ........................................... 124 a) Fehlende Begrenzbarkeit ............................................................ 124 b) Fehlende A1lgemeingültigkeit... .................................................. 125

3.

Ergebnis ............................................................................................ 126

V. Auseinandersetzung mit dem Werturteilskriterium .................................... 127 VI. Auseinandersetzung mit dem Kriterium "Ausschöpfung des Unrechtsgehalts" .................................................................................................... 127 VII. Auseinandersetzung mit der Schwerpunktformel... .................................... 128 VIIl.Auseinandersetzung mit dem Kriterium der sozialen Sinnhaftigkeit.. ........ 131 IX. Auseinandersetzung mit der Zweifelslösung ............................................. 132 X. Auseinandersetzung mit dem Kriterium der Gefahrsteigerung bzw. Risikoerhöhung ........................................................................................ 135 XI. Auseinandersetzung mit dem Kriterium Achtungsanspruch des Rechtsguts .......................................................................................................... 135

:xn. Auseinandersetzung mit dem Zerlegungsverfahren .................................... 136 Xlll.Auseinandersetzung mit der Lehre vom "Unterlassen durch Tun": ............. 138

F. Eigener Lösungsvorschlag: Kombiniert ontologisch/normative Betrachtung im Sinne einer .. Zwei-Stufen-Prufung.................................................. 140 I. Vorüberlegung .......................................................................................... 140 11. Vorgehensweise ....................................................................................... 142 I. Stufe: "Natürliche Betrachtung der Dinge" ............................................ 142

a) Inhaltliche Darstellung ............................................................... b) Beispiele .................................................................................... aa) "Radleuchtenfall" ................................................................ bb) "Ziegenhaarfall" ..................................................................

142 146 146 147

12

hthaltsverzeichnis c)

ce) "Radfahrerfall" .................................................................... 147 Abgrenzungsfrage als Tatsachenfrage .......................................... l48

2. Stufe: Erwartung der Rechtsordnung als "Kontrollfrage" ........................ 148 a) hthaltliche Darstellung ................................................................ 148 b) Beispiele .................................................................................... 151 aa) "Radleuchtenfall" ................................................................. 151 bb) "Ziegenhaarfall" .................................................................. 154 cc) "Radfahrerfall" .................................................................... 156 c) Gemeinsamkeit der Argwnentation beider Prüfungsstufen ........... 157 3.

m.

Zusanunenfassung ............................................................................. 158

Unterschiede und Vorzüge der kombiniert ontologisch/normativen Betrachtungsweise gegenüber anderen Kriterien ............................................ 158

IV. Auseinandersetzung mit denkbaren Kritikpunkten ..................................... 161 I.

Vorwurf der Unbestimmtheit ............................................................. 161

2.

Vorwurf der Ergebnisvorwegnahme ................................................... 162

G. Abbruch einer technisch unterstützten Heilbehandlung durch den zu-

ständigen Arzt ................................................................................................ 164 1. Vorüberlegung ........................................................... ............................... 164

n.

m.

Gesichtspunkte zur Begründung aktiven Tuns ........................................... 166 I.

Kriterium der körperlichen Aktivität... .............. ................................. 166

2.

Energiekriterium .................. ..................... .... ............ .. .... ................... 166

3.

Kausalitätsgesichtspunkt .................................................................... 167

4.

Zerlegungsverfahren .......................................................................... 168

Annahme eines Unterlassens aufgrund normativer Gesichtspunkte ............ 169 I.

Schwerpunkt der Vorwertbarkeit ....................... ...... .. .... .. .. .. .............. 169

2.

Sozialer Sinn des Verhaltens .............................................................. 170

3.

Unterlassen durch Tun ....................................................................... 171

4.

"Bedeutung" eines Unterlassens ......................................................... 172

5.

Achtungsanspruch des Rechtsguts ...................................................... 173

IV. Begründung eines Unterlassens mittels der sog. "Zwei-Stufen-Prüfung" ......................................................................................................... 174

Inhaltsverzeichnis 1.

Unterlassen weiterer Behandlung ...................................................... 174 a) b)

R

13

"I. Stufe" ................................................................................... 175 "2. Stufe" ................................................................................... 175

2.

Venneidung zuflilliger Ergebnisse ..................................................... 176

3.

Keine Berücksichtigung von Zielsetzung und Vertretbarkeit der Handlung .......................................................................................... 177

4.

Unterschied zur Tötung durch Überdosis Morphium .......................... 178

5.

Ergebnisüberprüfimg ......................................................................... 179

Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf durch einen Dritten ................... 179 I. Vorüberlegung .......................................................................................... 180

II. Grundlegendes zwn Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf.. ................ 182

m.

1.

Ansicht der herrschenden Meinung .................................................... 182

2.

Auseinandersetzung mit gegenteiligen Auffassungen ......... ................ 183

3.

"Zwei-Stufen-Prüfimg" ...................................................................... 187

Konsequenzen ftlr den Behandlungsabbruch durch einen Dritten ............... 190

IV. Fazit ......................................................................................................... 193

3. Teil

Straflosigkeit trotz Tuns bei angemessener Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten A

194

Voriberlegung ............................................................................................... 194

B. Zum Tatbestand der Tötung aufVerlangen ................................................. 196 I. Todesbegriff............................................................................................. 196 1.

Problemlage ...................................................................................... 196

2.

Tod als allmählicher Vorgang ............................................................ 198

3.

Harmonie von Todesbegriffund medizinischem Fortschritt ................ 199

4.

Hirntodkriterium ............................................................................... 202

5.

Neuere Todesbegriffe ........................................................................ 205 a)

Tod als "Verlust einer Chance auf weiteres Leben" .............. ....... 206

14

Inhaltsverzeichnis b) Tod als "Tod des Organismus als Ganzem" ................................. 211 6.

n.

m. C.

Fazit .................................................................................................. 213

Zurechnungszusammenhang ...................................................................... 214 I.

Allgemeines zur Zurechnung .............................................................. 214

2.

Prinzip der Eigenverantwortlichkeit ...................................... ............. 215

3.

Schutzzweck der Norm ...................................................................... 217

4.

Andere Zurechnungskriterien ............................................................. 220

Zwischenergebnis ..................................................................................... 225

Zur Rechtfertigung der Tötung auf Verlangen ............................................. 225

I. Zur Funktion des Strafrechts und zur Verantwortung des Patienten filr sich selbst ................................................................................................. 225

n.

Selbstbestinunungsrecht im Hinblick auf körperliche Integrität ................. 228 I.

Se\bstbestinunung zum natürlichen, behandlungsfreien Sterben ......... 228

2.

Stratbarkeit eigerunächtiger Heilbehandlungen .................................. 230 a) b)

m.

Körperbezogenes Selbstbestinunungsrecht als Schutzgut des § 223 StGB ................................................................................. 230 Prinzip Eigenverantwortung ........................................................ 237

Erfordernis von Straflosigkeit im Falle einer Respektierung des Patientenwillens ........................................................................................... 238

IV Zur Anwendbarkeit des § 34 StGB ............................................................ 242 I.

Konflikt zwischen Lebensschutz und Selbstbestinunung ..................... 242

2.

Rangordnung der Rechtsgüter Leben und Se\bstbestinunungsrecht .................................................................................................. 245 a)

Konsequenzen eines abzulehnenden Behandlungszwangsrechts .......................................................................................... 245 b) Ausnahmen vom Grundsatz "Leben als höchstes Rechtsgut" ........ 247 c) Kein Verstoß gegen die Unantastbarkeit des Lebens ................... 257 3.

Interessenkonflikt ein und desselben Rechtsgutsträgers ...................... 258 a) b) c)

4.

Berücksichtigung individueller Wertschätzung ............................ 258 Zum Stellenwert des "Universalrechtsguts" Leben ...................... 262 § 218 a n StGB als gesetzliche Anerkennung subjektiver Wertschätzung des Rechtsguts Leben .......................................... 267

Keine Berücksichtigung von Lebensqualität und zu erwartender Lebensdauer ...................................................................................... 269

Inhaltsverzeichnis 5.

15

Zwischenergebnis .............................................................................. 270

D. Anwendungsbezogene Einwände gegen eine Interessenabwägung zugunsten des Selbstbestimmungsrecbts .......................................................... 272

I. Probleme bei der Ermittlung der Ernstlichkeit des Willens zum Behandlungsabbruch ..................................................................................... 272

11. Begünstigung eines vorzeitigen Behandlungsabbruchs durch böswillige Dritte? ............................................................................................... 274 III. Beweisprobleme im Zusammenhang mit einer Lösung über § 34 StGB ..... 275 1.

Problemlage ...................................................................................... 275

2.

Zur richterlichen Überzeugung nach § 261 StPO und zum Grundsatz "in dubio pro reo" ....................................................................... 277

3.

Schlußfolgerung filr die Ausgangsfrage ............................... ............... 278

4.

Anhaltspunkte filr die Überzeugungsbildung ...................................... 279

5.

Fazit .................................................................................................. 280

E.

Recbtfertigung nacb § 34 StGB und Einwilligungssperre des § 216 StGB ............................................................................................................... 280

F.

Grenzen der Übertragbarkeit: Recbtfertigung aktiver Sterbebilfe mit gezielter Lebensverkürzung? ......................................................................... 282

G. Vorteile einer Rechtfertigung nacb 34 StGB gegenüber konkurrierenden Lösungsvorscblägen ................................................................................ 286 I. Darstellung weiterer Lösungsvorschläge zum tätigen Behandlungsabbruch .................................................................................................... 286 1.

Zur Tatbestandsebene ........................................................................ 286

2.

Zur Schuldebene ............................................................................... 288

11. Kritische Betrachtung der Lösungsvorschläge in Relation zur Anwendung von § 34 StGB ................................................................................. 289 1.

Klarheit der Ergebnisfmdung ............................................................. 289

2.

Hervorhebung des Rechtsgüterschutzes .............................................. 291

3.

Erlaubtheit des Behandlungsabbruchs .............................. .................. 292

16

Inhaltsverzeichnis

4. Teil

Scblußbemerkung zum Abbrucb mit tecbniscben Hilfsmitteln betriebener mediziniscber Bebandlung

295

A

Das Abbrechen mit technischen Hilfsmitteln betriebener medizinischer Behandlung durch Dritte Ist aktives Tun ...................................... 295

B.

Selbstbestimmungsrecht versus Lebens schutz .............................................. 297

C.

Ausblick .......................................................................................................... 299

Literaturverzeicbnis

301

Sacbregister

325

Abkürzungsverzeichnis a.a.O. AE

AK-StGB Alt. Angekl. Arun.

Art. Aufl. BayObLGSt BGB BGH BGHSt BGHZ BtMVV BVerfG BVerfGE bzgl. bzw. ders. d.h. dies. DIT FamRZ f.

tT. Fn. GA

GG GGK hins. h.L. 2 Schneider

am angegebenen Ort Alternativ-Entwurf Konunentar zum Strafgesetzbuch aus der Reihe Alternativkonunentare Alternative Angeklagter Arunerkung Artikel Auflage Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Betäubungsrnittel-Verschreibungs-Verordnung Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezüglich beziehungsweise derselbe das heißt dieselbe(n) Deutscher Juristentag Zeitschrift t1lr das gesamte Familienrecht folgende(r) (fort )folgende Fußnote Goltdammer's Archiv t1lr Strafrecht Grundgesetz t1lr die Bundesrepublik Deutschland Grundgesetzkommentar hinsichtlich herrschende Lehre

18

Abkürzungsverzeichnis

h.M.

herrschende Meinung

i.d.S. insb.

in diesem Sinne insbesondere

i.S.v.

im Sinne von

i.V.m.

in Verbindung mit

Jhdt.

Jahrhundert

JK

Jura-Rechtsprechungskartei, Beilage der Zeitschrift Juristische Ausbildung

JR

Juristische Rundschau

JZ

Juristenzeitung

Kap.

Kapitel

KK

Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichts-

L LG Lit. LK LKW m.a.W.

Seitenzahl des JuS-Lernbogens

verfassungsgesetz

MDR

MedR

Landgericht Literatur Strafgesetzbuch (Leipziger Kommentar) Lastkraftwagen mit anderen Worten Monatsschrift für Deutsches Recht Medizinrecht

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

NJW

Neue Juristische Wochenschrift Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch

NK NStZ OLG RG

Neue Zeitschrift ftlr Strafrecht Oberlandesgericht Reichsgericht

RGSt

Entscheidungen des Reichsgerichts

Rn.

Randnummer Rechtsprechung

Rspr. S., s. SK

SatzlSeite, siehe Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch

sog.

sogenannte

StGB

Strafgesetzbuch

StGB-E

Entwurf zum Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozeßordnung

StV

Strafverteidiger

StVO

Straßenverkehrs-Ordnung

u.

und

AbkürzWlgsverzeichnis u.a. u.ä. usw. v. vgl. Vorbem. VRS z.B.



Wlter anderem, Wld andere Wld ähnliche Wld so weiter von vergleiche VorbemerkWlg Verkehrsrechts-SanunlWlg zum Beispiel

19

1. Teil Einführung in die Problematik

A. Themenkomplex Nach wie vor stehen ungelöste Rechtsprobleme im Zusammenhang mit der Frage, inwieweit sich derjenige wegen Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB strafbar macht, der dem frei verantwortlichen und ernsthaften Willen eines im Sterben liegenden Patienten, nicht mehr weiterhin intensiv-medizinisch behandelt zu werden, Geltung verschafft und dadurch dessen Tod herbeifiihrt. Die kontrovers diskutierten Problembereiche reichen dabei von der umstrittenen Einordnung der Handlungsfonn als Tun oder Unterlassen über Fragen des Todesbegriffs und des Schutzbereichs der Tötungsdelikte bei einem bereits "verlöschenden Leben", ferner über den Aspekt eines menschenwürdigen Todes bzw. humanen Sterbensverlaufs bis hin etwa zur Problematik einer möglichen Rechtfertigung eines tatbestandlieh verwirklichten Tötungsdelikts. Die Thematik umfaßt also Fragestellungen des Lebensschutzes am Ende des menschlichen Lebens sowohl aus juristischer wie auch aus medizinischer und ethischer Sichtl. Letztlich geht es bei all den rechtlichen Streitfragen in diesem Bereich immer auch um den Umgang unserer Gesellschaft mit dem Phänomen Tod, also um unser Verhältnis zum Sterben; dazu die Einschätzung von Küng: "... was interessiert in einer Gesellschaft, in der das Erleben ins Zentrum gerückt und das ganze Leben als ein Erlebnisprojekt konzipiert ist, jene im Alltag so ferne, fremde, von sich fernzuhaltende Dimension des Sterbens, des Todes, der ja nun einmal das absolute, durch keine Erlebnismanipulation oder -suggestion zu umgehende endgültige Ende allen Erlebens darstellt? [... ] Sterben und Tod werden aus der 'Erlebnisgesellschaft' verdrängt. Sie sind Störfaktoren, die man auszuschalten versucht"2. Dieses von Küng bescheinigte Desinteresse einer Siehe zur thematischen Aufarbeitung des Behand1wlgsabbruchs und des menschenwürdigen Sterbens aus ethischer, medizinischer und juristischer Sicht insbesondere AuerMenzellEser, 1977 und JenslKang, 1995. 2 Kang, 1995, S. 21.

22

I. Teil: Einfilhrung in die Problematik

"Erlebnisgesellschaft" an der Tatsache Sterben, das angesichts der Unausweichlichkeit des Todes befremdlich anmutet, könnte Folge einer verfehlten, vielleicht grundsätzlich nihilistischen Einstellung zum Sterben und Tod sein. Wohl zwangsläufig müssen Sterben und Tod ausschließlich als etwas Nutzloses und völlig Absurdes empfunden werden 3, wenn das Erleben derart im Vordergrund des menschlichen Denkens zu stehen scheint. Dabei läßt sich der Tod doch durchaus mehr positiv als ein "Ja zur Kreatürlichkeit"4 und damit als ein sich Annehmen als Mensch, als Person verstehenS . Denn gerade auch der Tod im Sinne einer vorbezeichneten - irdischen - Endlichkeit grenzt das Leben vom bloß Gegenständlichen, Sächlichen ab; Leben und Tod gehören zusammen, sie sind untrennbare Teile eines einheitlichen Ganzen, und zwar der Existenz des Menschen. Und vielleicht ist ja das Wissen um die zeitliche Begrenztheit des Lebens der eigentliche Grund dafür, daß der Mensch bestrebt ist, das Leben bewußt und sinnerfüllt zu erfahren6 . Mit dieser Einstellung könnte dem Tod die absolute Sinnlosigkeit genommen und zum Sterben ein anderes Verhältnis entwickelt werden: Sterben nicht mehr als etwas, das so weit wie möglich künstlich hinausgezögert werden muß, sondern Sterben als Anerkennen eines Lebensabschnitts, als Bestandteil eines natürlichen Lebensendes. Eine juristische Aufarbeitung von Problemen am Ende des menschlichen Lebens, wie sie nun im folgenden angegangen werden soll, wird dabei immer rnitgeprägt sein von der jeweilig vertretenen Grundhaltung zum Sterben und zum Tod. Trotz der - insoweit schon implizierten - rechtlichen Kontroversen innerhalb der Sterbehilfethematik sollte Einigkeit jedenfalls darin zu erzielen sein, daß oberste Maxime bei dem Versuch einer Lösungsfindung sein muß,

3 Vgl. dazu die weltanschaulichen Ausftlhrungen bei Arthur Kaufmann, 1961a, S. 358 fT. Siehe darüber hinaus in diesem Zusammenhang die philosophischen Todesauffassungen bei Htiusling, 1976, S. 61 ff. 4

S

Derart Auer, 1977, S. 50.

"Sterben als Dimension des Lebens begreifen, die alle Phasen und alle Entscheidungen des Lebens mitbestimmt", so das Verständnis von KUng, 1995, S. 17; ganz älmlich die Sichtweise von Eser, 1995, S. 171: "Sterben [00'] als Teil der Persönlichkeitsverwirklichung und damit des Lebens". 6 Ähnlich Rest, 1992, S. 115: "Nur der Mensch darf sterben, einzigartig, individuell, personal; deshalb wirkt sich die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit kontinuierlich durch das Leben nicht destruktiv auf dieses aus, sondern fillut zu bewußterern, selbst-besinnlichen Leben".

A. Themenkomplex

23

neben dem Leben auch das natarliche7 Sterben in selbstbestimmte,.s Form mit rechtlichen Mitteln zu schützen. Es kann innerhalb einer grundsätzlich auf Eigenverantwortung angelegten liberalen Gesellschaftsform nicht angehen, dem Einzelnen in dem in besonderer Weise persönlichen Bereich des Sterbens9 die Entscheidung darüber, auf welche Art und Weise der Sterbevorgang stattfinden soll (= natürlich oder künstlich verlängert), von dritter Seite vorzuschreiben; das käme einem fremdbestimmten Tod gleich, verbunden mit einem Eingriff in den elementarsten Bereich der Privatsphäre. Jede Art von ärztlicher ITodeskontrolle" lO , die vom Patienten nicht erwünscht ist, verbietet sich daher ll . Wichtig scheint ein Wegkommen von dem routinemäßigen Einsatz der lebensverlängemden Apparatemedizin und ein Rückbesinnen auf die zentrale Rolle des Patienten als Mensch innerhalb der medizinischen Betreuung.

7 Es geht also ausdrücklich nicht um ein "künstliches" Sterben wie im Falle der Selbsttötung, die auf den Sterbensverlauf Einfluß nimmt. Vgl. zur philosophischen Einordnung des Tenninus "natürlicher Tod" Häusling, 1976, S. 62. Er hebt hervor, daß der natürliche Tod philosophisch in das Denken des 19. Jhdts. gehört. Während in dieser Zeit noch der natürliche Tod dem gewaltsamen und damit abnormen Tod gegenüber gestellt wurde, ist in der heutigen Diskussion die Auseinandersetzung zwischen dem natürlichen, behandlungsfreien Sterben und den Möglichkeiten medizinischer Lebenserhaltung vorherrschend. Nicht mehr das Gegensatzpaar "natürlicher Tod" und "unnatürliche Lebensverkürzung", sondern "natürlicher Tod" und "unnatürliche Lebensverlängerung" stehen im Mittelpunkt heutiger Erörterungen. Dabei ist offensichtlich, daß je größer die Fortschritte in der Medizin in Bezug auf künstliche Lebensverlängerung werden, desto dringlicher wohl auch das Postulat nach einem behandlungsfreien und natürlichen Sterben in Zukunft sein wird. Es drängt sich also in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage auf, ob Ärzte wirklich bis zum letzten Atemzug des Patienten unter größtmöglichem Einsatz der Intensivrnedizin den Sterbensvorgang hinauszögern müssen; vgl. dazu aus theologisch ethischer Sicht auch Auer, 1977, S. 1 ff.; Küng, 1995, S. 58 ff. 8 Hervorzuheben ist dabei, daß - in Übereinstimmung mit Küng, 1995, S. 60 unter Selbstbestimmung nicht Willkür, sondern eine sich selbst und anderen gegenüber verantwortungsvoll getroffene Gewissensentscheidung zu verstehen ist.

9 So betont Uhlenbruck, 1986, S. 209: "Wie jede Krankheit und jedes Leiden ist [... ) jedes Sterben anders, ist der psychische und physische Zerfall individualisiert und das subjektive Erleben des Einzelnen trotz aller Gemeinsamkeiten jeweils unterschiedlich. Jeder von uns stirbt einmal seinen eigenen Tod" (Hervorhebung vom Verfasser). 10 II

Giesen, 1990, S. 929; ders., 1992, S. 11. SO auch Küng, 1995, S. 58 tT.

24

1. Teil: EinfIlhrung in die Problematik

B. Ausgangsfall: LG Ravensburg Wirklichkeit geworden sind die angesprochenen Rechtsfragen am 3.12.1986, als das LG Ravensburg 12 darüber zu entscheiden hatte, ob jemand, und zwar ein "Nichtarzt"13, der dem ausdrticklichen und ernsthaften Verlangen eines im Sterben liegenden Menschen, von einem Beatmungsgerät abgestellt zu werden, nachkommt, wegen Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB zu bestrafen ist. Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde 14 , der als Ausgangsfall für die nachfolgend zu behandelnde Thematik dienen soll: Die Ehefrau des Angeklagten, Frau F., litt an einer Rückenmarkserkrankung, die ärztlich nicht behandelbar war und durch stetig fortschreitende Lähmung im Durchschnitt nach etwa drei Jahren zum Tode führt. Bei Einlieferung ins Krankenhaus lag die Patientin bereits im Sterben, der Tod stand unmittelbar bevor. Da Frau F. wiederholt und ernsthaft schon vor der Einlieferung den Wunsch geäußert hatte, bei Eintritt der Atemlähmung nicht künstlich beatmet zu werden, wurde sie anfangs von den Ärzten nicht intubiert, sondern lediglich mit Beruhigungsmitteln behandelt. Schließlich wurde auf Anordnung des Sohnes von Frau F., der ebenfalls Arzt war, die künstliche Beatmung doch gegen den Willen von Frau F. durchgeführt. Scheinbar verbesserte sich ihr Zustand, sie kam sogar wieder zu Bewußtsein. Tatsächlich hatte sich an ihrer Situation aber nichts geändert, sie lag nach wie vor im Sterben. Nur der Sterbevorgang wurde durch die Beatmung verlängert. Da auch Frau F. wußte, daß ihr Leben nur noch mit Hilfe der künstlichen Beatmung aufrecht erhalten wurde, und sie diesen Zustand als unerträgliche Quälerei empfand, verfaßte sie - im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte - mit Hilfe einer elektrischen Schreibmaschine folgende Erklärung: "Ich möchte sterben, weil mein Zustand nicht mehr erträglich ist. Je schneller desto besser. Dies wünsche ich mir von ganzem Herzen." Der angeklagte Ehemann schaltete daraufhin einige Stunden später in einem unbeobachteten Moment das Beat12 LG Ravensburg, NStZ 1987, S. 229 f (= MedR 1987, S. 196 tT.; MDR 1987, S. 692; JZ 1988, S. 207 f). 13 Diese Bezeicluumg verwendet das LG Ravensburg, NStZ 1987, S. 229, das damit zwn Ausdruck bringen will, daß es eben nicht - wie zwneist - wn den Fall eines tirztlichen Behandlungsabbruchs geht, sondern wn den Behandlungsabbruch durch einen Dritten.

14 Eine ausführliche Darstellung des Sachverhalts fmdet sich in MedR 1987, S.196.

B. Ausgangsfall: LG Ravensburg

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mungsgerät ab, weil er seiner Frau einen letzten Liebesdienst erweisen wollte. Da Frau F. zu einer Spontanatmung nicht mehr in der Lage war, trat bei ihr der Tod etwa eine Stunde nach Abschalten des Gerätes infolge eines Herzstillstandes ein. Wäre das Beatmungsgerät nicht abgeschaltet worden, hätte Frau F. noch mindestens 24 Stunden gelebt. Die 3. große Strafkammer des LG Ravensburg sprach den Angeklagten vom Vorwurf der Tötung auf Verlangen frei. Denn sie sah in dem Abschalten des Beatmungsgeräts auf den ernsthaften Todeswunsch der Sterbenden hin einen "Beistand im Sterben" 15, was nach Ansicht der Kammer letztlich zu einer ganz allgemein gehalten, unverbindlich formulierten Rechtfertigung der Tat führen sollte. Ein Hinweis auf einen vielleicht denkbaren, gesetzlich bestehenden Rechtfertigungsgrund, wie etwa dem durchaus in Betracht zu ziehenden § 34 StGB, wurde vom LG Ravensburg nicht angegeben; es fehlt demzufolge eine den Weg und das Ergebnis nachvollziehbar machende Subsumtion. Denn mit folgenden Erwägungen hielt das LG Ravensburg die Lösung des Falles für gefunden: "Jedenfalls [... ] stellt in dem hier zu beurteilenden konkreten Fall der ernsthafte Todeswunsch 16 des im Sterben liegenden Menschen, dessen Tod nur noch mit Hilfe technischer Geräte künstlich und ohne jegliche Hoffnung auf ein auch nur kurzfristiges Leben aus eigener Kraft hinausgezögert werden kann, einen Rechtfertigungsgrund für das Handeln des Angekl. dar, der eine Strafbarkeit nach § 216 I StGB ausschließt" 17. Auch wenn im Ergebnis dieser rechtskräftig gewordene Freispruch in der Literatur bis heute breite Zustimmung findet l8 , darüber hinaus sogar das Verhalten des Angeklagten mit Respekt gewürdigt wird l9 , darf dabei nicht übersehen werden, daß ein - nicht nur emotiona1 20 - jedenfalls im Ergebnis für richtig gehaltener Freispruch einer angemessenen juristischen, insbesondere

Vgl. LG Ravensburg, NStZ 1987, S. 230. 16 Hervorhebung vom Verfasser. 17 LG Ravensburg, NStZ 1987, S. 230. 18 Vgl. nur Drehernröndle, 1995, Vor § 211 Rn. 19; Schönke/Schröder/Eser, 1997, Vorbern §§ 211 fT. Rn. 28; Herzberg, 1988, S. 186; Duo, JK 87, StGB, § 21612; Schöch, 1995, S. 154; Tröndle, 1990, S. 595; Ulsenheimer, 1988, S. 183; Verrel, 1996, S.227. 19 Derart Roxin, 1987, S. 349. 20 Etwa Verrel, 1996, S. 227 drängt sich die Straflosigkeit des Ehemanns "aus menschlicher Sicht" geradezu auf. Darüber hinaus hält er bei konsequenter Beachtung des Primats des Patientenwillens das Ergebnis auch juristisch für zwingend. 15

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I. Teil: Einführung in die Problematik

dogmatisch einwandfreien Begründung bedarf, soll das Ergebnis auch auf Dauer haltbar und für vergleichbare zukünftige Fälle verwertbar sein.

Diesem Anspruch wurde das Urteil des LG Ravensburg leider nicht gerecht: Ausdrucklich offen gelassen wurde in der Urteilsbegrundung die zunächst klärungsbedürftige Frage, ob nicht vielleicht schon die Tatbestandsmäßigkeit der Tötung auf Verlangen verneint werden müßte, wofür nach Ansicht der Kammer sogar vieles sprechen sollte21 . Wie wichtig aber eine eindeutige Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens der Tatbestandsmäßigkeit ist, zeigt sich daran, daß es einen wesentlichen Unterschied macht, ob ein Verhalten von vornherein nicht gegen ein Verbot verstößt oder es in bestimmten Fällen, obwohl grundsätzlich ein Rechtsgut verletzt wurde, von der Rechtsordnung ausnahmsweise, etwa zum Schutz höherwertiger Rechtsgüter, erlaubt wird. Denn im letzteren Fall ist der Täter zunächst mit dem Makel behaftet, gegen ein Strafgesetz verstoßen zu haben, also speziell in dem vorliegenden Fall in zurechenbarer Weise einen tödlichen Erfolg herbeigeführt und damit der "Appeilfunktion des Tatbestandes"22 zuwider gehandelt zu haben. Auch im Wege der Rechtfertigung werden schließlich die "tatbestandsmäßige Handlung und insbesondere ihr Erfolg [... ] nicht ungeschehen gemacht [... ], sondern werden nur rechtlich gebilligt"23. Des weiteren kann das tatbestandliche Verhalten nur dann als gerechtfertigt und damit straflos angesehen werden, wenn der Täter die engen objektiven und - nach h.M. zu Recht zu fordernden - subjektiven Voraussetzungen24 eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes erfüllt. Daß die Erfüllung dieser Bedingungen angesichts einer Verletzung des als unantastbar geltenden Rechtsguts Leben25 nicht einfach ist, zeigt besonders der vorliegende Fall. Sich über eine derartige Rechtfertigung Gedanken machen zu müssen, erubrigt sich dann, wenn sich bei eingehender Prüfung tatbestandsloses Verhalten herausstellt. Zudem ist es wegen der im-

21 LG Ravensburg, NStZ 1987, S. 230: "Die Kammer läßt offen, ob bei einem Fall wie dem vorliegenden schon die Tatbestandsmäßigkeit (Tötung) verneint werden muß, wofllr vieles spricht". 22 JescheckIWeigend, 1996, § 31 I 2. 23 JescheckIWeigend, 1996, § 31 12. 24 Vgl. zur Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen und dem diesbezüglichen Streit über dessen Erfordernis und den damit zusammenhängenden Rechtsfolgen im Falle des Fehlens der subjektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen stellvertretend Kühl, 1994, § 6 n 2 Rn. II ff. oder WesseIs, 1996, § 8 I 2 Rn. 275 ff. jeweils mit zahlreichen weiterfiihrenden Nachweisen. 25 Vgl. Mitsch, 1995, S. 788.

B. Ausgangsfall: LG Ravensburg

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mer wieder neu aufkommenden und angesichts "wachsender Manipulierbarkeit des Todes durch die modeme Medizin"26 nicht enden wollenden Diskussion um die Sterbehilfe27 in kriminal politischer Hinsicht bedeutsam, im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit klarzustellen, wie weit der Rechtsgüterschutz und damit die Appellfunktion der §§ 212 ff. StGB und dabei insbesondere die des problematischen § 216 StGB reicht. Auch kann nicht befriedigen, daß vom LG Ravensburg im Rahmen der Tatbestandsmäßigkeit die wichtig Frage der Verhaltensform (= aktives Tun durch das Abstellen des Gerätes oder Unterlassen durch die Nichtfortführung der weiteren Behandlung) offen gelassen wurde und in den EntscheidungsgIiinden nur marginal der Hinweis erfolgte, daß "gleichgültig, ob durch Unterlassen oder durch aktives Tun"28, kein Töten, sondern bloß ein strafloses Beistandleisten im Sterben gegeben sein sollte. Ebenso problematisch ist, daß von der Kammer gerade der "Todeswunsch" der im Sterben liegenden Patientin als Rechtfertigungsgrund angesehen wurde, obwohl das Gericht in den EntscheidungsgIiinden zuvor selbst ausführte, daß "[zu] Recht [... ] auch eine Einwilligung des Getöteten in seine Tötung oder gar sein Todesverlangen die Tötung nicht rechtfertigen (kann)", weil es sich bei dem Tötungsverbot "um ein Tabu (handelt)", "das aus Achtung vor dem menschlichen Leben schlechthin sowie aus ethischen und auch religiösen Gründen unangetastet bleiben muß"; dabei wurde ausdrücklich noch klargestellt, daß das "strikte Tötungsverbot [... ] in gleicher Weise auch bei dem schon dem Tode geweihten Menschen zu gelten (hat)"29. Das Gericht setzte sich mit der Annahme des Todeswunsches der Patientin als Rechtfertigungsgrund also in direkten Widerspruch zu den zuvor noch eigens aufgestellten Maximen. Deren Richtigkeit soll aber an dieser Stelle zunächst offen bleiben. Insbesondere wird noch zu klären sein, ob nicht trotz des an sich tatbestandlichen absoluten Tötungsverbots,eine Rechtfertigung nach § 34 StGB in Betracht kommen kann, wenn man das Selbstbestimmungsrecht der Patientin 26 Vgl. SchönkeiSchröderlEser, 1997, Vorbem §§ 211 tf. Rn. 21. 27 Siehe nur die umfangreichen Nachweise zu diesem Thema bei LK~ähnke,

1989, Vor § 211 Rn. II ff., der angesichts der Bedeutsarnkeit die Diskussion um die Sterbehilfe WlZUtreffend als "Modeerscheinung" bezeichnet. Ganz anders hingegen Schönke/SchröderlEser, 1997, Vorbem §§ 211 ff. Rn. 21 ff., der zu Recht von "neuartiger Dringlichkeit" bezüglich der Frage "nach den Möglichkeiten und Grenzen von Sterbehilfe" spricht. 28 LG Ravensburg, NStZ 1987, S. 230. 29 LG Ravensburg, NStZ 1987, S. 229.

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1. Teil: EinfUhrung in die Problematik

bezogen auf die Durchführung einer medizinischen Behandlung ernst nimmt30 . Jedenfalls wird ein Abstellen auf den Todeswunsch 31 für eine begründbare Rechtfertigung nicht ausreichen. Darüber hinaus wurde vom Gericht nicht deutlich gemacht, wie dieses gefundene Ergebnis allein schon mit dem Wortlaut des § 216 I StGB vereinbar sein kann, aus dem sich eine rur die gesamte Rechtsordnung verbindliche Einwilligungssperre gegenüber aktiver Fremdtötung ableiten läßt32 . Schließlich hat der Gesetzgeber festgelegt, daß dem ernsthaften Wunsch, getötet zu werden, höchstens strafmildernde Bedeutung zukommen kann33 . Notwendig ist es daher, ein Ergebnis zu finden, das sich auf jeder Deliktsebene mit den entstehenden Problemen auseinandersetzt. Dabei dürfen erforderliche Prüfungsschritte nicht - um des gewünschten Ergebnisses willen - offen gelassen werden. Nur so läßt sich eine Entscheidung des Falles erzielen, die auf einer möglichst breiten und sicheren Grundlage fußt.

30 Gnmdsätzlich gegen die Möglichkeit einer Rechtfertigung vorsätzlicher Tötung über § 34 StGB wendet sich etwa Mitsch, 1995, S. 788. Auch Ulsenheimer, 1988, S. 183 hält aufgrund der gesetzgeberischen Entscheidung in § 216 StGB eine Rechtfertigung der Tötung auf Verlangen fllr unhaltbar. 31 Auch wenn das LG Ravensburg in seinen EntscheidungsgrUnden zu Recht auf die Bedeutung des gnmdgesetzlich verankerten Selbstbestimmungsrechts des Patienten hinsichtlich der Weiterfilhrung einer ärztlichen Behandlung eingeht (vgl. LG Ravensburg, NStZ 1987, S. 229: liEs kann auch keinem Zweifel mehr unterliegen, daß ein urteilsfähiger Patient selbst bestimmen kann, ob er eine ärztliche Behandlung WÜnscht oder nicht. Dieser Gnmdsatz gilt selbst dann, wenn die Entscheidung des Patienten objektiv unvernünftig erscheint [... J, erst recht hat er zu gelten, wenn die ärztliche Behandlung überhaupt nicht mehr auf eine Heilung oder wenigstens Sclunerzlindenmg gerichtet ist, sondern lediglich dazu dient, den Todeskampf zu verlängern. "), wird die Lösung einer Rechtfertigung der Tat letztlich ausschließlich mit dem Todeswunsch eines Patienten begründet (vgl. LG Ravensburg, NStZ 1987, S. 230). Dabei lassen sich das Selbstbestimmungsrecht bezogen auf die weitere Durchftlhnmg der Behandlung und der Todeswunsch nicht gleichsetzen: Denn während der Todeswunsch ganz gezielt auf die Herbeiführung des Todes gerichtet ist, wird mit der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts auf Abbruch der ärztlichen Behandlung in erster Linie nur ein behandlungsfreier Zustand bezweckt, der dann nicht zwingend notwendig den (natürlichen) Tod nach sich ziehen muß, wenn er auch vielleicht unvermeidliche Folge sein wird. 32 Vgl. nur Schönke/SchröderlEser, 1997, § 216 Rn.13; LKJähnke, 1989, § 216 Rn.17 sowie Mitsch, 1995, S. 788, 790. 33 Vgl. zu diesem Kritikpunkt beispielsweise auch Stoffers, 1992, S. 467 und Roxin, 1987, S. 349.

C. Gang der Untersuchung

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C. Gang der Untersuchung Die folgende Untersuchung wird sich anband des Ausgangsfalls LG Ravensburg schwerpunktmäßig zwei Themen widmen: Zum einen einem juristisch-dogmatischen Problem, nämlich dem der Einordnung des Abbruchs einer mit technischen Hilfsmitteln betriebenen lebenserhaltenden Behandlung (= z.B. das Abschalten eines sog. Respirators) als aktives Tun oder Unterlassen. Die Brisanz dieser AufgabensteIlung, die letztlich auf die Behandlung nach wie vor umstrittener Grundfragen bei der Abgrenzung und Begrifilichkeit von Tun und Unterlassen hinausläuft, ist gerade im medizinischen Bereich unverkennbar: Denn angesichts der besonderen rechtlichen Ausgestaltung des unechten Unterlassungsdelikts gemäß § 13 StGB erfolgt mit Hilfe der Einordnung der Verhaltensweise eine grundlegende Weichenstellung fiir den Umgang mit darauf aufbauenden weiteren Problemen der Sterbehilfe3 4 . Eine ganz zentrale Frage im Bereich der Sterbehilfediskussion ist ja die Einteilung in eine - anerkanntermaßen generell strafbare - aktive Sterbehilfe und in eine - unter Erfiillung bestimmter Voraussetzungen begrenzt zulässige - passive Sterbehilfe. In diesem Kontext wird der Behandlungsabbruch eines Arztes wie auch der eines Dritten zu untersuchen sein; dabei ist mit "Dritter" der nicht zur Behandlung Berechtigte gemeint, also derjenige, dem eine bereits begonnene Behandlung nicht als eigene zugerechnet werden kann J5 . Während die Frage von Tun und Unterlassen beim Behandlungsabbruch durch den Arzt in Rechtslehre und Rspr. seit dem Aufkommen lebenserhaltender medizinischer Apparatur eine intensive Diskussion erfahren hat, ist der Behandlungsabbruch eines "Dritten" noch weitestgehend unerforscht und mit besonderen Problemen befrachtet. Vorweg ist zu klären, weshalb der Abbruch einer technisch unterstützten Behandlung überhaupt Zweifel bei der Festlegung der Handlungsform aufkommen läßt, und welche Relevanz die Entscheidung rur ein Tun oder Unterlassen im Ausgangsfall LG Ravensburg besitzt. Anschließend werden die Kriterien zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen dargestellt und soll versucht werden, diese auf den Behandlungsabbruch durch den Arzt und den Dritten anzuwenden. Schließlich sind die Unterschiede dieser beiden Fallkonstellationen herauszuarbeiten.

Vgl. auch Engisch, 1973, S. 40; Merkei, 1996, S. 1147. Weshalb also von einem EingritTinfremde Rettungsbemühungen ausgegangen werden muß. 34 35

30

1. Teil: Einfilluung in die Problematik

Zum anderen wird zu behandeln sein, ob sich deljenige, der ein lebensnotwendiges medizinisches Gerät auf Wunsch des Patienten abstellt, stets wegen eines Tötungsdelikts (insbesondere nach § 216 StGB) strafbar macht. Dabei sind Fragen aus dem Bereich der Sterbehilfe zu diskutieren, wobei speziell die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten anzusprechen ist. Im Zusammenhang mit dem Fordern eines natürlichen Todes muß der Stellenwert des Rechts auf Selbstbestimmung gegenüber dem Recht auf Leben geklärt werden.

2. Teil Tun und Unterlassen A. Unterlassung trotz körperlichen Bandeins? Vordergründig betrachtet, handelt es sich beim Abschalten einer medizinischen Apparatur um eine Handlung im Sinne eines aktiven Tuns, da dem äußeren Erscheinungsbild nach der Einsatz körperlicher Bewegung notwendig ist. Bei näherem Hinsehen, insbesondere auch bei einer vom Erscheinungsbild losgelösten, rechtlich normativen Bewertung, stellt sich die Abgrenzungsfrage, ob aktives Tun oder Unterlassen vorliegt, aber als ein grundlegendes Problem dar. Auch in anderen Fällen, in denen das Ergebnis zunächst "auf der Hand zu liegen scheint", zeigt sich, daß das betreffende Verhalten doch ambivalent ist36 . In diesem Zusammenhang sei nur auf den "Apothekerfall"37 (Tod eines Kindes infolge nochmaliger Aushändigung eines Arzneimittels ohne Einholung eines neuen Rezeptes), den "Ziegenhaarfall"38 (Tödliche Infektion von Arbeiterinnen, nachdem ihnen Ziegenhaare zur Verarbeitung ausgehändigt wurden, die nicht desinfiziert waren) oder den "Radfahrerfall"39 (Tod eines Radfahrers infolge eines Zusammenstoßes mit einem einen zu geringen Seitenabstand einhaltenden vorbeifahrenden Lastzug, wobei der Radfahrer zudem stark alkoholisiert war) hingewiesen. Gemeinsam ist diesen bereits in der Lit. viel zitierten Fällen, daß offenkundig ein Verhalten in Form eines aktiven Tuns vorliegt: nämlich das Herausgeben der Arznei oder die Aushändigung der chinesischen Ziegenhaare bzw. das zu nahe Heranfahren an den Radfahrer. Etwa Ulsenheimer meint sogar, daß

Vgl. etwa nur die Beispie1sfälle bei Ranft, 1963, S. 341 ff. RGSt. 15, S. 151 ff. RGSt. 63, S. 211 ff. BGHSt. 11, S. 1 ff. Zum Teil wird dieser Fall auch als "Lastzugfall" in Abgrenzung zur Entscheidung RGSt. 63, S. 392 ff. (= sog. "Radleuchtenfall") bezeichnet, vgl. Ulsenheimer, 1965, S.27.

36 37 38 39

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2. Teil: Tun und Unterlassen

bei unvoreingenommener und natürlicher Betrachtung "deutlich ein aktives Tun in die Augen (springt)"40. So verwundert es nicht, daß auch der BGH im "Radfahrerfall" anstelle eines Unterlassungsdelikts ein Begehungsdelikt bejaht41 . Trotz des doch vermeintlich klaren Ergebnisses, ist aber seit jeher heftig umstritten, ob in den BeispielsfaIlen von aktivem Tun oder Unterlassen auszugehen ist42 . Denn gleichermaßen einleuchtend ist in diesen Fällen auch, daß der Apotheker es unterlassen hat, das ärztliche Rezept zu erneuern, der Unternehmer es unterlassen hat, die vorherige Desinfektion der Ziegenhaare vorzunehmen und der Lastwagenfahrer es unterlassen hat, den notwendigen Seitenabstand zum Radfahrer einzuhalten. So ging schließlich auch das RG im "Apothekerfall" von einem Unterlassen und nicht von einem positiven Tun aus43 . Ebenso hielt das RG im "Ziegenhaarfall" anscheinend ein Unterlas-

40

Uisenheimer, 1965, S. 95.

s. 1 ff. beim Fahrer des LKW ein vorwerfbares aktives Tun und nicht ein Unterlassen an: Denn er überprüft die Ursächlichkeit des zu knappen Überholens und fragt nicht nach der Ursächlichkeit des unterlassenen Einhaltens des vorgeschriebenen Seitenabstands. In diesem Sinne verstehen auch Jakobs, 1991, 28/6; Armin Kaufmann, 1959, S. 183, dort Fn. 237; Mezger, 1958, S. 282 und Uisenheimer, 1965, S. 84 die nicht ganz eindeutige Entscheidung des BGH. Anders hingegen v. Dassei, 1961, S. 29, die aus der Art der Kausalitätsprüfung in den Entscheidungsgrüfiden auf ein Unterlassen schließt oder Engisch, 1973a, S.164, der aus einzelnen Passagen in der Entscheidung folgern will, daß der BGH von einem Unterlassen ausgegangen sei. 42 Vgl. zu diesem Meinungsstreit nur JescheckIWeigend, 1996, § 58 TI 2; Kühl, 1994, § 18 TI Rn. 23; Roxin, 1962, S. 413 ff.; ders., 1973, S. 147 ff; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 6; Spendei, 1961, S. 183 ff.; Toepel, 1992, S. 39 ff.; Uisenheimer, 1965, S. 82 ff.; zum Meinungsstreit gerade beim "Ziegenhaarfall" etwa auch BaumannIWeber, 1985, § 18 TI I; BaumannIWeberlMitsch, 1995, § 15 Rn. 27; Blei, 1983, § 84 TI; Eser, 1980, Fall 25 A 11; Jakobs, 1991, 28/6; Maurach/GtJssel, 1989, § 45 I Rn. 2; OttolBrammsen, 1985, S. 532; Ranft, 1963, S.345; Schmidhäuser, 1975, 16/104; ders., 1984, 12/52; AK-StGB/Seelmann, 1990, § 13 Rn. 27; NK-Seelmann, 1995, § 13 Rn. 27; Wesseis, 1967, S. 450; ders., 1995, § 16 12 Rn. 699. 43 l.d.S. äußert sich eindeutig RGSt. 15, s. 151, 152: "Die fahrlässige Handlungsweise, welche hiennit dem Angeklagten zur Last gelegt wird, hat demnach nicht sowohl in der positiven Handlung der [... ] Erneuerung der Arznei, als vielmehr in der Unterlassung bestanden, daß er zu dieser Erneuerung ohne [... ] Vergewisserung über das Vorliegen ärztlicher Genehmigung derselben schritt". 41 Offensichtlich ninunt der BGH in BGHSt. 11,

A. Unterlassung trotz körperlichen HandeIns?

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sungsdelikt fiir gegeben, auch wenn insoweit die Entscheidungsgrtinde mißverständlich gefaßt sind44. Man wird deshalb in diesen Fällen zu Recht von einem "doppelseitigen" oder "zweideutigen" Täterverhalten45 sprechen müssen. Nicht zuletzt belegt dies wohl auch die fehlende Eindeutigkeit in den den angesprochenen Fällen zugrundeliegenden Entscheidungsgrtinden bezüglich der Verhaltensform und deren unterschiedliche Interpretation in der Lit. 46 . Die Besonderheit dieses doppelseitigen Verhaltens besteht darin, daß beide in Betracht kommenden Handlungsformen zeitlich zusammentreffen (sog. "Koinzidenz der Verhaltensformen"47). ,Wenn dieses zeitgleiche Zusammentreffen bisweilen auch bestritten wird und von sukzessiv realisierten Verhaltensformen die Rede ist48 , wird dabei verkannt, daß das Unterlassen der erwarteten Handlung auch im Zeitpunkt aktiven Tuns noch fortbesteht. So war etwa die fehlende Desinfektion der verunreinigten Ziegenhaare nicht zeitlich vor der Ausgabe der Haare an die Arbeiterinnen gleichsam unnachholbar abgeschlossen, sondern im Gegen44 Letztlich aber wohl ein Unterlassen annehmend RGSt. 63, s, 211 tI, da es im Rahmen des schuldhaften Verhaltens des Unternehmers von der Unterlassung der pflichtgemäßen Desinfektion ausgeht (vgL insbesondere. RGSt. 63, S. 214). Auch der allgemeine Hinweis des RG, daß neben einem aktiven Tun immer auch eine Unterlassung als mögliche Ursache im Sinne der Äquivalenztheorie in Betracht zu ziehen sei (vgL RGSt. 63, S. 213), deutet auf das gefundene Ergebnis. Allerdings ist die Entscheidung nicht ganz eindeutig, da das RG zuvor (vgl. RGSt. 63, S. 213) ausfilhrt, daß der "Angeklagte [... ) dadurch, daß er seinen Arbeitern [... ) nicht desinfIzierte Ziegenhaare zur Verfügung stellte, fahrlässig eine Bedingung für die Ansteckung setzte" (Hervorhebung vom Verfasser), was wiederum auf ein aktives Tun schließen lassen könnte. Auch interpretieren die Entscheidung des RG dahingehend, daß dieses von einem Unterlassen ausgegangen sei, Androulakis, 1963, S.lOO; BiJhm, 1957, S. 22; Engisch, 1973a, S.l64; LK-Jescheck, 1993, Vor § 13 Rn. 90 und SchmidhtJuser, 1975, 16/104; ders., 1984, 12/52. Genau in diesem Sinne geht auch der BGH in BGHSt. 2, S. 20,24 auf die Entscheidung des RG in RGSt. 63, S. 211 ff. ein. Anders jedoch Uisenheimer, 1965, S.83 oder Arthur Kaufmann, 1961, S.212 dort Fn. 39, die meinen, daß das RG ein Handlungsdelikt bejaht hätte. 45 46

47

Siehe auch Sieber, 1983, S. 431 und Spendei, 1961, S.183. Vgl. dazu oben Fn. 35 u. 38. Vgl. Welp, 1968, S. 1I8.

Von der sog. Koinzidenz zu unterscheiden sind die Fälle, in denen die beiden unterschiedlichen Verhaltensformen nicht zeitlich zusammentreffen, sondern zeitlich nachfolgen (sog. "Sukzession der Verhaltensformen"), vgl. Welp, 1968, S. 116. 48 Vgl. nur Struensee, 1993, S. 153. 3 Schneider

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2. Teil: Tun und Unterlassen

teil, sie wirkte auch und gerade noch im Zeitpunkt der Ausgabe als unterlassene Handlung fort und wurde damit zeitgleich mit der positiven Handlung unterlassen. Dieses Phänomen ist nachgerade wesenstypisch für den Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte. Anhand dieser Grundlage ist das Abschalten einer medizinischen Apparatur durch den Dritten nicht mehr so einfach als aktives Tun aufzufassen. Denn auch in dem Ausgangsfall kommt das Vorhandensein eines mehrdeutigen Verhaltens in Betracht: Schließlich kann hier neben der den Abschaltvorgang betreffenden Tätigkeit ebenso von einer gleichzeitig unterlassenen weiteren Behandlung gesprochen werden. Nicht zuletzt im Vergleich zu dem äußerlich identisch erscheinenden Geschehen, in dem der behandelnde Arzt die lebensnotwendigen Geräte abstellt, wird das selbstverständliche Ausgehen von einem aktiven Tun fraglich. Denn dort wird von einem Großteil in der Literatur die Ansicht vertreten, daß aus normativen Gesichtspunkten heraus etwa der Schwerpunkt des Verhaltens in der Unterlassung einer weiteren Behandlung und nicht in dem aktiven Abschalten des Gerätes per Knopfdruck liege, oder daß der soziale Sinngehalt des Abschaltvorgangs als Unterlassen zu bewerten sei 49 . Da die Kriterien rur die Differenzierung zwischen aktivem Tun und Unterlassen nach wie vor umstritten sind, ist eine tiefergehende Auseinandersetzung mit diesem Abgrenzungsproblem geboten. Zunächst ist dabei zu klären, warum im vorliegenden Fall eine Unterscheidung zwischen beiden Verhaltensformen überhaupt relevant wird.

B. Ausgangsfall: Einverständlicher Abbruch einer technisch unterstützten medizinischen Behandlung I. Tun und Unterlassen bei Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) Ganz unverkennbar wäre die Relevanz einer Bestimmung von Tun und Unterlassen dann, wenn das in Betracht kommende Tötungsdelikt nur durch 49 Vgl. etwa Geilen, 1968, S.l26; ders. 1972, S. 383; Krey, 1996, § I Rn. 11; Laclmer, 1995, Vor § 211 Rn. 8; Roxin, 1969, S. 395, 398; ders. 1987, S. 349; Schmidhtiuser, 1984, 12/54; SchönkeiSchröder/Stree, 1997, Vorbem §§ 13 f1 Rn. 160; Wessets, 1996, § 16 12 Rn. 703; Zimmermann 1977, S. 2105; ebenso nimmt auch Engisch, 1973a, S. 178 hier ausnahmsweise ein Unterlassen an, obwohl er eigentlich als Abgrenzungskriterium den Einsatz von Energie versteht; im einzelnen dazu unten 2. Teil G.

B. Ausgangsfall: Einverständlicher Behandlungsabbruch

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eine bestimmte Verhaltensweise verwirklicht werden könnte, also entweder ausschließlich durch aktives Tun oder bloß durch Unterlassen. Grundsätzlich sind aber die Tötungstatbesfände (§§ 211 ff. StGB) als sog. ErfolgsdelikteSO sowohl durch Begehen als auch durch Unterlassen (§ 13 StGB) erfiillbar. Und jedenfalls bei einem einverständlichen Behandlungsabbruch in Form des Abstellens eines lebenserhaltenden medizinischen Geräts wird man auch von einer möglichen Begehbarkeit der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) durch Unterlassen ausgehen müssen. Allerdings ist heftig umstritten, inwieweit eine Verwirklichung der Tötung auffreiverantwortliches und ernsthaftes Verlangen hin (= § 216 StGB) durch Unterlassen denkbar ist, also Tathandlung des § 216 StGB eine Unterlassung sein kann S1. Ihre Wurzeln hat diese Problematik in dem unterschiedlichen Verständnis zur möglichen Unterlassungstäterschaft eines Dritten bei eigenverantwortlicher Selbsttötung. Dort gelangen zur Auswirkung zum einen die problematisierten Kriterien zur Abgrenzung der Teilnahme von der Täterschaft beim UnteriassenS2 und zum anderen der Streit einer generellen Respektierung eines eigenverantwortlich, ohne Willenszwang gefaßten und durchgefiihrten Selbsttötungswillens. Die ganz h.L., die eine Strafbarkeit nach § 216 StGB i.V.m. § 13 StGB von vornherein ablehnen will S3 , wirft der befiirwortenden Auffassung der Rspr. 54

Vgl. nur Schönke/SchröderILenckner, 1997, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 130. Siehe zu diesem Streit nur SchönkelSchröderlEser, 1997, § 216 Rn. 10; SKHorn, 1995, § 216 Rn. 14; LK.Jähnke, 1989, § 216 Rn. 9; Wesseis, 1996a, § 2 V 2 Rn. 148 jeweils mit weiteren Nachweisen. 52 Vgl. zur besonderen Problematik der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnalune beim Unterlassen Schönke/Schröder/Cramer, 1997, Vorbem §§ 25 tT. Rn. 101 tT.; LK-Roxin, 1993, § 25 Rn. 201 tT.; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 36 ff. jeweils m.w.N. Soweit ftlr das Vorliegen einer Täterschaft bei unechten Unterlassungsdelikten auf die sich aus der Garantenstellung ergebende Erfolgsabwendungspflicht abgestellt wird und diese vorliegend wegen des Einverständnisses des Patienten zutreffend verneint wird, müßte schon aus diesem Grund eine täterschaftlichen Begehung des § 216 StGB scheitern. 53 Vgl. nur Bade, 1988, S. 146 f.; Schönke/SchröderIEser, 1997, § 216 Rn. 10; LK.Jähnke, 1989, § 216 Rn. 9; Sax, 1975, S. 146 dortFn. 81. 54 Grundsätzlich eine Strafbarkeit nach §§ 216, 13 StGB ftlr möglich haltend etwa BGHSt. 2, 150 ff., 157; 13, 162 ff., 166; 32, 367 ff., 373 ff. 50 51

3'

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2. Teil: Tun und Unterlassen

und eines Teils in der Lit. 55 vor, im Wege einer der gesetzlichen Wertung zuwiderlaufenden Umdeutung einer Selbstmordteilnahme in eine Unterlassungstäterschaft zur Strafbarkeit zu gelangen. Schließlich könne nicht ein zeitlich späteres Unterlassen im Falle einer etwa eingetretenen Bewußtlosigkeit des Opfers strafbar werden, währenddessen eine vorherige Teilnahme an der Selbsttötung (etwa sogar durch aktives Tun) angesichts fehlender Haupttat 56 (Akzessorietät der Teilnahme) als straflos zu bewerten sei 57 . Die h.M. will demzufolge die Nichthinderung einer freiverantwortlichen Selbsttötung aus dem Strafbarkeitsbereich der Tötungsdelikte insgesamt ausnehmen 58 . Auch wenn man dieser im Ergebnis zutreffenden Auffassung zustimmt, stellt sich die Frage, ob daraus eine nicht mögliche Begehbarkeit des § 216 StGB durch Unterlassen folgen muß, so wie dies überwiegend in der Literatur gesehen wird 59 . Daß die ausnahmslose Ablehnung einer Tötung auf Verlangen durch Unterlassen nicht überzeugend ist60 , zeigt die hier vorliegende Fallkonstellation des Abschaltens eines medizinischen Geräts: Auch wer mit der h.M. bei einem Behandlungsabbruch durch den Arzt den Abschaltvorgang

55

Vgl. nur Herzberg, 1975, S. 172; ders. 1985, 177 ff.

Diese Auffassung einer keinen Straftatbestand erfUllenden Selbsttötung entspricht der ganz h.M., die nicht zuletzt bereits dem Gesetzeswortlaut der §§ 211 ff. StGB (im Zusammenhang auch mit § 223 StGB) entsprechend davon ausgeht, daß die Tötungsdelikte die Tötung eines anderen Menschen voraussetzen, vgl. dazu nur Mitsch, 1995, S. 790, 889 und ausfUhrlich Herzberg, 1985, S. 132 jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 56

Anderer Ansicht ist demgegenüber aber insbesondere Schmidhäuser, 1983, 2/9, der die eine Selbsttötung verursachende Handlung als "tatbestandlich-rechtsgutsverletzend" ansieht und damit konsequent zu einer teilnahmefähigen Haupttat gelangt, die es ihm ermöglicht, eine Strafbarkeit nach §§ 216, 27 StGB begründen zu können (vgl. Schmidhäuser, a.a.O., 2/37). 57 Siehe zudem aus der Rspr. zur straflosen AnstiftunglBeihilfe bei eigenverantwortlicher Selbstgefiilirdung oder Selbstverletzung etwa die erst kürzlich ergangene Entscheidung PfzOLG Zweibrücken, NStZ 1995, S. 89 f., 90. 58

Vgl. insbesondere etwa LK.Jähnke, 1989, § 216 Rn. 9.

I.d.S. jedenfalls LK.Jähnke, 1989, § 216 Rn. 9: "Grundsätzlich ist § 216 [... ] durch Unterlassen nicht begehbar [... ]". Auch Sax, 1975, S. 146 dort Fn. 81 folgert aus der Straflosigkeit der Selbstmordbeihilfe, "daß fUr § 216 StGB tatbestandsmäßig immer nur ein Töten durch aktives Tun sein kann [... ]". Beispielhaft kann schließlich noch Stratenwerth, 1978, S. 69 aufgeführt werden, der ebenfalls aus den genannten Gründen zu dem Schluß kommt, "daß es eine Tötung auf Verlangen durch Unterlassen nicht geben kann". 60 Vgl. auch Schmitt, 1986, S. 620. 59

B. Ausgangsfall: Einverständlicher Behandlungsabbruch

37

bezogen auf das medizinisch-technische Gerät aus normativen Erwägungen heraus als Unterlassen werten will 61 , kann zumindest mit der gängigen oben genannten Argumentationsweise zur Selbsttötung nicht zu einer Verneinung einer Begehbarkeit der Tötung auf Verlangen durch Unterlassen gelangen. Denn es mangelt hier schon an einer überhaupt denkbaren Selbsttötung des Opfers im Sinne eines, den die äußere Abgrenzung von SelbsttötunglFremdtötung betreffenden "Tötungsakts"62. Eine Selbsttötung muß immer dann abgelehnt werden, wenn die Herrschaft über den letztlich unmittelbar todbringenden Akt63, und damit die maßgebli-

61 Siehe oben Fn. 49. 62 Wenn kein Zweifel besteht, daß bloß ein Fremdtötungsakt in Form einer Täterschaft nach § 25 I I I. Alt. StGB vorliegt, stellt sich die weitere schwierige Problematik der Eigenverantwortlichkeit des Opfers innerhalb der Abgrenzung SelbsttötunglFremdtötung nicht; die Eigenverantwortlichkeit ist dann höchstens im Rahmen des § 216 StGB von Relevanz. Denn dieser Problemkreis kann überhaupt nur bei einem nach außen hin vorliegenden Selbsttötungsakt Bedeutung erlangen. Dann gilt es nämlich zu klären, ob nicht wegen fehlender Eigenverantwortlichkeit des Opfers eine Fremdtötung, und zwar in mittelbarer Täterschaft (§ 25 I I 2. Alt. StGB), also in Form einer Benutzung des Opfers als unmittelbar tatausfllhrendes (= sich selbst tötendes) Werkzeug, in Betracht zu ziehen ist. Und soweit als Tathandlung ein Unterlassen vorliegt, muß untersucht werden, ob eine die Unterlassungstäterschaft begründende Rechtsptlicht (derart jedenfalls die h.L., vgl. etwa SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 37,38 m.w.N.) zum Handeln besteht. 63 Zu nennen ist hinsichtlich einer derartigen - neben der die Frage der Eigenverantwortlichkeit betreffenden "inneren" Abgrenzung - zunächst notwendigen "äußeren" Abgrenzung der Selbsttötung von der Fremdtötung insbesondere die hier übernommene Ansicht von Roxin 1993, S. 177 ff., 178, 183 ff.; ders., I 994a, S. 569, 570. Dieser hält bei der Abgrenzung die "Herrschaft über den todbringenden Moment" fIlr entscheidend und fllhrt dazu im Kern aus (vgl. Roxin, I 994a, S. 569): "Selbstmord begeht, wer im kritischen Augenblick, jenseits dessen ein Zurück nicht mehr möglich ist, die Entscheidung über sein Leben in eigener Hand hält; wer die Grenzlinie, die beim Eintritt der Handlungsunflihigkeit liegt selbst überschreitet. Um einen Fall des § 216 StGB handelt es sich dagegen, wenn das Opfer einem anderen den Vollzug des letzten, irreversiblen Geschehensaktes anvertraut, wenn er sich über die zum Tode ftlhrende Schwelle von fremder Hand hinüberstoßen läßt. [... ) So fein danach der über die Stratbarkeit bestimmende Unterschied anmutet, so sinnvoll ist er doch: Denn viele haben sich die Pistole schon an die Schläfe gesetzt, aber wenige haben den Mut gehabt abzudrücken. Wer - die Zurechnungsflihigkeit vorausgesetzt - diesen letzten Entschluß durchsteht, muß seinen Tod selbst verantworten. Wenn jedoch ein Außenstehender dem Lebensmüden die unwiderrufliche Entscheidung, vor deren Vollzug dieser vielleicht doch noch zurückgeschreckt wäre, abnimmt, trägt er die Verantwortung für den Tod des Opfers und macht sich nach § 216 stratbar".

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2. Teil: Tun und Unterlassen

che Durchführung bzw. Umsetzung der Entscheidung über Leben und Tod, bei einem anderen liegt, wie etwa bei demjenigen, der ein lebensnotwendiges medizinisches Gerät eigenhändig abstellt64 . Ist das Opfer dazu selbst nicht mehr in der Lage, sondern muß dies von einem Arzt oder Dritten übernommen werden, so ist also von einer Fremdtötung (in unmittelbarer Täterschaft nach § 25 I 1. Alt. StGB) auszugehen. Zwar mögen nonnative Erwägungen, wie Schwerpunkt des Verhaltens oder soziale Sinnhaftigkeit, aus einem augenscheinlich vorliegenden aktiven Tun ein Unterlassen erzeugen können, nicht aber läßt sich derart aus einer Fremdtötung eine Selbsttötung herleiten. Das liegt daran. daß zur Bestimmung der Handlungsfonn andere Gesichtspunkte maßgebend sind als bei der Abgrenzung Selbsttötung!Fremdtötung. Deutlich tritt zutage, daß sich aus einer normativen Sicht bei der Bewertung des AbschaItvorgangs weitreichende, an dem Unterlassen anknüpfende dogmatische Folgeprobleme in diesem Bereich ergeben, die zu dem ja nach wie vor tatstichlich vorliegenden aktiven Tun des Abschaltens nicht recht zu passen scheinen. Nachdem also die auf den Ausnahmefall der Selbsttötung beschränkte Argumentation einer Begehbarkeit des § 216 StGB nur durch aktives Tun nicht greift, muß zu dem auch von Jtihnke hervorgehobenen allgemein geltenden Grundsatz zwiickgekehrt werden, daß hinsichtlich der Tathandlung des Unterlassens bei § 216 StGB jedenfalls "die Dogmatik der Unterlassungsdelikte [... ] eine solche Möglichkeit auf den ersten Blick ohne weiteres zu eröffnen

Vgl. zur Kritik an der Formel von der "Herrschaft über den wunittelbar lebensbeendenden Akt" F.-c. Schroeder, 1994, S. 576, der das Merkmal der "Herrschaft" ftl.r "juristisch diffus" hält. 64 Aus dem der Entscheidung des LG Ravensburg zugrundeliegenden Sachverhalt (vgl. MedR 1987, S. 196, 197) ist nicht ersichtlich, daß etwa die Patientin nach dem Abschalten des Gerätes den Ablauf des weiteren Geschehens bis zum "point of no return" (= von diesem kritischen Augenblick im Gesamtgeschehen ist etwa bei Merkei, 1992, S. 77 innerhalb der Diskussion Tötung auf Verlangen oder Selbsttötung die Rede) zumindest durch Äußerungen noch hätte beeinflussen können. Infolgedessen kann nicht davon ausgegangen werden, daß sie bis zum Schluß die Entscheidung über Leben und Tod noch selbst in der Hand gehabt hätte, also doch von einer eigenverantwortlich gewollten Selbsttötung auszugehen wäre (vgl. zu dieser Problematik auch Roxin, 1993, S. 185 mit dem auf Merkei, 1992, S. 80 zurückgehenden Beispielsfall, in dem der Kranke nach der tödlich wirkenden Spritze noch die Gelegenheit hatte, zu Gegenmaßnahmen aufzufordern, und den Roxin nicht als einen Fall des § 216 StGB beurteilen will).

B. Ausgangsfall: Einverständlicher BehandlWlgsabbruch

39

(scheint)"6S. Es ist im vorliegenden Fall mithin eine grundsätzliche Erfüllbarkeit des § 216 StGB auch durch Unterlassen anzunehmen. Eine Ablehnung der Tötung auf Verlangen in Form des Unterlassens sollte auf den Bereich der Selbsttötung beschränkt bleiben. Zusätzliche Unterstützung erfahrt dieses Ergebnis einer grundsätzlichen Begehbarkeit des § 216 StGB durch Unterlassen bei einer Betrachtung der folgenden Vergleichsfalle66 : So kommt etwa bei demjenigen eine Strafbarkeit wegen Tötung auf Verlangen nach §§ 216, 13 StGB in Betracht, der einen Lebensmüden, der sich auf die Straße wirft, nicht-bremsend überrollt 67 . Oder ebenso kann deljenige nach §§ 216, 13 StGB strafbar sein, welcher der Bitte des lebensmüden Akrobaten, ihn beim nächsten Sprung nicht aufzufangen, nachkommt. Letzteres Beispiel ist allerdings insofern ein Grenzfall, als fraglich ist, ob der Akrobat mit seinem Sprung nicht den "point of no return" selbst überschreitet, also insofern eine Selbsttötung vorliegt. Abschließend ergibt sich, daß zwei Fragenkomplexe strikt voneinander zu unterscheiden sind: Nämlich die Frage der Handlungsweise von der Frage einer im Ergebnis gewollten Strafbarkeit bzw. Straflosigkeit des Täters. 11. Konsequenzen der Weichenstellung Unterlassungsdelikt oder Begehungsdelikt 1. Strukturunterschiede von unechtem Unterlassungsdelikt und Begd!ungsdelikt: Garantenpflicht als maßgebende einschränkende Stratbarkeitsvoraussetzung Angesichts dieser oben begründeten grundsätzlichen Erfüllbarkeit der Tötungsdelikte (insbesondere auch des § 216 StGB) sowohl durch Tun als auch durch Unterlassen erscheint hier auf den ersten Blick die Dringlichkeit einer QualifIkation des Verhaltens als Tun oder Unterlassen nicht sehr überzeugend. Insbesondere kann die auf der Rechtsfolgenseite nicht einmal zwingend vorgeschriebene Strafmilderung nach § 13 II StGB68 mit Sicherheit nicht derart

65

LK.Jähnke, 1989, § 216 Rn. 9.

66 Die Vergleichsflille finden sich bei Frewld, 1992, S. 271 dort Fn. 22. 67 Dabei soll das Überrollen angesichts der auf das Bremsen bezogenen Untätigkeit als Unterlassen eingestuft werden. 68 Die fakultativ angeordnete Strafmilderung nach § 13 11 StGB soll ohnehin nur dann zum Tragen kommen, wenn der Unrechtsgehalt des UnterlassWlgsdelikts gegen-

40

2. Teil: Tun und Unterlassen

ausschlaggebend sein, daß die Abgrenzung von Tun und Unterlassen beim Abbruch einer medizinischen Behandlung zu einer zentralen Frage auszugestalten wäre. Dennoch ist eine Abgrenzung der beiden Handlungsformen geboten: Denn aufgrund des "enger gezogenen Strafbarkeitsbereichs"69 bei Unterlassungstaten gegenüber Begehungstaten ist nur unter bestimmten zusätzlichen Voraussetzungen eine Strafbarkeit wegen einer Unterlassungstat gegeben. Dies folgt aus dem unterschiedlichen Wesen von Tun und Unterlassen: "Während aktive Erfolgsverursachung gleichsam per se - als Verletzung eines Tötungsverbots rechtlich relevant ist, wird erfolgsermöglichendes Unterlassen rechtlich bedeutsam überhaupt erst dann, wenn es pflichtwidrig ist - durch Nichterfiillung eines entsprechenden Lebenserhaltungsgebots"70. Diese Erkenntnis hat zur Folge, daß bei Annahme einer Unterlassungstat eher ein dogmatischer Ansatzpunkt ftJr die Ablehnung der Tötung auf Verlangen in Betracht kommt als bei einer Begehungstat. Schließlich werden vom Verbot, einen anderen Menschen zu töten, nur ganz eng umgrenzte Ausnahmen zugelassen, soweit es sich um eine durch aktives Tun verwirklichte Tötung handelt71 . Diese engen Grenzen verlieren aber dann an Relevanz, wenn es nicht um eine aktive Tötung, sondern um das Sterbenlassen eines anderen im Sinne einer Unterlassung nach § 13 StGB

über dem Begehungsdelikt geringer eingeschätzt werden kann. Zwar wird dies angesichts der bei Unterlassungsdelikten geringeren verbrecherischen Energie regelmäßig der Fall sein, doch sind durchaus Fälle denkbar, in denen vom Unrechtsgehalt her das Unterlassen dem aktiven Tun entspricht und sich infolgedessen auf der Rechtsfolgenseite keine Unterscheide zwischen Begehungsdelikt und Unterlassungsdelikt ergeben. Vgl. zur fakultativen Strafinilderung bei unechten Unterlassungsdelikten beispielsweise Jescheck/Weigend, 1996, § 58 V I. 69 BaumannIWeber, 1985, § 18 n I. Vgl. des weiteren etwa auch Kienapfel, 1976, S.282. 70 Eser, 1976, S. 401,ders., 1977, S. 94;ders., I 977a, S. 34. Auf den bedeutsamen Unterschied von aktiver und passiver Sterbehilfe wies bereits Engisch, 1948, S. 10 hin: "Das aktive Tun wiegt in der Regel rechtlich schwerer als das Unterlassen. Vor allem besteht grundsätzlich und für jedermann die Pflicht, bei anderen eine aktive Todesverursachung oder -beschleunigung zu unterlassen, während eine Pflicht, anderer Leben zu verlängern, von vornherein nur bedingt und begrenzt anzuerkennen ist". 71 Zu den strafrechtlichen wie außerstrafrechtlichen eng begrenzten RechtfertigungsgrOnden, die eine Ausnahme vom Tötungsverbot zulassen LK.Jahnke, 1989, § 212 Rn. 9 tT.

B. Ausgangsfall: Einverständlicher BehandlWlgsabbruch

41

geht72 . Denn es können sich nur Garanten mit bestehender Garantenpflicht wegen eines Tötungsdelikts durch Unterlassen strafbar machen. Die Erfiillung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit - soweit man mit der ganz h.M. die von der Garantenstellung zu trennende Handlungspflicht überhaupt als Komponente der Rechtswidrigkeit und nicht bereits der Tatbestandsmäßigkeit ansieht73 - ist somit bei den unechten Unterlassungsdelikten von vornherein an ein zusätzliches Erfordernis gebunden. Anläßlich dieser grundsätzlich unterschiedlichen Ausgangssituation bei unechten Unterlassungsdelikten und Begehungsdelikten konstatiert beispielsweise Kienapfel zu Recht, daß "allein schon die Entscheidung der Vorfrage, die Herbeiführung eines bestimmten Erfolges [... ] unter dem Aspekt eines Unterlassens [... ] zu sehen und zu prüfen, zu einer erheblichen Verbesserung der Chancen des Angeklagten (führt), möglicherweise sogar freigesprochen [... ] zu werden"74. Die Tragweite dieses mit der Eigentümlichkeit des unechten Unterlassungsdelikts (= Notwendigkeit einer Rechtspflicht zum Handeln) zusammenhängenden Befundes tritt besonders deutlich auch in dem hier interessierenden Bereich des Abbruchs einer medizinischen Behandlung (durch den behandelnden Arzt oder einen Dritten) zutage. Nicht zuletzt die Reaktionen in der Literatur auf die teils vertretene Annahme eines Unterlassens erhellen diese These. Schnell sieht man sich in diesem Fall dem Vorwurf einer nicht mehr unbefangenen Bewertung, sondern einer ergebnisorientierten Voreingenommenheit bei der Bestimmung der Handlungsform ausgesetzt. Gesprochen wird sogar von der Gefahr, daß das gewünschte Ergebnis zum Einordnungskriterium bei der Festlegung von Tun oder Lassen, d.h. hier von passivem Sterbenlassen oder aktivem Töten, werde75 . So wird teilweise gerade Roxin vorgeworfen, daß er bloß um des gewünschten Ergebnisses willen, nämlich einer begründbaren Straflosigkeit des die Behandlung abbrechenden Dritten, mit seiner Rechtsfigur des "Unterlassens durch Tun"76 zur Unterlassungstat gelangen wolle. Derart entgegnet Herzberg 72 Derart etwa Bemsmann, 1994, S. 9. 73 Ausführlich zu diesem Streit Schönke/Schröder/Cramer, 1997, § 15 Rn. 95-97 sowie JescheckIWeigend, 1996, § 59 VI I jeweils mit zahlreichen weiterfllhrenden Nachweisen. 74 Kienapfel, 1976, S. 282. 75 Otto,1986,D29.

76 Vgl. Roxin, 1987, S. 349 f

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2. Teil: Tun und Unterlassen

der Ansicht von Roxin, indem er ihm eine Aufgabe von zuvor selbst getroffenen Grundunterscheidungen - nämlich Unterlassen beim Abbruch durch den Arzt bzw. auf dessen Geheiß hin und aktives Tun beim eigenmächtigen Abbruch durch einen Dritten - vorhält: "So ist das Ergebnis gerettet - aber um welchen Preis"77! Ebenso weist Gössel auf die Probleme hin, die mit der von Roxin vorgenommenen Bejahung einer Unterlassung verbunden sind: "auf diesem Weg werden letztlich alle im StGB enthaltenen Verbote bestimmter aktiver Verhaltensweisen zu Unterlassungen umfunktioniert mit der Folge, die Strafbarkeit auch aktiven Tuns von der Existenz einer GarantensteIlung für das beeinträchtigte Rechtsgut abhängig zu machen"7s. Und Samson spricht von einer "Umdeutung" des Verhaltens in ein Unterlassen mittels "konstruktiver Erwägungen"; er wendet sich damit ebenfalls ausdlÜcklich gegen den von Roxin vorgeschlagenen Lösungsweg79 . Auch Jähnke erkennt das Risiko, daß die Besonderheit der die Strafbarkeit einengenden Garantenpflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten zum Anlaß genommen wird, den Behandlungsabbruch als Unterlassen zu werten: "Die Ansicht [... ], die dem tätigen Behandlungsabbruch eine solche Deutung gibt, um konstruktiv seine rechtliche Zulässigkeit durch Vemeinung einer Garantenpflicht zur Weiterbehandlung zu beglÜnden, ist verfehlt"so. Ganz in diese Richtung der Gefahr einer am Ende rein ergebnisorientierten Bewertung des Falles geht auch der auf den Behandlungsabbruch durch den Arzt bezogene Einwand von Küpper: "Hinter dem Bemühen, das Handeln des Arztes in ein Unterlassen umzudeuten, steht erkennbar das Anliegen, im Falle aussichtsloser Diagnose zur Straflosigkeit mangels Garantenpflicht zu gelangen"SI. Die Erkenntnis einer leichteren dogmatischen Begrundungsmöglichkeit im Falle einer Unterlassungstat für eine hier erstrebte Straflosigkeit bringt schließlich Hirsch auf den Punkt: "Könnte man auf ein Unterlassen abheben, nämlich das im Abschalten zum Ausdruck kommende Abbrechen der Therapie, so würde [... ] das Unrecht mangels Garantenpflicht entfallen. Hätte man

77

Vgl. Herzberg, 1988, S. 187.

7S Siehe G6ssel, 1987, § 2 Rn. 44. 79

Samson, 1974, S. 60l.

so Vgl. LK~ähnke, 1989, Vor § 211 Rn. 16. SI KUpper, 1990, S. 82. Ganz ähnlich auch der Vorwurfbei LK~ähnke, 1989, Vor § 211 Rn. 16 oder StroePlsee, 1993, S. 138, die jenen Ansichten, die den tätigen Behandlungsabbruch durch den Arzt als ein Unterlassen werten, vorwerfen, mit Hilfe dieser Konstruktion die rechtliche Zulässigkeit des Behandlungsabbruchs durch Verneinung der Garantenpflicht erreichen zu wollen.

B. AusgangsfalJ: Einverständlicher Behandlungsabbruch

43

dagegen an das Handeln anzuknüpfen, so stünde man vor etwas schwierigeren Begründungsfragen"82. Bestätigt wird diese Ansicht letztlich von Joerden: "Während man sich in bezug auf das Nicht-Weiterbehandeln und damit das 'Sterbenlassen' irreversibel vom Tode gezeichneten Lebens wohl noch relativ problemlos verständigen kann, indem man eine entsprechende (Garanten)Pflicht des Arztes zum Tätigwerden negiert, bliebt allerdings der Fall schwierig, in dem der Arzt aktiv handelnd einen lebenserhaltenden Vorgang abbricht. (Man) hat [... ] nur die Möglichkeit festzustellen, daß das entsprechende Verhalten des Arztes den Tatbestand des Tötungsdelikts verwirkIicht"83. Infolge einer denkbaren Vemeinung der Garantenpflicht bei unechten Unterlassungsdelikten spricht Pelzl sogar von einem in Lit. und Rspr. aufkommenden "Zwang", den technischen Behandlungsabbruch als Unterlassen einordnen zu müssen84 . Nicht von ungefähr kommt daher folgender medizinisch-technischer Ausweg zur Umgehung eines aktiven Tuns: Um bei einem Beatmungsgerät den Abschaltvorgang in Fonn eines eigentlich vorliegenden aktiven Tuns zu vermeiden, wird etwa von vornherein keine für den Betrieb erforderliche neue Sauerstoffpatrone nachgelegt, so daß das Gerät seinen Dienst von selber einstellt und demzufolge regelmäßig bloß ein Unterlassen zum Vorwurf gemacht werden kann 85 . 2. Folgen eines Einverständnisses in den Behandlungsabbruch a) Situation beim Unterlassungsdelikt

Das eigenverantwortlich gefaßte Einverständnis eines Patienten in den Behandlungsabbruch muß zur Gewährleistung ausreichender Autonomie eine Rechtspflicht86 zur Aufrechterhaltung der Intensivmedizin entfallen lassen87 , 82

H. J. Hirsch, 1987, S. 605.

83 Joerden, 1993,S. 270. 84

Pelzl, 1994, S. 192.

85 Vgl. mit kritischen Bemerkungen dazu Helgerth, 1976, S. 47. 86 Die Rechtspflicht zum Schutz von Leib und Leben ist vorliegend fiIr den Arzt durch den Behandlungsvertrag und die nachfolgende tatsächliche Behandlung entstanden und wurde fiIr den Dritten durch seine Stellung als Ehegatte, gesetzlich erklärbar mit § 1353 BGB, begründet. 87 So bezüglich des Abbruchs einer (mit technischen Hilfsmitteln betriebenen) Behandlung durch den Arzt im Falle eines fehlenden Einverständnisses des Patienten

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2. Teil: Tun und Unterlassen

mit der Folge, daß eine Strafbarkeit wegen eines Tötungsdelikts auszuscheiden hat. Der Konflikt zwischen bestehender Hilfspflicht und Patientenautonomie ist also zugunsten des Patientenwillens zu lösen. Einsichtig ist dies besonders dann, wenn es etwa um die Frage geht, ob eine neue, besonders risikoträchtige Behandlung erstmalig durchgefiihrt werden soll. Kommt dann der Patient nach langem Überlegen zu dem Entschluß, die Behandlung wegen des hohen Risikos nicht durchfUhren zu lassen, ist das verständlich. Niemand würde wohl auf die Idee kommen, den Arzt rechtlich fiir eine Behandlung verpflichtet zu halten. Denn der Patient selbst muß am Ende die Folgen eines Mißlingens der Behandlung tragen, und nur er kann die Verantwortung fiir ihn bekannte Risiken übernehmen oder eine Behandlung ablehnen. Deshalb darf die Entscheidung fiir oder gegen eine Behandlung nicht einem Dritten übertragen werden, solange der Patient zu eigenverantwortlichen Entschlüssen fähig ist. An dieser Sichtweise kann sich im Falle venneintlich routinierter Behandlungsmaßnahmen nichts ändern. Auch dann muß allein der Patient darüber entscheiden können, was mit seinem Körper geschieht. Alles andere würde eine Bevonnundung88 des Patienten bedeuten und eine Behandlungspflicht zur Folge haben, die sich mit Art. 1 I und Art. 2 I, 11 I GG nicht vereinbaren läßt89 . Ganz auf einer Linie damit liegt auch die neueste Rspr., die betont, daß sich die Garantenpflicht eines behandelnden Arztes nicht auf die Verhinderung freiverantwortlich gefaßter Selbstschädigungen oder Selbstgefährdungen erstrecken könne9o . Dieser Befund deckt sich mit einer allgemeinen Einschätzung zur Auferlegung von Gefahrabwendungspjlichten: Eine Rechtspflicht zum Handeln in dem Sinne, daß einem anderen Hilfe aufgezwungen wird, kann es nicht geben91 . Wer sich ganz bewußt92 nicht helfen lassen will, dem darf auch der Staat nicht Hilfe von außen aufdrängen; jedenfalls unter Strafandrohung kann in die Therapie die ganz h.M.; vgl. etwa Bade, 1988, S. 144 tT.; Blei, 1983a, § 5 VI 4; Deichmann,1995, S. 983; Dölling, 1987, S. 9; Eser, 1976, S. 40 I; ders., 1977, S. 98, 109, 140, 141; Freund, 1992, S. 268 tT., 270; Gössel, 1987, § 2 Rn. 39; Herzberg, 1986, S. 1638; H.J. Hirsch, 1987, S. 600; LK.Jähnke, 1989, Vor § 211 Rn. 13; Kutzer, 1994, S. 113 f.; Otto, 1986, 0 39,40; Pelzl, 1994, S. 185; Roxin, 1987, S. 349; Schöch, 1995, S. 154,155; Tröndle, 1988, S. 164. 88 Vgl. auch Freund, 1992, S. 268, 270. 89 hn einzelnen dazu unten im 3. Teil der Arbeit. 90 Siehe PfzOLG Zweibrücken, NStZ 1995, S. 89 f, 90. 91 So auch Freund, 1992, S. 268 ff; Hruschka, 1988, S. 166, 167. 92 Im SilU1e einer ernstgemeinten, eigenverantwortlich getroffenen Entscheidwlg.

B. AusgangsfalJ: Einverständlicher Behandlungsabbruch

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ein Garant in derartigen Fällen nicht zu einem Handeln gezwungen werden. Das Opfer kann schließlich gute Gründe haben, angebotene Hilfe abzulehnen93 . Und selbst wenn diese Gründe objektiv nicht vernünftig erscheinen, sind sie zu respektieren, soweit Eigenverantwortlichkeit vorliegt. Denn wenn man Hilfe als etwas Gutes, Wohlgemeintes versteht, darf die Sicht des Opfers nicht unberücksichtigt gelassen werden; schließlich geht es um dessen Wohl. Anderenfalls kann sich Hilfe schnell ins Gegenteil verkehren. Soweit ein Behandlungsabbruch durch den behandelnden Arzt vorliegt, entspricht die obige Sichtweise einer fehlenden Hilfspflicht bei entgegenstehendem Willen des Patienten der ganz h.M. Doch auch wenn - wie im Ausgangsfall LG Ravensburg - ein Dritter die Behandlung abbricht, muß das Ergebnis gleichartig ausfallen. Denn die Arzteigenschaft besitzt im Zusammenhang mit dem Entfallen der Rechtspflicht keine Relevanz. Hier ist das freiverantwortlich gefaßte Einverständnis des Patienten in den Behandlungsabbruch der allein maßgebende Faktor. Daraus ergibt sich als Konsequenz: Sollte nicht nur der Behandlungsabbruch des behandelnden Arztes, sondern auch der des Dritten als Unterlassen einzustufen sein, so muß auch beim Dritten eine Strafbarkeit wegen fehlender Garantenpflicht ausscheiden94 . b) Situation beim Begehungsdelikt Ganz anders und wesentlich schwieriger im Hinblick auf eine begriindbare Straflosigkeit stellt sich die Sachlage trotz eines Einverständnisses des Patienten in den Behandlungsabbruch bei aktivem Tun, also einem Begehungsdelikt, dar. Das auf das aktive Tun bezogene Tötungsverbot des § 216 StGB trifft jeden ohne eine bereits gesetzlich vorgesehene einschränkende Ausnahme. Insbesondere kann eine Einwilligung als solche de lege lata - jedenfalls zur Zeit noch - höchstens zur Strafmilderung fiihren 95 .

Vgl. Hroschka, 1988, S. 166. Derart konsequent beurteilt schließlich Roxin, 1987, S. 350 den Behandlungsabbruch durch den Dritten als strafloses Unterlassen (unter Zuhilfenahme der Rechtsfigur Unterlassen durch Tun): "Der Behandlungsabbbruch ist rechtlich als das auf dem Willen der Patientin beruhende und daher die Erfolgsabwendungspflicht beseitigende Unterlassen einer weiteren Sterbensverlängerung zu beurteilen" (Hervorhebung vom Verfasser). 95 Vgl. zur Diskussion de lege ferenda hinsichtlich zumindest einer Lockerung des noch bestehenden absoluten Tötungsverbots bei Tötung auf Verlangen: Hoerster, 1986, 1789 IT., 1792; ders., 1988, S. 3 f., der mit seiner Auslegung von lebenswertem 93

94

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2. Teil: Too ood Unterlassen

Gesichtspunkte, wie etwa beim Unterlassen das Entfallen einer Garantenpflicht wegen eines einverständlichen Behandlungsverzichts, können beim Verbot vom Gesetz her deshalb keine Rolle spielen. Denn zur Verwirklichung eines Begehungsdelikts reicht im Gegensatz zur Strafbarkeit wegen Unterlassens regelmäßig die bloße, den Erfolg zurechenbar herbeiführende Handlung aus. Während also der Normappell des Gebots, helfend tätig zu werden, im Falle des unechten Unterlassungsdelikts mit gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen verbunden ist, mithin nicht jedermann in jeder Situation davon erfaßt wird, geht der Normappell eines Verbots, rechtsgutsverschlechternde Tätigkeiten zu unterlassen, wesentlich weiter: Im Grundsatz ist es jedermann verboten, durch aktives Tun zurechenbar einen Erfolg herbeizuführen. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, daß - wie bei jedem Delikt letztlich auch hier bei Annahme aktiven Tuns immer noch Rechtfertigungsgründe als Möglichkeiten einer straflosen Tötung auf Verlangen zur Verfügung stehen. Doch muß angesichts des hier betroffenen Rechtsguts Leben die besondere Problematik berücksichtigt werden, daß eine Rechtfertigung regelmäßig - im Unterschied zum Entfallen der Garantenpflicht beim Unterlassungsdelikt - eine Abwägung verschiedener Rechtsgüter voraussetzt. Und diesbezüglich ist es nicht einfach, dem Rechtsgut Leben ein höherwertigeres und damit schützenswerteres Rechtsgut gegenüber zu stellen. Denn das menschliche Leben wird allgemein als "das wertvollste Rechtsgut" angesehen, "welches strafrechtlichem Schutz unterstellt ist"96. Aus diesem Grund lehnt man überwiegend auch die Rechtfertigung eines Tötungsdelikts mit Notstandsgesichtspunkten ab. Im Einzelnen wird auf die Problematik einer denkbaren Rechtfertigung der Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB am Ende der Arbeit noch ausführlich einzugehen sein.

ood lebensoowertem Leben wohl teilweise zu weit geht ood mit seiner Auffassoog dem Mißbrauch der von ihm in bestimmten Fällen zuzulassenden (auch aktiven) Sterbehilfe "Tür ood Tor" öffuet; des weiteren zu dieser Diskussion Arthur Kaufmann, 1983, S. 124; Schmin, 1972, S. 117, 118; ders. 1986,617 ff., 620, 621. Siehe zur historischen Entwicldoog ood zur rechtsvergleichenden Sicht im Hinblick auf die Stratbarkeit einer Tötung auf Verlangen auch SimsoniGeerds, 1969, S 42 ff. Die derzeitige Systemwidrigkeit des § 216 StGB, ganz gleich ob man das Leben der Dispositionsbefugnis des einzelnen ooterstellen will oder nicht, wird zutreffend insbesondere von Bringewat, 1976, S. 372 ff., 373; Engisch, 1975, S. 5; Schmin, 1972, S. 117, 118 dargestellt. 96 Siehe etwa Mitsch, 1995, S. 788.

B. Ausgangsfall: Einverständlicher Behandlungsabbruch

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111. Fazit Es kann mithin festgehaIten werden, daß das Ergebnis eines Unterlassens aufgrund der schon gesetzlich vorgesehenen Einschränkung der besonderen Rechtspflicht zum Handeln beim unechten Unterlassungsdelikt einen leichteren dogmatischen Einstieg fiir die Begründung einer - von vielen in diesem Bereich gewünschten - Straflosigkeit liefert als dies bei einem aktiven Tun der Fall ist. Damit zeigt sich gerade auch hier, daß die Unterscheidung zwischen Unterlassen und aktivem Tun nicht nur von rein theoretischer Natur, sondern durchaus von praktischer Relevanz ist und besonders im Ausgangsfall LG Ravensburg (vgl. oben 1. Teil B.) ein zentrales Problem darstellt. Wegen der möglichen Abhängigkeit der Art des Verhaltens von der Frage der Strafbarkeit oder Straflosigkeit bedarf die Einordnung der Verhaltensweise einer eingehenden Erörterung97 . Bisweilen wird allerdings fiir den vorliegenden Fall des Abschaltens eines Reanimators die Bedeutsamkeit dieser Problematik mit dem Argument bestritten, daß von der Einordnung der Verhaltensform gerade nicht die Frage der Strafbarkeit oder Straflosigkeit des Arztes bzw. des Dritten abhängen dürfe. Dahinter steht offenbar die Befiirchtung, daß das Vorliegen eines Tuns oder eines Unterlassens beim Abbruch einer medizinischen Behandlung durch technische Zufä1ligkeiten vorgegeben sein könnte. So gibt etwa Eser zu Bedenken: "[ ... ] ob der Arzt bei einer Reanimation zur Entlastung seiner Hände ein technisches Hilfsmittel einsetzt, ob dessen Betrieb eines anhaltenden Knopfdrückens oder lediglich eines intervallartigen Wieder-in-Gang Setzens bedarf, oder ob das Gerät zu noch größerer Entlastung des Arztes so geschaltet ist, daß nur ein negativer (Abschalt-) Impuls erforderlich ist, von solchen Konstruktionen kann und darf die rechtliche Bewertung als Unterlassen [... ] nicht abhängen,,98. Ganz ähnlich ist die Sichtweise bei Volk, der ebenfalls die dogmatische Relevanz einer Unterscheidung von Tun und Unterlassen im vorliegenden Fall in Frage stellt; wesentlich könne nur sein, "sich darüber zu ver97 Allgemein im Sinne einer grundlegenden Bedeutsamkeit und Notwendigkeit einer Unterscheidung von Tun und Unterlassen etwa Engisch, 1973a, S. 163; Eser, 1976, S. 401; Gössel, 1984, S. 323, 324; Kahlo, 1990a, S. 1521; Kienapfel, 1976, S. 281; Mezger, 1958, S. 74; Ranft, 1963, S. 340; Samson, 1974, S. 579; Seelmann, 1987, L 33, 34; NK-Seelmann, 1995, § 13 Rn. 23; Schmidhäuser, 1984, 12/50; Spendei, 1961, S. 183; StojJers, 1992, S. 448,449; Toepel, 1992, S. 40; Zimmermann, 1977, S. 2103; auf die "eminent praktische Bedeutung" hinweisend auch Welp, 1968, S.103. 98 Eser, 1977, S. 140,141.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

ständigen, ob es Menschen erlaubt ist, dem Leben eines anderen den Sinn abzusprechen und darüber zu urteilen, wann es 'an der Zeit' ist, oder wann es 'vorzeitig' wäre, es zu beenden"99. Er hält es aber "offensichtlich" fiir "nicht sinnvoll, sich lange bei der Frage aufzuhalten, ob die Handbewegung, mit der die Apparatur ausgeschaltet wird, immer als positives Tun qualifiziert werden muß oder irgendwie mit anderer 'Bedeutung' versehen und als Unterlassen gedeutet werden soll" 100. Denn davon dürfe seiner Ansicht nach nichts abhängen 101 . Mit diesen Erwägungen läßt sich aber die Wichtigkeit der Einordnung der Verhaltensweise nicht leugnen. Denn solange es unechte Unterlassungsdelikte auf der einen Seite und Begehungsdelikte auf der anderen Seite gibt und solange diese Deliktsarten unterschiedlichen Regeln unterliegen, muß die Festlegung der Verhaltensfonn zu Beginn jeder strafrechtlichen Prüfung erfolgen. Wie sonst soll man wissen, welches System zur Lösung des Falles zur Anwendung kommen muß. Darüber hinaus kann der Hinweis darauf, daß allein von der Handlungsfonn "nichts abhängen" dürfe, nicht zur Folge haben, daß die Bestimmung von Tun und Unterlassen überflüssig wäre. Ganz im Gegenteil: Vielmehr zeigt dies, daß das Abgrenzungskriterium zur Festlegung der Verhaltensfonn besondere Anforderungen erfüllen muß. So muß es in der Lage sein, Zufalligkeiten bei der Einordnung der Verhaltensweise zu eliminieren. Damit ist vorweg schon klargestellt, daß ohne eine wertende Kontrolle bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen am Ende nicht auszukommen sein wird. Und im übrigen kann in diesem Zusammenhang noch ein methodischer Kritikpunkt vorgebracht werden: Immer erst eine genaue strafrechtliche Prüfung des Falles kann ergeben, ob von der Verhaltensfonn Tun oder Unterlassen "etwas abhängt". Nicht aber kann schon vor der Prüfung des Falles klargestellt werden, daß die Verhaltensfonn das Ergebnis unbeeinflußt lassen müsse, wenn es sich dabei nicht um ein reines Gefühlsurteil handeln soll. Bernsmann schließlich hält die Auseinandersetzung um Tun und Unterlassen beim Abbruch einer Behandlung durch den Arzt aus praktischen Gründen für überflüssig; denn ganz unabhängig vom Tun oder Unterlassen herrsche vom Ergebnis her in der Literatur nahezu Einigkeit hinsichtlich der Straflosigkeit des Arztes bei fehlender Rettungsmöglichkeit des Patienten 102 . Volk, 1989, S. 223. Volk, 1989, S. 223. 101 Vgl. Volk, 1989, S. 223. 102 Vgl. Bemsmanll, 1994, S. 10.

99

100

B. Ausgangsfall: Einverständlicher Behandlungsabbruch

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Der Gesichtspunkt, daß sich die Einordnung der Handlungsweise im Ergebnis nahezu nicht auswirke und damit jegliche praktische Relevanz des Streits um die Verhaltensform fehle, kann jedoch nicht tragen. Denn mit vorhandener Einigkeit im Ergebnis ist noch nichts über den Weg dorthin ausgesagt, der je nach Ausgangslage mit unterschiedlichen Beschwernissen verbunden sein kann. Und die Art und Weise, wie rechtlich vorgegebene Hindernisse überwunden werden, um zum allgemein anerkannten Ergebnis zu gelangen, kann durchaus von praktischer Bedeutung sein. So wird mit der von Bernsmann vertretenen Sichtweise verkannt, daß es - im Gegensatz zum Unterlassen - beim Tun äußerst schwierig und umstritten ist, trotz des vom Gesetz her auf Tatbestandsseite ohne Ausnahme geltenden Tötungsverbots, zur Straflosigkeit zu gelangen. Wenn die Lit. 103 dies zum Teil versucht, indem sie etwa auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit Einschränkungen des Schutzzwecks der §§ 212 ff. StGB vornimmt, so müssen derartige Lösungsvorschläge erhebliche Auswirkungen auf andere zukünftige vergleichbare Fälle der Tötung durch aktives Tun haben. Schließlich wird das (absolute) Tötungsverbot durch Schutzzweckdiskussionen oder andere Einschränkungen auf der Tatbestandsseite relativiert lO4 . Und daraus resultiert die naheliegende Gefahr, daß ein dogmatisches Einfallstor für die mißbräuchliche Verwendung sterbebegleitender Maßnahmen geschaffen wird. Die praktische Relevanz einer Unterscheidung von Tun und Unterlassen läßt sich somit - selbst bei Einigkeit im Ergebnis - wegen der mit den unterschiedlichen Ausgangslagen verbundenen Schwierigkeiten bei der Lösungsfindung bejahen; denn die Bewältigung solcher Schwierigkeiten hat Auswirkungen auf andere Fallgruppen und Sachverhalte im Bereich des Lebensschutzes. Nicht zuletzt die Vielzahl der in Lit. und Rspr. vertretenen Ansichten zur Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen und die nicht enden wollende Diskussion darüber belegen zusätzlich die überwiegend gesehene Bedeutsamkeit der Unterscheidung beider Begehungsformen. Vollkommen zu Recht konstatiert etwa Engisch: Die Abgrenzungsfrage von Tun und Unterlassen stellt sich vor einer "näheren Würdigung unter den Gesichtspunkten der Tat-

103

Derart etwa Sax, 1975, S. 142 f[

104 Auf die Gefahr einer Ausweitung der Einschränkung des Lebensvernichtungs-

gebots hinweisend schließlich auch SchönkeiSchröder/Stree, 1997, Vorbem. §§ 13 fI. Rn. 160 oder unter BezugnaIune auf Stree auch v.Dellingshausen, 1981, S. 452. Bedenken hinsichtlich einer Begrenzung des Tötungsverbots nach dem Schutzbereich der Norm äußert etwa des weiteren KUpper, 1990, S. 82, da damit auch Dritten eine EingrifIsbefugnis eröffuet werde. 4 Schneider

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2. Teil: Tun und Unterlassen

bestandsmäßigkeit. Rechtswidrigkeit und Schuld. Denn diese Würdigung kann erst sachgerecht erfolgen, wenn der Weg zu ihr geöffnet ist durch den Hinweis auf das richtige Tor: Tun oder Unterlassen"10S? Neben der Besonderheit der bei unechten Unterlassungsdelikten einschränkenden Rechtspflicht zum Handeln, die gerade in dem vorliegenden Fall rur eine Lösung bedeutsam scheint, sei der Vollständigkeit halber abschließend noch auf weitere Eigenarten des unechten Unterlassungsdelikts hingewiesen: die gegenüber dem Begehungsdelikt vertretene modifizierte Kausalitätsforme1 106 , die geforderte Zumutbarkeit der erwarteten Handlung und schließlich die Möglichkeit der Strafmilderung nach § 13 11 StGB. Auch diese sprechen ganz allgemein für die Notwendigkeit einer Abgrenzung der beiden Verhaltensformen.

C. Zur Notwendigkeit eines restriktiven Umgangs mit Garantenpflichten Zentraler Gesichtspunkt für eine unterschiedliche Bewertung des Unterlassungsdelikts gegenüber dem Begehungsdelikt ist die allein beim unechten Unterlassungsdelikt (§ 13 StGB) notwendige besondere Rechtspflicht zum Handeln. Um nicht vorschnell zu einer Erweiterung der Rechtspflichten und auf diese Weise doch noch zu einem generellen Gieichlauf107 von Begehungsund Unterlassungsdelikt zu gelangen, muß man sich über die Funktion dieser beim unechten Unterlassungsdelikt angeordneten Einschränkung im klaren werden. Der Grund für das Verlangen einer besonderen Rechtspflicht zum Handeln innerhalb des § 13 StGB, welche im Gegensatz zum Begehungsdelikt beim unechten Unterlassungsdelikt die Strafbarkeit einschränkt, liegt in der unserer rechtlichen und sozialen Ordnung zugrundeliegenden Maxime der persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung des einzelnen innerhalb des eigenen

105 Engisch, 1973a, S. 168; gegen dessen Auffassung wendet sich ausdrücklich Volk, 1989, S. 224. 106 So jedenfalls Arzt, 1980, S. 556; BaumannlWeberlMitsch, 1995, § 15 Rn. 23; Kahl, 1994, § 18 m 3 Rn. 35-39; SK-Rudolphi. 1995, Vor § 1 Rn. 43; Schlachter. 1976, S. 794; Spendei. 1973, S. 137 - 140; Wesseis, 1996, § 16 n 3 Rn. 711 m.w.N.

107 Ein vollkommener Gleichlauf kann freilich angesichts der Möglichkeit der Strafinilderung beim unechten Unterlassungsdelikt (vgl. § 13 n StGB) nicht hergestellt werden.

c. Restriktiver Umgang mit Garantenpflichten

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Herrschafts - und Verantwortungsbereichs l08 . Denn wesentlicher Unterschied zwischen Begehungs - und Unterlassungsdelikten ist der, daß bei den Verboten lediglich ein Untätigbleiben verlangt wird, während das Gebot einen Zwang zum Eingreifen in das soziale Umfeld festlegt, also ein Tätigwerden vorsieht I 09. Ohne das Erfordernis einer besonderen Rechtspflicht zum Handeln innerhalb des § 13 StGB würde demzufolge ein "unzumutbarer Eingriff in die Freiheit und Würde der Persönlichkeit" I 10 des einzelnen vorliegen. Denn es wäre ansonsten jedermann rechtlich dazu verpflichtet, sich ständig um die Belange seiner Mitmenschen und deren Rechtsgüter zu kümmern und zu sorgen (im Sinne einer Erfolgsabwendungspflicht). Dritte müßten also gleichsam als "Hüter" III rur ihre Mitmenschen auftreten. Das hätte eine unerträgliche Überspannung unserer Rechtspflichten zur Folge, bis hin zu einer unerwünschten Einmischung in fremde Lebensbereiche 112 . Es kann somit nicht grundlegende Aufgabe der Strafrechtsnormen sein, andere in jedem Fall durch ihren persönlichen Einsatz zur Wahrung fremder Rechtsgüter anzuhalten 113, und diesen bei fehlender Rettungshandlung den eingetretenen Erfolg zuzurechnen. Besonders anschaulich stellt Engisch die Mühen dar, die mit der Erfiillung eines derartigen Gebotes einhergehen müßten und deshalb ohnehin nur in beschränktem Maße zumutbar sein sollten: "Es ist zuviel verlangt, daß ich mich nicht nur um meine eigenen, sondern auch noch um fremde Kinder kümmere"114. An anderer Stelle konstatiert er ganz zutreffend: "Bei jeder Erweite-

108 Vgl. bzgl. des Grundsatzes der Autonomie Stratenwerth, 1981, § 6 Rn. 156. I.d.S. etwa auch Baumann, 1979,4 m la; Baumann/Weber, 1985, § 18 I 1; G6ssel, 1984, S. 332, die das StGB als Ausdruck einer liberalen Staats - und Rechtsauffassung ansehen. 109 Ganz ähnlich zum unterschiedlichen zugrundeliegenden Rechtsbefehl bei Begehungstatbeständen und Unterlassungsdelikten auch Ranft, 1963, S. 344. 110 Vgl. BGHSt. 7,268,271. 111 Vgl. BockelmallnIVolk, 1987, § 17 B I 2. 112 I.d.S. etwa Schmidhäuser, 1972, S. 194, 195; ganz ähnlich Bemsmann, 1994, S. 10; Kahlo, 1990, S. 316.

113 hlsoweit G6ssel, 1984, S. 331,332; siehe auch Baumann, 1979,4 m la und Jescheck/Weigend, 1996, § 58 11 I, nach deren Ansicht deshalb die Verbotsnormen die Gebotsnormen naturgemäß überwiegen. 114 Vgl. Engisch, 1933, S. 240,241.



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2. Teil: Tun wld Unterlassen

rung des Kreises der Pflichten zum Tun [... ] besteht die Gefahr der Fehlverlagerung [... ]"115. Mit Hilfe der in unserer Gesellschaft abgesteckten persönlichen Freiheitsbereiche erklärt sich also die zentrale und wichtige Stellung der Rechtspflicht innerhalb des § 13 StGB, und es wird deutlich, daß eine Ausdehnung von Rechtspflichten grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen ist. Nur soweit die bei Notfällen für jedennann geltende allgemeine Hilfspflicht nach § 323 c StGB reicht, ist eine Hilfe Dritter - trotz des Grundsatzes der persönlichen Freiheit - geboten. Denn § 323 c StGB trägt dem Gedanken Rechnung, daß "der Mensch als gesellschaftliches Wesen und Gemeinschaftsmitglied auf seine Mitmenschen angewiesen ist"116. Zu beachten ist aber, daß über § 323 c StGB keine Erfolgszurechnung stattfindet, den Handlungspflichtigen also keine Erfolgsabwendungspflicht trifft 11 7. Aus diesem Grund verlangt § 323 c StGB auch regelmäßig ein - gegenüber § 13 StGB - Weniger an Handlungseinsatz l18 . So läßt sich legitimieren, daß die Handlungspflicht des § 323 c StGB grundsätzlich jeden betrifft und nicht nur bestimmte Personen, die eine besondere Rechtspflicht zum Handeln innehaben. Die Erkenntnis eines einschränkenden Umgangs mit Garantenpflichten hat insofern Auswirkungen auf den zu beurteilenden Ausgangsfall des LG Ravensburg, als es durchaus gerechtfertigt erscheint - soweit natürlich überhaupt ein Unterlassen vorliegt -, bei einem einverständlichen Behandlungsverzicht von einem Fehlen der Rechtspflicht zur Weiterbehandlung auszugehen. Andernfalls müßte von einer Einmischung in fremde Lebensbereiche gesprochen werden, und zwar in die ganz individuelle Entscheidung eines Patienten, be-

115

Engisch, 1939, S. 422,423

116 LK-Spendel, 1988, § 323c Rn. 27. 117 So jedenfalls BGHSt. 14, S. 280, 281; 17, S. 166, 172; JescheckIWeigend,

1996, § 58 m 2 ffi. w.N. und Wesseis, 1996, § 16 I 1 Rn. 696; vg1. im Gegensatz dazu aber Herzberg, 1972, S. 24 ff.; Armin Kaufmann, 1959, S. 208; ders., 1961, S. 173; Kahlo, 1990, S. 27 ff.; Welzel, 1969, S. 203 ffi. w.N., die auf die unmittelbare Erfolgsabwendungspflicht in § 323c StGB trotz fehlender Erfolgszurechnung hinweisen. 118 Ähnlich etwa Schönke/Schröder/Cramer, 1997, § 323c Rn. I , wonach die Pflicht aus § 323c StGB ein Minus gegenüber der Verpflichtung aus § 13 StGB darstellt oder SK-Rudolphi, 1995, § 323c Rn. 3, der auf die geringere Intensität der Pflichtbindung in § 323c StGB im Vergleich zu § 13 StGB verweist; ganz i.d.S. auch Wesseis, 1996a, § 23 11 3 Rn. 10 11, nach dessen Auffassung die Belastungsgrenze innerhalb der Zumutbarkeit der Hilfeleistung bei der für jedermann geltenden Hilfspflicht nicht zu hoch angesetzt werden darf.

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen

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handelt zu werden oder nicht. Dabei macht es bei vorliegendem Unterlassungsdelikt keinen Unterschied, ob etwa der Arzt oder ein Dritter von der zu respektierenden, frei verantwortlich gefaBten Entscheidung des Patienten betroffen ist: In beiden Fällen muß es gleichennaßen an einer Rechtspflicht zur Fortführung der medizinischen Behandlung fehlen.

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen I. Herkömmliche Einteilung: ontologische und normative Kriterien Grob lassen sich in der gegenwärtig geführten Diskussion zwei wesentlich unterschiedliche Ansatzpunkte bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen feststellen: Der eine Ansatzpunkt, der eine Bestimmung des Verhaltens nach den Seinsstrukturen, also allein anband vorfindbarer, beschreibender oder auch sinnhaft erkennbarer Kriterien 1l9, vornimmt, und der andere Ansatzpunkt, der die Zuordnung anband nonnativer Gesichtspunkte zu erreichen sucht, somit wertende Gesichtspunkte - sogar entgegen dem Erscheinungsbild bzw. vorfindlichen Merkmalen - entscheiden läßt l20 . Eine Einteilung der verschiedenen Abgrenzungskriterien ist allerdings auch in der Art denkbar, daß zwischen solchen unterschieden wird, die (a) zunächst einmal festlegen, ob ein bestimmtes Verhalten - allein für sich betrachtet begrifflich überhaupt als aktives Tun oder Unterlassen einzustufen ist und die (b) bestimmen, wenn ein Fall festgestellten ambivalenten Verhaltens vorliegt also sowohl aktives Tun als auch Unterlassen begründbar sind -, auf welche der beiden Verhaltensfonnen im konkreten Fall abzustellen ist l21 . Da sich 119 GiJssel, 1984, S. 324 spricht insoweit auch von einer Abgrenzung "aus der Natur der Sache heraus". 120 Vgl. hinsichtlich dieser grundsätzlichen Zweiteilung der Abgrenzungskriterien etwa GiJssel, 1984, S. 324; Maurach/GiJssel, 1989, § 45 I Rn. 3; OttolBrammsen, 1985, S. 531. 121 Vgl. bezüglich einer derartigen Aufteilung der verschiedenen Abgrenzungskriterien etwa Blei, 1983, § 27 I, der dort zunächst nur auf die grundsätzliche Unterscheidung der beiden Fragenkomplexe hinweist; Sto.fJers, 1992, S. 69 und S. 125, der ausdrücklich die angesprochene Einteilung vornimmt. Stoffers ftIhrt allerdings im Ralunen der begriffiichen Festlegung von Tun und Unterlassen unter der Überschrift "Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung" (Hervorhebung vom Verfasser) auch normative Abgrenzungskriterien auf (vgl. Stoffers, 1992, S. 69 ff.).

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2. Teil: Tun und Unterlassen

aber wohl erst nach einer eingehenden Auseinandersetzung mit den einzelnen Abgrenzungskriterien bestimmen läßt, in welche der genannten Kategorien sich diese einordnen lassen, und weil teilweise Überschneidungen innerhalb der beiden verschiedenen Kategorien auftreten, erscheint es jedenfalls etwas vorschnell, von vornherein eine derartige Differenzierung vornehmen zu wollen. Aus diesem Grund soll es im weiteren um eine Darstellung der jeweiligen verschiedenen Abgrenzungskriterien im Sinne der zuerst genannten Aufteilung in ontologische und normative Kriterien gehen l22, wobei innerhalb der Ausfiihrungen grundsätzlich nur die den vertretenen Abgrenzungsmodellen zugrundeliegenden "Kernaussagen" Berücksichtigung finden werden und nicht jede zum Teil innerhalb eines Lösungsansatzes in Randbereichen davon abweichende Meinung l23 . Es wird also bezüglich des jeweiligen Abgrenzungskriteriums nur der den - zum Teil ohnehin bloß in Nuancen - verschiedenartigen Auffassungen entsprechende "gemeinsame Nenner" dargestellt, da nur so eine einigermaßen überschaubare Übersicht über die maßgeblich vorhandenen "sachlich" relevanten Kriterien mit ihren Grundprinzipien gegeben werden kann. Es sollte deshalb genügen, wenn die einzelnen, bezüglich ein und desselben Kriteriums vertretenen Abweichungen zum Teil nur in den Fußnoten berücksichtigt und angesprochen werden. Eine abschließende Bewertung der Unterscheidungsmerkmale und der Versuch eines eigenen Lösungsvorschlags sollen erst am Ende vorgenommen werden, da sich nur dann, wenn alle Kriterien aufgefiihrt sind, deren Vorzüge und Nachteile gegeneinander abwägen lassen und damit begonnen werden kann, eigene Lösungsansätze zu beschreiben. Besonderes Augenmerk wird bei der Darstellung und Bewertung der Abgrenzungskriterien auf das sog. Kausalitätskriterium gelegt. Denn jenes ist in der Lit. im Vordringen und es finden sich bislang wenige inhaltlich kritische Auseinandersetzungen dazu. Diese sind aber um so interessanter, da hier die

122 I.d.S. auch Stroensee, 1993, S. 136 ff., 140 ff., der ebenfalls von vornherein nur zwischen normativen Ansätzen und naturalistischen Ansätzen differenziert. Bei einer Bewertung der jeweiligen verschiedenen Kriterien bezieht Struensee dann aber klar Stellung, inwieweit diese dazu geeignet sind, einer begriffiichen Klärung der Verhaltensform zu dienen oder die Erkenntnis eines mehrdeutigen Verhaltens bereits voraussetzen. 123 fusoweit kann auf die grundlegende, an Ausftlhrlichkeit wohl kaum zu überbietende Arbeit von Stoffers, 1992 verwiesen werden.

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen

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Tragfähigkeit eines allgemeinen Kausalitätsverständnisses fiir das Unterlassen zu klären ist.

1. Abgrenzung anband ontologiscber1Z4 Kriterien a) VorUberlegung

Zum Teil wird behauptet, es handele sich bei der Frage, ob eine bestimmte Verhaltensweise überhaupt Elemente des positiven Tuns oder Unterlassens enthält 12S , um eine vorrechtlich-ontologische Unterscheidung l26 . Dem muß insoweit zugestimmt werden, als daß zunächst Ausgangsbasis für normative Gesichtspunkte eine "vorrechtliche" Betrachtung sein sollte, und zwar im hier verstandenen Sinne einer für die Fragestellung möglichst allgemeingültigen und rechtlich wertfreien Tatsachengrundlage. Schließlich kann nur so der Gefahr begegnet werden, daß letztenendes aufgrund einer rein normativen Vorgehensweise die Dinge, die wegen tatsächlicher oder natürlicher Gegebenheiten klar zu sein scheinen, auf den Kopf gestellt werden 127 bzw. eine lebensnahe und realistische Einschätzung des Falles verloren geht l28 . Mithin läßt sich dergestalt eine von den Tatsachen ausgehende Kontrolle eines am Ende vielleicht normativ zu begründenden Ergebnisses ermöglichen. Deshalb sollen zuerst die ontologischen Abgrenzungskriterien vorgestellt werden. b) Die Kriterien im einzelnen

aa) Körperbewegungskriterium Auf Basis des Körperbewegungskriteriums wird eine Unterscheidung zwischen aktivem Tun und Unterlassen wie folgt vorgenommen: Das aktive Tun soll gewillkürte Vornahme einer Körperbewegung sein und Unterlassen das 124 Ausfllhrlich zum Tenninus "Ontologie" im Sinne einer "Seinslehre" oder "Wissenschaft vom Seienden" KubeS, 1993, S. 2\0 fT. 125 Diese Problematik wird auch als sog. echte Abgrenzungs/rage im Gegensatz

zur sog. Konkurrenz/rage, bei der Fälle von bereits festgestelltem aktiven Tun und Unterlassen zu entscheiden sind, bezeichnet; vgl. hins. dieser Differenzierung Sieber, 1983, S. 432; Stoffers, 1992, S. 69; ders., 1993, S. 262. 126 I.d.S. etwa Stoffers, 1992, S. 69; ders., 1993, S. 262. 127 Derart bereits Spendet, 1961, S. 192. 128 Vgl. U1senheimer, 1965, S. 96.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

Ennangeln einer solchen Körperbewegungl29. Zum Teil wird dabei unter willkürlicher Körperbewegung rein naturalistisch "die durch Vorstellung bewirkte, durch die Innervierung der Bewegungsnerven erfolgende, Anspannung (Kontraktion) der Muskeln" verstanden 130 . Das aktive Tun soll in Erscheinung treten durch körperliche "Tätigkeit"l3l oder die willentliche "Vornahme einer Änderung der Körperlage, durch Vornahme einer Bewegung [... ]"132, also durch "Aktivität" 133. Unterlassen ist demgegenüber gekennzeichnet durch "Regungslosigkeit" im Sinne einer "Zurückhaltung der Nerven"134 oder durch "gewolltes Beharren in einer bestimmten Lage"13S, m.a.W. es ist "Passivität"136 bzw. "Untätigkeit"137. Es finden sich auch Äußerungen, daß die Begriffe Tun und Unterlassen nach den natürlichen Gegebenheiten oder dem äußeren Erscheinungsbild abzugrenzen seien 138, ohne daß ausdrücklich eine nähere Umschreibung dieses jeweiligen Erscheinungsbildes gegeben wird. Damit kann aber nur die Vornahme oder Nichtvornahme einer Körperbewegung gemeint sein, weil gerade das körperliche Verhalten nach außen wahrnehmbar in Erscheinung tritt. Gemeinsam ist den im Detail begrifflich voneinander abweichenden Ansichten, daß die Abgrenzung auf einer rein naturalistischen Sicht im Sinne von Körperbewegung oder fehlender Körperbewegung beruht. Die Abgren-

129 Grundlegend v.Liszt, 1891, S. 128, 138, 139; ders., 1905, S. 125, 132; ders., 1919, S. 120, 126. Weiterhin verwenden in dieser Form das Körperbewegwtgskriterium auchAllfeldIMeyer, 1934, S. 101; Gallas, 1955, S. 8, 10, 13, 15; v.Hippel, 1932, s. 90, 91; Lampe, 1959, S. 588; v.LisztlEb. Schmidt, 1932, S. 16, 169; Radbruch, 1904, S. 130, 131 ff.; Schunemann, 1971, S. 43,239; Struensee, 1993, S. 143 ff. 130 So jedenfalls v.Liszt, 1891, S.128. Ähnlich, nur genau umgekehrt ftlr das Unterlassen defmierend, Beling, 1906, S. 15. Vgl. auch Lampe, 1967, S. 487,488; Struensee, 1993, S. 144, 145. 131 Vgl. Beling, 1906, S. 9; Kollmann, 1911, S. 131; ebenso auch GiJssel, 1984, S. 327; Maurach/GiJssel, 1989, § 45 I Rn. 25 u. § 45 n Rn. 30; GiJssel, 1993, S. 430. 132 Vgl. Finger, 1932, S. 446. 133 Finger, 1932, S.446; Lampe, 1959, S. 587. 134 Vgl. Beling, 1906, S. 9. 13S Finger, 1932, S. 446. 136 Lampe, 1959, S. 587. 137 Vgl. Finger, 1932, S.446, 452, 453; Ld.S. auch GiJssel, 1984, S. 326, 327; Maurach/GiJssel, 1989, § 45 I Rn. 25 u. § 45 n Rn. 30; GiJssel, 1993, S. 430; ferner Hruschka, 1979, S. 423. 138 Vgl. v.Dassel, 1961, S. 23,24,62.

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen

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zungsfrage ist hiernach also eine Tatsachenfrage, die sich letztlich allein an dem erkennbaren äußeren Erscheinungsbild des Verhaltens orientiert. Dabei wird teilweise ganz zutreffend explizit klargestellt, daß das Körperbewegungskriterium zunächst nur zur begrifilichen Klärung von aktivem Tun und Unterlassen tauglich sein könne, also nicht zur Abgrenzung eines danach vorliegenden mehrdeutigen Verhaltens herangezogen werden könne 139 . bb) Energieeinsatzkriterium Ein Abgrenzungsversuch zwischen aktivem Tun und Unterlassen wird auch mit Hilfe des vom Körperbewegungskriterium nicht immer leicht unterscheidbaren Energieeinsatzkriteriums unternommen. Danach stellt sich grundsätzlich das positive Tun als das Aufwenden von Energie in einer bestimmten Richtung dar, während das Unterlassen prinzipiell als Nichteinsetzen von Energie in einer bestimmten Richtung zu verstehen ist l4O . Allerdings wird der Begriff Energie nicht bloß als etwas rein Physikalisches 141 aufgefaßt, sondern vielmehr - nach Engisch entsprechend dem alltäglichen Sprachgebrauch 142 - auch als willkürlicher Krafteinsatz im Sinne von "Leistung" oder "Anstrengung"; dieser Krafteinsatz brauche nicht einmal nach außen zu wirken, sondern soll sogar nach "innen gerichtete Energie" im

139 So B6hm, 1957, S. 15, 17, 18,24, den es ohnehin befremdet, daß ZlUD Teil die Möglichkeit einer eindeutigen FeststellWlg der Verhaltensfonn geleugnet werde. DelUl nach seiner Auffassung müsse bei einem "ganzen Komplex menschlichen Verhaltens", also insbesondere bei einem mehrdeutigen Verhalten, das Geschehen in seine einzelnen Teile der Körperbewegung (Tun) und Körperruhe (Unterlassen) zerlegt werden (= Vorgehensweise nach dem sog. "Zerlegungsverfahren", dazu im einzelnen unten 2. Teil D. ll.); anschließend sei jede vorliegende Handlungsweise auf ihre strafrechtliche Relevanz (also hinsichtlich Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld) zu überprüfen. 140 Grundlegend bereits Engisch, 1931, S. 29; ders. 1933, S. 239; 1939, S. 423; ders., 1973, S. 167 ff.; ders., 1977, S. 325; ihm folgend etwa AndrouJakis, 1963, S. 55; OttolBrammsen, 1985, S. 531. 141 So in konsequenter AnwendWlg allerdings Otto, 1996, § 9 12 a, der das Krite-

rium des Energieaufwands nicht nonnativ, sondern naturwissenschaftlich-physikalisch verstanden wissen will. Von einem Energieeinsatz im nonnativen Sinn auszugehen, würde wohl auch letztlich bedeuten, das Kriterium des Energieeinsatzes von seiner Wortbedeutung her aufzugeben. 142 Vgl. Engisch, 1939, S. 423.

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2. Teil: T\U1 \U1d Unterlassen

Sinne von "Sichzusammennehmen, Gespanntsein, Nachdenken usw." wnfassen 143. Demzufolge wird Energie nicht nur im rein naturalistischen, sondern zudem im nonnativen Sinn begriffen l44 . Darüber hinaus ist in der Lit. auch ein Abstellen nicht allein auf Energiegesichtspunkte, sondern auf eine Kombination von Energieerwägungen (im Sinne eines jedenfalls fiir Tun und Unterlassens notwendigen begrißlichen Ausgangspunkts) mit anderen Kriterien anzutreffen: So findet sich eine Verknüpfung des Energiekriteriums mit Aspekten der Kausalität 145 und teilweise zusätzlich mit Gesichtspunkten der Risikoverwirklichung l46 . Eine Abgrenzung der beiden Verhaltensweisen stellt sich bei Berücksichtigung von Kausalitätselementen so dar, daß der aktiv Handelnde "durch positiven Energieeinsatz einen Kausalverlauf anstößt, während der Unterlassende es gerade unterläßt, durch Einsetzen von Energie auf das Kausalgeschehen einzuwirken" 147. Bei zusätzlicher Einbeziehung des ansonsten regelmäßig erst im Bereich der Zurechnung anzutreffenden Elements der Risikoverwirklichung wird aktives Tun in der Lit. etwa dann bejaht, wenn durch Energieaufwand eine Kausalkette in Gang gesetzt wird und sich dadurch ein Risiko fiir das geschützte Rechtsgut begründet oder erhöht l48 .

143 Engisch, 1939, S. 423,424; ders., 1973, S. 171,172. Da der Energieeinsatz an der Beweg\U1g lediglich sichtbar werde, also nicht dessen Wesensmerkmal sei, soll auch nach Welp, 1968, S. 113 "reg\U1gslose" Kraftentfa1t\U1g Energie \U1d damit positives Tun bedeuten können.

144 So in Abgrenzung zum rein naturalistischen Körperbeweg\U1gskriterium Engisch, I 973a, S. 173. 145 Eine Verbind\U1g von Energieeinsatzkriterium \U1d Kausalitätsgesichtspunkten fmdet sich insbesondere bei Rudolphi, 1982, S. 521; ders., 1992, S. 70; ders., in: SK, 1995, Vor § 13 Rn. 6. Vgl. ferner Güntge, 1995, S. 18 ff. (= T\U1 als EnergieentfaltWlg mit der Folge des Bewirkens einer VerändefWlg in der Außenwelt; Unterlassen als Nichtentfalt\U1g von Energie ohne Bewirkensqualität; demzufolge T\U1 im Sinne ontischer Realität \U1d Unterlassen als normatives Werturteil ohne ontische Realität); Seelmann, 1987, L 34, 35; NK-Seelmann, 1995, § 13 Rn. 28; Sieber, 1983, S. 434, 435; Welp, 1968, S. 111, 112 tT. 146 Während Duo, 1996, § 9 I 2 a zwar gTWldsätzlich das Energiekriterium als richtigen Ausgangspunkt ansieht, will er bei der Abgrenzung aber auch auf Gesichtspunkte der Kausalität und Risikoverwirklich\U1g zurückgreifen. 147 Vgl. SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 6. 148 Derart beispielsweise Duo, 1996, § 9 I 2 a, § 9 V 3 b.

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen

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Festzuhalten bleibt schließlich noch, daß das Energiekriterium zum Teil nur zur begrifllichen Abgrenzung von Tun und Unterlassen herangezogen wird, und im Falle eines derart festgestellten mehrdeutigen Verhaltens dann andere Methoden bei Festlegung des relevanten Verhaltens entscheiden sollen l49 . cc) Kausalitätskriterium a.) Kausalität als Teil der Realität?

Vorweg klärungsbedürftig ist hier der Aspekt, inwieweit das Kriterium der Kausalität überhaupt zu den (wertfreien) ontologischen Abgrenzungsmodellen gerechnet werden kann oder es nicht vielmehr - angesichts eines vielleicht 149 Beispielsweise Schlachter, 1976, S. 795, 796 verwendet zur begriffiichen Klärung von Tun und Unterlassen das Energieeinsatzkriterium, wobei sie dann aber bei zweideutigen Verhaltensweisen aufgrund größerer Rechtssicherheit mit dem "Zerlegungsverfahren" arbeitet. Sie teilt einen an sich einheitlichen Handlungskomplex in einzelne Geschehenselemente auf und überprüft jedes Element selbständig auf seine jeweilige Verhaltensform hin. Offenbar verwendet auch Roxin, 1969, S. 380 bei der Begriffsbestimmung von aktivem Tun und Unterlassen zunächst das Energiekriterium, denn es heißt dort unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das von Engisch begründete Energieeinsatzkriterium: "Wer [... ] aktiv in ein Geschehen eingreift, 'tut' etwas; wer den Dingen ihren Lauf läßt, 'läßt' etwas". Ebenso ist an anderer Stelle (vgl. Roxin, 1969, S. 396) bezüglich des aktiven Tuns die Rede von körperlicher Aktivität. hn Falle eines sog. mehrdeutigen Verhaltens, wenn also begriffiich feststeht, daß sowohl aktives Tun als auch Unterlassen in Betracht kommen, geht Roxin dann offensichtlich ebenfalls nach dem sog. "Zerlegungsverfahren" im Sinne einer getrennten strafrechtlichen Behandlung aller in Betracht kommender Verhaltensweisen vor, so daß nach seiner Aussage "ein Abgrenzungsproblem nicht entstehen kann" (vgl. Roxin, 1973, S. 153). Dabei soll Anknüpfungspunkt einer rechtlichen Prüfung des Falles zuerst sein, "ob ein positives Tun für den Erfolg kausal ist", da Roxin das Unterlassen für subsidiär hält; vgl. zum Ganzen Roxin,1962,S.415,416,417;ders.,1973,S.152,153,154;ders .,1977,S.130.

Vollkommen getrennt davon will Roxin, 1969, S. 380 ff. allerdings die Frage wissen, ob in jedem Fall dann das, was nach der genannten DefInition vorrechtlich als Tun aufzufassen sei, unter das Begehungsdelikt subsumiert werden müsse und umgekehrt das, was zunächst als (Unter)Lassen zu verstehen sei, letztlich als Unterlassungsdelikt behandelt werden müsse, m.a.W. ob nicht auch "Unterlassungsdelikte durch Tun" oder "Begehungsdelikte durch Unterlassen" denkbar seien. Denn schließlich soll die Zuordnung der vorrechtlichen Phänomene von Tun und Lassen zu den Begehungs - und Unterlassungsdeli1cten ein normatives Problem darstellen (vgl. im einzelnen zur Lehre vom Unterlassen durch Tun unten 2. Teil D. m.).

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2. Teil: Tun und Unterlassen

nonnativen Charakters des Kausalbegriffs - zu den wertenden Abgrenzungskriterien gezählt werden muß. Von Bedeutung ist dieser Gesichtspunkt nicht nur im Hinblick auf einen systematisch richtigen Standort des Kriteriums, sondern vor allem auch hinsichtlich eines grundlegenden inhaltlichen Verständnisses des Kausalitätskriteriums. Denn für eine spätere Tauglichkeitsbewertung des Unterscheidungsmerkmals der Kausalität bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassung spielt es eine wesentliche Rolle, ob Kausalität wertfrei ontologisch oder rein nonnativ aufzufassen ist. Bei einem anerkannt normativen Kausalitätsverständnis können nämlich keine grundlegenden Schwierigkeiten bei der Begründung einer Unterlassungskausalität auftreteniSO und es müßte mithin das Kausalitätskriterium als Unterscheidungsmerkmal - aufgrund einer dann für beide Handlungsfonnen begrüDdbaren Kausalität - unbrauchbar sein. Eine Antwort auf die Frage eines ontologischen oder nonnativen Kausalitätsverständnisses muß letztlich ganz entscheidend davon abhängen, welche Funktion der Kausalität in unserem Strafrechtssystem beigemessen wird: Einerseits könnte Kausalität eine ganz grundlegende Bedeutung im Sinne einer "Selektionsfunktion" haben; in diesem Fall hätte sie die Aufgabe, abschließend das für den Erfolg verantwortliche, dem Täter zuzuschreibende Verhalten aus einer ganzen Kette ebenfalls (mit)ursächlicher Verhaltensweisen heraus zu ermitteln. Andererseits ist in Betracht zu ziehen, daß Kausalität bloß eine erste "Restriktionsfunktion" besitzt; dann wären mit ihrer Hilfe nur eindeutig tatbestandIich unerhebliche Verhaltensweisen aus der weiteren strafrechtlichen Prüfung auszuklammern, ihre Rolle würde sich also in einer Ermittlung der äußersten Grenze strafrechtlicher Haftung erschöpfeniSI. Nicht aber ließe sich bei angenommener "Restriktionsfunktion" mit Bejahung der Kausalität ein endgültiges Urteil über die Zuschreibung eines für den Erfolg verantwortlichen Verhaltens abgeben, dieses könnte vielmehr erst auf einer weiteren, davon zu trennenden Ebene nonnativer Zurechnung getroffen werden. Und je nachdem, ob der Kausalität eine "Selektionsfunktion" oder aber nur eine "Restriktionsfunktion" zukommt, wird sie wertende Elemente beinhalten müsISO Vgl. insoweit nur Lampe, 1989, S. 204 ff., 205, der mit seiner nonnativ verstandenen "funktionalen Kausalität" (= näher dazu unten) auch beim Unterlassen "eine der Realverursachung äquivalente [... ) funktionale Verantwortungsbeziehung zwischen dem Rechtsgut und dem unterlassenden Täter" herstellen kann. ISI Vgl. auch Welzel, 1969, S. 45: "Mit der FeststellWlg der Ursächlichkeit ist jedoch nur die elementarste Voraussetzung und die äußerste Grenze der strafrechtlichen Haftung filr einen Erfolg ennitteIt".

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegwlg von TWl Wld Unterlassen

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sen oder wird sie mit einer wertneutralen, naturwissenschaftlichen Feststellung auskommen können. Offenbar im Sinne einer oben genannten "Selektionsfunktion", nämlich zur Auslese strafrechtlich relevanten gegenüber strafrechtlich irrelevanten Verhaltens, versteht v. Bar die Kausalität. Er verbindet deshalb auch mit dem Begriff der Kausalität wertende Elemente. v. Bar differenziert nämlich zwischen der "Bedingung" als notwendiges naturwissenschaftlich erklärbares Element fiir den Eintritt einer Folge und dem im Gegensatz dazu engeren Begriff der "Ursache im rechtlichen Sinne"152. Während nach seiner Auffassung zwar jede Ursache zwangsläufig immer Bedingung eines Ereignisses sei, könne umgekehrt nicht jede Bedingung auch "Ursache im rechtlichen Sinne" genannt werden. Denn andernfalls würde es eine Vielzahl strafrechtlicher Verantwortlichkeit geben, da - so konstatiert er - "die gesamte Außenwelt in einem unendlichen Zusammenhange von Bedingung und Bedingtem steht"153. Daraus wird ersichtlich, daß v. Bar der strafrechtlichen Kausalität eine Bedeutung beimißt, die über einen lediglich naturwissenschaftlich erklärbaren, realen Zusammenhang hinausgeht. Indem er aus einer Vielzahl von naturwissenschaftlichen Bedingungen diejenigen aussortiert, die (straf)rechtliche Ursache sein können, bekommt der diesem Verständnis zugrundeliegende Kausalitätsbegriff normativen Charakter. Im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Bedingung definiert v. Bar die rechtliche Ursache als Veränderung des ansonsten regelmäßig gedachten (im Sinne eines ordnungsgemäßen, sorgfaltsgerechten bzw. erlaubten) Verlaufs der Erscheinungen des menschlichen Lebens l54 . 152 Siehe v. Bar, 1871, S. 4 ff. Er spricht im Zusammenhang mit Kausalität immer auch von "culpa"; vgl. v.Bar, a.a.O., S. 17. 153 Vgl. v.Bar, 1871, S. 5; er ft1hrt dazu dann veranschaulichend weiter aus: "WelUl der BergmalUl nicht das Eisenerz, woraus die Waffe gefertigt ist, zu Tage gefördert hätte, welUl verschiedene Fabrikanten nicht das Erz zu Eisen Wld das Eisen zu Stahl Wld dann zur Waffe verarbeitet hätten, WeM der KaufinalUl die letztere nicht feil geboten hätte, so hätte der Angeklagte nicht mit dieser Waffe die bestimmte VerletZWlg einem Anderen beibringen kÖlUlen, und welUl der Angeklagte nicht von seinen Eltern erzeugt wäre und welUl diese wieder nicht von anderen Personen erzeugt wären, so wäre das Verbrechen überhaupt nicht begangen. Alle diese Personen, die an der Waffe gearbeitet haben, Wld alle die Personen, von denen der Angeklagte abstammt, und alle die Personen, von denen Diejenigen abstammen, welche die Waffe bearbeitet haben, sind Bedingungen des Verbrechens; aber der gesunde Menschenverstand sträubt sich vor der ungeheuerlichen Folgerung, sie deshalb als Ursachen oder Urheber des Verbrechens zu bezeiclmen". 154 Derart v.Bar, 1871, S. II ff., wobei häufig als Anhaltspunkt fUf einen regelmäßig gedachten Verlauf der Dinge "die diligentia eines bonus paterfamilias" dienen

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2. Teil: Tun und Unterlassen

Wenn auch in anderer inhaltlicher Ausgestaltung als v. Bar, so begreift ebenso Finger die Kausalität im Strafrecht nicht bloß als Inbegriff eines realen Seins etwa im Sinne von lediglich bewirkten Veränderungen 1S5 • Vielmehr weist er auf die vom Gesetzgeber festgelegte normative Eigenart der strafrechtlichen Kausalität hin: "Der Begriff der Kausalität ist [... ] ein vom Gesetz geschaffener normativer, nicht ein der Erkenntnis des Lebens entlehnter" I S6 . Dennoch will Finger nicht bereits mit Hilfe der Kausalität - wie etwa v. Bar eine "Selektion" strafwürdigen Verhaltens erreichen. Dies soll hingegen erst auf der Ebene der "Rechtswidrigkeit" erfolgen. Dort soll "die Scheidung der für einen Erfolg kausalen strafwürdigen von den für einen Erfolg kausalen, aber nicht strafwürdigen Vorgängen zu finden" sein ls7 . Weiterhin kann hier als Vertreter eines normativen Kausalitätsbegriffs exemplarisch noch Lampe genannt werden. Dieser versteht unter Kausalität eine "funktionale Kausalität" und zwar im Sinne eines über den bloßen naturalen Zusammenhang hinausgehenden Sinnzusammenhangs zwischen Handlung und Erfolg. Dabei soll insoweit wesentliche Komponente der "funktionalen Kausalität" eine normativ zu verstehende "Verantwortungszuschreibung" sein ls8 . Den vorgenannten Auffassungen eines normativen Kausalitätsverständnisses ist zu widersprechen. Angesichts einer aus heutiger Sicht überwiegend vertretenen lS9 und aus Gründen der Klarheit auch vorzuziehenden Trennung

soll; vgl. insb. v.Bar, a.a.O., S. 12. Nach diesem Verständnis von Kausalität kann folgerichtig etwa der Hersteller einer WatTe, soweit der Verkauf von WatTen als allgemein erlaubt gilt, nicht als kausal im rechtlichen Sinne für den Eintritt eines bestinunten, mit der WatTe bewirkten Erfolges angesehen werden; vgl. v.Bar, a.a.O., S. 12: "Daß Eisen gefOrdert, bearbeitet und speziell auch zu WatTen verarbeitet werde, ist eine unumgängliche Bedingung unseres Lebens; diese Handlungen bleiben daher jedenfalls in dem Kreise des regelmäßigen Laufes der Erscheinungen im Leben der Menschen [... ], also sind der Bergmann, Fabrikant und der Kaufmann nicht ohne Weiteres Ursachen der Tödtung, welche mit der WatTe ausgefilhrt wird". ISS Vgl. Finger, 1932, S. 447: "Die 'Kausalität' im Strafrecht ist [... ] nicht eine Kategorie des Seins, sondern eine Kategorie des Sollens." IS6 Finge~ 1932,S. 447 IS7 Vgl. Finger, 1932, S. 451. 158

Lampe, 1989, S. 197 tT., 198, 199,203.

IS9 Siehe stellvertretend nur Ebert/Kühl, 1979, S. 569; Haft, 1996, S. 60; Je-

scheck/Weigend, 1996, § 28 I 2; Kühl, 1994, § 4 Rn. 4; Roxin, 1994, § II Rn. 2; Wessels, 1996, § 6 I I Rn. 154.

D. Abgrenzungskriterien zur FestlegWlg von TWl Wld Unterlassen

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der Ebenen Kausalität und Zurechnung menschlichen Verhaltens ist der Kausalität bloß eine "Restriktionsfunktion" zuzuschreiben. Danach kommt Kausalität allein die Aufgabe einer ersten, noch groben einschränkenden PIÜfungsstufe zur Ermittlung des relevanten, dem Täter zuzuschreibenden Verhaltens zu. Sie muß begriffen werden als ein Instrumentarium, das den denkbar weitesten Rahmen strafrechtlicher Verantwortung absteckt l60 . Diese Funktionszuweisung hat zur Folge, daß Kausalität wertende Elemente noch nicht beinhalten muß. In Übereinstimmung mit einem Großteil der Lit. meint Kausalität somit eine wertneutrale Feststellung eines naturgesetzlich zu erklärenden Bewirkungszusammenhangs (Ursache-Wirkungs-Zusammenhang). Es geht also auf der Ebene der Kausalität um die Beschreibung einer Beziehung zwischen Handlung und Erfolg, die tatsächlich vorgegeben ist, also "gefunden" wird und nicht "erfunden"161 - im Gegensatz zu der die Kausalität einschränkenden normativen Zurechnung. Kausalität ist diesem Verständnis zufolge Bestandteil der Realität 162 und nicht bloß ein "Urteil" ohne reale Struktur163 . Daher muß das Kriterium der Kausalität zu den ontologischen Abgrenzungskriterien gezählt werden l64 . Dies gilt unabhängig davon, ob Kausalität nun ausschließlich

Die Notwendigkeit, neben der Kausalität noch die Ebene der ZureclmWlg auf der Tatbestandsebene einzufllgen, ergibt sich aus der grllildsätzlichen Wertneutralität innerhalb der Kausalitätsfrage. Zu Recht wird aber allgemein betont, daß das Strafrecht nicht bloß bei naturwissenschaftlichen ErkeIUltnissen Halt machen darf, sondern normative Gesichtspunkte, wie SiIUl Wld Zweck der Strafrechtsnormen, eine ganz entscheidende Rolle spielen müssen; vgl. nur Ebert/Kühl, 1979, S. 569. 160 Ganz ähnlich etwa auch Schönke/SchröderlLenckner, 1997, Vorbern §§ 13 ff.

Rn. 71. 161 Vgl. zu diesen Begriffen Welzel, 1949, S. 7. 162 Ebenso etwa Engisch, 1931, S. 21; Haft, 1996, S. 60; Jescheck, 1988, § 28 I 2 u. 3; Kühl, 1994, § 4 Rn. 6; Puppe, 1980,863 ff.; dies., 1990, S. 141 ff., 153; Roxin, 1994, § II A I Rn. 4; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 1 Rn. 41; Spendei, 1973, S. 138, die alle ausdrücklich auf den naturgesetzlichen Zusammenhang bei der Kausalität hinweisen; siehe des weiteren aber auch Ebert/Kühl, 1979, S. 569; Arthur Kaufmann, 1966, S. 104; Schönke/SchröderlLenckner, 1997, Vorbem. §§ 13 ffRn. 71; Schmidhäuser, 1975,8/53; Seebald, 1969, S. 194; Schönke/SchröderlStree, 1997, § 13 Rn. 61; Welp, 1968, S. 167, 169; Welzel, 1949, S. 7; ders., 1969, S. 43. 163 Ld.S. aber etwa Gössel, 1993, S. 430; ausfllhrlicher Gössel in Maurach/Gössel, 1992, S. 38: "Kausalität ist [... ] in Wahrheit die wertende ZuschreibWlg eines bestimmten Ereignisses zu einem anderen, zeitlich vorhergehenden Ereignis als dessen Folge".

164 Im Ergebnis ebenso etwa auch Küpper, 1990, S. 72, 73; OnolBrammsen, 1985, S. 531; StojJers, 1992, S. 85 ff.; Struensee, 1993, S. 140 ff., die olme nähere Begrüll-

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

(wertfrei) rein naturwissenschaftlich oder (ebenfalls wertfrei) erkenntnistheoretisch logisch 16S zur Erklärung eines "Bedingungszusammenhangs" verstanden wird. Vom Wesen der Kausalität zu trennen ist die fallorientierte, fonnelhafte Erklärung eines naturwissenschaftlichen Zusammenhangs unter Verwendung eines "methodischen Hilfsmittels"166, wie etwa der größtenteils anerkannten Äquivalenztheorie mit ihrem hypothetischen Eliminationsverfahren. Diese mittels der Äquivalenztheorie durchgefiihrte Prüfungsweise muß etwa im Rahmen alternativer Kausalität oder Doppelkausalität, also in Fällen mehrerer gleichzeitig und unabhängig voneinander wirkender erfolgstauglicher Ursachen l67, an ihre Grenzen stoßen und bedarf einer Modifizierung l68 . Trotzdem vennag die Korrekturbedürftigkeit einer Kausalitätsfonnel nichts daran zu ändern, daß auch in solch problematisch scheinenden Fällen ein tatsächlicher Wirkungszusammenhang und damit Kausalität gegeben sein kann. Häufig liegen die Probleme im Bereich der eindeutigen Beweisbarkeit. Das zeigt, daß Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Äquivalenztheorie nicht ohne weiteres auf den Begriff der Kausalität übertragen werden dürfen. So sollte auch aus der berechtigten Kritik, daß die "conditio sine qua non"-Fonnel bereits das Kennen eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs voraussetzt 169 demzufolge eine naturwissenschaftliche Ermittlung der Ursache gar nicht ermöglicht, sondern stattdessen bloß ein Urteil über dessen Vorhandensein abgibt -, nicht gefolgert werden, daß es sich auch bei der Kausalität bloß um ein

dWlg das Kausalitätskriteriwn zu den ontologischen bzw. naturalistischen Abgrenzoogskriterien zählen. 16S Vgl. Otto, 1996, § 6 m I a, der zwischen der causa efficiens als Ursache und der logischen Bedingoog trennen will. 166 Vgl. Lackner, 1995, Vor § 13 Rn. 10 m.w.N.: "Die conditio-sine-qua-non-Formel ist nur ein methodisches Hilfsmittel [... ). Sie erleichtert es, die gesetzmäßige, erkenntnistheoretisch Wld naturwissenschaftlich allerdings höchst problematische [... ), Verknüpfung der menschlichen HandlWlg mit dem Erfolg zu prüfen, hat aber keinen unmittelbaren Erkenntniswert für das Bestehen dieser Verknüpfung [... )". 167 Alternative Kausalität liegt vor, "wenn mehrere, Wlabhängig voneinander gesetzte BedingWlgen zusammenwirken, die zwar auch für sich allein zur ErfolgsherbeifUhrung ausgereicht hätten, die tatsächlich aber alle in dem eingetretenen Erfolg wirksam geworden sind"; vgl. BGH JZ 93, S. 1065 f., 1066. 168 Vgl. zu den Problemen bei alternativer Kausalität oder Doppelkausalität nur Kahl, 1994, § 4 Rn. 19; Puppe, 1980, 876 ff.; NK-Puppe, 1995,1.2 Vor § 13 Rn. 88. 169 Siehe dazu etwa Jakobs, 1991,7/9.

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen

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reines Urteil handelt. Tatstichlich vorgegebene Kausalität hat mit dem unternommenen Versuch, eine sie darstellende Formel zu finden, nichts zu tun l70 . Teilweise wird eine derartige - hier bevorzugte - Eindeutigkeit der Zuordnung der Kausalität zum ontologischen Bereich geleugnet und der Kausalitätsbegriff als rechtlich-sozialer BeziehungsbegrijJ aufgefaßt, der sowohl ontologische als auch normative Bezüge aufweist l71 . Er wäre danach weder zweifelsfrei der ontologischen Kategorie noch der normativen Kategorie zuzuordnen. Begründet wird diese Auffassung etwa damit, daß eine rein naturwissenschaftliche Erklärbarkeit der Kausalität "den spezifischen Aufgaben des Strafrechts allein nicht gerecht werden" könnte l72 . Allerdings lassen sich solche Schwächen einer naturgesetzlich verstandenen Kausalität - wobei ohnehin Schwächen bestimmter Kausalitätsformeln zur bloß ermöglichenden Feststellung vorhandener Kausalität nicht mit Schwächen eines ontologisch verstandenen Kausalitätsbegriffs verwechselt werden dürfen - auf der erst darauf aufbauenden Ebene normativer Zurechnung menschlichen Verhaltens einzelfallbezogen beheben. Nicht notwendig ist dazu, daß bereits der Gesichtspunkt der Kausalität mit wertenden Dimensionen überfrachtet wird, was letztlich auch zu Lasten einer schrittweisen und möglichst transparenten Ergebnisfindung ginge l73 .

ß) Kausalität als Abgrenzungskriterium von Tun und Unterlassen Nachdem der ontologische Charakter der Kausalität festgestellt wurde, kann nun das bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen verwendete, in neuester Zeit im Vordringen befindliche Kriterium der Kausalität inhaltlich

170 Ein Bezug zwischen Kausalitätsverständnis und Kausalitätsfonnel besteht nur insofern, als die Kausalitätsfonnel Ausdruck eines bestimmten Kausalitätsbegriffs ist. Gerade weil nach überwiegender Ansicht auf der Kausalitätsstufe noch keine abschließende Auswahl strafrechtlich relevanten Verhaltens stattfmdet, sondern Kausalität bloß eine erste "Restriktionsfunlction" besitzt, ist die Äquivalenztheorie die im Strafrecht passende Kausalitätsfonnel; vgl. Kahl, 1994, § 4 Rn. 7. Deshalb darf aber nicht von der Kausalitätsfonnel auf ein Kausalitätsverständnis geschlossen werden. Im Gegenteil: Der Kausalbegriffbestimmt die Tauglichkeit der Kausalitätstheorie. 171 DerartMaurach-Zipf, 1992, § 18 I Rn. 6; Wesseis, 1996, § 6 I I Rn. ISS. 172 Vgl. Maurach-Zipf, 1992, § 18 I Rn. 6. 173 Gerade soweit mit naturgesetzlich erklärbaren Dimensionen ein Ergebnis gesucht wird, kann von einer Durchschaubarkeit und demzufolge auch Nachvollziehbarkeit der Lösung gesprochen werden. 5 Schneider

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

dargestellt werden: Kerninhalt eines - wenn auch im einzelnen verschiedenartig ausgefonnten - Kausalitätskriteriums ist nach ganz überwiegender Meinung die These einer allein beim positiven Tun vorhandenen (echten)l74 Kausalität, da nur das Tun einen Erfolg bewirken könne. Mit dieser Aussage wird das Vorhandensein respektive Nichtvorhandensein von Kausalität zum zentralen Unterscheidungs- und Erkennungsmerkmal von Tun und Unterlassen (bzw. von aktiv Handelndem und Unterlassendem). Eine besondere Stellung nimmt insoweit allerdings Armin Kaufmann mit seinen vielzitierten l75 grundlegenden Ausftihrungen zur Kausalitätsfrage beim Unterlassen bzw. Unterlassendem ein. Er trennt nämlich von vornherein zwei Fragenkomplexe voneinander, und zwar (a) die Frage nach der Kausalität des Unterlassens fiir einen Erfolg von der (b) seiner Ansicht nach innerhalb der Verhaltenslehre eigentlich allein maßgeblichen und sinnvollen Frage der Kausalität des Unterlassenden fiir die von ihm unterlassene Handlung l76 . Hinsichtlich beider Bereiche gelangt er zu unterschiedlichen Ergebnissen: Denn während er grundsätzlich noch eine Kausalität zwischen unterlassener Handlung und Erfolg bejaht, da bei "näherem Zusehen [... J alle Kausalabläufe eine Aufeinander- und Ineinanderfolge von Änderungen und Nichtänderungen der 'bestehenden' Wirklichkeit" seien l77, lehnt er eine Kausalität zwischen Unterlassendem und unterlassener Handlung angesichts der Möglichkeit, den Unterlassenden hinwegdenken zu können, ohne daß das Unterlassene entfiele, ab: "[ ... J am Fehlen des Energieeinsatzes, an der Negation des Handlung, ändert sich nichts dadurch, daß der handlungsfähige Mensch vorhanden ist oder fehlt"178. Für ihn wird damit genau genommen "Kausalität" nicht zum Differenzierungskriterium von Tun und Unterlassen, sondern von positiv Handelndem und Unterlassendem. Soweit ersichtlich, hat sich in neuester Zeit dem Problembereich der Abgrenzung von Tun und Unterlassen am eingehendsten Stoffers gewidmet. Auch er hält die Kausalität als Unterscheidungsmerkmal von Tun und Unter-

174 hn Unterschied zu der beim Unterlassen vielfach angenommen "hypothetischen" oder "Quasi"- Kausalität. 175 Vgl. etwa Stoffers, 1992, S. 85, der Annin Kaufmann gleichsam als Begründer des Kausalitätskriteriwns ansieht. 176 Annin Kaufmann, 1959, S. 59 Ir., 63. 177 Vgl. Annin Kaufmann, 1959, S. 60,61. 178 Derart Annin Kaufmann, 1959, S. 61; siehe zu dessen weiterer Argwnentation aber auch S. 62 tT.

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen

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lassen für geeignet. Wie Armin Kaufmann betont er die Notwendigkeit, das Kriterium auf den Sich-Verhaltenden und nicht nur auf die Handlungsweise von Tun und Unterlassen zu beziehen, doch lehnt er in Übereinstimmung mit einem Großteil in der Lit. eine echte (dem aktiven Tun vergleichbare) Kausalität bereits bei der Handlungsform der Unterlassung ab l79 und nicht ausschließlich erst bei dem hinter dem Verhalten stehenden Unterlassenden; nach Sto./Jers Auffassung ist mithin positives Tun immer dann anzunehmen, "wenn der Sich-Verhaltende [... ] fiir den betreffenden konkreten Erfolg ursächlich ist", während er von einem Unterlassen ausgeht, wenn "der Sich-Verhaltende fiir den [... ] Erfolg nicht kausal ist"180. Eine Differenzierung von Tun und Unterlassen erfolgt danach also mittels der Fragestellung "Kausalität oder Nichtkausalität des Sich-Verhaltenden für den betreffenden konkreten Erfolg"181, die in dieser Art auch schon von Welzel als entscheidende Abgrenzungshilfe hervorgehoben wurde l82 . Nach Stoffers soll das Kausalitätskriterium aber ausdliicklich nicht in Fällen eines bereits feststehenden, mehrdeutigen Verhaltens, wenn also aktives Tun und Unterlassen gleichzeitig in Betracht kommen, zum Erfolg fiihren können 183. Es sei vielmehr zunächst allein maßgebend fiir eine - wie er es nennt - "vorrechtlich-ontologische Unterscheidung"184; gemeint ist damit eine begriffliche Festlegung von Tun und Unterlassen, so daß danach das Kausalitätskriterium zutreffend als Definitionshilfe verstanden werden muß. Es finden sich daJiiber hinaus in der Lit. (und teilweise sogar in der neueren Rspr.) weitere verschiedenartige Ausformulierungen des Kausalitätskriteriums, die ebenfalls auf der Basis des oben genannten Kerninhalts einer bloß beim positiven Tun vorliegenden Verursachung des Erfolges durch den Täter 179 Nurdas aktive Tun könne eine Kausalreihe auslösen und steuern, nicht aber das Unterlassen; derart Stoffers, 1992, S. 108; ders., 1993, S. 265. Deshalb spricht er beim Unterlassen auch bloß von "hypothetischer" oder "potentieller" Kausalität; vgl. Stoffers, 1992, S. 110, 111; ders., 1993, S. 266. 180 Stoffers, 1992, S. 107; ders., 1993, S. 265 t1 181 Stoffers, 1992, S. 119; ders., 1993, S. 274. 182 Vgl. Welzel, 1969, S. 203: "Hat der Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg vorsätzlich oder fahrlässig verursacht, ist ein Begehungsdelikt verwirklicht. Fehlt dagegen dem deliktischen Verhalten die Kausalität fiIr den Erfolg, kommt nur ein Unterlassungsdelikt in Betracht". 183 Für die Behandlung mehrdeutiger Verhaltensweisen schlägt Stoffers ein mehrstufiges PfÜfungsverfahren vor, vgl. Stoffers, 1992, S. 279 ff. hn einzelnen dazu unten Fn.449. 184 Vgl. Stoffers, 1992, S. 107; ders., 1993, S. 262. 5·

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2. Teil: Tun und Unterlassen

beruhen. So beispielsweise in der Art, daß aktives Tun im Falle einer Veränderung der Außenwelt (durch kausales Eingreifen) angenommen wird und Unterlassen, wenn man den Dingen bloß ihren Lauf läßt l85 , oder aber in Verbindung mit einer Kausalitätsformel, daß Tun in den Fällen vorliegen soll, in denen ein bestimmtes Verhalten nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß auch der tatbestandsmäßige Erfolg entfiele, und Unterlassen, wenn ein bestimmtes Verhalten erst hinzugedacht werden muß, damit der Erfolg entfallen kann 186. Offenbar nicht "bloß" im Sinne einer Definitionshilfe, sondern anscheinend in erster Linie als Entscheidungshilfe bei ambivalentem Verhalten will Je-

185 Derart etwa Küpper, 1990, S. 73: "Wer handelt, verändert die Außenwelt; wer unterläßt, läßt den Dingen ihren Lauf'. Ganz i.d.S. auch Kühl, 1994, § 18 n Rn. 13, wonach begriffiich unter aktivem Tun grundsätzlich ein "Eingreifen in das außenweltliche Kausalgeschehen" zu verstehen sei, und Unterlassen "den Dingen (= Kausalverläufen) ihren Lauf lassen" bedeuten soll. Auch wenn Kühl lediglich anzweifelt, daß beim Unterlassen von einem kausalgesetzlichen Zusammenhang gesprochen werden kann (vgl. Kühl, 1994, § 18 Rn. 35), sich also nicht eindeutig gegen eine echte Kausalität beim Unterlassen ausspricht, liegt er dennoch - nach eigener Aussage - auf einer Linie mit den übrigen Vertretern des Kausalitätskriteriums (vgl. Kühl, 1994, § 18 Rn. 15 u. dort Fn. 21).

Schließlich können in diesem Zusammenhang auch noch DreherlTr(Jndle, 1995, Vor § 13 Rn. 12 (= "Handeln setzt als konstitutives Element ein auf einem Willensentschluß beruhendes Eingreifen in die Außenwelt durch das Auslösen einer Kausalkette voraus") oder Laclener, 1995, § 13 Rn. 2 (= "Während das positive Tun ein vom Willen ausgelöstes aktives Eingreifen in die Außenwelt ist [... ), wird die Unterlassung dadurch gekennzeichnet, daß der Täter [... ) nicht in einen Kausalverlauf eingreift. ") genannt werden. Siehe zudem aus der Rspr. etwa OLG Saarbrücken, NJW 1991, S. 3045: "Handeln (= positives Tun) setzt [... ) als konstitutives Element ein auf einem Willensentschluß beruhendes Eingreifen in die Außenwelt durch das Auslösen einer Kausalkette voraus". Bloß hilfsweise wird schließlich vom OLG Saarbrücken noch auf die Linie der ganz überwiegenden Rspr. eingeschwenkt und betont, daß auch eine wertende Betrachtung nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit zu einem in diesem Fall gleichen Ergebnis führen würde; vgl. OLG Saarbrücken, NJW 1991, S. 3045 f., 3046. 186 Siehe BockelmannIVolk, 1987, § 17 G. Allerdings wird bei den weiteren Ausführungen von BockelmannIVolk (a.a.O.) deutlich, daß gerade in schwierigen Fällen des mehrdeutigen Verhaltens wohl offensichtlich entgegen dem sonst angewendeten Kausalitätskriterium eine (leider nicht näher beschriebene) Wertung ftlr oder gegen eine bestimmte Verhaltensform entscheidend sein soll; denn es heißt dort: "Wer die eingeleitete Rettung wieder aufgibt, ist nicht anders zu beurteilen, als der, welcher sie erst gar nicht begonnen hat".

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen

69

scheck das Kausalitätskriterium begreifen l87 ; denn er fiihrt aus, daß zur Lösung von Zweifelsfalien - das sind auch nach Jescheck Fälle mehrdeutigen Verhaltens l88 - folgende Überlegung zum richtigen Ergebnis verhelfen solle: "Hat jemand einen tatbestandsmäßigen Erfolg durch ein objektiv tatbestandsmäßiges positives Tun verursacht, so ist dieses der fiir die strafrechtliche Prüfung maßgebende Anknüpfungspunkt" 189. Jedenfalls ließe sich diese von Jescheck verwendete "Formel", soweit sie der begrifJlichen Klärung von Tun und Unterlassen hätte dienen sollen, nicht schlüssig erklären. Denn die bei solchem Verständnis erst zu definierende Verhaltensweise wird bereits in der Definition selbst terminologisch verwendet. Genau besehen ist entgegen der ausdrücklichen Auffassung Jeschecks l90 das Kriterium der Kausalität bei Zugrundelegung der obigen "Formel" ohnehin nicht das entscheidende Merkmal zur Festlegung von Tun und Unterlassen. Vielmehr ist danach maßgebend die von vornherein getroffene - von Jescheck aber unbegründet gebliebene - Wertentscheidung eines grundsätzlichen Überwiegens des (strafbaren) aktiven Tuns gegenüber einem vielleicht ebenso denkbaren Unterlassen.

Letztlich erfiillt daher ein im Sinne von Jescheck angewendetes Kausalitätskriterium keinen Abgrenzungszweck bei der Unterscheidung von Tun und Unterlassen. Denn das Kriterium der Kausalität wird weder zur begrifJlichen 187 Olmehin soll in einfach gelagerten Fällen regelmäßig das natarliche Verstc'indnis der Dinge die Frage beantworten kÖlUlen, ob ein Sachverhalt als Tun oder Unterlassen einzustufen sei; derart Jescheck, 1988, § 58 II 2 bzw. JescheckiWeigend, 1996, § 58 II 2. 188 Siehe nur die in diesem Zusanunenhang von Jescheck, 1988, § 58 II 2 und JescheckIWeigend, 1996, § 58 II 2 aufgefilhrten Beispielsfälle. 189 Vgl. LK.Jescheck, 1993, Vor § 13 Rn. 90; JescheckIWeigend, 1996, § 58 II 2; ganz ähnlich Jescheck, 1993, S. 115. Ob am Ende daIUl tatsächlich das aktive Tun oder nicht vielleicht doch das Unterlassen als strafbares Verhalten "übrig bleibt", soll nach Jescheck anband der folgenden weiteren Prüfungsschritte zu ermitteln sein: Zunächst müsse geprüft werden, ob der Täter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt habe, wobei in beiden Fällen allein das positive Tun filr die strafrechtliche Würdigung in Betracht konunen soll; erst in dem Fall, in dem das aktive Tun sozialadäquat, rechtmäßig oder schuldlos war, soll an ein vielleicht ebenfalls vorliegendes Unterlassen gedacht werden (vgl. zu dieser Vorgehensweise, die dem aktiven Tun wertmäßig einen Vorrang gegenüber dem Unterlassen einräumt, Jescheck, 1988, § 58 II 2; ähnlich JescheckIWeigend, 1996, § 58 II 2; LKJescheck, 1993, Vor § 13 Rn. 90). 190 Vgl. LK.Jescheck, 1993, Vor § 13 Rn. 90: "Das richtige Verfahren filr die Unterscheidwlg von Tun und Unterlassen besteht in der Anwendung des Kausalitätskriteriums".

70

2. Teil: Tun und Unterlassen

Klärung herangezogen (= soweit die "Formel" einen Sinn machen soll), noch dient das Kausalitätsmerkmal als Entscheidungshilfe bei ambivalentem Verhalten. Dort wird es vielmehr zur Herausfindung eines im Ergebnis strafbaren Verhaltens gebraucht. Nach Jescheck ist Kausalität also nicht Unterscheidungsmerkmal zweier Handlungsformen, sondern sie wird als allgemeine Strafbarkeitsvoraussetzung geprüft. Zu bejahende Kausalität dient dann einzig dazu, im Falle weiterhin vorliegender Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld das neben einem Unterlassen in Betracht zu ziehende aktive Tun aufgrund einer nicht näher dargestellten Wertentscheidung für allein relevant zu erklären.

Rechtsgutsbezogen - und damit noch differenzierter in der inhaltlichen Ausgestaltung - ist das Kausalitätskriterium bei Samson anzutreffen: Maßgebend ist nach seiner Ansicht nicht allein die Unterscheidung auf der Ebene des Verhaltens in Form einer Nichtabwendung des Erfolges (= dann Unterlassen) und einer HerbeifiJhrungIVerursachung eines Erfolges (= dann Tun), sondern eine zusätzliche Differenzierung auf der Ebene des Rechtsgutsl91 . Samson will also die Auswirkungen, die eine bestimmte Verhaltensweise auf das Rechtsgut hat, in die Betrachtung miteinbeziehen. Aus dem Blickwinkel eines betroffenen Rechtsguts heraus stelle sich nämlich die strafrechtlich relevante Handlung als Verursachung einer Verschlechterung der Rechtsgutslage (= etwa einer Lebensverkürzung) und die Unterlassung als Nichtverursachung einer Verbesserung der Rechtsgutslage, mithin als Nichtverbesserung einer (bestehenden schlechten) Rechtsgutssituation (= etwa einer Lebensverlängerung) dar l92 . Demzufolge könne eine Differenz zwischen Begehung und Unterlassung auch in der "Erfolgsdifferenz" gesehen werden 193. Die Definition für Tun und Unterlassen muß mithin nach Samson unter zusätzlicher Beliicksichtigung der unterschiedlichen Rechtsgutslage lauten: Tun als Verschlechterung und Unterlassung als Nichtverbesserung einer Rechtsgutssituation 194 -

191

DerartSamson, 1974, S. 592.

192 Auf die beim Tun und Unterlassen jeweils unterschiedliche Rechtsgutslage

wurde auch schon von H. Mayer, 1953, S. 111 hingewiesen: "Eine Begehungstat (Kommissivdelikt) liegt dann vor, wenn eine gute Wirklichkeit verschlechtert wird, (echte) Unterlassung dann, wenn eine schlechte Wirklichkeit nicht verbessert wird". 193 Vgl. Samson, 1974, S. 592, 593. Der Nonna1zustand, von dem aus beurteilt werden kann, ob eine Verschlechterung oder Nichtverbesserung der Rechtsgutssituation eingetreten ist, soll in der hypothetischen Entwicklung des Rechtsguts ohne die Existenz des Täters zu sehen sein, vgl. Samson, 1974, S. 593, 594. 194 Samson, 1974, S. 593.

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen

71

oder bezogen auf den Deliktstypus: "Das Verbot verletzt, wer einen verschlechternden Eingriff vornimmt, das Gebot verletzt, wer dem Rechtsgut nicht die verbessernde Leistung erbringt"195. Auf diese Weise wird das Kausalitätskriterium um eine normative Komponente erweitert. Erwähnung verdient schließlich auch die besondere Ausformung des Kausalitätskriteriums bei Jakobs; er erblickt den relevanten Kausalitätsbeginn "nicht beim Körper [... ] oder bei der Körperbewegung, sondern bei der Motivation". Demzufolge versteht er das aktive Tun als ein Motiv zuviel zu einer Körperbewegung, die ein Ereignis verursacht, und das Unterlassen als ein Motiv zuwenig zu einer Körperbewegung, die ein Ausbleiben des eingetretenen Ereignisses verhindert hätte l96 . Im Rahmen des Kausalitätskriteriums ist allerdings die Notwendigkeit unklar, nicht üblicherweise erst bei der Verhaltensweise als solche anzusetzen, sondern zeitlich früher bereits bei der "Motivation" zu einer Verhaltensweise. Denn dazu müßte der Motivation eine besondere strafrechtliche Bedeutung zukommen. Dies ist aber nicht der Fall. Denn fiir strafrechtliche Haftung ist grundsätzlich nicht eine bestimmte Motivationslage entscheidend, sondern die Ausfiihrung dieser, also die Verwirklichung der Tat. Das zeigt sich in erster Linie im Bereich der Versuchsstrafbarkeit, wonach der auf eine Deliktsverwirklichung gerichtete Wille erst dann zur Strafbarkeit fiihrt, wenn ein unmittelbares Ansetzen zur Tat vorliegt, also der Wille auch betätigt 197 wurde. Allein der Tatentschluß genügt fiir eine (Versuchs-)Strafbarkeitjedenfalls nicht. Der Vollständigkeit halber können als Vertreter des Kausalitätskriteriums schließlich noch diejenigen genannt werden, die bei der Unterscheidung von Tun und Unterlassen neben dem Aspekt der Kausalität noch das Einsetzen von Energie und zusätzlich den Gesichtspunkt der Risikoverwirklichung fiir maßgebend halten (siehe dazu bereits oben unter D. I. 1. b bb)198.

195 Samsoll, 1974, S. 595; so auch Küpper, 1990, S. 74. 196 Vgl.Jakobs, 1991,6/28u.28/3.

197 Neuestens wird diese Erkenntnis von der Rspr. des BGH aber offensichtlich in Frage gestellt (vgl. insofem die Entscheidung des 4. Strafsenats zur Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs bei nur venneintlicher Mittäterschaft in BGHSt. 40, 299 ff.) Allerdings ist diese Entscheidung zu Recht (schart) kritisiert worden; siehe aus den zahlreich vorhandenen Reaktionen in der Lit. nur Erb, 1995, S. 424 ff.; Graul, 1995, S. 427 ff.; /llgelfillger, 1995, S. 704 ff.; Joerdell, 1995, S. 735 f.; Kühne, 1995, S. 934. 198 Eine Kombination von Kausalitäts- und Energiegesichtspunkten ist anzutreffen bei Rudolphi, 1982, S. 521; ders., 1992, S. 70; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 6;

72

2. Teil: Tun und Unterlassen

Teilweise wird von Vertretern des Kausalitätskriteriums betont, es müsse als besonderer Vorteil dieses Kriteriums gegenüber den anderen Abgrenzungskriterien gelten, daß sich mit Hilfe des Kausalitätsmerkmals die gegenüber dem Begehungsdelikt beim (unechten) Unterlassungsdelikt vorliegende Besonderheit einer notwendigen einschränkenden Rechtspflicht zum Handeln (vgl. § 13 StGB) erklären lasse: Denn da beim Unterlassen der Erfolg dem Täter angesichts fehlender echter Kausalität nicht als sein Werk zugerechnet werden könne, sei es notwendig, zur Begründung des Unrechtstatbestands besondere GarantensteIlungen und -pflichten zu verlangen l99 .

2. Abgrenzung anhand normativer Kriterien a) VorUberlegung

Bei den nonnativen Abgrenzungskriterien handelt es sich um Kriterien, die bei der Frage, nach welchen Grundsätzen sich im konkreten Fall Begehungstat und Unterlassungstat voneinander unterscheiden, nicht die äußere Gestaltung des Falles entscheiden lassen, vielmehr eine Lösung unabhängig vom Erscheinungsbild des Geschehens mit Hilfe eines Werturteils suchen. Etwa Sauer wies bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seiner soziologisch-juristischen Sicht200 auf die Wertbezogenheit des Handlungsbegriffs hin, ganz im Gegensatz zu der in dieser Zeit gerade von v. Liszt201 oder von Beling202 auf den Handlungsbegriff bezogenen naturalistischen Auffassung. Mit dieser Einstellung erteilte er all denjenigen, die das Tun beispielsweise als bloße Körperbewegung oder als Muskelanspannung begreifen wollten, ein klare Absage: "... diese Begriffe gehören in das gänzlich abseits liegende Gebiet der Naturwissenschaften"203.

Seelmann, 1987, L 34, 35; NK-Seelmann, 1995, § 13 Rn. 28; Sieber, 1983, S. 434, 435; Welp, 1968, S. 111, 112 tT.; zusätzlich noch mit dem Kriteriwn der Risikoverwirldichung will etwa Otto, 1996, § 9 I 2 a u.§ 9 V 3 b das bereits kombinierte Abgrenzungskriteriwn von Energieeinsatz und Kausalität versehen. 199 Derart etwa Sieber, 1983, S. 434; StojJers, 1992, S. 111; ders., 1993, S. 267, 268. 200 Vgl. Sauer, 1921, S. 406 ff., 409, 410. 201 Siehe nur v.Liszt, 1891, S. 128. 202 Vgl. Beling, 1906, S. 8 ff. 203 Sauer, 1921,S.418,419.

D. Abgrenzungskriterien zur FestIegung von Tun und Unterlassen

73

b) Die Kriterien im einzelnen

aa) Werturteilskriterium Leitgedanke dieser von H. Mayer favorisierten Abgrenzungsmethode ist die These, daß der Unterschied zwischen Tun und Unterlassen als "Wertungsunterschied" begriffen werden müsse und nicht als ein äußerlicher Unterschied, der mit naturalistischen Verschiedenheiten, wie etwa "Bewegung und Nichtbewegung", erklärt werden könne204 . Nur so lasse sich eine Übereinstimmung mit der "Volksanschauung" herstellen, da auch der entscheidende "Lebenssprachgebrauch" nicht streng zwischen "positiver Körperbewegung und Nichtbewegung" trenne20S . Zwingend soll die Unmöglichkeit einer naturalistischen Differenzierbarkeit bereits aus der Tatsache entstehen, daß es den Zustand der völligen Ruhe nicht geben könne, sich vielmehr "jedes Handeln [... ] aus Handlungen = Bewegungen und Unterlassungen = Nichtbewegung zusammensetzt"206. Schlußfolgernd wird fiir einen Abgrenzungsversuch deshalb für entscheidend "das Werturteil" gehalten, "ob das Gesamtverhalten im Zusammenhang ein aktives Tun darstellt" oder ein Unterlassen207 . Als ein jedenfalls eindeutig zu bewertender Fall des positiven Tuns wird dabei das "mehr aktiv eingreifende Tun" im Gegensatz zu einer "mehr passive(n) Haltung" angesehen; denn dies werde auch von der Allgemeinheit einverständlich als Tun gewertet208 . Weitere Kriterien für ein zu treffendes Werturteil in Richtung positiver Tätigkeit (= echtes Tun im Rechtssinne) solI.d.S.H.Mayer, 1936, 214, 215;ders., 1953,S. 111,112,113. Vgl.H.Mayer, i936,S.212,214,215;ders., 1953,S. 114. 206 SoH. Mayer, 1936, S. 214, der zur Veranschaulichung folgendes Beispiel anft1hrt: "Der Mord ist eingestandenennaßen ein Begehungsverbrechen und man kann wohl nicht intensiver positiv handeln, als indem man dem Opfer mit dem Beil den Schädel einschlägt. Aber gerade in diesem Fall ist das letzte relevante Verhalten ein Unterlassen im Sinne des analytischen Denkens. Der Mörder unterläßt es nämlich, das zuletzt aus eigener Kraft niedersausende Beil aufzuhalten oder abzulenken". 207 Vgl. H. Mayer, 1936, S.214, 215; ders. 1953, S. 112. Anband dieser Basis sieht H. Mayer, 1936, S. 215 sogar das Verhungernlassen eines Kindes durch die Mutter als ein aktives Tun und nicht als ein Unterlassen an und stellt dieses Verhalten in eine Reihe mit der Tötung durch das Zuschlagen mit einem Beil; ders., 1953, S. 113, wo das Verhungernlassen des Kindes als Tun im Rechtssinne qualifIziert und auf eine Stufe mit dem Ertränken eines Kindes gehoben wird. 208 Vgl. H. Mayer, 1936, S. 215. 204 20S

74

2. Teil: Tun und Unterlassen

len etwa sein: die innige Verflechtung in den schadenstiftenden Vorgang209 oder die "Intensität des bösen" bzw. "rechtsfeindlichen Willens"21O. Selbst wenn das Gesetz die Tathandlung näher beschreibt, wie etwa bei § 212 StGB mit dem Tätigkeitswort "töten", sei man nicht gehindert, eine rein körperliche Untätigkeit als Tun im Rechtssinne und mithin als "töten" i.S.d. § 212 StGB zu qualifizieren. Schließlich könne auch nach dem allgemeinen Sprachgebrauch körperliche Untätigkeit unter das Vorstellungsbild "töten" fallen 211 . Die sich aus diesem wertenden Abgrenzungskriterium zwangsläufig ergebenden Unsicherheiten bei der Grenzziehung (= ab wann bereits Tun, bis wann noch Unterlassung) werden dabei als unvermeidlich und in der Sache erträglich betrachtet212 . bb) Ausschöpfung des Unrechtsgehalts Bei diesem Lösungsansatz wird von vornherein klargestellt, daß es unmöglich sein soll, immer anband einheitlicher Grundsätze eine Unterscheidung zwischen aktivem Tun und Unterlassen vorzunehmen. Vorzugswürdig sei daher diejenige Abgrenzungsmethode, "die den bei Begehung und Unterlassung häufig verschieden gearteten Unrechtsgehalt der Tat voll ausschöpft"213. Ganz offensichtlich bedeutet diese Sichtweise eine prinzipielle Ablehnung einer auf einem zuvor festgelegten Kriterium beruhenden, formelhaften Abgrenzung

209 In diesen Fällen soll eine an sich vorliegende Untätigkeit dennoch als positives Tun zu werten sein, vgl. H. Mayer, 1936, S. 215: "Nur dort, wo der Einzelne sehr innig in den schadenstiftenden Vorgang verflochten ist, erscheint das vom analytischen Denken als Untätigkeit aufgefaßte Verhalten im Zusammenhang dennoch als positive Tätigkeit. Es beweist damit zugleich eine gleiche Intensität rechtsfeindlichen Willens, wie ein zweifellos als aktives Tun gewertetes Verhalten". 210 H. Mayer, 1936, S. 215; ders. 1953, S. 113: "Die körperliche Untätigkeit ist aber im Rechtssinn als echtes Tun [... ) aufzufassen, wenn diese unechte Unterlassung das gleiche Maß rechtsfeindlicher Willensenergie verlangt, wie die positive Tätigkeit. [... ) Nicht etwa wird eine echte Unterlassung, aus irgendwelchen Rechtsgründen, dem Tun nur gleichgestellt, vielmehr ist sie im Rechtssinn echtes Tun". 211 DerartH. Mayer, 1953, S. 114. 212 Vgl. H. Mayer, 1953, S. 112: "Die Vorzeichen dieser Bewertung" - gemeint ist das Werturteil in die Rubriken Begehung oder Unterlassung - "sind an sich logisch jederzeit vertauschbar". Ders. bereits 1936, S. 215: "Eine gewisse Unsicherheit der Grenzen ist damit zweifelsfrei gegeben. Sie liegt jedoch unvermeidlich in der Sache und ist zu ertragen". 213 I.d.S. Maurach, 1971, S. 582.

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen

75

und stattdessen die Bevorzugung einer einzelfallbezogenen, von einem Kriterium losgelösten Bewertung. Dabei wird rur verfehlt gehalten eine Vorgehensweise etwa im Sinne einer Zerlegung eines einheitlichen Geschehens oder auch die Suche einer Lösung in einer Einzelwertung der Vorgänge. Maßgebend soll zur Ausschöpfung des Unrechtsgehalts der Tat vielmehr "die komplexe Betrachtung des Gesamtvorgangs" sein214 . cc) Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit Das Abgrenzungskriterium "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" wird gemeinhin auch unter dem Schlagwort "Schwerpunktformel"215 aufgefiihrt und gilt als die heute herrschende Abgrenzungsmethode216 . Von Vertretern der Schwerpunktformel wird aus der Tatsache heraus, daß es nach wie vor bei der Abgrenzungsfrage von Tun und Unterlassen eine Vielzahl verschiedener Lösungsansätze gibt, gefolgert, daß die Unterscheidung zwischen aktivem Tun und Unterlassen allein wertungsmäßig vorgenommen werden könne; sie soll also nicht von der äußeren Gestaltung des Geschehens abhängen und damit keine Tatsachenfrage sein217 . Entscheidungsrelevant sei bei der Festlegung der Handlungsform, wogegen sich der rechtliche Vorwurf des Verhaltens richte218 bzw. wo der Schwerpunkt

214 A1aunach, 1971,S. 582. 215 Vgl. zum Begriff "Schwerpunktfonnel" etwa Gössel, 1993, S. 429; StojJers, 1992, S. 3 ff. 216 Siehe aus der Lehrbuchliteratur nur Wesseis, 1996, § 16 12 Rn. 700. 217 So bereitsA1ezger, 1943, S. 52; vgl. auch Blei, 1983, § 84 TI. 218 Vgl. etwa Baumann, 1977, § 18 TI 1 (im Gegensatz dazu stellt dieser allerdings a.a.O. zuvor in § 16 TI 4 darauf ab, ob aktives Tun oder Unterlassen "die nächste selbständige Ursache" des Erfolges ist, ohne dabei nach der Vorwertbarkeit des Verhaltens zu fragen); oder auch Exner, 1930, S. 586; A1ezger, 1943, S. 52; ders. 1958, S. 74 oder 1958a, S. 281; Toepel, 1992, S. 39 ff., 42, 48, der im Rahmen der Abgrenzungsfrage unter dem Gesichtspunkt der rechtlichen Vorwertbarkeit ftlr entscheidend ansieht, "welches Verhalten als notwendig ftlr die Beschreibung des Widerspruchs gegen die Verhaltensnonn angesehen werden muß"; ferner Zimmennann, 1952, S. 1322. Auch Schünemann, 1971, S. 240, dessen Sichtweise wohl eigentlich auf dem Körperbewegungskriterium beruht, will bei einer "juristische(n) Analyse" den rechtlichen Vorwurf heranziehen: "Und während bei naiver Betrachtung eine Handlung [... ) die Er-

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2. Teil: Tun und Unterlassen

der Vorwerfbarkeit des Verhaltens liege219 . Auffiillig ist dabei, daß sich gerade in der Rspr. eine einheitliche Tenninologie bei der Bestimmung der Handlungsfonn nicht finden läßt. So ist teils von "Schwerpunkt des Verhaltens", "Schwergewicht des Verhaltens", "Schwergewicht der Tat" oder "Schwergewicht der Vorwerfbarkeit" die Rede220 . Der Sache nach handelt es sich aber offenbar um identische Abgrenzungskriterien mit bloß unterschiedlicher Begrifflichkeit, wie sich aus den gegenseitigen Verweisungen in den jeweiligen Entscheidungsgründen ergibt. folgszurechnung begründet, zeigt eine juristische Analyse, daß sich der rechtliche Vorwurf gegen das Unterlassen [... ) richtet." 219 I.d.S. etwa Blei, 1983, § 84 ll; GroßlPfohl, 1992, S. 120; G. Hirsch, 1969, S. 854; Laubenthai, 1989, S. 828; Schwab, 1996, S. 30; Schönke/SchröderlStree, 1997, Vorbern §§ 13 t1 Rn. 158; Wesseis, 1996, § 16 12 Rn. 700, der etwas abweichend nicht bloß vom Schwerpunkt der Vorweifbarkeit des Verhaltens spricht, sondern vom Schwerpunkt des strafrechtlichen Verhaltens, das sich nach normativen Gesichtspunkten unter Berücksichtigung des sozialen Handlungssinns richte. Er verbindet also die "Schwerpunktformel" mit der sozialen Sinnbedeutung des Verhaltens. Auch Haft, 1996, S. 172 will in Ausnahmefällen - trotz erkennbaren aktiven Tuns zu einem Unterlassen gelangen, wenn dort "bei normativer Betrachtung und bei Berücksichtigung des sozialen Handlungssinns der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens" liege. Ansonsten (= insbesondere bei Fahrlässigkeitsdelikten) soll das Unterlassungsmoment hinter das aktive Tun zurücktreten, soweit dieses Tun erkennbar sei; vgl. Haft, 1996, § 2 S. 172. Ohnehin stellt sich filr ihn die Unterscheidung der Handlungsformen grundsätzlich als unproblematisch dar, da sich das Tun aufgrund seiner empirischen Realität erkennen lasse, während das Unterlassen angesichts der fehlenden Wirklichkeit ein Nichts darstelle; i.d.S. Haft, 1996, § I S. 170. 220 Grundlegend zum Schwerpunkt der Vorwertbarkeit aus der Rspr. BGHSt. 6, 46 ff., 59; ilun folgend, wenn auch terminologisch uneinheitlich teils auf den Schwerpunkt der Vorweifbarkeit, teils auf den Schwerpunkt des Verhaltens oder der Tat abstellend, etwa OLG Stuttgart, FamRZ 1959, S. 74 (= "Schwerpunkt ihres Verhaltens"); OLG Karlsruhe, NJW 1980, S. 1859, 1860 (= "Schwerpunkt des Täterverhaltens"); BGH bei Holtz, MDR 1982, S. 624 (= "Schwergewicht der Tat"); OLG Düsseldorf, MedR 1984, S. 28 ff., 29 ("Schwergewicht der Vorwertbarkeit" und an anderer Stelle "Schwerpunkt des Täterverhaltens"); OLG FrankfurtlMain, GA 1987, S. 549 ff., 551(= "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit"); OLG Köln, JR 1991, S. 523 ff., 525 (= "Schwergewicht ihres Verhaltens"); OLG Saarbrücken, NJW 1991, S. 3045, 3046 ("wertende Beurteilung nach dem Schwerpunkt des Verhaltens"), das allerdings zunächst auf das Kausalitätskriterium zurückgreift und erst anschließend betont, daß in dem zu entscheidenden Fall auch ein Abstellen auf die Schwerpunktformel das mit dem Kausalitätskriterium gefundene Ergebnis nicht ändern würde. Neuerdings ist filr den BGH bei der Feststellung des dem Täter "vorzuwerfenden Verhaltens" aber auch maßgeblich, worin "das strafrechtlich relevante Geschehen" bzw. "der eigentliche Unwert" des "Verhaltens" liegt, vgl. BGHSt. 40, 257 ff., 266.

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen

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dd) Soziale Sinnbedeutung des Verhaltens Um zu venneiden, daß Zufälligkeiten im äußeren Geschehensablauf bei der Abgrenzungsfrage eine entscheidende Bedeutung erlangen, die in keinem Sinnbezug zum wirklichen Unrechtsgehalt der Tat stehen, soll es nach dieser Auffassung auf eine im Einzelfall vorzunehmende wertende Betrachtungsweise ankommen, die sich an dem sozialen Sinngehalt des menschlichen Verhaltens zu orientieren habe221 . Betont wird dabei, daß unter Handlung schließlich immer ein sozial sinnhaftes Verhalten zu verstehen sei 222 . Demzufolge wird die sich bei ambivalentem Verhalten stellende Frage, ob aktives Tun im Sinne "positiver Erfolgsherbeifiihrung" vorliegt oder aber Unterlassen im Sinne einer "Nichtabwendung des Erfolges" gegeben ist, nicht nach dem "äußeren Bilde des Verhaltens" beantwortet, "sondern nach dem sozialen Sinn, den es erfilllt"223. Zur näheren Bestimmung des Begriffs "sozialer Sinngehalt" wird dabei der Gesichtspunkt der den Begehungstatbeständen und Unterlassungsdelikten zugrundeliegenden unterschiedlichen Rechtsbefehlen verwertet: Während den Begehungstatbeständen das Verbot, in einen fremden Rechtsgüterkreis einzubrechen, innewohnt, gebieten die Unterlassungsdelikte, eine Leistung zur Erhaltung eines anderen Rechtsguts zu erbringen. Daraus wird gefolgert, daß 221 Dieser Auffassung sind etwa: Ranft, 1963, S. 344, 345, der bei seiner Bewertung des Verhaltens unter Rückgriff auf das Vorstellungsbild des Täters insbesondere darauf abstellt, ob der Täter nur seinen eigenen Rechtsgüterkreis abschirmt (dann Unterlassen) oder nicht (dann aktives Tun); Eb. Schmidt, 1939, S. 78, 79, 80; ders., 1942, S. 88,89. Insbesondere ist auch Lampe, 1960, S. 103 zu nennen, der - obwohl ansonsten das Körperbewegungskriteriwn befilrwortend (Lampe, 1959, S. 587, 588; ders. 1967, S.487, 488) - das Körperbewegungskriteriwn hier mit dem "Vorwurf eines allzu veräußerlichten Naturalismus" belegt, "welcher den sozialen Sinngehalt der Handlung" zu Unrecht unbeachtet lasse. Auch Wesseis, 1996, § 16 I 2 Rn. 700 will den sozialen Handlungssinn fiIr eine Festlegung des Schwerpunkts des strafrechtlich relevanten Verhaltens berücksichtigen. In AusnahmeflUlen soll zudem nach Kienapfel, 1984, S. 477 der soziale Sinn der Handlung in Betracht zu ziehen sein und nicht der "Grundsatz vom Vorrang des Tuns" eingreifen. 222 Derart bereitsEb. Schmidt, 1939, S. 80; ders. 1942, S. 88. Vgl. etwa auch Arthur Kaufmann, 1961, S. 212, der zunächst auf den sozialen Handlungssinn des Verhaltens hinweist, dann aber doch die "einfache Regel" aufstellt, bei Zweifelsfällen positives Tun anzunehmen. 223 Vgl. Eb. Schmidt, 1939, S. 78, 79.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

dann, wenn das Verhalten des Täters den objektiv sozialen Sinngehalt einer Abschinnung seines eigenen Rechtsgüterkreises habe, ein Unterlassungsdelikt angenommen werden müsse, währenddessen ein Begehungsdelikt vorliege, wenn dem sozialen Sinngehalt nach das Verhalten als ein Eingriff in ein fremdes Rechtsgut zu verstehen sei 224.

ee) Im Zweifel positives Tun Immer dann, wenn ein mehrdeutiges Verhalten vorliegt, also ein Verhalten, bei dem sowohl aktives Tun als auch Unterlassen begründbar sind, soll im Zweifel aktives Tun angenommen werden 225 . Dabei wird nach teilweise vertretener Auffassung dieser Grundsatz mit einer Einschränkung versehen: Die Zweifels-Entscheidung rur das Tun soll nur unter der Voraussetzung gelten, daß die Ursächlichkeit des aktiven Tuns fiir den deliktischen Erfolg festgestellt werden kann; anderenfalls werde das möglicherweise kausale Unterlassen bedeutsam 226 . Das zuerst relevante Problem. was bei isolierter Betrachtung unter Tun und Unterlassen zu verstehen ist, wird zum Teil mit Hilfe "objektiv-natürlicher" Gegebenheiten gelöst227. Insoweit findet zunächst eine naturalistische Begriffsbestimmung statt. Dennoch ist in Problemfällen, in denen sich begriftlich sowohl Tun als auch Unterlassen erklären lassen, letztlich allein ein wertendes Kriterium entscheidungsrelevant, nämlich bei Zweifelsfragen immer aktives Tun anzunehmen.

224 Ranji, 1963,S. 344,345. 225 Vgl. Sch6nke/Schrlkier, 1959, Vorbern V Arun. 3; Arthur Kaufmann, 1961, S. 212 oder etwa Kienapfel, 1976, S. 283, der hier von einem "Primat (Vorrang) des (strafbarkeitsausschöpfenden) Tuns bei mehrdeutigen Verhaltensweisen" spricht und dieses Prinzip insbesondere immer dann anwenden will, "wenn der Täter ein bestimmtes gefilhrliches (riskantes) Tun setzt und dabei nichts oder nicht genOgend zur Hintanhaltung der damit vebundenen Gefahr unternimmt"; ausnahmsweise will Kienapfel beim Abbruch eigener Rettungsbemühungen aber auf den sozialen Sinn der Handlung abstellen, vgl. Kienapfel, 1984, S. 477. 226 Derart etwa Spendei, 1961, S. 194. 227 I.d.S. Spendei, 1961, S. 192. Ders. auch 1973, S. 139, wonach bei einer naturalistischen Betrachtungsweise, also physikalisch gesprochen, sich aktives Tun und Unterlassen durch Vornahme bzw. Nichtvornahme einer Körperbewegung unterscheiden lassen.

D. Abgrel1ZW1gskriterien zur Festlegung von TlUl lUld Unterlassen

79

Dabei soll nicht erst auf der Konkurrenzebene dem aktiven Tun Vorrang eingeräumt werden, sondern bereits bei der Festlegung der Handlungsform vor bzw. innerhalb der Prüfung des Tatbestandes. Nicht bevorzugt wird folglich eine Vorgehensweise nach dem sog. "Zerlegungsverfahren" im Sinne einer Einzelbewertung der jeweiligen möglichen Handlungsformen. Das ergibt sich daraus, daß es von Vertretern der "Zweifelslösung" als mit dem Denkprinzip nicht vereinbar angesehen wird, wenn innerhalb eines einheitlichen Handlungsgeschehens aus einem vorhandenen ursächlichen aktiven Tun zugleich ein darin liegendes Unterlassen konstruiert wird228 . Ausnahmen vom Grundsatz des Vorrangs eines aktiven Tuns werden zum Teil dann gemacht, wenn "dem Unterlassen neben oder an Stelle des Tuns ein eigenständiger Unwert zukommt"229. Das soll der Fall sein, wenn eine Strafbarkeit unter dem Aspekt des aktiven Tuns mangels Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit oder Schuld ausscheidet und ein vom Tun trennbares Unterlassen vorliegt, sowie auch dann, wenn trotz an sich strafbaren aktiven Tuns der "Unwert des Gesamtverhaltens" allein mit einer Strafbarkeit unter dem Gesichtspunkt eines Begehungsdelikts nicht voll ausgeschöpft wird (wie etwa in der Fallkonstellation, in der sich an ein fahrlässiges aktives Tun ein eigenständiges, vorsätzliches Unterlassen anschließt)230. Grund fiir die wertende Entscheidung, im Zweifel positives Tun anzunehmen, soll ein gesetzgeberischer sein, und zwar das Anknüpfen des Strafrechts "in erster Linie an sozialschädliches Handeln und nicht Unterlassen"; und dies wird der Ausgestaltung der strafrechtlichen Normen vornehmlich als Verbote und nicht als Gebote entnommen231 . Zudem habe der Gesetzgeber mit der Möglichkeit der Strafmilderung nach § 13 11 StGB deutlich gemacht, daß "die Herbeiführung des Erfolges durch ein Tun grundsätzlich strafwürdiger" erscheine "als durch ein Unterlassen"232.

228 I.d.S. Spendei, 1961, S. 194 229 Derart insbesondere Kienapfel, 1976, S. 285; ders. auch 1984, S. 477. 230 Vgl. Kienapfel, 1976, S. 285,286; ders., 1984, S. 477. 231

DerartSpendel, 1961, S. 194.

232 Vgl. Kienapfel, 1984, S. 477 oder ders., 1976, S. 284, 285.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

fi) Kriterium der Gefahrsteigerung bzw. Risikoerhöhung

Als Basis für eine Unterscheidung von Tun und Unterlassen werden auch Kriterien anerkannt, die genau genommen dem Bereich der Zurechnung angehören, freilich auch mit dem Kausalitätskriterium verwandt sind. So wird eine Handlung im Sinne aktiven Tuns dann angenommen, wenn der Täter eine Gefahr, die in den Erfolg umgeschlagen ist, herbeigeführt oder gesteigert hat233 bzw. durch ihn ein Risiko für das geschützte Rechtsgut begründet oder erhöht wurde234 . Eine Unterlassung soll dagegen vorliegen, wenn die Gefahr nicht vermindert worden ist235 . gg) Kriterium des Achtungsanspruchs des Rechtsguts In Fällen, in denen sowohl aktives Tun als auch Unterlassen denkbar sind, wird bei der Einordnung der Verhaltensweise darauf abgestellt, welcher "Geschehensausschnitt im Gesamtablauf [... ] den Ausschlag gibt", wobei dafür wiederum "die konkret-individuelle Pflicht des Täters im Tatgeschehen" als maßgebend angesehen wird236 . Ein Unterlassungsdelikt soll demzufolge dann vorliegen, wenn "vom Rechtsgut in bezug auf das betroffene Objekt" im konkreten Fall die Anforderung ausgehe, "eine Leistung zu erbringen", so daß sich die Nichtvornahme dieser gebotenen Handlung als das Entscheidende darstelle. Werde aber aufgrund der Achtung des Rechtsguts vom Täter verlangt, "die Lage des Opfers nicht durch ein Eingreifen zu verschlechtern", dann bedeute die Vornahme der gefahrschaffenden oder - erhöhenden Handlung das Entscheidende, mit dem Ergebnis des Vorliegens eines Handlungsdelikts237 . Eine Lösung der Abgren233 Vgl. Stratenwerth, 1981, vor § 13

Rn. 976; ganz ähnlich Ranft, 1987, S. 861,

862. 234 So als das entscheidende Kriteriwn filr das Tun ansehend Otto, 1996, § 9 I 2 a; dieser greift allerdings innerhalb der Feststellung, ob jemand durch Ingangsetzen einer Kausalkette ein Risiko filr das geschützte Rechtsgut begründet hat, auf das Kriteriwn des Energieaufwandes zwilck. 235 Vgl. Stratenwerth, 1981, vor § 13 Rn. 976. 236 Derart Schmidhäuser, 1984, 12/51, der ansonsten eine Unterscheidung von Handlungs - und Unterlassungsdelikt dem Begriffe nach filr unproblematisch hält; denn beim Handlungsdelikt werde "rechtsgutsverletzend gehandelt", beim Unterlassungsdelikt werde "rechtsgutsverletzend eine bestimmte Handlung nicht vorgenommen". 237 Vgl. Schmidhauser, 1984, 12/51.

D. AbgrellZlUlgskriterien zur FestlegWlg von TWl Wld Unterlassen

81

zungsproblematik wird hiernach also vom Ausgangspunkt des "Achtungsanspruchs" des jeweils betroffenen Rechtsguts her gesucht. Auch bei dieser Vorgehensweise der Abgrenzung von Tun und Unterlassen handelt es sich um eine im Einzelfall vorzunehmende Wertungsfrage: Es gilt nämlich jeweils bewertend zu klären, "welches Willensverhalten tatbestandlich rechtsgutsverletzend ist"238, d.h. welche Pflicht im konkreten Fall für den Täter vom Rechtsgutsobjekt her ausschlaggebend ist, und zwar entweder diejenige, eingreifend tätig zu werden, oder aber diejenige, einen Eingriff in die Lage des Opfers gerade nicht vorzunehmen. Dabei soll für die Lösung der problematischen Sachverhalte das äußere Erscheinungsbild des Geschehnisses vollkommen unerheblich sein. Denn es wird ausdrücklich hervorgehoben, "daß die völlige Gleichartigkeit eines äußeren Verhaltens im Hinblick auf dasselbe Rechtsgutsobjekt bei zwei Personen [... ] zu einer ganz unterschiedlichen Beurteilung fUhren kann, und zwar jeweils aufgrund des Gegebenseins oder Fehlens einer besonderen Pflichtbeziehung zum betroffenen Objekt in einer konkreten Situation"239.

11. Vorgehensweise nach dem Zerlegungsverfahren 1. Voruberlegung Nicht um eine Abgrenzung von Tun und Unterlassen im obigen Sinn handelt es sich bei dem sog. Zerlegungsverfahren240 . Denn es geht bei dieser Vorgehensweise gerade nicht darum, ein Kriterium zu finden, das die Verhaltensweise in einem mehrdeutigen Geschehenskomplex auf eine Handlungsfonn festlegt241. Vielmehr wird ein einheitlicher Vorgang "scheibchenweise" in einzelne. Geschehenselemente aufgeteilt, die gesondert auf ihre Verhaltensfonn(en) Tun und/oder Unterlassen242 hin überprüft werden. Eine Lösung des

238 Schmidhäuser, 1975, 16/105. 239 Vgl. Schmidhäuser, 1975, 16/107; ders., 1984, 12/54. 240 Vgl. zwn ZerlegWlgsverfahren BaumannIWeberlMitsch, 1995, § 15 Rn. 27; Böhm, 1957,S. 18; Schlachter, 1976,S. 796; Roxin, 1962,S. 416,417. 241 So ausdrücklich Roxin, 1962, S. 416: "Es ist jedes Geschehenselement selbständig zu prüfen, so daß ein Abgrenzungsproblem nicht entstehen kann" (HervorhebWlg vom Verfasser). 242 Notwendig ist hiernach also bloß eine jeweilige begriffliche Klärung von TWl Wld Unterlassen. Etwa Böhm, 1957, S. 15, 17, 18 stellt dabei auf das Kriterium der 6 Schneider

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2. Teil: Twt wtd Unterlassen

bei gleichzeitigem oder nachfolgendem Vorliegen von Tun und Unterlassen auftretenden Problems der Entscheidung für eine maßgebende strafbare Verhaltensform wird in den Konkurrenzbereich verlagert.

2. Inhaltliche Darstellung des Zerlegungsverfahrens Vertreter dieser Verfahrensweise halten es für unzutreffend, "einen ganzen Komplex menschlichen Verhaltens (also in aller Regel ein Gemisch von willkürlichen Körperbewegungen und willkürlicher Körperruhe) zusammenzunehmen und als ganzes zu werten"243. Richtig soll dagegen sein, "den Handlungskomplex in seine Teile zu zerlegen und jeden einzelnen Teil darauf zu prüfen, ob er für den Erfolg kausal, tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft war"244. So könne in jedem Fall eindeutig festgestellt werden, ob ein Tun oder Unterlassen Anknüpfungspunkt der Strafbarkeit sei 245 , was nicht zuletzt den Vorzug der größeren Rechtssicherheit zur Folge habe246 . Für den Fall, daß sowohl aktives Tun als auch Unterlassen tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft sind, bestimme sich das Verhältnis der beiden Verhaltensformen nach Konkurrenzgesichtspunkten. So soll etwa ein nachfolgendes fahrlässiges Unterlassen straflose Nachtat gegenüber dem vorhergehenden fahrlässigen aktiven Tun sein247, oder es wird bei zeitlichem Zusammentreffen von Tun und Unterlassen das Unterlassen gegenüber dem Tun als subsidiär angesehen 248 .

Körperbewegung ab, während Schlachter, 1976, S. 795 wtd Roxin, 1969, S. 380 insoweit das Kriterium des Energieeinsatzes anwenden. 243 Vgl. B6hm, 1957, S. 18. 244 Vgl. B6hm, 1957, S. 18; ganz in diesem Sinn auch Roxin, 1962, S. 416,417. TImen folgend BaumannIWeberlMitsch, 1995, § 15 Rn. 27; Schlachter, 1976, S. 796. 245 I.d.S. B6hm, 1957, S. 18. 246 Auf den Vorzug der größeren Rechtssicherheit beim Zerlegungsverfahren hinweisend Schlachter, 1976, S. 796. 247 Vgl. B6hm, 1957, S. 19. 248 Vgl. BaumannIWeberlMitsch, 1995, § 15 Rn. 27; Roxin, 1962, S. 417 dort Fn. 24 und Schlachter, 1976, S. 796. Auch Sieber, 1983, S. 436, der bei der Unterscheidwtg von aktivem Twt und Unterlassen an sich auf eine kumulative Kombination von Kausalitäts- und Energiekriterium abstellt, will in Fällen, in denen danach ein Verhalten sowohl Elemente des Tuns als auch des Unterlassens aufweist, dem Twt wegen des höheren Handlwtgsunwertes auf der Konkurrenzebene den Vorrang einräumen.

D. Abgrel1ZWlgskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen

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In. Unterlassungsdelikte durch Tun (bzw. durch Begehen) I. Voriiberlegung Die Lehre vom Unterlassen durch Tun249 kann ebenfalls nicht als Abgrenzungskriterium verstanden werden. Vielmehr wird die Festlegung der Handlungsformen Tun und Unterlassen bereits zugrundegelegt. Sie setzt sich nämlich mit der Frage auseinander, ob eine bestimmte Handlung in Gestalt des aktiven Tuns oder Unterlassens immer auch dem Begehungs- bzw. Unterlassungsdelikt entsprechen muß. Nicht mehr geklärt wird somit auf dieser Ebene die Problematik der Zuordnung eines tatsächlichen Geschehens zu einer Handlungsform im Sinne von Tun oder Unterlassen, sondern es wird erörtert, welche Deliktsform der gefundenen Handlungsform zugewiesen werden muß. Während also die oben (unter D. 1.) genannten Abgrenzungskriterien größtenteils allein250 die Ebene "Festlegung der Handlungsform" betreffen, ist hier ausschließlich die Ebene "Festlegung der Deliktsform" - selbst entgegen einer bestimmten Handlungsform251 - angesprochen.

2. Inhaltliche Darstellung der Lehre vom Unterlassen durch Tun Begrifilich soll es sich beim Omissivdelikt durch Begehung um den "Verstoß gegen eine Gebotsnorm" handeln, "also primär um ein Unterlassungsdelikt, das jedoch im konkreten Falle nicht wie sonst durch ein Nichttun,

249 Vgl.zur Tenninologie "Unterlassen durch Tun" Roxin, 1969, S. 381; teils wird aber auch von einem Unterlassen durch "Begehung" gesprochen, vgl. etwa MeyerBahlburg, 1968, S. 49 ff.; v.Overbeck, 1922, S. 319 ff.; Glissei, 1984, S. 329 oder SKRudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 46 ff.. 250 Gerade aber etwa bei der sog. "Schwerpunktfonnel" zeigt sich, daß sie zudem als Kriterium bei der Festlegung der Deliktsfonn entgegen dem äußeren Erscheinungsbild des Verhaltens - und nicht nur hinsichtlich der Einstufung einer Handlungsfonn - begriffen werden kann; deutlich wird dies nicht zuletzt anband der Ausfilhrungen von Wesseis, 1996, § 16 I 2 Rn. 699 -705. 251 So weist etwa Roxin, 1969, S. 383 ausdrücklich darauf hin, daß in Fällen, in denen "ein Tun [... ) dem Tatbestand des Unterlassungsdelikts zu subsumieren ist", das "Tun [... ) dadurch nicht zu einem Unterlassen (wird)". Allein daraus ergibt sich bereits die klare Trermung der Fragen (a) Festlegung der Handlungsfonn und (b) Zuordnung der Handlung zu einer Deliktsfonn. 6·

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2. Teil: Tun und Unterlassen

sondern ausnahmsweise durch ein positives Tun verübt wird,,2S2. Nicht verstanden werden darunter Fälle, in denen der Täter im Zeitpunkt der von ihm erwarteten Handlung bloß anderweitig tätig ist, etwa dergestalt, daß z.B. der Bademeister, statt eine Person vor dem Ertrinken zu retten, Badetücher einsammelt. Offensichtlich wird hier nicht die Tötung durch das Tun (das Einsammeln der Badetücher) verwirklicht, sondern nur durch das Unterlassen der Rettung. Unterlassung bedeutet ja nicht völlige Körperruhe oder Bewegungslosigkeit in jeder Hinsicht, sondern ist immer nur bezogen auf eine bestimmte erwartete Handlung zu verstehen 253 . Erfaßt werden sollen solche Fälle, in denen ein positives Tun gerade die Vornahme der erwarteten Handlung verhindert bzw. unmöglich macht: so, wenn jemand einen rettenden eigenen oder fremden Kausalverlauf durch sein Tun abbricht oder sich der Handlungspflichtige durch aktives Tun selbst außerstande setzt, seine Handlungspflicht zu erfüllen (omissio libera in causa). Darüber hinaus geht es um die Problematik der aktiven Teilnahmehandlung in Form der Anstiftung oder Beihilfe zum Unterlassungsdelikt254 . Problematisch ist in diesen Konstellationen, wann von einem Begehungsdelikt und wann von einem Unterlassungsdelikt (bzw. hinsichtlich der letztgenannten Fallgruppe von einer Teilnahme am Unterlassungsdelikt) auszugehen ist. Bei vordergründiger Betrachtung müßte aktives Tun die Annahme eines Unterlassungsdelikts per se ausschließen, doch sollen die Omissivdelikte auch durch positives Tun verwirklicht werden können255 . Denn während Tun und Lassen vorrechtliche Phänomene seien, stelle die Zuordnung zu den Begehungs- und Unterlassungsdelikten ein normatives Problem dar, weshalb die ontisch vorfindbare Erscheinungsform des menschlichen Verhaltens gerade nicht in allen Fällen mit der rechtlichen Qualifikation derselben übereinstimmen müsse256 . So soll in Fällen des Rücktritts vom Gebotserfiillungsversuch - gemeint sind Konstellationen, in denen der Handelnde durch aktives Tun seinen eigenen Rettungsversuch rückgängig macht - das vorliegende Tun nicht zu einem Be252 Vgl. hinsichtlich dieser auch ft1r die übrigen Vertreter der Lehre vom Unterlassungsdelikt durch Tun zutreffende Definition bereits v.Overbeck, 1922, S. 320. 253 Vgl. nur Engisch, 1973a, S. 174; Wesseis, 1996, § 16 n2 Rn. 708. 254 Vgl. bezüglich der Falltypen beim "Unterlassungsdelikt durch Begehen": Eser, 1980 a, Fall 25 A 17 ff.; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 46 ff. 255 v.Overbeck, 1922, S. 324, 325; Roxin, 1969, S. 381. 256 So Roxin, 1969, S. 380, 392, 393.

D. Abgrenzungskriterien zur Festlegung von Tun und Unterlassen

85

gehungsdelikt, sondern zu einem Unterlassungsdelikt führen, solange der Rettungsversuch noch nicht soweit fortgeschritten war, daß der rettende Kausalverlauf das Opfer bereits erreichte2.57 bzw. solange der Täter den von ihm angestoßenen rettenden Kausalverlauf noch nicht aus der Hand gegeben hatte258 . Angesichts der Tatsache, daß die Situation dieselbe sei, als wäre der Täter von Beginn an untätig geblieben, sollen sich positiver und negativer Energieeinsatz einander aufheben, mit dem Ergebnis, daß der Täter nicht anders zu behandeln sei "als ein von vornherein Rettungsunwilliger"2.59. Der Gebotstatbestand wird mithin in dem Sinne verstanden, daß er "als sekundäre Folgenorm das Verbot des [... ] erfolgsbewirkenden Tuns in sich enthält"260. Überwiegend nicht mehr von einem Unterlassungsdelikt durch Tun, sondern von einem Begehungsdelikt wird aber in Fällen des Abbruchs fremder Rettungsbemühungen ausgegangen, und zwar auch soweit gleichzeitig die Zurückhaltung einer eigenen Hilfspflicht betroffen ist. Denn hierin wird ein aktiver Eingriff in Rechtsgüter eines Gefährdeten und damit ein Verstoß gegen die Verbotsnonn der Begehungsdelikte gesehen261 . Als entscheidender Gesichtspunkt wird dabei gewertet, daß eine ohne die Mitwirkung des Täters

2.57 Vgl. von den Vertretern der Lehre vom "Unterlassen durch Tun" Roxin, 1969, S. 383, 387; ebenso auch Eser, 1980 a, Fall 25 A 20. Sobald der zu Rettende aufgrund des rettenden Kausalverlaufs in die Situation gerät, sich selber weiterzuhelfen, etwa weil er die Rettungsleine ergreifen kOlUlte, soll die Zerstörung dieser ftlr das Opfer günstigen Position schwerer wiegen als die bloße Untätigkeit und damit einem Begehungsdelikt zuzuordnen sein, vgl. Roxin, 1969, S.386. 2.58 Uneinigkeit besteht unter den Vertretern der Lehre vom Unterlassen durch Tun, von welchem Zeitpunkt an das Unterlassen durch Tun in Fällen des Rücktritts vom beendeten Gebotserfüllungsversuch in ein Begehungsde1ikt umschlagen soll: Abgestellt wird insoweit nicht erst darauf, ob der rettende Kausalverlauf die Sphäre des Opfers erreicht hat (derart etwa Roxill, 1969, 387; Eser, 1980 a, Fall 25 A 20), sondern bereits darauf, ob der Täter den von ihm angestoßenen Kausalverlauf bereits aus der Hand gegeben hatte, also auf einen gegenüber Roxill und Eser früheren Zeitpunkt, vgl. etwa SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 47. 2.59 Vgl. Roxin, 1969, S. 382,383 oder auch SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 47. 260 Derart Roxin, 1969, S. 383. Ebenso auch SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 47. 261 I.d.S. Roxill, 1969, S. 382,388,389; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 48. Von den Vertretern der Rechtsfigur der Unterlassung durch Tun geht von einer Bestrafung nach Unterlassungsgesichtspunkten in Fällen der Vereitelung einer Benutzung tätereigener Rettungsmitte1 aber Meyer-Bahlburg, 1968, S. 51 aus.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

allein erfolgversprechende Kausalreihe abgebrochen werde262 . Von einem Unterlassen durch Tun soll beim Abbruch fremder Rettungsbemühungen ausnahmsweise aber dann die Rede sein können, wenn dem Helfer noch andere gleichwertige Rettungsmöglichkeiten neben der bereits begonnenen zur Verfugung stünden. In diesem Fall bedeute die gegen den Dritten gerichtete Aktivität nur die Unterlassung eigener Hilfe263 . Auch in den Fällen, in denen sich der Handlungspflichtige selbst durch aktives Tun außerstande setzt, seiner Handlungspflicht nachzukommen (Fälle der omissio libera in causa)264, wird mittels der Rechtsfigur Unterlassen durch Tun das aktive Verhalten dem Unterlassungsdelikt zugeordnet26S . Begründet wird das Ergebnis damit, daß der Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg gerade nicht durch das aktive Tun, sondern durch das dann folgende Unterlassen verursache; und das Verbot, sich selbst handlungsunfähig zu machen, solle lediglich sicherstellen, daß der Täter seiner Handlungspflicht nachkommen könne266 bzw. abstrakter formuliert: es sei in dem Gebotstatbestand gerade immer das Verbot mitenthalten, sich durch aktives Tun die Erfiillung des Gebotes wunöglich zu machen267. Schließlich wird auch die Form der aktiven Teilnahme am Unterlassungsdelikt mit der Lehre vom Unterlassen durch Tun begründet. So soll derjenige, der etwa einen anderen dazu verleitet, seiner Gebotserfiillungspflicht nicht nachzukommen, nicht nach den Tatbeständen der Begehungsdelikte zu bestrafen sein268 , sondern wegen einer Teilnahme am Unterlassungsdelikt269 270.

262 Vgl. SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 48. Roxin, 1969, S. 390 will sogar noch den Fall mit einbeziehen, in dem die Kausalreihe von Anfang an unterdrückt wird: Wegen eines Begehungsdelikts zu bestrafen sei also nicht nur der Täter, der den nach dem Arzt rufenden Helfer von seinem Telephon wegstößt, sondern auch der, der noch vor Ankunft des Helfers in Kenntnis der Situation das Telephonkabel durchtrennt. 263 Auf diesen Ausnahmefall weist ausdrücklich Roxin, 1969, S. 391 hin. 264 In diesem Zusammenhang wird immer wieder der Fall des Weichenwärters erwähnt, der es sich durch Berauschung unmöglich macht, eine Weiche stellen zu können. 26S Bertel, 1965, S. 53 tI, 55, auch wenn dieser nicht ausdrücklich von einer Rechtsfigur "Unterlassen durch Tun" spricht; Eser, 1980 a, Fall 25 A 21; Roxin, 1969, S. 384; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 46. 266 Vgl. SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 46. 267 Vgl. Bertel, 1965, S. 55; Roxin, 1969, S. 384. 268 So aber Annin Kaufmann, 1959, S. 195 tI, 203 f. und Welzel, 1969, S. 206.

E. Kritische WUrdigwtg der Abgrenzungsmerkmale

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E. Kritische Würdigung der einzelnen dargestellten Abgrenzungsmerkmale J. Vorüberlegung Im Folgenden soll es nicht darum gehen, die einzelnen Kriterien in der jeweiligen, teils besonderen Sichtweise ihrer Vertreter einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Insbesondere wird nicht diskutiert werden, ob Anhänger bestimmter Abgrenzungskriterien wirklich konsequent in deren Anwendung auf verschiedene problematische Fallgruppen sind. Auch bleibt der Gesichtspunkt unerwähnt, inwieweit sich die Befürworter spezieller Theorien zur Festlegung von Tun und Unterlassen im Widerspruch zu ihren ansonsten vertretenen dogmatischen Grundhaltungen, wie etwa dem Handlungsbegriff, befinden. Es soll vielmehr allein die sachliche Grundidee jedes einzelnen Kriteriums wie etwa beim Körperbewegungskriterium "KörperbewegungIKörperruhe" oder beim Kausalitätskriterium "KausalitätlNichtvorhandensein von Kausalität" - beleuchtet und auf ihre Tauglichkeit bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen hin überprüft werden. Denn wenn schon der Kerninhalt bestimmter Abgrenzungsmerkmale nicht zu überzeugen vermag, können auch darauf aufbauende besondere Ausgestaltungen für eine Unterscheidung von Tun und Unterlassen nicht ergiebig sein. Und erst recht spielen dann auftretende Ungereimtheiten bei der Anwendung des Kriteriums keine Rolle mehr.

11. Auseinandersetzung mit dem Körperbewegungskriterium Ein wesentlicher Vorzug des Körperbewegungskriteriums ist die eingängige Umschreibung und Unterteilung menschlicher Verhaltensformen, indem das Tun anschaulich als Bewegung und das Unterlassen lebensnah als Körperruhe

269 Siehe Eser, 1980 a, Fall 25 A 22; Roxin, 1969, S. 384; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 45. 270 Freilich kommen auch andere, die nicht der Lehre vom "Unterlassen durch Tun" folgen, in den hier genannten Fallbereichen (Fälle des Rücktritts vom GebotserfUllungsversuch, Abbruch fremder Rettungsbemühungen, Fälle der "ornissio libera in causa" oder Problematik der aktiven Teilnahme am Unterlassungsdelikt) zum gleichen Ergebnis; nur beispielhaft sind zu nennen SchönkelSchröderlStree, 1997, Vorbern §§ 13 ff. Rn. 144, 159, 160; Kühl, 1994, § ISllRn. IS,20 -22; Wesseis, 1996, § 1612 Rn. 702, § 16 II 10 Rn. 733.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

definiert werden. Derart ist ein Auffinden der beiden Elemente Tun und Unterlassen in einem Lebenssachverhalt unproblematisch möglich. Denn es wird wertfrei anband reiner Beobachtung die Verhaltensweise bestimmt, wobei sich das äußere Erscheinungsbild der Vornahme einer Körperbewegung (= Tun) von dem der Nichtvomahme einer Körperbewegung (= Unterlassen) mühelos unterscheiden läßt271 . Allerdings wurde schon bald erkannt, daß das Recht nicht lediglich bei einer naturalistischen Betrachtung stehen bleiben kann, will es menschliches Verhalten als Grundlage strafrechtlicher Bewertung richtig erfassen272 . Vielmehr muß es bei der rechtlichen Einstufung von bestimmten Verhaltensformen immer auch um deren Sinn und soziale Bedeutung gehen273 . Eine veranschaulichende Darstellung dieser Auffassung findet sich bei Spendei, nach dessen Ansicht "der Jurist die Tatbestandsmerkmale nicht rein 'naturalistisch' auffassen kann"274, und der der Auffassung Radbruchs folgt, daß beispielsweise eine Beleidigungshandlung nicht "als eine Reihe von Kehlkopfbewegungen, Schallwellenerregungen, Gehörreizungen und Gehirnvorgängen" verstanden werden dürfe27S . Gleichwohl ist hinzuzufiigen, daß Spendel auch davor warnt, "von einem Extrem ins andere" zu "fallen"276, also eine normative Bewertung der Dinge so weit zu treiben, daß die rein naturalistische Betrachtung in eine rein normativistische Blickrichtung umschlage: "Denn die im Recht zu erfassende Wirklichkeit" sei "zwar zweck - und wertbezogen, aber in erster Linie eben doch eine sinnerftillte Tatsachenwelt"277. Trotzdem bleibt festzuhalten, daß es sich bei der Strafrechtslehre um eine "normative Wissenschaft"278 handelt. Demzufolge kann es nicht ausschließlich darum gehen, bei der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen "in einer seltsamen Physikstunde eine etwas kindliche Mechanik zu dozieren"279. Im Gegenteil: Es muß stets eine strafrechtliche Bewertung des tatsächlichen 271 I.d.S. etwa auch Welp, 1968, S. 104; Wesseis, 1996, § 16 12 Rn. 699. 272 Eb. Schmidt, 1939, S. 75 ff. 273 Ebenso Stoffers, 1992, S. 96. 274 Spendei, 1961, S. 191. 27S Radbruch, 1930,

S. 161; ihm folgend beispielsweise Spendel, 1961, S. 191 und Stoffers, 1992, S. 97. 276 Spendei, 1961, S. 192. 277 Spendel, 1961, S. 192.

278 Vgl. Wesseis, 1996, § 6 I I Rn. 155. 279 In dieser DeutlichkeitH. Mayer, 1953, S. 113.

E. Kritische WürdiglUlg der Abgrenzungsmerkmale

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Geschehens stattfinden. Denn es erfolgt die Überprüfung menschlichen Verhaltens anband von Normen, die nicht auf den Einzelfall zugeschnitten sind, sondern abstrakt gestaltete, ausfüllungsbedürftige Tatbestandsmerkmale enthalten. Bei einem rein naturalistischen Rechtsverständnis würde sich das Recht in vollständige Abhängigkeit von tatsächlich Vorgegebenem begeben, und es bliebe kein Platz für die Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Normen. Zufällige und ungerechte Ergebnisse könnten die Folge sein. Insbesondere die heute vorherrschende Sichtweise, daß über die empirische Kausalität hinaus auf der Tatbestandsebene die Notwendigkeit normativer Zurechnung strafrechtlich relevanten Verhaltens besteht, läßt sich mit einer allzu naturalistischen Betrachtung der Dinge auf der Handlungsebene wohl nur schwerlich vertragen280 . Und die Kategorie der Zurechnung würde überfordert, wenn sie Probleme mitlösen müßte, die eindeutig zur darüber liegenden Prüfungsstufe281 der Handlung gehören. Im Bereich der Unterscheidung von Tun und Unterlassen läßt sich die Gefährlichkeit einer rein naturalistischen Sicht anband folgenden Beispiels verdeutlichen. Angenommen, ein Arzt hat die Wahl zwischen zwei gleichwertigen Behandlungsmöglichkeiten: Er könnte entweder eine manuelle Behandlung durchfUhren oder aber sich eines technischen Hilfsmittels bedienen, welches zur Beendigung ausgeschaltet werden muß. Wenn jetzt die Einstellung der jeweiligen Behandlung identische Auswirkungen auf den weiteren Krankheitsverlauf des Patienten hat, dann kann die strafrechtliche Folgerung nicht unterschiedlich ausfallen, selbst wenn die Beendigung der manuellen Behandlung schlichte Körperruhe und die Beendigung der technisch unterstützten Behandlung Aktivität erfordert. Abstellend auf die Vornahme oder Nichtvomahme von Körperbewegung käme aber das eine Mal ein Unterlassungsdelikt und das andere Mal ein Begehungsdelikt in Frage282 . Und wie bereits gezeigt wurde, kann die Einstufung in die jeweilige Deliktsart unterschiedliche Auswirkungen auf die Frage der Strafbarkeit bzw. Straflosig280 Vgl. auch Ranft, 1987, S. 860, wonach eine "naturalistisch-ontologische" Sicht nur auf einen mechanisch-naturwissenschaftlichen Kausalitätshegriff verweisen könne, der die Zurechnung nicht trage. 281 Besser noch: "VorpIÜfungsstufe", vgl. Kahl, 1994, § 2 Rn. 3. 282 Jedenfalls soweit man auf das in heiden Fällen augenscheinlich dominante körperliche Verhalten abstellt und zunächst die Tatsache außer Betracht läßt, daß es sich heim Fall der BeendiglUlg einer technisch unterstützten Behandlung auch um ein mehrdeutiges Verhalten handelt, also zugleich die Begründung eines Unterlassens in Betracht zu ziehen ist.

2. Teil: Tun und Unterlassen

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keit haben. Als allein entscheidendes Abgrenzungskriterium ist daher das naturalistische Körperbewegungskriterium abzulehnen. Auch ergeben sich Anwendungsschwierigkeiten beim Vorliegen mehrdeutiger Verhaltensweisen. Eine Entscheidung für eine von zwei gleichzeitig erkennbaren Handlungsformen läßt sich allein mit Hilfe des Körperbewegungskriteriums nicht treffen. Vielmehr ist ein zusätzliches Merkmal notwendig, das bestimmt, ob die Körperruhe oder die Körperbewegung im Ergebnis ausschlaggebend sein soll. Nicht stichhaltig ist allerdings der vorgebrachte Kritikpunkt, daß Unterlassungen mit Hilfe des Körperbewegungskriteriums nicht zu begründen seien, da es den Zustand völliger Körperruhe nicht gebe283 . Daß der Zustand absoluter Ruhe nur sehr selten vorzufinden ist, trifft mit Sicherheit zu. Doch kommt es darauf bei der Beschreibung der strafrechtlich interessierenden Handlungsform der Unterlassung gar nicht an. Verkannt wird bei diesem Einwand gegen das Körperbewegungskriterium, daß es bei der Frage der Unterlassung nicht um den Zustand absoluter Körperruhe geht, sondern daß einzig das Unterlassen einer "erwarteten Handlung" und die darauf bezogene Körperruhe von Relevanz sind. Man muß also nicht - wie Sto.IJers meint - "zur Salzsäule erstarren"284, um zu unterlassen, sondern es ist insoweit nur Untätigkeit im Hinblick auf die gebotene Handlung erforderlich.

111. Auseinandersetzung mit dem Energieeinsatzkriterium Auch der Ansicht, die eine Lösung allein in dem Kriterium "Aufwenden bzw. Nichtaufwenden von Energie (in bestimmter Richtung)" sucht, haftet eine zu naturalistische Betrachtung der Dinge an. Denn bei einer konsequent an der natürlichen Wortbedeutung von Energieeinsatz orientierten Durchführung der Abgrenzung von Tun und Unterlassen müssen Wertungen vollkommen unberücksichtigt bleiben285 . Daß eine Beurteilung der Handlungsform 283 Derart Stoffers, 1992, S. 97. 284 Stoffers, 1992, S. 97.

285 Auch Ranft, 1987, S. 860 hebt hervor, daß das Energieeinsatzkriteriurn wertneutral ist. Doch soll dies insbesondere in Fällen der Ingerenzgarantenstellung (in denen stets ein Energieeinsatz in bestimmter Richtung vorliege) dazu ftlhren, daß sich nicht klären lasse, "wann das Begehungsverhalten und ggf das Begehungsdelikt endet und wann die Unterlassung ggf das Unterlassungsdelikt beginnt". Gleiches gelte etwa filr Fälle der BeschützergarantensteIlungen aus verantwortlicher Übernahme eines Gefahrenbereichs.

E. Kritische WÜfdigWlg der Abgrenzungsmerkmale

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al/ein nach naturalistischen Kriterien dem Wesen unserer Strafrechtslehre widerspricht und daher abzulehnen ist, wurde bereits dargestellt. Nicht zuletzt auch Engisch mußte erkennen, daß der von ihm sonst favorisierte Gesichtspunkt der Energieaufwendung bisweilen zu Ergebnissen fiihrt, die korrekturbedürftig erscheinen. Besonders dann, wenn äußere Zufälligkeiten - meist aufgrund technischer Gegebenheiten - die Verhaltensweise beeinflussen, sei eine Berichtigung des mit Energiegesichtspunkten gefundenen Ergebnisses notwendig. So soll nach Engisch das Abschalten des Reanimators durch den Arzt, trotz offenkundiger Aufwendung von Energie in Form des notwendigen "Knopfdrucks", die Bedeutung eines Unterlassens erlangen286 . Es entsteht dabei der Eindruck, daß dies nur deshalb geschieht, um ein gewünschte Ergebnis, nämlich Beurteilung des Falles nach Unterlassungsgrundsätzen, erzielen zu können. Daß mit dieser Vorgehensweise ein entgegen der Wortbedeutung Energieeinsatz287 erzieltes Ergebnis vorliegt, mußte selbst Engisch einräumen: "Daß mit dem [... ] gesetzten Wörtchen 'bedeutet' ein 'normatives' Element der 'sozialen Sinnhaftigkeit' in die Überlegungen eingefiihrt ist, kann nicht geleugnet werden"288. Hinzu kommt, daß das einschränkend von Engisch verwendete Merkmal "Bedeutung" einer Verhaltensweise nicht näher bestimmbar und infolgedessen aus Gründen notwendiger Rechtssicherheit unbrauchbar ist289 . Weitaus gravierendere Kritik trifft aber bereits den Begriff des Energieeinsatzes. Dieser ist zu weit und deshalb konturenlos29o . Denn Einsatz von Energie - gerade soweit nach "innen gerichtete Energie" im Sinne von "Sich286 I.d.S. Engisch, I 973a, S. 178. 287 Auch wenn Engisch, 1973a, S. 173 betont, daß er den Begriff Energieeinsatz nonnativ verstanden wissen will, wn so nach außen nicht in ErscheinWlg tretende "LeistWlg" oder "Anstrengung" als positives TWl erfassen zu können, bleibt die WiderspfÜchlichkeit seines Ergebnisses des Unterlassens in Fällen eines eindeutigen, nach außen hin erscheinenden Energieeinsatzes infolge von Körperbewegung bestehen. Denn auch mit einem derartigen nonnativen - also im Sinne von Engisch weitem Verständnis der Energie, läßt sich dessen sogar naturalistisches Vorliegen nicht als "Nichteinsatz von Energie" im Sinne eines Unterlassens (vgl. auch Engisch, 1973a, S. 174) erklären. 288 Vgl. Engisch, I 973a, S. 178. 289 Auch Samson Wld Schlachter weisen auf die Unsicherheit beim Energiekriteriwn hin, die durch das Wort Bedeutung entsteht; vgl. Samson, 1974, S. 587; Schlachter, 1976, S. 796. Ebenso geht Stoffers, 1992, S. 101 beim Energieeinsatzkriteriwn von einer fehlenden Praktikabilität bei der Abgrenzungsproblematik aus. 290 Älmlich in der Kritik auch Eser, 1980 a, Fall 25 A 14.

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

zusammennehmen, Gespanntsein, Nachdenken" genügen soll291 - steckt wohl in fast jeder Verhaltensweise (ausgenommen beispielsweise der Schlaf) und kann damit von vornherein nicht taugliches Abgrenzungskriterium sein. Bei wirklich konsequenter Anwendung einer fiir möglich gehaltenen "nach innen gerichteten" Energie läßt sich vielmehr die Erscheinungsfonn des Unterlassens sogar ganz in Frage stellen. Schließlich wird man gleichfalls für das Unterlassen wenigstens ein vom menschlichen Willen gesteuertes Verhalten verlangen müssen, was aber vielfach bereits nach innen gerichtete Energie im Sinne von "Sichzusammennehmen oder Nachdenken" - und damit wieder aktives Tun bedeutet. Allein das "Nachdenken" über die erwartete Handlung als aktives Tun zu werten, ist aber bedenklich weit. Ein auf diese Weise willkürlich zustandekommendes Ergebnis292 läßt sich auch nicht mit dem Zusatz "Energieeinsatz in bestimmter Richtung" venneiden. Denn jedes Verhalten in Fonn von Energieeinsatz läßt sich wohl je nach Auslegung mal in die eine und mal in die andere Richtung verstehen293 .

IV. Auseinandersetzung mit dem Kausalititskriterium 1. Kausalität bei der Unterlassung Die Brauchbarkeit des Kausalitätskriteriums hängt ganz entscheidend von der Richtigkeit seiner Kernaussage einer bei der Unterlassung nicht erklärbaren, naturwissenschaftlich verstandenen Kausalität ab. Denn sollte sich bei näherer Untersuchung herausstellen, daß auch das Unterlassen in kausalgesetzlicher Beziehung zu einem eingetretenen Erfolg stehen kann, und zwar im Sinne eines naturgesetzlichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs, müßte sich der Gesichtspunkt der Kausalität zur Bestimmung der Handlungsfonn als unbrauchbar erweisen. Dann träfe er nämlich auf beide Handlungsweisen zu und könnte somit kein Unterscheidungsmerkmal mehr bilden.

291 Derart Engisch, 1939, S. 423, 424; ders., 1973, S. 171, 172. 292 Etwa Zimmermann, 1977, S. 2105 spricht davon, daß sich das Energiekriterium "zu einem fast beliebig auffilllbaren Topos verflüchtigt". 293 Insbesondere rein "naturalistisch-ontologisch" läßt ich dieses Merkmal jedenfalls nicht begreifen; derart zutreffend Ranft, 1987, S. 860.

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

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Doch auch soweit mit der heute überwiegenden Ansicht beim Unterlassen zumindest eine "Quasi-Kausalität"294 oder "hypothetische Kausalität"295 unter Verwendung einer gegenüber dem aktiven Tun modifizierten Kausalitätsforme(296 vorausgesetzt wird, kann das Kausalitätskriterium keine taugliche Abgrenzungshilfe sein. Denn dann muß die Festlegung der Handlungsform angesichts der Wahl zwischen zwei verschiedenen Kausalitätsformeln (= beim Tun: Hinwegdenken einer Handlung; beim Unterlassen: Hinzudenken einer Handlung) notwendigerweise der Kausalitätsprüfung vorausgehen297 . Insoweit ganz anders stellt sich die Sachlage nur dann dar, wenn bei konsequenter Anwendung des Kausalitätskriteriums nicht bloß auf eine unterschiedliche Kausalitätsformel, sondern vornehmlich auf die Erkenntnis abgestellt wird, daß Kausalität bei der Unterlassung ihrem Wesen nach nichts mit derjenigen beim aktiven Tun gemeinsam hat. Der oben ausschließlich auf die Kausalitätsformel bezogene Einwand kann unter dieser Prämisse nicht mehr tragfähig sein. Denn dann unterscheidet nicht die jeweilige Kausalitätstheorie das Tun vom Unterlassen, sondern die Antwort auf die Frage, ob ein "Auslösen und Steuern einer Kausalreihe"298 vorliegt - wenn "ja", ist ein Tun gegeben, wenn "nein", ein Unterlassen. Im Folgenden wird es in erster Linie um die Klärung gerade dieser letzten Fragestellung gehen: Ist allein beim Tun eine Kausalität im naturwissen-

294 Angesichts dessen, daß ein Unterlassen als solches nichts zu bewirken vermöge und Kausalität nicht als "Denkzusammenhang", sondern als "ontologische Realität" zu begreifen sei, will Schönke/Schröder/Stree, 1997, § I3 Rn. 61 beim Unterlassen allenfalls von einer "Quasi-Kausalität" ausgehen, also von einer "Kausalität der nichterfolgten Handlung, die hypothetisch zum eingetretenen Erfolg in Beziehung gesetzt wird"; so etwa auch Fuchs, 1995, 9. Kap. I I; Haft, 1996, 7. Teil § 3, S. 175; Kühl, 1994, § 18 m 3 Rn. 35; Ladener, 1995, Vor § 13 Rn. 12. 295 Da bei der Unterlassung bezüglich der Kausalität nicht ein wirklicher, der Realität entsprechender Verlauf zugrunde gelegt werden könne, sondern allenfalls ein Möglichkeits- oder Wahrscheinlichkeitsurteil denkbar sei, sprechen hier nur von einer "hypothetischen Kausalität" etwa BockelmannIVolk, 1987, § 17 B I I b; DreherlTriJndle, 1995, Vor § I3 Rn. 20; Jakobs, 1991,7/26 u. 29/15; LK-Jescheck, 1993, § I3 Rn. 17; Jescheck/Weigend, 1996, § 59 m4; Eb. Schmidt, 1939, S. 87; Seelmann, 1987, L 34; Stoffers, 1992, S. 110; Welp, 1968, S. 170; Welzel, 1969, S. 212.

296 Vgl. nur Kühl, 1994, § 18 m3 Rn. 36; Wesseis, 1996, § 16 II 3 Rn. 711. 297 So auch Struensee, 1993, S. 140. 298 Darauf steIlt etwa Stoffers, 1992, S. 108 ab. Des weiteren versteht Welp, 1968, S. 170 den KausalbegritT im Sinne einer "Erhaltungs- und Auslösungskausalität" .

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2. Teil: Tun und Unterlassen

schaftlichen Sinne erklärbar oder darüber hinaus in gleicher Weise beim Unterlassen?

a) "Quasi-Kausalität" oder "hypothetische Kausalität"? Um die Bedeutsamkeit der Thematik einer Kausalität beim Unterlassen zu veranschaulichen, soll bereits hier auf zwei gravierende Unstimmigkeiten innerhalb der vorherrschenden Auffassung hingewiesen werden, die beim Unterlassen vom Vorhandensein einer "Quasi-Kausalität" oder "hypothetischen Kausalität" ausgeht. Ließe sich nämlich problemlos im Strafrecht mit "QuasiKausalität" arbeiten und könnte man damit auch bei der Prüfung von Erfolgsdelikten auskommen, dann wäre die Fragestellung vom Vorhandensein "echter" Kausalität beim Unterlassen nahezu entbehrlich. Im Folgenden wird aber gezeigt werden, daß die Annahme einer "Quasi-Kausalität" Widerspriichlichkeiten offenbart und letztlich dazu dient, ersichtlich unliebsame Tatsachen zu verschleiern. Zunächst scheint der Bedarf derartiger Hilfskonstruktionen rur eine Kausalitätsbegriindung bei der Unterlassung wenig einleuchtend zu sein. Es drängt sich die Frage auf, warum man sich nicht mit dem hinter dem Gebilde "QuasiKausalität" bzw. "hypothetischer Kausalität" in Wirklichkeit stehenden Ergebnis, einer beim Unterlassen nicht vorhandenen echten Kausalität, begnügen will, und stattdessen mit dem Konstrukt einer fiktiven Kausalität arbeitet. Bei näherem Hinsehen wird die Notwendigkeit deutlich, solche Rubriken wie "Quasi-Kausalität" und "hypothetische Kausalität" zu schaffen. Es geht um den Versuch, eine unhaltbare Schlußfolgerung zu vermeiden, die mit dem offenen Leugnen einer Kausalität beim Unterlassen einhergehen müßte: Und zwar das Eingestehen, daß es Erfolgsdelikte in Form des Unterlassens gäbe, bei denen der Täter bestraft würde, ohne daß Strafgrund die Erfolgsverursachung wäre299 . Dieses Ergebnis ließe sich nämlich mit dem Gesetzeswortlaut nicht in Einklang bringen (vgl. §§ 222, 230 StGB: "verursacht"). Der Versuch, mittels künstlicher Kausalitätsprüfung dem Gesetz treu zu bleiben, geht jedoch fehl. Erfolgsverursachung im eigentlichen Sinne läßt sich nicht mit "Quasi-Kausalität" oder "hypothetischer Kausalität" gleichstellen. Denn diese Gesichtspunkte haben nichts mit dem Setzen einer naturwissen-

299 Baumann, 1977, § 18 II 2 sieht dies als tragendes Argwnent dafilr an, daß das Leugnen einer Kausalität beim Unterlassen nicht richtig sein könne.

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

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schaftlich notwendigen Bedingung fiir einen Erfolgseintritt als Basis fiir eine erste Verantwortungszuschreibung gemein. Vielmehr degeneriert derart die Kausalitätsprüfung bei den Erfolgsdelikten im Unterlassungsbereich - angesichts eingestandener tatsächlich nicht vorhandener Kausalität - zu einem rein formalen Legitimationsakt. Sie ist daher streng genommen inhaltsleer und wird materiell nicht den Anforderungen an eine zwingend vorgeschriebene Erfolgsverursachung bei Erfolgsdelikten gerecht. Neben der aufgezeigten inhaltlichen Schwäche fIktiver Kausalität, besteht aber auch eine Ungereimtheit in der Darstellungsweise solcher Kausalität. Denn man begnügt sich nicht mit dem Hinweis auf das Vorliegen hypothetischer Kausalität beim Unterlassen, sondern will diese mit einer Kausalitätsformel dokumentieren30o . Wie kann aber tatsächlich nicht vorhandene Kausalität, also "Quasi-Kausalität" oder "hypothetische Kausalität", mit einer Kausalitätsformel dargestellt werden? Wenn es eingestandenermaßen keine Kausalität gibt, muß doch auch jeder Nachweis der Kausalität mit Hilfe einer Formel scheitern301 . Es kann daher festgehalten werden, daß es in sich widersprüchlich ist, von einer "Quasi-Kausalität" oder "hypothetischen Kausalität" beim Unterlassen auszugehen und gleichzeitig an dem zutreffenden Dogma notwendiger Erfolgsverursachung zur StrafbarkeitsbegrüDdung bei Erfolgsdelikten festzuhalten. Darüber hinaus bedarf es bei tatsächlich nicht vorliegender Kausalität keiner Kausalitätsformel. Notwendigerweise ist daraus der Schluß zu ziehen, daß im Rahmen der Kausalitätsproblematik bei der Unterlassung einzig zwei Alternativen denkbar sind: Entweder es gibt kausales Unterlassen oder es gibt kein kausales Unterlassen - dann allerdings mit den oben angesprochenen Schwierigkeiten einer Strafbarkeitsbegründung im Bereich des Erfolgsdelikts. Eine Zwischenform in Gestalt einer "Quasi-Kausalität" oder "hypothetischen Kausalität" kann jedenfalls nicht zufrieden stellen, sie ist ohnehin in Wirklichkeit eine Entscheidung gegen die Kausalität beim Unterlassen. Dies gilt es fiir die folgende Untersuchung in der Weise zu beachten, daß eine Lösung des Problems "Kausalität beim Unterlassen" über derartige Hilfs-Konstruktionen versperrt ist.

300 Siehe stellvertretend Lackner, 1995, Vor § 13 Rn. 12. 301 Daß Kausalitätsfonneln bloß methodische Hilfsmittel ohne unmittelbaren Erkenntniswert filr das Vorhandensein von Kausalität sind, wurde bereits oben unter 2. Teil D. I. 1. b) ce) (1) festgestellt.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

b) Unterlassen als sog. "Nichts"?

Auf den ersten Blick erscheint es plausibel, im Falle eines Unterlassens von einer fehlenden (zumindest realen) Kausalität auszugehen. Denn schließlich wird der Unterlassende gerade deswegen bestraft, weil er nicht in die Außenwelt eingegriffen, sondern vielmehr den Dingen ihren Lauf gelassen, also nichts getan hat. So vertrat auch bereits Radbruch die Auffassung, daß aus "nichts nichts werden kann"302. Allerdings lassen sich hinsichtlich einer solchen Sichtweise, die das Unterlassen als bloßes "Nichts" abqualifiziert, auch eine ganze Reihe von Gegenstimmen in der Lit. finden. So wendet sich ausdrücklich gegen diesen Standpunkt Androulakis, der die Unterlassung ganz im Gegenteil als etwas "Seiendes", und zwar "als (das Seiende) Seinlassen" begreift303 . Oder Spendel umschreibt die Unterlassung als "gebundene Kraft", als "Negation einer getätigten Handlung"; er versteht das Unterlassen als "negative Größe", mit der ebenso wie mit positiven Größen zu "rechnen" sei304. Ähnlich auch Baumann: ''[. .. ] körperliches Verhalten, und sei es auch Passivität, ist kein soziales Nichts"30S. Schließlich kann noch Armin Kaufmann exemplarisch genannt werden, der auf ein "reales Substrat" bei der Unterlassung als "menschliche Verhaltensweise" hinweist306 . Er gelangt zu diesem Schluß über die "Handlungsfiihigkeit", die notwendiges Element für den Unterlassungsbegriff sein soll, und die der Unterlassung ihre "feste Gestalt" geooJ°7 . Wie im Folgenden gezeigt werden wird, scheinen die letztgenannten Auffassungen gegenüber der Ansicht Radbruchs im Ergebnis zustimmungswürdig zu sein. Im Falle der Gestalt des Unterlassens als "Nichts" ist eine Erklärbarkeit der Strafwürdigkeit des (unechten) Unterlassungsdelikts problematisch: Denn ein "Nichts" sanktionieren zu wollen, läßt sich angesichts eines dann fehlenden realen Anknüpfungspunkts für persönliche Vorwerfbarkeit nur schwerlich mit

302 Derart Radb11lch, 1904, S. 132; ganz i.d.S. ist auch die Sichtweise bei Bubnoff, 1966, S. ISO; Haft, 1996, 7. Teil § I; Traeger, 1904, S. 61 ff.; Jakobs, 1972, S. 23. Lampe, 1989, S. 204 spricht im Zusammenhang mit dem Unterlassen von einem sog. "irrealen Unterlassen". 303 Androulakis, 1963, S. 83.

304 Vgl. Spendei, 1973, S. 139. 30S Baumann, 1977,

§ 18 112.

306 Annin Kaufmann, 1959, S. 49. 307 Annin Kaufmann, 1959, S. 49.

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

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dem das Strafrecht beherrschenden Schuldprinzip308 in Einklang bringen. Jedenfalls müßte der Schuldvorwurf, da er nicht nachvollziehbar wäre, willkürlich erscheinen309 . Dem entspricht es, wenn Arthur Kaufmann betont, daß es ein Rätsel sei, wie ein "ontologisches Nichts" Strafe nach sich ziehen könne310 . Bereits zuvor konstatiert er: "[ ... ] Strafe ist ja immer auf menschliches Handeln bezogen, sie ist eine Reaktion auf menschliches Handeln "311. Letztlich in die gleiche Richtung geht der Einwand von Maiwald, der im Falle fehlender objektiver Wirklichkeit der Unterlassung von einer dann unzulässigen Bestrafung eines "Vorgangs, der sich allenfalls im Kopf des bewußt Unterlassenden abspielt", ausgeht, was einem reinen Gesinnungsstrafrecht, also der Bestrafung eines bösen Gedankens, gleichkäme312 . Bereits aus dieser Perspektive muß die Sicht einer Unterlassung als bloßes "Nichts" unhaltbar sein und mithin das Unterlassen als Teil der objektiven Wirklichkeit - und zwar, wie Maiwald meint, neben dem aktiven Tun eben als eine andere Form der Wirklichkeit313 - verstanden werden314 . Diese Wirklichkeit läßt sich zwar nicht mit einer schlichten Willensbetätigung, wie die der bewußten Hemmung eines Bewegungsreizes (so der sog. "Interferenzgedanke"315), begründen, da diese Willensbetätigung angesichts ihres rein im Inneren stattfindenden Vorgangs ebenfalls nicht der objektiv faßbaren Realität angehört. Doch muß tragend der Gesichtspunkt sein, daß das Unterlassen neben dem aktiven Tun eine andere Form menschlichen Verhaltens mit sozialerheblichen Folgen ist.

308 Vgl. auch Kahlo, 1987, S. 67; ders., 1990, S. 307; Matt, 1994, S. 201. 309 Siehe auch HohmannIMatt, 1990, S. 548. 310 Arthur Kaufmann, 1966, S. 103. Diese Bedenken hinsichtlich der Strafbarkeit eines "Nichts" werden allerdings von SchUnemann, 1971, S. 10, 11 nicht geteilt. 311 Arthur Kaufmann, 1966, S. 81. 312 DerartMaiwaId, 1981, S. 475 f. 313 EtwaMaiwaId, 1981, S. 476. 314 Im Ergebnis so auch Puppe. Sie versteht das Unterlassen als "Sachverhalt" und insofern als Teil objektiver Wirklichkeit; vgl. NK-Puppe, 1995,1.2 Vor § 13 Rn. 61: "Wenn [... ] eine Unterlassung sich darin erschöpft, ein irgendwie bestimmtes Verhalten zu verneinen, so kann sie nur etwas sein, was durch einen Satz ausgedrückt wird, also ein Sachverhalt und, sofern der Satz wahr ist, eine Tatsache". 315 Siehe zur Interferenztheorie die Nachweise bei Gal/as, 1989, S. 6, dort Fn. 2 sowie Jescheck/Weigend, 1996, § 59 m2, dort Fn. 19. 7 Schneider

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

Das die Realität Ausmachende ist daher beim Unterlassen die mit der Nichtvornahme einer von Dritten erwarteten316 Handlung (Unterlassen meint ja gerade nicht schlichtes nichts tun, sondern etwas - das Einkalkulierte - nicht zu tun!) zusammenhängende tatsächliche Auswirkung auf das soziale UmfelJ317. Infolgedessen erscheint es durchaus gerechtfertigt, wie Androulakis die Unterlassung als ein Seiendes Seinlassen zu umschreiben318 . So ist beispielsweise die von der Mutter bzw. vom Vater erwartete, aber unterlassene Ernährung des wenige Monate alten Kleinkindes insofern Teil der objektiven Wirklichkeit, als damit eine sozialerhebliche Auswirkung verbunden ist, nämlich das Verhungern des Kindes. Und es ist sogar anband der eingetretenen Folgen rur das Kind nach außen hin erkennbar, daß die Eltern (oder andere Garanten) die von ihnen erwartete Handlung unterlassen haben. Umgekehrt bedeutet dies zwangsläufig auch, daß es Unterlassungen gibt, die nicht Teil einer strafrechtlich relevanten Wirklichkeit sind, weil sie eben keinerlei sozialerhebliche Auswirkungen haben, auch wenn dies freilich nur selten der Fall sein wird. Ob eine Unterlassung sozialerhebliche Auswirkungen hat, läßt sich im vorhinein bereits mit dem Merkmal der "Erwartung" feststellen: Denn es wird von der Rechtsordnung im Rahmen des § 13 StGB oder etwa des § 323 c StGB wohl nur diejenige Vornahme einer Handlung erwartet, die mit der Unterlassung verbundene sozialerhebliche Negativfolgen vermeidet. Die Erkenntnis einer der Realität angehörenden Unterlassung ist zunächst einmal Grundvoraussetzung, um Kausalität beim Unterlassen in Erwägung ziehen zu können. Denn daß ein reines "Nichts" keine Bewirkensqualität besitzen kann, ist unschwer nachvollziehbar. Ohne nähere ausdrückliche Auseinandersetzung mit dieser Problematik scheint sich wohl auch die h.L. zumindest diesem Ergebnis einer der Wirklichkeit angehörenden Unterlassung anzuschließen. Sonst ließe sich nicht erklären, daß nahezu unstreitig rur Erfolgsdelikte - auch wenn sie in Form des

316 Eingehend zwn Begriff des "erwarleten" TWls Wld dessen Folgen filr den UnterlassWlgsbegriff Gallas, 1989, S. 24 ff. 317 Hiernach kann dem Unterlassen objektive Realität attestiert werden, da zwn einen das Ausbleiben einer von Dritten erwarteten HandlWlg und zwn anderen dessen Auswirkung nach außen hin als Tatsache erkennbar sind. 318 Androulakis, 1963, S. 83.

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

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Unterlassens begangen werden - die Zurechnung des Erfolges319 , also eine (nonnative) Verknüpfung von Erfolg und menschlicher Handlungsweise, verlangt wird. Ebenso steht außer Frage, daß notwendige Bedingung rur einen Zurechnungszusammenhang die Kausalität zwischen Handlung und Erfolg ist, die ja beim Unterlassen zumindest in Fonn sog. "Quasi-Kausalität" oder "hypothetischer Kausalität" gegeben sein soll. Mit einem "Nichts" läßt sich aber nicht einmal "Quasi-Kausalität" oder "hypothetische Kausalität" begründen. Denn auch diese "Fonnen" der Kausalität müssen als Basis ihrer Überlegungen von etwas Vorhandenem als Bestandteil der objektiven Wirklichkeit ausgehen, weil sich ansonsten die Frage der Kausalität von vornherein erübrigen würde. Denn ein "Nichts" kann nicht rur einen eingetretenen Erfolg verantwortlich zeichnen, nicht einmal "quasi "-verantwortlich. c) Kausales Unterlassen im Sinne eines Zulassens des Erfolges

Im Rahmen der weiteren Untersuchung kann es nun nicht darum gehen, einen irgendwie neu gearteten Kausalbegriff rur das Unterlassen zu entwickeln. So wäre beim Unterlassen etwa an eine normativ verstandene Kausalität zu denken, die sich dann ja wiederum von der naturgesetzlichen Kausalität des aktiven Tuns unterscheiden würde. Vielmehr soll geprüft werden, ob das Unterlassen ebenso wie das Tun echte Bewirkensqualität besitzt, also insoweit die Kausalitätsaussagen bei beiden Handlungsfonnen ohne Unterschied sind. aa) Kausalität als "Ursache-Wirkungs-Zusammenhang" Basis rur weitere Überlegungen muß zunächst eine Umschreibung des Hauptgedankens der "Kausalität" in einer möglichst allgemeingültigen Kernaussage sein. Dabei ist von zentraler Bedeutung, daß dies unabhängig von irgendwelchen denkbaren Kausalitätsformeln - wie etwa der Äquivalenztheorie

319 Vgl. zur Notwendigkeit einer Zurechnung als Verantwortungszuschreibung Schönke/Schröder/Lenekner, 1997, Vorbem §§ 13 tT. Rn. 71. hn weiteren räwnt Lenekner (a.a.O.) darut allerdings ein, daß es beim Sonderfall des Unterlassens eine objektive Zurechnung ohne reale Kausalbeziehung gebe. Auf diese Weise wird jedoch dem Kriteriwn der Zurechnung die tatsächliche Basis entzogen, mit der Folge einer rein gedanklichen Verantwortungs- und Zuständigkeitszuschreibung. 7*

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2. Teil: Tun und Unterlassen

oder Theorie der gesetzmäßigen Bedingung320 - geschieht. Denn jene lassen sich ohnehin bloß als fallorientiertes Vehikel zum Nachweis vorhandener Kausalität verstehen, da sie nicht in der Lage sind, tatsächliche Kausalität ihrem Wesen nach zu definieren321 . Als heute wohl nahezu unbestrittener inhaltlicher Grundgedanke der Kausalität läßt sich der auf Naturgesetzen ZUTÜckfiihrbare Zusammenhang zwischen einer Ursache und einer nachfolgenden notwendigen Wirkung festhalten 322 - oder anders Init den Worten von Struensee ausgedtiickt: Kausalität als "gesetzliche, d.h. allgemeingültige, Relation zwischen zwei zeitlich 320 Als Begründer der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung ist Engisch anzusehen, vgl. Engisch, 1931, S. 21. Ausftlhrlich zur Fonnel der gesetzmäßigen Bedingung aus heutiger Sicht: Hilgendoif, 1995, S. 514 ff. 321 So auch Hilgendoif, 1994, S. 564; JeschecklWeigend, 1996, § 28 11 4; Schönke/SchröderlLenckner, 1997, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 74; Puppe, 1980,863 ff. 322 Bereits v.Buri begriff den Kausalzusanunenhang als einen "Prozeß der Entstehung einer Erscheinung", wobei er zur Ennittlung des Kausalzusanunenhangs "sämtliche Kräfte" einbeziehen wollte, "welche für die Entstehung der Erscheinung irgend eine Wirksamkeit geäußert haben" (vgl. v.Buri, 1873, S. I). Die dabei auftretende Frage der "Wirksamkeit" einer Kraft sollte nach seiner Auffassung dann am "Naturgesetz" festgemacht werden, vgl. v.Buri, 1873, S. 3. Gegen die Vorstellung, daß die Ursache mit der Folge nur durch eine Kraft vermittelt sein könne, wendet sich zu Recht aber insbesondere Puppe (vgl. NK-Puppe, 1995, 1.2 Vor § 13 Rn. 84); sie macht die Verknüpfung von Ursache und Folge an dem sog. Kausalgesetz fest, das eine abstrakte Regel ist, "nach der bestimmte Arten von Konstellationen hinreichend oder notwendig dafür sind, daß andere Konstellationen eintreten" (NK-Puppe, 1995, 1.2 Vor § 13 Rn. 84).

Vgl. des weiteren auch Spendel der unter Verursachung versteht, "daß alles Tatsächliche [... ) als Wirkung von einem ihm zeitlich vorausgehenden anderen Tatsächlichen als Ursache abhängt, anders ausgedrückt: daß jede tatsächliche Folge einen tatsächlichen Grund hat" (Spendei, 1973, S. 138). Zu erwähnen ist auch Schmidhäuser, 1975, 16/75 (oder ausftlhrlicher 8/53): "Kausalität meint die Verknüpfung einer Veränderung mit einer durch sie bewirkten anderen Veränderung". Hi/gendoif, 1994, S. 564, umschreibt Kausalität als das Vorhandensein einer empirisch nachzuweisenden Gesetzmäßigkeit in dem Sinne, daß wenn ein Ereignis vorliege, nach unserem Erfahrungswissen eine bestimmte Folge eintrete; ausdrücklich wendet er sich aber gegen die Beschränkung, daß der gesetzmäßige Zusammenhang auf Naturgesetzen beruhen müsse. Zuletzt soll noch Volk, 1996, S. 108 ff., genannt werden, der der Ansicht Engischs folgend unter Kausalität "einen gesetzmäßigen Zusanunenhang zwischen Verhalten und Erfolg" versteht und der weiter hervorhebt, daß die Wirkungsweise einer Ursache naturwissenschaftlich erklärt werden müsse.

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

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aufeinanderfolgenden Ereignissen (Ursache und Wirkung; sog. generelle Kausalität)"323. Wenn im weiteren von Kausalität die Rede ist, ist immer Kausalität in diesem Sinne eines naturgesetzlichen Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung gemeint. Zu überprüfen ist nun, ob auch das Unterlassen Ursache rur eine bestimmte Wirkung sein kann. Dabei soll es nicht um eine begrißliche Auseinandersetzung in der Weise gehen, ob sich das Unterlassen als kausal bzw. quasikausal bezeichnet läßt, sondern um eine inhaltliche Erörterung. Denn bei der Problematik, ob Kausalität als taugliches Abgrenzungskriterium innerhalb der Einordnung von Tun und Unterlassen in Betracht kommt, sind nicht BegriffIichkeiten maßgebend, sondern einzig, ob das Unterlassen in derselben Art und Weise wie das Tun eine bestimmte Wirkung entfaltet.

bb) Bewirkensqualität des "Zulassens" eines Erfolges Die Einwände, die gegen eine Unterlassenskausalität vorgebracht werden, und die ihren Ursprung in dem von Radbruch herrührenden Satz "ex nihilo nihil fit" haben 324, überzeugen nicht. Schon die Prämisse, daß das Unterlassen ein "Nichts" sei, kann - wie gezeigt wurde - keine Zustimmung erfahren. Und damit entfällt ein wichtiger Grundbaustein in der Argumentation nicht denkbarer Unterlassenskausalität. Im Anschluß daran, daß das Unterlassen Teil der objektiven Wirklichkeit ist, ist vielmehr davon auszugehen, daß es einen Erfolg real bewirken kann 325

323 Vgl. Struensee, 1993, S. 141. 324 Dazu oben 2. Teil E. IV. I. b). 325 Von einem Bewirken geht beispielsweise auch WoljJ, 1965, S. 36 tT., 37 aus, da

detjenige, dem der Verpflichtete gegenüber eine GarantensteIlung inne habe, von dem Garantenpflichtigen in bestimmter Hinsicht abhängig sei (ihm gleichsam "in die Hand gegeben" sei, vgl. WoljJ, a.a.O., S. 41), und dieser zwischen den verschiedenen realen Möglichkeiten, tätig zu werden oder nicht, frei wählen kÖlUle. Ganz ähnlich ist die Argumentationsweise bei Kahlo, 1987, S. 69 tT., der die Bewirkensqualität des Unterlassens mit dem Prinzip der Autonomie und mit dem Abhängigkeitsverhältnis von Personen zueinander begründet, dabei aber ausdrücklich klarstellt, daß sich die Unterlassungskausalität nicht in Parallele zur Naturkausalität bestimmen läßt; vgl. ferner Kalllo, 1990, S. 312 tT.; ders., 1990 a, S. 1522, dort insb. Fn. 15. Anders indessen Androulakis, 1963, S. 83 tT., der zwar im Ergebnis eine Kausalität beim Unterlassen bejaht, das Bewirken eines Erfolges allerdings ablellllt, weil die Un-

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2. Teil: Tun und Unterlassen

und somit als echte Ursache fiir einen Erfolg in Betracht kommt326 . Deshalb muß beim Unterlassen von einer Kausalität gesprochen werden, die deljenigen beim aktiven Tun prinzipiell entspricht327 . terlassung nicht Ursache filr das Entstehen eines Erfolges, sondern nur filr das Bestehen eines Erfolges sein körute. 326 Wie hier nehmen eine mögliche Kausalität beim Unterlassen - jedenfalls im Ergebnis - auch an: Androulakis, 1963, S. 83 tf.; Baumann, 1977, § 18 2; Blei, 1983, § 86 11; BiJhm, 1957, S. 25, 26; Engisch, 1931, S. 29 tf., ders., 1939, S. 426; ders., 1962, S. 190; GiJssel, 1984, S. 331; MaurachlGiJssel, 1989, § 46 I C Rn. 23; Herzherg, 1972, S. 276,277; Hilgendoif, 1994, S. 564; lAckner, 1994, Vor § 13 Rn. 12, der sich zwar nicht eindeutig äußert, aber wohl in Richtung einer zu bejahenden Kausalität tendiert; ferner H. Mayer, 1953, S. 112, 113; ME. Mayer, 1967, S. 128; Puppe, 1980, S. 899 tf.; dies., 1992, S. 33; NK-Puppe, 1995,1.2 Vor § 13 Rn. 105 ff.; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 1 Rn. 43; Spendei, 1973, S. 139; Toepel, 1992, S. 93 ff.; WoljJ, 1965, S. 36 ff. Die Möglichkeit, daß eine Unterlassung einen Erfolg "bedingen" kann, bejaht ferner v.Bar, auch werut dieser grundsätzlich zwischen (naturwissenschaftlicher) "Bedingung" und normativ verstandener "Kausalität im rechtlichen Sinn" differenziert und im Bereich der Unterlassung nur unter zusätzlichen besonderen Voraussetzungen eine Kausalität im rechtlichen Sinne befilrworten will (dabei aber die Begriffe Kausalität und Rechtspflicht zum Handeln nicht klar voneinander trerutt); vgl. v.Bar, 1871, S. 90 ff., 99 ff. Von einer unproblematisch möglichen Kausalität geht allem Anschein zufolge auch die Rspr. aus, vgl. nur BGH, JZ 1973, S. 173 (= "Ursächlichkeit der Unterlassung"); BGH, NStZ 1985, S. 26 f., 27 (= "Annahme des ursächlichen Zusammenhanges zwischen [00'] Unterlassung und tatbestandsmäßigem Erfolg") oder etwa neuestens BGH, MDR 1995, S. 1155 f., 1156, der im Falle einer Unterlassung als Tathandlung sogar einen, über eine schlichte Verursachung hinausgehenden, unmittelbaren Gefahrverwirklichungszusarrunenhang bei erfolgsqualifIzierten Delikten bejaht. Eine Sonderstellung nimmt Eh. Schmidt, 1939, S. 87,88; ders., 1942, S. 87, 88, 89 ein, der einerseits auf den grundlegenden Unterschied der Kausalität des aktiven Tuns gegenüber der des Unterlassens hinweist, aber andererseits etwa Kausalität bei einer unterlassenen, notwendigen ärztlichen Behandlung filr den Erfolg bejaht. Derut er will insoweit bei der Subsumtion nicht auf eine Unterlassung als solche, sondern auf die sich dem "sozialen Sinn nach" als Verwirklichung des Erfolges erweisende "Nichtabwendung des Erfolges" abstellen. Gegen eine "echte", "reale", "naturalistische" Kausalität bzw. ein "bewirkendes Verursachen" beim Unterlassen sprechen sich ausdrücklich aus: BockelmannIVolk, 1987, § 17 B I 1 b; DreherlIriJndle, 1995, Vor § 13 Rn. 20; Finger, 1932, S. 449, 450; Freund, 1992, S. 18 ff.; Fuchs, 1995,9. Kap. I I; Gantge, 1995, S. 20, 23, 26; Haft, 1996, 7. Teil § 3, S. 175, 176; Hardwig, 1957, S. 97; ders., 1962, S. 30; HohmannIMatt, 1990, S. 548; Hruschka. 1988, S. 283 dort Fn. 15; Jakobs, 1972, S. 22, 23; ders., 1991,7/26 u. 29/15; LK.Jescheck, 1993, § 13 Rn. 16; Jescheck/Weigend, 1996, § 59 m 4; Arthur Kaufmann, 1966, S. 103 ff.; KOpper, 1990, S. 46, 73; lAmpe, 1989, S. 192,204 ff., 205 dort insb. auch Fn. 53; Schmidhauser, 1975, 16n5; ders.,

n

E. Kritische Würdigung der AbgreßZWlgsmerkrnale

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Nun aber zur Argumentation im einzelnen: Das Gegebensein einer Ursache fiir einen Erfolg ist nicht notwendigerweise mit einem ausschließlich dem aktiven Tun zuzuschreibenden Eingreifen in das außenweltliche Geschehen, beispielsweise in der typischen Form eines "Werfens", "Schlagens" oder "Schießens", gleichzusetzen328 . Ganz im Gegenteil: Auch das Nichtverändern der Umgebung bzw. Nichteingreifen in einen außenweltlichen Prozeß, indem eine erforderliche Handlung ausbleibt, kann real einen Erfolg herbeifiihren329 oder steuem330 , wobei dieser dann regelmä1984,5/61; Schürmann, 1986, S. 54; Seelmann, 1987, L 34; Stoffers, 1992, S. 107 tT.; Schönke/SchröderlStree, 1997, § 13 Rn. 61; Traeger, 1904, S. 61 ff., 63, 68, 70, 72; Welp, 1968, S. 170, 172; Welzel, 1969, S. 212; nicht auf die Unterlassung, sondern auf den Unterlassenden bezogen Armin Kaufmann, 1959, S. 61 ff., der grundlegend zu dieser Problematik Stellung nimmt. Keinen eindeutigen Standpunkt zur Frage der "echten" Kausalität beim Unterlassen bezieht Arzt, 1980, 556, der dieses Problem jedenfalls praktisch für weitgehend bedeutungslos hält. 327 So auch H. Mayer, 1953, S. 112: "Die Unterlassung führt [... ) ebenso wie die Begehung einen anderen Verlauf des sozialen Geschehens herbei, als den vom Recht erwarteten" . 328 Zu Recht weist auch Engisch, 1931, S. 31 darauf hin, daß in den Kausalbegriff nicht das Erfordernis bestimmter "Kraft" hineingelesen werden dürfe, und Verursachen demzufolge nicht bedeute, "durch reale Kräfte Veränderungen bewirken"; Verursachen meine vielmehr "mit zeitlich nachfolgenden Erscheinungen in Gesetzmäßigkeitsbeziehungen zu stehen". Auch Puppe, 1980, 863 ff., 895 ff., wendet sich gegen die Vorstellung einer Ursache immer nur "als Kraft oder Agens" (vgl. auch NK-Puppe, 1995, 1.2 Vor § 13 Rn. 84).

Anders aber Traeger, 1904, S. 63: "Ursache einer Veränderung sind die den Dingen (Substanzen) innewohnenden Kräfte in ihren zeitlich-räumlichen Relationen". 329 Armin Kaufmann, 1959, S. 60, 61 räumt zutreffend ein, daß Nichtänderungen der Wirklichkeit Ursachen filr bestimmte Folgen sein können. Er hält es demzufolge durchaus filr möglich, daß auch das Ausbleiben einer bestimmten Handlung für ein Ereignis kausal sein kann. Freilich darf dabei nicht übersehen werden, daß Armin Kaufmann, 1959, S. 61 ff. eine Kausalbeziehung zwischen dem Unterlassenden und der unterlassenen Handlung aber gerade ablehnt und insofern nur von einer "potentiellen Kausalität" spricht, weil der Unterlassende hinweggedacht werden könne, ohne daß das Unterlassen entfiele. Allerdings wendet gegen diese Aussage zu Recht Engisch, 1962, S. 190 ein, daß ein Unterlassen ohne einen Unterlassenden wohl nicht vorstellbar sei. Schließlich läßt sich jede Handlungsweise stets einem bestimmten Menschen zuordnen. Schon nach außen hin läßt sich eindeutig feststellen, ob ein Mensch etwas getan oder unterlassen hat.

Etwa auch Giissel, 1984, S. 331, geht ausdrücklich davon aus, daß in der Unterlassung ein Gegenstand existiere, der Folgen haben könne.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

ßig eine Veränderung in der Außenwelt darstellt, etwa in dem Sinn, daß das zuvor noch lebende Opfer nun tot ist. Und dieses durch das Nichtverändern hervorgerufene Herbeifiihren oder Steuern eines Erfolges ist zu verstehen als das Zulassen eines Erfolges; genauer: als Zulassen in Form eines Ausbleibens der von der Rechtsordnung erwarteten, erfolgsverhinderungstauglichen Handlung. Das Element der "Erwartung" wurde ja als Basis für die Annahme einer Realität des Unterlassens angesehen331 . Beispiel 1: So bewirkt der Pilot durch das Unterlassen des von ihm erwarteten Gasgebens332 , also ausgerechnet durch das fehlende Eingreifen in einen bestehenden Geschehens- oder Wirkungsablauf, den Absturz eines Flugzeugs. Er läßt diesen zu. Wenig überzeugend wäre in diesem Zusammenhang der naheliegend scheinende Einwand, daß nicht die unterlassene Handlung des Piloten als solche, sondern vielmehr das physikalische Gesetz der Schwerkraft den Absturz bewirken würde. Denn als ganz wesentlicher Faktor ist zu werten, daß der Pilot durch das Unterlassen der von ihm erwarteten erforderlichen Handlung gerade erst den Anstoß zum nun ungehemmten Wirken der zuvor beeinflußten Schwerkraft gibt. Ganz vergleichbar gibt etwa der Schütze durch das Schießen mit einer Waffe - genauer: durch das Drücken des Abzugs - den Anstoß für die Wirkungsweise bestimmter, dann automatisch ablaufender physikalischer Vorgänge. Das Unterlassen, gemeint im üblichen Sinne als ein "den Dingen ihren Lauf Lassen", kann demzufolge durchaus Ursache für die Wirkung einer Veränderung in der Außenwelt in Form eines eingetretenen tatbestandlichen Erfolges sein. Anders ausgedrückt: Wer trotz Handlungsmöglichkeit, also der MöglichGanz anders als die hier vertretene Auffassung, daß ein Nichtverändern eines Geschehens, also ein Unterlassen, Ursache filr einen Erfolg auch im Sinne einer Veränderung in der Außenwelt sein kann, Androulakis, 1963, S. 83, der den ursächlich durch das Unterlassen eingetretenen Erfolg gerade in dem "Nichtverändertwordensein der Wirklichkeit" erblickt. 330 Etwa Wolff, 1965, S. 37 spricht aufgrund der Möglichkeit, in bestinunter Richtung tätig werden zu können, von einem "Gestalten" des insoweit noch "offenen" Geschehens durch das Unterlassen der erwarteten Handlung. 331 Siehe zur Realität des Unterlassens oben 2. Teil E. IV. l. b). 332 Zu trennen ist dabei das Unterlassen des Gasgebens von dem regelmäßig mit einer Körperbewegung verbundenen Loslassen des Gashebels. Denn unstreitig kann es bei der Frage eines rechtlich relevanten Unterlassens nicht darum gehen, daß überhaupt nichts getan wird, sondern allein darum, daß "etwas" (= eine erwartete Handlung) nicht vorgenommen wird; also hier bezogen auf den Beispielsfall, daß neben dem Loslassen des Knüppels weiteres Gasgeben unterlassen wird.

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

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keit, das bereits in Gang gesetzte Geschehen zu verändern und damit den drohenden Erfolg zu verhindern, im Hinblick auf die erwartete Handlung untätig bleibt, bewirkt bzw. steuert gerade mit diesem Geschehenlassen den Eintritt eines bestimmten Erfolges und zwar rea1333 . Das zeigt: Auch schlichte Untätigkeit (= bezogen auf die erwartete Handlung) kann als Resultat eine Folge tatsächlich hervorrufen. Denn das Zulassen des Eintritts eines tatbestandlichen Erfolges ist nicht bloß ein gedankliches Gebilde, sondern ein reales Geschehen(lassenj334. Dieses Zulassen ist sogar rur den konkreten Erfolgseintritt im Falle tatsächlich gegebener Verhinderungsmöglichkeit zwingend notwen-

dig.

Grundvoraussetzung dieser Argumentationsweise einer Bewirkensqualität des Unterlassens ist das Anerkennen, daß sich die Umwelt nicht als ein ruhender Punkt darstellt, sondern sich diese stets im Wandel befindet, und zwar in einem fortlaufenden Prozeß der Veränderung33S . Ein Täter wird deshalb niemals gleichsam einen Nullpunkt vorfinden, den er dann allein durch Tun erst verändern könnte. Vielmehr kann er bereits Entstehendes durch Untätigkeit zum Erfolg kommen lassen. Bildhaft entspricht die Umwelt gleichsam einem laufenden "Räderwerk"336, das von einer Vielzahl ineinandergreifender Ereignisse geprägt ist, so daß auch das Ausbleiben bestimmter eingeplanter Faktoren bezogen auf den Ausgang eines Geschehensablaufs Wirkungen entfaltet. Um das Anschauungsbild des "Räderwerks" zu verdeutlichen: Unterbleibt das Antreiben eines einzigen "Zahnrades" innerhalb der "Maschinerie", 333 Vgl. auch Spendel, 1973, S. 139, der insoweit Wenzl (Die philosophischen Grenzfragen der modernen Naturwissenschaft, 2. Aufl. 1956, S. 56) zitiert: "was tatsächlich möglich ist, ... ist auch wirklich". 334 Vgl. in diesem Zusammenhang des weiteren H. Mayer, 1953, S. 113: "Auch wenn wir eine erwartete Handlung unterlassen, zeichnen wir als verantwortliche Urheber für den wirklichen geschichtlichen Verlauf. Das ist nicht nur eine nachträgliche Bewertung, welche wir an den äußeren Verlauf herantragen. Die Regierung, welche ein Ultimatum unbeachtet läßt, tritt wirklich in den Krieg". 33S SO auch H. Mayer, 1953, S. 113: "Eine kritische Betrachtung lehrt [... ], daß die Welt nicht ruhendes Sein, sondern Werden, Prozeß, geschichtlicher Verlauf ist". Vgl. dazu des weiteren Arthur Kaufmann, 1966, S. 103 ff., der infolgedessen zu der Erkenntnis gelangt, daß "auch der Unterlassende [... ] 'Urheber' eines realen Geschehens (ist)", aber am Ende doch denen zustimmt, die die Unterlassung als solche für nicht kausal erklären, da der Unterlassende nicht wie der aktiv Handelnde "das Kausalwerden des eigenen Körpers dienstbar (lndienstnehmen von Eigenkausalität) (macht)", sondern vielmehr "einen außerhalb seiner selbst liegenden fremden Kausalvorgang [... ] (Indienstnehmen von Fremdkausalität)". 336 Diesen zutreffenden Ausdruck verwendet Maiwald, 1981, S. 475.

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

hat das - naturgesetzlieh bestimmbare - absehbare Folgen für das gesamte System, bis hin zum endgültigen Stillstand des "Werkes". Maiwald spricht daher vollkommen zu Recht davon, daß das Fehlen eines einkalkulierten Ereignisses ein das Ergebnis "bestimmender Faktor" sei337 . Es wird deutlich, daß die angestellten Erwägungen zur Unterlassenskausalität auf dem Gedanken beruhen, daß das Unterlassen als das "Nichtdasein eines positiven Hindernisses"338 - präziser: Nichtdasein eines erwarteten positiven Hindernisses - verstanden wird. In den Kausalbegriff werden also negative Bedingungen aufgenommen339 . Denn neben positiv auslösenden Faktoren sind immer auch diejenigen notwendig für den Erfolgseintritt, die den Erfolg nicht verhindern34o . Engisch ist zuzustimmen, wenn er erklärt, daß der "Eintritt jedes konkreten Erfolges [... ] gesetzmäßig verknüpft (ist) mit dem Nichtvorhandensein gewisser negativer, den Erfolg nach Erfahrungsregeln ausschließender Bedingungen"341. Ebenso konstatiert Puppe, daß "Negationen [... ] für vollständige Kausalerklärungen nicht nur zulässig, sondern unerläßlich (sind)"342. Und auch Spendel sieht neben positiven Bedingungen gerade auch das Ausbleiben hindernder Bedingungen als Kausalfaktoren für den Eintritt eines Erfolges an und macht deutlich, daß dies nicht physikalischen Gesetzen zuwiderläuft; denn es hätte beispielsweise kein Physiker Bedenken, den Nichteinfali des Lichts als Bedingung für die Entwicklung des Films zu bezeichnen343 . Obwohl Maiwald die Einbeziehung hypothetischer gesetzmäßiger 337 338 339 340

Maiwatd, 1981, S. 475. M.E. Mayer, 1967, S. 128 (HervorhebWlg vom Verfasser). So auch Engisch, 1931, S. 27 ff.

Anders indes Schmidhäuser, 1984,5/61, der davon ausgeht, daß das Nichttätigwerden keine Ursache für eine Wirkwtg sein könne, sondern bloß "BedingWlg" dafür, daß eine andere Ursache eine bestinunte Wirkwtg habe. Diese EinschätzWlg beruht auf dem Umstand, daß nach Schmidhäuser - entgegen der hier vertretenen Ansicht - eine Ursache nur in einer Veränderwtg (in Form einer BewegWlg) gesehen wird. Auch Hardwig, 1957, S. 93 ff. spricht den negativen BedingWlgen eine Wirkwtgsqualität ab; vielmehr versteht er diese auf einer Erkenntnisebene als "Einsichtsgrwtd" (im Gegensatz zum "Wirkgrwtd"). 341 Engisch, 1931, S. 28. 342 Puppe, 1980, 863 ff., 895 ff., 899; siehe auch NK-Puppe, 1995, Vor § 13 Rn. 105: "Die UnterlassWlg ist Ursache des Erfolges nur dann, wenn das negierte TWl nach Erfahnmgsregeln möglich Wld eine störende Bedingwtg des Kausalverlaufs zum Erfolg

gewesen wäre. Denn nur dann ist die Negation notwendiger Bestandteil der wirklichen gesetzmäßigen Bedingung des Erfolges".

343 Vgl. Spendet, 1973, S. 139.

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

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Zusammenhänge in den Begriff der Kausalität im Ergebnis verneint, konstatiert er dennoch: "Rein logisch läßt sich widerspruchsfrei behaupten, für das Zustandekommen jedes Ereignisses sei unabdingbare Voraussetzung, daß nicht Faktoren wirksam werden, die das Ereignis verhindern"344. Dies gilt es als Basis für die weiteren Überlegungen anzuerkennen. Beispiel 2: Dann bestehen auch keine Bedenken mehr, für den Sturz eines Kindes neben dem spielerischen Hochwerfen durch den Vater ebenso dessen darauffolgendes Nichtauffangen als notwendige Voraussetzung anzusehen. Die Behauptung, daß der Sturz des Kindes letztlich doch vom Hochwerfen herrühre und nicht vom unterlassenen Auffangen, kann jedenfalls nicht als tragfähiges Gegenargument einer hier bejahten Kausalität gezählt werden. Denn dann müßten konsequenterweise stets bestimmte, durch menschliche Handlungen oder durch Naturgesetze geschaffene "Vorbedingungen" weiteres (mit)kausales Verhalten (auch durch aktives Tun) hindern345 . Vielmehr lassen sich bestimmte Vorbedingungen als notwendige Voraussetzungen für den Erfolg ansehen (und insoweit als mitursächlich werten), ohne damit ausschließen zu müssen, daß eine zeitlich spätere Nichthinderung des Erfolges bei möglicher Erfolgsabwendung ebenfalls als notwendig für den Erfolgseintritt beurteilt wird. Klarer wird das Ergebnis vielleicht anband einer Fallabwandlung: Nicht der Vater selbst, sondern ein Dritter wirft das Kind spielerisch in die Arme des auffangbereit dastehenden Vaters. Dieser breitet dann aber die Arme doch nicht zum Auffangen aus, sondern bleibt regungslos stehen, so daß das Kind stürzt. Selbstverständlich ist das Werfen des Kindes zunächst wesentliche (Vor-)Bedingung für dessen Sturz. Ebenso war dafür aber zwingend notwendig, daß sich der Vater regungslos verhielt. Ganz unbestreitbar wird mit dieser Argumentation regelmäßig eine Vielzahl ursächlicher Bedingungen für einen Erfolg in Form des Unterlassens in Betracht kommen. Bezogen auf den Beispielsfall 2 läßt sich etwa vertreten: Nicht nur der Vater, sondern auch andere, die den Erfolg tatsächlich hätten abwenden können, sind durch ihre unterlassene Tätigkeit ursächlich für den

Maiwald, 1980, S. 78. 345 Das dies nicht der Fall ist, zeigt sich etwa anband der größtenteils anerkannten Fallgruppe der sog. fortwirkenden Kausalität. Insbesondere der sog. Gnadenschußfall (BGH bei Dallinger, MDR 1956, S. 526) kann hier genannt werden. Als zu Recht vollkommen unproblematisch wird in diesem Fall die Kausalität bei demjenigen beurteilt, der durch seinen "Gnadenschuß" den Tod des Opfers unmittelbar herbeiftlhrt. Dies gilt vor allem völlig unabhängig davon, ob das Opfer durch die vorhergehende Schußverletzung ohnehin verstorben wäre. 344

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

Sturz des Kindes. Dabei gilt es aber zu beachten, daß dies kein Spezifikum einer Kausalität beim Unterlassen ist. Vielmehr ergibt sich das gleiche Problem auch beim aktiven Tun. Ursache fur dieses Phänomen ist nämlich der auf Naturgesetzen gestützte weite Kausalitätsbegriff, der konsequenterweise ein "Regreßverbot"346 ausschließt. Um eine Uferlosigkeit strafrechtlicher Verantwortung zu vermeiden, wird für ein strafbewehrtes Unterlassen als Mindestvoraussetzung verlangt, daß tatsächliche Handlungs- und Erfolgsabwendungsmöglichkeit bestehen347 . Darüber hinaus ist ein Unterlassen nur dann fur den Erfolg kausal, wenn nach Naturgesetzen nahezu sicher feststeht, daß die Handlung in concreto eine erfolgsverhinderungstaugliche, also eine den Erfolg "störende Bedingung"348, gewesen wäre. Die konkrete Erfolgsverhinderungstauglichkeit schränkt also den Bereich möglicher kausaler Unterlassungen deutlich ein. Denn dies setzt zumindest eine räumliche und zeitliche Nähe zum Erfolg voraus, sowie meist noch das Vorhandensein bestimmter Befahigungen. "Beispielsweise die Erklärung, ich sei für den Tod eines in diesem Augenblick in London von einem Gerüst abstürzenden Bauarbeiters kausal, weil ich ihn nicht in meinen Armen auffange, ist nach Naturgesetzen unschlüssig. Zu der vollständigen Angabe der störenden Bedingung würde noch gehören, daß ich von dem Unglück überhaupt weiß, daß ich mich im Moment seines Eintritts nach London ver-

346 Vgl. dazu nur Jescheck/Weigend, 1996, § 54 IV 2; SchönkelSchröderlLenckner, 1997, Vorbern §§ 13 ff. Rn. 77; Wesseis, 1996, § 6 I 3 c Rn. 166; zur Lehre vom Regreßverbot ausführlich insbesondere Jakobs, 1977, S. 5 ff. Als Vertreter der Lehre vom Regreßverbot kann etwa Frank, 1931, § 1m2 a genannt werden: "Es gilt ein Regreßverbot in dem Sinne, daß BedingWlgen, die jenseits einer bestimmten Stelle liegen, nicht als Ursachen angesehen werden dürfen". Letztlich muß die konsequente DurchführWlg einer solchen AuffassWlg angesichts einer dann häufig zu bejahenden UnterbrechWlg des Kausa1zusammenhangs zu einer Wlgerechtfertigten AusweitWlg der Teilnahme zu Lasten der Täterschaft führen. Ohnehin paßt die Lehre vom Regreßverbot innerhalb der Kausalitätsebene nicht mehr zu der heute überwiegend anerkannten Lehre von der objektiven ZurechnWlg, über die mit normativen Gesichtspunkten ein zu weitgehender Regreß "abgefangen" werden kann. 347 Begrifflich wird sogar ganz überwiegend fllr das Unterlassen als bloße HandIWlgsform bereits das Vorliegen einer tatsächlichen HandlWlgsmöglichkeit verlangt, also die HandlWlgsmöglichkeit nicht erst im Rahmen einer Strafbarkeit (= einer UnrechtsbegründWlg) des Wlabhängig davon bejahten Unterlassens diskutiert, vgl. dazu nur Güntge, 1995, S. 22; Maiwald, 1981, S. 476 oder SchönkelSchröderlStree, 1997, Vorbern §§ 13 ff Rn. 141 m.w.N. 348 NK-Puppe, 1995, Vor § J3 Rn. 105.

E. Kritische WÜfdig\U1g der Abgrenzungsmerkmale

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setze und daß ich die Kraft habe, einen aus 20 m Höhe stürzenden Körper von 75 kg Gewicht aufzufangen"349. Daher fiihrt Zulassenskausalität, wie sie hier begründet wird, "nicht zu der allerdings absurden Konsequenz, daß jeder kausal für jeden Schaden wird, weil er ihn nicht verhindert hat"3S0, sondern sie erfiillt - gleichermaßen wie die Kausalität beim Tun - die Funktion einer ersten Vorklärung strafrechtlicher Verantwortlichkeit ("Restriktionsfunktion"3S1) - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Außerdem darf nicht übersehen werden, daß für eine Zuschreibung strafrechtlich relevanten Verhaltens Kausalität alleine noch nicht ausreicht, sondern nach ganz überwiegender Ansicht als einschränkendes normatives Merkmal zusätzlich die Zurechnung des eingetretenen Erfolges erforderlich ist. Es sollte daher nicht der Fehler (im Sinne einer Vermischung der Ebenen von KausaIität und Zurechnung) begangen werden, Fälle, die sich erst auf der Ebene der Zurechnung als nicht strafbar erweisen, bereits einen Prüfungsschritt zuvor als nicht kausal zu werten, um letztendlich eine Uferlosigkeit von Verantwortungszuschreibungen zu vermeiden. Beispiel 3: Das Vorhandensein echter Kausalität beim Unterlassen läßt sich auch anband des Falles zeigen, bei dem der Bademeister B im Freibad untätig zusieht, wie der Nichtschwimmer N vor seinen Augen ertrinkt. Das Nichteingreifen in das Geschehen (im Sinne eines Ausbleibens der erwarteten, konkret erfolgsverhindernden Rettung) stellt sich nach außen als reale Gegebenheit dar. Und dieses bewirkt den Tod des N (neben anderen Faktoren), weil aufgrund der Untätigkeit des B der Erfolg zugelassen wird. Es kann insoweit von einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang gesprochen werden352 . Angesichts der Rettungsmöglichkeit für den B und der deshalb von dem Unterlassen ausgehenden notwendigen Voraussetzung für den Erfolgseintritt - die mögliche, aber unterbliebene störende Bedingung für den Erfolg ist ebenso zwingende Voraussetzung/ar dessen Eintritt wie das positive Setzen einer Bedingung - ist weiterhin von einem Steuern des Ablaufs auszugehen. M.a.W.: Der B "hatte es in der Hand", den N sterben zu lassen oder zu retten. Daran vermag auch die 349 NK-Puppe, 1995, Vor § 13 Rn. 105. 350 Vgl. NK-Puppe, 1995, Vor § 13 Rn. 105. 351 Dazu oben 2. Teil D. I. l. b) ce) a). 352 So im Ergebnis auch Hilgendorf, 1994, S. 564, der einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen der Untätigkeit des Bademeisters \U1d dem Tod des Nichtschwimmers bejaht.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

Tatsache nichts zu ändern, daß der Tod des N ebenso dann eingetreten wäre, wenn man sich die Anwesenheit des B hinwegdenkt, weil letztendlich das Eindringen des Wassers in die Lungen des N dessen Erstickungstod unmittelbar herbeiführt. Schließlich war die unterlassene Rettung jedenfalls mitursächlieh, also eine von vielleicht vielen anderen physikalischen Bedingungen fiir den Tod des N. Wohl auch umgangssprachlich würde man davon reden, daß der Bademeister den Tod des Nichtschwimmers verschuldet und damit verursacht hätte. Hier behält das allgemeine Rechtsgefiihl letztenendes sogar recht. Beispiel 4: Als abschließendes Beispiel fiir die Annahme einer auch beim Unterlassen denkbaren echten Kausalität soll noch ein von Herzberg aufgeführter Fall dienen: "In einem Bürgerkrieg fällt ein Soldat einem gegnerischen Offizier in die Hände. Dieser will ihn zum Verrat kriegswichtiger Geheimnisse zwingen. Es wird ihm erklärt, daß vor seinen Augen gefangene Zivilisten in bestimmten zeitlichen Abständen [... ] erschossen würden, bis er rede. So geschieht es, weil der Soldat [... ] beharrlich schweigt"353. Hier hängt der Tod der Zivilisten von dem Unterlassen des Soldaten in Form des Schweigens ab. Denn die Preisgabe der gewünschten Geheimnisse würde das Erschießen der Zivilisten verhindern. Damit wird deutlich, daß das Unterlassen des Soldaten eine vorhersehbare Folge bewirkt, hier den Tod der Zivilpersonen. Herzberg spricht davon, daß das Unterlassen in Bezug auf die Todesfolge ein "real bewirkender Faktor" sei354. Gerade auch dieses Beispiel stellt anschaulich dar, daß das Unterlassen einen weiteren Geschehensablauf steuern kann. Nichts ändert sich an dieser Bewirkensqualität dadurch, daß unmittelbar kausal fiir den Tod das Erschießen ist, daß also ein anderer das Unterlassen des Soldaten zum Anlaß nimmt, durch aktives Tun einen Erfolg herbeizufiihren. Denn es können durchaus mehrere Faktoren ursächlich rur einen Erfolgseintritt sein, solange sie sich mitbedingen, d.h. in dem Sinne aufeinander aufbauen, daß das Zweitereignis ohne das Erstereignis nicht denkbar wäre. Welche der kausalen Verhaltensweisen letztendlich rur die Todesfolge verantwortlich ist, ist nicht auf der Ebene empirischer Kausalität, sondern auf der Ebene normativer Zurechnung zu lösen. Neben dem Steuern eines Kausalverlaufs vermag das Unterlassen zudem einen Kausalverlauf auszul6sen. Zu denken ist dabei insbesondere an Fallgestallungen, in denen das Unterlassen des Täters eine andere Person zu besonderen Handlungen erst veranlaßt. So etwa, wenn bestimmte erwartete, aber 353 Herzberg, 1972, S. 276. 354 Herzberg, 1972, S. 276.

E. Kritische WürdiglUlg der Abgrenzungsmerkmale

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dann unterlassene Versprechungen oder Zusagen den Ausschlag fiir die Tat eines anderen geben355 , oder gerade in der Nichtvornahme eines Ausredens eine psychische Unterstützung in Fonn einer Aufforderung zur Tat liegt. Zu trennen von der zunächst notwendigen Kausalität ist natürlich wieder die weitere Frage, ob nicht wegen sozialadäquaten Verhaltens eine Zurechnung ohnehin ausscheiden muß. Nach alledem kann die vielfach anzutreffende Ansicht, daß der Unterlassungstäter nicht dafiir bestraft werde, daß er einen tatbestandsmäßigen Erfolg verursacht habe, sondern dafiir, daß er ihn nicht abgewendet haW S6 , keine Zustimmung erfahren. Denn "Verursachung" und "Nichtabwendung" eines Erfolges stehen nicht in einem sich ausschließenden Verhältnis zueinander. Es läßt sich vielmehr das Verursachen eines Erfolges auch mit dessen Nichtabwendung begründen. d) Feststellung der Kausalität beim Unterlassen

Ausgehend von dem anerkannten Grundsatz, daß Unterlassen nicht bloßes "nichts tun", sondern bezogen auf eine erwartete Handlung "etwas nicht zu tun" meint, muß ein Unterlassen dann als kausal - im hier verstandenen Sinne einer echten bzw. tatsächlichen Kausalität - gewertet werden, wenn die konkrete erwartete Handlung den Eintritt des Erfolges verhindert hätte. Da aber niemand mit hundertprozentiger Gewißheit den genauen Ablauf eines Geschehens voraussagen kann, muß es genügen, wenn nach dem heutigen Erfahrungswissen nahezu sicher ist, daß der Erfolg verhindert worden wäre. In die typische Fonn einer Kausalitätsfonnel gebracht, heißt dies: Ein Unterlassen ist fiir den Erfolg kausal, wenn die gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele3 57 . 355 Folgendes Beispiel fmdet sich bei SpendeI, 1973, S. 139: Die Schöne, die ihrem Verehrer nicht das bis zu einem bestimmten Termin erbetene Jawort gibt und dadurch den Selbstmord des lUlglücklichen Liebhabers veranlaßt. 356 Vgl. Armin Kaufmann, 1959, S. 66 m.w.N. 357 Auf diese, gegenüber dem aktiven Tun modifizierte Kausalitätsformel stellt (zum TeillUlabhängig von der Frage des Vorliegens einer echten Kausalität) die ganz h.M. ab: Siehe etwa Arzt, 1980, S. 556; Blei, 1983, § 86 ll; BaumannIWeberlMitsch, 1995, § 15 Rn. 23; Kahl, 1994, § 18 m 3 Rn. 35 - 39; SK-Rudolphi, 1995, Vor § I Rn. 43; Schlachter, 1976, S. 794; SpendeI, 1973, S. 139, 149; WesseIs, 1996, § 16 II 3 Rn. 711 m.w.N.

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

e) KausaliUit trotz Hinzudenkens einer Handlung Zweifel an dem Vorliegen echter Kausalität könnten schließlich noch deshalb aufkommen, weil die Feststellung der Kausalität beim Unterlassen nur mit Hilfe einer hinzugedachten Handlung möglich ist, und somit letztlich von einem Wahrscheinlichkeitsurteil abzuhängen scheint. Aber auch die Notwendigkeit des Hinzudenkens einer konkreten erwarteten Handlung zur Bestimmung der Unterlassungskausalität - anstelle des ja regelmäßig ausreichenden Hinwegdenkens der vorgenommenen Handlung bei der Kausalität des aktiven Tuns - kann nicht als Argument gegen vorhandene Kausalität bei der Unterlassung tragen. Denn die Frage der Feststellung der Kausalität und die des Vorhandenseins einer Kausalität im Sinne eines tatsächlichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs sind zu trennen: So macht die Berücksichtigung eines hinzugedachten hypothetischen Ereignisses aus der realen Kausalität nicht eine hypothetische. Vielmehr dient das hinzugedachte Ereignis nur dazu, die reale Kausalitätfoststellen bzw. nachweisen zu können. Schließlich wird auch nicht daran gezweifelt, daß trotz des Hinwegdenkens des Ereignisses beim aktiven Tun zur Bestimmung der Kausalität, also trotz der Vornahme eines insoweit ja ebenfalls hypothetischen Denkverfahrens358, diese eine wirkliche Kausalität bleibt und nicht zu einer hypothetischen Kausalität wird. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß es sogar beim aktiven Tun viele Fälle gibt, in denen allein das Hinwegdenken der Handlung noch nicht den Nachweis der Kausalität ermöglicht, sondern dieser erst durch das Hinzudenken eines weiteren Geschehens erbracht werden kann. Anschauliche Fallbeispiele 358 Von einem hypothetischen Denkverfahren spricht etwa Blei, 1983, § 8611. Auch Engisch, 1939, S. 427; Puppe, 1980, S. 868, 869, 870 Wld Wol.ff, 1965, S. 14 weisen innerhalb der Kausalitätsfrage auf das, selbst beim aktiven TWl heranzuziehende, hypothetische Geschehen in Fonn des anzustellenden Vergleichs, was ohne das TWl im weiteren Verlauf geschehen ware, hin; insbesondere bei Puppe, 1980, S. 869, 870 fmden sich anschauliche Beispiele. Androulakis, 1963, S. 90 (dort insb. auch Fn. 322) schließt aus diesem auch beim aktiven TWl erforderlichen hypothetischen Denkverfahren, nämlich des "Hinzudenkens" eines "Lassens" , daß das Kausalitätsurteil beim TWl Wld beim Lassen jedenfalls in fonnaler Hinsicht nicht entgegengesetzter Art sei. Dagegen, daß sich auch beim positiven TWl die Kausalfrage auf einen hypothetischen Geschehnisablauf bezieht, wendet sich Eb. Schmidt, 1942, S. 87 dort Fn. 2, der vielmehr davon ausgeht, daß beim aktiven TWl eine Aussage über einen "tatsächlichen Geschehnisablaur' getroffen werde.

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

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dafiir finden sich etwa bei Armin Kaufmann: "Wenn A als Lenker eines Magnetkrans den elektrischen Strom ausschaltet, so daß die fallenden Schrottstücke einen Arbeiter erschlagen, wenn B den Balken zurückhält, der auf einen Ertrinkenden zutreibt, wenn eden rettungswilligen und -fähigen X niederschlägt, dann läßt sich die Kausalität des Handeins von A, B und C gar nicht prüfen, ohne daß man das Weiterwirken des Stromes, das Weiterschwimmen des Balkens und die Rettungshandlung des X hinzudenkt"3.59. Und dennoch wird hier das Vorliegen naturwissenschaftlich erklärbarer Kausalität nicht ernsthaft in Zweifel gezogen. j) Kausalität und Garantenpj1icht

Im Falle einer befiirworteten echten Kausalität des Unterlassens ist die Frage berechtigt, wie sich das Erfordernis einer Garantenpflicht bei unechten Unterlassungsdelikten erklären läßt. Fehlt es doch im Hinblick auf die Bewirkensqualität an einem wesentlichen Unterschied zwischen Tun und Unterlassen. Gerade soweit die haftungseinschränkende Garantenpflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten als Ausgleich fiir die gegenüber dem aktiven Tun fehlende Kausalität angesehen wird, tritt bei Annahme echter Kausalität auch beim Unterlassen ein Begründungszwang fiir das Verlangen einer Garantenpflicht bei unechten Unterlassungsdelikten auf. Insbesondere Arzt sieht die garantenpflichtbegründende GarantensteIlung als Ersatz fiir die beim Unterlassen fehlende Kausalität an; er versteht diese als "funktionales Äquivalent zur Kausalität beim positiven Tun"360. Deutlich macht er seine Ansicht anband eines auf § 212 StGB bezogenen Falles und fiihrt insofern aus: "Die äußerste Reichweite des im Kern auch fiir Unterlassungsfalle evidenten Tatbestandsmerkmals 'töten' bestimmt also beim positiven Tun die Kausalität. Beim (unechten) Unterlassen wird die äußerste Reichweite dagegen durch die GarantensteIlung abgegrenzt"361. Und etwa Herzberg erwähnt, daß im Falle möglicher kausaler Unterlassungen (= in Form einer "causa efficiens"), diese denselben "juristischen Rang einnehmen müßten wie Begehungen"362. Darüber hinaus wird von Vertretern des Kausalitätskriteriums bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen ganz allge3.59 Am/in Kaufmann, 1959, S. 60.

360 Vgl. Arzt, 1980, S. 553. Siehe aber auch Freund, 1992, S. 42. 361 Arzt, 1980, S. 553. 362 Herzberg, 1972, S. 276. 8 Schneider

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2. Teil: Tun und Unterlassen

mein als besonderer Vorteil gerade dieses Unterscheidungsmerkmals hervorgehoben, daß sich mit der fehlenden Kausalität bei der Unterlassung die Besonderheit der den Strafbarkeitsbereich einschränkenden Garantenpflicht erklären lasse363 . Diese Sichtweise erweckt den Anschein, als werde der Garantenpflicht zur Vermeidung einer Ausuferung strafbaren Verhaltens - bei einer angenommenen fehlenden echten Kausalität des Unterlassens besteht diese Gefahr in der Tat - gleichsam die Funktion eines Zurechnungsmerkmals zugeschrieben. Zu dieser Schlußfolgerung gelangt jedenfalls Freund: "Nunmehr fungiert auch der Garantenbegriff als Surrogat rur Kausalität und objektive Zurechnung"364. Unterstützung erfährt diese These, wenn sich rur Rudolphi in Bezug auf die Gleichstellung von Tun und Unterlassen die entscheidende Frage stellt, "wann [... ] einer Person ein eingetretener Unrechtserfolg auf Grund einer Unterlassung in der gleichen Weise zugerechnet werden (kann) wie auf Grund einer diesen Erfolg verursachenden Handlung [... ]", und er darauf als Antwort gibt, daß dies dann der Fall sei, "wenn der Unterlassende rechtlich dafiir einzustehen hat, d.h. Garant dafiir ist, daß der tatbestandsmäßige Unrechtserfolg nicht eintritt"365. aa) Garantenpflicht als Zurechnungsmerkmal? Sicherlich haben das Erfordernis der Garantenpflicht und das Merkmal der Zurechnung eine gemeinsame Auswirkung, und zwar eine einschränkende Wirkung auf den Bereich der Strafbarkeit: Garantenpflichten begrenzen den Täterkreis, und die Zurechnung grenzt den mit der Kausalität vorgegebenen weiten Rahmen strafrechtlicher Verantwortlichkeit ein. Soweit aber die Zurechnung als Ausdruck einer Verantwortungszuschreibung wegen Gefahroder Risikorealisierung verstanden wird366 , müssen einer Vergleichbarkeit von GarantensteIlung und Zurechnung Bedenken entgegengebracht werden. Denn die GarantensteIlung als solche kann nicht in ausreichendem Maße eine die strafrechtliche Verantwortung kennzeichnende Verbindung zwischen Tathandlung und Erfolg bei Erfolgsdelikten beschreiben. Allein über die PflichtensteIlung eines Garanten läßt sich der Weg vom Erfolg zur Tathandlung und 363 Dazu bereits oben D. 1. 1. b ) ce) J3 a.E. 364 ~reund, 1992, S. 43. 365

SK-Rudolphi, 1995, § 13 Rn. 17.

366 Siehe etwa Krauß, 1979, S. 565.

E. Kritische WÜfdigWlg der Abgrenzungsmerkmale

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mithin zum Täter nicht lückenlos zurückverfolgen. Das Vorliegen bestimmter Pflichten sagt schließlich nichts darüber aus, inwieweit eine durch deren Nichtwahrnehmung begründete Gefahr letztendlich im Erfolg auch ihren Niederschlag gefunden hat. Anders ist dies bei der Zurechnung: Über die Kriterien "rechtlich relevante Gefahrschaffung" und "Gefahrrealisierung" wird eine konkrete, Strafbarkeit begründende Beziehung zwischen Rechtsgutsverletzung und Täter hergestellt. Schon das die Zurechnung charakterisierende Merkmal der Risikoerhöhung bzw. Gefahrschaffung ist nur bedingt auf Garantenpflichten übertragbar. Insbesondere bei Beschützergaranten kann eine Übertragung nicht gelingen, da hier Rechtsgüter vor Gefährdungen geschützt werden sollen, ohne daß eine eigene Verantwortlichkeit rur die Gefahrbegründung besteht. Denkbar wäre eine Übertragbarkeit am ehesten noch bei einer ÜberwachungsgarantensteIlung wie der Ingerenz, die gerade durch das gefahrerhöhende pflichtwidrige Vorverhalten gekennzeichnet ist367 . Gegen einen Vergleich von GarantensteIlung und Zurechnung spricht auch folgender, von Brammsen stammender Gedanke: "Die Erfolgsvermeidepflichten der Garanten sind Sonderpflichten i.S.d. Sonderpflichtdelikte und bestehen als solche schon real vor dem Eintritt des rechtsgutsgefährdenden Geschehens"368. Dies liegt daran, daß an Garantenpflichten eine "besondere Verhaltenserwartung"369 geknüpft ist. Infolgedessen sind sie zunächst "unabhängig von dem Eintritt eines rechtsgutsverletzenden Erfolges't37o. Ihre Festlegung erfolgt "mit Hilfe einer 'ex ante'-Prognose im voraus"371. Ganz anders ist die Sachlage beim Kriterium der Zurechnung: Gesichtspunkte der Zurechnung werden erst mit der Rechtsgutsverletzung relevant. Die Art und Weise des Erfolgseintritts ist rur die Bestimmung des Zurechnungszusammenhangs ein ganz zentraler Faktor. Damit tritt ein wesentlicher Aspekt zutage: Die Garan-

367 Brammsen, 1986, S. 393 ff. will die Ingerenz auf der Gnmdlage der neueren ZurechnWlgslehre sogar in das System der BegehWlgsdelikte einordnen. 368 Brammsen, 1986, S. 446; dazu ausführlicher ders., a.a.O., S. 103 ff.

369 Vgl. Brammsen, 1986, S. 103 ff., 110, 114 ff. 370 Brammsen, 1986, S. 445. 371 Brammsen, 1986, S. 445. 8'

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2. Teil: Tun und Unterlassen

tenstellung ist tatunabhängig (= durch sie soll ja gerade ein tatbestandlicher Erfolg verhindert werden372 ), die Zurechnung ist tatabhängig. Angesichts der Orientierung der Zurechnung am konkreten Erfolgseintritt ist nachvollziehbar, warum sie an eine bestimmte Tathandlung und deren rechtlich mißbilligenswerte Gefährlichkeit fiir das zu schützende Rechtsgut anknüpft. Weniger geeignet wäre insoweit ein Festmachen der Zurechnung an Tätereigenschaften, die unabhängig von der Art und Weise der Tatbegehung bloß den überhaupt in Betracht zu ziehenden Täterkreis einschränken wollen. Und damit erklärt sich auch, weshalb der Garant fiir den Erfolg einer Tat erst dann verantwortlich ist, wenn die unterlassene Erfolgsabwendung als Tathandlung eine spezifische Gefahr fiir die Rechtsgutsverletzung bedeutet und sich diese Gefahr im Erfolg realisiert hat. Es ist deutlich geworden, daß die Prüfungspunkte "Garantenpflicht" und "Zurechnung" nicht vergleichbare Ebenen betreffen, sondern unterschiedliche Wertungsfragen beinhalten. Die Garantenpflicht kann daher nicht als Zurechnungsmerkmal fungieren. bb) Garantenpflicht als Kausalitätssurrogat?

Am ehesten ließe sich die GarantensteIlung noch von der Funktion her mit der Kausalität vergleichen. Denn GarantensteIlung und Kausalität erfüllen beide eine Restriktionsfunktion: Sie bestimmen den äußersten Rahmen denkbarer Haftungszuständigkeit; sie treffen aber noch kein abschließendes Urteil über die Verantwortung fiir eine Rechtsgutsverletzung. Darüber hinaus hat die PflichtensteIlung eines Garanten mit der Kausalität allerdings nichts gemein. Die Kausalität ist ebenso wie die Zurechnung tatabhängig und ermöglicht schon deshalb eine spezifischere Zuschreibung von Verantwortung als die tatunabhängige Garantenstellung373 . Kausalität ist in der Lage, eine erste Vorklärung strafrechtlicher Verantwortlichkeit zu leisten. 372 Eine Sonderstellung muß hier freilich die GarantensteIlung aus Ingerenz einnehmen. Denn das gefahrerhöhende Vorverhalten, also das die GarantensteIlung begründende Handeln, veranlaßt bereits den Erfolgseintritt. 373 Jedenfalls soweit man von strafrechtlich "ernstzunehmenden" kausalen Tathandlungen ausgeht, die "nah" mit einer Rechtsgutsverletzung verknüpft sind, also nicht solche kausale Handlungen einbezieht, bei denen ganz offensichtlich eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs vorliegt (= wie etwa in dem Fall, in dem das kausale Verhalten allein in der rechtmäßigen Herstellung der Tatwaffe, beispielsweise eines Messers, besteht).

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

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Denn das Setzen einer Ursache rur einen Erfolg ist ein konkreter Tatbeitrag, der inhaltlich mehr über Verantwortungszuschreibung aussagt, als das abstrakte Angehören zu einer Tätergruppe mit besonderen Pflichten. Kausalität ist daher selektiver bei der Auswahl in Betracht kommender Täter. Ansonsten könnte selbst die Prüfung einer "Quasi-Kauslität" bei der Unterlassung keine Bedeutung mehr haben. cc) Garantenpflicht als "Gebotsbegrenzung,,374 Die These, fehlende Kausalität bei der Unterlassung sei der Grund rur das Vorhandensein von Garantenpflichten, sucht einen Erklärungsansatz rur das Erfordernis einer besonderen Rechtspflicht zum Handeln ausschließlich im Wesen der Tathandlung als solche. Dieser Begründungsansatz ist aber problematisch. Er läßt die Folgen, die mit einer Gebotsnorm verbunden sind, außer Acht. Dabei scheint das hinter dem unechten Unterlassungsdelikt nach § 13 StGB stehende Gebot, das eine bestimmte Handlung anordnet, ein zentraler Gesichtspunkt zu sein. Richtigerweise sollte eine Interpretation fiir die besondere Ausformung des unechten Unterlassungsdelikts mit seinen Garantenpflichten in der "Pflicht zum erfolgsabwendenden Tätigwerden" gesucht werden. Trotz Annahme einer Bewirkensqualität des Unterlassens, so wie sie hier bejaht wird, besteht ein gravierender Unterschied zwischen dem Fall, in dem ein Erfolg durch Untätigkeit verursacht wird, und dem Fall, in dem er durch Tätigkeit zustandekommt. Während beim aktiven Tun schlichtes Nichtstun den Erfolgseintritt schon verhindern kann, ist im Falle des Unterlassens ein erfolgsverhinderndes Tätigwerden, also regelmäßig eine mit Aufwand verbundene Aktion, notwendig. Von daher erschließt sich die Notwendigkeit der Garantenpflicht - und zwar unabhängig von der Frage der Kausalität des jeweiligen Verhaltens. Denn auch wenn das Unterlassen einen Erfolg herbeiruhren kann, darf dies nicht zwangsläufig bedeuten, daß deshalb bei einer Vielzahl notwendige Hilfe unterlassender Personen, diese alle - also auch an sich völlig Unbeteiligte, die in keiner irgendwie gearteten engeren Beziehung zu einem verletzten Rechtsgut stehen - aufgerufen wären, den Eintritt des Erfolges mit geradezu mühevollen Aktivitäten zu verhindern, insofern also zum Schutze fremder Rechts374 hn SiIUle einer Einschränkung des vom Handlungsgebot betroffenen Adressatenkreises.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

güter tätig zu werden und verantwortlich für den Nichteintritt des Erfolges zu sein375 . Es bleibt daher selbst bei Vorhandensein einer Bewirkensqualität der Unterlassung die grundlegende haftungseinschränkende Funktion der Garantenpflicht im Sinne einer Selektion bestimmter Personen, die zu einer erfolgsabwendenden Tätigkeit verpflichtet werden sollen, erhalten. Mit der Garantenpflicht wird die Rolle einer besonderen sozialen Pflichtenposition festgelegt.

Die haftungsbeschränkende Garantenpflicht ist infolgedessen Ausfluß eines bestimmten liberalen Gesellschaftssystems und wird dem grundlegenden Unterschied von Gebot und Verbot gerecht: Nämlich auf der einen Seite beim Gebot die Pflicht zu einer - regelmäßig mit Anstrengungen und Mühen verbundenen - Aktivität und auf der anderen Seite beim Verbot die Pflicht zur meist leicht möglichen - Untätigkeit. g) VorzUge echter Kausalität

Zur methodischen KlarsteIlung soll einleitend der Hinweis erfolgen, daß Vorzüge oder Nachteile eines gefundenen Resultats nicht dazu führen dürfen, bereits die Ergebnisfindung zu beeinflussen. Die Klärung der Frage, inwieweit sich eine Kausalität bei der Unterlassung aufzeigen läßt, hat unabhängig davon zu erfolgen, welche Schwierigkeiten oder Vorteile mit dem jeweiligen Ergebnis einer Kausalität oder Nicht-Kausalität in Folge auftreten. Schließlich ist die Problematik vorhandener Bewirkensqualität des Unterlassens eine Tatsachenfrage und infolgedessen autark gegenüber etwaigen Rechtsproblemen, die im Zusammenhang mit dem gefundenen Ergebnis zum Vorschein kommen können. Nun aber zu den Folgen: aa) Erfolgsdelikte und Erfolgsverursachung Mit Bejahung einer auch beim Unterlassen gegebenen echten Kausalität werden Probleme bei der Begründung der Erfolgsverursachung vennieden. Wie schon angesprochen wurde, ist Erfolgsverursachung als Verbindungselement zwischen Tathandlung und Erfolgseintritt zwingend notwendiger Be-

375 Ausftlhrlich dazu, an wen die Sozietät welche Verhaltenserwartungen stellt, Brammsen, 1986, S. 103 tT.

E. Kritische WÜfdigwtg der Abgrenzungsmerkmale

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standteil der Tatbestandsmäßigkeit bei Erfolgsdelikten, will man zu einer Strafbarkeit wegen vollendeten Delikts gelangen. Klargestellt wird mit dem Erfordernis von Kausalität, daß für eine Bestrafung nicht eine isolierte Betrachtung von Tathandlung und Erfolgseintritt genügt, sondern beide Elemente zueinander in einer naturwissenschaftlich erklärbaren Abhängigkeit stehen müssen. Denn der Täter soll nicht bloß für die Vornahme einer gefährlichen Handlung zur Rechenschaft gezogen werden, vielmehr wird ihm bei den Erfolgsdelikten die Verantwortlichkeit für einen bestimmten Erfolg zur Last gelegt. Das unterscheidet gerade die Erfolgsdelikte von den abstrakten Geflihrdungsdelikten. Nur soweit auch bei der Unterlassung die Möglichkeit echter Kausalität angenommen wird, kann man den inhaltlichen Anforderungen an eine Erfolgsverursachung gerecht werden. Gerade die Bewirkensqualität einer Handlung, also das Bedingen einer konkreten Folge, ist Mindestvoraussetzung für die bei den Erfolgsdelikten notwendige Verbindung zwischen Handlung und Erfolg. Eine Verantwortungszuschreibung allein mit Hilfe eines "Denkgebildes" kann dem nicht genügen. Anderenfalls würde bei Annahme fehlender Unterlassenskausalität dem Täter das HerbeifUhren eines Erfolges zum Vorwurf gemacht bei gleichzeitigem Eingestehen, daß der Täter den Erfolg naturgesetzlieh gar nicht bewirkt hat. An dieser Ungereimtheit kommt die Ansicht, die dem Unterlassen jegliche Bewirkensqualität abspricht, nicht vorbei. Es fragt sich, in welcher tatsächlich erklärbaren Beziehung der Täter zum Erfolg, den er zu verantworten haben soll, überhaupt steht, wenn man Kausalität bei der Unterlassung ablehnt. Konsequenterweise sollten diejenigen, die das Vorliegen von Kausalität beim Unterlassen verneinen, die Erfordernisse, die an ein Erfolgsdelikt zu stellen sind, beim unechten Unterlassungsdelikt anders definieren als beim Begehungsdelikt. Es müßten also beim Unterlassungsdelikt eigenständige Kategorien strafrechtlicher Verantwortuogszuschreibung aufgestellt werden, und es sollte nicht versucht werden, die herkömmlichen zum Begehungsdelikt entwickelten Denkweisen auf das (unechte) Unterlassungsdelikt zu übertragen. bb) Unechtes Unterlassungsdelikt und Vorsatz Mit dem Anerkennen einer beim Unterlassen vorliegenden Kausalität kann beim unechten Unterlassungsdelikt Vorsatz im Sinne eines Wissens und Wol-

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

lens der Tatbestandsverwirklichung376 geprüft werden. Schwierigkeiten bestehen demgegenüber bei dieser Art der Vorsatzbegründung, wenn eine Wirkqualität des Unterlassens verneint wird. Denn ohne Kausalität ist Finalität nicht denkbar3 77, und infolgedessen kann auch von einem voluntativen Element beim Unterlassen keine Rede sein. Darauf hat zu Recht Armin Kaufmann hingewiesen: "Denn wo der Kausalnexus fehlt, kann auch keine Finalsteuerung vorhanden sein. Die Finalstruktur ruht auf der Kausalität auf; die erste ontische Kategorie ist ohne die zweite nicht denkbar. Die Wirkweise des finalen Verwirklichungswillens besteht gerade im Überformen, im Beherrschen, im Anstoßen und Lenken der Kausalfaktoren't378. In die gleiche Richtung geht auch die den Vorsatz bei Unterlassungsdelikten betreffende Sichtweise von Welzel: "Der Unterlassung ist weder Kausalität noch (aktuelle) Finalität eigen. Deshalb fehlt ein auf Unterlassen gerichteter Verwirklichungswille und damit auch ein Tatvorsatz i.S. der Begehungsdelikte"379. Nach Armin Kaufmann und Welzel kann es also nur bewußtes Unterlassen geben, nicht aber ein auf einen Erfolgseintritt hin ausgerichtetes gewolltes Unteriassen380 .

Armin Kaufmann geht deshalb - in Konsequenz seines Standpunkts einer nicht denkbaren Bewirkensqualität des Unterlassenden - davon aus, daß der Unterlassungsvorsatz eine Eigenständigkeit aufweist und definiert ihn neu; der Unterlassungsvorsatz soll seiner Ansicht nach im Unterschied zum Begehungsvorsatz gekennzeichnet sein "durch das Fehlen des Entschlusses, die ge-

376 Vgl. zwn Vorsatzbegriff der h.M. nur BGHSt. 19,295 fI, 298. Gegen ein gleichrangiges Nebeneinander von Wissen Wld Wollen sprechen sich aber Hruschka, 1988, S. 436 WldSchmidhauser, 1984,7/40 aus. Mit dem volWltativen Element wird jedoch das personale HandlWlgsunrecht verdeutlicht. Denn es wird damit klargestellt, daß sich der Tater trotz Kenntnis der Tatumstände für die HandlWlg Wld deren Folgen "entscheidet"; vgl. auch Kahl, 1994, § 5 Rn. 11. 377 So auch Arthur Kaufmann, 1966, S. 93: "[ ... ] Finalität (setzt) Kausalität voraus". Zum Zusammenhang von Kausalität Wld Finalität weiterhin JescheckIWeigend, 1996, § 23 m 1 u. § 29 N l. Anders aber Hardwig, 1962, S. 30, 31: Dieser bejaht Finalität trotz fehlender Bewirkensqualität des Unterlassens. 378 Armin Kaufmann, 1959, S. 67. 379 Welzel, 1969, S. 201. 380 Dagegen wendet sich insbesondere Hardwig, 1962, S. 34 ff.

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

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botene Handlung vorzunehmen, trotz der Fähigkeit, diesen Entschluß zu fassen (und zu verwirklichen)"381. Demgegenüber hat die früher h.L. den fiir das Begehungsdelikt geltenden Vorsatzbegriff auf das Unterlassungsdelikt übertragen382 . Die heutige h.M. räumt zumindest ein, daß aufgrund der von ihr behaupteten fehlenden Bewirkensqualität des Unterlassens und der damit zusammenhängenden Strukturverschiedenheit von Tun und Unterlassen eine Übertragbarkeit des fiir das Begehungsdelikt geltenden Vorsatzbegriffs auf das Unterlassungsdelikt nicht ohne weiteres möglich ist. Dennoch wird an dem herkömmlichen Vorsatzbegriff eines Wissens und Wollens der Tatbestandsverwirklichung festgehalten, und es werden die verschiedenen Vorsatzarten, wie Absicht, direkter- und bedingter Vorsatz, auch beim Unterlassungsvorsatz fiir denkbar gehalten383 . Zwar wird das Festhalten am gängigen Vorsatzbegriff nicht immer ausdrücklich klargestellt, doch ist dieses daran erkennbar, daß höchstens von der Notwendigkeit einer Anpassung des fiir das Begehungsdelikt geltenden Vorsatzbegriffs an die Eigentümlichkeiten des Unterlassungsdelikts gesprochen wird384 . Es fehlt mithin eine deutlich zum Ausdruck gebrachte Distanzierung von dem Vorsatzbegriff des Begehungsdelikts. So konstatiert Rudolphi, daß Begehungs- und Unterlassungsvorsatz nicht beziehungslos nebeneinander stünden, sondern das "Einheitliche, sie Verbindende [00'] im Bereich des Normativen" liege, und zwar in der Entscheidung des Täters fiir den Eintritt des tatbestandlichen Unrechts385 . Überwiegend wird nun in dieser Entscheidung des Täters für das Untätigbleiben und den Eintritt des tatbestandlichen Unrechts das Wesen des Unterlassungsvorsatzes erblickt386 .

381 Annin Kaufmann, 1963, S. 208. 382 So insbesondere Engisch, 1962, S. 190; Roxin, 1962a, S. 530 (= "Der Vorsatz ist hier genau so beschaffen wie bei den Begehungstaten"); Welzel, 1956, S. 173. Vgl. auch Stratenwerth, 1981, § 13 n 1 b Rn. 1041: "Die ganz herrschende Lehre hat den als Wissen und Wollen defInierten Vorsatz zunächst unbesehen auf das Unterlassungsdelikt übertragen". 383 Ausdrücklich so Schönke/Schröder/Cramer, 1997, § 15 Rn. 98: "Was die Fonn des Vorsatzes anlangt, gilt hier Entsprechendes wie bei den Begehungsdelikten. " 384 Vgl. nur Schönke/Schröder/Cmmer, 1997, § 15 Rn. 98; LK.Jescheck, 1993, Vor § 13 Rn. 96; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 19 jeweils m.w.N. 385 SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 19. 386 Vgl. etwa Kahl, 1994, § 18 IV Rn. 125; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 20; Stratenwerth, 1981, § 13 n 1 b Rn. 1043.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

Schon zweifelhaft ist aber, wie bei angenommener fehlender Bewirkensqualität des Unterlassens eine Entscheidung des Täters für das tatbestandliche Unrecht möglich sein kann. Denn wer weiß, daß die vorgenommene Handlungsform des Untätigbleibens nichts bewirkt, der trifft keine Entscheidung für den Eintritt tatbestandlichen Unrechts in Form einer Rechtsgutsverletzung, der will daher die Rechtsgutsverletzung nicht387 . Gleiches gilt für das aktive Tun: Der Täter, der irrtümlich davon ausgeht, daß sein Handeln eine bestimmte Folge nicht bewirken könne, der entscheidet sich ebenfalls nicht für diese Folge. Denn die Entscheidung für oder gegen etwas setzt immer Kenntnis hinsichtlich der Auswirkungen des eigenen Tuns voraus. Wenn aber die eigene Handlung von vornherein ungeeignet ist, eine Folge herbeizuführen, und der Täter dies weiß, kann von einer solchen Entscheidungsfindung keine Rede sein. Aus diesem Grund könnte das voluntative Vorsatzelement auch nicht schlüssig damit erklärt werden, daß der Täter den Erfolg nicht verhindern will. Denn Nichtverhindernwollen des Erfolges müßte ein Bejahen des Erfolges und damit eine bewußte Entscheidung für den Erfolg bedeuten. Das Bewußtsein, durch das Unterlassen nichts bewirken zu können, den Erfolg somit nicht herbeiführen zu können, hindert aber insoweit die Annahme eines "Bejahens" des Erfolges. Nicht Verhindernwollen durch Unterlassen setzt deshalb Kenntnis von der Verhinderungstauglichkeit der erwarteten Handlung voraus und damit wiederum Unterlassungskausalität, wenn als Argumentationsbasis für eine Kausalität des Unterlassens die Negation der den Erfolg störenden Bedingung angesehen wird. Es sind daher die Bedenken von Armin Kaufmann bezüglich des voluntativen Vorsatzelements beim Unterlassungsdelikt bedeutsam, wenn man das Vorhandensein von Kausalität bei Unterlassungen ablehnt. Ein Verwirklichungswille läßt sich dann jedenfalls nicht erklären. Denn soweit dem Unterlassen jegliche Wirkqualität abgesprochen wird, kann in dem vom Täter gefaßten Entschluß, untätig zu bleiben, eine der Finalität wesenseigene willensgetragene Steuerung des Kausalverlaufs nicht mehr erblickt werden. Zudem wird man dergestalt der Wortbedeutung des Begriffs "Verwirklichungswille" nicht gerecht: Denn schon das Wort Verwirklichungswille impliziert, daß sich

387 Otto, 1996a, S. 470 filhrt allgemein zum voluntativen Element des Vorsatzes aus: "Das Phänomen willentlicher Tatbegehung ist [... ) von der Steuerbarkeit des Geschehens zu erfassen. [... ) Daraus folgt aber, daß der Täter nur das wollen kann, was nach seiner Auffassung innerhalb seiner Steuerungsmöglichkeit liegt".

E. Kritische Würdigung der Abgre1lZWlgsmerkmale

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der Wille auf eine bestimmte Wirkungsweise der Handlung erstrecken muß 388 . Gerade diese wird aber der Unterlassung größtenteils abgesprochen. Besonders evident tritt die mit einer fehlenden Kausalität des Unterlassens zusammenhängende Vorsatzproblematik bei der Vorsatzart der Absicht zutage. Denn Absicht ist gerade durch das voluntative Merkmal eines finalen Verwirklichungswillens gekennzeichnet: Schließlich wird Absicht üblicherweise mit dem Vorhandensein eines zielgerichteten Erfolgswillens umschrieben389 . Soweit nicht als Prämisse der Zusammenhang von Kausalität und Finalität bestritten wird390 , läßt sich diese von Finalität geprägte Vorsatzart bei gleichzeitiger Annahme fehlender Kausalität nicht sinnvoll begründen. Dies wird schließlich auch von Griinwald zugestanden. Obwohl er den Standpunkt von Armin Kaufmann bezüglich des seiner Ansicht nach im herkömmlichen Sinn nicht begründbaren direkten und bedingten Vorsatzes ablehnen will, räumt er ein, daß es jedenfalls Absicht im Sinne eines finalen Verwirklichungswillens im Bereich der Unterlassungen nicht geben könne3 91 . Trotz allem bejaht die h.M. auch bei Unterlassungsdelikten die Möglichkeit absichtlichen Handelns392 . Nur auf diese Weise wird vermieden, daß Delikte, die subjektiv eine Absichtsfonn voraussetzen, nur durch aktives Tun und nicht auch durch Unterlassen verwirklicht werden können. Über das Vorliegen echter Kausalität beim Unterlassen kann man zugegebenennaßen trefflich streiten. Wichtig ist aber, daß innerhalb der Kategorie des Unterlassens ein in sich schlüssiger Weg verfolgt wird und man nicht in Widersprüchlichkeiten verfällt. So kann es durchaus sinnvoll sein, eigenständige Kategorien für Unterlassungsdelikte zu bilden, wenn man von einer Strukturverschiedenheit von Tun und Unterlassen ausgeht. Bedenklich ist es aber, die für das aktive Tun entwickelten Grundsätze ohne weiteres auf das 388 Vgl. auch Welzel, 1969, S. 66: "Als Verwirklichungswille setzt der Vorsatz voraus, daß der Täter sich eine Einwirkungsmöglichkeit auf das reale Geschehen zuschreibt. Was nach der eigenen Ansicht des Täters außerhalb seiner Einwirkungsmöglichkeit liegt, das kann er als zuflillige Verknüpfung mit seiner Handlung wohl erhoffen oder wünschen, aber nicht verwirklichen wollen". Ebenso Otto, 1996a, S. 470, der den Ausfilhnmgen Welzels ausdrücklich zustimmt. 389 Vgl. Kühl, 1994, § 5 Rn. 33 m.w.N. 390 Dies bestreitet offenbar Roxin, 1962 a, S. 530 . . 391

Grünwald, 1966, S. 289,290.

392 Vgl. etwa SchönkelSchröder/Cramer, 1997, § 15 Rn. 98 (= sog. "zielgerichte-

tes Unterlassen"); LK.Jescheck, 1993, Vor § 13 Rn. 96; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn.27m.w.N.

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

Unterlassen zu übertragen. So läßt sich nicht überzeugend auf der einen Seite echte Kausalität bei der Unterlassung ablehnen und auf der anderen Seite Finalität mit Annahme eines voluntativen Elements beim Unterlassungsvorsatz bejahen. Wer an dem Dogma fehlender Kausalität beim Unterlassen festhalten will, muß vielmehr auch die damit verbundenen Auswirkungen auf der subjektiven Ebene akzeptieren. Folglich sollte entweder der Vorsatzbegriff rur den Bereich der Unterlassungsdelikte neu definiert werden oder aber es gilt die Prämisse fehlender Unterlassungskausalität nochmals zu überdenken.

2. Praktikabilität des Kausalitätskriteriums a) Fehlende Begrenzbarkeit

Bei Anwendung des Kausalitätskriteriums ist problematisch, bis zu welcher (gerade gewünschten) Verhaltensform das Geschehen nach Kausalitätsgesichtspunkten zurückverfolgt werden soll. Denn ein zumindest mitursächliches Verhalten in Form des aktiven Tuns wird sich regelmäßig finden lassen, gerade unter Berücksichtigung der anerkanntermaßen viel zu weiten Äquivalenztheorie, und nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Konstruktion der (psychisch vermittelten) fortwirkenden Kausalität393 . Anband dieser Basis besteht die Gefahr, daß auf der Suche nach einem strafbaren Verhalten das aktive Tun gegenüber dem in den Strafbarkeitsvoraussetzungen engeren Unterlassen zu weit ausgedehnt wird394 . Das Kausalitätskriterium könnte somit innerhalb der beiden Verhaltensformen zu einer Fehlverlagerung zugunsten strafbaren Tuns und zu Lasten straflosen Unterlassens ruhren. Verdeutlichen läßt sich die Problematik etwa an Fällen des Abbruchs eigener Rettungsbemühungen, bei denen die Rettung noch nicht in das Stadium einer "erreichbaren", d.h. einer konkreten erfolgversprechenden, Hilfe gelangt

393 Siehe zur fortwirkenden Kausalität beispielsweise Kühl, 1994, § 4 Rn. 34; Schönke/SchröderILenckner, 1997, Vorbem. §§ J3 1T. Rn. 77; WesseIs, 1996, § 6 I 3 Rn. 163 jeweils m.w.N. 394 Das erkennt auch Sieber, 1983, S. 434, der mit Hilfe anschaulicher Beispiele eindrucksvoll daraufhinweist, daß häufig schon die bloße Existenz eines Menschen filr deliktische Erfolge kausal wird. Aus diesem Grwtd verbindet er das Kausalitätskriteriwn auch in einschränkender Form mit dem Energiekriterium.

E. Kritische Würdigung der AbgreßZWlgsmerkmale

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ist395 . Zumeist wird das die Rettung abbrechende Verhalten kausal fiir den Eintritt des Erfolges sein. Denn ohne den Abbruch wäre die Rettung fortgefuhrt worden, und eben diese hätte den Erfolg verhindert. Bei Zugrundelegung des Kausalitätskriteriums müßte also in derartigen Fällen angesichts eines kausalen Verhaltens ein aktives Tun angenommen werden. Mißlich ist dieses Ergebnis besonders dann, wenn es um einen Nicht-Garantenpflichtigen geht, der etwa einen Ertrinkenden mit seinem Boot zunächst retten will, dann aber in dem Hilfe Benötigenden seinen "Erzfeind" erkennt, und ihn mit Tötungsvorsatz dadurch sterben läßt, daß er das Boot wieder ins Bootshaus einschließt, noch bevor er es überhaupt zu Wasser gelassen hatte. Hier diesen "Helfer" angesichts des für den Erfolg kausalen Wegsperrens des Bootes wegen aktiven Tuns nach §§ 211 ff. StGB zur Rechenschaft ziehen zu wollen, demgegenüber aber denjenigen, der von vornherein untätig bleibt, bloß über § 323 c StGB belangen zu wollen, muß aufgrund der Abhängigkeit des Ergebnisses von tatsächlichen Zufälligkeiten unbillig erscheinen. In beiden Fällen ist die Auflehnung gegen die Rechtsordnung, und damit die Strafwürdigkeit begangenen Unrechts, identisch. Ein solches Ergebnis ließe sich nur vermeiden, wenn man anstelle des aktiven Tuns dem gleichzeitig vorliegenden Unterlassen der Hilfeleistung396 stärkere Bedeutung beimessen wollte, was aber letztlich eine Aufgabe des Kausalitätskriteriums zugunsten einer Wertentscheidung bedeuten würde. Kausalität könnte dann bloß noch der begriftlichen Klärung von Tun und Unterlassen dienen. Insoweit scheint aber gerade das Körperbewegungskriterium brauchbarer3 97 .

b) Fehlende AlIgeme;ngiJlt;gkeit Unklar ist, wie das Kausalitätskriterium bei Delikten weiterhelfen kann, denen ein "Außenweltserfolg" und damit eine für die Kausalitätsprüfung not-

395 Vgl. zum anderen Fall, in dem die Rettungsbemühungen das Opfer schon fast erreicht haben, und in dem deshalb bei einem Abbruch der Rettung von einer "Umgestaltung" des Kausalgeschehens gesprochen werden kann, was letztlich immer zu einem aktiven Tun führen sollte, unten 2. Teil G. (= was beim Eingriff in einen fremden rettenden Kausalverlauf gelten muß, beansprucht natürlich auch beim Abbruch eigener Rettungsbemühungen Gültigkeit). 396 Gerade StofJers, 1992, S. 458 würde wohl hier von vornherein das gleichzeitige Vorliegen eines Unterlassens ablehnen. 397 Siehe dazu oben 2. Teil E. ll.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

wendige Komponente fehlt. Zu denken ist in diesem Zusammenhang insbesondere an versuchte Delikte, Vorbereitungsdelikte, Unternehmensdelikte, Tätigkeitsdelikte - sofern man dort eine generelle Begehbarkeit durch Unterlassung überhaupt anerkennen will 398 - oder an abstrakte Gefährdungsdelikte. Versperrt ist jedenfalls ein Ausweg aus dem Dilemma mit Hilfe des Vorschlags, die Kausalitätsprüfung bei Tätigkeits- und abstrakten Gefahrdungsdelikten an ein "Ereignis" anstelle an einen "Außenweltserfolg" wie bei den Erfolgsdelikten anknüpfen zu lassen - derart ganz offensichtlich Siebe,399. Denn diese Vorgehensweise muß zu dem allerdings absurden Satz fUhren, daß Kausalität im Sinne der Äquivalenztheorie immer dann gegeben ist, wenn eine Handlung nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß die Handlung (!) entfiele. Schließlich fallen bei den Tätigkeitsdelikten die vom Täter vorgenommene Handlung und das gesetzlich umschriebene Ereignis (z.B. die Zueignungshandlung i.S.v. § 246 StGB oder die Falschaussage i.S.v. § 153 StGB) zusammen, weshalb es notwendigerweise an einem für die Kausalitätsfrage relevanten "Bewirken" fehlt400 . Hieran zeigt sich die Unmöglichkeit einer Kausalitätsprüfung in diesem Deliktsbereich. Ein Kriterium, das aber nur bei bestimmten Delikten mit einer überhaupt denkbaren Kausalitätsprüfung Anwendung finden kann, muß wohl bereits wegen fehlender Allgemeingültigkeit ausscheiden. 3. Ergebnis

Festzuhalten bleibt, daß es einen Kausalitätsunterschied von Tun und Unterlassen nicht gibt. Angesichts einer bei beiden Verhaltensweisen gegebenen echten Kausalität kann das Kausalitätskriterium schon aus diesem Grund nicht als Differenzierungsmerkmal der beiden Handlungsformen herangezogen werden.

398 So etwa Steiner, 1971, S. 261 und SchönkelSchröderlStree, 1997, Vorbern. §§ 13 ff. Rn. 161; anderer Auffassung ist indessen BockelmannIVolk, 1987, § 17 A. II. Ausfilhrlich zum Anwendungsbereich des § 13 StGB Güntge, 1995, S. 65 ff., der sich letztlich ebenfalls gegen eine Anwendbarkeit des § 13 StGB auf sog. Tätigkeitsdelikte ausspricht (vgl. Güntge, a.a.O., S. 37,38,66). 399 Vgl. Sieber, 1983, S. 434. 400 Ebenfalls kann nicht weiterhelfen, mitJakobs, 1991, 28/1 bei den Tätigkeitsdelikten den Erfolg schon im Vollzug einer Körperbewegung zu sehen.

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

127

Außerdem hat sich gezeigt, daß das Kausalitätskriterium, soweit zur Bestimmung der Kausalität auf die gängige Äquivalenzformel zurückgegriffen wird, angesichts dann fehlender Begrenztheit als problematisch anzusehen ist. Darüber hinaus kann das Abgrenzungskriterium deshalb nicht überzeugen, weil es von vornherein nur auf Delikte zugeschnitten ist, die einer Kausalitätsprüfung überhaupt zugänglich sind.

v. Auseinandersetzung mit dem Werturteilskriterium Bereits H. Mayer mußte zugestehen, daß mit Hilfe eines vorzunehmenden Werturteils eine klare Grenzziehung zwischen aktivem Tun und Unterlassen nicht möglich ist. Das liegt nicht zuletzt daran, daß konkretisierende Merkmale, die das Werturteil auszufüllen vermögen, nicht angegeben werden. Insbesondere derartig vage Gesichtspunkte, wie "Intensität des bösen" oder "rechtsfeindlichen Willens"401, tragen nicht zu einer Transparenz und damit Handhabbarkeit des Kriteriums bei 402 . Wegen der Unbestimmtheit des Werturteilskriteriums bleiben die besonders im Strafrecht wichtigen Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit unberücksichtigt. Jene müssen deshalb zu einer Ablehnung dieser Auffassung führen 403 .

VI. Auseinandersetzung mit dem Kriterium "Ausschöpfung des Unrechtsgehalts" Hier kann eine Kritik an mehreren Punkten ansetzen: Zunächst scheint die Praktikabilität des Kriteriums "Ausschöpfung des Unrechtsgehalts der Tat" angesichts geringer Klarheit zweifelhaft; darüber hinaus ist der Hinweis, nicht auf einheitliche Grundsätze bei der Abgrenzung zurückgreifen zu können, bedenklich; und schließlich ist die Betonung, daß eine Lösung nur in einer komplexen Betrachtung des Gesamtvorgangs liegen könne, äußerst problematisch.

401 Vgl. auch Mayer, 1936, S. 215; ders. 1953, S. 113. 402 Subjektive Erwägungen sollen ohnehin einer Abgrenzung der jeweiligen Verhaltensform wenig förderlich sein, derart etwa StojJers, 1992, S. 102. 403 Ebenso StojJers, 1992, S. 102.

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

Das recht globale Merkmal "Ausschöpfung des Unrechtsgehalts der Tat" ist kein spezifisch auf die Handlungsfonn zugeschnittenes Abgrenzungskriterium. Denn der Gesichtspunkt "Ausschöpfung des Unrechtsgehalts der Tat" hat allgemeine Bedeutung, er läßt sich insgesamt auf die Strafbarkeit beziehen und kann selbst noch bei der Frage der Konkurrenzen Geltung beanspruchen. Den Besonderheiten von Tun oder Unterlassen kann man damit nicht gerecht werden. Vor allem fehlt eine inhaltliche Ausfiillung dessen, was den je nach Handlungsfonn verschieden gearteten Unrechtsgehalt einer Tat ausmachen so1l404. Eine gefiihlsmäßige Entscheidung fiir ein Tun oder Unterlassen kann jedenfalls nicht akzeptiert werden. Erschwert wird eine Lösung der Abgrenzungsfrage durch den Hinweis, daß einheitliche Grundsätze fehl am Platz seien. Denn damit wird bei der Festlegung der Handlungsfonn jede Prognose unmöglich gemacht und dem potentiellen Täter eine Einstufung seines Verhaltens als Tun oder Unterlassen, im Extremfall mit den unterschiedlichen Folgen von Strafbarkeit oder Straflosigkeit, verwehrt. Dies ist aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten heraus nicht tragbar. Es fehlt so zudem jede Transparenz bei der Ergebnisfindung, die eine Nachprüfbarkeit der Entscheidung fiir eine bestimmte Handlungsfonn nahezu unmöglich macht. Wenn dann zusätzlich noch auf die Notwendigkeit einer komplexen Betrachtung der Dinge verwiesen wird, verstärkt dies die ohnehin schon zu verzeichnende Konturenlosigkeit.

VII. Auseinandersetzung mit der Schwerpunktformel Ungeeignet ist die Schwerpunktfonnel zur Begriffsbestimmung von Tun und Unterlassen, da das Schwerpunktkriterium eine begrifiliche Trennung der Handlungsfonnen voraussetzt405 . Denn es wird danach gefragt, ob im aktiven 404 So auch Engisch, I 973a, S. 176; Stoffers, 1992, S. 62; ders., 1993 a, S. 28. 405 In diese RichtWlg geht auch die Kritik von Bemsmann, 1994, S. 10, 11; GiJssel, 1984, S. 325; MaurachlGiJssel, 1989, § 45 I Rn.6; Samson, 1974, S. 585; Struensee, 1993, S. 137. Die hier vorgetragene Kritik soll Wlabhängig davon erfolgen, welche Intention die Vertreter dieses Abgrenzungskriteriwns verfolgen, insbesondere ob es von diesen etwa ohnehin nicht zur begrifflichen Klärung von TWl Wld Unterlassen vorgesehen ist. Denn das Kriterium soll als solches auf seine Verwendbarkeit hin überprüft werden, mithin nicht erst Wlter Zugrundelegung einer bestimmten AuslegWlgs- Wld Sichtweise von Befilrwortem der sog. "SchwerpWlktfonnel".

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

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Tun oder im Unterlassen der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt. Was jeweils unter Tun oder Unterlassen zu verstehen ist, wird nicht zuvor geklärt. Höchstens bei mehrdeutigen Verhaltensweisen, also wenn bereits feststeht, daß aktives Tun und Unterlassen in Betracht kommen, kann die Schwerpunktformel einen Anwendungsbereich haben. Als einziges Abgrenzungskriterium muß die Schwerpunktformel zu unbestimmt erscheinen 406 . Aufweiche Weise und anhand welcher rechtlicher oder auch tatsächlicher Anhaltspunkte sich der "Schwerpunkt" der Vorwerfbarkeit ermitteln läßt, wird nicht näher dargestellt. Dabei ist es fiir hinlängliche Anwendungsklarheit notwendig, deskriptive Gesichtspunkte anzugeben, die den Spezifika von Tun und Unterlassen bzw. von Verbot und Gebot Rechnung tragen. Die Begriffe "Schwerpunkt" und "Schwergewicht" lassen auf eine gewisse QuantifIzierung schließen. Die Möglichkeit, Tun und Unterlassen im Hinblick auf ihre Vorwerfbarkeit mengenmäßig im Sinne einer zählbaren Abstufung von "mehr oder weniger vorwerfbar" zu erfassen, ist aber mit einem Fragezeichen zu versehen. Häufig steht in Fällen ambivalenten Verhaltens eine Unterlassung einem Tun gegenüber, so daß von daher eine quantitätsabhängige Ermittlung eines "Schwerpunkts" Schwierigkeiten bereiten wird. Zudem beinhaltet die Frage nach der Vorwerfbarkeit eine rein wertende Sicht der Geschehnisse, sie läßt sich deshalb schwerlich mit einer mengenmäßigen Erfassung vereinbaren. Denn rechtliche Wertung kann man nicht zählbar messen. Darüber hinaus wird mit Hilfe einer Schwerpunktbildung der Unrechtsgehalt einer Tat nicht erschöpfend gewürdigt. Soweit auf die Vorwerfbarkeit abgestellt wird, sollte das Ergebnis lauten: Vorwerfbarkeit bzw. keine Vorwerfbarkeit; nicht aber, daß mengenmäßig der Vorwurf je nach Tun oder Unterlassen schwerer oder weniger schwer wiegt. Denn wenn bei einer Verhaltensweise auch nur ein Restbestand an rechtlicher Vorwerfbarkeit zu konsta406 I.d.S. auch Jakobs, 1991,28/4, der von einer Preisgabe der Dogmatik zugunsten "vager Abwägungen" spricht und Roxin, 1962, S. 418, nach dessen Ansicht die Schwerpunktformel "mit Hilfe unkontrollierbarer Maßstäbe aus rechtlich ungeregelten Räumen" arbeitet.

Ganz ahnlich die Vorwürfe bei BockelmannIVolk, 1987, § 17 G; Kühl, 1994, § 1811 Rn. 14; Küpper, 1990, S. 75; JescheckIWeigend, 1996, § 5811 3; Ono/Brammsen, 1985, S. 531; Ranft, 1963, S. 344; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 6; Seelmann, 1987, L 35; AK-StGB/Seelmann, 1990, § 13 Rn. 24; NK-Seelmann, 1995, § 13 Rn. 27; Sie-

ber, 1983, S. 436; StojJers, 1992, S. 59; Struensee, 1993, S. 138 dort Fn.29; Welp, 1968, S. 106. 9 Schneider

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2. Teil: Tun und Unterlassen

tieren ist, kann dieser nicht damit übergangen werden, daß der Vorwurf - bezogen auf die jeweils andere Verhaltensweise - als bloß geringfügig eingestuft wird. Wenn ein Rechtsvorwurf erhoben wird, muß dieser auch im Hinblick auf eine mögliche Straftatverwirklichung weiterverfolgt werden. Erst auf der Ebene der Konkurrenzen kann sich dann die Frage der Subsidiarität stellen. Angesichts der geringen Klarheit, die von der Formel "Schwerpunkt" der Vorwerfbarkeit ausgeht, wird gegen derartige Lösungsansätze zu Recht die Gefahr der Willkür vorgebracht407 . Es ist davon Rede, daß "Gefühlserwägungen roh und direkt, ohne wesentliche begriffliche Verfeinerung, in die Strafrechtswissenschaft übernommen (werden)"408. Zusätzlich erschwert wird die Anwendbarkeit der Schwerpunktformel durch die uneinheitliche Terminologie. Denn die Ausdrucksweise reicht vom "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" bzw. "Schwerpunkt des Verhaltens" über "Schwergewicht der Vorwerfbarkeit" bis hin zum "Schwergewicht der Tat". Über die Konturenlosigkeit der "Schwerpunktformel" vermag auch ein rechtfertigender Hinweis auf den zur Zeit allgemein vorherrschenden Trend zunehmender Normativierung - und einer damit wesenseigentüm1ich verbundenen Unbestimmtheit - strafrechtlicher Konzeptionen409 nicht hinwegzuhelfen. Folglich ist die "Schwerpunktformel" keine wirkliche Entscheidungshilfe bei der Bestimmung von Tun und Unterlassen in ambivalenten Fällen. Zu Recht weist Sto.fJers darauf hin, daß sich nicht selten vernünftige Gründe vorfinden lassen, die es einem erlauben, den Schwerpunkt des Verhaltens einerseits beim Handeln, andererseits beim Unterlassen zu sehen41O .

407 Vgl. nur Engisch, 1973a, S. 176; Roxin, 1962, S. 417. 408 Derart pointiert Arzt, 1978, S. 562. 409 Vgl. StojJers, 1992, S. 56; ders., 1993 a, S. 27, der mit diesem Hinweis allerdings dem Trend wachsender Nonnativierung keine Zustimmung erteilen will, stattdessen gerade die Notwendigkeit der Strafrechtsdogmatik hervorhebt. Richtigerweise wird man aber zwischen Nonnativierung auf der einen Seite und Dogmatik auf der anderen Seite nicht unbedingt einen Gegensatz erblicken müssen, sondern beide Begriffe im Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit verstehen kÖlUlen. DelUl jede Dogmatik muß sich im Strafrecht einer wertenden Kontrolle unterziehen lassen und ist insofern von wertenden Dimensionen mitgeprägt. So ist beispielsweise die Zurechnung Teil strafrechtlicher Dogmatik, die letztlich auch aus der ErkelUltnis einer notwendig ergebnisorientierten Wertung hervorgegangen ist. 410 StojJers, 1992, S. 58; ders., 1993 a, S. 27.

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

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VIII. Auseinandersetzung mit dem Kriterium der sozialen Sinnhaftigkeit Solange bei diesem Abgrenzungskriterium die für jedes denkbare (wünschenswerte) Ergebnis heranziehbaren Begriffe "soziale Sinnhaftigkeit" nicht mit substanzhaltigen, einzelfallübergreifenden Kriterien ausgefüllt werden, muß die fehlende Fassbarkeit und demzufolge Ungenauigkeit411 der Abgrenzungsformel als deren großer Nachteil angesehen werden. Jener führt letztlich dazu, daß von einer wirklichen Begründung eines gewonnenen Ergebnisses nicht gesprochen werden kann. Schon zweifelhaft erscheint, was mit dem Gesichtspunkt "sozial" zu erreichen ist, der von der Wortbedeutung her ganz allgemein "die Gesellschaft betreffend" beinhaltet. Inwieweit sich damit etwas in spezifischer Weise über eine Handlungsform aussagen läßt, ist fraglich. Gleiches gilt für den Zusatz "Sinnhaftigkeit". Der Ausdruck "Sinn" ist darüber hinaus mit derart vielen Bedeutungsvarianten (von "Verständnis" bis hin zu "Zweck") belegt, daß eine einheitliche Abgrenzungsmethode nicht erzielbar ist. Ganz zu Recht wird daher Vertretern dieses Unterscheidungsmerkmals vorgeworfen, daß sie "in einer gleichsam oberflächlichen Globalprüfung, das Ergebnis, das eine gründliche Deliktsprüfung erst aufdecken soll, vorweg(nehmen)"412. Und zutreffend erfolgt der Hinweis, daß "gefühlsmäßig [... ] der soziale Schwerpunkt eines Verhaltens stets dort empfunden' werden (wird), wo diese Verhaltensweise als strafbare erlebt wird"413. Folglich ist die "rationale Konstruktion [... ] an einem wichtigen Punkt der Deliktsprüfung durch eine emotionale Wertung vorbelastet"414. Gerade emotionale Wertungen können keine tragfähige Basis für eine Deliktsprüfungsein. Die wichtige Weichenstellung bei der Frage der Handlungsform darf nicht einem bloß "irrationalen" Werturteil überlassen bleiben, sondern muß mit Hilfe sachlicher Gründe transparent gemacht werden.

411 Ebenso Engisch, 1973a, S. 176; Gijssel, 1984, S. 325; Stoffers, 1992, S. 103; Stroensee, 1993, S. 137,138; Welp, 1968, S. 106 (insb. dort Fn. 15 m.w.N.). 412 Otto, 1996, § 9 I 2 a.

413 414

Otto, 1996, § 9 I 2 a. Otto, 1996, § 9 I 2 a.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

IX. Auseinandersetzung mit der Zweifelslösung Zutreffend wird gegen dieses Abgrenzungskriterium eingewendet, daß bei konsequenter Entscheidung im Zweifel für das aktive Tun, ungerechte Ergebnisse dann entstehen müssen, wenn Unterlassungen mit nebensächlichen Handlungen i.S.v. Tun verbunden sind415 . In dem Falle etwa, in dem eine Mutter ihr wenige Monate altes Kind dadurch verhungern läßt, daß sie es über einen längeren Zeitraum nicht ausreichend versorgt und am Schluß dem Kindermädchen die schriftliche Anweisung erteilt, dem Kind lediglich Tee zu verabreichen 416 , müßte mit der Zweifelslösung ein Begehungsdelikt angenommen werden. Denn das Erteilen der Anweisung als solches stellt unzweifelhaft aktives Tun dar. In Anbetracht der von der Mutter gleichzeitig unterlassenen ausreichenden Ernährung, die sich zudem über einen längeren Zeitraum erstreckt, spielt die Anweisung an das Kindermädchen allerdings eine bloß untergeordnete Rolle. Weiterhin ist das mit dem Zweifelssatz gewonnene Ergebnis, wonach ohne jede Wertungskontrolle im Zweifel aktives Tun den Vorrang gegenüber dem Unterlassen genießen soll, durch tatsächliche Begebenheiten gezielt zu beeinflussen, insoweit aber auch ZufäIligkeiten unterworfen417 . Dies ist denkbar, wenn etwa aufgrund technischer Umstände418 anstelle oder neben einem Unterlassen ein aktives Tun notwendig wird. So können die bei einer medizinischen Behandlung zur Verfiigung stehenden technischen Hilfsmittel einmal so konstruiert sein, daß sie sich von selbst ausschalten, also eines Knopfdruckes zum jeweiligen erneuten Einschalten bedürfen, oder dergestalt, daß die Geräte von selbst durchgehend weiterlaufen und ausgeschaltet werden müssen419 . Hängt jetzt der Eintritt eines tatbestandlichen Erfolges vom Weiterlaufen des Gerätes ab, so ist einmal zum Nichteintritt des Erfolges aktives Tun durch 415 Siehe hinsichtlich dieser Kritik etwa SchönkelSchröderlStree, 1997, Vorbem

§§ 13 ff. Rn. 158. 416 Ähnlich die Fallgestaltung bei BGHSt. 40,257 tf. 417 Vgl. auch Ranft, 1963, S. 344. 418 Anschauliche Beispiele filr technische Zufälle fmden sich bei See/mann, 1987, L 33 u. L 34; AK-Seelmanll, 1990, § 13 Rn.23; NK-Seelmann, 1995, 1.2 § 13 Rn. 23 und Volk, 1989, S. 223 ff., der aufgrund der häufig vorkommenden, technisch bedingten Beliebigkeit, ob jemand pflichtwidrig einen Knopf gedrückt hat (= aktives Tun) oder es pflichtwidrig unterließ, einen Hebel umzulegen (= dann Unterlassen), eine Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen sogar ganz filr überflüssig hält; denn davon dürfe jedenfalls die Frage der Strafbarkeit des Täters nicht abhängen. 419 Vgl. SchönkelSchröderlStree, 1997, Vorbem §§ 13 tf. Rn. 160.

E. Kritische Würdigoog der Abgrenzungsmerkmale

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Ausschalten der Apparatur notwendig, das andere Mal gerade nicht, je nachdem, wie im Einzelfall die Maschine konstruiert ist. Oder ein Auto kann so beschaffen sein, daß das eine Mal rur die Weiterfahrt ein Druck aufs Gaspedal notwendig ist und das andere Mal nicht, wenn es mit einem feststellbaren Gashebel ausgestattet ist420 . JedesmaI sind es ausschließlich technische Vorgegebenheiten, die die Verhaltensweise in Form von Tun oder Unterlassen bestimmen. Daß technische Zufalligkeiten keinen Einfluß auf die Frage der Strafbarkeit421 haben dürfen, müßte unstreitig sein. Zu Recht folgert Mö//ering422 , daß ansonsten die "technischen Gegebenheiten [... ] das Verhalten gegenüber dem Menschen (bestimmten) und nicht der Mensch (... ] das Maß rur den Einsatz der technischen Mittel (wäre). Nichts könnte die Unterordnung des Menschen unter die Technik deutlicher zum Ausdruck bringen [... ]". Und Schünemann konstatiert: "Für die modemen technischen Abläufe sind die Kategorien der Handlung und der Unterlassung zu zufälligen Spielarten der Herrschaft über die Maschine geworden, die keinerlei Bewertungsunterschiede mehr zu tragen vermögen"423. Notwendig ist daher eine dem Einzelfall gerecht werdende Betrachtung424 , die festlegt, welche Verhaltensform vorliegt, und nicht eine vorweggenommene, generalisierende Entscheidung425 . Selbst Kienapfel als Vertreter des Primats des strafbarkeitsausschöpfenden Tuns bei mehrdeutigen Verhaltensweisen mußte erkennen, daß dieses Prinzip nicht immer zu gerechten Ergebnissen verhelfen kann: Wenn dem Unterlassen neben oder an Stelle des Tuns ein eigenständiger Unwertgehalt zukommt, will auch er deshalb von einem Vorrang des aktiven Tuns absehen426 .

420 VgJ. Schüllemallll, 1971, S. 283. 421 Wie bereits ausgeführt, hängt die Frage der Strafbarkeit entscheidend davon ab, weIche VerhaItenslonn zugrundeIiegt. VgJ. zur Veranschaulichoog der Alternative Straffreiheit/Strafbarkeit, je nachdem ob Unterlassen oder aktives Too angenommen wird, AK-Seelmanll, 1990, § 13 Rn.23; NK-Seelmann, 1995,1.2 § 13 Rn. 23. 422 Möllering, 1977, S. 62. 423 Schünemann, 1971, S. 283.

424 Ebenso Ranft, 1963, S. 344. 425 VgJ. auch Rallft, 1963, S. 344: "Stellt man bei einem doppeldeutigen Verhalten (... ) 'im Zweifel' (... ) auf das aktive Tun ab (... ], so nimmt man die Wertoog vorweg, daß das positive Tun inuner schwerer wiegen müsse als das Unterlassen". 426 Kienapfel, 1976, S. 285; ders., 1984, S. 477.

134

2. Teil: Tun und Unterlassen

Neben anwendungsbezogenen Problemen ist auch inhaltliche Kritik anzumelden, die sich auf den Ansatz der Zweifelslösung bezieht. Der Schluß, daß das Begehungsdelikt Vorrang vor dem Unterlassungsdelikt genießen soll, läßt sich nämlich weder gesetzlich, noch mit dogmatischen Grundsätzen begrunden427 . Insbesondere ist eine Legitimation nicht mit dem Hinweis möglich, daß der Gesetzgeber im Strafrecht ganz überwiegend Verbote anstelle von Geboten aufgestellt hat. Denn dies kann nicht als Ausdruck einer Wertigkeit beider Handlungsformen gesehen werden, sondern ist Folge eines grundsätzlich liberalen Gesellschaftssystems. Die beiden Verhaltensformen stehen auch nicht in einem Stufenverhältnis in dem Sinne zueinander, daß die Unterlassung ein Weniger an aktivem Tun428 oder eine Unterform davon wäre, also die Unterlassungsdelikte gegenüber den Begehungsdelikten als "Auffangnormen" verstanden werden müßten. Vielmehr ist das Unterlassen als weitere denkbare Handlungs/orm - also noch nicht unter dem davon zu trennenden Blickwinkel eines im Ergebnis strafbaren oder straflosen Verhaltens - gegenüber dem positiven Tun ein "gleichwertiges" a1iud429 .

427 So auch Herzberg, 1985, S. 181, der ausdrücklich davon spricht, daß sich die Prämisse, das Begehungsdelikt genieße dogmatisch unbedingten Vorrang vor dem Unterlassungsde1ikt, durch nichts legitimieren lasse und wohl Folge einer reinen "Denkgewohnheit" sei. 428 Eine vergleichbare Sichtweise fmdet sich beispielsweise bei Wolff, 1965, S. 42, der davon ausgeht, daß die Gebote nicht als minus in den Verboten enthalten seien. 429 Radbroch, 1904, S. 140 geht sogar soweit, daß Handlung und Unterlassung im Verhältnis von "Position und Negation", "a und non-a" zueinanderstehen. Gerade soweit man auf eine rein ontische Ebene abstellt, muß dem zugestimmt werden. Entgegen Radbroch soll aber die hier vertretene Auffassung nicht ausschließen, Tun und Unterlassen als Unterformen eines einheitlichen Tun und Unterlassen umfassenden Handlungsbegriffs zu verstehen, wenn man den Begriff Handlung als ein vom menschlichen Willen gesteuertes sozial erhebliches Verhalten ansieht, und damit Handeln und Unterlassen als Grundmöglichkeiten strafbaren Verhaltens versteht (derart etwa SK-Rudolphi, 1995, Vor § 1 Rn. 17, 18; vgl. auch LK.Jescheck, 1993, Vor § 13 Rn. 90; ausfilhrlich zu einem Tun und Unterlassen umfassenden "personalen" HandlungsbegriffArlhur Kaufmann, 1966, S. 79 tf). Denn auch wenn hier das Unterlassen gegenüber dem Tun als aliud eingestuft wird, müssen beide Verhaltensformen nicht im Sinne Radbrochs als kontradiktorische Gegensätze aufgefaßt werden, die sich nicht unter einen gemeinsamen Oberbegriff der Handlung einordnen lassen. Der Begriff der Handlung kann also durchaus als das genus proxirnum von Tun und Unterlassen angesehen werden; vgl. zum gegenteiligen Standpunkt aber etwa Gilntge, 1995, S. 26.

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

135

X. Auseinandersetzung mit dem Kriterium der Gefahrsteigerung bzw. Risikoerhöhung Daß aktives Tun bei einer Herbeifiihrung oder Steigerung einer Gefahr vorliegen soll und Unterlassen, wenn diese Gefahr nicht vennindert wurde, ist in Fällen mehrdeutigen Verhaltens nicht immer hilfreich. Speziell im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte kann sowohl eine Herbeiführung oder Steigerung einer Gefahr durch die vorgenommene Handlungsweise als auch gleichzeitig eine fehlende Venninderung dieser Gefahr durch die Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt angenommen werden 43o . So läßt sich beispielsweise im eingangs bereits angesprochenen sog. "Ziegenhaarfall"431 ein aktives Tun damit begründen, daß infolge der Aushändigung der Ziegenhaare eine Gefahr für die Aibeiter herbeigeführt wurde. Gleichzeitig läßt sich aber vertreten, daß aufgrund der fehlenden Desinfektion eine Verminderung der Lebensgefährdung unterblieben ist, also ein Unterlassen vorlag. Damit wird deutlich, daß bei der Abgrenzung des aktiven Tuns vom Unterlassen das Kriterium der Gefahrsteigerung bzw. fehlenden Gefahrverminderung wenig nutzbringend ist.

XI. Auseinandersetzung mit dem Kriterium Achtungsanspruch des Rechtsguts Ein Abstellen darauf, welche Pflicht dem Täter aufgrund des Achtungsanspruchs eines Rechtsguts im Einzelfall auferlegt ist - entweder eine verbessernde Leistung zu erbringen oder eine Verschlechterung der Lage des Opfers zu vermeiden -, steht in enger Verwandtschaft zum Ansatz "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit des Verhaltens". Denn beiden Kriterien ist zu eigen, daß sie die (rechtsgutsbezogene) Pflichtverletzung in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. Allerdings muß dem Kriterium "Achtungsanspruch des Rechtsguts" gegenüber der Schwerpunktformel mehr Klarheit bescheinigt werden: Denn der Handlungsvorwurf wird an der konkret bestehenden Rechtsgutssituation festgemacht, und es wird die Frage letztlich darauf zentriert, ob der Achtungsanspruch des Rechtsguts in concreto eine Verbesserung der Rechtsgutslage verlangt oder eine Verschlechterung verbietet. 430 Vgl. auch Maurach/Gössel, 1989, § 45 I Rn. 9. 431 RGSt. 63, 211 fT.

136

2. Teil: TWl Wld Unterlassen

Im Fahrlässigkeitsbereich hilft aber auch dieser Ansatz alleine nicht weiter: Dort lassen sich vom Achtungsanspruch des Rechtsguts her sowohl eine Verpflichtung zum Unterlassen (des sorgfaltswidrigen Verhaltens) als auch zum Handeln (hinsichtlich der Erfüllung des Sorgfaltsmaßstabs) begründen. Denn die das Rechtsgut verschlechternde Lage wird sowohl durch Tun als auch durch Unterlassen hervorgerufen. Maßgebend muß also im Fahrlässigkeitsbereich ein anderes Kriterium sein, das die Entscheidung für ein Tun oder Unterlassen vorklärt. Als Kontrolle bietet sich dann das Fragen nach dem Achtungsanspruch an. Zudem ist problematisch, daß das Erscheinungsbild keine Berücksichtigung findet. Folge könnte sein, daß rein ergebnisorientiert ein nach außen hin eindeutiges Verhalten "umgedeutet" wird.

XII. Auseinandersetzung mit dem Zerlegungsverfahren Mit Hilfe dieser Abgrenzungsmethode wird ein Lebenssachverhalt "scheibchenweise" in einzelne Elemente des aktiven Tuns und des Unterlassens aufgeteilt. Derart besteht aber die Gefahr, daß ein einheitliches Geschehnis, das insgesamt einer rechtlichen Bewertung zugeführt werden sollte, in unnatürlicher Weise aufgegliedert wird. Primär bei Fahrlässigkeitsdelikten, bei denen trotz phänomenologisch aktiven Tuns denknotwendig aufgrund der Sorgfaltspflichtverletzung ein gebotenes Verhalten "unterlassen" wird432, muß das Zerlegungsverfahren zu mehreren vorliegenden und gesondert zu beurteilenden Verhaltensformen gelangen433 . Jedoch soll als Fahrlässigkeitstat nicht in getrennter Weise zum einen

432 Vgl. Arlhur Kaufmann, 1961, S. 212; Schlachter, 1976, S. 796; Welp, 1968, S. 119, 120; Wesseis, 1996, § 16 I 2 Rn. 699. 433 So schließlich etwa Schlachter, 1976, S. 796, 797, die dann folgerichtig eine LÖSWlg (erst) auf der Konkurrenzebene hinsichtlich TWl Wld Unterlassen sucht. Inkonsequent zu seinen vorhergehenden Ausführungen zwn anzuwendenden ZerlegWlgsverfahren gelangt aber BlJhm, 1957, S. 21 bei den Fahrlässigkeitsde\ikten zu einem allein vorliegenden aktiven TWl. Denn das Gewicht des Verhaltens soll nicht in der Wlterlassenen Vorsichtsmaßnalune liegen, sondern darin, daß trotz der WlterIassenen sorgfaltsgerechten Verhaltensweise gehandelt wurde. Anscheinend will auch BlJhm im Fahrlässigkeitsbereich auf den Schwerpunkt der Vorwertbarkeit abstellen oder - mit seinen Worten - auf das Gewicht des Verhaltens. Allerdings spricht er an anderer Stelle davon, daß nach einer natarlichen Betrachtung an das im Vordergrund stehende TWl anzuknüpfen sei; so BlJhm, 1957, S. 22.

E. Kritische WürdigWlg der AbgrenzWlgsmerkmale

137

das zeitgleiche oder zeitlich dem aktiven Tun vorhergehende Unterlassen der gebotenen Sorgfalt (etwa das Unterlassen der Desinfektion der Ziegenhaare) und getrennt davon zum anderen die Auswirkung dessen durch ein weiteres Verhalten in Form des aktiven Tuns (etwa durch die Aushändigung der Ziegenhaare an die Arbeiter) geahndet werden. Im Gegenteil: Es soll insgesamt einmal die sich in der Außenwelt auswirkende Sorgfaltspflichtverletzung in bestimmten, gesetzlich festgelegten Fällen mit Strafe bedroht werden. Denn die Sorgfaltswidrigkeit stellt nur eine bestimmte Art und Weise der rechtsgutsbeeinträchtigenden Handlung dar'*34. Auch erweist sich in diesem Zusammenhang das Zerlegungsverfahren als praktisch undurchfiihrbar'BS: Ungeklärt bleibt nämlich die Frage, in wieviele Unterlassungen die Nichtvornahme des sorgfaltsgerechten Verhaltens aufzuteilen ist, wieviele gesondert zu beurteilende Fragmente eines Verhaltenskomplexes also entstehen soIlen436 . Liegt etwa in jeder sich dem Täter bietenden Möglichkeit, sich sorgfaltsgerecht verhalten zu können, eine Unterlassungstat? Folge solcher Vorgehensweise wäre, daß bei einem fahrlässigen Verkehrsunfall aufgrund einer Vorfahrtspflichtverletzung mehrere Fahrlässigkeitstaten in Betracht kämen437 : 1. Als schadensnächstes Verhalten jedenfalls der Aufprall in Form des aktiven Tuns durch das Fahren. 2. Dann eine logische Sekunde vorher eine weitere Fahrlässigkeitstat durch Unterlassen in Form des Nichtbeachtens des Schildes. 3. Vielleicht sogar zuvor noch eine Vielzahl von Unterlassungen ab dem Zeitpunkt des Erkennenkönnens des Schildes in Gestalt einer Nichtbeachtung durch Unaufmerksamkeit. Anband dieses Beispiels wird deutlich, daß eine Aufteilung einheitlich zu bewertender Lebensvorgänge nicht nur mit dem Gedanken des Fahrlässig-

434 Vgl. Maurach/Gössel, 1989, § 45 Il Rn. 31. 435 Es ist also insoweit ausdrücklich Böhm, 1957, S. 18 zu widersprechen, der meint, mit Hilfe des ZerlegWlgsverfahrens in jedem Fall eindeutig bestimmen zu können, ob TWl oder Unterlassen vorliege. 436 Ganz allgemein kritisiert Stoffers, 1992, S. 256, daß Wlgeklärt sei, nach welchen Maßstäben die ZerlegWlg eines Verhaltenskomplexes in seine Verhaltensteile zu erfolgen habe. Kienapfel, 1976, S. 283 spricht sogar davon, daß eine ZergliedefWlg fahrlässiger Taten in Elemente des TWls Wld des Unterlassens nicht ohne Willkür geschehen kÖlllle.

437 Wobei das selbstverständlich voraussetzt, daß neben dem Vorliegen einer eigenständigen Verhaltensform alle sonst notwendigen Erfordernisse des Fahrlässigkeitsdelikts vorliegen.

138

2. Teil: TWl Wld Unterlassen

keitsvorwurfs unvereinbar ist, mit dem untrennbar eine Unterlassung einhergeht, sondern zudem wirklichkeitsfremd wirkt. Denn das Außerachtlassen der Sorgfalt ist mit der erfolgenden Handlung im Sinne von Tun "in Einem als komplexes Verhalten kombiniert"438. Zu Recht betont auch der BGH die Notwendigkeit einer zunächst unbefangenen Betrachtung der Dinge439 . Nach dessen zutreffender Auffassung sollten daher nicht "einheitliche Lebensvorgänge, die nur als Ganzes aufgefaßt und verstanden werden können, sinnwidrig in Tätigkeiten und Unterlassungen" aufgespalten werden, "etwa Schnellfahren als unterlassenes Langsamfahren, Fahren als unterlassenes Halten" behandelt werden44o . Ohne Probleme ließen sich ansonsten im Wege einer isolierten Betrachtung einzelner Geschehenselemente sämtliche fahrlässige Begehungstaten in (zahlreiche) Unterlassungsdelikte umdeuten441 .

XIII. Auseinandersetzung mit der Lehre vom "Unterlassen durch Tun" Letztlich unterscheidet sich die Lehre vom Unterlassen durch Tun nicht gravierend von den sonstigen normativen Abgrenzungslehren, die ebenfalls entgegen einem bestimmten vorzufindenden äußeren Erscheinungsbild - rein aus wertenden Gesichtspunkten heraus die rechtlich relevante Verhaltensweise festlegen. Auch wenn die Lehre vom Unterlassen durch Tun im Gegensatz zu den "herkömmlichen" normativen Abgrenzungstheorien eine andere Ebene betrifft, und zwar nicht mehr die Ebene der Handlungsform, sondern ausschließlich die der Deliktsform, bringt dies von der Sache her keinen Erkenntnisgewinn. Denn ob ein in Erscheinung tretendes positives Tun von vornherein als Unterlassen "gewertet" wird, oder aber trotz des festgestellten aktiven Tuns aus normativen Erwägungen heraus die Delikts/orm des Unterlassungsdelikts gewählt wird, bleibt sich am Ende gleich. Obwohl das "Unterlassen durch Tun" als eigenständige Rechtsfigur begriffen wird, handelt es sich eigentlich um nichts anderes als die Umschreibung der Kernaussage eines normativen Verständnisses der Einordnung der VerAndroulakis, 1963, S.64. 439 Vgl. BGHSt. 8,8 ff., 10: "Das Fahren, insbesondere auch das zu schnelle Fahren, ist für Wlbefangene Betrachtung kein Unterlassen, sondern ein TWl". 440 BGHSt. 8,8 ff., 11, 12. 441 Auf diese Gefahr weist insbesondere auch Wessels, 1967, S. 450,451 hin. 438

E. Kritische Würdigung der Abgrenzungsmerkmale

139

haltensweisen zu den Begehungs- und Unterlassungsdelikten. Und dieser Gesichtspunkt wird auch von den übrigen normativen Abgrenzungslehren für wesentlich erachtet. Sowohl Vertreter der normativen Abgrenzungskriterien im Sinne einer Abgrenzung von Tun und Unterlassen als auch Vertreter der Lehre vom "Unterlassen durch Tun" gehen nämlich davon aus, daß die rechtliche Qualifikation nicht notwendig mit der ontisch vorflndbaren Erscheinungsform des menschlichen Verhaltens übereinstimmen muß. Freilich muß der Lehre vom Unterlassen durch Tun gerade aufgrund des eindeutigen Auseinanderhaltens der Fragen (1) Bestimmung der Handlungsweise als aktives Tun oder Unterlassen und (2) Zuordnung der festgelegten Verhaltensform zu den Deliktsformen Begehungs- und Unterlassungsdelikten größere Klarheit und Offenheit bescheinigt werden. Denn es wird nicht in versteckter Weise eine Handlungsform umgedeutet, sondern offengelegt, daß vorliegendes Tun oder Unterlassen aus rechtlichen Erwägungen nicht den jeweiligen entsprechenden Deliktsarten zugeordnet werden soll. Der teilweise vorgebrachte Kritikpunkt, aufgrund der Gegensätzlichkeit von Tun und Unterlassen sei eine derartige "Konstruktion" des Unterlassens durch Tun bereits begriffsnotwendig ausgeschlossen442 , trifft demzufolge nicht zu. Es wird verkannt, daß begrifflich mit Hilfe der Rechtsfigur vom Unterlassen durch Tun nicht etwa das Tun als Unterlassen ausgelegt, sondern das ontisch vorliegende Tun aus normativen Gesichtspunkten heraus dem Unterlassungsdelikt zugerechnet wird. Angesichts dieses normativen Verständnisses der Einordnung von ontisch vorflndbarer Verhaltensweisen zu den Begehungsund Unterlassungsdelikten wird die begriffliche Gegensätzlichkeit von Unterlassen und Tun gerade nicht aufgehoben. Man sollte deshalb fast noch klarer von einem "Unterlassen trotz Tun" anstelle des geläufigen- "Unterlassens durch Tun" reden, um auf diese Weise die begriflliche Gegensätzlichkeit der beiden Verhaltensformen deutlich hervorzuheben. Die Gemeinsamkeit mit den übrigen normativen Abgrenzungstheorien einer ausschließlich wertenden Bestimmung fuhrt dazu, daß sich die Lehre vom Unterlassen durch Tun fehlende Transparenz entgegenhalten lassen muß. Dieses Manko wird auch nicht mit den umschriebenen Fallgruppen443 ausgeräumt. Denn welche wertenden Gesichtspunkte letztlich für ein Begehungs-

442 Derart etwa Otto, 1996, § 9 I 2 b; Stoffers, 1992, S. 373; ders. 1992 a, S. 178. 443 Siehe dazu ausführlich oben 2. Teil D.

m. 2.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

oder aber ein Unterlassungsdelikt entscheidend sind, kann in einer, über bestimmte Falltypen hinaus geltenden, allgemeingültigen Fonn nicht genannt werden444 . Insbesondere liefert der vorgetragene Gesichtspunkt, daß jeder Gebotstatbestand gleichzeitig das Verbot des erfolgsbewirkenden Tuns mitenthalte445 , keine tragfähige Begründung fiir die Annahme einer Unterlassung (durch Tun) in der dort interessierenden Fallgruppe des Rücktritts vom Gebotserfüllungsversuch446 . Denn dazu müßte erst geklärt werden, weshalb neben der angenommenen Gebotsverletzung die gleichzeitig in dem Tätigwerden liegende Verbotsverletzung keine Rolle spielen so1l447, warum also das Tun lediglich unwesentlicher Bestandteil eines allein entscheidenden Unterlassens sein soll. Eine Antwort auf diese, hinter der Rechtsfigur "Unterlassung durch Tun" stehenden, offenen Kernfrage bleibt aber aus. Angesichts der Abhängigkeit des Ergebnisses von einer undurchsichtigen Wertung des Falles ist der Vorwurf der UnbestiImntheit daher durchschlagend.

F. Eigener Lösungsvorschlag: Kombiniert ontologisch/normative Betrachtung im Sinne einer "Zwei-Stufen-Prüfung" I. Vorüberlegung Weder eine ausschließlich naturalistische Auffassung, noch eine rein normative Abgrenzungsmethode kann letztlich überzeugen. Grund dafiir ist eine jeweils allzu einseitige Blickrichtung. Hilfreich könnte bei der Abgrenzung

444 Auch die Kritik von Stoffers, 1992, S. 374; ders., 1992 a, S. 179 geht in diese Richtung, wobei er darüber hinaus noch - wie etwa Küpper, 1990, S. 81 und Sax, 1975, S. 141, 142 - die Notwendigkeit, von einer eigenständigen Rechtsfigur des "Unterlassens durch Handeln" auszugehen, anzweifelt. 445 VgI: Roxill, 1969, S. 383; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 47. 446 Im einzelnen dazu oben 2. Teil D. Ill. 2. 447 Vgl. auch Samson, 1974, S. 582, 583, der deutlich macht, daß insoweit das von Roxill, 1969, S. 383 angeführte "Argument" (= daß sich positiver und negativer Energieeinsatz im Falle des [tätigen) "Rücktritts vom Gebotserfüllungsversuch" einander aufheben sollen) nicht greifen könne: "Die Rettungshandlung - Werfen der Leine wird durch die folgende Handlwlg - Zurückziehen der Leine - sicherlich aufgehoben, der Täter hat das Rettungsgebot nicht erfüllt. Das gleiche gilt jedoch nicht umgekehrt. Wenn das Zurückziehen der Leine gegen ein Verbot verstößt, so wird diese Verbotsverletzung nicht dadurch aufgehoben, daß ihr eine Gebotserfllllungshandlung vorausgegangen ist".

F. Eigener LösWlgsvorschlag

141

von Tun und Unterlassen eine Kombination ontologischer und nonnativer Gesichtspunkte sein448 . Es empfiehlt sich dabei eine Vorgehensweise dergestalt, daß zunächst mit Hilfe eines ontologischen Kriteriums die Richtung fiir die Festlegung der Handlungsfonn maßgebend vorbestimmmt wird. Nonnative Gesichtspunkte sollten dann im weiteren als Korrektiv dienen, um mit strafrechtlichen Wertungen unvereinbare und deshalb letztlich ungerechte Ergebnisse zu venneiden449 . Derart wird eine den Besonderheiten des Einzelfalls gerecht werdende Betrachtung ennöglicht. Daraus ergibt sich dann die Bestimmung der Handlungsweise im Wege einer sog. "Zwei-Stujen-Pru!ung,r450.

448 Vgl. auch Maurach/Gössel, 1989, § 45 I Rn.l: Hier wird darauf hingewiesen, daß bei der BestinunWlg der HandlWlgsform ein Abstellen auf die Gegensätzlichkeit einer Abgrenzwtgsmethode nach vorrechtlich seinsmäßigen Strukturen Wld nach WertWlgsgesichtspunkten nicht weiterhilft. Vielmehr soll es bei der Bestinunung der UnterlassWlg darum gehen, "bestinunte vorrechtlich existente Sachverhalte als Unterlassung im strafrechtlichen Sinne wertend auszuwählen". 449 Vergleichbar wohl Haft, 1996, S. 171, 172, der ZWlächst nach der Erkennbarkeit der Verhaltensform fragt Wld in AusnahmeflilIen anband bewertender Betrachtung das ZWlächst gefWldene Ergebnis korrigiert. 450 Im Rahmen mehrdeutiger Verhaltensweisen schlägt auch Sto.IJers, 1992, S. 279 ff.; ders., 1993, S. 274 f. ein "mehrstufiges PtilfWlgsverfahren" vor, das sich allerdings von diesem LösWlgsweg bezogen auf die anwendbaren Fallgruppen Wld in seinen Kriterien grundlegend Wlterscheidet.

So will Sto.IJers auf einer "ersten Stufe" die "echte Abgrenzwtgsfrage", nämlich "ob eine bestinunte Verhaltensweise überhaupt Elemente des positiven Tuns oder nur des Unterlassens enthält" (vgl. Sto.IJers, 1992, S. 69), mittels des von ihm favorisierten Kausalitätskriteriums (= "Kausalität oder Nichtkausalität des Sich-Verhaltenden filr den betreffenden konkreten Erfolg", vgl. Sto.IJers, 1992, S. 107 ff., 119; ders., 1993, S. 264,274) klären. Ergebe sich danach, daß sowohl positives TWl als auch Unterlassen begründbar sind, seien innerhalb einer "zweiten Stufe" die Verhaltensweisen auf ihre volle Deliktsqualität zu überprüfen. Im Falle mehrdeutigen volldeliktischen Verhaltens stelle sich dann auf einer "dritten Stufe" die Konkurrenzfrage, ob sich der Täter wegen einer Begehungstat Wldloder einer UnterlassWlgstat strafbar mache.

142

2. Teil: TWl Wld Unterlassen

11. Vorgehensweise 1. Stufe: "Natürliche Betrachtung der Dinge" a) Inhaltliche Darstellung

Auf einer ersten PIiifungsstufe ist zunächst festzustellen, welche Verhaltensfonn infolge einer "natürlichen Betrachtung der Dinge" vorliegt45I , d.h. an welchem mit Hilfe von Vornahme oder Nichtvornahme einer Körperbewegung äußerlich feststellbaren Verhalten angesetzt werden kann452 . Nur so läßt sich eine möglichst allgemeingültige Ausgangsbasis schaffen. Dabei empfiehlt sich die Verwendung des Körperbewegungskriteriums453 als ontologische Grundlage, weil es eine einwandfreie Klärung der Verhaltensfonnen Unterlassen und aktives Tun (jeweils für sich) ennöglicht und infolgedessen besonders praktikabel ist. Darüber hinaus kommt es einer "natürlichen" Feststellung der Verhaltensfonn am nächsten. Denn schon der Wortbedeutung nach wird Tun immer mit körperlicher Tätigkeit und Unterlassen mit Nichtvomahme einer Körperbewegung in Verbindung gebracht. Hiernach scheint eine Feststellung der Verhaltensfonn auf der 1. Stufe angesichts der doch mit Hilfe des Körperbewegungskriteriums eindeutigen Bestimmbarkeit von Unterlassen und Tun unproblematisch zu sein. Doch zeigen bereits die eingangs zitierten strittigen Fälle ("Apothekerfall", "ZiegenhaarfalI", "Radfahrerfall/Lastzugfall")454, daß gerade im Fahrlässigkeitsbereich auch nach außen hin gleichzeitig ein aktives Tun und ein Unterlassen erklärbar sind455 . Das ist eine Eigentümlichkeit der Fahrlässigkeit. Anschaulich wird dies anhand der zivilrechtlichen Legaldefinition des Begriffs Fahrläs45 I Regelmäßig wird bei Wlproblematischen Fällen, so wenn A vorsätzlich auf B einschlägt, diese "natürliche" Betrachtwtgsweise bereits ausreichen. Denn wer wollte hier ernsthaft auch bei einer rein "juristischen" Sicht in dem Verhalten des A ein Unterlassen Wld nicht ein aktives TWl sehen. 452 Auf diesen wichtigen Ansatzpwtkt weist auch Meyer-Bahlburg, 1968, S. 49 hin: Es sei anders gar nicht möglich, als ZWlächst bei einer Straftat an das äußerliche körperliche Verhalten eines Menschen anzuknüpfen. 453 Dazu im einzelnen oben 2. Teil D. I. l. b) aa). 454 Vgl. den sog. "Apothekerfall" (RGSt. 15, 151 11), den sog. "Ziegenhaarfall" (RGSt. 63,211 ff.) Wld den sog. "Radfahrerfall" (BGHSt. 11, I ff.). 455 Siehe bezüglich der Annahme einer solchen Problemlage gerade im Fahrlässigkeitsbereich lescheckIWeigend, 1996, § 58 n 2; Ranft, 1963, S. 341; Roxin, 1962, S. 411 ff.; SpendeI, 1961, S. 183 ff.; WesseIs, 1996, § 16 I 2 Rn. 699. Vgl. auch OLG Düsseldorf, MedR 1984, S. 28 ff., 29.

F. Eigener Lösungsvorschlag

143

sigkeit nach § 276 I 2 BGB456: "Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer acht läßt." Das Außerachtlassen der Sorgfalt verkörpert die Unterlassungskomponente bei der Fahrlässigkeit. Im Fahrlässigkeitsbereich sind demzufolge Nichtvornahme einer geforderten Körperbewegung und Vornahme einer sorgfaltswidrigen Körperbewegung gleichermaßen erkennbar. Mit dem Argument einer methodisch unzulässigen Aufspaltung eines einheitlichen Täterverhaltens in ein Unterlassen und Tun wendet sich gegen die hier aufgeworfene Problematisierung allerdings Ulsenheimer: "Für eine lebensnahe, realistische Auffassung sind unsere Fälle Handlungsdelikte und können daher überhaupt keinen Anlaß zu der Problemstellung, ob hier ein Handlungs- oder Unterlassungsdelikt vorliegt, geben"457. Eine Abgrenzung von Tun und Unterlassen sieht er daher als "Zuchtprodukt" einer "Aufspaltungstheorie" an458 .

Ulsenheimer verkennt, daß auch bei Annahme jeweils eines Unterlassens die in den Beispielsf,U1en aufgeführten Geschehnisse insgesamt als Unterlassen - also nicht im Rahmen einer Aufspaltung von Unterlassen und Tun - gewertet werden können. Die Behauptung, daß offensichtlich jeweils nur Begehungsdelikte in Frage kämen, läßt sich - angesichts ebenso offenkundiger Nichtvornahme bestimmter Handlungsweisen - entsprechend für ein Unterlassungsdelikt aufstellen. Es kann daher der von Ulsenheimer als selbstverständlich hingestellte Ausgangspunkt, eines augenscheinlich nur vorliegenden Tuns, in Frage gestellt werden. Jedenfalls aber schlägt der Einwand einer unzulässigen Aufspaltung fehl. Bei der hier aufgeworfenen Problemstellung einer Abgrenzung in Betracht kommender Verhaltensformen geht es nämlich nicht um eine Zergliederung eines einheitlichen Geschehenskomplexes in Elemente des Tuns und Unterlassens, sondern um die zum Teil schwierige Einordnung des Gesamtvorgangs als Tun oder Unterlassen.

456 Auch welUl diese flir das Zivilrecht geltende DefInition nicht ohne weiteres auf das Strafrecht übertragbar ist, so muß doch Kahl, 1994, § 17 I Rn. 3 zugestimmt wer-

den, der meint, "daß sich der strafrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff nicht völlig von der zivilrechtlichen Legaldefmition unterscheidet, weshalb § 276 I 2 BGB durchaus als 'Eselsbrücke' rur den Einstieg in strafrechtliche Fahrlässigkeitsprüfungen verwendet werden kalUl". 457 Vgl. Ulsenheimer, 1965, S. 96. 458 Ulsenheimer, 1965, S. 97

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2. Teil: Tun und Unterlassen

Exemplarisch soll die Problematik mehrdeutigen Verhaltens im Fahrlässigkeitsbereich am sog. "Radleuchtenfall"459 (= Zusammenstoß zweier im Dunkeln ohne Beleuchtung fahrender Radfahrer, wobei der eine Radfahrer zu Tode kommt) verdeutlicht werden: Einmal kommt als strafbares Verhalten die aktiv in Erscheinung tretende Handlung im Sinne von Körperbewegung des Radfahrens in Betracht. Daneben ist aber gleichzeitig die durch die Nichtvornahme einer Körperbewegung gekennzeichnete Unterlassung in Form der Nichtanbringung der Beleuchtung am Rad gegeben. Deshalb stellt sich die Frage, welches äußerlich vorliegende Verhalten als Ausgangsbasis fiir weitere Überlegungen dienen kann, und mit welcher Begründung die Entscheidung gerade zugunsten einer der beiden denkbaren Handlungsweisen ausfallen soll. Anknüpfungspunkt bei der Auffindbarkeit des relevanten, äußerlich vorliegenden Verhaltens speziell bei den problematischen fahrlässigen Erfolgsdelikten kann als allein vorhandene, sichtbare und somit eindeutig feststellbare Tatsache zunächst nur der eingetretene tatbestandliche Erfolg sein460 . Diese Erkenntnis ist als zentrale Ausgangsbasis fiir alle weiteren Überlegungen bei der Bestimmung der Verhaltensweise anzusehen. Ansonsten bewegt sich die Argumentation im luftleeren Raum. Um im weiteren das fiir den Erfolgseintritt maßgebliche Verhalten in Form von Vornahme oder Nichtvornahme einer Körperbewegung auffinden zu können, bietet es sich an, aus dem vom Täter vorgenommenen Handlungskomplex (= insbesondere geht es um zeitgleich vorliegende Verhaltensweisen in Form des aktiven Tuns und Unterlassens) nach dem schadensnt'ichsten Verhalten, also dem am engsten mit dem Schadenseintritt zusammenht'ingenden Verhalten, zu suchen461 . Das wird regelmäßig diejenige Handlungsweise sein, die die Gefahr fiir den Schadenseintritt unmittelbar konkret werden ließ. "Schadensnah" ist dabei "erfolgsbezogen-inhaltlich" und nicht in zeitlicher Dimension zu verstehen; letzteres wäre ja ohnehin fiir eine Lösung im Falle einer Koinzidenz mehrdeutiger Verhaltensweisen wenig dienlich. Gerade das schadensnächste Verhalten wird wohl dasjenige Verhalten sein, welches bei natürlicher und juristisch "unverbildeter" Betrachtungsweise als das im Ge-

459 RGSt. 63, 392 ff. 460 Bei Gefährdungsdelikten kann Anknüpfungspunkt die abstrakte oder konkrete Gefährdung von Personen bzw. Sachen sein. 461 Ähnlich, allerdings abstellend auf die "nächste selbständige Ursache" des Erfolges, Baumann, 1977, § 16 n 4d. Jedoch wird diese Vorgehensweise in BaumannIWeber, 1985, § 16 n 4c und § 18 n 1 nicht mehr angesprochen.

F. Eigener Lösungsvorschlag

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samtgeschehen relevante Verhalten in Betracht kommt und insofern phänomenologische Dominanz besitzt. Nicht gleichzusetzen ist das schadensnächste Verhalten mit ursächlichem Verhalten. Denn nicht jedes kausale Verhalten muß angesichts der anerkanntermaßen weiten, für die Bestimmung der Kausalität nach h.M. gebräuchlichen Äquivalenztheorie auch als das schadensnächste Verhalten in Frage kommen. Insbesondere in Fällen der Fahrlässigkeit wird das Unterlassen in Gestalt der Sorgfaltspflichtverletzung regelmäßig kausal für den Erfolgseintritt sein. Schließlich kann es meist nicht hinweggedacht werden (bzw. es kann das sorgfaltsgerechte Verhalten nicht hinzugedacht werden), ohne daß der Erfolg entfiele. Aber nicht notwendigerweise ist das Unterlassen gebotener Sorgfalt immer als die letztlich schadensnächste Handlung einzustufen. Dies kann allein das aktive Tun sein. Ohnehin ist darauf hinzuweisen, daß eine Prüfung der Kausalität mit der hier zu treffenden Festlegung einer Verhaltensweise gerade noch nicht vorweggenommen werden soll. Denkbar ist daher durchaus, daß eine eingehende Prüfung der Kausalitätsfrage ergibt, daß das, was für die Bestimmung der Handlung als schadensnah eingestuft wird, überhaupt nicht für den Erfolg ursächlich ist, weil etwa gerade im Falle eines derart festgestellten Unterlassens der eingetretene Erfolg auch bei Vornahme der gebotenen Handlung nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfallen wäre462 . Überdies läßt sich erst dann, wenn - ohne Merkmale der Kausalität - die Handlungsform gefunden wurde, die an eine bestimmte Handlung anknüpfende Kausalitätsfrage beantworten.

462 So, wenn beispielsweise der fahrlässige Unfallverursacher, ohne sich um den Verletzten zu kümmern, bewußt weiterflUut (= Unterlassen der erforderlichen Hilfe), und das zu diesem Zeitpunkt noch lebende Opfer schließlich zu Tode kommt, dabei aber feststeht, daß auch sofort eingeleitete ärztliche Hilfe den Verletzten nicht mehr gerettet hätte. Das neben dem Anfahren des Opfers in dem zeitlich darauffolgenden weiteren Geschehen eindeutig vorliegende Unterlassen der Hilfe fuhrt wegen fehlender Kausalität schließlich nicht zu einer Bestrafung nach §§ 212, 13 StGB. 10 Schneider

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2. Teil: Tun und Unterlassen

b) Beispiele

aa) "Radleuchtenfall" Bezogen auf den oben angefiihrten sog. "Radleuchtenfall" bedeutet eine Prüfung der "}. Stufe" zur Bestimmung der Handlungsform des mit dem Dritten zusammenstoßenden Radfahrers463 folgendes: - I. Als Erfolg steht der Tod des anderen Radfahrers fest. - 2. Das damit zusammenhängende schadensnächste Verhalten ist in dem unmittelbar zum Zusammenstoß fiihrenden Fahren mit dem Rad und nicht etwa in dem, bereits vom Fahrtantritt an vorliegenden Nichtanbringen der Beleuchtung zu sehen. Dieses Versäumnis als solches steht nämlich in keinem engen Bezug zum Erfolgseintritt. Vielmehr wird es erst durch die Fahrt mit dem Rad im Zeitpunkt aufkommenden Gegenverkehrs zu einem fiir den Erfolg relevanten Risiko. Hätte der Radfahrer etwa sein Fahrrad geschoben, wäre trotz des Nichtanbringens der Beleuchtung keine derartige Gefahr begründet worden. Das zeigt, daß das schadensnächste Verhalten gerade in dem Fahren zu erblicken ist. - 3. Dieses Fahren ist dann schließlich wegen der darin liegenden Vornahme einer Körperbewegung eindeutig als aktives Tun anzusehen. Das derart gefundene Ergebnis deckt sich mit einer natürlichen Anschauung der Dinge: Der Zusammenstoß und damit die Rechtsgutsverletzung entstanden offensichtlich durch die Fahrt, also durch ein augenscheinlich vorliegendes aktives Tun. Ganz allgemein ist in solchen Fällen die Rede davon, daß der andere Radfahrer "angefahren" worden ist. Niemand käme wohl auf die Idee, die entstandenen Verletzungen des Opfers mit einer unterlassenen Beleuchtung zu erklären, obwohl jenes Versäumnis und das Anfahren zeitgleich geschahen.

463 Zum Teil wird in Bezug auf die Entscheidung des Reichsgerichts (RGSt. 63, 392 tT.) nicht das Verhalten des den eigentlichen Zusammenstoß herbeiftlhrenden Radfahrers Josef Z., sondern nur dasjenige des ohne Beleuchtung dem Josef Z. vorausfahrenden Radfahrers Paul Z. problematisiert; derart etwa Stoffers, 1992, S. 287, ftlr den das Kausalitätskriterium bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen entscheidend ist und der unter diesem Gesichtspunkt angesichts eindeutig vorliegender Kausalität zwischen dem Verhalten des Josef Z. und dem Erfolgseintritt bei Josef Z. keine Probleme sehen kann. Auch die EntscheidungsgrUnde des Reichsgerichts setzen sich ausftlhrlich nur mit dem Verhalten von Paul Z. auseinander.

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bb) "Ziegenhaarfall" Als weiteres Beispiel soll noch der sog. IZiegenhaarfall" 464 dienen: Feststehende Tatsache ist dort der Tod von vier Arbeiterinnen. Die dafür verantwortliche Verhaltensweise des Finneninhabers könnte entweder die sorgfaltswidrig nicht vorgenommene Desinfektion oder die Aushändigung der ungereinigten Ziegenhaare sein. Abstellend auf das schadensnächste, also das mit dem Erfolg am engsten zusammenhängende Verhalten, ist hier von einem, bei natürlicher Betrachtung vorliegenden aktiven Tun auszugehen. Denn das Versäumnis der Desinfektion wurde gerade durch die Aushändigung der Haare an die Fabrikarbeiterinnen zu einer Gefahf"6 5 . Hätte der Finneninhaber die Ziegenhaare wegen der fehlenden Desinfektion sicherheitshalber nicht ausgegeben, wäre schließlich kein Gesundheitsrisiko für andere entstanden. Und da die Aushändigung der Materialien mit einer Körperbewegung verbunden ist, muß auf der ersten Prüfungsstufe ein aktives Tun angenommen werden. Ebenso wie im "Radleuchtenfall" deckt sich auch hier das Resultat eines vorliegenden aktiven Tuns mit einer juristisch unvoreingenommenen, lebensnahen Betrachtung des Geschehens. Augenscheinlich steht hinsichtlich des Todes der Arbeiterinnen die Ausgabe der Ziegenhaare im Vordergrund. ce) "Radfahrerfall" Schließlich noch zum sog. "Radfahrerfall" bzw. ILastzugfall" 466 : Fraglich ist, ob der unzureichende Seitenabstand, also diesbezüglich das Unterlassen, oder das zeitgleiche Fahren in Fonn aktiven Tuns für den Tod des Radfahrers als maßgebend anzusehen ist. Für den Radfahrer ist schadensnächstes, in der konkreten Situation entscheidend gefahrbringendes Ereignis nicht der ungenügende Seitenabstand, sondern das Anfahren. Deutlich wird das im Vergleich zu dem Fall, in dem der LKW-Fahrer zwar ebenfalls beim Überholvorgang einen zu geringen Seitenabstand einhält, dabei aber noch so weit vom Radfahrer entfernt ist, daß dieser nicht verletzt wird; oder denkbar ist die Konstellation, daß der Radfah-

464 RGSt. 63, 211 ff. 465

Ebenso OttolBrammsen, 1985, S. 532.

466 Vgl. BGHSt. 11, 1 fT. 10'

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rer noch in der Lage ist, im letzten Moment zur Seite hin auszuweichen. Aus der Tatsache heraus, daß zwar auch im Vergleichsfall eine gefahrliche, ordnungswidrige Fahrweise des Kraftfahrers vorliegt, diese aber für den Radfahrer folgenlos bleibt, wird ersichtlich, daß die dem Verletzungserfolg schadensnächste Handlung das Anfahren ist. Aufgrund der mit dem Fahren verbundenen Tätigkeit in Form zumindest von Gasgeben und Lenken, also wegen der Vornahme von Körperbewegungen, ist letztlich von einem aktiven Tun auszugehen. Auch dieses Ergebnis ist schon bei natürlicher Betrachtung der Dinge naheliegend. Verletzungen des Opfers entstehen unmittelbar durch den fahrtbedingten Aufprall, das Anfahren ist daher das schadensnächste und letztlich dominante Verhalten. c) Abgrenzungsjrage als Tatsachenfrage

Abschließend bleibt festzuhalten, daß die Abgrenzung von Tun und Unterlassen primär als Tatsachenfrage angesehen wird. Zuzugeben ist allerdings, daß in Fällen mehrdeutigen Verhaltens, insbesondere im Bereich der fahrlässigen Erfolgsdelikte, mit dem Kriterium "schadensnächstes Verhalten" eine zum Teil wertende Komponente in die Abgrenzung einfließt. Letztlich muß aber entscheidend sein, daß das auf "erster Stufe" gefundene Ergebnis nicht an den augenscheinlich vorzufindenden Tatsachen vorbeigehen darf, indem eine phänomenologisch dominante Handlungsform in eine andere "umgedeutet" wird. 2. Stufe: Erwartung der Rechtsordnung als "Kontrollfrage" a) Inhaltliche Darstellung

Hier geht es um die Klärung, ob aus normativen Erwägungen heraus eine Anknüpfung an das bei natürlicher Betrachtung vorliegende Tun oder Unterlassen ungerechtfertigt ist, insbesondere weil zufällig anmutende Ergebnisse zu vermeiden sind. Die Willkürlichkeit eines allein von Tatsächlichkeiten abhängenden Abgrenzungsergebnisses, und daraus resultierend die Notwendigkeit einer von ontologischen Gesichtspunkten abweichenden Betrachtung, ergibt sich aus der gerade mittels moderner technischer Möglichkeiten jederzeit denkbaren Ver-

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tauschbarkeit der körperlichen Handlungsweisen Tun und Unterlassen. Es kann durchaus sein, daß in ein und derselben Fallgestaltung, in der vormals mangels technischer Gegebenheiten die Tathandlung noch in einem für den Täter "günstigen" Unterlassen bestand, diese nun aufgrund einer technischen Änderung zu einem aktiven Tun wird. Geradezu als Musterbeispiel einer die Handlungsweise beeinflussenden technischen Änderung kann im medizinischen Bereich die Einführung der Respiratoren genannt werden: Anstelle einer früher allein möglichen manuellen Beatmung wird diese nun von der Technik übernommen, mit der Konsequenz, daß die Beendigung der Beatmung nicht mehr durch ein schlichtes Aufhören bewirkt wird, sondern daß das Ausschalten eines Gerätes notwendig ist. Ein zufaIlig erscheinender Wechsel von Handlungspflichten zu Unterlassungspflichten (oder umgekehrt) mit seinen weitreichenden Folgen bis hin zur Straflosigkeit des Unterlassens bei fehlender Garantenpflicht gegenüber einer sonst vielleicht gegebenen Strafbarkeit aktiven Tuns, erfordert eine Überprüfung der auf ontologischer und damit wertneutraler Basis gefundenen Zwischenergebnisse. Fraglich ist allerdings, welche Kriterien die wertende Prüfung inhaltlich ausfüllen sollen. Aus Gründen notwendiger Rechtssicherheit ist darauf zu achten, daß sie zu einer Transparenz der Ergebnisfindung beitragen. Deshalb scheiden von vornherein solche Modelle aus, die sich etwa an der sog. Zweifelslösung oder der Schwerpunktformel orientieren, da dort die Wertung mangels ausreichender Konkretisierung nahezu undurchschaubar ist. Es empfiehlt sich bei der Abgrenzung danach zu fragen, welche Handlungsform die Rechtsordnung vom Täter in concreto erwartet467468 . Diejenige

467 Die hier vertretene Sichtweise steht in Verwandtschaft zu der Auffassung von Schmidhäuser, 1975, 161104 ff. 468 Wenn auch im Ergebnis ähnlich, so unterscheidet sich dennoch die hier vertretene Ansicht von den Ausfllhrungen Toepels, 1992, S. 39 ff. Dieser fragt im Rahmen der Vorwerfbarkeit des Verhaltens danach, wie das Verhalten beschrieben werden muß, damit es im Widerspruch zur konkret in Betracht kommenden Verhaltensnorm steht: "Es gibt [... ) keine Möglichkeit, ein einfacheres Kriterium zu wählen als das Abstellen auf das zur Beschreibung des Widerspruchs gegen die Verhaltensnorm notwendige Verhalten" (vgl. Toepel, 1992, S. 45). So soll etwa bezogen auf den sog. Ziegenhaarfall (= RGSt. 63,211 ff.) nur die Beschreibung "Der Pinselfabrikant X hat mit tödlicher Folge ftlr die Arbeiter angeordnet, Ziegenhaare auszugeben, weIche verseucht waren" der Verhaltensnorm des § 222 StGB widersprechen und nicht die Beschreibung "X hat es unterlassen, die Ziegenhaare zu desinfIzie-

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

Handlungsform, die der Erwartung der Rechtsordnung widerspricht, ist dann strafrechtlich relevant. Denn diese ist dem Täter letztlich von der Rechtsordnung vorzuhalten. Zu berücksichtigen sind somit auf der zweiten Prüfungsstufe die Auswirkungen der auf der ersten Stufe weitestgehend naturalistisch bestimmten Handlungsform auf die Rechtsgutslage. Dabei sind für die Festlegung, ob nach der Rechtsordnung ein Tun oder ein Unterlassen geboten ist, in problematischen Fällen zwei Gesichtspunkte von besonderer Relevanz: Schutzzweck der einschltigigen Norm und gegenwtirtiger Zustand (= Ist-Zustand) des betroffenen Rechtsguts469 . Nicht gleichgesetzt werden darf das normative Kriterium "Verstoß gegen die Erwartung der Rechtsordnung" mit dem oben geprüften "schadensnächsten

ren", da erst das TWl den Zusammenhang mit dem Todeseintritt herstellt (vgl. Toepel, 1992, S. 43, 44). Diese Sichtweise verkennt, daß mit der Beschreibung eines der Norm widersprechenden Verhaltens noch nichts gewonnen ist. Denn grWldsätzlich kann immer auch das sorgfaltswidrige Unterlassen als ein der Verhaltensnorm widersprechendes Verhalten beschrieben werden. So läßt sich durchaus ohne Widerspruch zu oben der Satz "X hat mit tödlicher Folge ftlr die Arbeiter Wlterlassen, die Ziegenhaare zu desinfizieren" als Beschreibung eines Verhaltens im Widerspruch zur Norm des § 222 StGB verstehen. Die bloße Beschreibung eines Geschehens kann also keine Auslesefunktion ftlr oder gegen eine bestimmte Verhaltensweise erftlllen, sondern diese FWlktion kann vielmehr nur ein weiterer GesichtspWlkt übemelunen, der hier von Toepel etwa in dem "Zusammenhang mit dem Todeseintritt" oder allgemeiner "in dem zur BeschreibWlg des Normwiderspruchs Wlentbehrlichen Verhalten" erbtickt wird (vgl. Toepel, 1992, S. 44). Da aber auch das Unterlassen als das sorgfaltswidrige Element des Gesamtgeschehens "im Zusammenhang" etwa mit dem Todeseintritt steht Wld daftlr auch "Wlentbehrlich" ist, da sonst das dann einwandfreie aktive TWl keinen Erfolg bewirken könnte, kann es wohl allein auf einen schlichten Zusammenhang oder eine Unentbehrlichkeit ftlr den Erfolg nicht ankommen. Besser geeignet scheint ein Abstellen auf das insoweit differenzierendere "schadensnächste Verhalten" zu sein (siehe dazu oben innerhalb der hier vertretenen Prüfimg auf "erster Stufe"). Ohnehin wird eine deskriptive Sicht der Dinge nicht der komplexen Dimension "Vorwerfbarkeit des Verhaltens" gerecht. Eine Vermengwtg normativer Wld deskriptiver Dimensionen ist somit nicht Wlproblematisch. Vorteilhafter ist daher ein Auseinanderhalten beider GesichtspWlkte Wld eine getrennte Prüfimg naturalistischer Wld wertender Kriterien auf zwei Stufen. 469 Diese beiden GesichtspWlkte müssen nicht immer gleichrangige BedeutWlg haben, Wld sicherlich können weitere GesichtspWlkte eine entscheidende Rolle bei der Frage "ErwarlWlg der RechtsordnWlg" spielen.

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Verhalten". Was als besonders schadensnah im Sinne eines am engsten mit dem Erfolg zusammenhängenden Verhaltens einzustufen ist, muß nicht notwendigerweise als Handlungsform zu werten sein, die im Widerspruch zur Erwartung der Rechtsordnung steht470 . Denn mit dem Merkmal "schadensnächstes Verhalten" rückt nur die unmittelbare Relevanz der Handlung rur den Erfolgseintritt ins Blickfeld, nicht aber findet Beachtung, welche weiteren Auswirkungen das jeweilige Verhalten auf die Rechtsgutslage haben wird. Zu betonen ist schließlich noch, daß das normative Kriterium gegenüber dem ontologischen nur eine Korrektivfunktion einnimmt. Es stellt also nicht das in erster Linie maßgebende Unterscheidungsmerkmal dar, sondern es wird mit dessen Hilfe lediglich überprüft, ob das naturalistisch vorgegebene Ergebnis unter Berücksichtigung strafrechtlicher Wertungen haltbar ist. Die Frage nach der Erwartung der Rechtsordnung wird daher allein als Kontrollfrage verstanden.

b) Beispiele aa) "Radleuchtenfall" Auf den sog. "Radleuchtenfall"471 angewendet, ist mit Hilfe des Kriteriums "Erwartung der Rechtsordnung" keine Korrektur des auf "erster Stufe" bisher festgestellten aktiven Tuns geboten. Naheliegend wäre zwar, daß die Rechtsordnung vom Radfahrer erwartet, die Beleuchtung einzuschalten, ihm also vorhält, dies unterlassen zu haben; im Ergebnis dürfte dann nicht auf das Tun, sondern es müßte entgegen dem vorfindbaren Erscheinungsbild auf das rechtlich maßgebliche Unterlassen abgestellt werden. Doch verhält es sich in dem sog. "Radleuchtenfall" anders. Bei Klärung der Frage "Erwartung der Rechtsordnung" muß zunächst der richtige Bezugspunkt hergestellt werden. Dieser wird bestimmt durch die konkret einschlägige Norm, die wiederum von der zu prüfenden Rechtsguts470 Besonders deutlich wird das gerade an dem vom Arzt mittels Knopfdruck vorgenonunenen BehandlWlgsabbruch einer mit technischen Hilfsmitteln betriebenen ärztlichen BehandlWlg. Obwohl angesichts des Knopfdrucks als "schadeqsnächstes Verhalten" ein aktives TWl anzunehmen ist, geht die h.M. vollkonunen zu Recht von einem Unterlassen aus. Schließlich erwartet die Rechtsordnung vom Arzt nicht das Unterlassen des Knopfdrucks, sondern eine Fortfllhrung der Behandlung. Dazu im einzelnen unten in einem eigenständigen Kapitel. 471 RGSt. 63, 392 1T.

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

verletzung abhängt. Als Maßstab dient also nicht die gesamte Strafrechtsordnung, sondern es ist insoweit immer auf einzelne Nonnen abzustellen. Schließlich wird je nach betroffenem Regelungsgehalt einer Nonn eine unterschiedliche Handlungsfonn geboten sein. Etwa Nonnen der StVO können eine andere Handlungsfonn gebieten, als beispielsweise Strafnonnen aus dem Bereich der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte. Nicht fallunabhängig kann daher auf denkbare allgemeine Verhaltensmaßregeln abgestellt werden, wie etwa diejenige, daß sorfaltsgerecht Handelnde grundsätzlich nur mit verkehrssicheren Fahrzeugen am Straßenverkehr teilnehmen, sondern es ist bei der Frage "Erwartung der Rechtsordnung" immer der Bezug zur konkreten Rechtsgutsverletzung und der insoweit einschlägigen Nonn herzustellen. Wendet man diese Gesichtspunkte auf den sog. Radleuchtenfall an, bedeutet dies folgendes: Als Rechtsgutsverletzung ist hier der Tod des anderen Radfahrers von besonderem Interesse. Deshalb ist innerhalb der Fragestellung "Erwartung der Rechtsordnung" der Bereich der Nonnen auf die strafrechtlichen Tötungsdelikte beschränkt. Der Schutzzweck der §§ 212 ff. StGB legt somit die Verhaltenserwartung fest. Und insoweit ist die Frage zu stellen, ob ein Tun im Sinne von "Leistung zukommen lassen"472 oder ein Unterlassen im Sinne von "einen Eingriff ersparen"473 geboten ist, um dem notwendigen Lebensschutz in ausreichendem Maße gerecht zu werden. Damit dies bestimmt werden kann, ist als weiteres Erfordernis der Ist-Zustand des betroffenen Rechtsguts von Bedeutung, und zwar einerseits in zeitlicher Dimension bezogen auf den Augenblick der "schadensnächsten" Tathandlung, andererseits in sachlicher Dimension in Bezug auf das spezifische von dieser Tathandlung ausgehende Risik0474 . Hier im sog. Radleuchtenfall befand sich der andere Radfahrer bis unmittelbar vor dem Anfahren in einem sein Rechtsgut Leben ungefährdeten Zustand, jedenfalls soweit man die Rechtsgutssituation im Hinblick auf das typischerweise vom Anfahren ausgehende Risiko, verletzt oder getötet zu werden, betrachtet. Der Ist-Zustand des Rechtsguts Lebens läßt sich daher insoweit als "gesichert" beschreiben. Mit dem Begriff "gesichert" soll zum Ausdruck gebracht werden, daß zum Zeitpunkt der Tathandlung keine Notwendigkeit bestand, rechtsgutserhaltende Maßnahmen zu erbringen.

472 So auch Schmidhäuser, 1975, 16/105. 473 Schmidhliuser, 1975, 1611 05.

474 Denn es geht darum, einen engen Zusammenhang gerade zur TathandlWlg herzustellen.

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Nach alledem läßt sich vorliegend die Fragestellung darauf zentrieren, ob ein Tun oder ein Unterlassen geboten war, um in concreto ausreichenden Lebensschutz zu gewährleisten, ausgehend dabei von einem ungefahrdeten Zustand des Opfers. Das Ergebnis hängt davon ab, welche Bedeutung einerseits das Fahren und andererseits das Nichtanbringen der Beleuchtung fiir den Tod des anderen Radfahrers haben. Spezifisch lebensschutzgefährdend ist im Radleuchtenfall das Fahren bei Nacht. Dieser Tatbeitrag hat fiir den Rechtsgüterschutz im Gegensatz zum Nichtanbringen der Beleuchtung besonderes Gewicht. Denn wie schon oben auf "erster Prüfungsstufe" festgehalten wurde, wird die fehlende Beleuchtung erst durch das nächtliche Fahren zur konkreten Lebensgefabf475 . Für die Verschlechterung476 der Rechtsgutslage des anderen Radfahrers ist also letztlich allein entscheidend, daß der Täter nachts ohne Licht gefahren ist.

475 Wie hier im Ergebnis bereits Exner, 1930, S. 586: "Beiden Radfahrern wird ihr Handeln zwn Vorwurf gemacht; daß dieses Handeln nur deshalb vorwerfbar ist, weil es gewisse Eigenschaften nicht zeigt oder mit einem gewissen anderen Verhalten nicht verbunden ist, ändert an dieser Auffassung nichts" . Ganz ähnlich Schmidhäuser, 1975, 16/108: "Der Unwert liegt nicht im Unterlassen der Beleuchtung, sondern in dem mangels Beleuchtung filr andere gefiihrlichen Fahren". Vgl. auch verallgemeinernd Blei, 1983, § 84 11 2, nach dessen Auffassung "allein auf die aktive Tätigkeit abzustellen ist, wo das Handeln infolge einer Unterlassung gefiihrlich war, deren zugrundeliegendes Handlungsgebot allein im Hinblick auf die (zumindest relative) Sicherheit der (aktiven) Handlung zu erft111en gewesen wäre".

hn Ergebnis - wenn auch unter Berücksichtigung anderer Abgrenzungskriterien bejahen ausdrücklich ein aktives Tun im sog. "Radleuchtenfall" zudem JescheckIWeigend, 1996, § 5811 2; Kienapfel, 1984, S. 477; Küpper, 1990, S. 76, 77; Maurach, 1971, S. 582; Salm, 1963, S. 271; Schmidhäuser, 1975, 16/108; ders., 1984, 12/53; Stoffers, 1992, S. 287, auch wenn dieser seine Lösung nicht wie hier auf den mit dem Dritten zusammenstoßenden Radfahrer losef Z., sondern auf den diesem ebenfalls ohne Beleuchtung vorausfahrenden Radfahrer Paul Z. bezieht, allerdings bei losef Z. angesichts einer Verwendung des Kausalitätsgesichtspunkts zu keinem anderen Ergebnis gelangen kann. Ohne nähere Begründung geht das RG in der zugrundeliegenden Entscheidung von einem Unterlassen aus, vgl. RGSt. 63, 392 ff. 476 Berücksichtigt man, daß sich das Leben des Opfers bis zwn Augenblick des Zusammenstoßes in keinerlei Gefahr befand, wird ersichtlich, daß es nur auf eine Verschlechterung ankommen kann. Eine rechtsgutsverbessernde Leistung war ja nicht zu erbringen.

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

Zur Gewährleistung des Lebensschutzes erwartet somit die Rechtsordnung, daß im Falle unzureichender Beleuchtung weiteres Fahren unterlassen wird, also diesbezüglich ein lebensgefährlicher Eingriff unterbleibt. Das Verbot (zu fahren) und nicht das Gebot (zureichend zu beleuchten) steht daher im Vordergrund bei der Fragestellung "Auswirkung der Tathandlung auf die Rechtsgutslage des Opfers". Verdeutlichen läßt sich die besondere Bedeutung des Fahrens anband einer isolierten Betrachtung der unterlassenen Beleuchtung, also ohne Verknüpfung mit einer bestimmten aktiven Handlungsweise. Es zeigt sich, daß allein der Umstand, ob ein Radfahrer sein Licht bei Nacht einschaltet oder nicht, fiir den in Frage stehenden Lebensschutz Dritter völlig belanglos ist477. An Relevanz gewinnt diese Tatsache erst, wenn in Dunkelheit gefahren wird und auch erst dann, wenn Gegenverkehr zu erwarten ist. In dieser Situation wird die aus dem betreffenden Fahrlässigkeitsdelikt erwachsene Sorgfaltspflicht, alles zu unternehmen, um andere nicht in Gefahr zu bringen, konkret. Das läßt sich durch folgende Abwandlung noch zusätzlich absichern: Angenommen, das Anbringen einer Beleuchtung am Fahrrad ist aus tatsächlichen Gründen unmöglich und wird nicht bloß vergessen. Dann darf ein Radfahrer sich nicht darauf berufen und losfahren, sondern er hat die Fahrt bei Dunkelheit von vornherein zu unterlassen478 . bb) "Ziegenhaarfall" Nun aber zum sog. "Ziegenhaarfall"479: Auf erster Prüfungsstufe ergab eine "natürliche Betrachtung der Dinge" das Vorliegen aktiven Tuns in Gestalt der Herausgabe der Ziegenhaare. Zu klären ist im weiteren, ob dieses Resultat bei wertender Kontrolle Bestand haben kann. Denkbar ist, daß die Rechtsordnung nicht das Zurückhalten verunreinigter Ziegenhaare erwartet, sondern die Vornahme der Desinfektion. Dann wäre dem Täter das darauf bezogene sorgfaltswidrige Unterlassen vorzuhalten. Auch hier muß zunächst der richtige Bezugspunkt innerhalb der Prüfung "Erwartung der Rechtsordnung" herausgearbeitet werden. Dieser ist abhängig 477 Vgl. auch Salm, 1963, S. 271, der zutreffend bemerkt, daß "die 'Unterlassung', das Fahrrad beleuchtet zu haben, [... ) rechtlich völlig belanglos (wäre), wenn sie nicht von dem 'aktiven TWl' des 'Fahrens' [... ) begleitet worden wäre". 478 Die AbwandlWlg stammt von Schmidhäuser, 1975, 16/\08. 479 RGSt. 63, 211 ff.

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von der Rechtsgutsverletzung, die untersucht werden soll. Da im Ziegenhaarfall der Tod der Arbeiterinnen von Bedeutung ist, sind die Tötungsdelikte nach §§ 212 ff. StGB der Maßstab bei der Bestimmung der VerhaItenserwartung. Deren Schutzzweck ist also relevant. Darüber hinaus ist der gegenwärtige Zustand des betroffenen Rechtsguts festzulegen 480 . Ohne diesen läßt sich nämlich keine endgültige Aussage über die Art und Weise zu erreichenden Lebensschutzes treffen. Zum Zeitpunkt der Ausgabe der verunreinigten Ziegenhaare befanden sich die betroffenen Arbeiterinnen in einem ihr Leben ungefahrdeten, "gesicherten" Zustand. Es kann also nur darum gehen, den Arbeiterinnen einen gefährlichen Eingriff zu ersparen. Anband dieser Basis ist nun die Bedeutung einerseits des Tuns (= Ausgabe der Ziegenhaare) und andererseits des Unterlassens (= notwendiger Desinfektion) für einen ausreichenden Lebensschutz der Arbeiterinnen zu klären. Schon auf erster Prüfungsstufe wurde festgehalten, daß das Unterlassen der Desinfektion an sich noch keinen unmittelbaren Bezug zur Todesfolge aufweist: Wären nämlich vom Finneninhaber die Ziegenhaare wegen der fehlenden Desinfektion zurückgehalten worden, hätte sich der Sorgfaltsverstoß nicht negativ auf die Rechtsgutslage auswirken können. Ohnehin soll die Desinfektion nicht um ihrer selbst willen durchgeführt werden, sondern sie soll sicherstellen, daß im Falle der Ausgabe der Haare keine tödlichen Ansteckungen durch Bazillen stattfinden können481 . Hinsichtlich zu geWährleistenden Lebensschutzes hat daher das Aushändigen der Ziegenhaare besondere Bedeutung. Dem Täter ist somit aktives Tun und nicht ein Unterlassen vorzuhal-

480 Auch hier ist der Rechtsgutszustand in zeitlicher Dimension auf den Augenblick der schadensnäclisten Tathandlung und in sachlicher Dimension auf das von der Tathandlung wunittelbar ausgehende Risiko zu beziehen.

481 I.d.S. auch Blei, 1983, § 84 n 2: "hn Falle RGSt. 63, 211 war der Fabrikant nicht als Besitzer der Ziegenhaare zur Desinfektion verpflichtet, sondern das Gebot der Desinfektion diente allein dazu, die Ausgabe möglichst ungefilhrlicher Materialien an die Arbeiter zu gewährleisten".

Vgl. des weiteren OnolBrammsen, 1985, S. 532: "Der entscheidende Aspekt liegt nicht in der fehlenden Desinfektion, ob also A die Haare überhaupt und gegebenenfalls erst nach vorheriger Unschädlichmachung herausgeben durfte; maßgeblich ist vielmehr allein, daß er sie herausgegeben hat". Zutrefiend hebt Schmidhäuser, 1975, 16/105; ders., 1984, 12/52 hervor, daß im Ziegenhaarfall gefordert war, die Arbeiter nicht durch die Ausgabe der Haare zu gefilhrden; es geht also nicht darum, den Arbeiterinnen eine Leistung zukommen zu lassen, sondern darum, ihnen einen schädigenden Eingriff zu ersparen.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

ten482 . Denn gerade dieses steht im Widerspruch zur Erwartung der Rechtsordnung, soweit es um den Schutz des Lebens der betroffenen Arbeiterinnen geht. Ganz anders mag die Einordnung des Verhaltens zu beurteilen sein, wenn der Sachverhalt nicht unter Lebensschutzgesichtspunkten, sondern unter arbeitsschutzrechtlichen Aspekten geprüft wird. Hier kann durchaus das Fehlverhalten des Firmeninhabers in Form der unterlassenen Reinigung des Arbeitsmaterials im Vordergrund stehen, weil allein eine Vermeidung abstrakter Gefahrdungen bezweckt ist. ce) "Radfahrerfall" Abschließend soll noch der sog. "Radfahrerfall" bzw. "Lastzugfall"483 erörtert werden. Fraglich ist, ob bei Berücksichtigung der Erwartung der Rechtsordnung an dem bislang gefundenen Ergebnis eines positiven Tuns festhalten werden kann. Zu erwägen ist, daß nicht das schadensnächste Anfahren mit dem LKW, sondern das Unterlassen, einen ausreichenden Seitenabstand einzuhalten, gegen die Erwartung der Rechtsordnung verstößt. Dabei sind aus dem gesamten Komplex der Strafrechtsnormen allein die Tötungsdelikte heranzuziehen, da der Tod des Radfahrers zu untersuchen ist. Und für die Beurteilung, was für die Gewährleistung ausreichenden Lebensschutzes notwendig ist, ist festzuhalten, daß sich der Radfahrer bis zum Unfall in einem sein Leben ungefahrdeten Zustand befand. Auch hier geht es also wieder ausschließlich darum, dem Rechtsgut Leben einen verschlechternden Eingriff zu ersparen.

482 Jedenfalls im Ergebnis nehmen ein aktives Tun im sog. "Ziegenhaarfall" auch an: BiJhm, 1957, S. 22; v.Dassel, 1961, S. 37; Jakobs, 1991,28/6; JescheckIWeigend,

1996, § 58 11 2; Arthur Kaufmann, 1961, S. 212; Kienapfel, 1984, S. 477; KUpper, 1990, S. 76,77; Roxin, 1962, S. 415,416; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 7; Schmidhliuser, 1975, 16/105; ders., 1984, 12/50; Stoffers, 1992, S. 288; Schönke/Schröder/Stree, 1997, Vorbern §§ 13 0'. Rn. 158; Struensee, 1993, 154 0'.; Toepel, 1992, S. 44; VIsenheimer, 1965, S. 96; Welp, 1968, S. 120; Wesseis, 1967, S. 450. Anderer Ansicht ist ausdrücklich Mezger, 1958, S. 74: Der Vorwurf könne sich nicht gegen das Verarbeitenlassen der Ziegenhaare richten, sondern nur gegen das

Unterlassen gebotener Desinfektion. Auch das RG ist in seiner Entscheidung wohl von einem Unterlassen ausgegangen, vgl. RGSt. 63, 211 0'. 483 Vgl. BGHSt. 11, I 0'.

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Unzureichender Seitenabstand allein wirkt sich noch nicht negativ auf Rechtsgüter Dritter aus. Erst im Zusammenhang mit dem Überholen anderer Verkehrsteilnehmer wird dieser Umstand zu einer konkreten Gefahr. Diese Erkenntnis folgt schon aus der StVO, wonach das Einhalten eines genügenden Seitenabstands nur in Verbindung mit einem Überholvorgang (vgl. § 5 IV 2 StVO) und nicht isoliert verlangt wird. Ausreichender Seitenabstand zu anderen Verkehrsteilnehmern ist also als Komponente eines ordnungsgemäßen, Rechtsgüter Dritter nicht gefährdenden Überholens zu werten. Das Überholen ist daher entscheidend bei der Frage des Rechtsgüterschutzes. Vorliegend gewinnt das Unterlassen somit nur in Verbindung mit einem Tun Relevanz für den Tod des Radfahrers. Deshalb geht von der Rechtsordnung an den Kraftfahrer die Erwartung aus, das Überholen anderer zu unterlassen, wenn kein ausreichender Seitenabstand gewährleistet ist484 . Bei einem Verstoß gegen diese Verhaltenserwartung ist somit dem Täter ein aktives Tun vorzuhalten485 . c) Gemeinsamkeit der Argumentation beider Prüfungsstufen

Es hat sich gezeigt, daß die Argumentationsweise zur Bestimmung des "schadensnächsten Verhaltens" mit derjenigen zur Frage "Erwartung der Rechtsordnung" nahezu deckungsgleich ist. Dies liegt daran, daß in den Beispielsfällen der Ist-Zustand der jeweils betroffenen Rechtsgüter "gesichert" war. Von Bedeutung konnte daher immer nur sein, daß ein die gegenwärtige Rechtsgutssituation verschlechternder Eingriff unterbleibt. Und regelmäßig wird gerade das schadensnächste Verhalten der für das Rechtsgut ausschlaggebend negative Eingriff sein. Dies belegt, daß häufig bereits eine naturalistische, am Kriterium besonderer Schadensnähe ausgerichtete Betrachtung für die Fallösung ausrei-

484 Zutreffend weist Jakobs, 1991, 28/6 auf die unbestreitbare Erkenntnis hin, daß schließlich keine "Überholpflicht" besteht. 485 Zwnindest im Ergebnis gehen ebenso von einem positiven Tun aus: v.Dassel, 1961, S. 26; Engisch, 1973a, S. 190, 191; Jakobs, 1991, 28/6; Arthur Kaufmann, 1961, S. 212; Mezger, 1958 a, S. 282; Roxin, 1962, S. 415,416; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 7; Toepel, 1992, S. 43; StofJers, 1992, S. 289; U/senheimer, 1965, S. 96; ders., 1969, S. 364 ff.; Welp, 1958, S. 120; Wesseis, 1967, S. 450,451. Wohl auch der BGH hat in seiner nicht eindeutigen Entscheidung ein aktives Tun zugrundegelegt, vgl. BGHSt. 11, 1 ff.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

chen wird. Somit trifft es zu, die Abgrenzung von Tun und Unterlassen vorrangig als Tatsachenfrage anzusehen. 3. Zusammenfassung

Bei der Unterscheidung von Tun und Unterlassen erlangen innerhalb der vorgeschlagenen zweistufigen Prüfung drei Aspekte Bedeutung: a) Das Kriterium der Körperbewegung: Mit dessen Hilfe wird begrifflich das Tun vom Unterlassen abgegrenzt. b) Das Kriterium "schadensnächstes Verhalten": Damit erfolgt in Fällen mehrdeutigen Verhaltens eine wichtige Vorklärung zur Ermittlung des relevanten Verhaltens. Ausgangsbasis dafür ist der Erfolgseintritt, der als Tatsache feststeht. c) Das Kriterium "Erwartung der Rechtsordnung": Zur Vermeidung zufalliger Ergebnisse wird mit Hilfe der "Erwartung der Rechtsordnung" das bislang gefundene Ergebnis - unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen von Tun und Unterlassen auf die Rechtsgutslage - normativ überprüft. Dabei spielen die Aspekte "Schutzzweck der Norm" und "gegenwärtiger Zustand des Rechtsguts" eine entscheidende Rolle.

111. Unterschiede und Vorzüge der kombiniert ontologisch/normativen Betrachtungsweise gegenüber anderen Kriterien Der hier vertretene Lösungsvorschlag unterscheidet sich von den ähnlich wirkenden Abgrenzungskriterien "Schwerpunkt der rechtlichen Vorwerfbarkeit"486 oder "Achtungsanspruch des Rechtsguts,,487 vor allem darin, daß zunächst anband vorgegebener Tatsachen eine Abgrenzung vorgenommen wird, mithin die natürliche Betrachtung der Dinge in verstärktem Maße Berücksichtigung findet. Denn Grundlage fiir eine weitere normative Überprüfung ist das mit Hilfe einer ontologischen Blickrichtung gefundene Ergebnis. Die kombiniert ontologisch/normative Betrachtungsweise kommt also nicht wie die rein normativen Lehren zu dem Schluß, daß die Abgrenzung von Tun und Unterlassen ausschließlich eine Wertungsfrage unabhängig 486 Siehe zu diesem Kriterium oben 2. Teil D. I. 2. b) ce). 487 Siehe zu diesem Kriterium oben 2. Teil D.I. 2. b) gg).

F. Eigener Lös\Ulgsvorschlag

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vom Erscheinungsbild des Geschehens ist. Vielmehr wird die Abgrenzungsfrage in erster Linie als Tatsachenfrage angesehen. Denn nur in wenigen AusnahmefalIen, wenn Wertungsgesichtspunkte eine Korrektur des tatsächlich vorgegebenen Ergebnisses zwingend gebieten, sollen normative Erwägungen die naturalistischen "überwiegen". Diese zwei stufige Vorgehensweise hat den Vorzug, daß sich die Lösung auch am Wortsinn von Tun und Unterlassen orientieren kann. Dies muß jedenfalls gelten, soweit sie sich auf erster Prüfungsstufe grundlegend an dem Merkmal der Vornahme bzw. Nichtvornahme von Körperbewegung anlehnt, das am ehesten noch der Begriffiichkeit von Tun und Unterlassen gerecht wird. Ein Rückbesinnen auf die natarliche Wortbedeutung von Tun und Unterlassen sollte bei der Abgrenzungsproblematik ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt sein488 . Zu leicht könnten sonst die aus Gründen der Rechtssicherheit notwendigen Grenzen von unzulässiger Analogie einerseits, und noch zulässiger Auslegung andererseits an Schärfe verlieren489 . Daß die Grenzziehung zwischen einer schon gegen Art. 103 II GG verstoßenden Auslegung und einer noch verfassungsrechtlich unbedenklichen Interpretation Schwierigkeiten bereiten kann, zeigt nicht zuletzt der Beschluß des BVerfG vom 10.1.1995 zur Auslegung des umstrittenen Gewaltbegriffs in § 240 I StGB. Ausdrücklich wird dort vom BVerfG hervorgehoben, daß "Art. 103 11 GG [... ] nicht nur der Tatbestandsergänzung, sondern auch der tatbestandsausweitenden Interpretation Grenzen (setzt)"490. Nur auf diese Weise könne man dem Sinngehalt des Art. 103 11 GG gerecht werden, der gewährleisten soll, "daß die Normadressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht

488 Vgl. auch v.Dassel, 1961, S. 23 mit dem Hinweis darauf, daß das Recht nicht so weit gehen dürfe, daß der auszulegende Begriff seiner natürlichen Bedeut\Ulg beraubt werde. Ebenso stellt auf den natürlichen Wortsinn bzw. den allgemeinen Sprachgebrauch das RG in RGSt. 29, 111, 113; 30,246,248 ab. 489 Siehe zur natürliche Wortbedeut\Ulg als Ausleg\Ulgsgrenze etwa Baumann, 1958, S. 396; BaumannIWeber, 1985, § 13 I 3; BaumannIWeberlMitsch, 1995, § 9 Rn. 84; Schünemann, 1979, S. 125, 126, der aus dem Grillldsatz "nulla poena sine lege" folgert, "daß der Richter die äußerste Grenze des Umgangssprachgebrauchs nicht überschreiten darf'. 490 Vgl. BVerfG, NJW 1995, S. 1141 ff., 1142.

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2. Teil: Too ood Unterlassen

ist"491. Bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen erlangt also auch die verfassungsrechtliche Komponente große Bedeutung. Weiterhin ist zu bedenken, daß die Strafrechtsnormen keinem Selbstzweck dienen, sondern primär an die Allgemeinheit gerichtet492 , Verhaltensregeln zum "Schutz des Zusammenlebens der Menschen in der Gemeinschaft"493 aufstellen. Zweifelhaft ist aber, wie sich die Einhaltung der Normen durchsetzen läßt, wenn die aus der Sicht des Laien an sich eindeutigen Begriffe wie Tun und Unterlassen zum Teil am Wortsinn vorbei ausgelegt oder sogar umgedeutet werden und man zugleich betont, daß fiir die Unterscheidung von Tun und Unterlassen das äußere Erscheinungsbild unerheblich sein so1l494. Auf diese Weise wird eine Erkennbarkeit strafwürdigen Verhaltens nahezu unmöglich gemacht. Dies wirkt einer Akzeptanz von Strafrechtsnormen entgegen. Denn Grundlage dafiir ist ein breiter Konsens in der Bevölkerung. Dieser läßt sich aber nur erzielen, wenn rechtliche Entscheidungen wenigstens im Ansatz nachvollziehbar und insofern vermittelbar sind. Es ist deshalb wesentlich und zudem verfassungsrechtlich (Art. 103 11 GG) geboten, entsprechend der allgemeinen Wortbedeutung einen Ausgangspunkt fiir die Lösung strafrechtlicher Auslegungsprobleme zu suchen49S . So vertrat vollkommen zu Recht bereits das RG die Auffassung, daß "in der natürlichen Anschauung [... ) der Ursprung der einfachen Rechtsbegriffe zunächst zu suchen" sei 496 . Und auch das BVerfG betont: "Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation (vgl. BGHSt 4, 144 (148))"497. Allerdings wird man nicht bei einer rein naturalistischen Betrachtung stehen bleiben können, soll ein letztlich "gerechtes" Ergebnis erzielt wer-

491 BVerfG, NJW 1995, S. 1141. 492 Derart auch Baumann, 1958, S. 394; BaumannIWeber, 1985, § 13 I 3; BaumannIWeberlMitsch, 1995, § 9 Rn. 85. 493 JescheckIWeigend, 1996, § 1 I I. 494 Das äußere Erscheinoogsbild hält beispielsweise Schmidhtluser, 1975, 16/107 für ooerheblich. 495 Auch Spende/, 1961, S. 192 geht zutreffend davon aus, daß die "juristische SeinsbetrachtWIg [... ) von tatsächlichen ood natürlichen Gegebenheiten ausgehen (muß) und die Dinge nicht auf den Kopf stellen oder 'umdeuten' (darf), indem sie ihnen eine 'Be-deutWIg' beimißt, die der Wirklichkeit nicht entspricht". 496 RGSt. 32, 165, 179. 497 BVerfDE 71, \08 ff., 115.

F. Eigener LösWlgsvorschlag

161

den498 . Daher müssen im Rahmen einer abschließenden Begutachtung auch Wertungsgesichtspunkte, wie etwa die "Erwartung der Rechtsordnung", in die Lösung miteinfließen. Dies ist nicht zuletzt Folge einer "teleologischen Einsicht"499, also einer Sichtweise, die sich am Sinn und Zweck unserer Strafrechtsvorschriften ausrichtet. Gleichwohl bleibt festzuhalten, daß der richtige Ansatz stets in der ontologischen und noch unverfälschten Sicht der Dinge liegen muß, also nicht vorschnell wertende Gesichtspunkte ohne Fundament die Blickrichtung festlegen sollten. Diese Vorgaben werden durch die vorgeschlagene schrittweise Abgrenzungsmethode abgesichert.

IV. Auseinandersetzung mit denkbaren Kritikpunkten 1. Vorwurf der Unbestimmtheit Kritiker könnten dieser zweistufigen Methode angesichts der Heranziehung des Gesichtspunkts "Erwartung der Rechtsordnung" Unbestimmtheit vorwerfen. In Konsequenz zur Auseinandersetzung mit den Kriterien "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit"SOO und "Achtungsanspruch des Rechtsguts"SOI muß zugegeben werden, daß der wertende Gesichtspunkt "Erwartung der Rechtsordnung" nicht bis ins Detail gleichsam "fonnelhaft" gekennzeichnet werden kann und letztlich von einer Einzelfallentscheidung abhängt. Soweit aber Basis der Wertung "der Schutzzweck der einschlägigen Nonn unter Berücksichtigung des Ist-Zustands des betroffenen Rechtsguts" ist, bleibt wohl die Unbestimmtheit gerade gegenüber der Schwerpunktfonnel auf einer niedrigeren Ebene. Jedenfalls wird die Grundlage der Wertentscheidung deutlicher gemacht. Und weil aus Gründen der Rechtssicherheit der Kritikpunkt der Unklarheit beachtlich ist, wird bei der Abgrenzungsfrage primär auf das dem Bestimmtheitserfordemis gerecht werdende ontologische Kriterium der Vornahme bzw. Nichtvornahme einer Körperbewegung abgestellt. Damit wird der Bereich der Unbestimmtheit auf ein Minimum begrenzt. Dieser Rest an Unklarheit wird sich aber letztlich nie ganz ausräumen lassen. Das hängt wohl auch mit der 498 Im einzelnen dazu oben 2. Teil E. II. 499

Roxin, 1969, S. 387.

SOO Siehe oben 2. Teil E. VII. SOl Siehe oben 2. Teil E. XI. 11 Schneider

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2. Teil: TlUllUld Unterlassen

Eigenart des Rechts zusammen. So betont Roxin, es sei "der Jurisprudenz wesenseigentümlich", daß die Grenzlinien nicht "mit mathematischer Exaktheit" gezogen werden können 502 . Wichtig ist daher, im Rahmen eines Lösungsansatzes zur Abgrenzungsfrage wenigstens darauf bedacht zu sein, daß man dem Bestimmtheitserfordernis so weit wie möglich gerecht wird. Dieser Gesichtspunkt sollte also nicht - wie etwa bei der Schwerpunktformel oder anderen allein normativen Abgrenzungsvorschlägen - zu sehr vernachlässigt werden. 2. Vorwurf der Ergebnisvorwegnahme Insbesondere gegen die Schwerpunktformel wird als Kritik vorgebracht, daß angesichts des entscheidungserheblichen "rechtlichen Vorwurfs" noch vor Festlegung der Handlungsform ein Schuldurteil gefällt werden müßte. Es könne aber die Feststellung, wogegen sich der rechtliche Vorwurf richtet, niemals am Anfang der Prüfung eines Falles stehen, sondern erst das Ergebnis einer solchen sein, soll es sich bei dem Resultat nicht um ein letztlich irrationales Gefiihlsurteil handeln 503 . Schließlich könne "man doch nicht wissen, wogegen der rechtliche Vorwurf sich richtet, solange man mit der Prüfung des Falles noch nicht einmal begonnen hat"504. Es scheint naheliegend, diese Kritik in gleicher Weise auf den Gesichtspunkt "Erwartung der Rechtsordnung" anzubringen. So ließe sich etwa folgender Einwand vorstellen: Erst am Ende der Fallprüfung stehe fest, ob man gegen die Erwartung der Rechtsordnung verstoßen habe, und erst dann herrsche Klarheit, welche Handlungsform dem Täter vorzuhalten sei. Dagegen ist vorzubringen, daß es bei der Bestimmung von Tun und Unterlassen nicht um das Vorhalten einer rechtswidrigen und schuldhaften Tat im Ganzen geht. Zur Klärung der Handlungsform ist daher ein abschließendes, die Strafbarkeit feststellendes Unrechts- und Schuldurteil noch nicht erforderlich. Auf dieser Ebene ist nur ausfindig zu machen, ob die Rechtsordnung

502 I.d.S. Roxin, 1969, S. 387. 503 So etwa SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn.6. In die gleiche RichtlUlg gehen

auch Böhm, 1957, S. 23; KUpper, 1990, S. 75; OttolBrammsen, 1985, S. 531; Seelmann, 1987, L 35; NK-Seelmann, 1995, § 13 Rn. 27; Stoffers, 1992, S. 59, 60; VIsenheimer, 1965, S. 94, 95; Welp, 1968, S. 108. 504 Roxin, 1962, S. 417; vgl. weiterhin noch Roxin, 1973, S. 154, 155 lUld RoxiniSchUnemannlHajJke, 1977, S. 129.

F. Eigener LösWlgsvorschlag

163

die Vornahme oder aber das Unterlassen einer Handlung erwartet, und ob dagegen verstoßen wurde. Nicht aber ist hier zu prüfen, ob der Täter etwa das Bewirken eines bestimmten Erfolges oder das Herbeiführen einer Gefahrdungslage strafrechtlich zu verantworten hat. Die insoweit maßgebenden PIÜfungsebenen der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld werden erst anschließend nach Bestimmung der Handlungsform relevant, und zwar, wenn dalÜber zu entscheiden ist, ob sich der Täter gerade mit seiner Handlungsweise strafbar gemacht hat. Denn die bloße Annahme eines Begehungsoder Unterlassungsdelikts als Ausgangspunkt weiterer rechtlicher PlÜfungen impliziert noch kein endgültiges Werturteil über die Verhaltensweise des Täters. Es muß also eine strikte Trennung der beiden Ebenen "Handlung" auf der einen Seite, und "Tat" im Sinne eines Verstoßes gegen die Rechtsordnung auf der anderen Seite erfolgen: Zum einen geht es um die Bewertung eines realen Ereignisses als Tun bzw. Unterlassen, zum anderen geht es um die Bewertung des aus der Handlungsfonn hervorgehenden strafrechtlich relevanten Geschehnisses, das etwa in einer Gefahrdung oder Verletzung eines Rechtsguts bestehen kann, als Straftat. Infolgedessen unterscheidet sich der rein auf die Handlungsform bezogene Aspekt "Erwartung der Rechtsordnung" inhaltlich von dem auf schuldhaft bewirktes Unrecht bezogenen Rechtsvorwurf. Bei der Handlungsform spielen die dogmatischen Gesichtspunkte, die auf den Ebenen der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld Bedeutung erlangen, noch keine RolleSOS . Fragen etwa der Täterschaft, der Kausalität, der Zurechnung oder des Vorsatzes als wesentliche Elemente der Tatbestandsmäßigkeit finden bei der Festlegung von Tun und Unterlassen keine BelÜcksichtigung; gleiches gilt für den Gesichtspunkt "Verstoß gegen die gesamte Rechtsordnung", der die Rechtswidrigkeit kennzeichnet, oder für den Aspekt "persönliche Vorwerfbarkeit der Tat", der die Ebene der Schuld betriffi. Weder das Prüfen von Erlaubnissätzen noch das Fällen eines Schuldurteils in Form persönlicher Tatverantwortung erlangt bei den Handlungsfonnen Tun und Unterlassen Bedeutung. Hier inter-

sos Die AusgestaltWlg dieser Pr11fimgspWlkte kann sich erst nach der BestirnmWlg der HandlWlgsforrn ergeben, weil sie inhaltlich Wlterschiedlich ist, je nachdem, ob aktives TWl oder Unterlassen vorliegt. So sind etwa die GarantenstellWlg auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit Wld die Garantenpflicht auf der Ebene der Rechtswidrigkeit nur bei Wlechten UnterlassWlgsdeIikten, nicht aber bei BegehWlgsdelikten, relevant; gleiches gilt filr den Aspekt der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens auf der Schuldebene. 11·

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2. Teil: Tun und Unterlassen

essiert allein der darauf bezogene Aussagegehalt einer konkret in Betracht kommenden Norm in Verbindung mit der gegenwärtigen Rechtsgutssituation.

G. Abbruch einer technisch unterstützten Heilbehandlung durch den zuständigen Arzt I. VorüberiegungS06 Nachdem geklärt wurde, welche Kriterien allgemein bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen in Lit. und Rspr. bevorzugt werden, ist nun fallbezogen aufzuzeigen, wie sich die Abgrenzungsmodelle auswirken. Dabei soll zunächst der "Standardfall" aus der Krankenhauspraxis, und zwar der Abbruch einer technisch unterstützten Heilbehandlung durch den zusUindigen Arzt, beleuchtet werden. Erst wenn die hierzu hinlänglich diskutierten Lösungen hinsichtlich eines Tuns und Unterlassens dargestellt und kritisch untersucht wurden, läßt sich auf die Ausnahmeproblematik eines solchen Behandlungsabbruchs durch einen Dritten eingehen. Sollte nämlich beim Behandlungsabbruch durch den zuständigen Arzt im Ergebnis ein aktives Tun zu bejahen sein, was angesichts des Abstellvorgangs naheliegend scheint, dürfte sich für den Dritten insoweit eigentlich kein Unterschied ergeben. Denn die vorliegenden äußeren Verhaltensweisen sind identisch. Anders ist die Situation, wenn beim Behandlungsabbruch durch den Arzt entgegen dem vorzufindenden Erscheinungsbild aus wertenden Gesichtspunkten heraus ein Unterlassen anzunehmen ist. In diesem Fall muß geklärt werden, ob die Gründe, die zu dem Unterlassen führen, ganz

506 Ganz ähnlich im Sinne der hier im folgenden gewählten Darstellungsfonn der "Reanirnatorproblematik" auch v.Deliingshausen, 1981, S. 426 ff. und insbesondere StofJers, 1992, S. 386 ff., der allerdings nicht zunächst bloß nach der jeweiligen begründbaren Verhaltens/orm differenziert, sondern dort bereits die Frage der Strafbarkeit bzw. Straflosigkeit je gewählter Fonn des Verhaltens miteinbezieht. Diese Fragenkomplexe sollten jedoch schon vom Ansatz her getrennt und isoliert beantwortet werden: Denn unabhängig von der begründbaren VerhaItensfonn kann sich bei weiterer Prüfung auf den Ebenen der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit oder Schuld eine Strafbarkeit oder Straflosigkeit der Handlung ergeben. Insbesondere darf nicht mit der Annalune eines Unterlassens das Ergebnis einer Straflosigkeit und mit der Annalune eines aktiven Tuns das Ergebnis einer Strafbarkeit gleichgesetzt werden. Ansonsten besteht die Gefahr, daß die Suche nach der Verhaltensfonn rein ergebnisorientiert verläuft.

G. Abbruch einer technisch unterstützten Behandlung durch den Ant

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spezifisch an die Arzteigenschaft und dessen Zuständigkeit gekoppelt sind oder aber auf den Dritten übertragbar sind. Höchst umstritten ist, ob in Fällen, in denen der behandelnde Arzt ein der Reanimation dienendes Gerät, einen Respirator oder eine Herz - Lungen - Maschine abstellt, aktives Tun oder Unterlassen gegeben ist. Denkbar ist zum einen, ausschließlich auf den Vorgang des Abschaltens abzustellen, zum anderen, auf das darin gleichzeitig zum Ausdruck kommende Nichtweiterbehandein. Derart lassen sich Tun wie Unterlassen begründen. Zusammengefaßt worden ist diese Thematik in der Literatur mit dem Begriff "Reanimatorproblematik" . Im Folgenden finden nur die Meinungen zur Reanimatorproblematik Berücksichtigung, die sich explizit zur Frage von Tun und Unterlassen äußemS07 . Mutmaßungen bezüglich einer konsequent erscheinenden Anwendung des abstrakt vertretenen Abgrenzungskriteriums auf den hier streitigen Fall sollen vermieden werden. Es wird nämlich nicht immer eine absolute Folgerichtigkeit bei der Ergebnisfindung anzutreffen sein, was vielleicht mit der Vermeidung letztlich unliebsamer Resultate zusammenhängt; insoweit kann stellvertretend Engisch genannt werden, der trotz Bevorzugung des Energieeinsatzkriteriums und einer erkennbar mit dem Abstellen des Gerätes verbundenen Aktivität zu einem Unterlassen gelangen will S08 . Treten also wider Erwarten schon bei den naturalistischen Abgrenzungskriterien Schwierigkeiten bei der Prognose einer fallbezogenen Anwendung auf, verstärken sich diese freilich noch bei den normativen Kriterien: Angesichts der geringeren Bestimmtheit und der infolgedessen stärker einfließenden persönlichen Einschätzung gestaltet sich eine vorhersehbare "folgerichtige" Übertragung des allgemeinen Kriteriums zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen auf den Einzelfall sehr problematisch.

S07 Nicht jede oben zu den Abgrenzungskriterien dargestellte Auffassung nimmt auch zur Reanimatorproblematik Stellung. Dies kann freilich nicht verwundern. Schließlich konnte die Reanimatorproblematik erst von denjenigen diskutiert werden, bei denen diese aufgrund des medizinischen Fortschritts tatsächlich aufgetreten war. S08 Vgl. Engisch, I 973a, S. 178. Näheres dazu unten 2. Teil G m. 4.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

11. Gesichtspunkte zur Begründung aktiven Tuns Da bei einer natürlichen Betrachtungsweise, die sich auf den Vorgang des Abbruchs lebenserhaItender Maßnahmen bezieht, das Vorliegen aktiven Tuns naheliegt, soll mit derartigen Begründungsansätzen begonnen werden.

1. Kriterium der körperlichen Aktivität Unter Zugrundelegung des Körperbewegungskriteriums bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen wird im Falle des Abschaltens eines lebenserhaltenden Geräts durch den ArztS09 eine Begehungshandlung angenommen. Insoweit wird die "körperliche Aktivität" hervorgehoben, also "der Druck auf den Abschaltknopf' für relevant erklärtslO . Betont wird, daß dies "der letzte Akt der - jetzt tödlichen - ärztlichen Behandlung" seim. Insbesondere nach Ansicht von Maurach/GIJssel soll die Unterlassung der weiteren medizinischen Behandlung erst zeitlich nachfolgen und nicht gleichzeitig in dem Abschaltvorgang liegenS12.

2. Energiekriterium Entsprechend den Grundsätzen zum Energieeinsatzkriterium, wonach das Aufwenden oder Nichtaufwenden von Energie über Tun und Unterlassen entscheidet, wird hier im Ergebnis aktives Tun angenommen. Insbesondere Dito stellt klar, daß das Abstellen des Reanimators in Form der Betätigung des 509 Hiernach ist eigentlich gleichgültig, wer die medizinische Apparatur abstellt, ob ein Arzt oder ein (böswilliger) Dritter, da der nach außen in Erscheinung tretende Abschaltvorgang als solches entscheidend sein soll. S10 MaurachlG6ssel, 1989, § 45 n Rn. 32.

511 So MaurachlG6ssel, 1989, § 45 n Rn. 32; vgl. des weiteren G6ssel, 1987, § 2 Rn. 41. Auch Sax, 1975, S. 142 greift offenbar auf das Körperbewegungskriterium zurück, denn er spricht hier von einem "faktischen" Tun (vgl. Sax, a.a.O., S. 138). Die Annahme eines Unterlassens hält er fiIr eine rechtlich unzulässige Umdeutung des tatsächlichen Geschehens, vgI. Sax, a.a.O., S. 142.

Des weiteren sieht Jahnke das "äußere Erscheinungsbild", nämlich die mit dem Abstellen des Respirators verbundene Tätigkeit, als maßgebend an, so daß auch er hier zu einem aktiven Tun gelangt (vgI. LK.Jahnke, 1989, Vor § 211 Rn. 16).

512 I.d.S. MaurachlG6ssel, 1989, § 45 n Rn. 32, nach dessen Ansicht dann die Begehungs- und Unterlassungshandlung in einem Konkurrenzverhältnis stehen.

G. Abbruch einer technisch \Ulterstützten Behandl\Ulg durch den Arzt

167

Abstellknopfes einen (wenn auch nur geringen) Energieeinsatz notwendig mache, mit der Folge, daß aktives Tun vorliege~513. 3. Kausalitätsgesichtspunkt Zur Annahme aktiven Tuns wird des weiteren auf das Kausalitätskriterium zurückgegriffen: Da das Abschalten des Reanimators den Tod des Patienten angesichts der Lebensverkürzung um die Zeitspanne, die das Gerät ohne den Abbruch weitergearbeitet hätte, verursacht habe, also durch den Abschaltvorgang ein zum Tod fiihrender Kausalverlauf ausgelöst werde, soll der Behandlungsabbruch durch den Arzt als aktives Tun zu bewerten sein 514 .

513 Zu diesem Ergebnis gelangen insbesondere OttolBrammsen, 1985, S. 531; Duo, 1986, D 42 tT.; ders., 1992, § 9 12 b aa. In Verbind\Ulg mit Kausalitätserwäg\Ulgen nimmt aktives T\Ul auch See/mann, 1987, L 34 an, der meint, daß die Annahme eines Unterlassens de lege lata abzulehnen sei \Uld mangels klarer Grenzzieh\Ulg eine Belast\Ulg für die Rechtssicherheit darstelle, vgl. NK-See/mann, 1995, § 13 Rn. 23,24, 28. 514 I.d.S. bereits Bocke/mann, 1968, S. 1l2, S. 125 Anm. 45, der insbesondere darauf hinweist, daß der Arzt in einen laufenden Kausalprozeß aktiv eingreift \Uld dies als das entscheidende Merkmal ansieht, das aus dem Verhalten des Arztes ein aktives T\Ul \Uld nicht ein Unterlassen mache; ihm insoweit zustimmend H.J. Hirsch, 1969, S. 923; vgl. weiterhin noch Bocke/mannIVo/k, 1987, § 17 G. Bocke/mann geht dann im Ergebnis so weit, das Verhalten des Arztes beim Abschalten eines in der Intensivpflege benutzten Reanimief\Ulgsgeräts etwa dem Fall der Giftbeimisch\Ulg in eine Infusionslös\Ulg gleichzustellen \Uld gelangt derart im Ergebnis zur Strafbarkeit wegen Töt\Ulg durch aktives T\Ul (vgl. Bocke/mann, 1968, S. 112; Bocke/mannIVo/k, 1987, § 17 G). Im Gegensatz zu dieser, allein von Bockelmann vertretenen AutTass\Ulg gelangt richtigerweise die ganz h.M. - \Ulabhängig davon, ob aktives T\Ul oder Unterlassen vorliegt dazu, den Behandl\Ulgsabbruch durch den Arzt bei absoluter Aussichtslosigkeit einer weiteren Behandl\Ulg als nicht strafbar anzusehen (vgl. hinsichtlich der h.M. nur die umfangreichen weiterfilhrenden Nachweise bei v.Dellingshausen, 1981, S. 428). Auch SK-Rudo/phi, 1995, Vor § 13 Rn. 47 nimmt hier als Verhaltensform aktives T\Ul an, da entscheidend allein sein könne, "daß tatsächlich ein rettender Kausalverlauf abgebrochen \Uld dadurch der tatbestandsmäßige Erfolg verursacht worden ist". Denn in Fällen des "Rücktritts vom Gebotserfullungsversuch" - also in Fällen des Abbruchs eigener Rett\Ulgsbemüh\Ulgen - soll ein Unterlass\Ulgsdelikt (durch Begehen) nur bis zu dem Zeitpunkt bejaht werden können, in welchem der Täter den von ihm angestoßenen rettenden Kausalverlauf noch nicht aus der Hand gegeben habe; im Ergebnis ebenso schon Rudo/phi, 1979, S. 40. Zwischenzeitlich vertrat Rudo/phi allerdings die Gegenposition, indem er das Abstellen des Reanimators dem "sozialen Sinngehalt" gemäß der passiven Sterbehilfe zuordnen wollte, vgl. Rudo/phi, 1981, S. 350.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

Zur Unterstützung dieses Ergebnisses wird teils noch ein wertender Gesichtspunkt vorgebracht, indem der vorliegende Fall mit einem ähnlichen verglichen wird: Eindeutig aktives Tun soll dann gegeben sein, wenn ein Dritter aus purer Bosheit und nicht der aus sittlich achtenswerten Motiven heraus handelnde Arzt das Beatmungsgerät abstellt. Und da sich in beiden Konstellationen die Verhaltensweisen äußerlich decken, werde deutlich, daß beim zuständigen Arzt aktives Tun angenommen werden müsses 15. 4. Zerlegungsverfahren Auch mit Hilfe des Zerlegungsverfahrens wird das Resultat eines aktiven Tuns erzielt. Dabei soll zunächst eine Aufgliederung des Geschehnisses in Begehungs- und Unterlassungsmomente (Zerlegungsverfahren) ergeben, daß sowohl ein Tun wie auch ein Unterlassen vorliegen; das Tun wird in dem Abschaltvorgang, das Unterlassen in der fehlenden Aufrechterhaltung der weiteren Reanimation erblickt516 . Die also notwendig werdende Konkurrenzfrage fiihre dann dazu, daß angesichts der durch § 13 StGB vorgegebenen Subsidiarität des zeitgleichen Unterlassens das Tun letztlich die relevante Verhaltensform sei 517 .

Mit Hilfe des Kausalitätsgesichtspunkts gehen des weiteren etwa auch Jakobs, 1991,6/28 u. 7/64; LK.Jescheck, 1993, Vor § J3 Rn. 90; JescheckIWeigend, 1996, § 58 2; Küpper, 1990, S. 82; ders., 1996, § I 13 Rn. 22; Samson, 1974, S. 598,601; Stoffers, 1992, S. 458; ders., 1992 b, S. 626 von einem positiven Tun aus.

n

Natürlich kann auch hier wieder Seelmann genannt werden, der das Kausalitätskriterium in Verbindung mit Energieeinsatzgesichtspun1cten anwendet und derart zu einem aktiven Tun gelangt, vgl. Seeiman, 1987, L 34; NK-Seelmann, 1995, § J3 Rn. 23. 515 Vgl. Bockelmann, 1968, S. 125 Anm. 45: "Aber was der Arzt tut, ist nichts anderes, als was der Täter des Modellfalls begeht."

Auch BaumannIWeber, 1985, § 18 n I meint, daß dasselbe Verhalten, das bei einem Dritten (etwa einem erbbegierigen Angehörigen) als positives Tun zu beurteilen sei, beim behandelnden Arzt nicht anders gedeutet werden dürfe. 516 Vgl. Schlüchter, 1976, S. 796. 517 I.d.S. Schlüchter, 1976, S. 796.

G. Abbruch einer technisch unterstützten Behandlung durch den Arzt

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III. Annahme eines Unterlassens aufgrund normativer Gesichtspunkte 1. Schwerpunkt der Vorwertbarkeit Obwohl eingestanden wird, daß im Fall des Abschaltens lebensverlängernder Geräte der Akt des "Abschaltens" ein "Tun" erfordert518 , wird mittels der "Schwerpunktformel" das Abbrechen der Behandlung durch den Arzt als Unterlassungshandlung gewertet. Denn der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens soll im Unterlassen weiterer Rettungsbemühungen und nicht in der aktiven Beendigung der apparativen Intensivbehandlung Iiegen 519 . Als Grund für die Wertentscheidung zugunsten des Unterlassens wird angeführt, daß "der eigentliche Unwert"520 des Verhaltens in dem Verstoß gegen die Verpflichtung zu weiterer Behandlung zu sehen sei. Auch ist die Rede davon, daß es "ersichtlich nicht sachgerecht" wäre 521 , den Arzt wegen Totschlags zu bestrafen, was Folge einer Annahme aktiven Tuns (= Fall der aktiven Euthanasie) wäre. Weiterhin wird vorgetragen, daß gerade im Vergleichsfall der Beendigung einer manuellen Herzmassage ebenfalls nur ein Unterlassen angenommen werden könne, und dieser Fall vom Bedeutungsgehalt mit dem Fall des Abbruchs technischer Hilfsmittel identisch sei 522 . Und schließlich erfolgt noch der Hinweis, daß die rechtliche Bewertung nicht von der Konstruktion eines Apparates abhängen dürfe: Ansonsten müßte den Än-

518 So ausdrücklich etwa WesseIs, 1996, § 1612 Rn. 703. 519 VgJ. etwa Haft, 1996, S. 172; SchönkelSchröder/Stree, 1997, Vorbern §§ 13 tT. Rn. 158,160; WesseIs, 1996, § 1612Rn. 703. Im Ergebnis so auch Kahl, 1994, § 18 n Rn. 17, der sich damit al1erdings zu seinen vorherigen Ausftlhrungen (a.a.O. Rn. 13) bezüglich des Kausalitätskriteriums in Widerspruch setzt. In einer erst jüngst ergangenen Entscheidung sieht auch der BGH beim Behandlungsabbruch durch den Arzt trotz vorgenommener schriftlich erteilter Anweisung an das Pflegepersonal in dem Unterlassen weiterer Behandlung "das strafrechtlich relevante Geschehen", VgJ. BGHSt. 40,257 tT., 265, 266. Wider Erwarten gelangt Schwab mittels der SchwerpunktformeJ zu einem aktiven Tun: Angesichts der Tatsache, daß die medizinische Behandlung bereits begOIUlen habe, wil1 er den Schwerpunkt der Vorwertbarkeit "auf das Abstel1en des Respirators legen" (vgJ. Schwab, 1996, S. 30). 520 VgJ. BGHSt. 40, 257 tT., 266. 521 Haft, 1996, S. 172. 522 So Kahl, 1994, § 18 n Rn. 17; WesseIs, 1996, § 1612 Rn. 703.

170

2. Teil: Tun und Unterlassen

ten geraten werden. "sich eine Maschine konstruieren zu lassen. die nur eine eng begrenzte Zeit läuft und bei Ablauf dieser Zeit einen neuen Impuls zum Weiterlaufen benötigt"523. 2. Sozialer Sinn des Verbaltens Zur Begründung eines Unterlassens wird auch der Gesichtspunkt "sozialer Sinn des Verhaltens" herangezogen: Trotz der phänotypischen Aktivität beim Abstellen eines Reanimierungsgerätes oder Respirators per Knopfdruck wird der soziale Sinngehalt dieses Verhaltens in dem Unterlassen der Weiterbehandlung gesehen524 . Das Abstellen eines technischen medizinischen Hilfsmittels könne nämlich rechtlich nicht anders bewertet werden als der Abbruch einer manuellen Behandlung, und dort komme offensichtlich (schon phänotypisch) bloß ein Unterlassen in Frage525 . Geilen verdeutlicht die Argumentation noch begriffiich, indem er die medizinische Apparatur als "verlängerten Arm" des Arztes bezeichnet526 . Damit hebt er die vom SinngehaIt her rechtliche Unterschiedslosigkeit bloß zweier Modalitäten einer sich gleich auswirkenden Behandlungsbeendigung hervor, die in einem schlichten Aufhören bei manueller Behandlung oder in einem tätigen Abschalten bei technisch unterstützter Heilbehandlung bestehen kann. Die Art und Weise der Beendigung einer Intensivbehandlung rückt somit beim Abstellen auf den "sozialen Sinngehalt" in den Hintergrund. Offenbar ist insoweit vielmehr die mit dem Ab-

523 Derart insbesondere Schönke/Schröder/Stree, 1997, Vorbem. §§ 13 tT. Rn. 160. 524 Vgl. Breit, 1989, S. 124; Geilen, 1968 a, S. 151; ders., 1975, S. 22; Kienapfel,

1984, S. 477; Krey, 1996, § I I Rn. 11; Küper, 1971, S. 476; Lackner, 1995, Vor § 211 Rn. 8; Pelzl, 1994, S. 186; Wimmer, 1975, S. 440. In Verbindung mit der SchwerpunlctformeJ so auch Krey, 1971, S. 249; ders., 1994, § 1 Rn. 11; Wesseis, 1996, § 16 12 Rn. 703. Im Ergebnis wie die Vorgenannten auch M6l1ering, 1977, S. 61, der die Wertung zugunsten des Unterlassens mit den hinter dem Tötungsverbot stehenden Interessen begründen will. Dabei will er vorliegend keinen Verstoß gegen die Interessen am Tötungsverbot annehmen, da das Abbrechen der medizinischen Apparatur gerade nicht als Handlung gegen das Leben, sondern vielmehr als das Anerkennen des Vetos des Patienten zu werten sei (vgl. M6l1ering, a.a.O., S. 61 tT., 67). 525 Vgl. Geilen, 1968, S. 126 dort Fn.25; ders., 1968 a, S. 151; ders., 1975, S. 22.

526 Geilen, 1968, S. 126 dort Fn.35; ders., 1968 a, S. 151; ders., 1975, S. 22.

G. Abbruch einer technisch unterstützten Behandlung durch den Am

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bruch der Behandlung verbundene Konsequenz von Bedeutung. Und die wird hier darin erblickt, daß "der Natur ihr Lauf gelassen wird"S27. Zwar erwähnt Geilen ausdrücklich, daß vom Ant das bloße "Nichtweitermachen" einer manuellen Behandlung gefiihlsmäßig wohl regelmäßig anders als das aktive Abschalten einer sonst selbsttätig weiterlaufenden Maschine empfunden werden wird s28 . Dies sei aber ein Unterschied bloß im "Irrationalen": "Hier kommt der Gesichtspunkt einer 'frommen Scheu' ins Spiel, an etwas, was 'Menschenantlitz trägt', Hand anzulegen"S29. Aus diesem Grund soll ein derartiger Einwand fiir die rechtliche Einordnung in die Kategorien Tun und Unterlassen keine Rolle spielen können S30 . 3. Unterlassen durch Tun Mit Hilfe der Rechtsfigur "Unterlassen durch Tun" wird das in dem Abschaltvorgang liegende aktive Tun nicht dem Begehungsdelikt, sondern dem Unterlassungsdelikt zugeordnet. Denn es wird teilweise vertreten, daß beim Abbruch eigener Rettungsbemühungen (= Fallgruppe "Rücktritt vom Gebotserfiillungsversuch") ein Begehungsdelikt erst dann in Betracht komme, wenn die begonnene Rettungshandlung die Sphäre des Opfers erreicht hat, also das Opfer in die Lage versetzt worden ist, sich selber zu helfen; andernfalls soll ein Unterlassungsdelikt in Fonn des Unterlassens weiterer Rettungsbemühungen gegeben seinS31 . Und da hier angenommen wird, daß die Intensivmedizin ein Überleben des Patienten aus eigener Kraft noch nicht ennöglichte schließlich ist fiir den Patienten das Weiterlaufen eines Reanirnators lebensnotwendig -, wird ein Unterlassungsdelikt (durch Tun) bejahtS32 . S27 S28 S29

..

I.d.S. Gellen, 1968, S. 126 dort Fn.35. Geilen, 1968, S. 126 dort Fn.35. Geilen, 1968, S. 126 dort Fn.35. Vgl. Geilen, 1968, S. 126 dort Fn.35. Siehe dazu im einzelnen oben 2. Teil D. ill. 2.

530 531 532 So Eser, 1980 a, Fall 25 A 20; Schlich, 1995, S. 154; jedenfalls im Ergebnis zieht auch Pelzl, 1994, S. 186 die Rechtsfigur "Unterlassen durch Tun" filr die An-

nahme eines Unterlassens als zusätzliches Argument (neben dem sozialen Sinngehalt) heran.

Auch Zimmermann, 1977, S. 2106 und im Anschluß daran v.Dellingshausen, 1981, S. 463 wollen den aktiven Abbruch der Rettungsbemühungen hier als UnterlassWlgsdelikt werten. Dabei stellen sie die "Position" des Rechtsguts bzw. die "Position" des Patienten in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Erst wenn in eine gesicherte Position

172

2. Teil: TWl Wld Unterlassen

Mit dieser Argumentation wird dem Tun jede rechtliche Eigenständigkeit abgesprochen. Es wird ausschließlich als Bestandteil einer Unterlassungshandlung gewertet, und zwar offensichtlich in dem Sinn, daß es bloß auslösender Faktor des allein entscheidenden Unterlassens weiterer medizinischer Behandlung ist.

4. "Bedeutung" eines Uoterlasseos533 Obwohl zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen das Energieeinsatzkriterium maßgebend sein soll und nicht geleugnet werden kann, daß rur den Abschaltvorgang ein - wenn auch nur minimaler - Energieeinsatz notwendig ist, soll nach Engisch das Abschalten des Reanimators durch den Arzt ausnahmsweise ein Unterlassen "bedeuten": "der behandelnde Arzt, der durch Stillegung des Reanimators die ihm nicht mehr sinnvoll erscheinende Lebensverlängerung abbricht. verleiht seiner an sich nicht wegzuleugnenden Aktivität die 'Bedeutung', daß er weiteren Energieeinsatz, weitere Anstrengung, weiteren Aufwand nicht mehr leisten will"534.

des Patienten eingegriffen werde, soll das UnterlassWlgsdelikt in ein BegehWlgsdelikt umschlagen. In Fällen, in denen aber eine RettWlg oder BesserWlg des GesWldheitszustands des Patienten nicht mehr erreichbar sei, greife der Arzt nicht in eine gesicherte Position des Patienten ein. Roxin nimmt schließlich sogar ein im Ergebnis strafloses Unterlassen durch TWl an, jedenfalls im Falle völliger Aussichtslosigkeit weiterer ReanimierwtgsbemühWlgen angesichts der Zwecklosigkeit fortdauernder BehandlWlg; letztlich Wlterlasse der Arzt nur etwas, wozu er nicht mehr verpflichtet sei, weshalb seine dem UnterlassWlgsdelikt zuzuordnende Rücktrittsaktivität vom "ErfolgsabwendWlgsversuch" (von einem "GebotserftlllWlgsversuch" kann wegen der fehlenden Rechtspflicht konsequenterweise wohl schon begriffiich nicht mehr die Rede sein) strafrechtlich ohne BedeutWlg sein müsse, vgl. Roxin, 1969, S. 393, 395 ff., insb. S. 398 Wld S. 399; ihm zustinunend Hanack, S. 145; Helgerth, 1976, S. 47. 533 Eigentlich ist dieser Gesichtspwtkt im Rahmen der allgemeinen Abgrenzung von TWl Wld Unterlassen Teil des Energieeinsatzkriteriums; siehe dazu oben 2. Teil D. I. 1. b) bb). Von einer eigenständigen normativen Lehre kann daher bei dem Merkmal "BedeutWlg eines Unterlassens" nicht gesprochen werden. Ohnehin wurde der Gesichtspunkt der "BedeutWlg" eines Verhaltens von Engisch bislang bloß einzelfallbezogen verwendet. Deshalb soll er hier auch ausschließlich als BegrülldWlgsansatz zur Annalune eines Unterlassens im Rahmen der Reanimatorproblematik verstanden werden. 534 Derart Engisch, 1973, S. 178; ders., 1976, S. 315,316; ders., 1977, S. 325 ff.

G. Abbruch einer teclmisch unterstützten Behandlung durch den Arzt

173

Grund fiir die Abkehr vom Merkmal Energieeinsatz soll die Notwendigkeit sein, "'Sinn' und 'Zweck' des Abschaltens des Reanimators aus dem Ganzen der ärztlichen Behandlung heraus zu 'verstehen"'535. Und dann zeige sich, "daß im Vergleich zur weiteren Unterlassung der Intensivbehandlung der geringfiigige Energieeinsatz, der im Abschalten des Reanimators liegt, völlig sein Gewicht verliert. Er hat eben nur noch die 'Bedeutung', den Übergang von der aktiven Fürsorge in das passive Geschehenlassen (Sterbenlassen) einzuleiten"536. Indem Engisch bei der Frage, welche Bedeutung einer bestimmten Verhaltensweise zukommt, auch auf den "Zweck" der Handlung abstellt, werden subjektive Momente bei der Bestimmung von Tun und Unterlassen mitentscheidend. Und diese ermöglichen es ihm, zwei Fallkonstellationen voneinander zu unterscheiden, und zwar den Fall des Behandlungsabbruchs durch den verantwortlichen Arzt von dem des Abschaltens der intensivmedizinischen Apparatur durch einen boshaften Dritten. So soll aufgrund der subjektiven Intention des Arztes, weiteren Aufwand angesichts medizinischer Aussichtslosigkeit nicht mehr leisten zu wollen, dessen Verhalten eine andere Bedeutung haben als das äußerlich identische Verhalten eines aus purer Boshaftigkeit heraus handelnden Dritten - mit dem Ergebnis, daß beim Arzt ein Unterlassen, beim Dritten hingegen ein Tun vorliege 537 .

5. Acbtungsanspmcb des Recbtsguts Zur Begründung eines Unterlassens innerhalb der Reanimatorproblematik wird auch auf den bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen fiir maßgeblich gehaltenen "Achtungsanspruch des Rechtsguts" abgestellt. Danach soll entscheidend sein, ob der Achtungsanspruch des hier betroffenen Rechtsguts Leben vom behandelnden Arzt verlange, eine Leistung zur Abwehr der drohenden Lebensgefahr zu erbringen oder einen lebensgefährdenden Eingriff zu ersparen. Im ersteren Falle müsse dann bei Nichtvornahme der geforderten

Der von Engisch verwendete Begriff "Bedeutung" soll im Sinne von "Deutung" zu verstehen sein, was mit "Auslegung" zusammenhänge; vgl. Engisch, 1977, S. 327. Aber auch eine derartige Umschreibung kann dem Begriff "Bedeutung" in diesem Zusanunenhang keine ausreichende Kontur verleihen. 535 Engisch, 1977, S. 327. 536 Engisch, 1977, S. 327. 537 Vgl. Engisch, 1973a, S. 178; ders., 1977, S. 327,328.

174

2. Teil: Tun und Unterlassen

Leistung ein Unterlassen und im letzteren Fall bei Vornahme des Eingriffs ein Begehen angenommen werden538 . Da hier vom Arzt aufgrund seiner Verantwortung fiir die Betreuung des Patienten das Erbringen einer lebenserhaltenden Leistung mit Hilfe der Technik zu fordern sei, und das Abstellen der Beatmungsmaschine gerade die Nichtvornahrne dieser Leistung beinhalte, müsse von einem Unterlassungsdelikt ausgegangen werden; dabei soll das den Abschaltvorgang darstellende äußere Erscheinungsbild eines Tuns völlig unmaßgeblich sein539 . Abgesichert wird das Ergebnis noch mit dem Hinweis darauf, daß auch im Fall des Abbruchs manueller Wiederbelebungsversuche nur ein Unterlassungsdelikt in Betracht komme 54o .

IV. Begründung eines Unterlassens mittels der sog. "Zwei-Stufen-Prüfung" 1. Unterlassen weiterer Bebandlung Weder die dargestellten Gesichtspunkte zur Annahme eines Tuns noch diejenigen zur Annahme eines Unterlassens vennögen letztlich zu überzeugen 541 . Ob beim Abbruch einer mit technischen Hilfsmitteln betriebenen Behandlung durch den verantwortlichen Arzt von einem aktiven Tun oder Unterlassen auszugehen ist, soll daher nach dem hier favorisierten Abgrenzungskriterium einer auf dem Körperbewegungsmerkmal beruhenden ontologischen Betrachtungsweise unter korrektiver Berücksichtigung der "Erwartung der Rechtsordnung" (= sog. "Zwei-Stufen-Prüfung") bestimmt werden.

538 SchmidhtJuser, 1975, 16/105, 107;ders., 1984, 12/51.

539 Derart SchmidhtJuser, 1975, 16/107; ders., 1984, 12/54. 540 Vgl. SchmidhtJuser, 1975, 16/107. 541 Verwiesen werden soll insoweit auf die bereits oben dargestellte kritische Auseinandersetzung mit den allgemein zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen vertretenen Kriterien. Denn soweit bereits das Kriteriwn als solches bei der Unterscheidung von Tun und Unterlassen abgelehnt werden mußte, schlägt sich dessen Nachteil auch auf die konkrete Fallanwendung nieder.

G. Abbruch einer technisch unterstützten Behandlung durch den Arzt

175

a) "1. Stufe"

Eine am Körperbewegungskriterium orientierte Prüfung ergibt angesichts des notwendigen Knopfdrucks zunächst das Vorliegen eines aktiven Tuns. Dieses stellt zugleich das schadensnächste und damit bei natürlicher Betrachtung der Dinge augenscheinlich relevante Ereignis dar. Denn mit dem Abschalten der intensivmedizinischen Apparatur wurde die Gefahr für den Todeseintritt konkret. Das Tun ist auch phänomenologisch dominant. b) "2. Stufe"

Fraglich ist, ob dieses einer natürlichen Betrachtung der Dinge entsprechende Ergebnis bei Berücksichtigung des wertenden Gesichtspunkts "Erwartung der Rechtsordnung" korrigiert werden muß. Denkbar ist, daß die Rechtsordnung nicht in erster Linie das Unterlassen des Ereignisses "Abstellen des Gerätes in Form eines Knopfdrucks" erwartet, sondern vielmehr die Weiterführung der Behandlung, also das Erbringen weiterer andauernder lebenserhaltender Leistung. Dann ist dem Arzt bei Beendigung der Behandlung ein Unterlassen als Tathandlung vorzuhalten. Um feststellen zu können, ob die Rechtsordnung vom Arzt die Vornahme oder Unterlassung einer Handlung erwartet, ist zum einen der Schutzzweck .der einschlägigen Norm, zum anderen der gegenwärtige Zustand des Rechtsguts von Bedeutung. In den ReanimatorfaIlen geht es um Lebensschutz nach den §§ 212 ff. StGB. Und der Zustand des Patienten ist durch die besondere Situation gekennzeichnet, daß er sich in einer lebensbedrohlichen Lage befindet, die nur durch das Inganghalten intensivmedizinischer Geräte abgewendet werden kann. Es ist insofern eine Abhängigkeit von den bereits laufenden medizinischen Geräten gegeben. Dem betroffenen Rechtsgut Leben wird also mit der Behandlung eine lebenssichernde Leistung erbracht, der Ist-Zustand des Rechtsguts ist mithin im Zeitpunkt der "schadensnächsten" Tathandlung "ungesichert" bzw. "gefährdet". Dieser Aspekt ist ganz entscheidend, wenn es um die Feststellung geht, ob ein Handeln oder Unterlassen erwartet wird. Denn der Lebensschutz wird gerade mit der Weiterführung der Behandlung gewährleistet. Deshalb erwartet die Rechtsordnung, daß dem betroffenen Rechtsgut Leben auch weiterhin die lebenssichernde Leistung zukommt. In Bezug auf die Handlungsform ist daher dem Arzt, wenn er die intensivmedizinischen Geräte abstellt, nicht ein Tun vorzuhalten, sondern ein Unterlassen: das Unter-

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2. Teil: Tun und Unterlassen

lassen weiterer, Leben garantierender Behandlung. Derart wird die Tragweite der Behandlungsbeendigung genügend berücksichtigt und wird nicht der dafiir notwendige Knopfdruck als solches überbewertet. Für die nonnative Frage "Erwartung der Rechtsordnung" muß schließlich entscheidend sein, was die Rechtsordnung bezogen auf den Rechtsgüterschutz im Endeffekt erreichen will. Man darf daher nicht kurzsichtig nur die unmittelbare Wirkung einer Handlungsweise auf ein Rechtsgut im Blick haben, sondern es müssen die Auswirkungen im weiteren beachtet werden, wenn ausreichender Rechtsgüterschutz gewährleistet sein soll. Besonders evident tritt die so begründbare Bedeutungslosigkeit eines die Behandlung beendenden Tuns zutage, wenn der Arzt ein lebensnotwendiges Gerät per Knopfdruck ausschalten muß, um eine für die Behandlung wesentlich wirkungsvollere Apparatur anstellen zu können.

2. Vermeidung zufälliger Ergebnisse Bei der Ergebnisfindung ist noch ein weiterer Aspekt entscheidend: Das ausschließliche Abstellen auf den äußeren Vorgang "Ausschalten der Apparatur" müßte zu einem von Zuflillen abhängigen Ergebnis führen. Die ontologische Zufalligkeit zeigt deutlich folgender, von Geilen 542 herangezogene Vergleich, der oben bereits Erwähnung fand 543 : In Fällen etwa der manuell bewirkten Reanimation hätte bei einem Abbrechen der Behandlung schon aus ontologischen Gesichtspunkten heraus niemand Zweifel daran, daß es sich hierbei um ein Unterlassen handelt. Auch unter Berücksichtigung des Merkmals "Erwartung der Rechtsordnung" ergibt sich nichts anderes, da die Rechtsordnung angesichts der von der Behandlung ausgehenden Lebenssicherung eine Fortführung der Wiederbelebung erwartet. Die unterschiedliche Fonn einer sich identisch auswirkenden Behandlung, die das eine Mal wegen eines nicht zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmittels manuell bewirkt werden muß und das andere Mal unter Zuhilfenahme eines technischen Gerätes ennöglicht wird, darf das Ergebnis nicht beeinflussen. Insofern ist Geilen Recht zu geben. Daher kann dem Täter auch bei Abbruch einer mit technischen Hilfsmitteln betriebenen Behandlung nur ein Unterlassen vorgehalten werden. Im Ergebnis ist damit ausdrücklich denjenigen Auffassungen zuzustimmen, die in Fällen des Abbruchs eines Reani542 Geilen, 1968, S. 126 dort Fn. 25; ders., 1968 a, S. 151.

543 Siehe oben 2. Teil G.

m. 2.

G. Abbruch einer technisch unterstützten Behandlung durch den Arzt

177

mators durch den behandelnden Arzt trotz des für den Abschaltvorgang notwendigen Tuns ein Unterlassen annehmen. 3. Keine Beriicksichtigung von Zielsetzung und Vertretbarkeit der Handlung Der hier vorgeschlagene Lösungsweg orientiert sich ganz bewußt nicht an der Intention des Arztes, die er mit dem Behandlungsabbruch verfolgt. So findet bei der Entscheidung für ein Tun oder Unterlassen innerhalb der sog. "Zwei-Stufen-Pliifung" keine Beachtung, ob der Arzt etwa aus ethisch hochstehenden Motiven heraus oder aber aus purer Bosheit und Habgier die intensivrnedizinischen Geräte abstellt. Damit wird ausdrücklich Engisch widersprochen, nach dessen Auffassung der Intention des Handelnden bei der Bestimmung von Tun und Unterlassen - jedenfalls in den Reanimatorfällen - besondere Bedeutung zukommt544 . Die Ergebnisfindung erfolgt ebenfalls unabhängig von der objektiven Vertretbarkeit der Handlung, ob also infolge infauster Prognose medizinisch richtig oder aber bei noch bestehender Heilungsmöglichkeit des Patienten aus ärztlicher Sicht unverantwortlich gehandelt wird. Freilich mag es auf den ersten Blick durchaus naheliegend sein, Zielsetzung des Handelnden und objektive Vertretbarkeit der Behandlungsbeendigung bei der Bestimmung der Handlungsform zu berücksichtigen, wird doch mit der Festlegung von Tun und Unterlassen bereits über Strafbarkeit oder Straflosigkeit mitentschieden, zumindest aber eine wichtige Weichenstellung gegeben. Und vom Rechtsgefiihl her ist man schnell geneigt, bei Handeln aus purer Bosheit die Weichen hin zur generellen Strafbarkeit zu stellen, während achtenswerte Motive eher fiir eine grundsätzliche Straflosigkeit zu sprechen scheinen. Dennoch lassen sich derartige Gesichtspunkte nicht bereits in die Handlungsformen Tun und Unterlassen integrieren. Ansonsten würde der Handlungsbegriff unnötig mit Problembereichen überfrachtet. Besser geeignet sind zur Behandlung solch komplexer juristischer Fragen die Ebenen der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. So läßt sich im Rahmen des subjektiven Tatbestands oder der Schuld die strafrechtliche Relevanz vorhandener Intentionen des Täters würdigen. Des weiteren kann im objektiven Deliktstatbestand geprüft werden, ob die Entscheidung des Arztes medizinisch vertretbar war, ob also ein Fahrlässigkeitsvorwurf erhoben werden kann oder nicht. 544 Dazu oben 2. Teil G. ill. 4. 12 Schneider

178

2. Teil: Tun und Unterlassen

4. Unterschied zur Tötung durch Überdosis Morphium Zu klären ist noch, worin sich das vorliegende Geschehen, in dem der Arzt den Patienten vom lebenserhaltenden Gerät abstellt, von demjenigen unterscheidet, in dem er eine Überdosis Morphium injiziert, was wohl ohne Zweifel als Tun zu qualifizieren ist. Weshalb ist in dem einen Fall dem Täter ein Unterlassen und in dem anderen ein Tun vorzuhalten, zumal doch das Ergebnis, nämlich der Tod des Patienten, in beiden Konstellationen identisch ist. Es mag sogar sein, daß im letzteren Fall das Sterben fiir den Patienten sanfter empfunden wird, weil die Dosis Morphium gezielt und genau dosiert verabreicht werden kann, so daß bestenfalls der Patient ohne weitere Schmerz- und Angstzustände "einschläft". Maßgebend kann nur die unterschiedliche Art und Weise sein, wie sich die jeweiligen Handlungen auf den Zustand des Rechtsguts auswirken. Während nämlich beim Abstellen des Beatmungsgeräts auf einen bestehenden, für das Rechtsgut sich günstig auswirkenden Geschehensablauf Einfluß genommen wird und das Rechtsgut lediglich in seine ursprüngliche Lage zurückversetzt wird, erfahrt beim Injizieren der Überdosis Morphium das betroffene Rechtsgut eine über seinen ursprünglichen Zustand hinausgehende zusätzliche Verschlechterung. Infolgedessen läßt sich die Argumentation, die beim Abstellen der Behandlung für die Annahme eines Unterlassens maßgebend war, daß nämlich aufgrund der lebensverlängernd wirkenden Behandlung eine grundsätzliche Aufrechterhaltung dieser rechtsgutsbegünstigenden Maßnahme zu fordern ist, auf das Spritzen von Morphium nicht übertragen. Dort stellt sich die Frage der Aufrechterhaltung einer vorhandenen Wirkungsweise schon von vornherein nicht. Denn es liegt gerade keine Einwirkung auf einen bestehenden, vom Täter selbst in Gang gesetzten positiven Geschehensablauf vor. Daher ist allein das Unterlassen der erstmaligen Eröffnung einer ausschließlich negativen, lebenszerstörenden Wirkungsweise zu fordern, die über den bereits bestehenden schlechten körperlichen Zustand hinaus den Eintritt der Todesfolge begünstigt. Nimmt man also den vorliegend "ungesicherten" Ist-Zustand des Rechtsguts als Anhaltspunkt oder "Normalzustand", dann läßt sich im Hinblick auf die Erwartung der Rechtsordnung schlußfolgern: Es ist grundsätzlich geboten, vorhandene positive lebenssichernde Leistungen weiter zu erbringen, aber es ist regelmäßig verboten, ausschließlich und erstmalig sich negativ auswirkende Eingriffe vorzunehmen.

H. Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf durch einen Dritten

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5. Ergebnisüberpl'Üfung

Das Resultat eines Unterlassens bei den Reanimatorfällen hält auch einer abschließenden Ergebnisüberprüfung stand: Wegen der beim behandelnden Arzt grundsätzlich gegebenen Garantenpflicht sind bei Annahme eines Unterlassens keine unvertretbaren Freiräume im Sinne einer Freistellung von strafrechtlicher Verantwortung zu erwarten. Denn nur in Ausnahmefällen wird die bestehende Lebenserhaltungspflicht ausgeschlossen sein. In methodischer Hinsicht sollte die Einordnung der Verhaltensweise allerdings nicht rein ergebnisorientiert, also mit Blick auf eine zu erwartende Strafbarkeit bzw. Straflosigkeit, erfolgen. Nonnative Gesichtspunkte, wie etwa die Wertungsstufe "Erwartung der Rechtsordnung", sind vielmehr zunächst allein auf die Handlungsform auszurichten. Erst danach sollten die Folgen, die mit der Annahme von Tun und Unterlassen einhergehen, problematisiert werden und sollte überdacht werden, ob eine Ergebniskorrektur gerade auf der Handlungsebene stattfinden muß; denn insoweit können durchaus auch andere Deliktsebenen in Betracht zu ziehen und vielleicht sogar - insbesondere aufgrund größerer Unabhängigkeit von tatsächlich Vorgegebenem - weitaus besser geeignet sein. Denn es ist nicht aus den Augen zu verlieren, daß trotz notwendiger kontrollierender Wertung die Abgrenzung von Tun und Unterlassen im Grunde ein Problem auf der Tatsachenebene ist. Freilich ist der Blick auf das Endergebnis bei wertenden Gesichtspunkten nicht ganz zu vermeiden, er sollte aber bei der Einordnung von Tun und Unterlassen nicht dominant sein.

H. Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf durch einen Dritten Nachdem festgestellt wurde, daß der Behandlungsabbruch durch den verantwortlichen Arzt als Unterlassen zu bewerten ist, soll nun geprüft werden, ob das Ergebnis einer Unterlassungshandlung auch für den Behandlungsabbruch durch einen DrittenS4S gelten muß, dessen Verhalten nach außen hin schließlich identisch mit dem des Arztes ist.

S4S Dritter im hier verstandenen Sinne soll - wie bereits anfangs erwähnt - jeder sein, dem die bereits begonnene Behandlung, mithin die rettende Kausalreihe, nicht als eigene zugerechnet werden kann. Zurechnungsprobleme bezüglich der Behandlung 12'

180

2. Teil: TWl Wld Unterlassen

I. Vorüberlegung Das vorliegende Problem des Behandlungsabbruchs durch einen Dritten läßt sich in die allgemeine Kategorie "Eingriff in einen angelegten rettenden Kausalverlauf' einordnen. Hilfreich scheint zu sein, einen Zugang zur Lösungsfindung hieruber zu versuchen und nicht von vornherein auf die Besonderheit des Bereichs der Sterbehilfe sowie der Behandlungsunzuständigkeit abzustellen. Es ist nach wie vor umstritten, ob das rettungshindernde Eingreifen in eine bereits von anderen in Gang gesetzte Rettungsmaßnahme aktives Tun darstellt. Begrtinden läßt sich auch ein Unterlassen, wenn die Tathandlung auf das Unterbleiben der erforderlichen Rettungsmaßnahme bezogen wird. In der Diskussion sind vor allem Fallgestaltungen, in denen der Täter begonnene Rettungsbemühungen anderer verhindert, indem er die Benutzung ihm gehörender Rettungsmittel vereitelt. Als veranschaulichender Beispielsfall dieser aufgeworfenen Problematik mag folgender, in der Literatur viel zitierter, Grundfall s46 dienen: A will dem X, der zu ertrinken droht, mit Hilfe eines Bootes des B erfolgversprechende Hilfe leisten. B, der eine Beschädigung seines Bootes fürchtet, hindert den A, der das Boot bereits bestiegen und in Bewegung gesetzt hat, an der Abfahrt, indem er sein Boot festhält. X ertrinkt. Die Annahme aktiven Tuns des B wird hier bereits durch die phänotypische Kraftentfaltung bei der Hinderung der Rettungsmaßnahme erklärbar. Doch könnte auch an eine Unterlassung im Sinne einer gleichzeitig unterlassenen Rettung des Opfers durch das Nichtüberlassen des Bootes und die damit verbundene, dem Unterlassen eigentümliche Nichthinderung des Erfolges gedacht

treten im Krankenhausbetrieb naturgemäß immer bei Schichtwechseln der Ärzte auf. Derartige Wechsel werden aber regelmäßig nichts an der Verantwortlichkeit eines Arztes auch filr die von einem Kollegen begonnene BehandlWlg ändern, so daß gewöhnlich eine ZurechnWlg zu bejahen ist. Davon geht auch Sax, 1975, S. 138 aus, der meint, daß auf den "diensttuenden fremden Arzt (... ) die PflichtenstellWlg des behandelnden Arztes [... ) zufolge des 'Schichtwechsels' übergegangen" sei. Allgemein hervorzuheben ist allerdings, daß die Eigenschaft des "Dritten" nicht von den Intentionen des Täters, also von subjektiven GesichtspWlkten, abhängen darf, sondern immer nur in der Frage begründet liegt, ob ein filr den Täter "fremder" rettender Kausalverlauf abgebrochen wird. 546 Beispielsfall etwa bei Ranft, 1963, S. 341.

H. Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf durch einen Dritten

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werden. Zweifel an der Richtigkeit der Annahme aktiven Tuns werden besonders dann deutlich, wenn der Fall folgendermaßen abgewandelt wird 547 : ' B hält sein Boot in einem Schuppen verschlossen. A bittet den B um Herausgabe des Schlüssels zum Bootshaus, um dem X mit dem Boot helfen zu können. B verhält sich vollkommen untätig. X ertrinkt. Hier liegt dem Erscheinungsbild nach eindeutig ein Fall des Unterlassens im Sinne der Nichtherausgabe des Schlüssels vor. Problematisch ist nun, ob von der reinen Zufälligkeit548 der Geschehnisse - einmal aktive Hinderung an der Abfahrt mit dem Boot und einmal Nichtherausgabe des Schlüssels zum Bootshaus - die folgenschwere Einordnung der Verhaltensformen in ein Tun und Unterlassen abhängen darf. Allerdings wird später noch genau zu klären sein549 , ob überhaupt, so wie es vielleicht den Anschein haben mag, "Zufalligkeiten" vorliegen, oder nicht doch der entscheidende sachliche Unterschied darin begründet liegt, daß der B einmal aktiv von außen in die Handlung eingreift, dem Geschehen damit bezogen auf den Zeitpunkt der letzten unternommenen Rettungshandlung eine andere Richtung gibt, und das andere Mal den Dingen bloß ihren Lauf läßt. Schließlich liegt in dem GrundfalI bereits der Beginn einer erfolgversprechenden Hilfsmaßnahme vor, die dann von B unter Einsatz besonderer "Energie" vereitelt wird, was dem Handlungsablauf ein anderes Gepräge gibt, während bei der Abwandlung das Opfer noch in der gleichen Lage ist, als wäre es von A und B überhaupt nicht bemerkt worden. Anders ausgedrückt: Das eine Mal liegt die Umgestaltung 550 einer bereits in Gang gesetzten rettenden Kausalreihe vor, das andere Mal gerade nicht. Das könnten zentrale Gesichtspunkte sein, weshalb die Rechtsordnung in beiden Fallkonstellationen unterschiedliche Handlungsformen erwartet.

547 Vgl. hinsichtlich dieser Zweifel und der Abwandlung des Grundfalls Ranft, 1963, S. 342. Ganz in diesem Sinne auch Baumann, 1977, § 18 n I. 548 Derart Ranft, .1963, S. 342. 549 Siehe dazu unten 2. Teil H. n. 3. 550 Etwa auch Kühl, 1994, § 18 II Rn. 20 spricht in diesem Zusammenhang von einer Umgestaltung des Kausalgeschehens.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

11. Grundlegendes zum Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf 1. Ansicht der herrschenden Meinung Bereits v.Liszt stellte ausdriicklich klar, daß inuner dann, wenn die Verhinderung eines Erfolges durch einen Dritten unmöglich gemacht werde, positives Tun und kein Unterlassen anzunehmen sei: "Dagegen ist die Hinderung der Hinderung des Erfolges, weil und soweit sie die Vernichtung einer vorhandenen entgegenwirkenden Bedingung enthält, Verursachung des Erfolges durch positives Tun"SSl. Auch die in neuerer Zeit ganz vorherrschende Auffassung sieht - unter Rückgriff auf die bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen als maßgebend angesehenen ontologischen oder normativen Begründungsansätze - in dem aktiven Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf ein positives TunSS2 . Dabei ist von dem Vorhandensein eines rettenden Kausalverlaufs dann auszugehen, "wenn ohne den Eingriff der tatbestandsmäßige Erfolg durch den Rettungsversuch abgewendet worden wäre"SS3.

SSl Vgl. v.Liszt, 1919, S. 126. Zwar nicht unter dem Gesichtspunkt des Vorliegens einer Unterlassung oder eines aktiven Tuns behandelt auch schon v.Buri, 1873, S. 98 den Fall des Eingriffs in einen rettenden Kausalverlauf, bei dem er wegen der Verursachung des Unterbleibens der den Erfolg abwendenden Tätigkeit schließlich zu einer Strafbarkeit gelangen will: "Wer den Gendarmen, der im Begriffe steht, den Erfolg zu verhindern, festhält, muß [ ... ] für den Erfolg bestraft werden. [... ] Denn er hat es dann verursacht, daß der Entschluß und beziehungsweise die demselben entsprechende abwendende Thätigkeit unterblieb". SS2 Für die Annahme positiven Tuns beispielsweise BaumannIWeberlMitsch, 1995, § 15 Rn. 31; BockelmannIVolk, 1987, § 17 G; Ebert, 1976, S. 319,320; Haft, 1996, 7. Teil § 2, S. 172; Jakobs, 1991, 7/22; LKJescheck, 1993, Vor § 13 Rn. 90; Jescheck/Weigend, 1996, § 58 11 2; Annin Kaufmann, 1959, S. 195 ff.; Kienapfel, 1984, S. 477; Kahl, 1994, § 1811 Rn. 20; Kaper, 1979, S. 78 ff.; Kapper, 1990, S. 78,81; Otto, 1996, § 9 I 2 b bb; Roxin, 1969, S. 382, 387 ff.; ders., 1992, § 11 A m Rn. 29; Rudolphi, 1996, S. 1I; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 48; Samson, 1974, S. 596; Sax, 1975, S. 138; Schlachter, 1976, S. 795 dort Fn. 41; Stoffers, 1992, S. 304 ff.; Stratenwerth, 1981, vor § 13 Rn. 976 u. § 8 11 2b Rn. 224; SchönkelSchröder/Stree, 1997, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 159; Wesseis, 1996, § 16 I 2 Rn. 701; Welp, 1968, S. 122 dort Fn. 86; Welzel, 1969, S. 204. Siehe aus der Rspr. etwa BGH, StV 1985, S. 56, 57 (= aktives Tun im Falle der Beeinflussung eines Dritten, daß dieser nicht - wie vorgesehen - einen Notarzt ruft). 5S3 SoBaumannIWeberlMitsch, 1995, § 15 Rn. 31.

H. Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf durch einen Dritten

183

2. Auseinandersetzung mit gegenteiligen Auffassungen Die insbesondere von Ranft für den oben dargestellten Grundfall vertretene gegenteilige Auffassung gelangt wegen der im Vergleich zur Abwandlung angeblich vorliegenden Zufälligkeit der äußeren Umstände trotz der Aktivität zu einem UnterlassenSS4 . Begründet wird das Ergebnis damit, daß schließlich beiden Fällen gemeinsam sei, daß die Benutzung des Rettungsgeräts vom Eigentümer verhindert werde und deshalb der Gefährdete ertrinke. Und in der im Festhalten des Bootes liegenden Aktivität des B könne gegenüber der in der Weigerung der Herausgabe des Bootes zu sehenden Unterlassung kein derart "gesteigerter Unrechtsgehalt" liegen, als daß es gerechtfertigt wäre, aus einer ansonsten (in Fällen fehlender GarantensteIlung) bloß unterlassenen Hilfeleistung einen Totschlag zu machen. Denn beide Male sei es dem B nur darauf angekommen, den Zugriff in seinen Herrschaftsbereich abzuwehren. Dabei könne das Festhalten nur als Mittel zur Nichtherausgabe des Bootes, und damit als Unterlassen angesehen werden; das positive Tun habe dann neben der Unterlassung keinen eigenen Unrechtsgehalt mehrsss . Eine tragfähige Begründung für diese, lediglich auf die Nichthinderung des Erfolges abstellende Sichtweise, mit der die eindeutig vorgenommene Tätigkeit bloß als Mittel der Unterlassung und gerade nicht als eigenständiges Handeln gewertet wird, bleibt aber aus. Insbesondere der vorgebrachte Gesichtspunkt einer im Endeffekt unterlassenen Rettung vermag nicht zu überzeugen. Denn dieser würde auch in dem Fall greifen, in dem der Täter das vor seinen Augen zu ertrinken drohende Opfer durch einen gezielten Schuß tötet, was ohne Zweifel ein Tun wäre. Ohnehin ließe sich derart jeder durch positives Tun verursachte Erfolg gleichzeitig als dessen Nichtabwendung in Form des Unterlassens auffassen. Speziell Baumann wollte in seinem Lehrbuch bis zur 8. Auflage selbst in solchen Fallkonstellationen zu einem Unterlassen gelangen, in denen der Täter nicht nur den Zugriff auf eigene Rettungsmittel verhindert, sondern Hilfe auch bezüglich für ihn fremder Rettungsmiuel vereitelt SS6 , - so etwa in dem von ihm aufgeführten Beispielsfall, "daß ein Dritter das vom Hilfswilligen auf

SS4 Vgl. Ranft, 1963, S. 342. Im Ergebnis ebenso Baumann, 1977, § 18 II I; ohne nähere Begründung Meyer-Bahlburg, 1968, S. 51. SSS Vgl. zu dieser Argumentation im Ganzen Ranft, 1963, S. 342, 343. SS6 SO noch Baumann, 1977, § 18 II I bis zur 8. Aufl.; anders Baumann/Weber, 1985, § 18 II I und Baumann/WeberJA,fitsch, 1995, § 15 Rn. 31.

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2. Teil: TlUllUld Unterlassen

den Ertrinkenden zugesteuerte Floß anbohrt oder anschießt und auf diese Weise zum Sinken bringt"557. Auch Gössel558 gelangt bei dieser Fallkonstellation mittels der Rechtsfigur "Unterlassen durch Begehen" zu einem Unterlassungsdelikt, obwohl er bei der Unterscheidung von Tun und Unterlassen auf das Merkmal der körperlichen Aktivität bzw. Inaktivität abstellt. Derart müßte er eigentlich ein Begehungsdelikt angesichts des auf Tätigkeit beruhenden Abbruchs einer bereits in Gang gesetzten fremden Kausalreihe bejahen. Weshalb hier dennoch ein Unterlassungsdelikt (durch Begehen) und kein der Verbotsnorm zu unterstellendes Begehungsdelikt vorliegen soll, wird nicht hinreichend deutlich 559 . Baumann begründete seinen Standpunkt damit, daß der Täter nicht anders behandelt werden könne, als wenn er die Rettung selbst unterlassen hätte. Schließlich soll sich der Vorwurf nicht gegen das im Eingreifen in den rettenden Kausalverlauf liegende positive Tun, sondern nur gegen die Unterlassung der Rettungshandlung richten können S60 . Allerdings werden von ihm die Kriterien, die rur die Bewertung des Verhaltens gerade in diese Richtung, also als Unterlassen, bedeutsam sind, nicht dargestellt561 . Der Hinweis, daß es sich eben um ein Wertungsproblem handle und es insoweit auf das "Gesamtbild der Tat" ankomme, ob der Täter eine Gebotsnorm oder eine Verbotsnorm verletze 562 , hilft in diesem Zusammenhang wegen der fehlenden Fassbarkeit des

Baumann, 1977, § 18 II l. Vgl. GiJssel, 1984, S. 328, 329, 333, 334. 559 Angesichts der von GiJssel, 1984, S. 321 ff. zuvor gemachten Ausfl1hrungen bezüglich der den Straftatbeständen zugrundeliegenden "Nonnen" wäre naheliegend ein Eingehen darauf gewesen, weshalb die Annahme eines BegehlUlgsdelikts lUld damit der Verstoß gegen eine Verbotsnonn im Sinne einer außerhalb des Strafgesetzes liegenden Rechtsregel nicht in Betracht kommt. 560 Derart Baumann, 1977, § 18 II I. 561 Insbesondere das bereits erwälutte Kriterium der Zufiilligkeit des äußeren Verhaltens (einmal Festhalten des Bootes lUld ein anderes Mal bloß Nichtherausgabe der Schlüssel [vgl. oben den Grundfall lUld die AbwandllUlg)) vermag keine BegJilndlUlg gerade ftlr eine Annahme des Unterlassens abzugeben. Denn genau umgekehrt ließe sich damit auch das Ergebnis eines aktiven TlUls sogar ftlr den Fall bloßer Untätigkeit bei Nichtherausgabe der Schlüssel zum Bootshaus herleiten, da ja die EinordnlUlg der Verhaltensweisen nach der genannten AuffasSlUlg auf eine Wertungsfrage hinausläuft, mithin das ErscheinlUlgsbild des Verhaltens nicht entscheidend sein kann. Notwendig ist es daher, Kriterien ftlr die BewertlUlg anzugeben, die dann letztlich dazu beitragen, zufiillige Ergebnisse zu vermeiden. 562 Baumann, 1977, § 18 II I, dort Fn.29. 557 S58

H. Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf durch einen Dritten

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Begriffs "Gesamtbild der Tat" nicht weiter. Konkrete, für eine Lösung hilfreiche Anhaltspunkte lassen sich daraus jedenfalls nicht gewinnen. Ohne Rückgriff auf wertende Dimensionen, sondern unter Verwendung des (grundsätzlich mit Energiegesichtspunkten verbundenen) Kausalitätskriteriums, gelangt auch See/mann in Fällen der Unterbrechung rettender Kausalverläufe zu einem Unterlassen563 : Denn das Wegnehmen eines zur Rettung des Ertrinkenden genutzten Bootes sei nicht "causa efficiens" tUr den Todeserfolg, da noch die rettende Handlung eines anderen zur Vermeidung des Verletzungserfolgs hinzugedacht werden müsse. Diese tUr Unterlassungsdelikte typischen Fälle ausreichender hypothetischer Kausalität sollen nach See/mann gerade nicht die Anforderungen an die bei Handlungsdelikten zu stellende Kausalität im Sinne einer "conditio sine qua non" erfiillen564 . Da aber ohnehin die Verwendung von Aspekten der Kausalität zur Bestimmung der Handlungsform problematisch erscheint565 , vermag der von See/mann vorgebrachte Einwand gegen die Annahme aktiven Tuns schon aus diesem Grund nicht zu überzeugen. Und selbst von Vertretern des Kausalitätskriteriums, die beim Unterlassen das Vorhandensein echter Kausalität - aufgrund der Notwendigkeit des Hinzudenkens eines hypothetischen Geschehensablaufs zur Feststellung der Folgen des Unterlassens - ablehnen, wird die Annahme eines Unterlassens ganz überwiegend nicht tUr tragfähig angesehen und angesichts auch hier zu bejahender Kausalität positives Tun angenommen 566 . Schließlich soll sich der Kausalitätsnachweis auch beim Abbruch einer rettenden Kausalreihe bereits durch die richtige Fragestellung, nämlich "was [... ] ohne das fragliche Verhalten geschehen (wäre)", und einer anschließenden Berücksichtigung von bereitstehenden Ersatzfaktoren erbringen las-

563 Vgl. Seelmann, 1987, L 34; NK-Seelmann, 1995,1.2 § 13

Rn. 25. Rn. 25.

564 Derart Seelmann, 1987, L 34; NK-Seelmann, 1995,1.2 § 13 565 Siehe dazu

im einzelnen oben 2. Teil E. IV.

566 Vgl. von den Vertretern des Kausalitätskriteriums Jakobs, 1972, S. 21; ders.,

1991, 7/22; LK.Jescheck, 1993, Vor § 13 Rn. 90; JescheckIWeigend, 1996, § 58 n 2; Armin Kaufmann, 1959, S. 195 ff.; KOpper, 1990, S. 78,81; Otto, 1996, § 9 I 2 b bb; SK-Rudolphi, 1995, Vor § 1 Rn. 43; Samson, 1974, S. 596; Stoffers, 1992, S. 302, 303; Welzel, 1969, S. 204. Diejenigen, die auch beim Unterlassen trotz eines hypothetischen Denkverfahrens von echter Kausalität ausgehen, geraten im Falle des Abbruchs rettender Kausalverläufe freilich nicht in derartige Begrtlndungsschwierigkeiten, vgl. insoweit zum Kausalitätsnachweis ausfilhrlich etwa Wolff, 1965, S. 29, 30.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

sen567 . Etwa Jakobs hebt in nachvollziehbarer Weise hervor, daß alle gegebenen Erfolgsbedingungen im Falle eines vorhandenen rettenden Verlaufs erst unter der weiteren Voraussetzung hinreichen könnten, daß der den Erfolg abwendende Verlauf aufgehalten werde, und demzufolge das Aufhalten als reale Bedingung der Nichtrettung und damit des Erfolges zu verstehen sei 568 . Zur Verdeutlichung dieses Kausalzusammenhangs bedient sich Jakobs folgenden instruktiven Beispiels: "Der Bedingungszusammenhang zwischen dem Lösen einer auf schiefer Ebene befestigten Kugel und deren Bewegung ist nicht weniger real als derjenige zwischen dem Anstoßen einer Kugel auf gerader Ebene und wiederum deren Bewegung"569. Ebensowenig kann die in diesem Zusammenhang vertretene Auffassung 570 eines in mittelbarer Täterschaft gegebenen unechten Unterlassungsdelikts Befürwortung finden, das durch den die Rettung Vereitelnden in Gestalt einer Benutzung des Rettungswilligen als Werkzeug begangen werden soll. Schließlich ist diese Konstruktion bereits deshalb überflüssig, weil der den Rettungsversuch Abbrechende aufgrund seines unmittelbaren Eingriffs in den Kausalverlauf das Delikt in eigener Person und damit "selbst" im Sinne des § 25 I 1. Alt., also in unmittelbarer Täterschaft, verwirklicht; ganz unabhängig von der Frage, ob diese Begehungsweise als positives Tun oder Unterlassen einzustufen ist. Zuzustimmen ist mithin der ganz h.L., die bei einem aktiven Eingreifen des Täters in einen rettenden Kausalverlauf immer aktives Tun annimmt, und zwar unabhängig davon, ob die Rettungshandlung ihm gehörende Rettungsmittel betrifft oder nicht. Schließlich kommt bereits in der vorgenommenen Aktivität ein gegenüber dem Unterlassen gesteigerter Unrechtsgehalt zum Ausdruck, der sich auch in der Annahme einer Begehungstat widerspiegeln sollte 571 . Zutreffend stellt etwa Arzt fest, daß "mehr verbrecherische Energie dazu (gehört), aktiv auf einen verbotenen Erfolg hinzuwirken, als einer von

567 Vgl. StojJers, 1992, S. 303. Hier soll das "Hinzudenken" bestimmter hypothetischer Ereignisse das Vorhandensein echter Kausalität - im Gegensatz zum Unterlassen (vgl. StojJers, a.a.O., S. 107 tf.) - nicht hindern. 568 Derart Jakobs, 1991, 7122; vgl. zudem Jakobs, 1972, S. 21 dort insb. auch Fn. II u. S. 22. 569 Jakobs, 1991,7/22 oder ders., 1972, S. 22. 570 I.d.S. beispielsweise Sauer, 1940, S. 319,320; Zimmermann, 1952, S. 1322. 571 So wohl auch Roxin, 1969, S. 388,389.

H. Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf durch einen Dritten

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anderen Menschen oder von der Natur ausgehenden Bedrohung ihren Lauf zu lassen"572.

J. "Zwei-Sturen-Prüfung" Auch eine Untersuchung der Konstellation "Abbruch rettender Kausalverläufe" mittels der vorgeschlagenen "Zwei-Stufen-Prüfung" ergibt kein anderes Bild: Denn danach stellt sich das Geschehen bei einer zunächst auf das äußere Erscheinungsbild abstellenden Prüfung eindeutig als aktives Tun dar, weil mit dem Eingreifen in den Handlungsablauf die Vornahme von Körperbewegung verbunden ist. Dieses Tun ist zudem das am engsten mit dem Erfolgseintritt zusammenhängende körperliche Verhalten und schon deswegen dominant. Weiterhin gebietet der wertende Gesichtspunkt "Erwartung der Rechtsordnung" keine Korrektur des auf "erster Stufe" erzielten Tuns. Notwendig wäre eine solche insbesondere dann, wenn das Ergebnis von Zufälligkeiten573 abhängig wäre. Ob aber eine eingeleitete Rettungsmaßnahme vereitelt wird oder erforderliche Unterstützung bei geplanter Hilfe unterbleibt, ist etwas inhaltlich Verschiedenes. Die Einordnung des Verhaltens in die Kategorien Tun und Unterlassen wird somit nicht bloß von der Zufälligkeit des Geschehensablaufs bedingt. Es besteht also ein sachlicher Unterschied, ob jemand - wie im geschilderten Grundfall s74 - in einen erfolgversprechenden Hilfeversuch eines Dritten "aktiv" eingreift oder diesen - wie in der Fallabwandlung57S - infolge "Untätigkeit" gar nicht erst entstehen läßt. Denn der "Ist-Zustand" des in den geschilderten Fällen betroffenen Rechtsguts Leben ist verschieden, je nachdem ob erfolgstaugliche Hilfe im Ansatz bereits gegeben ist oder noch nicht 576 .

572 Vgl. Arzt, 1980, S. 556. 573 Diese wurden bereits oben im Vergleich von Grundfall und Abwandlung angesprochen; siehe 2. Teil H. I. 574 Siehe oben 2. Teil H. I. 575 Siehe oben 2. Teil H. I. 576 Wie bereits gezeigt wurde, gilt gleiches Argumentationsmuster ftlr den Behandlungsabbruch durch den behandelnden Arzt. Da dort ftlr die Einordnung der Verhaltensweise entscheidend war, daß dem betroffenen Rechtsgut Leben die einmal erteilte, gefahrabwendende lebenssichernde Leistung weiterhin zukommen muß, wurde im Ergebnis beim behandelnden Arzt ein Unterlassen der weiteren Behandlung angenommen.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

Und infolgedessen sind die Auswirkungen der Handlungen auf das Rechtsgut einmal in Fonn von Rettung vernichtender Tätigkeit und einmal in Fonn von Rettung erst gar nicht ennöglichender Untätigkeit unterschiedlich. Dies ist entscheidend bei der Wertungsfrage "Erwartung der Rechtsordnung", ob also die Rechtsordnung in dem einen Fall das Unterlassen hilfevernichtender Tätigkeit und in dem anderen Fall das Erbringen rechtsgutsverbessernder Leistung erwartet. Was sind aber im einzelnen die Gründe dafiir, daß sich aktives Eingreifen in einen rettenden Kausalverlauf anders auf den "Ist-Zustand" des betroffenen Rechtsguts Leben auswirkt als schlichte Untätigkeit? Schließlich ist das Resultat, der Eintritt der Rechtsgutsverletzung, in beiden Fällen identisch. Gerade das Vereiteln von anderen erbrachter Hilfe gestaltet das Geschehnis in grundlegender Weise um und gibt dem Ganzen ein anderes neues Gepräge, nämlich: ein Rtlckversetzen aus der Lage bereits erfolgversprechender Hilfe in den Zustand ursprtlnglicher Aussichtslosigkeit. Es wird also der für die Wertung "Erwartung der Rechtsordnung" maßgebende Ist-Zustand des betroffenen Rechtsguts negativ verändert. Aktives Eingreifen in ein Geschehen, das eine erfolgversprechende Rettungsmaßnahme ansatzweise darstellt, ist demzufolge für den Erfolgseintriu einfärdernder Beitrag. Dieser geht über das bloße Nichtvorhandensein einer Erfolgsabwendung hinaus. Denn die Lage des Opfers wird - gegenüber dem Nichthelfen - nicht nur nicht verbessert, sondern angesichts bereits vorliegender Hilfe insoweit wieder verschlechtert. Deutlich wird dies auch daran, daß ab dem Zeitpunkt einer erfolgstauglichen Rettungshandlung allein das Untätigsein gar nicht mehr ausreichen würde, um die Rechtsgutsverletzung eintreten zu lassen, sondern ein die Rettung vernichtendes Tätigwerden notwendig ist. Ganz anders ist die Situation, wenn dem Rettungswilligen notwendige Unterstützung versagt wird. Mit dem Untätigbleiben wird den Dingen lediglich ihr Lauf gelassen 577 . Übertragen auf den Fall des Eingreifens in Rettungsbemühungen Dritter bedeutet das, daß die Rechtsordnung erwartet, daß derartige ärztliche Hilfe - da sie eine ansatzweise lebenssichernde und damit den Ist-Zustand des Rechtsguts bewahrende Leistung darstellt - nicht aktiv vereitelt wird. Und in eine abstrakte Form gebracht, heißt das: Beim bereits Helfenden besteht grundsätzlich das Gebot, weitere Hilfe zu leisten, während beim Dritten das Verbot existiert, die Auswirkungen dieser gebotsmäßigen Handlung zu vernichten. 577 Daraus ergibt sich auch, daß eine FlJrdenmg des Geschehens mehr als nur die auch dem Unterlassen zuzuschreibende Kausalität bedeuten kann.

H. Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf durch einen Dritten

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Das Unternehmen eines den Erfolgseintritt ftJrdernden Beitrags muß einer Verbotsnonn im Sinne einer anbefohlenen Untersagung (im Gegensatz zur Anordnung) eines Tuns578 unterstehen 579 . Jedenfalls ließe sich bei Annahme eines Unterlassens der Unrechtsgehalt einer derartigen Erfolgsförderung mit Hilfe eines den Nichtgaranten (bloß) treffenden Gebots, Hilfe zu leisten (§ 323 c StGB), nicht abdecken. Vielmehr ist es in Fallkonstellationen wie diesen notwendig, solche das Opfer aktiv schtidigenden Handlungen grundsätzlich zu verbieten. Das entbindet freilich nicht von der unabhängig davon bestehenden Verpflichtung, in Notsituationen Hilfe zu leisten. Es kann somit festgehalten werden, daß aus den oben genannten Gründen in Fällen der Vereitelung fremder Rettungsbemühungen ein Tun gegeben ist. Einer Bewertung nach Unterlassungsgesichtspunkten kann nicht zugestimmt werden, auch nicht unter Zuhilfenahme der hiernach überflüssigen Konstruktion einer in mittelbarer Täterschaft begangenen Unterlassung580 . Dieses Ergebnis läßt sich durch folgenden Vergleichsfall, bei dem wohl eindeutig von aktivem Tun auszugehen ist, bestätigen: nicht ein Dritter stößt einen rettenden Kausalverlauf an, sondern ohne fremde Hilfe bahnt sich aufgrund etwa von Naturereignissen eine dem Opfer günstigere Situation an, die anschließend vom Täter durch eine Handlung zunichte gemacht wird. Zu denken ist daran, daß ein im Wasser treibendes Holz den zu ertrinken Drohenden durch günstige Strömung fast erreicht hat, dann aber vom Täter weggenom.men oder in eine andere Richtung gestoßen wird. Hier kann zur Begründung einer Unterlassungstat nicht mehr angeführt werden, daß bloß erforderliche Hilfe unterlassen wird. Denn das Opfer war auf fremde Hilfe überhaupt nicht mehr angewiesen.

578 Hier soU entgegen etwa BaumannIWeber, 1985, § 16 II 4 und Wesseis, 1996, § 16 I 1 Rn. 697 davon ausgegangen werden, daß auch bei den unechten Unterlassungsdelikten gegen ein Gebot und nicht gegen ein Verbot verstoßen wird. Vgl. allgemein zur Unterscheidung und zwn Wesen von Verbots- und GebotsnormenJescheckIWeigend, 1996, § 58 II I (m.w.N.), wonach aUe UnterlassungsdeJikte, ob echte oder unechte, als Zuwiderhandlungen gegen Gebotsnormen aufgefaßt werden; so beispielsweise auch BerteJ, 1965, S. 54; Welzel, 1969, S. 211. 579 Vgl. auch SK-Rudolphi, 1995, Vor § 13 Rn. 48. 580 Siehe zur Argumentation, daß der Handlungswillige als Werkzeug des in den Kausalverlauf eingreifenden Dritten anzusehen sei, Zimmermann, 1952, S. 1322 sowie zur dazu allgemein ablehnenden Meinung, etwa SchönkeJSchröder/Cramer, 1997, § 25 Rn. 56; Ranft, 1963, S. 343; Stoffers, 1992, S. 304, 305.

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2. Teil: TWl Wld Unterlassen

Auch die von Ranft rur die Annahme eines Unterlassens eingebrachte Überlegung, daß in Fällen, in denen der Täter den Einsatz ihm gehörender Rettungsmittel vereitelt, er nur einen Zugriff auf seinen "eigenen Herrschaftsbereich" abwehren wolle, vermag nicht zu überzeugen. Gerade aufgrund der aus § 904 BGB herzuleitenden Pflicht, in Notfällen der geschilderten Art die Benutzung der Rettungsmittel dulden zu müssen, kann von der Abwehr allein des eigenen Herrschaftsbereichs nicht mehr die Rede sein581 . Denn gesetzlich ist dessen Einschränkung bereits angeordnet. Des weiteren sollte die gewöhnlich kaum nachweisbare Intention des Täters, vornehmlich den eigenen Herrschaftsbereich sichern zu wollen, keinen maßgebenden Ausschlag geben bei der Entscheidung rur eine Strafbarkeit (bloß) nach § 323 c StGB (in Fällen fehlender GarantensteIlung) oder aber etwa nach § 212 StGB582.

III. Konsequenzen für den Behandlungsabbruch durch einen Dritten Da das Abbrechen medizinischer Behandlung durch einen Dritten ein Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf ist, muß nach den vorausgegangenen Erläuterungen dieser Behandlungsabbruch als aktives Tun qualifiziert werden 583 . Vom Dritten erwartet somit die Rechtsordnung (in Bezug auf die

581 In die gleiche RichtWlg geht auch die Argumentation von Roxin, 1969, S. 389; ebenso Stoffers, 1992, S. 308, 309. 582 Zutreffend weist Roxin, 1969, S. 389 dort Fn. 35 darauf hin, daß das Gesetz absichtliche Wld mit dolus eventualis begangene TötWlgen ohnehin gleich behandelt, Wld von daher schon kein Anlaß bestehe, die. eine Fallgruppe mit subjektiven ErwägWlgen aus dem Tatbestand des Totschlags auszunehmen. Ohnehin ist fraglich, inwieweit sich ein direkter Tötungsvorsatz im Falle vorliegender Intention, das eigene RettWlgsgerät fremder BenutzWlg entziehen zu wollen, ablehnen läßt. Denn es kann wohl als gesichert gelten, daß Wlerwünschte, aber notwendigerweise zu überbrückende Zwischenziele von der auf ein Endziel gerichteten Absicht mitumfaßt werden. 583 Soweit überhaupt ausdrücklich auf die Problematik der Handlungsform im Falle des das Beatmungsgerät abstellenden Dritten eingegangen wird, nehmen im Ergebnis ebenso aktives TWl an: Baumann/Weber, 1985, § 18 11 I; v.Dellingshausen, 1981, S. 470, 471; Haft, 1996, S. 172 (der ausdrücklich allerdings nur den "böswilligen" Dritten anspricht, jedoch den aus ehrenhaften Motiven heraus handelnden Dritten nicht anders wird beurteilen können); ferner Kienapfel, 1984, S. 477; Leonardy, 1986, S. 284; Schmidhauser, 1975, 16/107 (nach dessen AuffasSWlg "Dritter" jede Person ist, die hinsichtlich der eingeleiteten Behandlung nicht die "Verant-

H. Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf durch einen Dritten

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Handlungsfonn), daß die vom Arzt erbrachte, lebenssichemde Leistung nicht vereitelt wird. Allerdings soll nach Roxin vorliegend ein Unterlassen durch Tun anzunehmen sein 584, mithin das aktive Verhalten des Dritten den Unterlassungsdelikten zugeordnet werden. Dieses Resultat überrascht, weil Roxin zuvor in einer ausführlichen Darstellung der Rechtsfigur "Unterlassen durch Tun" den Eingriff in Rettungsbemühungen Dritter - angesichts des Abbruchs einer die Erfolgsabwendung verbürgenden Kausalreihe - dem strafbaren Begehungsdelikt zugeschrieben hat585 . Im weiteren war Roxin vormals noch der Ansicht, daß das Abschalten eines medizinischen Geräts ausnahmsweise nur dann straflos sein könne, wenn der Dritte "auf Geheiß des dazu berechtigten Arztes die Maschine abstellt", weil es sich dann um den Fall einer - wegen fehlender Haupttat - straflosen "Beihilfe zum Rücktritt vom Erfolgsabwendungsversuch des nicht Handlungspflichtigen" handle 586 . Ganz anders ist seine aktuelle Beurteilung: Aufgrund des Wunsches des Patienten soll ein strafloses Unterlassen (durch Tun) anzunehmen sein. Es fehlt jedoch eine überzeugende Begründung für die Abkehr von den bis dahin vertretenen Grundpositionen 587 . Die von ihm angeführten Argumente, die sich in der zentralen Aussage: Achtung des Willens des Patienten, nicht weiter behandelt zu werden, bündeln lassen, vennögen hinsichtlich der hier zunächst allein interessierenden Frage der Zuordnung der Handlungsfonn zu den Unwortung" trägt, also etwa auch ein Sanitäter oder ein Arzt einer anderen Station); ders., 1984, 12/54; des weiteren Wesseis, 1996, § 16 I 2 Rn. 704. Freilich müssen konsequenterweise auch all diejenigen hier zu einem aktiven Tun gelangen, die entgegen der ganz überwiegenden Meinung bereits beim Arzt auf den AbschaItvorgang als solches und damit auf das aktive Tun verweisen: Infolgedessen so etwa ausdrücklich Dtto, 1996, § 9 I 2 b aa; Stoffers, 1992, S. 458, 459; ders., 1992 b, S. 626, die das Abstellen des Gerätes durch den Arzt unter Hinweis auf Energieeinsatz i. V.m. Kausalitätsgesichtspunkten und Risikoerhöhung (so Dtto) oder allein unter Anwendung des Kausalitätsgesichtspunkts (so Stoffers) als aktives Tun bewerten. Gerade Dtto (1996, § 9 I 2 b aal hält aber im Grunde die Frage des aktiven Tuns oder Unterlassens - ergebnisorientiert - für überflüssig, da schließlich unabhängig von der Verhaltensform nur bedeutsam sein könne, daß dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten Geltung verschaffi werde. 584 Vgl. Roxin, 1987, S. 350. 585 So auch schon Roxin, 1969, S. 380 ff., insbesondere aber S. 382, 387 ff. und S. 399 in seiner ausfilhrlichen Darstellung der Rechtsfigur "Unterlassen durch Tun". 586 Roxin, 1969, S. 399. 587

Roxin, 1987, S. 350.

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2. Teil: Tun und Unterlassen

terlassungsdelikten oder Begehungsdelikten nicht zu überzeugen. Vielmehr mag die Notwendigkeit ausreichender Achtung des Selbstbestimmungsrechts später von Relevanz sein, und zwar bezüglich der Strafbarkeit des in Betracht kommenden Begehungsdelikts. Ohne nähere dogmatische Begründung, und ohne einen eindeutigen Standpunkt zu beziehen, meldet an dem Ergebnis der Annahme aktiven Tuns auch Kühl Zweifel an: Tötung durch aktives Verhalten soll nach seiner Auffassung dann nicht zwingend sein müssen, wenn der Dritte auf Verlangen des Patienten handelt588 . Wie bereits dargestellt wurde, kann das Verlangen des Patienten bei der Einordnung des Verhaltens in die Kategorien Tun und Unterlassen keine Begründung liefern. Der Wille eines Dritten ist nicht spezifischer Bestandteil von tatsächlich vorgegebenem Tun und Unterlassen, er läßt sich somit nicht als Kennzeichen für eine Handlungsfonn heranziehen. Von Relevanz ist in diesem Kontext auch die jüngste Entscheidung des BGH zum Behandlungsabbruch durch einen Arzt im Zusammenwirken mit einem Dritten589 . Hier gelangt der BGH zu dem Ergebnis, daß trotz vorgenommener Aktivität in Fonn einer schriftlich erteilten Anweisung an das Pflegepersonal der Unwert des Verhaltens nur in dem Unterlassen weiterer Behandlung gesehen werden könne 590 . Dabei bezieht der 1. Strafsenat diese Lösung nicht nur - insoweit noch in Übereinstimmung mit der h.L. - auf den behandelnden Arzt, sondern auch auf den Dritten, der in dem betreffenden Fall als Betreuer gemäß §§ 1896 ff. BGB mit dem Wirkungskreis "Zuführung zu ärztlicher Behandlung" für die Patientin bestellt war, und der seine vermeintlich rechtswirksame Einwilligung591 zum Behandlungsabbruch erteilte.

588 Vgl. Kahl, 1994, § 1811 Rn. 18. 589 Vgl. BGHSt. 40, 257 ff. 590 BGHSt. 40, 257 ff., 265, 266.

Jedenfalls mit dem Ergebnis einer Unterlassung der gebotenen künstlichen Ernährung stimmen etwa Schoch, 1995, S. 154; Vogel, 1995, S. 338, 339 überein, auch wenn gerade Vogel den seiner Ansicht nach von der sog. "Schwerpunktfonnel" herrührenden Begründungsansatz des BGH ftIr "theoretisch fragwürdig" hält. Kritische Anmerkungen zu der vom BGH angewendeten SchwerpunktfonneI fmden sich auch bei Rönnau, 1996, S. 111. 591 Siehe zur Problematik der fehlenden Rechtswirksamkeit der Einwilligung des Betreuers in den Behandlungsabbruch ohne Genehmigung des Vonnundschaftsgerichts nach § 1904 BGB trotz des den Behandlungsabbruch eigentlich nicht erfassenden Wortlauts des § 1904 BGB nur PalandtlDiederichsen, 1995, § 1904 Rn. I und mit dem überzeugenden argwnentwn a fortiori Schöch, 1995, S. 156 m.w.N.

H. Eingriff in einen rettenden Kausalverlauf durch einen Dritten

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Ebenso wie für den Arzt wird auch beim Dritten "der eigentliche Unwert" des Verhaltens als Argument für die Entscheidung eines Unterlassens als "das strafrechtlich relevante Geschehen" angefiihrt.592. Ein ausführliches Eingehen darauf, was unter dem vagen Begriff "Unwert" zu verstehen ist, der dann sogar noch mit dem unklaren Merkmal "eigentlich" belegt wird, erfolgt nicht. Warum gerade der "eigentliche Unwert" in dem Unterlassen weiterer Behandlung und nicht in der schriftlichen Anordnung an das Pflegepersonal oder in der geplanten Verabreichung von Tee anstelle der erforderlichen Sondernahrung zu sehen sein soll, wird nicht überzeugend begründet. Mit Hilfe dieser vom BGH vorgenommenen, rein wertenden Zuordnung des Verhaltens des Dritten zu den Unterlassungsdelikten erscheint fraglich und bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf zukünftige Fälle haben wird. Denn auch in Konstellationen, in denen ein Dritter aktiv ein lebensnotwendiges Gerät abstellt, läßt sich mit den Begriffen "eigentlicher Unwert" das Ergebnis eines Unterlassens angesichts damit einhergehender Unterlassung weiterer Behandlung (scheinbar) begründen. Jedenfalls kann derart jedes gerade gewünschte Ergebnis erzielt werden.

IV. Fazit Man kommt nicht umhin, das Verhalten des ein Beatmungsgerät abstellenden Dritten als Eingriff in einen bereits eingeleiteten fremden rettenden Kausalverlauf und somit als aktives Tun zu bewerten, auch wenn rein äußerlich kein Unterschied zu dem als Unterlassen einzustufenden Abschaltvorgang durch den Arzt gegeben ist. Diese differenzierende Betrachtung ist Konsequenz einer nicht ausschließlich an ontologischen Gesichtspunkten ausgerichteten Fallprüfung, sondern einer wertenden Korrektur der zunächst ontologisch vorbestimmten Einordnung der Verhaltensweise. Zu beachten ist, daß mit diesem ausschließlich bloß die Handlungsform betreffenden Befund noch keine endgültige Entscheidung über die Strafbarkeit oder Straflosigkeit des die Behandlung abbrechenden Dritten getroffen wurde. Denn wie im Folgenden zu zeigen sein wird, läßt sich auch bei der Annahme aktiven Tuns eine Straflosigkeit des Behandlungsabbruchs durch den Dritten begründen.

592 BGHSt. 40, 257 ff., 266. 13 Schneider

3. Teil Straflosigkeit trotz Tuns bei angemessener Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten A. Vorüberlegung Angesichts der jüngsten deutschen Vergangenheit sind Diskussionen um den Bereich des geschützten Rechtsguts Leben, und dabei insbesondere gerade des "verlöschenden" Lebens, mit besonderen Problemen befrachtet. Dennoch kann die Frage nicht ausgeklammert werden, ob in jedem Fall derjenige wegen eines Tötungsdelikts zu bestrafen ist, der ein Beatmungsgerät abstellt, das unzweifelhaft ein Leben, welches bei natürlichem Ablauf bereits erloschen wäre, nur noch künstlich verlängert hat, und infolgedessen den nicht mehr aufhaltbaren natürlichen Tod eintreten läßt. Nicht tragbar ist ein Lösungsweg, der von vornherein "verlöschendes" Leben abqualifiziert und in bestimmten Fällen nicht mehr strafrechtlichem Lebensschutz unterstellen will. Denn niemand darf sich anmaßen, über Lebensqualität und Lebenswert anderer zu entscheiden, oder darf Menschen ihr Lebensrecht absprechen. Schließlich ist das menschliche Leben nicht in ein "mehr oder weniger schützenswertes Gut" klassifizierbar593 . Ohnehin sollten Diskussionen um den Themenbereich "Vernichtung lebensunwerten Lebens"594, die fälschlich mit dem Oberbegriff "Euthanasie" (was aus dem grie-

593 Vgl. Eser, 1976, S. 394; Leonardy, 1986, S. 288. 594 Siehe stellvertretend zu diesem Themenbereich die befremdlichen AusfiUuungen des Juristen Binding und des Mediziners Hoche, die ausdrücklich weder aus "rechtlichen", noch "sozialen", "sittlichen" oder "religiösen" Erwägungen heraus Bedenken hatten, ihrer Ansicht nach lebensunwertes Leben (= insbesondere "unheilbar Blödsinnige") der "Tötung [... ] freizugeben"; insoweit BindingIHoche, 1920, S. 31 tT. Daß eine derartige Beurteilung des "Lebenswertes" eines Menschen dann in der Folgezeit innerhalb der NS-Ideologie unter Gesichtspunkten wie Volksgesundheit, Rassereinheit, Herrenmenschentum oder Elitezüchtung (vgl. nur Ehrhardt, 1965, S. 24; SimsoniGeerds, 1969, S. 51) auch praktisch vollzogen wurde, ist letztlich Folge solcher Ansichten, die allerdings auch schon im Altertum vertreten wurden (vgl. insoweit die thematische Bearbeitung bei SimsoniGeerds, 1969, S. 49 m.w.N.).

A. Vor1lberlegung

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chischen, d; = gut/glücklich sowie ea.va:tcr~ = Tod, stammt und richtig übersetzt heißen muß: "guter/glücklicher Tod"595) belegt wurden 596 und unter diesem Deckmantel in nationalsozialistischen Greueltaten ihren Höhepunkt fanden597, endgültig der Vergangenheit angehören. Im Ergebnis besteht allerdings trotz der zunächst historisch erklärbaren Bedenken zu Recht weitestgehend Einigkeit598 , daß der Freispruch des LG Ravensburg 599 in dem eingangs aufgefiihrten Beispielsfall zutreffend ist. Insbesondere das allgemeine Rechtsgefiihl will dem Ergebnis einer Straflosigkeit gerade in derartigen Fällen zustimmen, in denen der Ehemann seiner im Sterben befindlichen Ehefrau einen "letzten Liebesdienst"600 in Form eines von ihr gewünschten, menschenwürdigen Todes erweist. Doch ist trotzdem Vorsicht bei der rechtlichen Einschätzung des Falles geboten, weil gerade das Rechtsgefiihl einem gesellschaftlichen sowie zeitlichen Wandel unterliegt und darüber hinaus nicht selten beeinflußbar ist durch einen altruistischen oder ehrenvollen Beweggrund des Täters, wie etwa Mitleid oder Barmherzigkeit601 . Aus diesem Grund kann das allgemeine Rechtsempfinden zwar als überprüfende Instanz eines mit Hilfe dogmatisch-juristischer Erwägungen gefundenen Vgl. weiterhin zu dem Gedanken der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" Engisch, 1948, S. 18 ff., der in seinen Ausftlhrungen Binding und Hoche immerhin als "verantwortungsbewußt, ehrlich überzeugt, human gesinnt und das Gute wollend" bezeichnet, auch wenn er sich von deren Programm eindeutig distanziert (vgl. Engisch, a.a.O., S. 36). 595 Siehe zur Begriffsklärung auch EserlLuNeroNi/Sporken, 1989, S. 1086 ff.; Küng, 1995, S. 44,45; Leonardy, 1986, S. 281; Hoffmeister, 1955, S. 223. 596 Vgl. zur mißbräuchlichen Verwendung des Begriffs "Euthanasie" auch SimsoniGeerds, 1969, S. 46,47.

597 Vgl. ZU den nationalsozialistischen Vernichtungsaktionen bzw. "GandentodAktionen" Hitlers in den Jahren von 1939 bis 1945 nur Ehrhardt, 1965, S. 24 ff.; Hanack, 1975, S. 156 tI Weitere Literaturhinweise hinsichtlich der nazistischen Gewaltverbrechen fmden sich bei SimsoniGeerds, 1969, S. 48, dort insb. Fn. 168 oder ferner S. 50. 598 Vgl. etwa DreherlTrlJndle, 1995, Vor § 211 Rn. 19; SchönkelSchröder/Eser, 1997, Vorbem§§211 tI Rn. 28; Herzberg, 1988,S. 186; Roxin, 1987,S. 349;ScMch, 1995, S. 154; Tr"ndle, 1990, S. 595; anders wohl nur Bockelmann, 1968, S. 112. 599 LG Ravensburg, NStZ 1987, S. 229 f. 600 So jedenfalls die Einschätzung des angeklagten Ehemanns, vgl. LG Ravensburg, MedR 1987, S. 196 ff., 197. 601 Vgl. exemplarisch insoweit nur die Äußerung von SimsoniGeerds, 1969, S 43: "Ein Täter, der seine Mitmenschen aus Barmherzigkeit von Leiden erlöst, sollte auch strafrechtlich nicht als ein Mörder erscheinen [... l". 13'

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3. Teil: Straflosigkeit trotz Tuns

Ergebnisses dienen, nicht aber die Ergebnisfindung insoweit beeinflussen, daß nur noch versucht wird, ein als gerecht empfundenes Ergebnis mit juristischer Finesse zu untermauern. Im Folgenden soll ein Lösungsvorschlag ausgearbeitet werden, der trotz Annahme aktiven Tuns - und der damit nicht gegebenen Möglichkeit der Verneinung einer Garantenpflicht - einen dogmatischen Weg zur Begründung einer Straflosigkeit des die Behandlung abbrechenden Dritten für solche Fallkonstellationen aufzeigt, in denen dem Willen eines sterbenden Patienten auf Behandlungsfreiheit genüge getan wird.

B. Zum Tatbestand der Tötung auf Verlangen Fraglich ist, ob der Abbruch medizinischer Behandlung den Tatbestand eines Tötungsdelikts erfüllt, wenn dieser auf den ausdrücklichen Wunsch eines Patienten hin geschieht, der bereits im Sterben liegt. Zweüel könnten aufkommen, ob überhaupt eine kausale Tötungshandlung im Sinne von Lebensverkürzung vorliegt, was letztlich vom Todesbegriff abhängt, und ob bei angenommener Kausalität eine Zurechnung des Erfolges begründbar ist.

I. Todesbegriff 1. Problemlage Wenn - wie im Ravensburger Fall602 - der Abbruch einer medizinischen, lebenserhaltenden Behandlung aufgrund eines ernstgemeinten, ausdrücklichen Verlangens eines Patienten erfolgt, kommt eine Erfüllung des § 216 StGB in Betracht. Das setzt die Tötung eines Menschen voraus. Und diese Tatbestandsvoraussetzung ist problematischer als es zunächst scheinen mag. Nicht unumstritten ist nämlich, ob von einer Tötung auch dann die Rede sein kann, wenn ein Patient nachweislich bereits im Sterben liegt, also das Stadium unaufhaltsam verlöschenden Lebens erreicht ist. Zugespitzt könnte man die Frage stellen: Kann ein Mensch, der schon "so gut wie tot" ist, im strafrechtlichen Sinne noch getötet werden603 ?

602 LG Ravensburg, NStZ 1987, S. 229 ( 603 Hinter dieser provokativ fonnulierten Fragestellung verbirgt sich letztlich das Problem: inwieweit geht es im Strafrecht bloß um "fonnalen" Lebensschutz? Insbe-

B. Zum Tatbestand der Tötung auf Verlangen

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Schon sprachlich ließe sich dagegen einwenden, daß "so gut wie tot" gerade "noch nicht tot" ist, sondern zeitlich erst kurz davor, und infolgedessen eine strafbewehrte Tötung durchaus möglich sein muß604 . Doch ist diese sprachbezogene Denkweise zu eng und zu formal. Zum einen greift das Sprachargument schon dann nicht, wenn man sich auf einen Todesbegriff einigt, der unaufhaltsam verlöschendes Leben miteinbezieht. Zum anderen handelt es sich bei der Todesbestimmung zugleich immer auch um die Festlegung von Lebensschutz60S , also um die Klärung von Leben im materialen Sinn und dessen Grenzen; und da ist es allein mit sprachlicher Argumentation nicht getan. Es ist vielmehr eine inhaltliche Auseinandersetzung notwendig. Diese dreht sich letztlich auch um die Frage, was konstitutiv fiir die menschliche Persönlichkeit ist, was also die Identität des Menschen als Individuum ausmacht. Schließlich kann die Schwelle zum Tod bereits überschritten sein, auch wenn einzelne Organe im biologischen Sinne noch existieren606 . Ganz überwiegend wird der Tod als Zustand der Irreversibilität des Sterbevorgangs umschrieben, und zwar im Sinne eines unaufhaltsamen Absterbens des Organismus im Ganzen607 . Problematisch ist allerdings, ab welchem Zeitpunkt dieser irreversible Zustand erreicht ist, und welche Kriterien diesen Zustand anzeigen608 . Dabei ist aus strafrechtlicher Sicht - angesichts notwendiger Rechtssicherheit - eine exakte, allgemeingültige und zugleich pragmatische Grenzziehung zwischen Leben und Tod wichtig. Nur so behalten die rechtlichen Regelungen der Tötungsdelikte ausreichende Klarheit. Darüber sondere Dencker, 1992, S. 311 ff. würde diese Frage wohl nicht ausnalunslos bejahen, im einzelnen dazu unten 3. Teil, B. I. 4. a). 604 Vgl. Dencker, 1992, S. 313. 60S Siehe zur Notwendigkeit, bei der DefInition des Todes von der des Lebens auszugehen, auch Fritsche, 1979, S. 10 ff. 606 Vgl. nur LK.Jiihnke, 1989, Vor § 211 Rn. 7. 607 Siehe nur Dencker, 1992, S. 314; Fritsche, 1979, S. 17; Geilen, 1972, S. 386, 387; LK.Jiihnke, 1989, Vor § 211 Rn. 7; KUng, 1995, S. 26, 27; Langer, 1971, S. 309 ff.; Sten/berg-Lieben, 1997, S. 82 f. "Organismus im Ganzen" soll dabei meinen, daß die Fähigkeit bezüglich einer zentralen Steuerung und Integration der Organe und Organsysteme zu einem Ganzen besteht; derart zutreffend Bin/bacher, 1994, S. 34. 608 Nicht problematisch ist also die Definition des Todes, sondern vielmehr die Grenzziehung zwischen Leben und Tod mittels eines Todeskriteriums. Siehe zum Unterschied von Todesdefmition und Todeskriterium und dazu, daß das Todeskriterium eine Todesdefmition voraussetzt, Bin/bacher, 1994, S. 28 ff.; ders., 1994 a, S. 469; Höfling, 1995, S. 30; Beckmann, 1996, S. 220.

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3. Teil: Straflosigkeit trotz Tuns

hinaus muß das Todeskriterium forensische Brauchbarkeit aufweisen, damit in der Praxis über das Vorliegen der Tötungsdelikte entschieden werden kann.

2. Tod als allmählicher Vorgang Probleme bereitet die genaue Bestimmung des Todeszeitpunkts deshalb, weil es sich beim Tod nicht immer um ein abruptes Ereignis handelt, das zeitgleich alle Organe absterben läßt, wie etwa in dem Fall, in dem ein Mensch bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommt. Hier mag es ausnahmsweise noch gerechtfertigt sein, einem traditionellen Verständnis zufolge vom" Augenblick des Todes"609 zu sprechen. In der Regel stellt sich allerdings der Tod als allmählich ablaufender Vorgang in Form eines etappenweisen Absterbens von Organen