Die Formel »Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit« bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen? [1 ed.] 9783428473632, 9783428073634


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German Pages 522 Year 1992

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Die Formel »Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit« bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen? [1 ed.]
 9783428473632, 9783428073634

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KRISTIAN F. STOFFERS

Die Formel "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit" bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen?

Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften Flerausgegeben von Flans Joachim Flirsch, Günter Kohlmann Michael Waller, Thomas Weigend Professoren an der Universität zu Köln

Band 4

Die Formel "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen?

Von Dr. Kristian F. Stoffers

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Stoffers, Kristian F.:

Die FonneI "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen? / von Kristian F. Stoffers. - Berlin : Duncker & Humblot, 1992 (Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften; Bd. 4) Zug!.: Köln, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07363-0 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin 65 Printed in Gennany ISSN 0936-2711 ISBN 3-428-07363-0

Vorwort Die Abhandlung wurde im Sommersemester 1991 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation vorgelegt. Für die Drucklegung konnten Literatur und Judikatur bis Ende August 1991 noch berücksichtigt werden. Zu besonderem Dank bin ich meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Hans Joachim Hirsch verpflichtet, der das Thema der Untersuchung angeregt sowie in ermutigenden und fruchtbaren Gesprächen die Bearbeitung begleitet und gefördert hat. Ferner danke ich ihm und den Mitherausgebern für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften" . Köln, im Oktober 1991

Kristian F. Stoffers

Inhaltsverzeichnis 1. Abschnitt

Einführung in die Problematik (BGHSt. 6, 46) 2. Abschnitt

Bedeutung der Formel "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit" A. Begriff der "Vorwertbarkeit" ......................................................... . Bedeutung im strafrechtlichen Sinne .......................................... .. Geltung der strafrechtlichen Bedeutung für die Schwerpunktfonnel? .. . 1. Verständnis des BGH im "1.Kuppeleifall"(BGHSt. 6,46) .......... .. 2. "Schwerpunktfonnel"-Rechtsprechung ................................... . a) OLG Stuttgart FamRZ 1959,74 ("2.Kuppeleifall") .............. . b) BGH, unveröffentlichter Beschluß vom 15.12.1961 4 StR 376/61 ("3.Kuppeleifall") ...................................... .. c) OLG Karlsruhe GA 1980, 429 ("Steuerüberlassungsfall") ...... . d) BGH bei Holtz, MDR 1982,624 ("Mutterfall") .................. . e) OLG Düsseldorf JMB!. NW 1983, 199 ("Diabetesfall") ........ . t) OLG Frankfurt GA 1987, 549 ("Ausreisefall") .................. .. g) Folgerung ................................................................. .. 3. Interpretation im Schrifttum ................................................ .. 4. Sprachliche Deutung ......................................................... .. 5. Fazit .............................................................................. . B. Bedeutung der Fonnel "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit" I. 11.

3 3 3 4 5 5 6

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3. Abschnitt

Herleitung der von der Rechtsprechung angewandten Formel "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit"

14

A. Darstellung der Abgrenzungsmethode Mezger's ...................................

14

B. Zustimmung in der Lehre ...............................................................

15

C. Vergleich der Methode Mezger's mit der Schwerpunktfonnel der Rechtsprechung .. . . .. .. . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . ... . . . . . . . .. . . . ... . . . . . .. . ... . . . . . .

17

I.

Bedeutung des Kriteriums von Mezger ......................................... 1. Strafrechtliche Bedeutung des Begriffs "Vorwurf' ..................... 2. Geltung der strafrechtlichen Bedeutung für die Abgrenzungsmethode Mezger's? .. ................... ......... ...... ........ ......... ....... a) Verständnis von Mezger ........ ................ ......................... b) Interpretation im Schrifttum ...... ...................... ........ ......... c) Sprachliche Deutung ...................................................... d) Fazit ..........................................................................

17 17 18 18 18 19 20

VIII

Inhaltsverzeichnis

11.

3. Bedeutung des Kriteriums von Mezger .................................... Vergleich........................................................................ ......

20 21

4. Abschnitt

Anwendung der Schwerpunktformel durch die Lehre

23

A. Unmittelbare Übernahme des Schwerpunktkriteriums ............................

23

B. ModifIzierende Ausformungen des Schwerpunktkriteriums .....................

25

Unrechtsgehaltkriterium von Maurach ......................................... Meist-Handlungs-Richtlinie nach Schröder .................................... Kombination des Schwerpunkt- und sozialen Handlungssinnkriteriums.

25 25 26

I. 11. III.

5. Abschnitt

InCragestellung der AbgrenzungsCunktion des Schwerpunktkriteriums A. Differenzierung zwischen "echter" Abgrenzungsfrage und "mehrdeutigen" Verhaltensweisen .......................................................................... B. Anwendung der Schwerpunktformel nur bei ambivalentem Verhalten? ...... Überblick über die Fälle ........................................................... Darstellung der Ausführungen ........................... .... .... ............. ... 1. Verfechter des Kriteriums der Richtung bzw. des Gegenstandes des rechtlichen Vorwurfs .............. ... ......................... ....... ..... a) Mezger ....................................................................... b) Zustimmende Lehre ....................................................... aa) Blei .................................................................... bb) Baumann ............................................................. 2. Entscheidungen mittels der Schwerpunktformel in der Judikatur .... 3. Befürworter der Schwerpunktformel in der Literatur .................. 111. Resümee............................................................................... c. Kritik am Schwerpunktkriterium ...................................................... I. 11.

I. 11.

Kritik durch die Lehre mit gleichzeitiger Replik ............................. Eigene Kritik ......................................................................... 1. Judikatur und die ihr unmittelbar folgende Literatur ........ ....... ..... 2. ModifIzierende Ausformungen des Schwerpunktkriteriums in der Lehre .. . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . a) Unrechtsgehaltkriterium von Maurach ............................... b) Meist-Handlungs-Richtlinie nach Schröder .......................... c) Kombination des Schwerpunkt- und sozialen Handlungssinnkriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mezger und die ihm zustimmenden Autoren ............................. 4. Baumann .........................................................................

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54 54 58 58 62 62 62 63 63 67

6. Abschnitt

Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung der VerhaltensCormen positives Tun und Unterlassen A. Darstellung der Abgrenzungstheorien ................................................

69 69

Inhaltsverzeichnis I.

Rein naturalistische Betrachtungsweise nach dem äußeren Erscheinungsbild (Körperbewegungskriterium) .............................. 1. Begründung durch v. Liszi ................................................... 2. Übernahme des Körperbewegungskriteriums ............................ a) Das Schrifttum des frühen 20.Jahrhunderts ....... ......... ..... .... b) Das Schrifttum ab Mitte des 20.Jahrhunderts ..... ......... .... ..... 11. Energiekriterium ...... ..... ..... ...... ......................... ....... .............. 1. Begründung durch Engisch .................................................. 2. Resonanz in der Lehre ........................................................ a) Übernahme der Energiethese in ihrer ursprünglichen Fassung.. b) Verbindung des Energiekriteriums mit Kausalitätserwägungen.. c) Kumulative Kombination von Kausalitäts- und Energiekriterium nach Sieber ................................................................. III. Normativistische Betrachtungsweise nach Husserl ..... ... ......... ......... IV. Kriterium des Lebenssprachgebrauchs i.V.m. einer wertenden Betrachtungsweise von H. Mayer ............................................... V. Kriterium der sozialen Sinnbedeutung(-haftigkeit) des Verhaltens ....... 1. Die soziale Handlungslehre im Verständnis von Eb. Schmidl ........ 2. Die soziale Sinnbedeutung(-haftigkeit) des Verhaltens als Abgrenzungsmethode nach Eb. Schmidl ......................... ..... .... 3. Reaktion in der Lehre ...................................................... ... VI. Kausalitätskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begründung durch Armin Kaufmann ....................................... 2. Übernahme und ModifIkation des Kausalitätskriteriums .............. a) Eigenkausalität oder Fremdkausalität nach Arlhur Kaufmann... b) Kausalität oder Nichtkausalität des Verhaltens nach Welzel ..... c) Gesetzmäßige oder nicht gesetzmäßige Bedingung des Täters für die Rechtsgutslage nach Samson .................................. d) Nichtwegdenken oder Hinzudenken eines bestimmten Verhaltens nach Bockelmann ........................................... e) Risikoerhöhungsprinzip i. V .m. Gefahrkriterium nach Siralenwerih ................................................ .. ....... f) Motivationskriterium nach Jakobs ..................................... g) Ingangsetzen eines Kausalverlaufs oder Nichteingreifen in einen stattfIndenden Kausalverlauf (weitere Autoren) ......... VII. Kriterium der Rechtsgutsbeeinträchtigung durch körperliche Aktivität oder Inaktivität nach Gössel ...................................................... VIII. Weitere Abgrenzungstheorien .................................................... 1. Rechtspolitische Betrachtungsweise durch v. Dassei ..... .............. 2. Kriterium des erlaubten Risikos von Ulsenheimer ...................... 3. Eindrucksmoment nach Sabn ................................................ B. Kritische Auseinandersetzung mit den Abgrenzungstheorien ....... ....... ..... I. 11. III.

Rein naturalistische Betrachtungsweise nach dem äußeren Erscheinungsbild (Körperbewegungskriterium) .............................. Energiekriterium ... ..... ......... .... ........... .......... ........ ... ...... ......... 1. Energiekriterium im Verständnis von Engisch . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbindung des Energiekriteriums mit Kausalitätserwägungen ...... Normativistische Betrachtungsweise nach Husserl ...... .......... ....... ...

IX

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x

Inhaltsverzeichnis IV.

Kriterium des Lebenssprachgebrauchs i.V.m. einer wertenden Betrachtungsweise von H. Mayer ............................................... V. Kriterium der sozialen Sinnbedeutung(-haftigkeit) des Verhaltens ...... VI. Kriterium der Rechtsgutsbeeinträchtigung durch körperliche Aktivität oder Inaktivität nach Gössel.... ....................................... ........... VII. Weitere Abgrenzungstheorien .................................................... 1. Rechtspolitische Betrachtungsweise durch v. Dassel .......... ......... 2. Kriterium des erlaubten Risikos von Ulsenheimer ...................... 3. Eindrucksmoment nach Salm ................................................ C. Eigener Lösungsvorschlag .............................................................. I. Kausalität oder Nichtkausalität des Sich-Verhaltenden für den betreffenden konkreten Erfolg ..................... ... ........................... 1. Begründung ...................................................................... a) Vemeinung einer Kausalität der Unterlassung .... ............... ... b) Vemeinung einer Kausalität des Unterlassungstäters ....... ... ... c) Hypothetische Kausalität bei den unechten Unterlassungsdelikten ...................................................................... d) Rechtfertigung der Notwendigkeit einer Garantenstellung beim Unterlassungstäter ................................................. 2. Mögliche Einwände............................................................ a) Kausalität der Unterlassung .. ..... ...................... ... ............. b) Berechtigung der Kritik an den Ausführungen von Annin Kaufinann ..................................................... aa) Infragestellung der Kausalbeziehung für das Verhältnis des aktiv Handelnden zu seiner Handlung .................... bb) Nichtwegdenkbarkeit des Unterlassenden (Kausalität des Unterlassungstäters) ................. ........... ce) Untrennbarkeit von Unterlassendem und Unterlassung .... dd) Unerheblichkeit der Hinwegdenkbarkeit des Unterlassers . ee) Resümee.............................................................. c) Rechtsgutsverletzung statt Erfolg ...................................... d) Eingetretener statt betreffender konkreter Erfolg ............ ... ... e) Kausalität im allgemeinen Verbrechensaufbau ......... .......... ... f) Fazit .......................................................................... 11. Kritische Auseinandersetzung mit den diversen Ausformungen des Kausalitätskriteriums in der Lehre ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kausalität oder Nichtkausalität des Verhaltens nach Welzel .......... 2. Kausalität oder Nichtkausalität des Menschen nach Annin Kaufinann ......................................................... 3. Gesetzmäßige oder nicht gesetzmäßige Bedingung des Täters für die Rechtsgutslage nach Samson ....................................... 4. Eigenkausalität oder Fremdkausalität nach Arthur Kaufinann .. ...... 5. Nichtwegdenken oder Hinzudenken einesbestimmten Verhaltens nach Bockelmann ............................................................... 6. Motivationskriterium nach Jakobs ....... ..... ......... ... .......... ........ 7. Risikoerhöhungsprinzip i.V.m. Gefahrkriterium nach Stratenwerth. 8. Ingangsetzen eines Kausalverlaufs oder Nichteingreifen in einen stattfindenden Kausalverlauf ...................................... 9. Verbindung des Energiekriteriums mit Kausalitätserwägungen ......

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Inhaltsverzeichnis

XI

7. Abschnitt Behandlung mehrdeutiger Verhaltensweisen

125

A. Überblick über die Fälle .................................................................

125

Fallgruppe der "Koinzidenz der Verhaltensformen" ............. ..... ...... Fallgruppe der "Sukzession der Verhaltensformen" . ............ ........... Fallgruppe des "falschen Handelns statt des richtigen HandeIns" .... ....

126 136 141

B. Darstellung der Lösungsansätze ... ...... ............ ......... .... .......... ....... .... I. Wertungstheorien in Judikatur und Literatur . .............. ..... ............. 11. Werturteil i.S.v. H. Mayer ........................................................ 111. Kriterium der sozialen Sinnbedeutung des Verhaltens.... ....... ....... .... 1. Begründung durch Eb. Schmidt ............................................. 2. Zustimmung in der Lehre (Hinzuziehung konkretisierender Maßstäbe) ........................................................................ a) Ranft ................... ....... ...................... ........ ....... ........... b) Heimann-Trosien/Woljf .................................................. 3. Anwendung bei den Reanimatorfallen ..................................... 4. Übernahme durch die Rechtsprechung .................................... IV. Vorrangige Frage nach der Kausalität eines positiven Tuns (Subsidiaritätslösung) ............................................................... 1. Begründung durch Grünwald ................................................ 2. Weiterentwicklung von Roxin ............................................... 3. Übernahme und ModifIkation in der Lehre .............................. a) Frage nach der tatbestands mäßigen Erfolgsverursachung durch ein objektiv tatbestands mäßiges positives Tun durch Jescheck ............................................................. b) Frage nach dem Vorliegen eines objektiv tatbestands mäßigen Tuns seitens Eser ..... ....... ......... ......... .... .... ...... ..... ......... c) Vorrangige Prüfung der Erfolgsverursachung durch eine Handlung des Täters nach Rudolphi .................................. d) Vorrangiges Abstellen auf das kausale aktive Tun (Betrachtung als Scheinproblem infolge des negativen Handlungsbegriffs) von Herzberg ............. ............... ............ ........ .......... ..... e) Vorrangige Prüfung des Vorliegens eines volldeliktischen aktiven Tuns durch Noll ................................................. f) Vorrangige Frage nach dem kausalen Tun seitens Fünjsinn ..... g) Frage nach der Kausalität eines Energieeinsatzes und - bei deren Vorliegen - Entscheidung nach Konkurrenzregeln durch Seebnann .................................................................... h) Einordnung weiterer Autoren (Ritt/er, Boldt, Lüderssen, Otter, Burgstaller, Schultz, Küpper) ........................................... 4. Anwendung durch die Judikatur .. ........ ............. ......... ... .. ....... a) OLG Hamburg VRS Bd. 25 (1963), 433 .......................... .. b) OLG Karlsruhe GA 1980,429 ("Steuerüberlassungsfall") ....... c) BGHSt. 31, 48 ("Buscopanfall"): Beweisnotsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zerlegungsverfahren ...................... ......................................... 1. Begründung durch Böhm .....................................................

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I.

11. 111.

145 146 150 153 153 155 155 157 165 165 167 168 171 173 174 175 176 179 179 180 181 181 181

XII

Inhaltsverzeichnis

2. Zustimmung von Schlüchter ............................................ ..... Zweifellösung . .............. .... .......... ..... .... .... ...... .................. ...... 1. Begründung durch Schröder ................................................. 2. Weiterentwicklung in der Lehre ........ ...... ............... .... ........... a) Spendei ...................................................................... b) Arthur Kauftnann ............................................ .............. VII. Kausalitätskriterium bei ambivalentem Verhalten ............................ 1. Kausalität oder Nichtkausalität des Menschen nach Armin Kauftnann ........................................................ . 2. Kausalität oder Nichtkausalität des Verhaltens nach We/zel ......... . 3. Gesetzmäßige oder nicht gesetzmäßige Bedingung des Täters für die Rechtsgutslage nach Samson ...................................... . 4. Nichtwegdenken oder Hinzudenken eines bestimmten Verhaltens nach Bockelmann .............................................................. . VIII. Entscheidung nach Art der verletzten Rechtsnorm durch Wiethöller ... . IX. Kriterium des komplexen Verhaltens nach Androu/akis ................... . X. Infragestellung der Unterscheidungsproblematik bei mehrdeutigen Verhaltensweisen ................................................................... . 1. Leugnung der Unterscheidungsnotwendigkeit .......................... . a) Einordnung als Scheinproblem seitens Uisenheimer ............. . b) Betrachtung als eigentlich gegenstandslos durch Binavince (Weitere Vertreter) ....................................................... . 2. Leugnung der Unterscheidungsmöglichkeit ............................. . a) Fragwürdigkeit nach Sabn .............................................. . b) These einer Verwandtschaft von Tun und Unterlassen von Arzt .................................................................... . 3. Evidenz oder Obsoleszenz der Unterscheidung nach Volk ........ ... . XI. Objektive Zurechnungslehren ................................................... . 1. Vermeidbarkeitsprinzip i.S.v. Kahrs ...................................... . 2. Risikoerhöhungsprinzip (Subsidiaritätsprinzip) nach Stratenwerth .. 3. Risikoerhöhungsprinzip von DllO .......................................... . XII. Einordnung als Konkurrenzproblem ........................................... . 1. Anwendung der Kategorien der Konkurrenzlehre durch Welp ...... . 2. Einstufung als ein Konkurrenzproblem seitens Jakobs ............... . 3. Lösung auf der Konkurrenzebene durch Sieber ........................ . XIII. Kriterium der Schutzrichtung des Achtungsanspruchs eines Rechtsgutsobjekts .................................................................. . 1. Begründung durch Schmidhällser .......................................... . 2. Zuspruch in der Lehre ....................................... , ............... . a) Achtungsanspruch des Rechtsguts nach Kruse .................... . b) Position des Rechtsguts i.S.v. R. Zimmermann ................... . XIV. Normativierung des Energiekriteriums durch Engisch .................... . XV. Primat des strafbarkeitsausschöpfenden Tuns ............................... . 1. Begründung von Kienapfel .................................................. . 2. Zustimmung in der Strafrechtswissenschaft ............................. . XVI. Kriterium der Rechtsgutsbeeinträchtigung durch körperliche Aktivität oder Inaktivität nach Gössel ..................................................... . XVII. Gegensteuerungskonzept von Behrendt ....................................... . VI.

C. Kritische Auseinandersetzung mit den Lösungsansätzen ........... ............. .

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Inhaltsverzeichnis I.

11.

III.

IV.

V.

VI. VII.

VIII. IX.

Nonnative Lösungsvorschläge .................................................. . 1. Wertungstheorien in Judikatur und Literatur ............................ . 2. Werturteil i.S.v. H. Mayer .................................................. . 3. Kriterium der sozialen Sinnbedeutung des Verhaltens ................ . Methoden mit vorrangiger Anknüpfung an ein Tun ........................ . 1. Zweifellösung .................................................................. . 2. Primat des strafbarkeitsausschöpfenden Tuns .......................... . 3. Vorrangige Frage nach der Kausalität eines positiven Tuns (Subsidiaritätslösung) ......................................................... . Zerlegungsverfahren .............................................................. . Infragestellung der Unterscheidungsproblematik bei mehrdeutigen Verhaltensweisen ................................................................... . 1. Leugnung der Unterscheidungsnotwendigkeit ................... ....... . 2. Leugnung der Unterscheidungsmöglichkeit ............................. . 3. Evidenz oder Obsoleszenz der Unterscheidung nach Volk ........... . Kausalitätskriterium bei ambivalentem Verhalten ........................... . Objektive Zurechnungs lehren ................................................... . Kriterium der Schutzrichtung des Achtungsanspruchs eines Rechtsgutsobjekts .................................................................. . Nonnativierung des Energiekriteriums durch Engisch ........... . ........ . Weitere Lösungsvorschläge ...................................................... . 1. Entscheidung nach Art der verletzten Rechtsnonn durch Wzethölter ............................................................... . 2. Kriterium des komplexen Verhaltens nach Androulakis .............. . 3. Kriterium der Rechtsgutsbeeinträchtigung durch körperliche Aktivität oder Inaktivität nach Gössel ..................................... . 4. Gegensteuerungskonzept von Behrendt .................................. . 5. Beweisnotsituation ............................................................ .

D. Eigener Lösungsvorschlag ................................ .............................. I. Mehrstufiges Prüfungsverfahren ................................................. 11. Die verschiedenen Fallgruppen .................................................. 1. Koinzidenz der Verhaltensfonnen ..... ......... ... ........ ........ ..... .... a) Fälle aus dem Bereich der Fahrlässigkeitsdelinquenz ............. b) Fallkonstellationen des Abbruchs rettender Kausalverläufe ..... c) Sonstige problematische Sachverhalte ................................ d) Entscheidung auf der Konkurrenzebene ............................. 2. Sukzession der Verhaltensfonnen .......... ......... ......... ....... ....... a) Fehlende Notwendigkeit einer Entscheidung auf der Konkurrenzebene .......................................................... aa) Allgemeine Fälle aus dem Bereich der Fahrlässigkeitsund der Vorsatzdelinquenz . .... ........... ....... ....... ..... .... bb) Fallgruppe der "omissio libera in causa" ..... .......... ...... cc) Fälle der Bestimmung eines anderen zur Unterlassung von Rettungshandlungen .......................................... b) Entscheidung auf der Konkurrenzebene ............................. aa) Fälle mit identischer innerer Tatseite und übereinstimmendem Unrechts- sowie Schuldgehalt der Verhaltensfonnen ........................................................... bb) Fahrlässigkeits-Vorsatz-Kombinationen ....... ....... ... ......

XIII

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XIV

Inhaltsverzeichnis

3. Falsches Handeln statt richtiges Handeln E. Exkurs: Die unterschiedliche Beurteilung einiger besonderer gleichgelagerter Fallkonstellationen der psychischen Beihilfe durch die Rechtsprechung im Hinblick auf die Einordnung als positives Tun oder Unterlassen..

342

Einordnung als positives Tun ..................................................... Einordnung als Unterlassen ............... ... ............ ................... ...... Eigene Stellungnahme ...................... .................................... .... 1. Kritische Untersuchung einiger Entscheidungen .................. ...... 2. Allgemeine Erwägungen ......................................................

342 345 347 347 353

I. 11. 111.

F. Exkurs: Judikatur zu Fallkonstellationen des Abbruchs einer rettenden Kausalreihe und Fällen der aktiven Teilnahme an einem Unterlassungsdelikt

341

354

8. Abschnitt Auseinandersetzung mit der RechtsrJgur "Unterlassen durch Tun"

358

A. Entwicklung in der Strafrechtswissenschaft .........................................

358

Begründung durch Merkel ....... ................................................. Befürwortende Autoren zu Beginn des 20.Jahrhunderts . ....... ........ ... Fortführung durch v. Overbeck .... ............. ........... ...................... Wiederentdeckung, Wiederbelebung und Weiterentwicklung in den sechziger Jahren ... ......... ......... ..... ......... ... .......... ............ Befürworter im aktuellen Schrifttum ............................................

358 360 361

B. Dogmatische Herleitung .................................................................

365

C. Anwendungsbereich ......................................................................

367

D. § 221 Abs. 1 2.Alt. StGB als gesetzlich nonnierter Fall? ..... ........ ...........

371

E. Kritische Würdigung .....................................................................

372

Dogmatische Bedenken ............ ................................................ Praktische Bedenken ......... ....... ............................ ....... ... ...... ... 1. Fallgruppe des Rücktritts vom Gebotserfüllungsversuch .............. 2. Fallgruppe der "omissio libera in causa" .. ............ ........ ........... 3. Fallgruppe der aktiven Teilnahme an einem Unterlassungsdelikt ... 4. Fallgruppe der Vereitelung fremder Rettungsbemühungen

373 376 376 380 381 384

I. 11. III. IV. V.

I.

11.

364 364

9. Abschnitt Behandlung der Reanimatorproblematik

386

A. Darstellung der Theorien in der Literatur ...........................................

387

Konzeptionen zur Begründung eines straflosen Unterlassens ............. 1. Sozialer Sinn des Verhaltens........ ........... ..................... ......... a) Begründung durch Geilen ............................................... b) Zustimmung im Schrifttum .............................................. aa) Lenckner.............................................................. bb) Küper .......... ............ .......................... ............... .... cc) Schwalm .............................................................. dd) Kienapfel.............................................................

387 387 388 389

I.

389

389 390

390

Inhaltsverzeichnis

XV

Leonardy ............................................................. Stree................................................................... gg) Laclener (Weitere Befürworter) .......................... ........ 2. Schwerpunktkriterium ......................................................... a) Schwerpunkt des Verhaltens (Weißauer/Opderbecke) ............ b) Kombination des Schwerpunkt- und sozialen Handlungssinnkriteriums ................................................ aa) Wessels............................................................... bb) Hajt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Hanack................................................................ dd) Krey ................................................................... 3. Unterlassen durch Tun ........................................................ a) Begründung durch Roxin ............................................... b) Zuspruch in der Lehre ................................................... aa) Herzberg ..... ........................................................ bb) Eser (Weitere Vertreter) ................ ..................... ..... 4. Normativierung des Energiekriteriums durch Engisch (Kamps) ..... 5. Schutzrichtung des Achtungsanspruchs eines Rechtsgutsobjekts nach Schmidhäuser ............................................................ 6. Position des Rechtsguts .............................. ... ...................... a) Begründung durch R. Zimmermann ................................... b) Bestätigung seitens v. Dellingshausen ....... .......... ......... ...... Konstruktionen zur Begründung von Straflosigkeit trotz Annahme eines positiven Tuns ................................................................ 1. Fehlen des objektiven Tatbestandes nach Hirsch (Küpper) ........... 2. Tatbestandsausschluß wegen Haftungsbegrenzung der Tötungsdelikte .................................................................. a) Einschränkung des Tötungsverbotes nach Samson................. b) Tatbestandsausschluß wegen Haftungsbegrenzung durch den Schutzzweck der Norm i.S.v. Sax (Weitere Verfechter) .............. .............. ....... .......... ......... c) Haftungsbeschränkung im Wege einer Rückbesinnung auf die hinter dem Tötungsverbot stehenden Interessen nach Möllering ............................................................. d) Teleologische Reduktion der Tötungsdelikte i.S.v. Rudolphi .... 3. Vemeinung der Rechtswidrigkeit ........................................... a) Rechtfertigung wegen Herstellung der Behandlungsfreiheit nach OUo .................................................................... b) Rechtfertigung nach den Grundsätzen der passiven Euthanasie nach Horn .................................................... c) Rechtfertigungsgrund des § 34 StGB durch Herzberg ............. 4. Entschuldigende Ptlichtenkollision nach Gössel......................... 5. Passive Sterbehilfe von Stratenwerth (Arzt) ........ ............. ....... Strafbares Begehungsdelikt i.S.v. Bocke/mann (Schlüchter) .............. Unerheblichkeit der Einordnung als Tun oder Unterlassen ............... 1. Zulässigkeit des Verhaltens nach Eser ... ............ ....... .......... .... 2. Rechtmäßigkeit des Verhaltens nach Dölling ............................ 3. Nichterfüllung eines Tötungstatbestandes nach Tröndle ...... ......... 4. Berücksichtigung weiterer Autoren ........................................

390 390 391 391 392

ee) ff)

11.

III. IV.

393 393 394 395 395 395 395 399 399 399 401 403 404 404 406 407 407 408 408 411

414 416 418 418 420 421 421 422 423 425 425 426 426 427

XVI V.

Inhaltsverzeichnis Refonnbedürftigkeit (§ 214 AE-Sterbehilfe)

428

B. Beschäftigung mit der Reanimatorproblematik in der Judikatur ................

429

Das Urteil des LG Ravensburg ............................ ...................... Das Urteil des LG Bonn ...........................................................

430 433

C. Kritische Auseinandersetzung mit den Theorien in der Literatur .............. I. Konzeptionen zur Begründung ein('s straflosen Unterlassens ............. 1. Sozialer Sinn des Verhaltens ...................................... .. .. ....... 2. Schwerpunktkriterium ......................................................... 3. Unterlassen durch Tun ........................................................ 4. Nonnativierung des Energiekriteriums durch Engisch ................ 5. Schutzrichtung des Achtungsanspruchs eines Rechtsgutsobjekts nach Schmidhäuser ............................................................. 6. Position des Rechtsguts ....................................................... II. Strafbares Begehungsdelikt i.S.v. Bockelmann ............................... III. Unerheblichkeit der Einordnung als Tun oder Unterlassen ........ ........ IV. Konstruktionen zur Begründung von Straflosigkeit trotz Annahme eines positiven Tuns ................................................................ 1. Tatbestandsausschluß wegen Haftungsbegrenzung der Tötungsdelikte ............................................................. 2. Verneinung der Rechtswidrigkeit ........................................... 3. Entschuldigende Ptlichtenkollision nach Gössel ......................... 4. Passive Sterbehilfe von Stratenwerth ......................................

434 434 436 438 439 442

D. Eigener Lösungsvorschlag ..............................................................

457

Begründung für das AbsteHen auf ein positives Tun ........................ Begründung für das Vorliegen von Straflosigkeit .. .......................... Frage nach der Refonnbedürftigkeit (§ 214 AE- Sterbehilfe) ........ ..... Anmerkungen zur Beschäftigung mit der Reanimatorproblematik in der Judikatur ......................................................................

458 459 465

I. II.

I. II. III. IV.

444 445 446 448 449 450 454 456 457

467

10. Abschnitt

Zusammenfassung und Ausblick

470

Literaturverzeichnis

477

Abkürzungsverzeichnis a.A.

anderer Ansicht

Abs.

Absatz

AE-Sterbehilfe

Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe von 1986

a.F.

alte Fassung

Allg. Teil, AT

Allgemeiner Teil

Alt.

Alternative

Altenpflege

Altenpflege (zitiert nach Jahr und Seite)

Anh.

Anhang

Anm.

Anmerkung

Art.

Artikel

Aufl.

Auflage

AuslG

Ausländergesetz vom 28.4.1965



Bayerisches Ärzteblatt (zitiert nach Jahr und Seite)

BayObLG

Bayerisches Oberstes Landesgericht

BayObLGSt.

Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen (zitiert nach Jahr und Seite)

Bd.

Band

Beschl.

Beschluß

Bes. Teil, BT

Besonderer Teil

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch vom 18.8.1896

BGH

Bundesgerichtshof

BGHSt.

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite)

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen (zitiert nach Band und Seite)

BtMG

Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz - BtM G) vom 28.7.1981

BVelWG

BundesvelWaltungsgericht

bzw.

bezi~hungsweise

2 StoffelS

XVIII

Abkürzungsverzeichnis



Deutsches Ärzteblatt (zitiert nach Jahr und Seite)

DAR

Deutsches Autorecht (zitiert nach Jahr und Seite)

Der Gynäkologe

Der Gynäkologe (zitiert nach Jahr und Seite)

Der Internist

Der Internist, Organ des Berufsverbandes deutscher Internisten (zitiert nach Jahr und Seite)

ders.

derselbe

d.h.

das heißt

Die Justiz

Die Justiz, Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg (zitiert nach Jahr und Seite)

dies.

dieselbe(n)

Diss.

Dissertation

DJT

Deutscher Juristentag; Verhandlungen des Deutschen Juristentages

DRiZ

Deutsche Richterzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

dt.

deutsch

Einl.

Einleitung

etc.

et cetera

f.

folgende

ff.

fortfolgende

FamRZ

Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

FG

Festgabe

Fn.

Fußnote

FS

Festschrift

GA

Goltdammer's Archiv für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

GedS

Gedächtnisschrift

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949

GrS

Großer Senat

GS

Der Gerichtssaal (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

Halbbd.

Halbband

h.L.

herrschende Lehre

h.M.

herrschende Meinung

Abkün:ungsven:eichnis

XIX

HRR

Höchstrichterliche Rechtsprechung (zitiert nach Jahr, Spalte und Nummer)

Hrsg.

Herausgeber

HS

Halbsatz

i.d.R.

in der Regel

i.d.S.

in diesem Sinne

i.e.S.

im engeren Sinne

i.S.d.

im Sinne (mit entsprechendem bestimmten Artikel)

i.S.e.

im Sinne (mit entsprechendem unbestimmten Artikel)

i.S.v.

im Sinne von

i.V.m.

in Verbindung mit

i.w.S.

im weiteren Sinne

JA

Juristische Arbeitsblätter (zitiert nach Jahr und Seite)

JK

Jura-Rechtsprechungskartei, Beilage der Zeitschrift Juristische Ausbildung (zitiert mit Angabe des Verfassers nach Gesetz, Paragraphen und laufender Nummer)

JMBl. NW

Justizministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen (zitiert nach Jahr und Seite)

JR

Juristische Rundschau (zitiert nach Jahr und Seite)

Jura

Juristische Ausbildung (zitiert nach Jahr und Seite)

JuS

Juristische Schulung (zitiert nach Jahr und Seite)

JW

Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite)

JZ

Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

KG

Kammergericht

L

Seitenzahl des JuS-Lernbogens

LG

Landgericht

LK

Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Großkommentar (zitiert mit Angabe des Bearbeiters nach Paragraphen und Randnummem)

LM

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes im Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofes von Lindenmaier-Möhring (zitiert nach Paragraphen und Nummern)

LZ

Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite)

MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite)

XX

Abkürzungsverzeichnis

MedKlinik

Medizinische Klinik, Wochenschrift für Klinik und Praxis (zitiert nach Jahr und Seite)

MedR

Medizinrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

MedWelt

Medizinische Welt (zitiert nach Jahr und Seite)

M.M.

Mindenneinung

MonSchrKrimBiol

Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsrefonn (1937 bis 1946) (zitiert nach Band, Jahrgang und Seite)

MonSchrKrimPsych

Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsrefonn

(1904/5 bis 1936) (zitiert nach Band, Jahrgang und Seite)

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

m.zust.Anm.

mit zustimmender Anmerkung

NJW

Neue Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite)

Nr.

Nummer

Nm.

Nummern

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)

OGHSt.

Entscheidungen des Österreichischen Obersten Gerichtshofes in Strafsachen und Disziplinarangelegenheiten (zitiert nach Band, Jahr, Nummer und Seite)

ÖJZ

Österreichische Juristen-Zeitung (zitiert nach Jahr und Seite)

OLG

Oberlandesgericht

OLGSt.

Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafverfahrensrecht (zitiert nach Paragraphen und Seite)

österr.

österreichisch

Österr.OGH

Österreichischer Oberster Gerichtshof

Rdn.

Randnummer

RG

Reichsgericht

RG Recht

Entscheidungen des Reichsgerichts, in: "Das Recht" , herausgegeben von Hans Th. Soergel (zitiert nach Jahr, Seite und Nummer)

RG Rspr.

Rechtsprechung des Deutschen Reichsgerichts in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite)

RGSt.

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite)

Rspr.

Rechtsprechung

S., s.

Seite, siehe

Abkürzungsverzeichnis

XXI

SchwZStr

Schweizerische Zeitschrift rur Strafrecht (zitiert nach Band, Jahrgang und Seite)

seil.

scilicet (nämlich)

SJZ

Süddeutsche Juristen-Zeitung (zitiert nach Jahr und Spalte)

SK

Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (zitiert mit Angabe des Bearbeiters nach Paragraphen und Randnummern)

sog.

sogenannte

Sp.

Spalte

S/S

SchönkelSchröder, Strafgesetzbuch, Kommentar (zitiert unter Hinzufügung des Bearbeiters nach Paragraphen und Randnummern)

StGB

Strafgesetzbuch, Strafgesetzbuch vom 15.5.1871

StR

Strafrecht

Strafrechtl. Abh.

Strafrechtliche Abhandlungen (zitiert nach Autor, Jahr und Heft)

StrRG

Gesetz zur Reform des Strafrechts Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25.Juni 1969 Viertes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 23.November 1973

StrVert

Strafverteidiger (zitiert nach Jahr und Seite)

StVO

Straßenverkehrs-Ordnung vom 13.11.1937

StVZO

Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung vom 13.11.1937

Tbd.

Teilband

u.a.

unter anderem, und andere

u.ä.

und ähnliche

unveröffentl.

unveröffentlicht

Urt.

Urteil

usw.

und so weiter

u.U.

unter Umständen

v.

von

vgl.

vergleiche

Vorbem.

Vorbemerkung

VRS

Verkehrs rechts-Sammlung (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

XXII

Abkürzungsverzeichnis

WK

Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch (zitiert mit Angabe des Bearbeiters nach Paragraphen und Randnummern)

WMW

Wiener Medizinische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite)

z.B.

zum Beispiel

Ziff.

Ziffer

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik (zitiert nach Jahr und Seite)

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zitiert nach Band, Jahr und Seite)

1. Abschnitt

Einführung in die Problematik (BGHSt. 6, 46) Um dem geneigten Leser einen besseren Eindruck in die hier zu behandelnde Thematik "Die Formel 'Schwerpunkt der Vorweifbarkeit' bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen?" zu vermitteln, stelle ich an den Anfang meiner Ausführungen eine Schilderung derjenigen Entscheidung in der Judikatur, die sich erstmalig der Formel "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" zur Beantwortung der Frage bedient hat, ob im konkreten Fall für die strafrechtliche Beurteilung des Täterverhaltens ein Tun oder ein Unterlassen relevant ist. Es handelt sich dabei um einen Beschluß des Großen Senats für Strafsachen aus dem Jahre 1954,1 für den sich die Bezeichnung "1.Kuppeleifall" anbietet. Denn als verwirklichter Tatbestand kam eine schwere Kuppelei gemäß § 181 Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F.2 in Betracht. Nach dieser Vorschrift war die Kuppelei, selbst wenn sie weder gewohnheitsmäßig noch aus Eigennutz betrieben wurde, zu bestrafen, wenn der Schuldige zu der verkuppelten Person u.a. in dem Verhältnisse von Eltern zu Kindern stand. 3 Der dieser Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt beruhte auf folgenden Feststellungen: Die Angeklagte ist Kriegerwitwe. Ihre im Jahre 1930 geborene Tochter lebte bis zum Spätsommer 1949 bei der Großmutter und zog nach deren Tode zur Angeklagten. Sie hatte bereits 1948 ein Verhältnis zu einem verheirateten, 29 Jahre älteren Kaufmann unterhalten, aus dem sie schwanger wurde. Sie vertraute sich der Angeklagten bei der Übersiedlung an und teilte ihr auch die Schwangerschaft mit. Die Angeklagte stand einer zukünftigen Eheschließung ihrer Tochter mit dem Kaufmann zunächst ablehnend gegenüber, stellte dann aber ihre Bedenken zurück. Gleichwohl duldete sie anfänglich nicht, daß er über Nacht in ihrer Wohnung blieb und im Zimmer der Tochter schlief, sondern gestattete nur Besuche bei Tage und gegen I BGHSt. 6, 46 = BGH NJW 1954, 766 = BGH MDR 1954, 433 1954,508 (Beschl. v. 17.2.1954 - GrS St 3/53).

= BGH JZ

2 In der Fassung vom 25.Juni 1900. Geändert durch das 1.StrRG vom 25.Juni 1969 und neu gefaßt durch das 4.StrRG vom 23.November 1973. 3 § 180 Abs. 1 StGB a.F. (ebenfalls in der Fassung vom 25.Juni 1900) bestimmte, daß eine Kuppelei beging, wer gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz durch seine Vermittlung oder durch Gewährung oder Verschaffung von Gelegenheit der Unzucht Vorschub leistete.

2

1. Abschnitt: Einführung in die Problematik (BGHSt. 6, 46)

Abend. Sie blieb bei dieser Haltung auch, als er mehrfach ausdrücklich forderte, über Nacht bei der Tochter bleiben zu dürfen. Erst als dieser Ende März 1950 rechtskräftig geschieden war, gestattete ihm die Angeklagte auf sein wiederholtes Drängen, von nun an im Zimmer der Tochter zu übernachten, die inzwischen im achten Monat schwanger war. Nach Rechtskraft des Scheidungsurteils haben sich die beiden verlobt. 4 Zu der für unsere Zwecke allein interessierenden Frage, ob die angeklagte alleinstehende Mutter aufgrund ihres Verhaltens dem geschlechtlichen Verkehr ihrer verlobten Tochter durch bloßes Unterlassen oder aber durch tätiges Handeln Vorschub geleistet hat, führte der Große Strafsenat aus: "Die Angeklagte hat das Verbot des Übernachtens im Hause nicht länger aufrechterhalten und hat dem G. (scil. Kaufmann) auf sein wiederholtes Drängen schließlich 'gestattet', bei der Tochter zu übernachten. Dieses Verhalten kann sachgemäß nur dahin beurteilt werden, daß sie es nunmehr entgegen ihrer Rechtspflicht unterließ, ihr Verbot noch länger durchzusetzen, und das gemeinsame Übernachten von jetzt ab duldete ... Die Rechtsprechung neigt hier, was die Frage angeht, ob ein Tun oder ein Unterlassen vorliegt, gelegentlich zur formalen Überbetonung einer einzelnen Verhaltensweise. Es kann jeweils nur auf den Schwerpunkt der Vorweifbarkeit ankommen. Auch braucht nicht jede 'Billigung' des unzüchtigen Verkehrs schon eine Förderung durch tätiges Handeln zu sein."s Damit wird deutlich, daß sich die Bewältigung der Abgrenzungsproblematik zwischen den Verhaltensformen Tun und Unterlassen für den Bundesgerichtshof offensichtlich aus der Anwendung der Formel vom "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit" ergibt.

4

5

BGHSt. 6, 46, 47 f. BGHSt. 6, 46, 58 f.

2. Abschnitt

Bedeutung der Formel "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit" An dieser Stelle soll nun untersucht werden, welche Bewandtnis es mit dieser Formel vom "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" im Verständnis der Rechtsprechung auf sich hat, also welche Bedeutung mit ihr verbunden ist. Dazu bedarf es aber zunächst einer eingehenden Erörterung des Begriffs der "Vorwerfbarkeit" .

A. Begriff der "Vorwerlbarkeit" Unter diesem Gesichtspunkt harren zwei Fragen einer Klärung. Zum einen, welche rechtliche Bedeutung dem Terminus "Vorwerfbarkeit" innerhalb des Strafrechtssystems grundsätzlich zukommt, und zum anderen, ob das so gewonnene Ergebnis auch auf das "Schwerpunktkriterium" des Bundesgerichtshofes 1 im Rahmen der Abgrenzungsproblematik unmittelbar oder wenigstens mittelbar übertragbar ist oder aber ob sich eine derartige Übernahme nicht geradezu verbietet. I. Bedeutung im strafrechtlichen Sinne

In diesem Zusammenhang ist auf einen Beschluß des Großen Senats für Strafsachen aus dem Jahre 1952 hinzuweisen. Dort heißt es u.a.: "Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. "2

Diese Aussage, daß Schuld im Sinne von Vorwerfbarkeit zu verstehen sei, wurde von seiten der Rechtsprechung wiederholt bestätigt. 3

I

2 3

BGHSt. 6, 46, 59. BGHSt. (GrS) 2, 194,200. BGHSt. 10,259,262; BGH JR 1958, 28; BayObLG JZ 1974, 338.

4

2. Abschnitt: Bedeutung der Fonnel "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit"

Auch die strafrechtliche Lehre befürwortet ganz überwiegend eine derartige Gleichstellung von Schuld und Vorwertbarkeit. 4 Ihr liegt der "normative" Schuldbegriff zugrunde, wonach in der Schuld eine Wertungsstufe des Delikts zu erblicken sei, bei der es darum gehe, ob dem Täter das tatbestandsmäßigrechtswidrige Verhalten vorgeworfen werden könne. 5 Hierunter sind zudem diejenigen Autoren einzuordnen, für die Schuld Vorwertbarkeit der Tat mit Rücksicht auf die darin betätigte rechtlich mißbilligte Gesinnung bedeutet. 6 Einige Strafrechtswissenschaftler meinen hingegen, die Vorwertbarkeit könne nur die Folge der Schuld, nicht aber diese selbst sein. 7 Insgesamt gilt es, für Judikatur und Literatur eine dahingehende Übereinstimmung festzuhalten, daß sich die strafrechtliche Bedeutung des Begriffs "Vorwertbarkeit" prinzipiell auf den Bereich der Schuld erstreckt, zugleich aber auch auf diese Deliktsstufe beschränkt bleibt. 11. Geltung der strafrechtlichen Bedeutung für die Schwerpunktformel?

Im Anschluß an diese Erkenntnis stellt sich die Frage, ob dem Ausdruck "Vorwertbarkeit" bezüglich der Unterscheidungsproblematik ebenfalls diese grundsätzliche strafrechtliche Bedeutung beigemessen wird bzw. beizumessen ist, so daß bei der Handhabung der Formel "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit" für die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen Überlegungen zur Schuld im Vordergrund stünden. Eine dahingehende Interpretation, die Vorwertbarkeit auch hier als ein Synonym zur Schuld auszulegen, erweckt jedoch erhebliche Bedenken. Warum sollte die Judikatur die Feststellung, ob für die strafrechtliche Würdigung des Täterverhaltens ein Tun oder ein Unterlassen relevant ist, mit Schulderwägun4 Z.B. v. Frank, FS-Gießen, 1907, 519; ders., StGB, 18.Aufl. 1931, Vor § 51 Anm.I1 1; zu Dohna, ZStW Bd. 32 (1911), 323, 326 LV.m. Fn. 7; Goldschmidt, FGv. Frank, 1930, 428, 431 ff.; Armin Kaufmann, Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959,138; Welzel, Strafrecht, 1l.Aufl. 1969, S. 138 ff.; ders., JZ 1952, 340, 340 f.; Hirsch, in: Leipziger Kommentar (LK), StGB, 10.Aufl. 1985, Vor § 32 Rdn. 171; BaumannIWeber, A1lg. Teil, 9.Aufl. 1985, § 23 III 1; Lackner, StGB, 19.Aufl. 1991, Vor § 13 Anm. 4 a) aa); Tröndle, in: Dreherrrröndle, StGB, 45.Aufl. 1991, Vor § 13 Rdn. 28; Küpper, Grenzen der nonnativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, 148 f. 5 Vgl. nur LK-Hirsch (Fn. 4), Vor § 32 Rdn. 171.

6 Gallas, ZStW Bd. 67 (1955), 1, 45; lescheck, Lehrbuch, A1lg. Teil, 4.Aufl. 1988, S. 379; Wessels, Allg. Teil, 20.Aufl. 1990, § 10 I 3. 7 Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, 1. Aufl. 1961 (2. unveränderte Aufl. 1976), 178 f.; 0110, ZStW Bd. 87 (1975), 539, 581 f.; Lenckner, in: Schönke/Schröder (S/S), StGB, 23.Aufl. 1988, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 114.

A. Begriff der "Vorwerfbarkeit"

5

gen überfrachten, bevor sie nicht im einzelnen Fall zuvor geklärt hat, ob das Handeln oder Unterlassen überhaupt die dem Deliktsmerkmal der Schuld vorausgehenden Deliktsstufen der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit erfüllt? Es erscheint daher angebracht, um der vom BGH bezweckten Intention gerecht zu werden, den Begriff "Vorwerfbarkeit" innerhalb des Schwerpunktkriteriums in einem anderen Sinn zu verstehen. 1. Verstiindnis des BGH im "I.Kuppelei/all" (BGHSt. 6,46)

Hierzu bedarf es zunächst einer Klärung der Frage, wie der BGH selbst im "l.Kuppeleifall" den Begriff der "Vorwerfbarkeit" versteht. Es wurde bereits gezeigt (s. oben im 1. Abschnitt) , daß der Große Strafsenat in dieser Entscheidung, ausgehend von seiner - nicht nachgewiesenen - Behauptung, die Rechtsprechung neige hinsichtlich der Frage, ob ein Tun oder Unterlassen vorliegt, gelegentlich zur formalen Überbetonung einer einzelnen Verhaltensweise - hier wäre der Zusatz angebracht: innerhalb eines größeren Gesamtvorgangs -, ohne jede Begründung die These aufgestellt hat, es könne jeweils nur auf den "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" ankommen. 8 Aus diesen Ausführungen kann zwar die Schlußfolgerung gezogen werden, daß der BGH im Hinblick auf die Entscheidung der Abgrenzungsproblematik eher zu einer komplexen Betrachtung des Gesamtgeschehens und des Täterverhaltens als zu einer Einzelbetrachtung der Vorgänge und der Elemente im Täterverhalten tendiert. Da jedoch keine weiteren Angaben zur näheren Konkretisierung des Merkmals der "Vorwerfbarkeit" erfolgen, bleibt allerdings letztlich offen, welche Bedeutung mit ihm einhergeht und welche Maßstäbe und Gesichtspunkte für die Bestimmung dieses Begriffs maßgeblich sind. Es kann somit lediglich festgehalten werden, daß sich Anhaltspunkte für die ausschließliche Einbeziehung von Schulderwägungen seitens des Großen Strafsenats im " 1. Kuppeleifall " nicht finden lassen. 2. "Schwerpunklformel" -Rechtsprechung In diesem Zusammenhang erscheint auch eine Auseinandersetzung mit den dem " 1. Kuppeleifall " des BGH nachfolgenden Entscheidungen, die sich ebenfalls ausdrücklich mit der Abgrenzung zwischen aktivem Tun und Unterlassen unter Zuhilfenahme der "Schwerpunktformel " beschäftigt haben, als äußerst zweckmäßig. 8

BGHSt. 6, 46, 59.

6

2. Abschnitt: Bedeutung der Fonnel "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit"

Es ist nämlich so, daß es ihnen offenkundig - wie die nachfolgende Übersicht verdeutlichen wird - an einer einheitlichen Terminologie mangelt. So wird das Schwerpunktkriterium trotz verschiedentlicher Bezugnahme auf den Beschluß des Großen Senats in Strafsachen in differenzierenden und verschiedenartigen Ausformulierungen angewandt. a) In einem Urteil aus dem Jahre 1958 befaßte sich das OLG Stuttgart, wie schon zuvor der BGH im " 1. Kuppeleifall " , mit einer schweren Kuppelei von Eltern in bezug auf die verlobten Kinder gemäß § 181 Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F. 9 Somit ergibt sich die Bezeichnung als "2.Kuppeleifall". Es trat die Frage auf, ob die angeklagten Eltern dem Treiben des verlobten Paares nur durch Unterlassen oder aber durch positives Tun Vorschub geleistet hatten. Zwar wurde festgestellt, daß das Paar in Ehebetten in einem Zimmer der elterlichen Wohnung habe schlafen dürfen, was darauf hindeutet, daß die Angeklagten ihnen diese Möbelstücke überlassen hätten; dann hätte sich ihr Vorschubleisten nicht in einem Unterlassen erschöpft. Das OLG Stuttgart meinte jedoch, dies könne dahinstehen, "da die Frage, ob ein Tun oder Unterlassen gegeben war, danach zu beantworten ist, welche Seite des dabei geübten Verhaltens überwiegt (BGHSt. 6, 59). Auch wenn die Angeklagten in der angegebenen Weise durch tätiges Handeln zur Unzucht beigetragen haben sollten, läge der Schwerpunkt ihres Verhaltens darin, daß sie das Zusammenwohnen hinnahmen, daß sie es also unterließen, dagegen einzuschreiten. "10 Damit gelangt das OLG Stuttgart zur Subsumtion des Sachverhalts unter die Voraussetzungen eines Unterlassungsdelikts aufgrund des Abgrenzungsmerkmals "Schwerpunkt des Täterverhaltens " . b) In einem unveröffentlichten Beschluß aus dem Jahre 1961 hat der 4.Strafsenat des BGH,l1 ebenfalls hinsichtlich einer schweren Kuppelei der Eltern gegenüber ihren Kindern i.S.v. § 181 Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F., weshalb sich die Kennzeichnung als "3.Kuppeleifall" anbietet, zu der Frage, ob die angeklagte Mutter aufgrund ihres Verhaltens dem Geschlechtsverkehr ihrer beiden Töchter in der Wohnung mit den beiden Männern, mit denen sie jeweils ein Liebesverhältnis unterhielten, und damit der Unzucht, durch positives Tun oder Unterlassen, Vorschub geleistet hat, wie folgt Stellung genommen: "... liegt der Schwerpunkt des Verhaltens der Angeklagten in einem Dulden. Es handelt sich also um eine Unterlassungstat. Allerdings hat die Angeklagte im Falle der Tochter ... dieser einmal den Hausschlüssel gegeben. Wie der Bundesgerichtshof jedoch ausgesprochen hat, dürfen einzelne Ver-

10

OLG Stuttgart FamRZ 1959,74 (Urt. v. 17.10.1958 - 1 Ss 60S/58). s. vorherige Fn. 9.

11

BGH, unveröffentlichter Beschluß vom 15.12.1961 - 4 StR 376/61.

9

A. Begriff der "Vorwertbarkeit"

7

haltensweisen nicht in äußerlicher Betrachtung überbetont werden. Entscheidend ist vielmehr der Schwerpunkt des vorwerjbaren Verhaltens. Nicht jede Billigung oder jedes Gestatten ist ohne weiteres als eine Förderung durch Tun anzusehen (BGHSt. 6, 46, 58 f.)." Der 4.Strafsenat gelangt demzufolge mit Hilfe der Kriterien "Schwerpunkt des Täterverhaltens" und "Schwerpunkt des vorwerfbaren Verhaltens" zur Anwendung der Grundsätze für Unterlassungstaten. c) In einem Urteil des OLG Karlsruhe aus dem Jahre 198012 ging es darum, ob der Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung gemäß §§ 222, 230, 52 StGB zu bestrafen war, weil er als für das Kraftfahrzeug Verantwortlicher die Führung des Pkw's durch eine für ihn erkennbar - alkoholbedingt - absolut fahruntüchtige Person zugelassen und damit die Herbeiführung eines tödlichen Unfalls ermöglicht hatte. Es stellte sich dann die Frage, ob in diesem als "Steuerüberlassungsfall" zu charakterisierenden Sachverhalt die Überlassung des Steuers an den Fahruntüchtigen durch den für das Fahrzeug verantwortlichen Halter und Fahrzeuginsassen ein positives Tun oder lediglich ein pflichtwidriges Unterlassen gebildet hat. Hierzu führte das OLG Karlsruhe aus, daß der angeklagte Fahrzeughalter das zur Unfallfahrt des fahruntüchtigen Fahrzeuglenkers führende "Gesamtgeschehen mitgetragen, insbesondere bei Antritt der Fahrt diesem das Steuer überlassen und sich auf den Beifahrersitz gesetzt (hat). Durch dieses Tun schuf er eine während der ganzen Fahrt andauernde Gefahrenlage, die sich in dem tödlichen Unfall konkretisiert hat. Der Schwerpunkt des Tilterverhaltens liegt somit auf dem positiven Tun des Angeklagten als verantwortlicher Halter, durch das er den zum Unfall führenden Geschehensablauf aktiv mit ausgelöst hat und das für den Geschehensablauf kausal geworden ist. "13 Das OLG Karlsruhe zieht also das Kriterium "Schwerpunkt des Täterverhaltens" zur Entscheidung der Abgrenzungsfrage heran und hält aufgrund dessen das positive Tun für maßgeblich. d) In einem Beschluß aus dem Jahre 1982, der die Verurteilung einer Mutter wegen Körperverletzung mit Todesfolge nach § 226 StGB, begangen an ihrem Kinde, zum Gegenstand hatte und deshalb als "Mutterfall" zu be12 OLG Karlsruhe GA 1980, 429 = OLG Karlsruhe NJW 1980, 1859 (Urt. v. 7.2.1980 - 1 Ss 319/79). 13 OLG Karlsruhe GA 1980, 429, 431. Vgl. auch den 1.Leitsatz dieser Entscheidung auf S. 429: "Die Überlassung des Steuers an den Fahruntüchtigen ist positives Tun, nicht lediglich pflichtwidriges Unterlassen."

8

2. Abschnitt: Bedeutung der Fonnel "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit"

zeichnen ist, sah der 4.Strafsenat des BGH das strafbare Verhalten der Mutter hinsichtlich der Körperverletzung in einem Unterlassen, "denn das Schwergewicht ihrer Tat liegt nicht in dem Verabreichen der Nahrung, an der ihr Kind erstickte, sondern darin, daß sie das Kind zuvor nicht regelmäßig ernährt und gepflegt und damit den Verfall seines körperlichen Zustandes herbeigeführt hatte, der die Ursache des Erstickungstodes war. "14 Das Gericht gelangt in diesem Fall also mittels einer weiteren Formulierungsvariante "Schwergewicht ihrer (der Täterin) Tat" zur Lösung der Abgrenzungsfrage, und zwar vorliegend zur Annahme eines Unterlassens. e) In einem Urteil aus dem Jahre 1983 hatte sich das OLG Düsseldorf mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die angeklagte Ärztin wegen einer Körperverletzung mit Todesfolge gemäß § 226 StGB zu verurteilen war, wobei darüber Unklarheiten herrschten, ob sie den Tatbestand durch eine Begehung oder durch eine Unterlassung verwirklicht hatte. 15 Zur Abgrenzungsproblematik führte das OLG Düsseldorf zunächst allgemein aus: "Diese rechtliche Würdigung des Verhaltens der Angeklagten läßt nicht erkennen, ob die Strafkammer der Ansicht war, der Tatbestand sei durch ein Handeln oder durch ein Unterlassen begangen worden. Die Zuordnung eines Täterverhaltens zum Bereich der Begehungs- bzw. der Unterlassungstat ist keine Tatsachen- 'sondern eine Wertungsfrage' (vgl. Blei, Strafrecht AT, 17.Aufl., S. 83). Angesichts dessen, daß die Tatbestandsverwirklichung durch Handeln und durch Unterlassen an jeweils unterschiedliche rechtliche Voraussetzungen geknüpft ist und daß sich auch die rechtlichen Folgen unterscheiden können (vgl. § 13 in Verbindung mit § 49 Abs. 1 StGB), muß sich ein Tatrichter Klarheit darüber verschaffen, ob in dem Verhalten eines Angeklagten eine Begehungs- oder eine Unterlassungstat zu erblicken ist. Nach dem von der Rechtsprechung angewendeten Verfahren ist für die Unterscheidung von Tun und Unterlassen der Schwerpunkt des Tiiterverhaltens zu ermitteln (vgl. BGHSt 6, 46, 59). Dementsprechend ist die Zuordnung vorzunehmen. "16

14

BGH bei Holtz, MDR 1982, 624 (BeschI. v. 18.3.1982 - 4 StR 12/82).

15 OLG Düsseldorf JMBI. NW 1983, 199 (Urt. v. 3.5.1983 - 2 Ss 91/83).

= OLG

Düsseldorf MedR 1984, 28

16 OLG DüsseJdorf JMBI. NW 1983, 199, 200. S. auch den Leitsatz dieser Entscheidung auf S. 199: "In Fällen, in denen ein strafrechtlicher Tatbestand sowohl durch ein Handeln als auch durch ein Unterlassen verwirklicht worden sein kann, ist vom Tatrichter vor allem im Hinblick auf die möglichen unterschiedlichen Rechtsfolgen im Urteil eindeutig darzulegen, ob eine Begehungs- oder eine Unterlassungstat angenommen worden ist. "

A. Begriff der "VoIWertbarkeit"

9

Eine Körperverletzung in Form der Gesundheitsbeschädigung fand das OLG Düsseldorf dann darin, daß das an diabetes mellitus erkrankte Kind, als es der angeklagten Ärztin vorgestellt wurde, in seinem Insulinhaushalt noch ausgeglichen war, was sich dann aber nachhaltig änderte, als die Mutter des zuckerkranken Kindes im Vertrauen auf einen Therapieerfolg den Behandlungsanweisungen der angeklagten Ärztin folgte und bei ihrem Kind fortan jede Insulingabe unterließ, weshalb es in concreto zu dem Schluß kam: "Bei dieser rechtlichen Ausgangslage liegt das Schwergewicht des Tliterverhaltens eindeutig bei einer Begehung, nämlich der folgenschweren Verhaltensanweisung an die Eltern. "17 Das OLG Düsseldorf löst demnach in dieser als "Diabetesfall" zu bezeichnenden Entscheidung die Abgrenzungsfrage mittels der Formel "Schwerpunkt bzw. -gewicht des Täterverhaltens" und betont dabei deren Charakter einer "Wertungsfrage" ,18 um so im konkreten Fall zur Annahme einer Begehungstat zu gelangen. f) Der Kreis der Entscheidungen schließt sich mit einem Urteil des OLG Frankfurt aus dem Jahre 1987, in dem es um eine Straftat nach § 47 Abs. 1 Nr.2 AuslG ging}9 Nach dieser Vorschrift wird ein Ausländer u.a. bestraft, der sich im Geltungsbereich des AuslG aufhält, ohne eine erforderliche Aufenthaltserlaubnis (§ 5 Abs. 1) oder Duldung (§ 17 Abs. 1) zu besitzen. Dem Angeklagten wurde für den Tatzeitraum vorgeworfen, trotz Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland verblieben zu sein, anstatt seiner Verlassenspflicht gemäß § 12 Abs. 1 S. 1 AuslG nachzukommen. Dies führte das Gericht zu dem Schluß: "Der Schwerpunkt der Vorweifbarkeit liegt mithin auf dem Unterlassen der Ausreise. "20 Das OLG Frankfurt benutzt also für diesen als" Ausreisefall" zu betitelnden Sachverhalt erstmalig wieder die Schwerpunktformel in ihrer ursprünglichen 17 OLG Düsseldorf JMBl. NW 1983, 199,201. Das OLG Düsseldorf weist außerdem darauf hin, daß die damit angebahnte Beeinträchtigung des Wohlbefmdens des Kindes die Angeklagte noch dadurch verstärkt habe, daß sie die sichtlich gehegten Zweifel der Eltern an der Zweckmäßigkeit der vorgeschlagenen Behandlung zerstreute und sie davon abhielt, dem Kind wieder Insulin zu spritzen oder das Kind in ein Krankenhaus zu bringen. Diese Verhinderung einer offensichtlich erfolgsversprechenden Rettungshandlung würde eine zweite Variante der Gesundheitsbeschädigung i.S.v. § 223 StGB durch die Angeklagte darstellen.

18 Die vom OLG Düsseldorf zitierte Seitenzahl ist im übrigen falsch, denn diese Aussage Blei's befmdet sich auf S. 278 seines Studienbuches (17.Aufl. 1977).

19 OLG Frankfurt GA 1987, 549 = OLG Frankfurt MDR 1988, 250 Frankfurt StrVert 1988, 301 (Urt. v. 21.8.1987 - 1 Ss 488/86). w OLG Frankfurt GA 1987, 549, 551.

=

OLG

10

2. Abschnitt: Bedeutung der Formel "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit"

Ausarbeitung zur Beantwortung der Abgrenzungsfrage. Im Anschluß hieran prüft es dann die Voraussetzungen eines Unterlassungsdelikts. g) Die bei dieser Übersicht in den einzelnen Entscheidungen aufgetretene terminologische Vielfalt der Umschreibungen für das Schwerpunktkriterium - Schwerpunkt bzw. -gewicht des Täterverhaltens, Schwerpunkt des vorwerfbaren Verhaltens, Schwergewicht der Tat, Schwerpunkt der Vorwertbarkeitist als eindeutiges Indiz für die Richtigkeit der oben bereits angedeuteten These, daß "Vorwertbarkeit" bei der Unterscheidungsproblematik, um dem Verständnis der Judikatur gerecht zu werden, nicht mit Schuld gleichzusetzen ist, anzusehen. Anderenfalls wäre der Begriff der "Vorwertbarkeit" einheitlich herangezogen worden. Für diese Urteile ist allerdings festzustellen, daß sich die Gerichte nicht darum bemüht haben, dieses Merkmal näher zu konkretisieren oder Auslegungsmaßstäbe hierfür anzugeben. Auch unterbleibt eine Begründung dahingehend, wieso gerade die Schwerpunktformel ein taugliches Kriterium zur Lösung der Abgrenzungsproblematik bieten soll; man begnügt sich entweder mit ihrer bloßen Anwendung oder weist auf den Beschluß BGHSt. 6, 59, hin. Zunächst genügt jedoch die Erkenntnis, daß in diesen Entscheidungen keine Anhaltspunkte für eine ausschließliche oder ausdrückliche Berücksichtigung von Schulderwägungen vorzufmden sind.

3. Interpretation im Schrifttum Betrachtet man die kritischen Stellungnahmen im Schrifttum, in denen sich die Autoren explizit Gedanken über die Bedeutung des Begriffs "Vorwertbarkeit" im Rahmen der Schwerpunktformel der Judikatur gemacht haben, dann zeichnet sich ab, daß sie auch in diesem Zusammenhang von seinem grundsätzlichen strafrechtlichen Sinn ausgehen, ihn also als dem Schuldbereich zugehörig einstufen.

Spendei meint beispielsweise, es bleibe offen, warum gerade die Vorwerfbarkeit, ein für die Schuldlehre wesentlicher und normativer Begriff, für die Auslegung des objektiven Tatbestandes und damit für die Entscheidung einer Tatsachenfrage ein Kriterium abgeben soll.21 In gleicher Richtung argumentiert auch Ulsenheimer, wenn tur ihn die rechtliche Wertung eines Verhaltens unter dem Schwerpunktkriterium einen

21

Spendel, FS-Eb. Schmidt, 1961, 183, 191.

A. Begriff der "Vorwertbarkeit"

11

"methodischen Fehler" darstellt, da die Vorwerfbarkeit als Element der Schuld erst festzustellen sei, wenn die Tatbestandsmäßigkeit vorliege. 22 4. Sprachliche Deutung

Versucht man den Terminus "Vorwerfbarkeit " von seinem allgemeinen sprachlichen Verständnis her, also untechnisch und unjuristisch zu deuten, so ist vor allem an den synonymen Begriff der "Vorhaltung" zu denken. Für den Sprachgebrauch macht es letztlich keinen Unterschied, ob man den Ausdruck der "Vorwerfbarkeit" oder den der "Vorhaltung" benutzt, denn die Bedeutung ist identisch. Zu berücksichtigen sind hier auch Formulierungen wie "das Anlasten" oder "das zur Last legen bzw. fallen". 5. Fazit

Aus den vorherigen Ausführungen ergibt sich, daß in Judikatur und Literatur eine Gleichstellung von Vorwerfbarkeit und Schuld ganz herrschend ist, sich also die strafrechtliche Bedeutung des Begriffs "Vorwerfbarkeit" prinzipiell auf den Bereich der Schuld erstreckt und zugleich durch diesen beschränkt wird. Zur Handhabung der Formel "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" als Instrument rur die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen ist ein derartiges Verständnis jedoch unangebracht, d.h. im Gegensatz zur Interpretation durch das Schrifttum ist dem Ausdruck "Vorwerfbarkeit" im Rahmen der Unterscheidungsproblematik diese grundsätzliche strafrechtliche Bedeutung nicht beizumessen. Hier stehen somit keinesfalls Überlegungen zur Schuld im Vordergrund.

22 U/senheimer, Verhältnis zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten, 1965, 95. Vgl. hierzu auch Sameluck, Unterscheidung des Begehungsdelikts vom Unterlassungsdelikt, Diss. 1976, 131, der darauf hinweist, daß der Begriff "Vorwertbarkeit" im Felde der subjektiven Zurechnung liege, es aber auf diese zunächst nicht ankomme, weshalb sich die Überlegungen zum Schwerpunkt der Vorwertbarkeit an einer falschen Wertungsebene orientierten. S. zusätzlich noch We~, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, 108 und Binavince, Vier Momente der Fahrlässigkeitsdelikte, 1969, 44. Differenzierend Canaris, lZ 1963, 655, 656, der den Terminus der "Vorwertbarkeit" durch den des "Unrechtsgehalts" ersetzen will, und Kahne, Geschäftstüchtigkeit oder Betrug?, 1978, 28 f., der gegenüber der Schwerpunktformel den Vorwurf der unzulässigen Einbeziehung von Rechtswidrigkeitselementen erhebt. 3 Stoffers

12

2. Abschnitt: Bedeutung der Fonnel "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit"

B. Bedeutung der Fonnel "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" Im Anschluß an die zuvor getroffene Feststellung, welche Bedeutung dem Begriff der "Vorwerfbarkeit" im Rahmen der Schwerpunktformel nicht zukommt, kann nun die Frage beantwortet werden, welche Funktion ihm in diesem Zusammenhang tatsächlich zukommt. Auf diese Weise wird zugleich deutlich, welche Bewandtnis es mit der Formel vom "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" im Verständnis der Rechtsprechung insgesamt auf sich hat. Wie bereits erwähnt, finden sich in den Entscheidungen der Rechtsprechung, die sich zur Lösung der Abgrenzungsfrage der Schwerpunktformel bedienen, keine Anhaltspunkte für eine ausschließliche oder ausdrückliche Berücksichtigung von Schulderwägungen durch die Gerichte. Betrachtet man die Entscheidungen genauer, so fällt vielmehr auf, daß die Anwendung des Schwerpunktkriteriums zumeist, unter Einbeziehung des jeweiligen Sachverhalts, auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit des entsprechenden Delikts erfolgt. Das OLG Stuttgart im "2.Kuppeleifall" und der 4.Strafsenat des BGH im "3.Kuppeleifall" ziehen jeweils das Schwerpunktkriterium heran, um zu entscheiden, ob das Vorschubleisten der Unzucht durch ein Tun oder durch ein Unterlassen des Täters verwirklicht wurde, also bei der Prüfung des Tatbestands der schweren Kuppelei gemäß § 181 Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F.23 Erst im Anschluß daran werden die im einzelnen Fall problematischen Voraussetzungen des unechten Unterlassungsdelikts - Rechtspflicht zum Handeln, Handlungsmöglichkeit, Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens, Vorsatz - erörtert. 24 Denselben Weg schlagen auch der 4.Strafsenat des BGH im "Mutterfall" und das OLG Düsseldorf im "Diabetesfall" ein, denn in beiden, das Delikt der Körperverletzung mit Todesfolge gemäß § 226 StGB betreffenden Urteilen wird jeweils zur Beantwortung der Frage, ob der Tatbestand - eine Körperverletzung - durch ein Handeln oder Unterlassen begangen wurde, die Schwerpunktformel bemüht und die Untersuchung der sonstigen Deliktsvoraussetzungen - Rechtswidrigkeit, Vorsatz - hieran angeschlossen. 25 Gleiches kann für den" Ausreisefall" des OLG Frankfurt gesagt werden, weil dort erst infolge des Abstellens auf das Unterlassen aufgrund des Schwerpunktmerkmals die mit der Einordnung als Unterlassungsdelikt verbundenen Probleme

23 OLG Stuttgart FamRZ 1959, 74; BGH, unveröffentl. Beschl. v. 15.12.1961 4 StR 376/61. 24 s. OLG Stuttgart FamRZ 1959, 74, 74 f.; BGH, unveröffentl. Beschl. v. 15.12.1961 - 4 StR 376/61.

2S

201.

Vgl. BGH bei Holtz, MDR 1982, 624; OLG Düsseldorf JMBl. NW 1983, 199,

B. Bedeutung der Fonnel "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit"

13

auf der Tatbestands-, Rechtswidrigkeits- und Schuldebene behandelt werden. 26. 27 Damit bleibt allerdings die Frage unbeantwortet, weshalb nun in diesen Fällen der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit bzw. des Verhaltens gerade auf einem Tun oder Unterlassen liegen soll; die Gerichte treffen diese Entscheidung ohne jede Begründung. Nach dem zuvor Gesagten wird man der vom BGH - und der von den sich ihm angeschlossenen Instanzgerichten - bezweckten Intention im Hinblick auf die Bedeutung des Begriffs der "Vorwerfbarkeit" - und zugleich der Formel vom "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" insgesamt - am besten mit folgender Aussage gerecht: Wenn in den Urteilsgründen das Schwerpunktkriterium zur Entscheidung der Abgrenzungsproblematik angewandt wird, so hat der Begriff "Vorwerfbarkeit" - in Verbindung mit dem Terminus "Schwerpunkt" lediglich die Bedeutung einer Legitimierung der bereits zuvor anderweitig getroffenen Entscheidung, welche Verhaltensweise für die Deliktsprüfung herangezogen wird, ob also für die strafrechtliche Beurteilung des Täterverhaltens an ein Tun oder Unterlassen anzuknüpfen ist. Es ist nämlich so, daß die Gerichte, sofern sich im konkreten Fall die Frage stellt, ob ein Handeln oder Unterlassen strafrechtlich bedeutsam ist, derart vorgehen, daß sie das Geschehen bzw. das Verhalten des Täters zuerst im Wege einer gedanklichen Vorprüfung sowohl unter dem Gesichtspunkt einer Begehungstat als auch unter dem Gesichtspunkt einer Unterlassungstat in den verschiedenen Deliktsstufen der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld durchprüfen. Mit der in den Entscheidungsgründen vorzufindenden Formel "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" wird dann zum Ausdruck gebracht, daß aus dem Gesamtgeschehen I.. zw. Gesamtverhalten des Täters mittels Wertung "der Punkt" herausgegriffen wurde, an den die strafrechtliche Prüfung aufgrund seiner "Schwere" anzuknüpfen hat und ein Abstellen auf die Einzelelemente im Täterverhalten vermieden wurde. Danach erfolgt schließlich noch - allerdings mehr pro forma - die Prüfung derjenigen Verhaltensweise auf ihre volle Deliktsqualität hin, die für strafrechtlich relevant gehalten wurde - das Tun oder das Unterlassen -, während die für strafrechtlich unerheblich befundene Verhaltensweise von vornherein ausgeschieden wird. Es ist also so, daß man sich über das Ergebnis, die Strafbarkeit oder Straflosigkeit eines Verhaltens im stillen schon klar ist, ehe man beginnt, das Problem zu lösen, ob jemand etwas getan oder etwas unterlassen hat. 26

OLG Frankfurt GA 1987, 549, 551 ff.

Im "1.Kuppeleifall" des BGH ist die Besonderheit zu beachten, daß es sich hierbei um eine Entscheidung des Großen Strafsenats handelt und im "Steuerüberlassungsfall" des OLG Karlsruhe, daß diesem eine Verurteilung aufgrund alternativer Sachverhalts feststellung zugrundeliegt. '];I

3. Abschnitt

Herleitung der von der Rechtsprechung angewandten Fonnel "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit" Im Anschluß an die Aufklärung über die Bedeutung der Formel "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" soll in diesem Abschnitt der Frage nachgegangen werden, ob diese erstmalig vom Großen Strafsenat des BGH im "1.Kuppeleifall"l angewandte Formel zur Abgrenzung von positivem Tun und Unterlassen ihren Ursprung im strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum findet. 2 Der BGH selbst hat sich hierzu nicht geäußert. Zu diesem Zweck erscheint jedoch eine Auseinandersetzung mit den Ausführungen Mezger's - sowie der ihm in der Lehre zustimmenden Autoren - zur Unterscheidungsproblematik angebracht. A. Darstellung der Abgrenzungsmethode Mezger's Mezger beschäftigt sich erstmals zu Beginn der vierziger Jahre ausdrücklich mit der Frage der Abgrenzung von Tun und Unterlassen. Er führt dazu aus, daß ganz unabhängig vom positiven Tun des Täters ein Fall zur Unterlassung gestellt werden könne, wenn sich der Vorwurf nicht gegen das Tun, sondern gegen das Nichttun richte, weil es entscheidend auf die Richtung des Vorwurfs, also auf die Richtung der Wel1ung ankomme. 3 , 4

I

BGHSt. 6, 46, 59.

Entscheidungen des Reichsgerichts, die ein konkretes Merkmal für die Abgrenzung zwischen Handeln und Unterlassen erwähnen, existieren nicht. 3 Mezger, Strafrecht, Grundriß, 2.Aufl. 1941, S. 48 f., 3.Aufl. 1943, S. 52. Andeutungsweise bereits ders., Strafrecht, Lehrbuch, 2.Aufl. 1933, Vorwort S. VII, 3.Aufl. 1949, Vorwort S. XIX, wo er nämlich mit der Begründung zur Annahme einer Unterlassungstat gelangt, daß der Vorwurf nicht gegen das Tun, sondern gegen das Unterlassen gerichtet sei. 4 Ähnlich schon früher Exner, FG-v. Frank, 1930, 569, 586, der an dieser Stelle vom Vorliegen eines Begehungsdelikts ausgeht, weil er dem Täter sein Handeln zum Vorwurf macht und zugleich meint, "die Tatsache, daß dieses Handeln nur deshalb vorwerfbar ist, weil es gewisse Eigenschaften nicht zeigt oder mit einem gewissen anderen Verhalten nicht verbunden ist, ändert an dieser Auffassung nichts". 2

B. Zustimmung in der Lehre

15

Später konkretisiert Mezger seine Auffassung dahingehend, daß die Frage, wie und nach welchen Grundsätzen sich im Einzelfall Begehungs- und Unterlassungstat voneinander unterscheiden, nicht nach der äußeren Gestaltung des einzelnen Falles, sondern allein danach beantwortet werden könne, wogegen der rechtliche Vorwurf sich jeweils richtet. 5 Bei der Unterscheidung von Begehungs- und Unterlassungstat handele es sich also nicht um eine Tatsachen-, sondern um eine Wertungsfrage. 6 Zudem betont Mezger, daß der Täter zur Begehungstat immer "etwas tun" müsse, während zur Unterlassungstat auch genüge, daß er "etwas nicht tut"; aber auch, wenn er "etwas tut", könne eine bloße Unterlassungstat vorliegen, nämlich wenn sich der Vorwurf nicht gegen dieses "etwas tun", sondern nur gegen das damit verbundene "etwas nicht tun" richte. 7 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Mezger die Abgrenzung zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikt als Wertungsfrage einordnet, die danach zu beantworten ist, gegen welche Verhaltensweise - das Tun oder das Unterlassen - sich der rechtliche Vorwurf jeweils richtet. 8 Eine Begründung für dieses von ihm zur Lösung der Unterscheidungsproblematik entwickelte Verfahren bleibt Mezger allerdings schuldig. 9

B. Zustimmung in der Lehre Hier ist vorrangig Blei zu erwähnen, der sich durch wörtliche Übernahme der von Mezger verfaßten Ausführungen die von diesem vertretene Auffassung zu eigen machte,10 die Unterscheidung zwischen Begehung und Unterlassung

5 Mezger, Allg. Teil, Studienbuch, 2.Aufl. 1948, S. 61 bis zur 9.Aufl. 1960, S. 76; ders., JZ 1958, 281. 6 s. vorherige Fn. 5. 7 Mezger (Fn. 5), Studienbuch, 2.Aufl. 1948, S. 62 bis zur 9.Aufl. 1960, S. 76. 8 Vgl. auch Mezger (Fn. 3), Lehrbuch, 2.Aufl. 1933, 3.Aufl. 1949, jeweils S. 133 Fn. 13 i.V.m. S. 92 Fn.4. Dort weist er darauf hin, daß es von subjektiven - seelischen - Umständen abhängen könne, ob ein Verhalten bei demselben äußeren Geschehen unter den Gesichtspunkt des Begehungs- oder Unterlassungsdelikts fällt. 9 s. hierzu etwa Mezger (Fn. 5), Studienbuch, 2.Aufl. 1948, S. 61 bis zur 9.Aufl. 1960, S. 76 ("deshalb muß man sich klar darüber sein") und ders. (Fn. 5), JZ 1958, 281 ("es kommt darauf an"). 10 In Fortführung von dessen Studienbuch.

16

3. Abschnitt: Herleitung der von der Rechtsprechung angewandten Fonnel

somit wie dieser zunächst allein danach vornahm, wogegen der rechtliche Vorwurf sich jeweils richtet und hierin ebenfalls eine Wertungsfrage sah. 11 Nunmehr zieht Blei zusätzlich das Schwerpunktkriterium des BGH heran, denn er meint, die Wertungsfrage beim Abgrenzungsproblem könne allein danach beantwortet werden, "wogegen der rechtliche Vorwurf sich jeweils richtet, wo der 'Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit' (BGHSt. 6, 59) liegt" .12 Damit ist seiner Ansicht nach zwar nicht viel, aber immerhin soviel gewonnen, wie es gegenüber einem Problem möglich sei, das sich einer an einer Formel orientierten Lösung seinen eigenen Voraussetzungen gemäß entziehe. 13

Baumann, auf den hier ebenso einzugehen ist, weil bei ihm unübersehbare Parallelen zum Lösungsvorschlag Mezger's auftreten, vertritt hinsichtlich der Frage, ob durch den zugrundeliegenden Sachverhalt eine Begehungs- oder unechte Unterlassungstat verwirklicht wird, die Auffassung, daß man jeweils vom strafrechtlich relevanten Erfolg auszugehen habe. Von dort aus sei zurackzugehen und die niichste selbstiindige Ursache dieses Erfolgs aufzusuchen und auf ihren Charakter als Tun oder Unterlassen hin zu untersuchen; nur dann, wenn diese Ursache ein Unterlassen sei, liege ein unechtes Unterlassungsdelikt vor. 14 Im konkreten Fall fragt er deshalb, wogegen sich bei vom Erfolg aus zurackgehender Betrachtung der Vorwurf richtet - worin er ein Wertungsproblem sieht -, gegen die Handlung oder die Unterlassung und hilfsweise, ob für den Erfolg ein positives Tun oder ein Unterlassen ursäch-

11 So Mezger/Blei, Allg. Teil, Studienbuch, 10.Aufl. 1963, S. 74 f. bis zu Blei, Allg. Teil, Studienbuch, 17.Aufl. 1977, S. 277 f. Ausdrücklich zustimmend - unter Berufung auf Mezger - bereits vorher: T. Zimmermann, NJW 1952, 1321, 1322. S. auch SchQnemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, 240, der an dieser Stelle ebenfalls auf die Richtung des rechtlichen Vorwurfs abhebt. 12 Blei, Allg. Teil, Studienbuch, 18.Aufl. 1983, S. 310. Vgl. dazu ders., Allg. Teil, PdW, 6.Aufl. 1970, S. 85 f. bis zur 10.Aufl. 1989, S. 129, wo er meint, für die Unterscheidung zwischen aktivem Tun und garantenpflichtwidrigem Unterlassen müsse der Schwerpunkt des rechtlichen Vorwurfs maßgeblich sein. 13 Blei (Fn. 12), Studienbuch, S. 311. In diesem Zusammenhang ist auch sein Hinweis interessant, mit dem er seinen nonnativen Ansatzpunkt glaubt begründen zu können, daß nämlich zu diesem Abgrenzungsproblem so viele verschiedene Lösungsvorschläge existierten, daß schon diese Tatsache für sich auf das hindeute, wofür auch jede theoretische Überlegung spreche, S. 310. 14 Baumann, Allg. Teil, 1.Aufl. 1960 bis zur 8.Aufl. 1977, jeweils § 16 11 4 d); ders., Strafrechtsfälle, l.Aufl. 1963 bis zur 3.Aufl. 1969, jeweils Fall 15; Baumann/Arzt/Weber, Strafrechtsfälle, 4.Aufl. 1976 und 5.Aufl. 1981, jeweils Fall 15. Eine Begründung für dieses Abgrenzungsverfahren bleibt Baumann jedoch schuldig.

c. Vergleich der Methode Mezger's mit der Schwerpunktformel

17

lich ist. 1S Somit läuft auch Baumann 's Abgrenzungsmethode letztlich auf die Feststellung bzw. Frage hinaus, ob sich der Vorwurf gegen ein Tun oder Unterlassen richtet. 16

c. Vergleich der Methode M~er's mit der Schwerpunktfonnel der Rechtsprechung Für den nunmehr gebotenen Vergleich der Methode Mezger's mit der Schwerpunktformel der Rechtsprechung, um die Frage beantworten zu können, ob die Formel vom "Schwerpunkt der Votwerfbarkeit" tatsächlich auf dem Merkmal "wogegen der rechtliche Vorwurf sich jeweils richtet" beruht, bedarf es zunächst einer Skizzierung des von Mezger entwickelten Kriteriums dahingehend, welche Bedeutung mit ihm einhergeht. I. Bedeutung des Kriteriums von Mezger

Wenn Mezger, wie oben (s. unter A.) dargestellt, die Begehungs- von der Unterlassungstat danach abgrenzen will, wogegen der rechtliche Vorwurf sich jeweils richtet, dann läßt sich dies auf die Formel Gegenstand des rechtlichen Vorwurfs bringen. Er selbst sprach auch schon, wie gesehen, von der "Richtung des Vorwurfs", doch wäre besser von der Zielrichtung des - rechtlichen Vorwurfs die Rede. 1. Strafrechtliche Bedeutung des Begriffs "Vorwurf"

Versucht man die strafrechtliche Bedeutung des Terminus "Vorwurf" zu ergründen, so gelangt man unweigerlich in den Bereich der Schuld, denn die ganz h.M. sieht den Inhalt des Schuldbegriffs - ausgehend von der normativen Schuldtheorie (s. hierzu oben im 2.Abschnitt, A. 1.) - darin, daß dem Täter zum Vorwurf gemacht wird, sich tatbestandsmäßig-rechtswidrig verhalten zu IS Baumann (Fn. 14), Allg. Teil, jeweils § 18 11 1. S. auch ders. (Fn. 14), Allg. Teil, nur 8.Aufl. 1977, § 18 11 1 Fn. 29, wo er betont, die Einordnung stelle eine Werlungsfrage dar und es komme auf das Gesamtbild der Tat an, ob vom Täter eine Gebots- oder Verbots norm übertreten werde. 16 Vgl. allerdings jetzt BaumannIWeber, Allg. Teil, 9.Aufl. 1985, § 16 11 4 cl, § 18 11 1, denn dort findet das zuvor beschriebene Abgrenzungsverfahren keine Anwendung bzw. Erwähnung mehr. Es bleibt aber letztlich offen, mittels welcher Kriterien die Entscheidung, ob die Tatbestandserfüllung auf ein Tun oder Unterlassen zurückgeführt werden kann, zu treffen ist (s. hierzu näher unten im 5.Abschnitt, B. 11. 1. b) bb». Ebenso Baumann/Arz.I/Weber, Strafrechts fälle, 6.Aufl. 1986, Fall 15; s. auch Weber, FS-Oehler, 1985, 83, 85 i.V.m. Fn. 16.

18

3. Abschnitt: Herleitung der von der Rechtsprechung angewandten Fonnel

haben, obwohl er bei Begehung der Tat die Möglichkeit gehabt hätte, sie zu unterlassen, es bei diesem Schuldvorwuif also um die Frage gehe, ob dem Täter die rechtswidrige Tat persönlich vorzuwerfen sei. 17 2. Geltung der strafrechtlichen Bedeutung für die Abgrenzungsmethode Mezger's?

Fraglich ist, ob diese strafrechtliche Bedeutung des Begriffs "Vorwurf" auch für die Unterscheidungsmethode nach Mezger zutrifft, so daß bei ihrer Anwendung Ausführungen zur Schuld im Vordergrund stünden. Hier gelten jedoch dieselben grundsätzlichen Bedenken, wie sie bereits bei der Interpretation des Begriffs "Vorwerfbarkeit" im Rahmen der Schwerpunktformel des BGH geäußert worden sind (s. oben im 2.Abschnitt, A. 11.). a) Verständnis von Mezger Zunächst bedarf es einer Untersuchung, wie Mezger selbst den Begriff "Vorwurf" versteht. Dabei ist festzustellen, daß er keine nähere Konkretisierung seines Lösungsvorschlages für die Unterscheidungsproblematik vorgenommen hat. Somit bleibt vor allen Dingen offen, auf welche Weise er den Terminus "Vorwurf" auslegt. Allerdings finden sich in seinen Darstellungen keine Anhaltspunkte für eine vorrangige Einbeziehung von Schulderwägungen. Auch ein Blick auf die Erörterungen derjenigen Autoren, die zur Lösung der Abgrenzungsfrage ebenfalls die Zielrichtung bzw. den Gegenstand des Vorwurfs heranziehen, hilft nicht weiter, da auch sie keine Angaben zum Verständnis dieses Merkmals machen. b) Interpretation im Schrifttum Betrachtet man die kritischen Stellungnahmen im Schrifttum, in denen sich die Autoren explizit Gedanken über die Bedeutung der Abgrenzungsformel von Mezger gemacht haben, dann zeichnet sich ab, daß sie in diesem Zusammenhang nicht ausschließlich vom grundsätzlichen strafrechtlichen Sinn des 11 So z.B. BGHSt. 2, 194,200; Welzel, Strafrecht, I1.Aufl 1969, S. 138 ff.; Blei (Fn. 12), Studienbuch, S. 173 ("Die häufig gebrauchte Bezeichnung der Schuld als 'Vorwerfbarkeit' bedeutet sachlich dasselbe wie 'Vorwurf"); Hirsch, in: Leipziger Kommentar (LK), StGB, 10.Aufl. 1985, Vor § 32 Rdn. 170; WesseLs, Allg. Teil, 20.Aufl. 1990, § 10 I 1; Lackner, StGB, 19.Aufl. 1991, Vor § 13 Anm. 4 ("Die Handlung muß schließlich schuldhaft sein, d.h. dem Täter zum Vorwurf gereichen").

C. Vergleich der Methode Mezger's mit der Schwerpunktformel

19

Begriffs "rechtlicher Vorwurf" ausgehen, ihn also nicht nur als dem Schuldbereich zugehörig einstufen. Roxin und Rudolphi meinen, die Frage, wogegen sich der Vorwurf richtet, lasse sich überhaupt erst dann zuverlässig beantworten, wenn das Verhalten sowohl unter dem Gesichtspunkt der Begehungstat als auch unter dem Gesichtspunkt der Unterlassungstat in den verschiedenen Verbrechensstufen - Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuld - durchgeprüft worden ist. Solange man hingegen mit der Prüfung des Falles noch nicht einmal begonnen hat, sei man prinzipiell außerstande, anzugeben, wogegen sich der rechtliche Vorwurf eigentlich richtet, d.h. diese Feststellung könne niemals am Anfang der rechtlichen Prüfung eines Falles stehen, sondern sei stets erst deren Ergebnis. 18

Ähnlich auch Böhm, der Mezger vorwirft, einen methodischen Fehler zu machen, wenn er ein Verhalten, von dem noch nicht feststeht, ob es überhaupt für den Erfolg kausal ist, rechtlich wertet; schließlich könne man keine Feststellung darüber treffen, gegen welche Verhaltensweise sich der rechtliche Vorwurf richtet, bevor nicht Kausalität und Tatbestandsmäßigkeit der in Frage kommenden Verhaltensweise feststehen. 19 Welp schließlich spricht vom "rechtlichen Vorwurf" als Rechtswidrigkeitsund Schuldurteil. 20

c) Sprachliche Deutung Versucht man den Begriff "Vorwurf" von seinem allgemeinen sprachlichen Verständnis her, also untechnisch und unjuristisch zu deuten, so ist - wie 18 Roxin, ZStW Bd. 74 (1962), 411, 417; ders., in: Roxin/Schünemann/Haftke, Klausurenlehre, 4.Aufl. 1982, Fall 7, S. 135; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB (SK), Bd. I, 5.Aufl. 1989, Vor § 13 Rdn. 6. 19 Böhm, Rechtsptlicht zum Handeln bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1957, 23. In diese Richtung auch U/senheimer, Verhältnis zwischen Ptlichtwidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten, 1965, 95, Binavince, Vier Momente der Fahrlässigkeitsdelikte, 1969, 44, der anmerkt, Mezger folge unbewußt einem verkehrten Verfahren, denn die Charakterisierung des Verhaltens als Tun oder Unterlassen hänge davon ab, ob sich Schuld oder Unrecht gegen dieses oder jenes Element richtet, so daß er geheim als Vorfrage die dogmatisch nachfolgende Feststellung der Rechtswidrigkeit und Schuld stelle, Kühne, Geschäftstüchtigkeit oder Betrug?, 1978, 28 f. und Kapper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, 75, der zudem meint, auch hier gelte, daß mit der Bewertung erst begonnen werden kann, wenn vorher das Objekt der Wertung ermittelt worden ist. :!I Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, 108.

20

3. Abschnitt: Herleitung der von der Rechtsprechung angewandten Fonnel

beim Begriff der "Vorwerfbarkeit" (s. oben im 2.Abschnitt, A. 11. 4.) - vorrangig an den der "Vorhaltung" zu denken; diesem Terminus kommt für den normalen Sprachgebrauch eine synonyme Bedeutung zu. Auch ist hier an Ausdrücke wie "zur Last legen" u.ä. zu denken. d) Fazit

Aus den vorherigen Ausführungen ergibt sich, daß sich die strafrechtliche Bedeutung des Terminus "Vorwurf" nach ganz h.M. auf den Bereich der Schuld erstreckt. Zur Handhabung des Kriteriums von Mezger "Gegenstand bzw. Zielrichtung des rechtlichen Vorwurfs" als Methode für die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen ist ein derartiges Verständnis jedoch unangebracht, d.h. im Rahmen der Abgrenzungsproblematik ist dem Ausdruck "Vorwurf" diese grundsätzliche strafrechtliche Bedeutung nicht beizumessen. Hier stehen daher keinesfalls Überlegungen zur Schuld im Vordergrund (vgl. auch oben im 2.Abschnitt, A. 11. 5.). 3. Bedeutung des Kriteriums von Mezger

Im Anschluß an die zuvor getroffene Feststellung, welche Bedeutung dem Begriff "Vorwurf" im Rahmen des Merkmals "Gegenstand bzw. Zielrichtung des rechtlichen Vorwurfs" nicht zukommt, kann nun die Frage beantwortet werden, welche Funktion ihm in diesem Zusammenhang tatsächlich zukommt. Auf diese Weise wird zugleich deutlich, welche Bewandtnis es mit dem Kriterium "wogegen sich der rechtliche Vorwurf jeweils richtet" im Verständnis von Mezger - und der ihm zustimmenden Autoren - insgesamt auf sich hat. Wenn Mezger seine Methode zur Entscheidung der Abgrenzungsproblematik anwendet, so hat der Begriff des "(rechtlichen) Vorwurfs" - in Verbindung mit den Termini "Zielrichtung bzw. Gegenstand" - lediglich die Bedeutung einer Legitimierung der bereits zuvor anderweitig getroffenen Entscheidung, ob für die strafrechtliche Beurteilung des Täterverhaltens an ein Tun oder Unterlassen anzuknüpfen ist. Es ist nämlich so, daß Mezger - und seine Befürworter in der Lehre -, sofern sich im konkreten Fall die Frage stellt, ob ein Handeln oder Unterlassen strafrechtlich bedeutsam ist, derart vorgehen, daß sie das Geschehen bzw. das Täterverhalten zuerst im Wege einer gedanklichen Vorprüfung unter allen Gesichtspunkten durchprüfen, d.h. sowohl unter dem Gesichtspunkt einer Begehungstat als auch unter dem Gesichtspunkt einer Unterlassungstat, und zwar jeweils in den verschiedenen Deliktsstufen der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. Mit dem Kriterium "wogegen sich der rechtliche

C. Vergleich der Methode Mezger's mit der Schwerpunktformel

21

Vorwurf jeweils richtet" soll folglich zum Ausdruck gebracht werden, daß die Frage nach der Zielrichtung bzw. den Gegenstand des rechtlichen Vorwurfs unter Einbeziehung von wertenden Erwägungen auf das Gesamtgeschehen bzw. das Gesamtverhalten zu beziehen ist. Danach müßte dann noch - allerdings mehr deklaratorisch - die Prüfung derjenigen Verhaltensweise auf ihre volle Deliktsqualität hin erfolgen, gegen die sich der rechtliche Vorwurf richten soll, das Tun oder das Unterlassen. Es ist also so, daß das Ergebnis - der Gegenstand des Vorwurfs - aufgrund der vorherigen Untersuchungen bereits feststeht, ehe begonnen wird, die Frage zu beantworten, ob ein positives Tun oder Unterlassen vorliegt. 21 11. Vergleich

Nach der vorherigen Übersicht fällt es leicht, aufgrund eines Vergleichs eine exakte Aussage hinsichtlich einer Übereinstimmung der Schwerpunktformel der Rechtsprechung mit dem Kriterium der Richtung des rechtlichen Vorwurfs von Mezger zu treffen, also die Frage zu beantworten, ob die Formel "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" auf dem Merkmal "wogegen der rechtliche Vorwurf sich jeweils richtet" beruht. Die beiden Begriffe "Vorwurf" und "Vorwerfbarkeit" sind in ihrer strafrechtlichen Bedeutung jeweils der Deliktsstufe der Schuld zuzuordnen, während im Bereich der Unterscheidungsproblematik eine derartige Interpretation unangebracht ist, ihnen diese grundsätzliche Funktion nicht zukommt. Um dem Verständnis von Mezger und dem des BGH gerecht zu werden, muß man sich vielmehr im klaren darüber sein, daß diese Termini bzw. die Schwerpunktformel und das Kriterium der Zielrichtung des rechtlichen Vorwurfs insgesamt lediglich die Bedeutung einer Legitimierung der bereits zuvor anderweitig getroffenen Entscheidung haben, ob für die strafrechtliche Beurteilung des Täterverhaltens an ein Tun oder Unterlassen anzuknüpfen ist. Es soll zum Ausdruck gebracht werden, daß diese Merkmale auf das Gesamtgeschehen bzw. das Gesamtverhalten des Täters zu beziehen sind, es also einer wertenden Betrachtung des Gesamtvorgangs und nicht eines Abstellens auf die Einzelelemente im Täterverhalten bedarf. Zudem macht es letztlich keinen Unterschied, ob man den rechtlichen Vorwurf auf den Gegenstand bzw. die Zielrichtung oder die Vorwerfbarkeit auf den Schwerpunkt - die Schwere - bezieht. Und auch unter sprachlichen Gesichtspunkten kann insoweit eine Übereinstimmung festgestellt werden, als

21 Vgl. zum vorherigen auch die zuvor unter 2. b) dargestellten kritischen Stellungnahmen im Schrifttum sowie die obigen Ausführungen im 2.Abschnitt, B.

22

3. Abschnitt: Herleitung der von der Rechtsprechung angewandten Fonnel

beide Termini - der "Vorwurf" und die "Vorwerfbarkeit" - untechnisch i.S.v . • Vorhaltung·, ·zur Last legen" zu verstehen sind. Damit wurde bewiesen, daß der BGH sich in der Frage der Bewältigung der Abgrenzungsproblematik den Ausführungen von Mezger angeschlossen hat, somit beide Lösungsvorschläge eine identische Intention verfolgen. Diese Tatsache, daß die vom BGH praktizierte Formel "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" auf das Unterscheidungsmerkmal von Mezger "Gegenstand bzw. Zielrichtung des rechtlichen Vorwurfs" zurückzuführen ist, wird im Schrifttum weitgehend außer acht gelassen. 22 Wiederholt wird Mezger sogar als ein Vertreter des vom BGH herangezogenen Schwerpunktkriteriums eingestuft. 23 Damit gelangt man jedoch zu einem zeitlichen Anachronismus und stellt die tatsächlichen Gegebenheiten auf den Kopf, denn die ersten Ausführungen Mezger's zur Abgrenzungsfrage resultieren aus den frühen vierziger Iahren,24 während der "1.Kuppeleifall" aus dem Iahre 1954 stammt.

22 Andeutungsweise in diese Richtung, allerdings ohne jede Begründung: Roxin (pn. 18), S. 414; SK-Rudolphi (pn. 18), Vor § 13 Rdn. 6; Fan/sinn, Aufbau des fahrlässigen Verletzungsdelikts durch Unterlassen, 1985, 37. 23 Z.B. von Androulakis, Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963,65 i.V.m. Fn. 216; Ranft, JuS 1963, 340, 344; Kahne (Fn. 19), S. 28 i.V.m. Fn. 98; Henberg, Verantwortung für Arbeitsschutz und Unfallverhütung im Betrieb, 1984, 205 i.V.m. Fn. 106. 24 s. die Nachweise oben in Fn. 3.

4. Abschnitt

Anwendung der Schwerpunktformel durch die Lehre Nachdem geklärt worden ist, inwiefern die von der Judikatur angewandte Formel vom "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit" zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen ihren Ursprung im strafrechtswissenschaftlichen Schrifttum findet, soll nunmehr geprüft werden, in welchem Umfang und in welcher Form dieser "Schwerpunkt"-Rechtsprechung Zuspruch durch die Lehre zuteil geworden ist.

A. Umnittelbare Übernahme des Schwerpunktkriteriums Zunächst sollen diejenigen Autoren mit ihren Ausführungen kurz dargestellt werden, die das Schwerpunktkriterium als Abgrenzungsmethode von der Rechtsprechung in seiner unmittelbaren Ausprägung übernommen haben. Hierbei ist festzustellen, daß parallel zu den obigen Urteilen der Judikatur (s. im 2.Abschnitt, A. 11. 2.) im Schrifttum ebenfalls keine einheitliche Terminologie verwendet und die Schwerpunktformel nicht näher definiert wird. Einige Befürworter stellen bei der Entscheidung, ob die strafrechtliche Beurteilung des Verhaltens an ein Tun oder Unterlassen anzuknüpfen hat, in wörtlicher Übereinstimmung mit dem BGH im "1.Kuppeleifall" auf den Schwerpunkt der Vorweifbarkeit ab, l während andere Vertreter in der Literatur diese Feststellung danach treffen, bei welcher Form des Verhaltens der

I Dies gilt z.B. für Preisendanz, StGB, 25.Aufl. 1965, Vorbem. eIl c) bis zur 30.Aufl. 1978, § 13 Anm. 11 2 (er empfiehlt dort auch, in jedem Einzelfall die Frage aufzuwerfen: "Was ist dem Beschuldigten vorzuwerfen? Was hat er im Rahmen seines sozialen Ptlichtenkreises falsch gemacht?"); Kienapfel, Strafrechts fälle, I.Aufl. 1967 bis zur 3.Aufl. 1975, jeweils S. 40 (zur späteren Aufgabe dieser Ansicht s. unten im 7.Abschnitt, B. XV. 1.); G.E. Hirsch, NJW 1969, 853, 854; Tiedemann, Jura 1982,371,379; Beulke/Mayer, JuS 1987, 125, 126; Runle/Werner, Jura 1991, 40, 45. Vgl. auch Neumann, Moderne Unfallverhütung, Heft 21 (1977), 12, 17 ("wo bei komplexer Betrachtung des Gesamtvorgangs der Schwerpunkt der Vorwertbarkeit liegt") und Ganlher, JuS 1988, 386, 387 Fn. 11 ("Schwerpunkt des Unrechtsvorwurfs").

24

4. Abschnitt: Anwendung der Schwerpunktfonnel durch die Lehre

Schwerpunkt liegt2 bzw. hierfür - auf einen Nenner gebracht - den Schwerpunkt des - vorweifbaren - (Täter)Verhaltens als relevant ansehen. 3 Eine Begründung, warum die Anwendung der Schwerpunktformel ein taugliches Mittel zur Lösung der Unterscheidungsproblematik bildet, geben auch ihre Anhänger in der Lehre zumeist nicht. Sie berufen sich häufig auf die "Schwerpunkt"-Rechtsprechung - gegebenenfalls auf andere Gefolgsleute im Schrifttum -, erklären auf diesem Wege das Schwerpunktkriterium zur herrschenden Meinung und machen es sich dann zu eigen. 4 Mitunter wird die Schwerpunktformel auch mit dem bloßen Hinweis herangezogen, es handele sich hierbei um die überwiegende Auffassung, ohne daß für diese Behauptung ein Nachweis erbracht wird; oder aber es unterbleibt bei ihrer Benutzung jedwede weitere Kommentierung. S 2 So Stree, in: Schönke/Schröder (S/S), StGB, 23.Aufl. 1988, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 158. Bis zur 22.Aufl. 1985, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 158, meinte er noch, als "Richtlinie" für die Entscheidung solcher Fälle ließe sich nur sagen, daß das "Schwergewicht meist bei der Handlung liegen" werde (s. unten Fn. 10), doch zieht er diesen Aspekt in der 23.Aufl. 1988 nur noch zusätzlich heran: "Zumeist dürfte das Schwergewicht bei der Handlung liegen. " 3 I.d.S. etwa Bringewat, Allg. Teil, 1971, S. 12 f. ("Schwerpunkt der Vorwertbarkeit im Täterverhalten" bzw. "Schwergewicht des Verhaltens"); Weißauer/Opderbecke, BÄ 1973, 98, 112 ("Schwerpunkt des Verhaltens, nach dem sich die strafrechtliche Vorwertbarkeit bestimmt") und dies., BÄ 1973, 734, 738 ("Schwerpunkt des Verhaltens"); Leukauj/Steininger, StGB (Österreich), 1. Aufl. 1974, Vorbem. § 1 Anm. 1 b), 2.Aufl. 1979, Vorbem. § 1 Rdn. 9 ("welchem Merkmal bzw. Verhalten bei einem wertenden Vergleich im konkreten Fall das Schwergewicht für die Unrechtsverwirklichung zukommt"). Vgl. auch Ranft, JZ 1987, 859 und ders., JZ 1987, 908, wo er sich zunächst allgemein für einen normativ geprllgten Ansatz ausspricht (S. 862), um dann in concreto für das Unterscheidungsmerkmal "Schwerpunkt des Verhaltens" zu votieren (S. 916), während er früher zur Abgrenzung allein auf das Kriterium des "sozialen Sinngehalts" abstellte (s. hierzu unten im 7.Abschnitt, B. III. 2. a». Ausgehend von diesem nonnativ geprägten Ansatz vertritt er die Auffassung, daß ein Begehungsdelikt u.a. immer dann vorliege, wenn durch beherrschbares aktives Verhalten eine Gefahr für Schutzgüter anderer begründet wird und die gefährliche Kausalkette ununterbrochen der Steuerbarkeit des Begründers der Gefahr untersteht - wobei das vorsätzliche Begehungsdelikt bereits bei Abschluß der gefahrbegründenden Aktivitäten den Vorsatz voraussetzt -, die Pflicht zur Steuerung aber nicht erfüllt werde. Dabei soll sich diese Pflicht, die aus einem Venneidegebot entspringe, in derartigen Fällen qualitativ nicht von einer Garantenpflicht unterscheiden. So Ranft (Fn. 3), S. 862 LV.m. Fn. 20. 4 So z.B. Kienapfel (Fn. 1), jeweils S. 40; G.E. Hirsch (Fn. 1), S. 854; Weißauer/Opderbecke (Fn. 3), S. 112; Neumann (Fn. 1), S. 17; Preisendanz (Fn. 1), § 13 Anm. 11 2; Beulke/Mayer (Fn. 1), S. 126; S/S-Stree (Fn. 2), nur 23.Aufl. 1988, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 158; Runte/Werner (Fn. 1), S. 45.

S Vgl. hierzu etwa Leukauj/Steininger (Fn. 3), Vorbem. § 1 Rdn. 9; Tiedemann (Fn. 1), S. 379; Günther (Fn. 1), S. 387 Fn. 11.

B. Modifizierende Ausfonnungen des Schwerpunktkriteriums

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Ein Argument für die Heranziehung eines normativ geprägten Ansatzes liefert Ranft, wenn er darauf hinweist, daß dieser normative Ansatz, ungeachtet des Umstandes, daß er noch der Konkretisierung durch weitere Kriterien bedürfe, den Vorteil habe, daß sofort offengelegt werde, daß die Abgrenzungsfrage nur unter Anwendung von Zurechnungsgrundsätzen, also rechtlich, entschieden werden könne. 6

B. Modifizierende Ausfonnungen des Schwerpunktkriteriums In der Lehre gibt es aber auch mehrere Autoren, die das Schwerpunktkriterium in bestimmten modifizierten Ausformungen befürworten. I. Unrechtsgehaltkriterium von Maurach

Maurach führt zur Beantwortung der Frage, ob ein bestimmtes Verhalten im konkreten Falle ein Begehungs- oder Unterlassungsdelikt darstellt, aus, daß sich einheitliche Grundsätze hier nicht immer finden ließen, weshalb regelmäßig diejenige Lösung den Vorzug verdiene, die den bei Begehung und Unterlassung häufig verschieden gearteten Unrechtsgehalt der Tat voll ausschöpft. 7 Zugleich betont er, daß mit einer Einzelwertung der Vorgänge nichts gewonnen sei, es vielmehr auf die komplexe Betrachtung des Gesamtvorganges ankomme. 8 , 9 11. Meist-Handlungs-Richtlinie nach Schröder

Schröder meint, die Feststellung, ob dem Täter ein Handeln oder Unterlassen zur Last fällt, könne im Einzelfall zweifelhaft sein und ließe sich als Richtlinie für die Entscheidung derartiger Fälle nur sagen, daß das Schwergewicht meist bei der Handlung liegen werde. 10 Ranft (Fn. 3), S. 862. Maurach, A1lg. Teil, l.Aufl. 1954, S. 169 f. bis zur 4.Aufl. 1971, S. 582. 8 Maurach (Fn. 7), l.Aufl. 1954, S. 170 bis zur 4.Aufl. 1971, S. 582; seit der 2.Aufl. 1958, S. 458, unter zustimmenden Hinweis auf BGHSt. 6,59. 9 Vgl. auch Canaris, JZ 1963, 655, 656, der bei Berufung auf Maurach und BGHSt. 6, 59 die Gesamtwertung des Verhaltens als maßgeblich einstuft, da seiner Ansicht nach eine Betrachtungsweise, die die menschliche Handlung in ihre Einzelbestandteile zerlegt, der Problematik insoweit nicht gerecht werde, als man damit - im Hinblick auf den Umstand, daß jedes Verhalten eine komplexe Einheit von Tun und Unterlassen bilde - jedes positive Tun in ein Unterlassen umdeuten könnte. 10 Schröder, in: Schönke/Schröder, StGB, 10.Aufl. 1961, Vorbem. V Anm. 3 bis zur 17.Aufl. 1974, Vorbem. 95, unter Hinweis auf BGHSt. 6, 59 und OLG Stuttgart 6

7

26

4. Abschnitt: Anwendung der Schwerpunktformel durch die Lehre

III. Kombination des Schwerpunkt- und sozialen Handlungssinnkriteriums Einige Strafrechtler vertreten die Auffassung, daß die Abgrenzung zwischen Begehungs- und Unterlassungstaten keine rein empirisch zu lösende Frage darstelle, bei der man etwas erkennen könne, sondern es sich um eine solche der Wertung handele. Die zu treffende Wertentscheidung hänge davon ab, wo bei normativer Betrachtung und bei Beracksichtigung des sozialen Handlungssinns der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens bzw. rier Vorwerjbarkeit des Verhaltens liegt. ll

Haft gelangt zu dieser Lösung unter Berücksichtigung der beiden folgenden Gesichtspunkte. FamRZ 1959, 74, allerdings ohne jede Begründung für die Anwendung dieser Methode (vormals vertrat Schröder noch eine andere Auffassung zur Abgrenzungsproblematik, s. hierzu unten im 7.Abschnitt, B. VI. 1.). So auch Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 18.Aufl. 1976 bis zur 22.Aufl. 1985, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 158, unter Berufung auf BGHSt. 6, 59, OLG Stuttgart FamRZ 1959, 74 und später OLG Karlsruhe NJW 1980, 1859 sowie OLG Düsseldorf JMBl. NW 1983, 199, der inzwischen aber vorrangig auf den "Schwerpunkt des Verhaltens" abstellt, s. oben Fn. 2. 11 Zum vorherigen: Wesse~, Alig. Teil, 4.Aufl. 1974 bis zur 20.Aufl. 1990, jeweils § 16 I 2, unter vgl. Hinweis auf BGHSt. 6, 59, OLG Stuttgart FamRZ 1959, 74 und inzwischen OLG Karlsruhe GA 1980, 429 (s. auch 1. Aufl. 1970 bis zur 3.Aufl. 1973, jeweils § 14 I 2 " ... Schwerpunkt des Täterverhaltens"); Haft, Allg. Teil, 1. Aufl. 1980, S. 140 bis zur 4.Aufl. 1990, S. 172 und ders., JA 1982, 473, 474, wo er auch die Faustformel bzw. -regel "Im Zweifel Tun" anwendet sowie ders. , Fallrepetitorium Allg. und Bes. Teil, 1. Aufl. 1982, S. 66 (Fall-Nr. 375), 2.Aufl. 1991, S. 72 (Fall-Nr. 375); Ebert, Alig. Teil, 1985, S. 152 (vgl. auch S. 153 "Gesamtbewertung des Verhaltens nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit") und bereits ders., JuS 1970, 400, 404. Vgl. zusätzlich: Hanack, DÄ 1969, 1320, 1325 ("Schwergewicht des Verhaltens, das sich nach seinem sozialen Sinngehalt beurteilen soll"); Krey, JuS 1971, 248,249 und ders., Bes. Teil, Bd. 1, 2.Aufl. 1976, S. 16 bis zur 8.Aufl. 1991, S. 6 ("wo nach dem sozialen Sinngehalt der Tat deren Schwerpunkt bzw. -gewicht liegt"); Geilen, Alig. Teil, 1. Aufl. März 1976, S. 231 f. ("normatives Wertungsproblem: Es kommt darauf an, auf welcher Seite der Schwerpunkt des Verhaltens liegt und ob sich das Verhalten seinem sozialen Sinngehalt nach als positives Tun oder Unterlassen darstellt") und ders., 2.Aufl. September 1976, S. 233 ("ist unter Zuhilfenahme auch normativer Kriterien auf den 'sozialen Handlungssinn' und den dem entsprechenden Unrechtsschwerpunkt abzustellen"), jeweils unter Hinweis auf BGHSt. 6, 59 und OLG Stuttgart FamRZ 1959, 74; Schwalm, FSBockelmann, 1979, 539, 549 f. ("für die Bewertung als Tätigkeit oder Unterlassen (kommt es) auf die soziale Sinnhaftigkeit des Verhaltens bei dessen lebensnaher Betrachtung und nicht auf dessen äußere Erscheinungsweise an; danach ist festzustellen, ob der Schwerpunkt im Tätigkeits- oder im Unterlassungsteil zu finden ist"); Leßmann, JA 1988, 237, 240 ("wo nach dem sozialen Sinngehalt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt").

B. ModifIzierende Ausfonnungen des Schwerpunktkriteriums

27

Zunächst sei ZU beachten, daß man immer nur ein Tun "erkennen" könne, nicht aber das Unterlassen. Vielmehr müsse man insoweit ein Werturteil rallen, welches ein ontologisches Nichts mit dem Kommentar versieht: "Hier hätte ein Tun stattfinden müssen." Deshalb handele es sich bei der Abgrenzung nicht um eine Erkenntnis-, sondern um eine Wertungsfrage. 12 Daneben müsse man stets an die Konsequenzen denken, denn ein Tun sei bei den Begehungsdelikten regelmäßig problemlos tatbestandsmäßig, während ein Unterlassen bei den unechten Unterlassungsdelikten nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 StGB, insbesondere bei Bestehen einer Garantenpflicht, tatbestandsmäßig sei; fehle es daran, könnten offensichtlich unbillige Ergebnisse eintreten. 13

12 Haft (Fn. 11), Allg. Teil, l.Aufl. 1980, S. 140 bis zur 4.Aufl. 1990, S. 171 f.; ders. (Fn. 11), JA 1982,474. VgJ. zudem Haft (Fn. 11), Allg. Teil, l.Aufl. 1980, S. 138 bis zur 4.Aufl. 1990, S. 170 sowie ders. (Fn. 11), JA 1982, 474, denn dort führt er jeweils aus: Das Tun besitze Realität, die Unterlassung als ontologisches Nichts habe hingegen keine Wrrklichkeit; sie sei vielmehr ein Werturteil, das die Enttäuschung darüber ausdrücke, daß ein eIWartetes Tun nicht stattfand ("Unterlassen ist enttäuschte EIWartung"). 13 Haft (Fn. 11), Allg. Teil, l.Aufl. 1980, S. 140 bis zur 4.Aufl. 1990, S. 172; ders. (Fn. 11), JA 1982, 474. S. auch Ebert (Fn. 11), Allg. Teil, S. 152, der meint, bei der Einordnung als Begehen oder Unterlassen gehe es nicht um naturwissenschaftliche KlassifIzierung, sondern um rechtliche Bewertung, so daß nicht auf die äußerlich-fonnale Gestaltung des Verhaltens abzustellen, sondern nach dem Gegenstand der rechtlichen Mißbilligung zu fragen sei.

4 Stoffers

5. Abschnitt

Infragestellung der Abgrenzungsfunktion des Schwerpunktkriteriums Der Titel dieser Arbeit lautet bekanntlich "Die Formel 'Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit' bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen?". Das Fragezeichen wurde ganz bewußt in den Titel aufgenommen, denn es drängt sich hinsichtlich des Schwerpunktkriteriums, so wie es in Rechtsprechung und Schrifttum - hierunter fasse ich an dieser Stelle auch den Lösungsvorschlag Mezger's - praktiziert wird, der Verdacht auf, daß mit diesem ausschließlich eine besonders geartete Fallkonstellation im Bereich der Unterscheidungsproblematik gelöst werden soll, die von der grundsätzlichen Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen zu trennen ist.

A. Differenzierung zwischen "echter" Abgrenzungsfrage und "mehrdeutigen" Verhaltensweisen Die Infragestellung der Abgrenzungsfunktion des Schwerpunktkriteriums in seinen variierenden Formulierungen beruht auf dem Umstand, daß im Problembereich der Unterscheidung von positivem Tun und Unterlassen zwei scharf voneinander abzugrenzende Fragenkomplexe vorzufinden sind, die einer Klärung harren. Auf der einen Seite geht es um die Frage, ob eine bestimmte Verhaltensform überhaupt Elemente des positiven Tuns oder aber nur des Unterlassens enthält. Hier stellt sich die "echte" bzw. "eigentliche" Abgrenzungsjrage, die es zu beantworten gilt, ob also ein Verhalten ein Handeln oder ein Unterlassen darstellt. Auf der anderen Seite wird die Frage relevant, wie mit denjenigen Verhaltensweisen zu verfahren ist, die offensichtlich und unstreitig sowohl Elemente des positiven Tuns als auch Elemente des Unterlassens enthalten und die deshalb als "mehrdeutige", "zweiseitige", "ambivalente", "komplexe", "gemischte", "doppelrelevante(-deutige, -gesichtige) " Verhaltensweisen bezeichnet werden können. Hier wird bereits vorher hypothetisch das Vorliegen eines positiven Tuns und eines Unterlassens festgestellt bzw. angenommen, so daß es dann augenscheinlich nicht mehr einer Abgrenzung positiven Tuns und Unterlassens im eigentlichen Sinne bedarf, sondern lediglich noch einer Beantwortung der Frage, auf welche der beiden unterstellten Verhaltensversionen - oder gegebenenfalls sogar auf beide - bei der straf-

B. Anwendung der Schwerpunktfonnel nur bei ambivalentem Verhalten?

29

rechtlichen Beurteilung abzustellen ist. Es wird demzufolge nicht danach gefragt, was Handeln und was Unterlassen ist, sondern welcher Teil eines ambivalenten Verhaltens der Strafnorm zuzurechnen ist. Vorliegend ist demnach eine dahingehende Erläuterung vorzunehmen, ob die Schwerpunktformel in Judikatur und Literatur nicht ausschließlich als ein Lösungsweg für eben diesen letzteren Fragenkomplex konzipiert ist, d.h. für diejenigen Verhaltensweisen, bei denen sich sowohl ein Handeln als auch ein Unterlassen als Anknüpfungspunkt für die strafrechtliche Bewertung eines Straftatbestandes anbietet. In diesem Falle würde sich dann die Funktion des Schwerpunktkriteriums auf eine bloße Entscheidungshilfe bzw. Konkurrenzregel beschränken, mit der ausschließlich eine Antwort auf die Frage gegeben werden könnte, welche der beiden - kumulativ - vorhandenen Verhaltensformen - oder möglicherweise sogar beide - desselben Täters, bezogen auf denselben Erfolg, für die strafrechtliche Beurteilung des Sachverhalts relevant wird. Zu der echten Abgrenzungsfrage, ob in einem Verhalten des Täters - alternativ - ein Tun oder ein Unterlassen zu sehen ist, könnte die Schwerpunktformel dann offensichtlich keinen Beitrag leisten. 1

B. Anwendung der Schwerpunktformel nur bei ambivalentem Verhalten? Nunmehr soll geprüft werden, ob die Schwerpunktformel in ihren unterschiedlichen Ausformungen, die sie durch die Rechtsprechung und Dogmatik erfahren hat, von ihren Vertretern tatsächlich lediglich als ein Lösungsvorschlag für die Fälle ambivalenten Verhaltens verstanden wird, d.h. als ein Kriterium, das eine Auswahl unter den nach anderen Maßstäben identifizierten Handlungen und Unterlassungen ermöglichen soll. Es würden dann nicht positives Tun und Unterlassen voneinander getrennt, sondern nur die Konkurrenzfrage beantwortet, wie sich bereits vorher hypothetisch festgestelltes oder unterstelltes Tun und Unterlassen zueinander verhalten.

1 Vgl. zur vorherigen Problematik auch die Ausführungen von Sieber, JZ 1983, 431, 431 f. Er vertritt allerdings die Ansicht, daß sich die eigentliche Abgrenzungsfrage, ob eine bestimmte Verhaltensweise überhaupt Elemente des positiven Tuns oder nur des Unterlassens enthält, in voller Schärfe nur in den seltenen Fällen stelle, die als "Verhaltensfonnen mit geringem Energieaufwand" umschrieben werden könnten. Hiergegen ist jedoch einzuwenden, daß auch diesen Fällen - er erwähnt in diesem Zusammenhang vorrangig einige besonders gelagerte Fallkonstellationen aus dem Bereich der psychischen Beihilfe (s. hierzu ausführlich unten im 7. Abschnitt, E.) - eine gewisse Doppeldeutigkeit eigen ist, so daß dieser Qualifizierung nicht gefolgt werden kann.

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

I. Überblick über die FäHe

Hierzu bedarf es zunächst eines abstrakten Überblicks über die von den Vertretern der Schwerpunktformel typischerweise im Zusammenhang mit der Unterscheidungsproblematik erwähnten Fälle einschließlich einer Sachverhaltsschilderung und des Aufzeigens des Verhaltens, an das die strafrechtliche Beurteilung anknüpfen kann. Soweit es sich um Fälle handelt, die von der Judikatur entschieden worden sind, soll zugleich noch die Frage beantwortet werden, ob die Gerichte bei der Stratbarkeitsprüfung des Täters auf ein Tun oder auf ein Unterlassen oder ob sie hierbei sogar auf beide Verhaltensformen abgestellt haben. An erster Stelle sind in diesem Zusammenhang Fälle aus dem Bereich der Fahrlässigkeitsdelinquenz zu nennen, bei denen eine gefährliche Handlung unter Nichteinhaltung der gebotenen Sorgfalt vorgenommen wird. Der Apothekerfall aus dem Jahre 1886,2 dem der folgende Sachverhalt zugrundeliegt: .... hat der Dr. med. R., nachdem er die Krankheit des ihm am 28.Februar 1886 vorgestellten, 3 1/2 Jahre alten Amo H. als die englische Krankheit, Rachitis, erkannt, die Anwendung des inneren Gebrauchs von Phosphor bei demselben beschlossen, und zwar im Anschlusse an den ... Grundsatz, daß geeignete innere Gaben des an sich ein starkes Gift darstellenden Phosphors als einziges, für die notwendig anzustrebende Regeneration der Knochenbildung wirksames Mittel anzuwenden sei. Dr. R. hat am 2.März 1886 ein vom Angeklagten (scil. dem Apotheker) entworfenes Rezept einer phosphorhaItigen Arzneimischung ... gutgeheißen und den Angeklagten mündlich zur Anfertigung und Verabreichung der Arznei ermächtigt. Angeklagter hat dieselbe der Vorschrift entsprechend angefertigt, nach dem Verbrauche der ersten Flasche der Arznei seitens des erkrankten Kindes aber dann weiter dieselbe auf Verlangen der Mutter des letzteren am 7., 11., 16. und 20.März 1886 erneuert und der verehelichten H. verabreicht, welche sie ihrerseits ihrem Sohne Arno in den vom Arzte am 2.März verordneten Einzeldosen eingegeben hat. Eine Mitwirkung des Dr. R. bei dieser viermaligen Erneuerung der Arznei hat nicht stattgefunden, er hat nichts von ihr gewußt, auch das Befinden des Amo H. bis zum Eintritte der weiteren Erkrankung desselben nicht kontrolliert. Am 22.März 1886 haben sich nämlich bei Amo H. Vergiftungssymptome gezeigt, welche trotz der nunmehr eingetretenen ärztlichen Behandlung durch Dr. R. und der Verabreichung der gebotenen Gegenmittel am 28.März 1886 zu dem durch Phosphorvergiftung verursachten Tode des Amo H. geführt haben .• 3 Für das Reichsgericht besteht die fahrlässige Handlungsweise, die dem Angeklagten zur Last gelegt wird, nicht 2

RGSt. 15, 151 (Urt. v. 20.12.1886 - III StR 2779/86).

3

RGSt. 15, 151, 151 f.

B. Anwendung der Schwerpunktfonnel nur bei ambivalentem Verhalten?

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sowohl in der positiven Handlung der viermaligen Erneuerung der Armei, als vielmehr in der Unterlassung, daß er zu dieser Erneuerung ohne die nach den Umständen gebotene Vergewisserung über das Vorliegen ärztlicher Genehmigung derselben schritt;4 im Anschluß hieran prüft es dann die Voraussetzungen einer fahrlässigen Tötung durch Unterlassung. Der Kokainfall aus dem Jahre 1926,s in dem der angeklagte Arzt bei Vornahme einer Operation an einem Kind, die eine örtliche Betäubung voraussetzt, Kokain verwendet, obwohl fachmännisch richtig Novokain zur Betäubung zu verwenden gewesen wäre; infolge des Kokains und der sonst noch vorhandenen Körperschwäche stirbt das Kind. Für die Frage der Strafbarkeit des Arztes wegen fahrlässiger Tötung stellt hier das Reichsgericht auf ein positives Tun - das Spritzen von Kokain - und nicht auf ein Unterlassen - das Nichtspritzen von Novokain - ab. 6 Der Ziegenhaarfall aus dem Jahre 1929,7 in dem sich der Sachverhalt wie folgt darstellt: RDer Angeklagte hat für seine Pinselfabrik von einer Händlerfirma chinesische Ziegenhaare bezogen und diese trotz der Mitteilung der Händlerfirma, daß er sie desinfizieren müsse, ohne vorherige Desinfektion durch seine Arbeiter zu Pinseln verarbeiten lassen. Ein Arbeiter und drei Arbeiterinnen, die mit der Herstellung der Pinsel beschäftigt waren, und eine Arbeiterin, die mit den ersteren in Berührung kam, wurden durch Milzbrandbazillen, mit denen die Haare behaftet waren, angesteckt; die vier Arbeiterinnen sind an Milzbrand gestorben."8 Ob das Reichsgericht in dieser Entscheidung ein Tun - die Übergabe der verseuchten Ziegenhaare - oder ein Unterlassen - die Nichtvornahme der Desinfektion der Ziegenhaare - des Fabrikanten der Prüfung seiner Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zugrundelegt, ist zweifelhaft und in der Lehre umstritten. 9 4

RGSt. 15, 151, 152.

RG HRR 1926, Sp. 1636, Nr. 2302 = RG Recht 1926, 746, Nr. 2577 (Urt. v. 25.10.1926 - I StR 555/26). 6 RG HRR 1926, Sp. 1636, 1637, Nr. 2302. S

RGSt. 63, 211 (Urt. v. 23.4.1929 - I StR 1265/28). RGSt. 63,211. 9 Für Unterlassen: Spendel, SJZ 1949, 133, 134 i.V.m. Fn. 9; Böhm, Rechtspflicht zum Handeln bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1957,22 i.V.m. Fn. 71, 31; Engisch, FS-GaUas, 1973, 163, 164 i.V.m. Fn. 2, 185 i.V.m. Fn. 46; HeimannTrosienlWolff, in: Leipziger Kommentar (LK), StGB, 9.Aufl. 1974, Einl. Rdn. 139; Schmidhlluser, AUg. Teil, Lehrbuch, 2.Aufl. 1975, 161105; ders., AUg. Teil, Studienbuch, 2.Aufl. 1984, 12/52; Jakobs, AUg. Teil, 2.Aufl. 1991, S. 778 Fn. 9; Jescheck, in: Leipziger Kommentar (LK), StGB, 10.Aufl. 1985, Vor § 13 Rdn. 83; so auch BGHSt. 2, 20, 24. Für positives Tun: Mezger, Strafrecht, Lehrbuch, 3.Aufl. 1949, Vorwort S. XIX; Arthur Kaufinann, FS-Eb. Schmidt, 1961,200, 212 Fn. 39; Uisenheimer, Verhältnis zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei den Fahrläs7

8

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

Die Ausführungen des Reichsgerichts zu den Anforderungen an den Nachweis des Ursachenzusammenhanges - es spricht hier u.a. von "pflichtgemäßer Desinfektion" - lassen aber den Schluß zu, daß es von einem Unterlassen ausgeht. 10 Der Radleuchtenfall aus dem Jahre 1930,11 der sich folgendermaßen abgespielt hat: "Die beiden Angeklagten, die Brüder Josef und Paul Z., fuhren in dunkler Nacht auf unbeleuchteten Fahrrädern auf der Landstraße, und zwar Paul Z. rechts, Josef Z. schräg links hinter ihm, etwa in der Mitte der Straße. An einer Weggabelung stieß das Rad Josef Z.'s, der wegen Wind und Regen mit gesenktem Kopfe fuhr, mit dem entgegenkommenden Fahrrade des Landwirts K. zusammen, das gleichfalls nicht beleuchtet war. K. stürzte vom Rad, blieb einige Zeit besinnungslos liegen, erhob sich dann, fiel gleich darauf in den Straßengraben; er konnte sich aber, nachdem die Angeklagten ihn aufgerichtet und sich entfernt hatten, das Rad schiebend oder auf ihm fahrend, noch etwa 2 km fortbewegen; dann kam er vom Wege ab, fiel in einen Mühlengraben und ertrank in ihm. Beim Sturz vom Rade hatte er einen Schädelbruch mit Blutaustritt ins Gehirn erlitten, der wahrscheinlich für sich allein auch zum Tode geführt hätte. Er hatte aber zur Folge, daß K. wie ein 'Betrunkener' stark benommen war, infolgedessen vom Wege abkam, in den Mühlengraben stürzte und sich aus dem nur 75 cm tiefen Gewässer nicht heraushelfen konnte, sondern in ihm ertrank. "12 Das Reichsgericht prüft in dieser Entscheidung bezüglich der Strafbarkeit der beiden Brüder Josef und Paul Z. nicht eine fahrlässige Tötung durch positives Tun - das Fahren auf ihren unbeleuchteten Fahrrädern -, sondern eine solche durch Unterlassen - das Nichtbeleuchten der Fahrräder. 13 Der Selbstmordfall von 1954,14 der auf folgendem Sachverhalt beruht: "Der Angeklagte... lebte in zerrütteter Ehe, die ihren eigentlichen Grund in der Wesensverschiedenheit der Ehegatten hatte ... An heftige Auseinandersetzungen der Gatten schlossen sich ernsthafte Selbstmordversuche der Frau mit Gas, in die sie das gemeinsame kleine Kind einbezog. Der Angeklagte verließ die Familie zweimal, um den häuslichen Auftritten zu entgehen, kehrte nach oberflächlicher Aussöhnung jedoch wieder zurück. Am 8. April 1953 entfernte er sich endgültig, obgleich er es nach dem Vorangegangenen für möglich sigkeitsdelikten, 1965, 83; 1iedemann, Jura 1982, 371, 375; Kienapfel, Allg. Teil, 4.Aufl. 1984, S. 477; Maiwald, JuS 1989, 186, 186 Pn. 5. 10 s. hierzu RGSt. 63,211,214. 11

RGSt. 63, 392 (Urt. v. 20.1.1930 -11 StR 230/29).

12

RGSt. 63,392.

13

RGSt. 63,392,393.

14

BGHSt. 7,268 (Urt. v. 17.12.1954 - 1 StR 183/54).

B. Anwendung der Schwerpunktfonnel nur bei ambivalentem Verhalten?

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hielt, daß die Frau daraufhin sich und das Kind töten werde. Er hoffte, sie werde diesen Schritt, den er nicht billigte, nicht tun. Die Frau tötete jedoch am Tage nach seinem Weggang sich und das Kind durch Zyankali. "15 Der BGH prüft in diesem Urteil die Verwirklichung einer fahrlässigen Tötung des angeklagten Ehemannes sowohl unter dem Gesichtspunkt eines positiven Tuns - die häusliche Trennung, das Verlassen der Familie - als auch unter dem eines Unterlassens - die unterlassene Warnung der Schwiegereltern oder der Polizei}6 Der Lastzugfall aus dem Jahre 1957,11 der sich wie folgt ereignet hat: "Der Angeklagte lenkte einen Lastzug auf einer geraden und übersichtlichen Straße, deren Fahrbahn etwa 6 m breit war. Auf dem rechten Seitenstreifen fuhr ein Radler in der gleichen Richtung, den der Angeklagte mit einer Geschwindigkeit von 26-27 km/h überholte. Der Seitenabstand vom Kastenaufbau des Anhängers bis zum linken Ellbogen des Radfahrers betrug dabei 75 cm. Während des Überholvorganges geriet der Radfahrer mit dem Kopf unter die rechten Hinterreifen des Anhängers, wurde überfahren und war auf der Stelle tot. Eine später der Leiche entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von 1,96 Promille, auch für den Zeitpunkt des Unfalls. "18 Das Urteil läßt nicht eindeutig erkennen, ob ein positives Tun - das zu knappe Überholen bzw. Überfahren des Radfahrers - oder ein Unterlassen - das Nichteinhalten des gebotenen und ausreichenden Seitenabstandes - den Ausgangspunkt seiner Erörterungen bildet. 19 Allerdings sprechen die Ausführungen des BGH zur Kausalität - hier ist u.a. von der "Fahrweise des Angeklagten" und "dem zu knappen Überholen" die Rede - doch dafür, daß er von einem positiven Tun ausgeht. 20 Der "Steuerüberlassungsfall" aus dem Jahre 1980,21 dem nachfolgender Sachverhalt zugrundeliegt: "... hat der Angeklagte zum Unfallzeitpunkt ent15

BGHSt. 7, 268, 268 f.

s. dazu BGHSt. 7, 268,269 ff. Mitunter wird dem BGH in dieser Entscheidung durch die Lehre auch eine eindeutige Zuordnung zu einer Verhaltensweise unterstellt. Für Tun: Baumann, Allg. Teil, 8.Aufl. 1977, § 16 11 4 d) Fn. 42; BaumannfWeber, Allg. Teil, 9.Aufl. 1985, § 18 11 1 Fn. 10; Otto/Brammsen, Jura 1985,530,532. Für Unterlassen: Jakobs (Fn. 9), S. 778 Fn. 12. 17 BGHSt. 11, 1 = BGH JZ 1958,280 (Besehl. v. 25.9.1957 - 4 StR 354/57). 18 BGHSt. 11, 1. 16

19 In der Lehre wird diese Frage kontrovers diskutiert. Für Tun: Spendet, FS-Eb. Schmidt, 1961, 183, 186 f.; ders., JuS 1964, 14, 15; U/senheimer (Fn. 9), S. 84; Jakobs (Fn. 9), S. 778 Fn. 10. Für Unterlassen: Engisch (Fn. 9), S. 164 f.; Baumann/ArztfWeber, Strafrechts fälle , 5.Aufl. 1981 und 6.Aufl. 1986, jeweils Fall 15. 20

s. hierzu BGHSt. 11, 1,7.

21 OLG Karlsruhe GA 1980, 429 = OLG Karlsruhe NJW 1980, 1859 (Urt. v. 7.2.1980 - 1 Ss 319/79); vgl. zu diesem Fall bereits oben im 2.Abschnitt, A. 11. 2. c).

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

weder in alkoholbedingt fahruntüchtigem Zustand selbst den Pkw auf der Landstraße... in westlicher Richtung geführt oder als für das ... Fahrzeug verantwortlicher Mithalter und Fahrzeuginsasse dem für ihn erkennbar absolut fahruntüchtigen Mitangeklagten nach größtenteils gemeinschaftlichem Alkoholgenuß den Pkw zum Führen auf der... Landstraße überlassen ... Infolge der Fahruntüchtigkeit des Fahrers geriet der Pkw auf die linke Fahrbahnseite und prallte gegen den entgegenkommenden Pkw, dessen Fahrer getötet wurde und dessen Beifahrerin eine Schädelprellung, eine Rißwunde ... , eine Knieprellung ... und einen Schock erlitt. "22 Das OLG Karlsruhe gelangt hier zu einem Schuldausspruch wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung und sieht in der zweiten Sachverhaltsvariante - unter Anwendung der Schwerpunktformel - die Überlassung des Steuers an den Fahruntüchtigen als positives Tun und nicht als Unterlassen an. 23 Der Typhusfall, bei dem A dem B in einem typhusverseuchten Gebiet ein Glas Wasser zu trinken gibt, ohne es vorher abgekocht zu haben und ohne den B zu warnen; B stirbt am Genuß des Wassers. 24 Hier stellt sich die Frage, ob eine fahrlässige Tötung durch ein positives Tun - die Übergabe des typhusverseuchten Glas Wassers - oder durch ein Unterlassen - das Nichtabkochen des Wassers bzw. das Nichtwarnen - vorliegt. Wiederholte Erwähnung findet auch die Fallkonstellation der "omissio libera in causa", die dadurch gekennzeichnet ist, daß der zur Vornahme einer Handlung Verpflichtete sich selbst im Zustand der Handlungstähigkeit schuldhaft - vorsätzlich oder fahrlässig - durch positives Tun zur Gebotserfüllung außerstande setzt oder vom Ort der vorzunehmenden Handlung entfernt, so daß es ihm im entscheidenden Zeitpunkt unmöglich ist, die zur Erfolgsabwendung erforderliche und gebotene Handlung vorzunehmen, mit der Folge, daß der tatbestandsmäßige Erfolg im Zustand der Handlungsuntähigkeit eintritt. Als Beispiele hierfür werden die Fälle der durch Berauschung verursachten Handlungsunmöglichkeit genannt, so der Schrankenwärterfall, in dem sich ein Schrankenwärter derart betrinkt, daß er beim Eintreffen des Zuges infolge der Einwirkung des Alkohols nicht mehr in der Lage ist, die Schranken zu schließen und der Zug dann auf dem Bahnübergang einen Pkw erfaßt, dessen Fahrer getötet wird, und der ähnlich gelagerte Weichenstellerfall, in dem sich ein Weichensteller derart betrinkt, daß er im Zustande der nunmehr alkoholbeOLG Karlsruhe GA 1980,429,430. OLG Karlsruhe GA 1980, 429, 431. Beachte auch BGH NJW 1959, 1979 (s. hierzu unten unter 11. 2.). 24 Nach Maurach, Allg. Teil, 4.Aufl. 1971, S. 582. Z2 23

B. Anwendung der Schwerpunktfonnel nur bei ambivalentem Verhalten?

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dingt eingetretenen Handlungsuntähigkeit nicht mehr in der Lage ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt die Weiche zu stellen und deshalb der herannahende Zug entgleist oder mit einem entgegenkommenden Zug zusammenstößt mit der Folge vieler Todesopfer. In diesen Fällen ist die Frage zu klären, ob der Täter wegen des Sich-Betrinkens aus einem Begehungstatbestand oder wegen der dadurch bewirkten Passivität im maßgeblichen Augenblick - das Nichtschließen der Schranke bzw. das NichtsteIlen der Weiche - nach den Grundsätzen der Unterlassungsdelikte zu bestrafen ist. Außerdem erfreuen sich die Fallkonstellationen des Abbruchs rettender Kausalverläufe, bei denen es um die Beurteilung vorsätzlichen Verhaltens geht, großer Beliebtheit. Die Fälle, in denen jemand die Wirksamkeit von ihm selbst zuvor eingeleiteter Rettungsmaßnahmen später wieder vereitelt, also die Wirkung eigener Rettungstätigkeit rückgängig macht, wie beispielhaft in dem Fall, in dem A dem Ertrinkenden X ein Rettungsseil (oder einen Rettungsring) zugeworfen hat, dann aber, als er erkennt, daß X sein Feind ist, das Seil wieder zurückzieht, bevor es X erreichen kann oder aber das rettende Seil erst zurückzieht, als X es bereits ergriffen hat, mit der Folge, daß X ertrinkt oder der Fall, in dem A den in eine Gletscherspalte (oder einen Brunnenschacht) gefallenen X mit einem Seil schon auf sicheres Terrain heraufgezogen hat, ihn dann jedoch, weil er in ihm seinen Nebenbuhler erkennt, wieder in den Abgrund stößt oder aber das rettende Seil losläßt, als er X bereits ein Stück hochgezogen hat oder aber X das rettende Seil, an dem er selbst hinaufklettern könnte, zwar schon ergriffen hat, es ihm dann aber von A wieder aus der Hand gerissen wird oder aber X im Begriffe ist, danach zu fassen, A jedoch das Seil wegzieht, so daß dieser zu Tode kommt oder der Fall, in dem sich A den bereits auf den Weg gebrachten, eine Anzeige eines drohenden Verbrechens i.S.v. § 138 StGB enthaltenden Brief wieder zurückholt, indem er ihn sich von der Post zurückgeben läßt oder aus dem Briefkasten, in den er ihn geworfen hat, wieder herausholt, weshalb dann die geplante Tat nicht unterbunden wird. In diesen Fällen wird die Frage akut, ob der Täter, hier der A - im Hinblick auf die unterbliebene Rettung des Opfers, hier des X, und die unterbliebene Verhinderung des Verbrechens -, wegen eines Tötungsdelikts durch Unterlassen, soweit er aufgrund einer Garantenstellung zur Abwendung der bestehenden Gefahr verpflichtet ist, oder sonst wegen eines echten Unterlassungsdelikts (§ 323c bzw. § 138 StGB) zu bestrafen ist oder aber - im Hinblick auf das Zurückziehen des eingesetzten Rettungsmittels und das Zurückholen der Verbrechensanzeige - wegen eines Tötungsdelikts durch positives Tun oder wegen aktiver Beihilfe zu einem Verbrechen haftet. Weiterhin die Fälle der Vereitelung fremder Rettungsbemühungen, bei denen ein Dritter in den von einem Rettungswilligen für einen Gefährdeten

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

bereits erfolgsversprechend in Gang gesetzten rettenden Kausalverlauf mit Gewalt, Zwang, Täuschung oder Drohung eingreift und so die Hinderung des Erfolges verhindert, wie etwa in dem Fall, in dem A den Hilfswilligen B gewaltsam - durch Festhalten - davon zurückhält, den Ertrinkenden X zu retten oder auf diese Weise den B an der rettenden Benutzung des ihm, des B, gehörenden Bootes für X hindert oder das von B auf den X zugesteuerte Floß anbohrt und es so zum Sinken bringt, was dann zur Folge hat, daß der sonst mit Sicherheit zu rettende X ertrinkt (zum "Diabetesfall " des OLG Düsseldorf JMBI. NW 1983, 199, s. unten unter II. 2.). In diesen Fällen hat man sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die strafrechtliche Beurteilung des Täterverhaltens - im Hinblick auf die Vereitelung der Rettungshandlung des Rettungswilligen bzw. deren Wirksamkeit - an ein positives Tun oder - im Hinblick auf die Nichtrettung des Getährdeten und die Nichthinderung des Erfolges - an ein Unterlassen anzuknüpfen hat. Darüber hinaus die Fälle, in denen jemand einen sonstwie auf Rettung für einen anderen angelegten Kausalverlauf abbricht, etwa das auf einen Ertrinkenden zutreibende Schlauchboot zerstört oder eine ebensolche Planke ablenkt bzw. festhält und deshalb das Opfer ertrinkt. Auch hier stellt sich die Frage, ob der Täter - wegen des Abbruchs einer rettenden Kausalreihe - als Begehungstäter oder - wegen des Unterbleibens der Rettung - als Unterlassungstäter zu qualifizieren ist. Zudem die Fälle, bei denen der Täter den Einsatz des ihm gehörenden Rettungsmittels für einen Gefährdeten verhindert, wie beispielsweise der Fall, daß der Rettungswillige B den Ertrinkenden X mit dem allein zur Verfügung stehenden Boot des A retten will, hieran jedoch von A gehindert wird, indem A das Boot festhält, so daß der sonst mit Sicherheit zu rettende X ertrinkt oder der Fall, daß X von einem tollwütigen Hund verfolgt wird und in das Haus des A fliehen will, A jedoch die Tür verschließt und so der Hund den X beißt oder A bei Hochwasser die Haustür vor dem Ertrinkenden X verschließt und daraufhin X ertrinkt. In diesen Fällen ist zu fragen, ob die Strafbarkeit des Eigentümers des Rettungsmittels, hier des A - im Hinblick auf die Vereitelung der Benutzung -, unter den Voraussetzungen eines Begehungsdelikts oder - im Hinblick auf die Nichtvomahme des eigenen Rettungsbeitrages unter den Voraussetzungen eines Unterlassungsdelikts zu prüfen ist. Außerdem die Fälle, in denen sich die Verweigerung der Hilfe auf bloße Untätigkeit beschränkt, so etwa der Fall, daß der Rettungswillige B den Ertrinkenden X mit dem allein zur Verfügung stehenden Boot des A retten will, hieran jedoch von A gehindert wird, indem dieser die Benutzung des Bootes für die Rettung des X verweigert oder den Schlüssel des angeschlossenen Bootes nicht herausgibt, woraufhin der sonst mit Sicherheit zu rettende X ertrinkt oder der Fall, daß der X von einem tollwütigen Hund verfolgt wird

B. Anwendung der Schwerpunktfonnel nur bei ambivalentem Verhalten?

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und in das Haus des A fliehen will, die Tür jedoch verschlossen ist, X dagegen klopft, A aber nicht öffnet und folglich X von dem Hund gebissen wird. In derartigen Fällen ist zu entscheiden, ob sich der Verfügungsberechtigte - wegen seiner Untätigkeit - unter dem Gesichtspunkt eines Unterlassens oder - wegen der Verhinderung der Rettung des Gefährdeten - unter dem Gesichtspunkt eines positiven Tuns zu verantworten hat. Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, daß von einigen wenigen Vertretern des Schwerpunktkriteriums zur Behandlung der Fälle des Abbruchs rettender Kausalverläufe auch die Rechtsfigur des "Unterlassens durch Begehen" rekurriert wird (s. umfassend zu dieser Konzeption unten im 8. Abschnitt). Daneben werden in diesem Zusammenhang auch vielfach die Reanimatorfälle behandelt, worunter man die Fälle versteht, in denen die Einstellung der Behandlung durch das Abschalten eines der Reanimation dienenden Gerätes erfolgt. Das Hauptbeispiel bildet der Fall, daß ein Respirator, also ein Beatmungsgerät, oder eine Herz-Lungen-Maschine bei Feststehen, daß die Bewußtlosigkeit des Patienten irreversibel ist, abgestellt wird. Für die strafrechtliche Beurteilung dieses Sachverhaltes stellt sich im Hinblick auf den Todeseintritt beim Patienten die Frage, ob man an ein Handeln - das Abschalten des Gerätes - anzuknüpfen hat oder ob man auf ein Unterlassen - das im Abschalten zum Ausdruck kommende Abbrechen der Therapie - abheben kann (zur Behandlung der mit der Reanimatorproblematik zusammenhängenden Fragen s. ausführlich unten im 9.Abschnitt). Aber auch die Fallgruppe "Nacheinander von Tun und Unterlassen" findet unter diesem Gesichtspunkt Berücksichtigung. Bei dieser zeitlichen Aufeinanderfolge der beiden Verhaltensweisen kann einem positiven Tun ein Unterlassen nachfolgen, aber auch umgekehrt auf ein Unterlassen ein positives Tun folgen - wobei jeweils Kombinationen von Vorsatz und Fahrlässigkeit möglich sind. Der Operationsfall, in dem der Arzt einen Patienten töten will und ihn deshalb zur Einwilligung in eine an sich ungefährliche Operation bestimmt, bei der er ihn verbluten läßt, oder der Arzt den Tötungsvorsatz erst nach vorgenommener Operation faßt. 2s Für die strafrechtliche Beurteilung des ärztlichen Verhaltens bieten sich in beiden Fallvarianten ein positives Tun - die Operation selbst - und ein sich daran anschließendes Unterlassen - das Verblutenlassen - als Anknüpfungspunkte an. Der Bauarbeiterfall, in dem ein Bauarbeiter aus Anlaß von Bauarbeiten zunächst eine Baugrube ausgehoben oder einen Schacht aufgedeckt hatte, und 2S

Nach Mezger (Fn. 9), S. 92 Fn. 4.

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

es deswegen zu einem Unfall kommt, weil er nach Abschluß der Arbeiten das Abstützen der Erdwände oder das Zudecken des Schachtes verabsäumt, also die Baustelle nicht ausreichend abgesichert hat. 26 In diesem Fall wird die Frage relevant, ob auf die Vorhandlung - das Ausheben bzw. Aufdeckenoder auf die nachfolgende Unterlassung - die verabsäumte ausreichende Absicherung der Baustelle - für die Strafbarkeit des Bauarbeiters abzustellen ist. Der Nichtschwimmerfall, in dem A den des Schwimmens unkundigen X fahrlässig vom Bootssteg ins tiefe Wasser gestoßen hat und dann trotz bestehender Rettungsmöglichkeit vorsätzlich jede Rettungshandlung unterläßt, so daß X ertrinkt. 27 In diesem Fall ist zu entscheiden, ob A wegen fahrlässiger Tötung durch Tun oder wegen vorsätzlicher Tötung durch Unterlassen - oder sogar wegen beider Delikte (in Ideal- oder Realkonkurrenz) - zu verurteilen ist. 28 11. Darstellung der Ausführungen

Im Anschluß an diesen abstrakten Überblick über die von den Vertretern der Schwerpunktformel typischerweise im Zusammenhang mit der Unterscheidungsproblematik erwähnten Fälle einschließlich einer Sachverhaltsschilderung und der seitens der Judikatur oft unklaren und infolgedessen streitigen Einordnung als Begehungs- oder/und Unterlassungsdelikt erfolgt nun eine Darstellung der von ihnen zu diesen Fällen gemachten Ausführungen, und zwar vor dem Hintergrund der in diesem Abschnitt interessierenden Frage.

1. Verfechter des Kriteriums der Richtung bzw. des Gegenstandes des rechtlichen Vorwurfs Die Ausführungen zu den von ihnen im Rahmen der Unterscheidungsproblematik behandelten Fälle zeigen, daß Mezger und die sich ihm angeschlossenen Autoren mit dem Kriterium "Richtung bzw. Gegenstand des rechtlichen Vorwurfs" nicht die echte Abgrenzungsfrage zwischen positivem Tun und Unterlassen zu lösen beabsichtigen. Sie untersuchen vielmehr wertend, ob sich der rechtliche Vorwurf gegen das als existent angenommene Handeln oder/und Unterlassen richtet, orientieren sich also von vornherein an ambivalenten Verhaltensweisen. 26 In Anlehnung an Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, 116. 27 Nach Maurach (Fn. 24), S. 582. 28 Zum "Mutterfall" des 4.Strafsenats des BGH - BGH bei Holtz, MDR 1982, 624 - s. unten unter 11. 2.

B. Anwendung der Schwerpunktfonnel nur bei ambivalentem Verhalten?

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a) Mezger Mezger beschäftigt sich vorrangig mit den Fällen aus dem Bereich der Fahrlässigkeitsdelinquenz.

Hinsichtlich des Ziegenhaarfalles meint Mezger, daß rein äußerlich gesehen der Sachverhalt zwar genügende Anhaltspunkte sowohl zu einer Begehungstat - Hingabe der nicht desinfizierten Haare - wie zu einer Unterlassungstat - Unterlassen der gebotenen Desinfektion - gäbe, der Fall aber dennoch ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Unterlassungsdelikts geprüft und entschieden werden müsse, da der Vorwurf gegen den Fabrikanten sich nicht etwa gegen das Verarbeitenlassen von chinesischen Ziegenhaaren überhaupt, sondern nur gegen die Hingabe unter Unterlassung der Desinfektion richte. 29 Und im Radleuchtenfall habe der ohne Beleuchtung voranfahrende Radfahrer nichts getan, was den Tod des entgegenkommenden Radlers durch den Zusammenstoß mit dem nachfolgenden Radfahrer verursacht hätte, so daß bei ersterem höchstens ein Unterlassen, aber kein Tun in Frage kommen könne. 30 Daneben vertritt Mezger die Ansicht, daß in Fällen, "in denen ein positives Handeln nebenher geht" - er nennt den Apotheker- und wiederum den Ziegenhaarfall -, der Vorwurf nicht gegen das positive Tun, sondern gegen das Unterlassen gerichtet sei. 31 Im Lastzugfall gelangt Mezger zur Annahme einer Begehungstat, da es in diesem Fall "wohl nicht der Sachlage entsprechen" würde, eine Unterlassungstat anzunehmen, denn wenn "hier auch die Nichteinhaltung eines be-

29 Mezger, Allg. Teil, Studienbuch, nur 9.Autl 1960, S. 76. Zum Ziegenhaarfall s. auch ders., Strafrecht, Grundriß, nur 3.Aufl. 1943, S. 52, wo er betont, daß dieser Fall ganz unabhängig vom positiven Tun des Beschuldigten zur Unterlassung gestellt werden müsse, weil sich der Vorwurf nicht gegen die Körperbewegung, sondern gegen das Nichttun richte. 30 Mezger (Fn. 29), Studienbuch, S. 76 f. Zum Radleuchtenfall vgl. zudem ders. (Fn. 9), Vorwort S. XIX sowie S. 116 Fn. 21, denn dort stellt er ebenfalls auf die Unterlassung ab, allerdings ohne hierfür eine Begründung anzugeben. Exner, FG-v. Frank, 1930,569,586, meint hingegen, es müsse im Radleuchtenfall von einer Begehung gesprochen werden, da beiden Radfahrern ihr Handeln - das Fahren mit unbeleuchtetem Rad - und nicht ihre Unterlassung - Nichtbeleuchten des Rades - zum Vorwurf gemacht werde. Dabei ordnet er diesen Fall denjenigen Sachverhalten zu, die sich nicht zweifelsfrei in die scharfe Zweiteilung von Begehungs- und Unterlassungsdelikten einordnen ließen. 31 Mezger (Fn. 9), Vorwort S. XIX. Dort weist er zur Begründung darauf hin, daß anderenfalls die Haftung zu weit ausgedehnt werde; vgl. noch seine Ausführungen auf S. 116 Fn. 21, S. 138. Ohne nähere Erläuterung geht er hingegen im Kokainfall vom positiven Tun aus; so Mezger (Fn. 9), Vorwort S. XIX.

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

stimmten Abstandes vorgeworfen wird, so steht doch im Vordergrund die Tatsache, daß der Angeklagte (scil. Fahrer) durch sein Überfahren positiv den Tod des Radfahrers veranlaßt hat" .32, 33 Neben diesen Fahrlässigkeitsdelikten behandelt Mezger die Fälle des Abbruchs rettender Kausalverläufe nur am Rande. Ohne nähere Begründung stuft Mezger die Fallkonstellation der "Hemmung eines Impulses oder Hinderung der Hinderung des Erfolges" als positives Tun ein. 34 Gleichzeitig vertritt er aber die Ansicht, daß Unterlassungsdelikte grundsätzlich auch in mittelbarer Täterschaft begehbar seien, denn wer den zum Handeln Verpflichteten von diesem Handeln abhält - indem er ihn etwa betäubt -, könne tur das Unterbleiben der gebotenen Handlung als Täter verantwortlich gemacht werden, auch wo ihm selbst eine Handlungspflicht nicht oblegen hätte; er habe zwar selbst ein aktives Tun entfaltet, aber das Delikt als Ganzes bleibe ein Unterlassungsdelikt. 35 b) Zustimmende Lehre Nunmehr bedarf es eines Blicks auf die Austuhrungen der zustimmenden Lehre. aa) Hier sind zunächst die Erörterungen von Blei zu beachten. Bei den von ihm herangezogenen Beispielsfällen auf der Ebene der Fahrlässigkeit gelangt Blei - diametral entgegengesetzt zu Mezger - jeweils zur Annahme einer Begehungstat. Den Ziegenhaarfall würdigt Blei ausschließlich unter dem Blickwinkel einer Begehung durch aktives Tun mit dem Argument, 32 Mezger, JZ 1958,281, 282. Auf S. 281 spricht er davon, daß man dem Täter auch den Vorwurf machen könne, er habe den Tod des Radfahrers dadurch verursacht, daß er es unterlassen habe, den gebotenen Abstand von 1-1,50 m einzuhalten. 33 Die These, es könne von subjektiven Umständen abhängen, ob ein Verhalten bei demselben äußeren Geschehen unter den Gesichtspunkt des Begehungs- oder Unterlassungsdelikts fällt, verdeutlicht Mezger anhand seines Operationsfalles, bei dem in der ersten Alternative ein Begehungs-, in der zweiten ein Unterlassungsdelikt vorliegen soll, denn für den Beginn des Tötungsverbrechens sei hier der Zeitpunkt des Entstehens des verbrecherischen Willens entscheidend; s. hierzu Mezger (Fn. 9), S. 133 Fn. 13 i.V.m. S. 92 Fn. 4. 34 Mezger (Fn. 9), S. 133 Fn. 13. Als Beispiel erwähnt er den Fall, daß A den B gewaltsam zurückhält, der den X retten will. 35 Mezger (Fn. 9), S. 420. Den Weichenstellerfall ordnet Mezger (Fn. 9), S. 281 f. i.V.m. Fn. 5, als Unterlassungsdelikt ein, weil das Unterlassen das Wesentliche sei; bestünde keine Rechtspflicht zum Weichenstellen, so würde die positive Handlung des Sich-Betrinkens keine strafrechtliche Haftung begründen.

B. Anwendung der Schwerpunktfonnel nur bei ambivalentem Verhalten?

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daß sich der Vorwurf nicht gegen das Verarbeitenlassen von chinesischen Ziegenhaaren überhaupt und auch nicht gegen die bloße Unterlassung der Desinfektion, sondern gegen die Begründung der Infektionsgefahr durch Ausgabe der Ziegenhaare richte; letztlich verpflichtete nicht der Besitz der Ziegenhaare den Fabrikanten zur Desinfektion, sondern diente das Gebot der Desinfektion allein dazu, die Ausgabe - möglichst - ungefährlicher Materialien an die Arbeiter zu gewährleisten. 36 Und der Radleuchtenfall sei als Begehungsdelikt zu beurteilen, da maßgeblich sei, daß der Täter in der Nacht mit einem unbeleuchteten Rad gefahren ist, und nicht, daß er es beim Wegfahren oder beim Einbrechen der Dunkelheit unterlassen hat, das Licht anzumachen. 37 Ausschließlich nach Unterlassungsgrundsätzen will Blei ein Verhalten werten, mit dem sich der Handelnde durch aktives Tun außerstand setzt, eine schon bestehende oder bevorstehende Handlungspflicht zu erfüllen, denn es komme allein darauf an, daß - und nicht warum - er pflichtwidrig untätig geblieben ist. 38 In den Fallkonstellationen des Abbruchs rettender Kausalverläufe, wie in den Fällen, in denen jemand durch aktives Handeln die Wirksamkeit von ihm zunächst eingeleiteter Rettungsmaßnahmen vereitelt - er nennt als Beispiele die Sachverhalte, in denen sich der Täter von der Post den eine Anzeige i.S.d. § 138 StGB enthaltenden Brief zurückgeben läßt mit der Folge, daß die Tat nicht unterbunden wird oder in denen der Täter den einem Ertrinkenden zu-

36 Blei, Allg. Teil, Studienbuch, nur 17.Aufl. 1977, S. 278; ders., AlIg. Teil, Studienbuch, 18.Aufl. 1983, S. 311, wo er jetzt auch meint, die Auslösung eines zur Tatbestandsverwirklichung führenden Kausalprozesses durch aktives Tun sei grundsätzlich unter dem Blickwinkel der aktiven Begehung zu würdigen, was dazu führen sollte, daß allein auf die aktive Tätigkeit abzustellen sei, sofern das Handeln infolge einer Unterlassung gefährlich war, deren zugrundeliegendes Handlungsgebot allein im Hinblick auf die - zumindest relative - Sicherheit der - aktiven - Handlung zu erfüllen gewesen wäre. Zum Ziegenhaarfall vgl. außerdem Blei, Allg. Teil, PdW, nur 10.Aufl. 1989, S. 129, der an dieser Stelle das Verhalten des Fabrikanten als eine Begehung durch aktives Tun einstuft, weil die Rechtsordnung nicht die Desinfizierung chinesischer Ziegenhaare um ihrer selbst willen gebiete, sondern sie eine Gefährdung anderer dadurch verbiete, daß diese mit einem Träger gefährlicher Krankheitserreger in Berührung gebracht werden; im übrigen hätte das Unterlassen der Desinfektion der Vennittlung durch aktives Tun bedurft, um für Menschenleben gefährlich zu werden. 37 Blei (Pn. 36), Studienbuch, 17.Aufl., S. 278. Vgl. auch Blei (Pn. 36), Studienbuch, 18.Aufl., S. 311, der dort die Ansicht vertritt, daß man das Licht am Auto bei Einbruch der Dunkelheit - nur deshalb - anmachen müsse, weil man nicht ohne ausreichende Beleuchtung fahren dürfe. Eine Einordnung des von ihm ebenfalls erwähnten Typhusfalles unterbleibt; s. seine Ausführungen auf S. 310.

38 Blei (Pn. 36), Studienbuch, 17.Aufl., S. 279; ders. (Pn. 36), Studienbuch, 18.Aufl., S. 311. S. auch ders. (Pn. 36), PdW, S. 124.

42

5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

geworfenen Rettungsring zurückholt, nachdem er in dem Gefährdeten seinen Todfeind erkannt hat -, nimmt Blei ohne jede Differenzierung Begehung durch aktives Tun an. Zur Begründung weist er darauf hin, daß es Begehung durch aktives Tun sei, wenn jemand eine auf Rettung hin ablaufende Kausalkette abbricht - etwa einen Rettungswilligen festhält oder eine auf den Ertrinkenden zutreibende Planke ablenkt -, dasselbe Verhalten dann aber nicht anders beurteilt werden könne, falls jemand den von ihm zunächst auf Rettung hin in Gang gesetzten Kausalverlauf, nachdem er ihn einmal aus der Hand gegeben hat, durch einen aktiven Eingriff zunichte macht. 39 In dem Fall, in dem sich an eine aktive Handlung ein Unterlassen anschließt, weIches dem durch das Tun angestoßenen Kausalverlauf nicht entgegenwirkt, komme dieses Unterlassen für eine selbständige Würdigung in Betracht. 4o So begehe im Nichtschwimmerfall der Täter einen Totschlag durch 39 Blei (Fn. 36), Studienbuch, 17.Aufl., S. 279 f.; ders. (Fn. 36), Studienbuch, 18.Aufl., S. 312. Er meint, daß deshalb die aktive Unterbindung fremden Rettungshandelns immer unter dem Blickwinkel aktiven Tuns zu beurteilen sei, wobei Täterschaft durch Innehabung der Geschehensherrschaft begründet werde - vorsätzliche Tötung durch Entführung des einzigen Arztes, der rechtzeitig Hilfe leisten könnte-, während sonst bloße Teilnahme gegeben sei, wenn der allein Hilfsfähige zum Abstandnehmen von seiner beabsichtigten Rettungsaktion überredet wird. Vgl. hierzu auch Blei (Fn. 36), PdW, S. 125 ff., der dort ausführt, daß in dem FalI, in dem ein Außenstehender die (Tat)Herrschaft über das Geschehen an sich gerissen und einen auf Erfolgsverhinderung in Gang gekommenen Kausalablauf abgebrochen hat - etwa einen anderen durch vis absoluta am erfolgshinderungsbestimmten Tun hindert (er erwähnt als Beispiel vereinfacht gesagt den FalI, daß A den B gewaltsam davon zurückhält, ins Wasser zu springen, um den Ertrinkenden X zu retten) - ausschließlich eine Bestrafung wegen eines täterschaftlieh begangenen Tötungsdelikts durch Begehen in Frage komme, hingegen im FalIe der Bestimmung zur Unterlassung von Rettungshandlungen nur eine Strafbarkeit wegen Anstiftung durch positives Tun zum UnterIassungsde1ikt erfolgen könne. S. darüber hinaus T. Zimmermann, NJW 1952, 1321, 1321 f., der die Ansicht vertritt, daß in dem Fall, in dem A den B durch Festhalten hindert, den Ertrinkenden X zu retten, A vorzuwerfen sei, daß er B gehindert, festgehalten, also etwas getan habe, denn die Hinderung der Erfolgshinderung sei nicht Unterlassen, sondern Tun. Dennoch gelangt er zur Annahme mittelbarer Täterschaft eines unechten Unterlassungsdelikts, wenn B es entgegen seiner ursprünglichen Absicht infolge Drohung durch A unterläßt, seinen Sohn oder ohne dazu verpflichtet zu sein, einen ihm Fremden vor dem Ertrinken zu retten, und spricht dabei von einem abgeleiteten Unterlassungsdelikt. Zur Begründung weist er darauf hin, daß es zu versuchen gelte, das Einwirken des von A ausgehenden Tuns auf das tatbestandsmäßige Unterlassen des B richtig zu erfassen, wobei man dann feststelIen müsse, daß das Tun des einen gar nicht von dem Unterlassen des anderen getrennt werden könne, ohne den natürlichen Zusammenhang zwischen dem Verhalten beider zu zerreißen und den verbindenden juristischen Gesichtspunkt eben die mittelbare Täterschaft schaffe. 40 Blei (Fn. 36), Studienbuch, 18.Aufl., S. 311.

B. Anwendung der Schwerpunktfonnel nur bei ambivalentem Verhalten?

43

Unterlassen und sei im Bauarbeiterfall für die strafrechtliche Bewertung allein

das Unterlassen der gebotenen Vorkehrungen bei Arbeitsschluß maßgeblich,

zumal die aktive Handlung nicht rechtswidrig gewesen wäre. 41

bb) Jetzt soll eine Untersuchung der Überlegungen von Baumann erfolgen. In den von ihm behandelten Fällen fahrlässigen Verhaltens gelangt Baumann jeweils zur Annahme einer Unterlassungstat.

Im Ziegenhaarfall begründet Baumann dieses Ergebnis damit, daß sich bei vom Erfolg aus zurückgehender Betrachtung der Vorwurf nicht gegen die Herausgabe der Ziegenhaare - oder deren Einkauf, oder die Anstellung der Arbeiter, oder den Betrieb der Fabrik -, sondern gegen die Unterlassung der Desinfektion richte. Und auch im Radleuchtenfall richte sich der Vorwurf vom Erfolg aus betrachtet nicht gegen das Fahren ohne Licht, also gegen ein positives Tun, sondern gegen das Nichtanmachen des Lichtes. 42

41

s. vorherige Fn. 40.

Baumann (Fn. 16), § 18 11 1. Hinsichtlich des Lastzugfalles stellt Baumann, Strafrechts fälle, nur 3.Aufl. 1969, Fall 15 sowie Baumann/ArztlWeber (Fn. 19), 5.Aufl. 1981, Fall 15, sein sonst einschlägiges Lösungsverfahren jedoch in Abrede (s. hierzu unten unter C. 11. 4.). Eine genaue Einordnung dieses Falles in die Kategorie des Begehungs- oder Unterlassungsdelikts unterbleibt insoweit, als er zu dem Ergebnis gelangt, daß sowohl in dem Fall, in dem man das Schwergewicht auf das Fahren - positives Tun - legt, als auch in dem Fall, in dem man auf das Unterlassen - der Einhaltung eines gehörigen Sicherheitsabstandes - abstellt, der objektive Tatbestand erfüllt sei. A.A. sind BaumannIWeber (Fn. 16), § 18 11 1, die im Ziegenhaar- und Radleuchtenfall nunmehr aktives Tun annehmen. Ihrer Meinung nach wird dies sofort klar, wenn man von einem vorsätzlichen Handeln des Täters ausgehe, da gerade bei einem objektiv bestimmten einheitlichen Handlungsbegriff für aktives Tun und Unterlassen - wie er von ihnen vertreten wird; s. hierzu ihre Ausführungen im Lehrbuch (Fn. 16), § 16 11 I, 2, 4 b) und von Baumann, FS-Jescheck, 1985, 100, 114 - die Frage "Tun oder Unterlassen?" nicht von der subjektiven Einstellung des Täters - Vorsatz oder Fahrlässigkeit - abhängig gemacht werden dürfe; so liege etwa im Ziegenhaarfall unzweifelhaft Totschlag durch positives Tun vor, sofern der Fabrikant einen ihm verhaßten Arbeiter durch die Verabreichung infIzierter Ziegenhaare hätte töten wollen. Vgl. hierzu außerdem Baumann/ArztlWeber (Fn. 19),6.Aufl. 1986, Fall 15, die dort ebenfalls darauf hinweisen, falls man die problematischen FahrliJssigkeitsdelikte - sie nennen den Ziegenhaar- und Radleuchtenfall- in Vorsatzdelikte wendet, werde sofort deutlich, daß es sich um aktives Tun handele; weil aber die Verhaltensqualität - Tun oder Unterlassen - nicht von der inneren Einstellung des handelnden Täters - vorsätzlich oder fahrlässig - abhängen könne, sei einheitlich aktives Tun - dann ebenso im Lastzugfall- anzunehmen. S. zusätzlich noch Weber, FS-Oehler, 1985,83,85. 42

5 Stoffe"

44

5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

Den Selbstmordfall stuft Baumann als Unterlassungstat ein, da Ursache in dem von ihm verstandenen Sinne das Unterlassen der Fortführung der ehelichen Gemeinschaft des Ehemannes und nicht ein positives Tun, das Weggehen, sei. 43 In Fällen wie den Bauarbeiterfall wird nach Ansicht Baumann 's der Zeitfaktor bedeutsam, weshalb für die Strafbarkeit nicht das Ausschachten, auch nicht der Auftrag an die Arbeiter oder deren Anstellung oder Anwerbung, sondern das Unterlassen der Sicherung in Betracht komme. 44

Die einzelnen Fallkonstellationen beim Abbruch rettender Kausalverläufe löst Baumann folgendermaßen. In dem Fall, daß ein nach § 138 StGB Anzeigepflichtiger den schon auf den Weg gebrachten Anzeigebrief wieder zurückholt, also durch positives Tun doch noch den Unterlassungstatbestand des § 138 StGB erfüllt - echtes Unterlassungsdelikt, verwirklicht durch positives Tun -, soll es bei einer Bestrafung aus dem echten Unterlassungsdelikt des § 138 StGB bleiben, denn es sei gleich zu bewerten, ob von vornherein unterlassen wird oder in einem späteren Zeitpunkt durch positives Tun eine schon in Gang gesetzte rettende Kausalitätskette unterbrochen wird. 45 Aber auch in den Fällen, in denen ein Dritter in den in Gang gesetzten rettenden Kausalverlauf eingreift, richte sich der Vorwurf - es handele sich hierbei um ein Wertungsproblem - nicht gegen das vom Dritten vorgenomme-

43 Baumann (Fn. 16), § 1611 4 d). Für Unterlassen auch BaumannIWeber (Fn. 16), § 18 11 1. 44 Baumann (Fn. 16), § 16 11 4 d) Fn. 43. Er spricht hier von "Sukzession von Verhaltens formen " (s. zu dieser Terminologie unten im 7.Abschnitt, A. 11.).

4S Baumann (Fn. 16), § 18 11 1; er faßt diese Fälle unter die Fallkonstellation des Unterlassens durch Begehung. Auch BaumannIWeber (Fn. 16), § 18 12 i.V.m. 11 1, werten das Unterlassen durch Begehung bei echten Unterlassungsdelikten - trotz der damit einhergehenden Tätigkeit - stets als tatbestandserfüllendes Unterlassen, weil gegen die hinter den echten Unterlassungstatbeständen stehenden Gebotsnormen nur durch Unterlassen verstoßen werden könne und somit für die Tatbestandserfüllung allein die Nichtvornahme der geforderten Handlung maßgeblich sei; was der Adressat des Gebots über das Unterlassen der Gebotserfüllung hinaus an positivem Tun entfaltet, sei insoweit gleichgültig. So sei in dem Fall, in dem ein nach § 138 StGB Anzeigepflichtiger das Schreiben mit der Anzeige des drohenden Verbrechens zunächst einem Bekannten zur Weiterführung an die Polizeibehörde übergeben hat, kurz darauf jedoch den Brief bei diesem zurückholt und ihn vernichtet, der Anzeigepflichtige nach § 138 StGB strafbar, denn er habe trotz dieses aktiven Tuns die gebotene rechtzeitige Anzeige unterlassen.

B. Anwendung der Schwerpunktfonnel nur bei ambivalentem Verhalten?

4S

ne positive Tun, sondern gegen die Unterlassung der Rettungshandlung, bestehe das Verhalten auch aus positivem Tun. 46

46 Baumann (pn. 16), § 18 11 1 i.V.m. Fn. 29. Als Beispiele verwendet er die beiden folgenden Fälle: - B will den Ertrinkenden X mit dem allein zur Verfügung stehenden Boot des A retten, doch hindert A den B durch Festhalten des Bootes an der Abfahrt, so daß der sonst mit Sicherheit zu rettende X ertrinkt; - Ein Dritter bohrt das vom Hilfswilligen auf den Ertrinkenden zugesteuerte Floß an und bringt es auf diese Weise zum Sinken. Baumann hält es hier für ungereimt, den Dritten (A) - der selbst nicht Garant für die Erfolgsvenneidung ist - als Begehungstäter aus § 212 StGB haften zu lassen. Es komme vielmehr nur eine Bestrafung aus § 330c StGB a.F. in Frage, denn im ersten Fall stehe er nicht anders, als wenn er den Schlüssel des angeschlossenen Bootes nicht herausgäbe, im zweiten, als wenn er selbst die von ihm nach § 330c StGB a.F. erwartete Rettungshandlung unterlassen hätte. Hindert hingegen A den B gewaltsam an der rettenden Benutzung des ihm, dem B, gehörigen Bootes, so könne § 212 StGB, verwirklicht durch positives Tun, vorliegen. Damit werde deutlich, daß die Einordnung eine "Wertungs frage" sei.

A.A. sind BaumannIWeber (Fn. 16), § 18 11 1, die meinen, bei den Begehungstatbeständen gehe es im Rahmen der Fallkonstellation Unterlassen durch Begehen praktisch um Eingriffe in Kausalverläufe, die zur Rettung bedrohter Rechtsgüter führen würden. So sei bei aktivem rettungshindernden Eingreifen in eine bereits anderweitig, insbesondere von Dritten in Gang gesetzte Rettungsmaßnahme positives Tun und damit Strafbarkeit wegen eines Begehungsdelikts anzunehmen, weshalb in dem Fall, in dem der Rettungswillige B den Ertrinkenden X mit dem allein zur Verfügung stehenden Boot des A retten will, hieran jedoch von A durch das Festhalten des Bootes gehindert wird, so daß der sonst mit Sicherheit zu rettende X ertrinkt, eine Strafbarkeit des A aus § 212 StGB durch aktives Tun in Betracht komme. Diese Fälle würden nicht anders liegen als etwa die Aufhebung von Vorrichtungen, die menschliches Leben und Gesundheit schützen sollen. In den Sachverhaltsgestaltungen, in denen der später aktiv Eingreifende den Rettungsprozeß zunächst selbst in Gang gesetzt hatte, liegt nach ihrer Ansicht ebenfalls ein zur Bestrafung nach dem Begehungstatbestand führendes aktives Tun vor, wenn die Rettung des in Not Befmdlichen bereits gelungen war - so sei, falls A den in eine Gletscherspalte gefallenen X mit einem Seil bereits auf sicheres Terrain heraufgezogen hat, ihn dann aber, weil er in ihm seinen Nebenbuhler erkennt, wieder in den Abgrund stößt, wo er umkommt, § 212 StGB verwirklicht -, während bloßes Unterlassen nach § 323c StGB anzunehmen sei, sofern A gar nicht erst zur Rettung des X ansetzt, es sei denn, er hätte gegenüber X eine Erfolgsabwendungspflicht nach § 13 StGB, weil dann § 212 StGB durch Unterlassen vorliege. Für Fälle im Zwischenbereich gelte der Grundsatz, daß die Annahme aktiven Tuns um so näher liege, je weiter das Rettungsgeschehen gediehen ist, je weniger der Gefährdete noch auf fremde Hilfe angewiesen ist - so komme ein Totschlag durch aktives Tun in Frage, wenn X das rettende Seil, an dem er selbst hinaufklettern könnte, bereits ergriffen hat, es ihm dann aber von A wieder aus der Hand gerissen wird oder wenn X im Begriffe ist, danach zu fassen, A aber das Seil wegzieht (zu ihren Ausführungen zum Reanimatorfall s. unten im 9.Abschnitt, A. 11.

2. d».

46

5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

2. Entscheidungen mittels der Schwerpunktjormel in der Judikatur Eine nähere Untersuchung derjenigen Entscheidungen in der Judikatur, die sich ausdrücklich der Schwerpunktformel bedienen, ergibt, daß mit dieser kein echtes Abgrenzungskriterium zwischen positivem Tun und Unterlassen angeboten werden soll, sondern aufgrund der hypothetischen Annahme des Vorliegens eines Handelns und eines Unterlassens die Unterscheidung vielmehr als gegeben vorausgesetzt wird. Der Bundesgerichtshof und die Oberlandesgerichte beantworten mittels des Schwerpunktmerkmals lediglich die Konkurrenzfrage, welche dieser beiden - ohne ersichtliche Begründungunterstellten Verhaltensformen für die strafrechtliche Beurteilung von Relevanz ist. Somit ergibt sich, daß im Verständnis der Rechtsprechung die Schwerpunktformel von vornherein auf die Fälle ambivalenten Verhaltens beschränkt wird. Für diese Erkenntnis ist vor allem der "2. Kuppeleifall " des OLG Stuttgart, in dem u.a. ausgeführt wird, daß selbst dann, wenn die angeklagten Eltern durch tätiges Handeln - Überlassen der Ehebetten an die Verlobten - zur Unzucht beigetragen haben sollten, der Schwerpunkt ihres Verhaltens darin läge, daß sie das Zusammenwohnen hinnahmen, es also unterließen, dagegen einzuschreiten, maßgeblich. 47 Das OLG Stuttgart stellt demnach für die Stratbarkeitsprüfung trotz Vorliegens eines positiven Tuns auf das gleichfalls gegebene Unterlassen ab, weil hierin der Schwerpunkt des Verhaltens der angeklagten Eltern begründet sei, setzt folglich das Vorhandensein bei der Verhaltensformen voraus und fragt nicht danach, ob und warum überhaupt ein Handeln und/oder ein Unterlassen anzunehmen ist. 48 Auch der "Steuerüberlassungsfall" des OLG Karlsruhe ist hier ganz typisch, wenn dieses Instanzgericht den Schwerpunkt des Täterverhaltens im positiven Tun - die Überlassung des Steuers eines Kraftfahrzeuges an den Fahruntüchtigen _,49 und nicht, wie die Gerichte in vergleichbaren Sachverhalten - dann allerdings ohne Nennung von Abgrenzungskriterien -, im Unterlassen - die OLG Stuttgart FamRZ 1959,74 (zu § 181 Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F.). Für die Beschränkung der Schwerpunktformel auf ein komplexes Verhalten spricht auch der Hinweis des Großen Strafsenats und des 4.Strafsenats des Bundesgerichtshofes im "1." und im "3.Kuppeleifall" - BGHSt. 6, 46, 59 und BGH, unveröffentl. Besch!. v. 15.12.1961-4 StR 376/61 (jeweils zu § 181 Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F.) -, im Hinblick auf die Frage, ob ein Tun oder ein Unterlassen vorliegt, dürften einzelne Verhaltensweisen nicht in äußerlicher Betrachtung - formal - überbetont werden. Aufgrund dessen gelangt der BGH dann in beiden Fällen zur Annahme eines Unterlassungsdelikts, indem er einzelne Verhaltensweisen, die ein positives Tun darstellen (könnten), unberücksichtigt läßt. 47 48

49

OLG Karlsruhe GA 1980,429, 431 (zu §§ 222, 230 StGB).

B. Anwendung der Schwerpunktfonnel nur bei ambivalentem Verhalten?

47

Nichthinderung bzw. Nichtuntersagung der Führung eines Kraftfahrzeuges durch den Fahruntüchtigen - liegen sieht. 50 Der "Mutterfall" des 4.Strafsenats des BGR ist der Fallkonstellation "Nacheinander von Tun und Unterlassen" zuzuordnen, denn dieser Senat erblickt das strafbare Verhalten der angeklagten Mutter nicht in dem nachfolgenden positiven Tun - dem Verabreichen der Nahrung, an der ihr Kind erstickte -, sondern in dem vorangegangenen Unterlassen - nämlich darin, daß sie das Kind zuvor nicht regelmäßig ernährt und gepflegt hatte -, weil hier das Schwergewicht ihrer Tat liege. 51 Einer gesonderten Erwähnung bedarf der "Diabetesfall " des OLG Düsseldorf. Wenn das Gericht den Schwerpunkt des Täterverhaltens bei einer Begehung findet, den folgenschweren Verhaltensanweisungen der angeklagten Ärztin an die Eltern des zuckerkranken Kindes,52 so kommt damit gleichzeitig zum Ausdruck, daß es ein mögliches Unterlassen - die angeklagte Ärztin unterließ es, sich bei der Übernahme der Behandlung über den bisherigen Krankheitsverlauf des Kindes und den Befund zuvor zuverlässig zu unterrichten und nach dem Absetzen des Insulins einen lückenlosen Kontakt zu dem Kind zu halten - für die rechtliche Würdigung als unbeachtlich einstuft. Dieser Fall hat aber auch die Fallkonstellation der "Vereitelung einer offensichtlich erfolgsversprechenden Rettungshandlung" zum Gegenstand, doch beruft sich das OLG Düsseldorf zu ihrer Einordnung als Begehung nicht ausdrücklich auf die Schwerpunktformel. 53, 54

so So BGH NJW 1959, 1979 (zu § 1 StVO) , für den Fall der Überlassung des Steuers an den übennüdeten Beifahrer durch den verantwortlichen Führer eines Lastzuges, und auch OLG Karlsruhe JZ 1960, 178, 178 f. (zu § 222 StGB): in dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Fall hatte der Angeklagte zunächst die Führung eines Kraftwagens aus Gefälligkeit übernommen, weil der Fahrer, der sich wegen Alkoholgenusses fahruntüchtig fühlte, ihn darum gebeten hatte und dann den Fahrer an der Weiterfahrt nicht gehindert, als dieser den Wagen später selbst wieder übernehmen will. Vg!. noch BGHSt. 14,24,27 f. (zu §§ 1,39 StVO, §§ 2, 71 StVZO). 51

BGH bei Holtz, MDR 1982, 624 (zu § 226 StGB).

52

OLG Düsseldorf JMB!. NW 1983, 199,200 f. (zu § 226 StGB).

53 OLG Düsseldorf JMB!. NW 1983, 199, 201. Schließlich "bewirkte" die angeklagte Ärztin unter kausalgesetzlichen Gesichtspunkten ein Unterlassen, nämlich das Nichtverabfolgen der gebotenen Insulininjektionen, griff also in die Entschließungstätigkeit von Personen, der Eltern des Kindes, ein.

54 Im "Ausreisefall" des OLG Frankfurt GA 1987, 549, 551 (zu § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG) hätte neben dem Unterlassen der Ausreise auch der Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland trotz Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis als Anknüpfungspunkt für die strafrechtliche Beurteilung des Angeklagten zur Verfügung gestanden.

48

5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

3. Befürworter der Schwerpunktformel in der Literatur

Die Behauptung, das Schwerpunktkriterium in seinen unterschiedlichen Ausformungen diene überhaupt nicht der eigentlichen, vorrechtlichen Abgrenzung von Tun und Unterlassen, sondern finde allein in Fällen Anwendung, in denen bereits vom Vorliegen sowohl eines Handelns als auch eines Unterlassens ausgegangen wird und in denen dann nur noch die Frage auftritt, auf welche der beiden festgestellten Verhaltensformen bei der strafrechtlichen Beurteilung abzustellen ist, erfährt auch durch seine Vertreter in der Literatur Bestätigung. Zunächst ist der Umstand zu berücksichtigen, daß mehrere der Befürworter des Schwerpunktkriteriums in der Lehre selbst davon sprechen, daß die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen in der Regel zwar unproblematisch sei, es aber daneben mehrdeutige Verhaltensweisen gebe, bei denen sich sowohl ein Tun als auch ein Unterlassen als Anknüpfungspunkt für die strafrechtliche Beurteilung eines Straftatbestandes anbiete, ein Verhalten also zugleich Tätigkeits- und Unterlassungselemente aufweise. Hier sei dann die Frage schwierig zu beantworten, auf welchen Bestandteil des Verhaltens man jeweils abzustellen habe. 55 In die gleiche Richtung geht der Hinweis, gerade hinsichtlich der Frage, ob ein begründbares Handeln oder ein feststellbares Unterlassen den strafrechtlichen Erfolg verursacht habe bzw. für die strafrechtliche Bewertung maßgebend sei, würden sich Zweifel ergeben. 56 Daneben wird dieser Eindruck aber auch durch ihre Ausführungen im Rahmen der von ihnen behandelten Problemfälle aus dem Bereich der Fahrlässigkeits- und Vorsatzdelinquenz sowie der sonstigen angesprochenen Fallgruppen vermittelt. Die Anhänger des Schwerpunktkriteriums im Schrifttum sind der Ansicht, daß bei der Fahrlässigkeitstat ein Tätigkeitsmoment, die Vornahme der fahrlässigen Handlung, stets mit einem Unterlassungsmoment, die Außerachtiassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, verbunden sei, weshalb ein sorgfaltspflichtwidriges Tun auch als Unterlassen des sorgfaltspflichtgemäßen Tuns gewertet werden könne. Da dieses Unterlassungs55 Zum vorherigen s. Kienapfel, Strafrechtsfälle, nur 3.Aufl. 1975, S. 40; Hanack, DÄ 1969, 1320, 1325; Wesse~, Allg. Teil, nur 20.Aufl. 1990, § 16 I 2; LeukauJlSteininger, StGB (Österreich), nur 2.Aufl. 1979, Vor § 1 Rdn. 9; Haft, Allg. Teil, nur 4.Aufl. 1990, S. 171; ders., Fallrepetitorium Allg. und Bes. Teil, nur 2.Aufl. 1991, S. 72 (Fall-Nr. 375); ders., JA 1982, 473, 474; Ebert, Allg. Teil, 1985, S. 152. Vgl. auch Geilen, Alig. Teil, l.Aufl. März 1976, S. 231, 2.Aufl. September 1976, S. 232. 56 Dies gilt etwa für G.E. Hirsch, NJW 1969, 853, 854; WeißaueriOpderbecke, BÄ 1973, 98, 112; Stree, in: Schönke/Schröder (S/S), StGB, nur 22.Aufl. 1985, und 23.Aufl. 1988, jeweils Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 158; Beulke/Mayer, JuS 1987, 125, 126; Ranft, JZ 1987, 908, 916.

B. Anwendung der Schwerpunktformel nur bei ambivalentem Verhalten?

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moment jedoch nur eine wesensnotwendige Modalität des Handlungsvollzugs beim Fahrlässigkeitsdelikt sei, das Sorgfaltsgebot also lediglich der Ungefiihrlichkeit des Tuns diene, liege der Schwerpunkt regelmäßig auf dem aktiven Tun; das Unterlassungsmoment trete insoweit zurück. Infolgedessen sei das Verhalten dann rechtlich insgesamt als Begehen zu qualifizieren. S7 Diese Schlußfolgerung hat folgende Auswirkungen auf die Behandlung der von ihnen herangezogenen Beispielsfälle aus dem Fahrlässigkeitsbereich. Im Ziegenhaarfall wird eine fahrlässige Tötung durch positives Tun angenommen, weil der Schwerpunkt des vorwerfbaren und strafrechtlich relevanten Verhaltens in der Herausgabe der nicht desinfizierten Ziegenhaare durch den Fabrikanten an seine Beschäftigten zur Verarbeitung und nicht in der pflichtwidrigen Unterlassung der gebotenen Desinfektion der Ziegenhaare liege. S8 Im RadieuchtenfallS9 sowie im Lastzugfa1l60 wird das Schwergewicht der Vorwertbarkeit ebenfalls auf das erfolgsverursachende aktive Tun - das Fahren ohne Licht bzw. das Überholen mit zu geringem Sicherheitsabstandund nicht auf das Unterlassen - das Nichtanbringen oder Nichteinschalten der Fahrradlampe bzw. das Nichteinhalten eines ausreichenden Seitenabstandes gelegt, weshalb nur eine Bestrafung nach dem Begehungsdelikt - jeweils fahrlässige Tötung - erfolgen könne. Und auch im "Steuerüberlassungsfall" wird der Schwerpunkt des Verhaltens im Handeln - dem Überlassen des Steuers an einen Fahruntüchtigen durch den Kraftfahrer - und nicht im Unterlassen - dem Nichthindem an der Fahrt - gesehen. 61 , 62 57 Vgl. hierzu Maurach (Fn. 24), S. 582; Canaris, lZ 1963, 655, 656; Kienapfel (Fn. 55), S. 40 Fn. 1; Preisendanz, StGB, nur 30.Aufl. 1978, § 13 Anm. 11 2; Wessels (Fn. 55), § 16 I 2; SIS-Stree (Fn. 56), jeweils Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 158; Geilen (Fn. 55), 1.Aufl., S. 232; Haft (Fn. 55), Allg. Teil, S. 172; ders. (Fn. 55), Fallrepetitorium, S. 73 (Fall-Nr. 383); Ebert (Fn. 55), S. 152. Die Autoren sind sich darüber einig, daß die fahrlässigkeitstypische Unterlassung - der unsorgfältig handelnde Täter unterläßt es, die gebotene Sorgfalt anzuwenden - allein noch nicht in der Lage sei, aus jedem fahrlässigen Begehungsdelikt ein unechtes Unterlassungsdelikt zu machen. 58 So Maurach (Fn. 24), S. 582; Schräder, in: Schönke/Schröder, StGB, nur 17.Aufl. 1974, Vorbem. 95; Preisendanz (Fn. 57), § 13 Anm. 11 2; Wessels (Fn. 55), § 16 I 2; Bringewat, Allg. Teil, 1971, S. 13; SIS-Stree (Fn. 56), jeweils Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 158; Geilen (Fn. 55), l.Aufl., S. 233; Haft (Fn. 55), Allg. Teil, S. 171 f.; ders., Fallrepetitorium Allg. und Bes. Teil, 1. Aufl. 1982, S. 69 (Fall-Nr. 391). 59 s. dazu bei Maurach (Fn. 24), S. 582; Kienapfel (Fn. 55), S. 40; Wessels (Fn. 55), § 16 I 2; Geilen (Fn. 55), 1.Aufl., S. 233; Ebert (Fn. 55), S. 152. 60

Etwa Preisendanz (Fn. 57), § 13 Anm. 11 2.

Z.B. durch SIS-Stree (Fn. 56), jeweils Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 158 und Haft (Fn. 55), Allg. Teil, S. 171 f.. 62 Zum Typhusfall vgl. Maurach (Fn. 24), S. 582, für den bei der gebotenen komplexen Betrachtung feststeht, daß der Täter dem Opfer gesundheits gefährliche Mittel 61

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

In der Fallkonstellation der "omissio libera in causa" - wie etwa im Schrankenwärter- oder im Weichenstellerfall- soll nach den Vertretern der Schwerpunktformel die strafrechtliche Verantwortlichkeit bestehen bleiben und eine Bestrafung nach den Grundsätzen der Unterlassungsdelikte erfolgen. 63 durch aktives Tun verabreicht und daher eine fahrlässige Tötung durch Begehungsakt verwirklicht habe. Zum Selbstmord fall äußert sich Haft (Fn. 55), Fallrepetitorium, S. 74 (Fall-Nr. 387), wie folgt: Hinsichtlich des Tuns - dem Verlassen - scheide eine objektive Sorgfaltspfllchtverletzung und damit ein tatbestands mäßiges fahrlässiges Verhalten des Ehemannes aus, denn man könne nicht eine Regel ableiten, wonach ein Ehepartner gezwungen ist, in einer zerrütteten Ehe auszuharren. Es komme daher für eine Bestrafung des Ehemannes nur das Unterlassen - von Sicherungsmaßnahmen - in Betracht. S. auch Neumann, Moderne Unfallverhütung, Heft 21 (1977), 12, 17, Tledemann, (Fn. 9), S. 379, Beu/ke/Mayer (Fn. 56), S. 126, Gimher, JuS 1987, 386, 387 Fn. 11, die gleichfalls Sachverhalte aus dem Bereich der Fahrlässigkeitsdelinquenz (§§ 222, 230 StGB) behandeln und dann mit Hilfe der Schwerpunktformel entscheiden, ob als strafrechtlich relevantes Verhalten ein aktives Tun oder ein Unterlassen maßgebend ist. 63 s. dazu Maurach, JuS 1961, 373, 376 f.; Br;ngewat (Fn. 58), S. 6 f.; Preisendam (Fn. 57), § 13 Anm. III 2 a); Leukauj/Ste;n;nger (Fn. 55), § 2 Rdn. 10; S/SStree (Fn. 56), jeweils Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 144; Geilen (Fn. 55), 2.Aufl., S. 231; Ranft, JA 1983, 239, 240; Ebert (Fn. 55), S. 153. Den Umstand, daß dies unabhängig davon sei, ob der Ausschluß der Handlungsmöglichkeit durch Unterlassen oder durch Handeln geschieht, erklären sie damit, daß nur dem "an sich" Handlungspfllchtigen ein Vorwurf daraus gemacht werden könne, daß er sich seiner Handlungsfahigkeit begeben hat (so Stree) bzw. entscheidend sei, daß er untätig geblieben ist und nicht warum (so Eben). Vgl. hierzu noch Maurach (Fn. 63), S. 377, der meint, das entscheidende Argument pro oder contra Unterlassungs- oder Begehungsdelikt liege darin, daß im Weichenstellerfall tauglicher Täter nur der speziell Erfolgsabwendungsverpflichtete sein könne. Wenn ein Unbeteiligter sich in den Zustand der Handlungsunfähigkeit versetzt, um sich aktionsunfähig zu machen und den Zug durch NichtsteIlung der Weiche entgleisen zu lassen, sei dies ein strafrechtlich irrelevanter Vorgang - der Unbeteiligte wäre zwar im Zustand der Handlungsfähigkeit in der Lage gewesen, die Entgleisung zu verhindern, doch habe für ihn keine Verpflichtung bestanden, in das Kausalgeschehen einzugreifen. Da der gleiche Vorgang - das Leeren der Flasche - in der Person des Weichenstellers relevant, in der Person des Unbeteiligten unerheblich sei, könne die Entscheidung nur zugunsten eines unechten Unterlassungsdelikts fallen. Die Möglichkeit, ein solches trotz Handlungsunfähigkeit anzunehmen, ergebe sich aus den Regeln der "actio libera in causa", weshalb die dolos herbeigeführte Handlungsunfähigkeit des Handlungspfllchtigen weggedacht werden könne; er werde so behandelt, als habe er zu dem kritischen Zeitpunkt die Erfolgsabwendungsmöglichkeit gehabt. Die Leerung der Flasche sei insoweit eine straflose Vorbereitungshandlung zu einem unechten Unterlassungsdelikt und nicht objektives Tatbestandsmerkmal eines Begehungsdeliktes, nicht Beginn der Ausführungshandlung, wobei die Erfolgsabwendungspflicht des Unterlassenden schon durch seine Stellung als Bahnbediensteter begründet werde und nicht durch das schuldhafte Sich-Betrinken. Auf S. 378 weist er auch darauf hin, die unechte Unterlassung werde "fingiert".

B. Anwendung der Schwerpunktfonnel nur bei ambivalentem Verhalten?

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Zum Nichtschwimmerfall wird ausgeführt, daß zwar tatbestandsmäßig - die Einheit des Erfolges stehe dem nicht entgegen - Tatmehrheit zwischen fahrlässiger und vorsätzlicher Tötung vorliege, zumal die Kausalität des fahrlässigen Ins-Wasser-Werfens nicht durch die spätere vorsätzliche Untätigkeit überholt oder unterbrochen werde, die aber nicht nach den Regeln der Realkonkurrenz, sondern in entsprechender Anwendung der Grundsätze über die mitabgegoltene oder mitbestrafte Vortat behandelt werden müsse, so daß nur eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tötung erfolge, wobei der fahrlässig begangene Vorakt gleichzeitig die Ingerenz - rechtspflichtschaffende Vorhandlung - begründe. 64 Im Bereich der Vorsatzdelikte werden von den Anhängern der Schwerpunkttheorie vorrangig die Fallkonstellationen des Abbruchs rettender Kausalverläufe, und zwar die der Verhinderung eigener und fremder Rettungsaktivitäten, genannt. In den Fällen, in denen der Täter von ihm selbst eingeleitete Rettungsmaßnahmen wieder rückgängig macht oder abbricht,65 soll ein positives Tun vorliegen, wenn die Rettungstätigkeit dem gefährdeten Objekt bereits eine realisierbare und effektive Rettungsmöglichkeit eröffuet hat, also ein erreichbarer und hinreichend wahrscheinlicher Rettungserfolg vereitelt wird,66 ein bloßes Unterlassen hingegen, wenn die Rettungshandlung das gefährdete Objekt noch nicht erreicht und ihm noch keine realisierbare Rettungsmöglichkeit eröffuet hat, also der Täter noch nicht alles zur Rettung Erforderliche

64 So Maurach (Fn. 24), S. 582, der auch in diesem Zusammenhang darauf hinweist, daß nur das Bestreben nach voller Ausschöpfung des Unrechtsgehalts zum richtigen Ergebnis führen könne. Anders hingegen Haft (Fn. 55), Allg. Teil, S. 171 f., der zur Fallgruppe "Nacheinander von Tun und Unterlassen" ausführt, daß bei dieser zeitlichen Aufeinanderfolge der beiden Verhaltensfonnen in den einzelnen Fällen, wie im "Steueruberlassungsfall", ein Tun vorliege.

6S In diesem Zusammenhang werden auch wiederholt die Reanimatorfälle behandelt, wie etwa von Hanack (Fn. 55), S. 1325; Wesse~ (Fn. 55), § 16 I 2; Krey, JuS 1971,248,249; ders., Bes. Teil, Bd. 1, nur 8.Aufl. 1991, S. 6; Preisendanz (Fn. 57), § 13 Anm. 11 2; WeißauerlOpderbecke (Fn. 56), S. 112; SIS-Stree (Fn. 56), 22.Aufl. 1985, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 159 a, 23.Aufl. 1988, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 160; Geilen (Fn. 55), l.Aufl. S. 232; Haft (Fn. 55), Allg. Teil, S. 172 f.; ders. (Fn. 55), FaIIrepetitorium, S. 72 (Fall-Nm. 375-377); ders. (Fn. 55), JA 1982, 474; Ebert (Fn. 55), S. 153. Eine Darstellung ihrer Ausführungen zu diesem Problemkreis erfolgt unten im 9.Abschnitt, A. I. 2. 66 I.d.S. Preisendanz (Fn. 57), § 13 Anm. 11 2; Wesse~ (Fn. 57), § 16 I 2; SISStree (Fn. 56), 22. Aufl. 1985, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 159 a, 23. Aufl. 1988, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 160; Haft (Fn. 55), Allg. Teil, S. 172 f.; ders. (Fn. 55), Fallrepetitorium, S. 73 (Fall-Nm. 380 f.); ders. (Fn. 55), JA 1982, 474.

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

getan hat. 67 Demzufolge müsse von einem Unterlassen gesprochen werden, falls A dem Ertrinkenden bzw. in einen Brunnenschacht gefallenen X ein Seil zugeworfen hat, dann aber, als er erkennt, daß X sein Feind ist, das Rettungsseil wieder zurückzieht, bevor es X erreichen kann,68 von einem Handeln dagegen, sofern A das Rettungsseil erst zurückzieht, nachdem es der Ertrinkende X bereits ergriffen hat bzw. es losläßt, als er X schon ein Stück aus dem Brunnenschacht hochgezogen hat. 69 In den Fällen der Vereitelung effektiver Rettungsbemühungen durch aktives Eingreifen in fremde Rettungshandlungen - etwa im Wege des Zwanges oder der Täuschung - sollen trotz der Unterlassungskomponente - die Rettung unterbleibt - grundsätzlich die Voraussetzungen eines Begehungsdelikts erfüllt sein. Dies bedeute, daß detjenige, der einen unabhängig von ihm - also von dritter Seite oder sonstwie - auf Rettung für einen anderen angelegten Kausalverlauf abbricht, prinzipiell als Begehungstäter anzusehen sei. 7o Dabei sei es - wie sich aus 67 s. vorherige Fn. 66. Vgl. auch Ranft, JZ 1987, 859, 862, der von Fällen spricht, in denen sich der Abbruch des rettenden Kausalverlaufes noch innerhalb des zustehenden Handlungsspielraumes vollziehe und noch keine unmittelbare Außenwirkung entfaltet habe. Ohne jede Differenzierung, d.h. generell für die Annahme eines Unterlassens in den Fällen, daß jemand die Wirkung eigener Rettungstätigkeit aktiv vereitelt: Ebert (Fn. 55), S. 153, der meint, nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit sei hier eher Unterlassen anzunehmen, da das Verhalten des Täters auch hier, nicht anders als wenn er sich von vornherein zur Rettung außerstand setzt, im Ergebnis auf ein Untätigbleiben hinauslaufe. Vgl. auch Ebert, JuS 1970, 400, 404 i.V.m. Fn. 50, wo er zu einer Befürwortung der Rechtsfigur des "Unterlassungsdelikts (bzw. straflosen Unterlassens) durch Tun" tendiert und meint, typische Fälle im Rahmen dieser Figur seien etwa die tätige Verhinderung sowie die aktive Unterbrechung eigener Hilfeleistung. 68 So WesseLs- (Fn. 55), § 16 I 2; Preisendanz (Fn. 57), § 13 Anm. II 2; Haft (Fn. 55), Allg. Teil, S. 172 f., der erklärt, das Tun - das Zuwerfen des Seiles - sei für den tatbestands mäßigen Erfolg - das Ertrinken - nicht kausal geworden. Nach Eben (Fn. 55), S. 153, erfolgt eine Bestrafung aus § 138 StGB, wenn der Täter den Brief, in dem er der zuständigen Behörde von einem geplanten Mord Anzeige gemacht hat, aus dem Briefkasten, in den er ihn bereits geworfen hat, wieder herausholt. Und für Ranft (Fn. 67), S. 862, bedarf es in diesem Fall, in dem eine Person eine zur Erhaltung eines fremden Schutzgutes geeignete Mitteilung in einem Brief niederlegt, ihn vor Abholung aber vernichtet, zur Bestrafung einer zusätzlich begründeten Pflicht, etwa aus einem Garantenverhältnis oder z.B. aus §§ 323c, 138 StGB. (I) Vgl. WesseLs- (Fn. 55), § 16 I 2; Preisendanz (Fn. 57), § 13 Anm. 1I 2; Haft (Fn. 55), Allg. Teil, S. 172 f.; ders. (Fn. 55), Fallrepetitorium, S. 73 (Fall-Nr. 381).

70 I.d.S. Schräder (Fn. 58), Vorbem. 95 a; WesseLs- (Fn. 55), § 16 I 2; S/S-Stree (Fn. 56), jeweils Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 159; Preisendanz (Fn. 57), § 13 Anm. 1I 2; Haft (Fn. 55), Allg. Teil, S. 172; ders. (Fn. 55), Fallrepetitorium, S. 72 f. (Fall-Nm. 378 f.); Ebert (Fn. 55), S. 152 f. ("der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt in der Steuerung bzw. Umgestaltung des Kausalgeschehens"); ders. (Fn. 67), S. 404 i.V.m. Fn. 50; Ranft (Fn. 67), S. 860.

B. Anwendung der Schwerpunktfonnel nur bei ambivalentem Verhalten?

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§ 904 BGB ergebe - unerheblich, ob es sich um Täter handelt, die als Eigentümer verpflichtet gewesen wären, ihre Sachen zur Rettung zur Verfügung zu stellen oder ob andere Personen die Tat begingen; auf die Eigentumsverhältnisse komme es bei der Verhinderung des Einsatzes bestimmter Rettungsgeräte nicht an. 71 So sei nur eine Bestrafung nach dem Begehungsdelikt möglich, wenn A das auf den Ertrinkenden X zutreibende Schlauchboot zerstört oder eine ebensolche Planke festhält, 72 oder wenn A den Rettungswilligen B mit Gewalt daran hindert, den Ertrinkenden X zu retten,73 oder wenn X von einem tollwütigen Hund verfolgt wird und in das Haus des A fliehen will, A jedoch die Tür verschließt. 74 , 7S Für die Annahme eines Unterlassungsdelikts bleibe nur Raum, falls sich die Verweigerung der Hilfe auf bloße Untätigkeit beschränkt. 76 111. Resümee

Resümierend läßt sich die oben gestellte Frage, ob die Schwerpunktformel in ihren unterschiedlichen Ausformungen, die sie durch die Judikatur und 71 So SchrMer (Fn. 58), Vorbem. 95 a; WesselS' (Fn. 55), § 16 I 2; S/S-Stree (Fn. 56), jeweils Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 159. 72 Beispielsweise SchrtJder (Fn. 58), Vorbem. 95a; S/S-Stree (Fn. 56), jeweils Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 159; Preisendanz (Fn. 57), § 13 Anm. 11 2; Haft (Fn. 55), Allg. Teil, S. 172. 13 s. hierzu WesselS' (Fn. 55), § 16 I 2; Preisendanz (Fn. 57), § 13 Anm. 11 2; Ebert (Fn. 55), S. 153. 74 Nach Haft (Fn. 55), Fallrepetitorium, S. 72 f. (Fall-Nr. 378). Er meint, sofern der Hund X beillt, habe A durch Tun eine Ursache für die Körperverletzung des X gesetzt. Vgl. auch ders., Allg. Teil, 2.Aufl. 1984, S. 162, für den vergleichbaren Fall, daß A bei Hochwasser die Haustür vor dem Ertrinkenden X verschließt; hier sei A Täter eines Begehungsdelikts. 75 Zum "Diabetesfall" des OLG Düsseldorf s. ausführlich Ranft (Fn. 67), S. 862, der u.a. meint, bei der hier vorzunehmenden "Wertung" spreche für die Annahme eines Begehungsdelikts entscheidend, daß sich die Einwirkung der angeklagten Ärztin, die nicht lege artis vorging, außerhalb des ihr zustehenden Handlungsspielraumes vollzog; derartige Fälle, die einen Einbruch in einen fremden Rechtsgüterkreis enthielten, stünden denjenigen unwertmäßig gleich, in denen sich die begründete Gefahr unmittelbar in mechanisch-naturwissenschaftlicher Weise zum Erfolg hin fortentwickele.

76 SchrIJder (Fn. 58), Vorbem. 95 a; WesselS' (Fn. 55), § 16 I 2; S/S-Stree (Fn. 56), jeweils Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 159; Haft (Fn. 74), S. 162; ders. (Fn. 55), Fallrepetitorium, S. 73 (Fall-Nr. 379). Dies soll beispielsweise für den Fall gelten, daß der Eigentümer die Benutzung seines Bootes zur Rettung eines Ertrinkenden verweigert oder in obigem Fall die Tür bereits verschlossen ist, X dagegen klopft, aber A nicht öffnet.

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

Literatur erfahren hat, die "echte" Abgrenzung zwischen positivem Tun und Unterlassen oder aber nur die besondere Fallgruppe "mehrdeutiger" Verhaltensweisen zu lösen beabsichtigt, dahingehend beantworten, daß sie ausschließlich in dieser letzteren Funktion als bloße Entscheidungshilfe bzw. Konkurrenzregel für die Fälle ambivalenten Verhaltens zu verstehen ist. Dieses Ergebnis gilt in gleicher Weise für das von Mezger entwickelte Merkmal der Zielrichtung bzw. des Gegenstandes des rechtlichen Vorwurfs und die diesem zustimmenden Autoren; im folgenden kann daher zur Vereinfachung und zur Vereinheitlichung von "Wertungstheorien" gesprochen werden. 77

c. Kritik am Schwerpunktkriterium Im Anschluß an diese Feststellung, daß die verschiedenen Ausformungen des Schwerpunktkriteriums in Rechtsprechung und Lehre (Wertungstheorien) nur in Fällen der Doppeldeutigkeit eines Verhaltens zur Anwendung gelangen sollen, bedarf es nun ihrerseits einer kritischen Würdigung dahingehend, ob mit ihnen überhaupt eine taugliche Methode zur Behandlung dieser Fälle zur Verfügung gestellt wird. I. Kritik durch die Lehre mit gleichzeitiger Replik

Die einzelnen Wertungstheorien sind wiederholt auf Ablehnung seitens des Schrifttums gestoßen. Dabei fällt jedoch auf, daß die Kritik der Intention, die der Schwerpunktformel von ihren Befürwortem beigemessen wird, nicht immer gerecht zu werden vermag. Ein Grund dieses Umstandes mag in der mangelnden dezidierten Auseinandersetzung mit dem Schwerpunktkriterium, vor n Vgl. hierzu auch Weq, (Fn. 26), S. 108, der darauf hinweist, sofern man die Wertungslehren als Formulierung von Kriterien versteht, die eine Auswahl unter den nach anderweiten Maßstäben identifizierten Handlungen und Unterlassungen ermöglichen sollen, so würden sie zur Abgrenzungsfrage offenbar" nichts beitragen, denn wenn ein Gesamtkomplex menschlichen Verhaltens Handlungen und/oder Unterlassungen umfaßt, so könne eine Auswahl nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit nur dort stattfmden, wo vorwerfbare Handlungen und/oder Unterlassungen zusammenträfen, was aber Aufgabe der Konkurrenzlehre sei, Sieber (Fn. 1), S. 433, der ausführt, die wertenden Abgrenzungstheorien seien dadurch charakterisiert, daß sie kein echtes Unterscheidungskriterium zwischen Tun und Unterlassen anböten, sondern mit der hypothetischen Annahme des Vorliegens eines Tuns und eines Unterlassens die Unterscheidung bereits voraussetzten und lediglich eine (Konkurrenz-)Regel über das Verhältnis der beiden ohne Begründung unterstellten Verhaltensformen angäben, weshalb sie von vornherein nur auf die Fälle doppelrelevanter Verhaltensweisen anwendbar seien und Jakobs (Fn. 9), S. 777, der meint, die Schwerpunktregel könne nur nach der rechtlichen Bewertung aller Verhaltensversionen als Richtlinie für die Konkurrenzentscheidung gebraucht werden.

c.

Kritik am Schwerpunktkriterium

SS

allem im Hinblick auf die bloße Übernahme bereits vorgebrachter Argumente, liegen. Eine derartige Entwicklung war bereits bei der Intetpretation des Begriffs der "Vorwerfbarkeit" zu beobachten (s. hierzu oben im 2.Abschnitt, A. 11. 3. und 5.). Soweit die Wertungstheorien gerügt werden, daß sie nicht in der Lage seien, eine Erklärung dafiir zu erbringen, worin das gesuchte Unterscheidungsmerkmal zwischen Tun und Unterlassen liegen soll, weil sie die Trennung von Begehen und Unterlassen in Wahrheit bereits - in versteckter Form - voraussetzten, die Begriffe der Handlung und Unterlassung also schon im Vorgriff hätten,78 so trifft diese Kritik nicht den Kern der Sache. Damit wird nämlich die Absicht der Verfechter der Schwetpunktformel nicht genügend gewürdigt, die das Schwetpunktmerkmal gerade nicht, wie oben nachgewiesen wurde (s. nur B. III.), als einen Lösungsvorschlag fiir die eigentliche Abgrenzungsfrage zwischen Tun und Unterlassen verstehen. Sie wollen mit dem Schwetpunktkriterium nämlich keineswegs ein echtes Unterscheidungsmerkmal angeben, aufgrund dessen die Frage beantwortet werden könnte, ob eine Verhaltensweise überhaupt Elemente des positiven Tuns oder nur des Unterlassens enthält. Sie haben vielmehr ausschließlich die Fallgruppe ambivalenter Verhaltensweisen im Blickfeld, fiir die sie eine bloße Konkurrenzregel bzw. Entscheidungshilfe bedeuten. Schließlich ist es nicht gerechtfertigt, den Vertretern der Schwetpunktformel den Vorwurf zu machen, sie würden kein Verfahren zur Entscheidung der eigentlichen Abgrenzungsfrage anbieten, obgleich sie diese Problematik gar nicht zu klären beabsichtigen. Die einzelnen Wertungstheorien werden aber auch dahingehend kritisiert, daß sie sich auf einen bloßen Appell an das Rechtsgefü.hl beschränkten,79 auf 78 I.d.S. Samson, FS-Welzel, 1974, 579, 585; Kahne, Geschäftstüchtigkeit oder Betrug?, 1978, 28 Fn. 94; Kamps, Ärztliche Arbeitsteilung und strafrechtliches Fahrlässigkeitsdelikt, 1981, 86 ("die in Gedanken vorherbestimmten Entscheidungen der Abgrenzungsfrage werden jeweils bereits im Vorgriff gleichsam mit wohlmeinender List unterlegt"); Gössel, ZStW Bd. 96 (1984), 321, 325; ders., in: Maurach/GösseUZipf, Allg. Teil, Tbd. 2, 7.Aufl. 1989, S. 168 ("erst wenn bekannt ist, ob und daß Begehen und Unterlassen vorliegen, kann entschieden werden, welcher Teil als Schwerpunkt des vorwerfbaren Gesamtgeschehens anzusehen ist"). S. außerdem noch Welp (Fn. 26), S. 108, Sieber (Fn. 1), S. 433 Fn. 31 und Ollo/Brammsen (Fn. 16), S. 531, die den Vertretern dieser Wertungstheorien deshalb den Vorwurf der Tautologie machen.

79 So z.B. Jescheck, Lehrbuch, Allg. Teil, 4.Aufl. 1988, S. 546 ("unkontrollierbare Formeln"); Arzt, JA 1978, 557, SS9 Fn. 10, 562 ("Übernahme von Gefühlserwägungen roh und direkt, ohne wesentliche begriffliche Verfeinerung, in die Strafrechtswissenschaft"); Behrendt, Unterlassung - Entwurf eines negativen

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

ein irrationales GeJühlsurteil hinausliefen,80 zur Auf- bzw. Preisgabe der Dogmatik zugunsten vager Abwligungen führten 81 und durch ihre extreme - absolute - Unbestimmthei,s2 sowie die Gefahr der Hervorrufung von Willkürentscheidungen83 geprägt seien. In diesem Zusammenhang muß zu ihrer, der Wertungstheorien, Rechtfertigung allerdings vorgetragen werden, daß sie sich ganz im Trend der zunehmenden Normativierung strafrechtlicher Konzeptionen befinden,84 wie er sich beispielsweise im Rahmen des strafrechtlichen Handlungsbegriffs durch die soziale Handlungslehre85 , im Bereich der Kausalität durch die Lehre von der objektiven Zurechnung bzw. normativen Erfolgszurechnung und auf der Ebene des Schuldbegriffs durch die Handlungsbegriffs, 1979, 190 ("gefühlsbetonte Kriterien"); Noll. Alig. Teil I (Schweiz), 1981, S. 192 ("gefühlsmäßiges Kriterium"); Kienapfel (Fn. 9), S. 477; ders., Allg. Teil (Österreich), 1985, S. 109; Ouo, Allg. Strafrechtslehre, 3.Aufl. 1988, S. 168; ders., NJW 1980, 417, 423 f.; Ouo/Brammsen (Fn. 16), S. 531 Geweils "gefühlsmäßige Wertung"); Maiwald (Fn. 9), S. 186 Fn. 4. 80 Erstmalig Roxin, ZStW Bd. 74 (1962), 411, 418. Später ders., FS-Engisch, 1969, 380, 393 ("in einer rational nicht weiter aufzuhellenden Weise"); U/senheimer (Fn. 9), S. 94; Kahrs, Vermeidbarkeitsprinzip und condicio-sine-qua-non-Formel, 1968,215 f.; Samson (Fn. 78), S. 585; Arzt (pn. 79), S. 559 Fn. 10; Sieber (Fn. 1), S. 436; Herzberg, Verantwortung für Arbeitsschutz und Unfallverhütung im Betrieb, 1984,205; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum StGB, Bd. 1, 5.Aufl. 1989, Vor § 13 Rdn. 6; KUpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, 74. 81 Mit dieser Argumentation Jakobs (Fn. 9), S. 777 und Seebnann, JuS 1987,33, 35; zustimmend KUpper (Fn. 80), S. 75. 82 So vor allem Spendel (Fn. 19), FS-Eb. Schmidt, 1961, 191; Bockebnann, Alig. Teil, 3.Aufl. 1979, S. 150; BockebnannlVolk, Alig. Teil, 4.Aufl. 1987, S. 147; v. Dellingshausen, Sterbehilfe und Grenzen der Lebenserhaltungspflicht des Arztes, 1981, 436 ("relativ undifferenziert und konkretisierungsbedürftig"); Stratenwerth, Allg. Teil I (Schweiz), 1982, S. 370; Sieber (Fn. 1), S. 436; Riggert, MDR 1990, 203; Kapper (Fn. 80), S. 74. 83 I.d.S. Binavince, Vier Momente der Fahrlässigkeitsdelikte, 1969, 44; Engisch (Fn. 9), S. 176; R. Zimmermann, NJW 1977, 2101, 2102 ("einen willkürlichen Wertungen offenen Leerraum konstituierender Formeln"). U Diese Tendenz befürwortend etwa Jakobs (Fn. 9), Vorwort S. VII f., der sich für eine umfassende (Re-)Normativierung der strafrechtssystematischen Begriffe des Allgemeinen Teils ausspricht, und Schanemann, in: Schünemann, Grundfragen des modemen Strafrechts systems , 1984, 1, 55 f., der die normative Betrachtungsweise betont. 8S Vgl. zu dieser ausführlich unten im 6.Abschnitt, A. V. 1 und B. V.

c.

Kritik am Schwerpunktkriterium

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"Funktionalisierung" der Schuldkategorie (Präventionslehren)86 abzeichnet. Daneben gilt es zu beachten, daß eine derartige Unbestimmtheit sowie eine mehr gefühlsmäßige Entscheidung für die normative Betrachtungsweise geradezu charakteristisch und von ihren Vertretern auch intendiert ist. Auf diesem Wege will man Rücksicht auf die besonderen Umstände des Einzelfalles nehmen und vom Zufall abhängige Ergebnisse vermeiden. 87 Das zuvor Gesagte gilt auch hinsichtlich der Einwände gegenüber den Wertungstheorien, daß bislang jeglicher Maßstab dafür fehle, wie die Wertung der Verhaltensweisen zu vollziehen sei und daß die Frage offen bleibe, wie die entscheidenden Wertungsgesichtspunkte zu ermitteln seien. 88 Sofern den Differenzierungen nach den normativen Lehren weiterhin vorgeworfen wird, sie setzten das gewünschte Ergebnis letztlich voraus, weil der Schwerpunkt der Vorwertbarkeit bzw. des Verhaltens wesentlich durch die Strafwürdigkeit des Verhaltens geprägt werde, d.h. die Schwerpunkt-Abgrenzung dadurch präjudiziert werde, welche Faktoren dem angepeilten Schwerpunkt jeweils im voraus zugeschlagen würden,89 so bedarf dieser Kritikpunkt, der darauf hinausläuft, daß bei der Abgrenzung nach Wertungsgesichtspunkten die Stratbarkeit der Verhaltensweise die Entscheidung be86 Zur Lehre von der Zurechnung des Erfolgs s. etwa bei Jescheck (Fn. 79), S. 257 und Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Erfolgszurechnung, 1988, 509 ff., jeweils m.w.N.; zur Ausfüllung des Schuldbegriffs mittels präventiver Gesichtspunkte (kriminalpolitischer Strafzweckerwägungen) beachte nur Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2.Aufl. 1973, S. 33 und ders., ZStW Bd. 96 (1984), 641. 87 Vgl. hierzu beispielsweise Ebert (Fn. 67), S. 404. Roxin (Fn. 80), ZStW Bd. 74 (1962), 417 f., der sich an dieser Stelle besonders vehement gegen die Wertungstheorien im Bereich der problematischen Fahrlässigkeitsdelikte gewandt hatte, vertritt inzwischen bei den Fallkonstellationen des Abbruchs rettender Kausalverläufe unter Heranziehung der Rechtsfigur "Unterlassen durch Tun" ebenfalls eine nonnative Betrachtungsweise; so Roxin (Fn. 80), FS-Engisch, 1969, 380 ff. und ders., in: Roxin/Schünemann/Haffke, Klausurenlehre, 4.Aufl. 1982, Fall 1 , S. 40 f. 88 Insbesondere von SpendeI (Fn. 19), FS-Eb. Schmidt, 1961, 193; ULsenheimer (Fn. 9), S. 94; Roxin (Fn. 80), ZStW Bd. 74 (1962), 418; Kahrs (Fn. 80), S. 215 f.; R. Zimmermann (Fn. 83), S. 2102; Herzberg (Fn. 80), S. 205; Fanfsinn, Autbau des fahrlässigen Verletzungsdelikts durch Unterlassen, 1985, 38. 89 Vgl. hierzu Binavince (Fn. 83), S. 44; Kahne (Fn. 78), S. 15; Eser, Strafrecht 11, 3.Aufl. 1980, S. 45; Olto (Fn. 79), Allg. Strafrechtslehre, S. 168; ders. (Fn. 79), NJW 1980, 423 f.; Olto/Brammsen (Fn. 16), S. 531; v. Dellingshausen (Fn. 82), S. 436; Seelmann (Fn. 81), L 35 ("logischer Zirkel"). Besonders plakativ Arzt (Fn. 79), S. 562, der ausführt, statt die Suche nach dem Schwerpunkt der Vorwertbarkeit im konkreten Fall von der naturwissenschaftlich sicheren Basis Tun oder Unterlassen zu beginnen, stelle man sich auf den Kopf, denn das Resultat der Suche nach dem Schwerpunkt der Vorwertbarkeit bestimme die Basis eben dieser Suche, nämlich den Ansatz im Tun oder Unterlassen des Täters.

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

stimmt, ebenfalls der Relativierung, denn es gilt hier zu beachten, daß die normativen Theorien eine Einzelfallgerechtigkeit erstreben und dies nur mit Rücksicht auf das zu erzielende Ergebnis möglich ist. 11. Eigene Kritik

Trotz der vielfach negativen Beurteilung der kritischen Stellungnahmen, die dem Schwerpunktkriterium in der Literatur entgegengebracht werden, möchte ich mich dennoch nicht zu dessen Mentor machen. Auch nach meinem Dafürhalten bilden die einzelnen Wertungstheorien keine überzeugenden Methoden zur Lösung ambivalenten Verhaltens und der dabei auftretenden Fallkonstellationen. 1. Judikatur und die ihr unmittelbar folgende Literatur Erhebliche Bedenken gegenüber der Schwerpunktformel der Judikatur ergeben sich aus der mit ihr verbundenen Gefahr der Hervorrufung von Stratbarkeitslücken. Denn weist ein bestimmtes Verhalten sowohl Elemente des positiven Tuns als auch des Unterlassens auf, so kann das für den Erfolg kausale und tatbestandsmäßige Handeln des Täters dennoch durch das weitere Hinzutreten eines Unterlassens - etwa mangels der nach § 13 Abs. 1 StGB erforderlichen Garantenpflicht - straflos werden, nur weil bei diesem der Schwerpunkt der Vorwertbarkeit liegen soll. Ein solches Ergebnis ist jedoch nicht nur sehr unbefriedigend, sondern auch ungerecht(fertigt). Zudem bietet das Schwerpunktkriterium keine wirkliche Hilfe bei der Beurteilung des konkret zu bewertenden Falles. Nicht selten wird man vernünftige Gründe vorfinden, die es einem ermöglichen, den Schwerpunkt des Verhaltens einerseits beim Handeln, andererseits beim Unterlassen anzusiedeln. Aufgrund dieser Schwierigkeiten ist die Schwerpunkttheorie zur Lösung ambivalenten Verhaltens wenig praktikabel und ermöglicht letztlich keine eindeutige Entscheidung in dieser oder jener Hinsicht. Dies ist auch nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, daß es doch gerade ein Kennzeichen der hier einschlägigen Fälle ist, daß Tun und Unterlassen miteinander verbunden sind, mit der Folge, daß sich "ein" Schwerpunkt kaum einwandfrei ermitteln läßt. 90 Auch wenn sich gezeigt hat, daß die Schwerpunktformel als Formulierung eines Kriteriums ZU verstehen ist, das eine Auswahl unter den nach anderen \lO Roxin (Fn. 87), S. 135, meint, daß bei einer solchen Betrachtungsweise das phänomenologisch unauflösbar einheitliche Geschehen sachwidrig in "Bedeutendes" und "weniger Bedeutendes" aufgegliedert würde.

c. Kritik am Schwerpunktkriterium

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Maßstäben identifizierten Handlungen und Unterlassungen ermöglichen soll, seine Funktion also auf die einer bloßen Entscheidungshilfe bzw. Konkurrenzregel beschränkt bleiben soll, so ist doch ungeklärt, wie diese Maßstäbe zu bestimmen sind, d.h. nach welchen Aspekten die eigentliche Abgrenzungsfrage zwischen Tun und Unterlassen vorzunehmen ist. Daneben wird mit dem Merkmal "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" lediglich in einem Begriff komprimiert die Frage gestellt, die eigentlich beantwortet werden soll. Denn es läßt sich die Frage nach dem für die Art der Bestrafung maßgeblichen Normverstoß auch als Frage nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit formulieren. Die Antwort auf diese Frage steht damit allerdings nach wie vor aus. Letztlich wird also die Frage, ob für die Strafbarkeit auf das Handeln oder/und das Unterlassen abzustellen ist, nur durch die anderslautende Frage, ob der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit bzw. des (Täter)Verhaltens auf dem aktiven Tun oder/und dem Unterlassen liegt, ersetzt. Auch fehlt es bislang an der Angabe derjenigen Kriterien, die Auskunft darüber geben, wie dieser Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit überhaupt zu ermitteln ist. Solange dieser Schritt noch nicht vollzogen ist und entsprechende Gesichtspunkte entwickelt worden sind, mangelt es diesem Verfahren an einer festen theoretischen Basis und besteht die Möglichkeit fort, das jeweils gewünschte Ergebnis zu erzielen. So ist es nicht rational überprüfbar, wieso in den "Kuppelei fällen " des BGH und des OLG Stuttgart sowie im "Mutterfall" des BGH und auch im "Ausreisefall" des OLG Frankfurt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit oder des Verhaltens bzw. der Tat gerade auf dem Unterlassen liegen soll, im "Steuerüberlassungsfall" des OLG Karlsruhe und im "Diabetesfall" des OLG Düsseldorf hingegen das Schwergewicht des Täterverhaltens im einem positiven Tun zu erblicken sei. 91 Im Hinblick auf die fehlende Einheitlichkeit der verwendeten Terminologie - wie gesehen, werden folgende Topoi angeboten: Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit, Schwerpunkt des Täterverhaltens, Schwergewicht der Tat - ist festzustellen, daß mit der Normativierung zugleich eine Auflösung der Begrifflichkeit einhergeht. Wenn in der Literatur gegen die zur Unterscheidungsproblematik vertretenen Wertungstheorien die oben genannten Kritikpunkte erhoben werden, zu ihrer, der Wertungstheorien, Rechtfertigung jedoch auf die Tendenz zu einer Normativierung strafrechtlicher Konzeptionen überhaupt verwiesen werden kann, so soll damit keineswegs zum Ausdruck gebracht werden, daß dieser in

91 Zur Einordnung dieser Fälle als Begehungs- oder/und Unterlassungsdelikte s. unten im 7.Abschnitt, D. 11. 1. und 2.

6 Stoffers

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

der Strafrechtswissenschaft vorzufindende Trend Zustimmung verdient. 92 Es ist zwar zutreffend, daß die Strafrechtsdogmatik nicht zum reinen Selbstzweck "herabsinken" bzw. "verkommen" darf, eine solche Gefahr aber besteht, solange Ergebnisse erzielt werden, die, obwohl dogmatisch fundiert, in höchstem Maße unbillig und ungerecht sind. Die Notwendigkeit der Strafrechtsdogmatik ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Diese Erkenntnis ist mit Hirsch darauf zurückzuführen, daß "ebensosehr, wie ein Zuviel an Dogmatik schadet, weil der Bezug zur Praxis des Rechtslebens verlorengeht und damit eine Sterilität des Denkens um sich greift, öffnet ein Zuwenig den Weg zur Willkür und damit zum Verlust der Rechtsstaatlichkeit".93 Eine einseitig normativ orientierte Methodik führt demgegenüber dazu, daß die Phänomene, um die es geht, nicht mehr herausgearbeitet und dadurch Sachverschiedenheiten vermischt werden. Im übrigen geht mit dieser die Neigung einher, unscharfe Allgemeinbegriffe an die Stelle sachlich scharfer Begriffsbildung und Systematisierung zu setzen. Außerdem ist zu beachten, daß die Beurteilung einer Verhaltensform als Handlung oder Unterlassung ohne Berücksichtigung des Unwertgehalts eben dieses Verhaltens zu erfolgen hat. Überlegungen zum Unwert können denknotwendigerweise erst nach der Fixierung des Gegenstands des Unwerturteils geschehen, also nach der Feststellung, ob ein Tun oder Unterlassen gegeben ist. Gegen diesen Grundsatz wird jedoch verstoßen, wenn nach der Schwerpunkttheorie die Frage nach der Strafwürdigkeit des Verhaltens und seiner angemessenen Sanktionierung die Wahl zwischen Tun und Unterlassen entscheidend mitbestimmt. Abschließend bedarf es noch einiger kritischer Anmerkungen zu den Ausführungen derjenigen Autoren in der Lehre, die das Schwerpunktkriterium als Abgrenzungsmethode von der Rechtsprechung in seiner unmittelbaren Ausprägung übernommen haben. Soweit sich nicht etwas anderes aus den Erörterungen unten unter 2. ergibt, gilt das nachfolgend Gesagte aber auch für die Vertreter der modifizierenden Ausformungen der Schwerpunktformel. Zunächst ist zu bemängeln, daß auch die Befürworter der Schwerpunktformel in der Literatur, wie bereits bei ihrer Darstellung aufgezeigt wurde (s. oben im 4. Abschnitt, A.), eine dogmatisch fundierte Begründung dafür, '12 Eingehende Kritik an dieser Entwicklung übt vor allem Hirsch, ZStW Bd. 93 (1981),831, 850 und ders., FS-600 Jahre Universität zu Köln, 1988,399,403 ff., 407 f., 414 ff.; zuletzt auch ganz entschieden gegen diese Tendenz Küpper (Fn. 80), S. 44 ff., anhand ausgewählter Problembereiche. Die nachfolgenden Ausführungen gelten nicht nur für das Schwerpunktkriterium in Judikatur und Literatur, sondern auch für Mezger und die ihm zustimmenden Autoren, weshalb unten unter 3. hierauf nicht mehr eingegangen wird. 93

So Hirsch (Fn. 92), FS-600 Jahre Universität zu Köln, 1988,402 f.

c. Kritik am Schwerpunktkriterium

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warum gerade die Schwerpunktformel ein taugliches Mittel zur Lösung der Unterscheidungsproblematik bilden soll, zumeist nicht zu geben vermögen. Auffallend ist daneben der Umstand, daß des öfteren bloße Feststellungen seitens der Autoren das Fehlen einer Begründung fiir die Bewältigung der Abgrenzungsfrage mittels des Schwerpunktmerkmals kompensieren sollen. In diesem Zusammenhang sind Formulierungen wie "maßgebend ist", "ist abzustellen auf", "läßt sich nur entscheiden", "ist in der Regel danach zu bestimmen" , "es kommt darauf an" gebräuchlich,94 denen offensichtlich jede Aussagekraft fehlt. Der Hinweis von Ranft, mit dem er die Heranziehung eines normativ geprägten Ansatzes befiirwortet, hilft gleichfalls nicht weiter, denn er gesteht zwar einerseits selbst zu, daß dieser Ansatz noch der Konkretisierung durch weitere Kriterien bedürfe, unterläßt es aber andererseits, diese zu benennen. Und den Grund, weshalb durch diesen Ansatz offengelegt werde, daß die Abgrenzungsfrage nur unter Anwendung von Zurechnungsgrundsätzen, was fiir ihn gleichbedeutend mit "rechtlich" ist, entschieden werden könne, bleibt er ebenfalls schuldig. Zudem machen es sich die Verfechter der Schwerpunktformel im Schrifttum zu einfach, wenn sie behaupten, das sog. "Unterlassungsmoment" der Fahrlässigkeitsdelikte - wie etwa im Ziegenhaar-, Radleuchten-, Lastzug- und Steuerüberlassungsfall - sei generell nur eine wesensnotwendige Modalität des Handlungsvollzuges und so den Schwerpunkt der Vorwertbarkeit auf dem aktiven Tun liegen sehen, während sie das Unterlassungselement zurücktreten lassen und so das Verhalten rechtlich insgesamt als fahrlässiges Begehungsdelikt werten. Mit dieser zu undifferenzierten Argumentation ist noch nicht der Beweis dafür erbracht, wieso das Schwergewicht des Verhaltens bei Fahrlässigkeitstaten nicht auch einmal auf einem Unterlassen liegen kann. Zur Behandlung des Bereichs der Vorsatzdelikte ist kritisch anzumerken, daß die Befürworter der Schwerpunkttheorie in der Lehre zur Lösung der von ihnen im Rahmen der Fallkonstellationen des Abbruchs rettender Kausalverläufe, also insbesondere zu den Fallgruppen der Vereitelung eigener und fremder Rettungsaktivitäten, herangezogenen Fälle gar nicht oder zumindest nicht ausdrücklich auf die Schwerpunktformel Bezug nehmen. 95 Für ihre Einordnung als Begehungs- oder Unterlassungsdelikt fehlt es überhaupt an einer 94 Dies gilt beispielsweise für G.E. Hirsch (Fn. 56), S. 854 und LeukauJlSteininger (Fn. 55), Vorbem. § 1 Rdn. 9. 95 Dieser Einwand hat im übrigen auch für die generelle Beurteilung der Fallgruppe der "omissio libera in causa" nach den Grundsätzen der Unterlassungsdelikte Geltung. Zur Auseinandersetzung mit den einzelnen Begründungsversuchen s. unten im 7.Abschnitt, D. 11. 2. a) bb).

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

nachvollziehbaren Begründung; hier ist die Tendenz zu einer bloßen Einzelfallentscheidung offenkundig. Auch ist es unbefriedigend, wenn im Falle des Rückgängigmachens oder Abbrechens der vom Täter selbst eingeleiteten Rettungsmaßnahmen einige danach differenzieren, ob die Rettungstätigkeit dem gefährdeten Objekt bereits eine realisierbare und effektive Rettungsmöglichkeit eröffnet hat - dann positives Tun - oder nicht - dann Unterlassen-, während andere generell für die Annahme eines Unterlassens plädieren. 96 Dieses uneinheitliche Bild und die damit verbundenen unterschiedlichen Ergebnisse verdeutlichen einmal mehr die mit dieser normativen Sichtweise verbundenen Probleme. 97 2. Modifizierende Ausformungen des Schwerpunktkriteriums in der Lehre Grundsätzlich kann hier auf die zuvor an der Schwerpunktformel geäußerte Kritik verwiesen werden, doch bedürfen die speziellen Ausprägungen der modifizierenden Ansichten des Schwerpunktkriteriums in der Lehre noch einer gesonderten kritischen Würdigung. a) Gegen Maurach ist der Einwand zu erheben, daß sein Verzicht auf einheitliche Grundsätze im Ergebnis einer Resignation gegenüber der hier auftretenden Unterscheidungsproblematik gleichkommt. Zudem bleibt letztlich offen, nach welchen Gesichtspunkten die Lösung, die den - nach seiner Meinung bei Begehung und Unterlassung häufig verschieden gearteten - Unrechtsgehalt der Tat voll ausschöpft, ermittelt werden soll.98 b) Die mangelnde Praktikabilität der "Meist-Handlungs-Richtlinie" nach Schräder ergibt sich aus dem Fehlen jeglicher Konkretisierung, vor allem im Hinblick auf die Frage, wann meist das Schwergewicht bei der Handlung lie96 Eine Ausnahme von dem zuvor Gesagten bildet lediglich Ebert, denn dieser beruft sich auch in den Fällen der Vernichtung rettender Kausalreihen explizit auf die Formel vom "Schwerpunkt der Vorwertbarkeit". 97 Hinsichtlich der - vom Ergebnis her widersprüchlichen - Ausführungen von Maurach und Haft zur Fallkonstellation "Nacheinander von Tun und Unterlassen" soll an dieser Stelle noch auf eine weitergehende kritische Würdigung verzichtet werden (s. hierzu unten im 7.Abschnitt, D. 11. 2.) 98 Kühne (Fn. 78), S. 28, hält dem Lösungsvorschlag von Mauracll berechtigterweise entgegen, daß dieser nichts anderes als eine Aufforderung zu einer freien, dogmatisch nicht begrenzbaren, allenfalls auf Plausibilitätsniveau kontrollierbaren Wertung sei. Und wenn Canaris eine Gesamtwertung des Verhaltens für maßgeblich erachtet, um auf diesem Wege eine Umdeutung jedes positiven Tuns in ein Unterlassen zu vermeiden, so ist hiergegen zu sagen, daß gerade eine wertende Betrachtung diese von ihm abgelehnte Vorgehensweise ermöglicht bzw. eröffnet.

C. Kritik am Schwerpunktkriterium

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gen soll und inwieweit noch Raum für eine Unterlassung verbleibt. Auch mangelt es an einer Begründung, warum und weshalb der Schwerpunkt überhaupt meist bei der Handlung liegt. 99 c) Die Häufung normativer Aspekte, wie sie bei der "Kombination des Schwerpunkt- und sozialen Handlungssinnkriteriums" erfolgt, hilft ebenfalls nicht weiter. 1OO Es fehlt an einer näheren Bestimmung dieser Wertungsgesichtspunkte, so daß auch hier die Entscheidung zwischen Begehungs- und Unterlassungstat wiederum mehr auf bloßer Willkür als auf dogmatisch nachvollziehbaren Erwägungen beruht. 101 Die Begründung von Haft, mit der dieser eine wertende Betrachtungsweise zu rechtfertigen versucht, vermag nicht zu überzeugen. Seine Behauptung, man könne immer nur ein Tun erkennen, nicht aber das Unterlassen, denn bei diesem handele es sich um ein ontologisches Nichts, weshalb es bei der Abgrenzung nicht um eine Erkenntnis-, sondern um eine Wertungs frage gehe, wird fragwürdig, sofern man berücksichtigt, daß dann die Strafbarkeit des Täters eines Unterlassungsdelikts generell vom (Wert)Urteil Dritter abhängt.102, 103 3. Mezger und die ihm zustimmenden Autoren

Das Kriterium der Richtung bzw. des Gegenstandes des rechtlichen Vorwurfs nach Mezger sieht sich zunächst ähnlichen Einwänden ausgesetzt wie 99 Bedenken gegenüber diesem Lösungsvorschlag ruft außerdem die Tatsache hervor, daß Stree zunächst ebenfalls diese "Meist-Handlungs-Richtlinie" befUrwortete, inzwischen aber diesen Gesichtspunkt nur noch zusätzlich - neben dem Schwerpunktkriterium - heranzieht. \00 Kahne (Fn. 78), S. 28, sieht hierin zutreffend Leerformeln, die die gemeinte Abgrenzung zwar plausibel machten, aber zur Begründung einer in concreto zu treffenden Wahl zwischen Tun und Unterlassen keinen analytischen Beitrag leisteten. \0\ Zur Kritik am Merkmal des "sozialen Handlungssinns" s. ausfUhrlich unten im 6.Abschnitt, B. V. und im 7.Abschnitt, C. I. 3. \02 Wenn Haft zusätzlich darauf hinweist, man müsse im Hinblick auf § 13 StGB auch stets an die Konsequenzen denken, die sich aus der Annahme eines Unterlassungsdelikts ergeben, dann spricht dieses Argument allerdings mehr fUr die außerdem von ihm bemühte Faustformel "Im Zweifel Tun" als fUr die Schwerpunkttheorie (zur Kritik an der "Zweifellösung" s. umfassend unten im 7.Abschnitt, C. 11. 1.). \03 Sofern Ebert argumentiert, bei der Einordnung als Begehen oder Unterlassen gehe es um rechtliche Bewertung, so daß nach dem Gegenstand der rechtlichen Mißbilligung zu fragen sei, so impliziert diese Argumentation noch nicht die Notwendigkeit einer rein normativen Betrachtungsweise. Tendiert er im übrigen zur Anwendung der Rechtsfigur "Unterlassungsdelikte durch Tun", dann kann auf die Kritik an dieser unten im 8.Abschnitt, E. I. und 11. verwiesen werden.

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

die Schwerpunktformel der Rechtsprechung. Auch hier besteht - aus denselben Gründen wie dort - die Gefahr, daß Strafbarkeitslücken entstehen können, wenn trotz des vorhandenen aktiven - und strafbaren - Tuns im jeweils anstehenden Fall dafür plädiert wird, der rechtliche Vorwurf richte sich aber gegen das mitlaufende, letztlich jedoch straflose Unterlassen. Zudem ist diese Wertungstheorie ebenfalls wenig praktikabel, weil ihre Anwendung bei der Entscheidung, gegen welche Verhaltensform sich der rechtliche Vorwurf richtet, das Handeln oder/und das Unterlassen, im Hinblick auf den konkret zu beurteilenden Sachverhalt große Schwierigkeiten bereitet. Ungeklärt bleibt insoweit auch hier die Beantwortung der Frage, wie die echte Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen zu erfolgen hat. Daneben wird mittels des Merkmals "wogegen sich der rechtliche Vorwurf richtet" gleichfalls nur komprimiert in einer Formulierung die Frage aufgeworfen, um die es eigentlich geht, ohne jedoch eine diesbezügliche Antwort zu geben. Darüber hinaus wird man es kaum als Empfehlung für die Zuverlässigkeit dieser Methode gelten lassen können, wenn Mezger und Blei, obwohl beide nach der Richtung des Vorwurfs fragen, bei der Bewertung des Ziegenhaarund Radleuchtenfalles zu einem entgegengesetzten Ergebnis gelangen - wie gesehen erblickt ersterer in diesen Fällen Unterlassungs-, letzterer hingegen Begehungstaten. 104 Diese Beobachtung verstärkt den Eindruck und zugleich auch die Befürchtung, daß es an der Einheitlichkeit der Entscheidung um so eher mangelt, je mehr man normativ vorgeht. Es ist doch naheliegend, daß, falls auch nur zwei Personen ein und denselben Sachverhalt werten, sie nicht selten zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen werden: der eine mag das Verhalten des Täters für ein Tun, der andere hingegen für ein Unterlassen halten. Derartige Unwägbarkeiten sind allerdings unvermeidbar, solange nicht einheitliche Maßstäbe dafür vorgegeben werden, wie die Wertung zu erfolgen und woran sich das Merkmal der Richtung bzw. des Gegenstandes des Vorwurfs zu orientieren hat. IOS Unter den gegebenen Umständen ist also über eine Einzelfallbetrachtung nicht hinauszukommen, bei der die als zutreffend empfundenen Maßstäbe jeweils neu erläutert werden müssen. Aus dem zuvor Gesagten wird außerdem deutlich, daß es dem Lösungsvorschlag von Mezger an einer festen theoretischen Grundlage mangelt, die eine 104 Damit wird deutlich, daß sich, je nach dem Wertungsmaßstab, den man in das Feststellungsverfahren einbezieht, gleiche Fälle ohne sachliche Begründung ändern können. Dieser Umstand veranlaßt Weq, (Fn. 26), S. 107 Fn. 21, zu der Bemerkung, daß es den Anschein habe, daß bei der Wertung eine gewisse Kontingenz unvermeidbar sei.

lOS So meint auch Blei (Fn. 36), Studienbuch, 17.Aufl., S. 279, selbst, nach welchen Grundsätzen zu entscheiden ist, wo im Einzelfall der Schwerpunkt liegt, sei noch immer umstritten.

C. Kritik am Schwerpunktkriterium

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Garantie für dogmatisch fundierte und überpTÜfbare Ergebnisse bieten würde. So ist es rational nicht zu erklären und zu verstehen, wieso sich im Ziegenhaar-, Apotheker- und Radleuchtenfall der Vorwurf nicht gegen das positive Tun, sondern gerade gegen das Unterlassen richtet, im Lastzugfall hingegen das Handeln im Vordergrund stehen und im Kokainfall nur eine Begehung in Frage kommen SOll.I06, 107 Wenn Mezger seine Entscheidung im Apotheker- und Ziegenhaarfall mit dem Hinweis trifft, anderenfalls, d.h. beim Abstellen auf das aktive Tun, werde die Haftung zu weit ausgedehnt, so ist hierzu anzumerken, daß diese Argumentation vor dem Hintergrund gesehen werden muß, daß Mezger in jenen beiden Fällen nur bei Annahme eines Handelns, nicht aber bei Annahme eines Unterlassens zur Kausalität gelangt. 108 Daraus ergibt sich dann aber der Grund, weshalb eine solche Begründung letztlich nicht zu überzeugen vermag - nämlich wegen ihrer Orientierung am Ergebnis. Auch die Ausführungen Mezger's zum Lastzugfall, die sich durch ihre zögerliche Ausdrucksweise auszeichnen, liefern ein gutes Indiz für die Unsicherheiten, die mit der Anwendung seines Lösungsvorschlages verbunden sind. Im übrigen bedeuten sie insoweit einen Bruch zu seiner sonstigen Argumentation, als Mezger, obwohl er den Vorwurf gegen das Unterlassen gerichtet sieht, vom Vorliegen eines Begehungsdelikts ausgeht, weil im Vordergrund das positive Tun stehen soll. Weiterhin bleibt festzuhalten, daß die Erörterungen von Mezger zur Fallgruppe der Vereitelung fremder Rettungsbemühungen einen gewissen Widerspruch aufweisen, da bei diesen einmal von der Verwirklichung einer Begehungstat, ein anderes Mal von der Einstufung als ein Unterlassungsdelikt in mittelbarer Täterschaft die Rede ist. 109

106 Dies gilt in ähnlicher Weise für Blei bezüglich seiner Einordnung des Ziegenhaar- und Radleuchtenfalles als Begehungstaten. Er bezieht in seine Argumentation aber wenigstens Begriffe wie "Gebot", "Verbot", "Rechtsordnung" und "Gefährdung" mit ein, die die Entscheidung etwas stimmiger machen. 107 Roxin (Fn. 80), ZStW Bd. 74 (1962), 418, führt hierzu folgendes aus: Man lasse von Fall zu Fall bei den Fahrlässigkeitsdelikten den Verstoß gegen das Sorgfaltsgebot ausreichen, um den Schwerpunkt vom Tun auf das Unterlassen zu verschieben. Warum man es aber bald so und bald anders machen solle, sei bis heute unklar geblieben. Es gebe keinen logisch plausiblen Grund dafür, warum der Ziegenhaarfall nur als Unterlassungsdelikt, der Kokainfall aber nur als Begehungstat sollte gewürdigt werden dürfen.

108

So Mezger (Fn. 9), S. 116 Fn. 21.

Dieser Widerspruch findet sich auch bei T. Zimmermann. Wenn er diesbezüglich von einem "abgeleiteten Unterlassungsdelikt" spricht, gilt zudem die an der Konzeption des "Unterlassens durch Tun" geäußerte Kritik ganz entsprechend; s. hierzu unten im 8.Abschnitt, E. I. und 11. 4. 109

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

In diesem Zusammenhang ist die Bemerkung angebracht, daß sich seinen Darstellungen nicht eindeutig entnehmen läßt, ob er die Fälle des Abbruchs rettender Kausalverläufe, vor allem den von ihm angesprochenen Fall der Hinderung der Hinderung des Erfolgs, aber auch den von ihm behandelten Weichenstellerfall, überhaupt mit Hilfe seiner Methode der Richtung des rechtlichen Vorwurfs löst. Ausdrücklich zieht er dieses Kriterium nur zur Behandlung der Fahrlässigkeitsfälle heran. HO Dasselbe gilt im übrigen auch für Blei. 111

Die Gründe, die nach Auffassung Blei's für die Heranziehung des von ihm vertretenen normativen Ansatzpunktes eine entscheidende Rolle spielen, sind augenscheinlich wenig stichhaltig, weshalb sich eine tiefergehende Auseinandersetzung mit ihnen erübrigt. Es sei nur soviel gesagt, daß aus der Existenz einer VielZJlbl verschiedener Lösungsvorschläge zum Abgrenzungsproblem nicht einfach bzw. schon auf das Kriterium der Richtung des rechtlichen Vorwurfs geschlossen werden kann und daß letztlich offenbleibt, wieso jede theoretische Überlegung für die Einordnung der Unterscheidungsproblematik als Wertungs frage spricht. 112

llO Bezüglich seiner Ausführungen zum Operations fall soll an dieser Stelle nur gesagt werden, daß von ihm wohl nicht richtig erkannt wird, daß es sich bei diesem um einen zur Fallgruppe des "Nacheinanders von Tun und Unterlassen" gehörenden Sachverhalt handelt; näher zu diesem Fall s. unten im 7.Abschnitt, D. 11. 2. a) aa), wo sich auch zeigen wird, daß es nicht nur die subjektiven Umstände sind, die zu seiner Einordnung als Begehungs- oder Unterlassungsdelikt führen. III Wenn dieser in den Fällen der Vereitelung der Wirksamkeit vom Täter selbst eingeleiteter Rettungsrnaßnahmen generell Begehung durch aktives Tun annimmt und dieses Ergebnis mit dem vergleichenden Hinweis auf die Fälle, in denen jemand eine auf Rettung hin ablaufende Kausalkette abbricht (Unterbindung fremden Rettungshandelns), begründet, so ist hiergegen einzuwenden, daß die Problematik in diesen beiden Fallgruppen nicht identisch ist und insoweit eine unterschiedliche Behandlung geboten sein kann. Auf seine Ausführungen zu der Frage, wann in den Fällen des Abbruchs eines auf Erfolgsverhinderung in Gang gekommenen Kausalablaufs Täterschaft oder Teilnahme vorliegt, soll hier nicht eingegangen werden (s. dazu näher unten im 7.Abschnitt, D. 11. 1. b), 2. a) cc) und im 8.Abschnitt, E. 11. 3.). Dies gilt auch für seine Begründungen, mit denen er in den Fallgestaltungen, in denen sich der Handelnde durch aktives Tun außerstand setzt, eine Handlungspflicht zu erfüllen oder in denen sich an eine aktive Handlung ein Unterlassen anschließt, welches dem durch das Tun angestoßenen Kausalverlauf nicht entgegenwirkt, jeweils zur Annahme einer Unterlassungstat gelangt.

112 Völlig im Dunkeln bleibt die Bedeutung der von ihm in diesem Zusammenhang gemachten Feststellung, mit seinem Lösungsverfahren sei zwar nicht viel, aber immerhin soviel gewonnen, wie es gegenüber einem Problem möglich sei, das sich einer an einer Fonnel orientierten Lösung seinen eigenen Voraussetzungen gemäß entziehe.

c. Kritik am Schwerpunktkriterium

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4. Baumann

Grundsätzlich kann hier auf die zuvor an der AbgrenzungsmethodeMezger's geäußerte Kritik verwiesen werden. Allerdings bedürfen die speziellen Ausformungen der Ansicht Baumann 's noch einer separaten kritischen Würdigung. Das von Baumann vorgeschlagene Verfahren, vom Erfolg zurückzugehen und die nächste selbständige Ursache auf ihren Charakter als Tun oder Unterlassen hin zu untersuchen, "versagt" vor allem in Fällen, in denen Tun und Unterlassen zwei Seiten eines einheitlichen Vorgangs sind. ll3 Hier gibt es kein näher der einen oder anderen Seite, d.h. diese beiden Verhaltensvarianten können nicht nächste selbständige Ursache genannt werden. So fehlt es demnach auch an einer Begründung von Baumann, wieso bei vom Erfolg aus zurückgehender Betrachtung im Ziegenhaar-, Radleuchten- und Selbstmordfall der Vorwurf gegen das Unterlassen und nicht gegen das positive Tun gerichtet sein soll.114 Dasselbe gilt für seine Einordnung der Fälle des Abbruchs eigener und fremder Rettungsbemühungen als Unterlassungsdelikte mit dem Hinweis, daß sich der Vorwurf gegen das Unterlassen der Rettungshandlung richte und es sich hierbei um eine Wertungsfrage handele. ll5 Aber auch für Fälle wie den Bauarbeiterfall ist die Methode Baumann 's nicht praktikabel, 116 denn sie vermag nicht die Gesichtspunkte anzugeben, nach denen die nächste selbständige Ursache zu bestimmen ist. 11 ? Infolgedessen bleibt es unklar, wieso in diesem Fall nur eine Unterlassungstat vorliegen soll. 113 Dies wurde von Baumann (Fn. 42), Strafrechtsfälle, Fall 15 und BaumannlArztlWeber (Fn. 19), 5.Aufl. 1981, Fall 15, im Lastzugfall selbst erkannt. 114 Beachte auch den Hinweis von Baumann (Fn. 42), Strafrechts fälle, Fall 15 und BaumannlArztlWeber (Fn. 19), 5.Aufl. 1981, der im Lehrbuch (Fn. 16), § 18 II 1, hilfsweise vorgeschlagene Weg, nach der causa abzugrenzen, die den Vorwurf begründet, sei nicht bedenkenfrei, weil dabei eine Kausalitäts- und Rechtswidrigkeitsprüfung vorweggenommen werde; die Kausalitätsprüfung dürfe aber nicht an das schuldhafte Verhalten ansetzen, da der Schuldvorwurf die vorherige Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit und damit der Kausalität voraussetze. Im übrigen vermag es nicht zu überzeugen, daß Baumann ausgerechnet angesichts des Lastzugfalles sein sonst einschlägiges Lösungsverfahren in Abrede stellt (s. dazu die vorherige Fn. 113); denn die in diesem Fall fahrlässigen Verhaltens auftretende Problematik stimmt doch mit der im Ziegenhaar- und Radleuchtenfall überein.

115 Wenn er diesbezüglich mit der Figur des "Unterlassens durch Begehung" operiert, so kann auf die hiergegen vorgetragene Kritik unten im 8.Abschnitt, E. I. und 11. verwiesen werden. 116 A.A. ist jedoch Binavince (Fn. 83), S. 45 f., 47 f. (s. hierzu unten im 7.Abschnitt, B. X. 1. b». 117 Blei (Fn. 36), Studienbuch, 17.Aufl., S. 279, meint, Baumann's Auffassung kranke daran, daß die nächste selbständige Ursache nicht Gegenstand einer Feststel-

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5. Abschnitt: Infragestellung der Abgrenzungsfunktion

Zudem ruft dieses von Baumann entwickelte Verfahren erhebliche Bedenken hervor, sofern der letzten Ursache nur eine völlig untergeordnete Bedeutung für den Erfolg zukommt. ll8 Und schließlich kann die zeitliche Nähe zum Erfolg als taugliches Kriterium aus dem Grunde nicht überzeugen, weil der Kausalzusammenhang zumeist auf einen früheren Zeitpunkt des Geschehens zuruckziehbar ist. 119

lung kausaler Geschehensabläufe sein, sondern nur mit wertenden Erwägungen ermittelt werden könne, womit sie aber nur zu der Frage zurückführe, welcher Aspekt die rechtliche Beurteilung des komplexen Verhaltens bestimme. Für Kühne (Fn. 78), S. 22 i.V.m. Fn. 59, bleibt unklar, in welchem Bezugssystem die causa eine proxima sein solle: solle sie nur als eine von vielen anderen Ursachen zeitlich dem Erfolg am nächsten sein oder solle sie von mehreren zusammen verbundenen die mit der größten Wirkkraft sein? 118 So meinen Roxin (Fn. 80), ZStW Bd. 74 (1962), 417 Fn. 22, Herzberg, Unterlassung und Garantenprinzip, 1972, 239 und Engisch (Fn. 9), S. 184, daß Baumann selbst im Falle eines vorsätzlichen tödlichen Messerstiches ein Unterlassungsdelikt annehmen müßte, wenn der Täter sein Opfer danach zunächst noch hätte retten können, es aber verbluten läßt. 119 Gegen die "Vorsatzbetrachtung" von BaumannIWeber ist einzuwenden, daß sie auf einem objektiv bestimmten einheitlichen Handlungsbegriff für Begehen und U nterlassen beruht, obwohl ein solcher nicht existiert (s. hierzu näher unten im 6.Abschnitt, B. V.) Daneben ist mit der bloßen Behauptung, die Verhaltensqualität dürfe nicht von der inneren Einstellung des handelnden Täters - Vorsatz oder Fahrlässigkeit - abhängen, noch nicht der Beweis erbracht, daß für die von BaumannIWeber erwähnten Beispiels fälle aus dem Bereich der Fahrlässigkeitsdelinquenz - so im Ziegenhaar-, Radleuchten- und Lastzugfall - einheitlich aktives Tun anzunehmen sei. Im übrigen wird nicht deutlich, wieso sie dann im Selbstmordfall auf das Unterlassen abstellen. Zudem hilft diese "Vorsatzbetrachtung" in den Fallgestaltungen der Vereitelung eigener und fremder Rettungsrnaßnahmen, bei denen es von vornherein um vorsätzliches Verhalten geht, nicht weiter. Aufgrund welcher Kriterien BaumannIWeber hier zu deren Einordnung als Begehungs- oder Unterlassungsdelikt gelangt sind, bleibt unklar; sie beschränken sich anscheinend auf eine reine Erfolgsbetrachtung im Hinblick auf die Rettungshandlung des Täters. Allerdings operieren sie in diesem Zusammenhang auch mit der Rechtsfigur des "Unterlassens durch Begehung"; auf die damit verbundenen Probleme wird jedoch erst an anderer Stelle intensiver eingegangen werden (s. dazu unten im 8.Abschnitt, E. I. und 11.)

6. Abschnitt

Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung der Verhaltensfonnen positives Tun und Unterlassen Im vorangegangenen Abschnitt wurde deutlich, daß mit dem von Rechtsprechung und Lehre in seinen verschiedenartigen Ausformungen angewandten Schwerpunktkriterium die Beantwortung der "echten" Abgrenzungsfrage, ob eine bestimmte Verhaltensweise überhaupt Elemente des positiven Tuns oder nur des Unterlassens enthält, weder beabsichtigt noch möglich ist. 1 Vielmehr sollen mit Hilfe der Schwerpunktformel die Fälle "ambivalenten" Verhaltens und das bei diesen auftretende Problem gelöst werden, an welche der beiden vorhandenen Verhaltensformen die strafrechtliche Beurteilung anzuknüpfen hat, so daß ihr lediglich die Funktion einer bloßen Entscheidungshilfe bzw. Konkurrenzregel zukommt. 2 Damit bleibt aber ungeklärt - unabhängig von der Befürwortung oder Ablehnung der Schwerpunkttheorie -, wie die vorrangig zu treffende Feststellung zu erfolgen hat, ob eine bestimmte Verhaltensweise ein positives Tun oder ein Unterlassen darstellt. Die Frage, nach welchen Kriterien eine derartige vorrechtlich-ontologische Unterscheidung vorzunehmen ist, muß stets am Anfang der Überlegungen stehen, denn das Problem der mehrdeutigen Verhaltensweisen kann immer nur dann auftreten, wenn zuvor aufgezeigt wurde, weshalb überhaupt sowohl ein Handeln als auch ein Unterlassen vorliegt. Eine Antwort hierauf soll im folgenden durch die Schilderung der zu diesem Problemkreis vertretenen unterschiedlichen Auffassungen unter kritischer Auseinandersetzung mit ihnen gegeben werden. Dies geschieht auch im Hinblick auf eine etwaige "Weichenstellung" für die Bewältigung der doppeldeutigen Verhaltensformen.

A. Darstellung der Abgrenzungstheorien Zunächst sollen chronologisch die zur vorrechtlich-ontologischen Abgrenzung von positivem Tun und Unterlassen entwickelten verschiedenen Theorien dargestellt werden. I Dies gilt selbstverständlich, wie gesehen, auch für das von Mezger entwickelte Merkmal "Richtung bzw. Gegenstand des rechtlichen Vorwurfs".

2

s. vorherige Fn. 1.

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6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

I. Rein naturalistische Betrachtungsweise nach dem äußeren Erscheinungsbild (Körperbewegungskriterium)

Zuerst bedarf es einer Beschreibung der um die Jahrhundertwende begründeten rein naturalistischen Betrachtungsweise, bei der auf das äußere Erscheinungsbild einer menschlichen Handlung und damit auf die - willkiirliche (Nicht)Vornahme einer Körperbewegung abgestellt wurde. 1. Begrandung durch v. Liszt

Diese gegen Ende des 19.Jahrhunderts entwickelte Abgrenzungstheorie nach dem äußeren Erscheinungsbild mit Hilfe des Körperbewegungskriteriums ist auf v. Liszt zurückzuführen und untrennbar mit dem von ihm entwickelten naturalistischen Handlungsbegriff verbunden. v. Liszt versteht unter Handlung die willkürliche Verursachung oder Nichtverhinderung einer Veränderung in der Außenwelt, also das vom Erfolg begleitete willkürliche Verhalten, wobei die Willensbetätigung in der willkürlichen Vornahme oder in der willkürlichen Unterlassung einer Körperbewegung bestehen könne. 3

Davon ausgehend definiert v. Liszt Tun als willkürliche Verursachung eines Erfolges, bei dem die Willensbetätigung als willkürliche, d.h. durch Vorstellungen motivierte Körperbewegung erscheine,4 während Unterlassen die willkürliche Nichthinderung des Erfolges sei, bei dem die Willensbetätigung in der willkürlichen Nichtvornahme einer vorzunehmenden Körperbewegung bestehe. 5 2. Obernahme des Körperbewegungskriteriums

Das Körperbewegungskriterium ist in der Lehre - vor allem in der älteren Literatur - vielfach zur Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen angewandt worden.

3 v. Liszt, Lehrbuch, 1. Aufl. 1881, § 28, 14.115.Aufl. 1905, § 28 - § 28 I, 21.122. Aufl. 1919, § 28 - § 28 I 1.

v. Liszt (Pn. 3), jeweils § 29 - § 29 I. 5 v. Liszt (Pn. 3), jeweils § 30 I. So auch v. Liszt/Eb. Schmidt, Lehrbuch, 23.Aufl. 1921 bis zur 26.Aufl. 1932, jeweils § 28 - § 28 I I, § 29 I, § 30 I. In der 26.Aufl. spricht Eb. Schmidt hinsichtlich der Handlung erstmalig von "sozialer" Außenwelt, § 28 (s. hierzu unten unter V. 1.). 4

A. Darstellung der Abgrenzungstheorien

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a) Das Schrifttum des frühen 20.Jahrhunderts Die durch v. LisZl begründete rein naturalistische Betrachtungsweise erfährt mit Beginn des 20.Jahrhunderts großen Zuspruch in der Strafrechtswissenschaft und verkörpert bis in die dreißiger Jahre hinein die vorherrschende Unterscheidungsmethode zwischen Handlung und Unterlassung bzw. von positivem Tun und Unterlassen. Dabei stellt man vorrangig auf die - gewollte Vornahme bzw. Nichtvornahme einer Körperbewegung ab. 6 Gesondert sei hier noch Beling erwähnt, der die "Handlung i.e.S." als gewollte Körperbewegung, Tätigkeit und die "Unterlassung" als gewollte Regungslosigkeit, Untätigkeit, Nichtbewegung, Körperruhe von der "Handlung i.w.S." umfaßt ansieht, das Unterlassen aber zusätzlich durch die Zurückhaltung der motorischen Nerven und das Unterbleiben jeder Muskelregung (Nichtanspannung der Muskeln, Muskelruhe, Nichtregung) - im Gegensatz zum Tun als Muskelbewegung(-regung) - kennzeichnet. 7 b) Das Schrifttum ab Mitte des 20.Jahrhunderts Auch in jüngerer Zeit hat die naturalistische Betrachtungsweise Befürworter gefunden. 8 Herauszuheben ist hier Böhm, der unter Berufung auf den naturalistischen Handlungsbegriff für die Handlung ein Verhalten voraussetzt, das entweder aus einer willkürlichen Körperbewegung, dem Tun, oder aus willkürlicher Körperruhe, dem Unterlassen, besteht. 9 Daneben sind aber auch die - letztlich widersprüchlichen - Ausführungen von Lampe zu nennen. Zunächst definiert er die Handlung als erbrachte Kör6 So z.B. Radbruch, Handlungsbegriff, 1904, 132, 134, 137, 145; Finger, Lehrbuch, Bd. 1, 1904, S. 272 f.; Binding, Nonnen, Bd. 2, l.Hälfte, 2.Aufl. 1914, S. 108 f.; M.E. Mayer, Allg. Teil, 1915, S. 108 f.; v. Hippel, Lehrbuch, 1932, S. 90; Rittler, Lehrbuch, Allg. Teil (Österreich), Bd. 1, l.Aufl. 1933, S. 42, 2.Aufl. 1954, S. 59; AllfeldlH. Meyer, Lehrbuch, 9.Aufl. 1934, S. 101. 7 Beting, Lehre vom Verbrechen, 1906,9, 14 f.; ders., Grundzüge, 8.19.Aufl. 1925, S. 20, 11.Aufl. 1930, S. 12. 8 So z.B. durch Gallas, ZStW Bd. 67 (1955), 1, 8, 11 Fn. 34, 13; Spendei, FSEb. Schmidt, 1961, 183, 192 ("objektiv-natürliche Anschauung unter Berücksichtigung der Tatsachen"); ders., JZ 1973,137, 139; Schanemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, 239; Geilen, Allg. Teil, l.Aufl. März 1976, S. 231 ("äußeres Erscheinungsbild"); Jescheck, Lehrbuch, Allg. Teil, 1. Aufl. 1970, S. 400 bis zur 4.Aufl. 1988, S. 545 ("natürliches Verständnis der Dinge"). Diese Befihworter des Körperbewegungskriteriums vertreten aber nicht notwendig einen naturalistischen Handlungsbegriff.

9 Böhm, Rechtspflicht zum Handeln bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1957,17,24.

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6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

perbewegung, die Unterlassung als Ausbleiben einer Körperbewegung, 10 macht dann dieser Dogmatik wenig später den Vorwurf eines allzu veräußerlichten Naturkausalismus, weil sie den sozialen Sinngehalt der Handlung unbeachtet ließe,11 und kehrt einige Zeit danach schließlich zu seiner ursprünglichen Auffassung zurück, wenn er für die Handlung die Kraft für erforderlich hält, einen Muskel in bestimmter Weise zu bewegen und dadurch einen Kausalverlauf zu bewirken, für die Unterlassung hingegen die andere Kraft, eine bestimmte Muskelinnervation hintanzuhalten und dadurch der außerhalb der Physis des Täters verlaufenden Kausalität ihren Gang zu lassen. 12 • 13 11. Energiekriterium

Als eine Art Fortführung der rein naturalistischen Abgrenzungsmethode ist das auf Engisch zurückgehende Energiekriterium zur Unterscheidung von Tun und Unterlassen zu verstehen.

1. Begrandung durch Engisch Engisch defIniert erstmals im Jahre 1931 das positive Tun als Energieeinsatz in einer bestimmten Richtung, speziell die Vornahme einer bestimmt gearteten Körperbewegung, und im Gegensatz hierzu das Unterlassen als Nichteinsetzen von Energie in einer bestimmten Richtung, insbesondere die Nichtvornahme einer bestimmt gearteten Körperbewegung, wobei er die Relativität und Transitivität des Unterlassungsbegriffs betont. 14 Lampe, ZStW Bd. 71 (1959),579,587 f. Lampe, ZStW Bd. 72 (1960), 93, 103; s. aber auch seine Ausführungen auf S. 104 ("der Täter handelt solange, wie er die Wirkungen seiner körperlichen Aktivitäten in ihren Ursachen beherrscht hat; nur die Beherrschung des übrigen Kausalgeschehens unterfallt dem Begriff der Unterlassung"). 12 Lampe, ZStW Bd. 79 (1967), 476, 487 f. 10

11

13 Ähnlich widersprüchlich Herzberg, Unterlassung und Garantenprinzip, 1972. Dort meint er nämlich einerseits, das entscheidende Kriterium für die "klassische Scheidung von Tun und Lassen" könne nur das Moment der gewillkürten Körperbewegung sein, S. 183 und auch S. 69, 91, hält aber andererseits dafür, daß schon der Sprachgebrauch anzeige, daß etwas seinem sozialen Sinn nach ein Tun sein könne, was faktisch betrachtet nur ein Unterlassen sei, S. 278.

14 Engisch, Kausalität, 1931,29 i.V.m. Fn. 1. Ähnlich schon früher Aldosser, Inwieferne können durch Unterlassungen strafbare Handlungen begangen werden?, 1882, 81 ff., der hinsichtlich des Tuns von der Vornahme von Kraftäußerungen spricht, und Peterson, Strafrechtl. Abh., Heft 126, 1911, I, 10,39 ff., 112, der den Versuch einer Analyse des Vorgangs der strafbaren Unterlassung mit Hilfe des von ihm in einem naturalistischen Sinne verstandenen Energiebegriffs unternimmt.

A. Darstellung der Abgrenzungstheorien

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Diese Ausführungen bestätigt Engisch in den nächsten Jahren wiederholt. 15 Er weist zugleich darauf hin, daß der Begriff "Energie" in diesem Zusammenhang nichts Physikalisches bedeute, sondern mit ihm dasselbe gemeint sei, was der alltägliche Sprachgebrauch unter Energie verstehe, nämlich den willkilrlichen Krajteinsatz, worunter auch die nach innen gerichtete Energie - ein Sichzusammennehmen, Gespanntsein, Nachdenken u.ä. - falle. 16 In seinen jüngeren Werken hält Engisch am Energiekriterium als dem nach seiner Ansicht tauglichen Mittel zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen fest, spricht nun allerdings außerdem von "Energieaufwand bzw. Nichtaufwand von Energie in einer bestimmten Richtung" 17 statt von einem diesbezüglichen Energieeinsatz. 18 Dort bekräftigt er auch sein Verständnis des Begriffes Energie, der von ihm nicht im physikalischen Sinne gemeint sei, sondern im alltäglichen Sinne von willkürlichem menschlichen Krafteinsatz, "sozusagen von dem, was man auch 'Leistung', 'Anstrengung' zu nennen pflegt" .19 Deshalb betont er selbst, daß die Energiethese nicht etwa naturalistisch konzipiert sei, sondern daß gerade die Bestimmung des Energieeinsatzes als "Leistung" oder" Anstrengung" auf einen sozial-sinnhajten, wenn man so wolle normativen Ansatzpunkt des Energiekriteriums hinweise: wo ein Tun geboten werde, dessen Unterlassung verantwortlich machen solle, sei eine besondere Anstrengung - wenn auch vielleicht nur minimale und oft auch dann nicht so ohne weiteres zumutbare -, eventuell aber auch ein besonderes Geschick gefordert, während das Verbot eines rechtlich mißbilligten Handeins im engeren Sinne keinerlei "Geschick" und keine andere "Leistung" als die der Abstandnahme vom verbrecherischen Gedanken verlange. 20 15 So Engisch, MonSchrKrimPsych Bd. XXIV (1933), 237, 238 f. und ders., MonSchrKrimBiol Bd. XXX (1939), 414, 423 f. i.V.m. Fn. 28, 29. 16 Engisch (Fn. 15), MonSchrKrlmBiol Bd. XXX (1939), 423 f.; vgl. auch ders. (Fn. 15), MonSchrKrimPsych Bd. XXIV (1933), 240.

17 So Engisch, Weltbild des Juristen, 2.Aufl. 1965, 37 Fn. 70; ders., FS-Gallas, 1973,163,167,170; ders., FS-Dreher, 1977,309,325. 18 Engisch (Fn. 17), Weltbild, S. 37 Fn. 70; ders. (Fn. 17), FS-Gallas, 1973, 171 f., wo er auch dahin tendiert, die nach "innen gerichtete Energie", den "internen Energieeinsatz" - das Sichzusammennehmen, das Gespanntsein, die Konzentration weiterhin in den Energiebegriff mit einzubeziehen. 19 Engisch (Fn. 17), FS-Gallas, 1973, 173; vgl. daneben noch seine Ausführungen auf S. 175, denn dort meint er, es gehe nur um die spezifische Färbung, abstrakter: Qualifizierung von Tun und Unterlassen - Aktivität und Passivität - durch die Hereinnahme des Merkmals der Energie mit solchen typischen Momenten wie Anstrengung, Einbruch in die soziale Umwelt, Begabtsein mit entsprechender Geschicklichkeit, d.h. das Energiemerkmal solle nur dazu dienen, dem Gegensatz der Begriffe Tun und Unterlassen, Aktivität und Passivität, schärfere Konturen zu verleihen. 20 Engisch (Fn. 17), FS-Gallas, 1973, 173.

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6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

In dieser letzten Aussage liegt auch der Ansatzpunkt für die dogmatische Herleitung bzw. Begründung des Energiemerkmals als dem - nach Ansicht Engisch's - einzig brauchbaren Kriterium zur Unterscheidung von Tun und Unterlassen. Das Tun sei nämlich, auf sein Äußeres gesehen, leichter zu vermeiden. Man brauche hierzu nur die entsprechende Tätigkeit bleiben zu lassen - dies erfordere zwar eventuell die Unterdrückung sehr mächtiger drängender Triebe, habe aber nichts mit der Leichtigkeit des Unterlassens des äußeren verletzenden Tuns zu tun -, während die Gebotserfüllung, die dem Unterlassenden auferlegt sei, ihrem "Wesen" nach in aller Regel schon rein äußerlich genommen Einsatz von körperlicher Anstrengung, Geschicklichkeit, Umsicht usw. koste. 21 Engisch führt jedoch noch weitere Erwägungen an, die - seiner Meinung zufolge - logisch die Bestimmung des Unterschieds von Tun und Unterlassen mit Hilfe der Energiethese einschließen würden. Einen festen Anhaltspunkt biete die Tatsache, daß das Recht die Erfolgsverursachung durch Unterlassung mit größerer Zurückhaltung behandele als die durch positives Tun. Diese Zurückhaltung äußere sich darin, daß nicht jedes den Erfolg bloß oder typisch bedingende, sondern nur das einer besonderen rechtlichen Erfolgsabwendungspflicht nicht genügende Unterlassen sozial und straftatbestandlieh erheblich sei, im Gegensatz dazu die soziale und rechtliche Erheblichkeit eines den Erfolg erfahrungsgemäß bedingenden Tuns die Regel sei. 22 Die Gründe dieses Unterschieds liegen für Engisch in den folgenden Umständen: Würde der Kreis der Verantwortung für das Unterlassen zu weit gezogen, so steigere man den Kraftaufwand der Volksgenossen in einer der Sache selbst abträglichen Weise. 23 Diese Steigerung des Kraftaufwandes bedeute aber auch eine erhöhte Belastung für jeden einzelnen und damit nicht nur eine Beschränkung seiner Freiheit, sondern vor allem auch ein Abziehen von anderen vielleicht wichtigeren Betätigungen. Bei jeder Erweiterung des Kreises der Pflichten zum Tun bestehe die Gefahr einer Fehlverlagerung, womöglich sogar eine 21 Engisch (Fn. 17), FS-Gallas, 1973, 189. S. auch seine Ausführungen aufS. 187, denn dort meint er, daß es gerade die Gebotserfüllungen seien, die eine Leistung zumuten würden. 22 Engisch (Fn. 15), MonSchrKrimBiol Bd. XXX (1939), 422. Vgl. schon vorher Engisch (Fn. 15), MonSchrKrimPsych Bd. XXIV (1933), 240 f., wo er seine Behauptung, daß es sich überall beim Gebote positiven Tuns um ein Gebot von Energieeinsatz handele, mit dem Hinweis darauf einleuchtend machen zu können glaubt, daß sich die Zurückhaltung des Gesetzgebers in der Auferlegung von Geboten darauf zurückführen lasse, daß er die Mühen, die im Energieeinsatz lägen, nur in sehr beschränktem Maße zumuten dürfe; anderenfalls würde vom einzelnen nicht nur zuviel verlangt, sondern es würde auch ein gefährliches Verlangen darstellen, da die Einmischung vieler, die Konkurrenz der positiven Tätigkeiten, leicht üble Folgen hätte. 2J Engisch (Fn. 15), MonSchrKrimBiol Bd. XXX (1939), 422.

A. Darstellung der Abgrenzungstheorien

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Verwirrung der Kräfte des Einzelnen. 24 Der tiefste Grund hierfür sei aber, daß man vieles unterlassen und nur weniges tun könne. Erfülle man ein Verbot, so blieben noch unendlich andere Handlungsmöglichkeiten, während man bei Erfüllung eines Gebots dergestalt auf ein bestimmtes Tun eingeschränkt sei, daß unendlich andere Handlungsmöglichkeiten ausgeschlossen seien. Nur in diesem Sinne sei die Erfüllung von Verboten der geringere Verzicht als die von Geboten, während subjektiv, auf die Verursachung gesehen, die Dinge anders liegen könnten. 2s 2. Resonanz in der Lehre

Das Energiekrirerium als Abgrenzungsmerkmal von Handeln und Unterlassen hat vermehrt Zustimmung durch das strafrechtliche Schrifttum gefunden. a) Übernahme der Energiethese in ihrer ursprünglichen Fassung In ihrer ursprünglichen Fassung vertreten die Energiethese - unter ausdrücklicher Berufung auf Engisch - Androulakis,26 Otter,27 Schlüchter,28 Otto,29 Kamps,30 Nowakowski 31 und Seelmann,32 sprechen demnach von Energieeinsatz bzw. Nichteinsatz von Energie in einer bestimmten RichEngisch (Fn. 15), MonSchrKrimBiol Bd. XXX (1939), 423. Engisch (Fn. 15), MonSchrKrimBiol Bd. XXX (1939), 423. 26 Androulakis, Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963, 55. Für ihn wird im Rahmen der Abgrenzungsproblematik die Stellungnahme zu einer Energieeinsatzmöglichkeit relevant, weshalb bei Annahme und Einsatz der entsprechenden Energie der Mensch "handelt", während bei Zurückweisung und Nichteinsatz der - der Annahme - entsprechenden Energie der Mensch die in Frage stehende Handlung "läßt" - er spricht von "Lassen", um den Begriff des "Unterlassens" für die Lassung einer zu erwartenden Handlung reservieren zu können, s. S. 69 - und er sieht daher Handeln und Lassen, Handlung und Unterlassung, als die zwei Grundmodi des menschlichen Verhaltens als durchgeführte Stellungnahme zu einer im Rahmen der Situation aktualisierten Energieeinsatzmöglichkeit an. 27 Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs, 1973, 112 f. 28 Schlachter, JuS 1976,793,795. 24

2S

29 Olto, Allg. Strafrechtslehre, 2.Aufl. 1982, S. 127, 3.Aufl. 1988, S. 167 f.; ders., NJW 1980, 417, 424; OttolBrammsen, Jura 1985,530, 53l. 30 Kamps, Ärztliche Arbeitsteilung und strafrechtliches Fahrlässigkeitsdelikt, 1981,87. 31 Nowakowski, in: Wiener Kommentar zum StGB (WK), Stand 1982, § 2 Rdn. 40. 32 Seelmann, JuS 1987,33,34 f.

7 Stoffers

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6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

tung. 33 Kamps gelangt zu diesem Ergebnis, indem er darauf hinweist, daß das Recht von seinen Rechtsunterworfenen in den Fällen der Unterlassungsdelikte die Aufwendung von Arbeitskraft oder - anders ausgedrückt - von Energie fordere, während es in den Fällen der Begehungsdelikte allein das Unterlassen der verbrecherischen Energie zur Verpflichtung mache und sich für den statt dessen vorgenommenen Energieaufwand in Richtung auf einen rechtlich erwünschten oder indifferenten Erfolg gar nicht interessiere. 34 b) Verbindung des Energiekriteriums mit Kausalitätserwägungen Es gibt in der Lehre auch mehrere Autoren, die das Energiekriterium mit Kausalitätserwägungen zur Lösung der Abgrenzungsfrage verbinden. So nehmen Welp,35 Roxin,36 Wessels,37 Rudolphi38 und Ebert39 - auf einen Nenner gebracht - die Einordnung danach vor, daß derjenige, der durch aktiven Einsatz von Energie verändernd in den Lauf der Dinge eingreift bzw. 33 Die Frage, ob die Energiethese von ihnen eher in einem naturalistisch-physikalischen oder mehr - wie von Engisch - in einem normativ-alltäglichen Sinne verstanden wird, läßt sich nicht einheitlich beantworten. Ouer, Schlüchter, Nowakowski und Seebnann äußern sich überhaupt nicht in diese Richtung, Ouo tendiert zu einer naturalistischen Interpretation der Energiethese - s. hierzu OUo/Brammsen (Fn. 29), S. 531 -, Androulakis (Fn. 26), S. 53 Fn. 172, versteht "Energie" im alltäglichen Sinne und Kamps (Fn. 30), S. 87 f., meint, die Begriffe des Energieeinsatzes oder -nichteinsatzes müßten eine normative Auslegung erfahren, wobei sich die normativ-teleologische Auslegung dieses Begriffspaares in den Begriffen "Anstrengung" und "Leistung" oder deren Gegenteil konkretisiere und man das Können und die Geschicklichkeit des Menschen hinzuzunehmen habe. J4 Kamps (Fn. 30), S. 87. Vgl. auch S. 86, wo er meint, der Mensch sei durchaus in der Lage, sehr viele Dinge zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort zu unterlassen, weil seine Arbeitskraft mit einer bestimmten Tätigkeit in der Regel vollständig gebunden sei. 3S We~, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, 111 f.; s. außerdem S. 118, denn an dieser Stelle schließt er aus der Zuordnung der Begriffe von Handeln und Unterlassen zu Außenwelterfolgen, daß die Unterscheidung lediglich auf die Kausalfrage abziele. J6 Roxin, FS-Engisch, 1969,380, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Engisch's Energiekriterium. 37 Wessels, Allg. Teil, 1. Aufl. 1970 bis zur 20.Aufl. 1990, jeweils § 16 I 2, der in diesem Zusammenhang auch davon spricht, daß von ihrem "äußeren Erscheinungsbild" her Tun und Unterlassen zumeist leicht zu unterscheiden seien.

J8 Rudo~hi, in: Systematischer Kommentar zum StGB (SK), Bd. 1, 1. Aufl. 1975 bis zur 5.Aufl. 1989, jeweils Vor § 13 Rdn. 6 i.V.m. Rdn. 1; ders., Fälle, Allg. Teil, 1.Aufl. 1977, FallS, S. 44, 2.Aufl. 1983, Fall 6, S. 60 f. 39 Ebert, Allg. Teil, 1985, S. 152, der wie Wessels zusätzlich vom "äußeren Erscheinungsbild" spricht.

A. Darstellung der Abgrenzungstheorien

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einen Kausalverlauf in Gang setzt oder in eine bestimmte Richtung lenkt oder positive Energie in Richtung auf ein Gut einsetzt, etwas "tut", hingegen derjenige, der den Dingen ihren Lauf läßt und von der Möglichkeit des verändernden Eingreifens keinen Gebrauch macht bzw. nicht durch Energieeinsatz auf das Kausalgeschehen einwirkt oder keine positive Energie gegenüber einem anderweit in Gang gesetzten Kausalverlauf aufbringt, etwas "läßt" .40 Welp geht, um dieses Ergebnis dogmatisch zu fundieren, von der Überlegung aus, "wenn der aktive Einbruch in die kausal festgelegte Welt vermöge der Bewirkensqualität der energievollen Kraftentfaltung stets schon auf seinen Urheber zurückweist und den Erfolg als 'sein Werk' erkennen läßt, während die Änderung der Außenwelt bei bloßer Passivität des Menschen nur mit Hilfe besonderer Zurechnungskriterien mit ihm verbunden werden kann", unterscheide das Merkmal des "positiven Energieeinsatzes" die Verhaltensformen - Tun und Unterlassen - teleologisch mit Rücksicht auf denjenigen fundamentalen Wertgesichtspunkt, der sich in dieser Bewertung durchsetze. 41 Diese Überlegung ergibt sich für ihn aus einer Betrachtung des Menschen in seiner Beziehung zu jenen Veränderungen der realobjektiven Außenwelt,42 die im Hinblick auf seine Leistungen und Fehlleistungen Erfolge genannt würden. Bei dieser Betrachtung sei nun aber ein "Dualismus" dahingehend festzustellen, daß entweder sich der Mensch in der Weise zum Urheber dieser Erfolge aufwerfe, daß er selbst Kausalverläufe in Gang setzt oder abändert oder er sich gegenüber anderweit in Gang gesetzten Kausalverläufen rein passiv verhält. Da Welp jedoch dafür eintritt, daß der "'Einbruch' in die kausal determinierte Körperwelt nur durch Einwirkung auf die 'äußere Wirklichkeit' der Dinge geschehen" könne und somit die "Freisetzung körperlicher Energie" voraussetze, soll sich der Unterschied der beiden Fallgruppen durch die Begriffe "positiver Energieeinsatz" und Aktivität einerseits, "Nichteinsatz von Energie" und Passivität andererseits umschreiben lassen. 43 40 Diese Autoren gehen wohl von einem naturalistischen Verständnis des Energiebegriffes aus: Welp (Fn. 35), S. 112 f., betont, daß der Einsatz von Energie an der Bewegung sichtbar werde, Rudolphi (Fn. 38), SK, Vor § 13 Rdn. 6, wendet sich ausdrücklich gegen seine normative Interpretation und Ebert (Fn. 39), S. 152, spricht vom Einsatz körperlicher Energie. 41 Welp (Fn. 35), S. 111.

42 Vgl. hierzu Welp (Fn. 35), S. 110, der dort meint, daß jede Veränderung der Körperwelt eine reale, nämlich in dieser Welt wirkende und bewirkende Kraft voraussetze, deren Vermögen als Energie bezeichnet werden könne. 43 Zum vorhergehenden Welp (Fn. 35), S. 110 f. Er weist noch darauf hin, daß sich hinter dieser Differenz der menschlichen Beziehungen zu Außenwelterfolgen ein Unterschied fundamentaler Art verberge, denn während man den Menschen im Falle bloßer Passivität aus dem Geschehensablauf hinwegdenken könne, ohne daß sich an der Gestaltung der realobjektiven Wirklichkeit irgendetwas änderte, weise die Änderung der Welt bei einer Aktivität des Menschen stets schon auf ihn selbst zurück.

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6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

c) Kumulative Kombination von Kausalitäts- und Energiekriterium nach Sieber Sieber löst die echte Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen mittels einer kumulativen Kombination von Kausalitiits- und Energiekriterium,44 weshalb er ein Tun nur dann annimmt, wenn ein vom Täter vorgenommener Energie- oder Krafteinsatz für einen tatbestandsmäßigen oder rechtsgutsverletzenden Erfolg ursächlich ist. 4s Er gelangt zu diesem Ergebnis aufgrund folgender Erwägungen. Sieber ist der Überzeugung, daß die Entscheidung über die Einordnung menschlichen Verhaltens in die Kategorien von Tun und Unterlassen aufgrund der Zweckhaftigkeit jeder geisteswissenschaftlichen Begriffsbildung teleologisch im Hinblick auf die leitenden Zweck- und Wertgesichtspunkte des strafrechtlichen Systems erfolgen sollte. Dieser funktionale und wertende Ansatzpunkt schließe eine ontologische Begriffsbildung keineswegs aus, mache es jedoch erforderlich, die Heranziehung von Seinsstrukturen für die juristische Begriffsbildung und die unterschiedliche Beurteilung dieser Strukturen mit Hilfe der Zweck- und Wertgesichtspunkte zu begründen. Für den Bereich des Unrechtstatbestandes, dem die hier zu entscheidende Abgrenzungsfrage zuzurechnen sei, liege der insoweit entscheidende Wertgesichtspunkt in der Funktion des Strafrechts, einzelne Rechtsgüter vor bestimmten menschlichen Verhaltensweisen zu schützen. 46 Für die Abgrenzung von Tun und Unterlassen sei daher von den Fragestellungen auszugehen, wie Rechtsgüter und die diesen korrespondierenden Handlungsobjekte durch unterschiedliche menschliche Verhaltensweisen beeinflußt werden könnten und inwieweit diese unterschiedlichen Verhaltensweisen eine differenzierende Beurteilung der Strafbarkeit rechtfertigten. 47 Da die unterschiedliche Behandlung von Tun und Unterlassen durch die in § 13 StGB normierte Entscheidung des Gesetzgebers bereits vorgegeben sei, könne die in der zweiten Frage enthaltene Unbekannte auf einfache Weise eliminiert werden. Aufgabe der beiden funktionsbestimmten Rechtsbegriffe Tun und Unterlassen sei damit die Beantwortung der Frage, weIche Unterschiede bei der Beeinträchtigung strafrechtlich geschützter Rechtsguts- oder Handlungsobjekte es rechtfertigten, bestimmte Verhaltensweisen grundsätzlich stets und andere nur beim Vorliegen der in § 13 StGB genannten Voraussetzungen als strafbares Unrecht anzusehen. 48

44

Sieber, JZ 1983, 431, 435.

4S

Sieb er (Fn. 44), S. 436.

46

Sieber (Fn. 44), S. 433.

47

Sieber (Fn. 44), S. 433 f.

48

Sieber (Fn. 44), S. 434.

A. Darstellung der Abgrenzungstheorien

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Sieber ist der Ansicht, daß diesen Postulaten das Kausalitätskriterium Rechnung trage, da es zwei verschiedene rechtsgutsbeeinträchtigende Verhaltensweisen unterscheide, die eine unterschiedliche rechtliche Bewertung i.S.v. § 13 StGB rechtfertigten. 49

Zum einen sei eine Beeinflussung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter oder Handlungsobjekte durch einen Eingriff in das Rechtsguts- oder Handlungsobjekt möglich, der zu einer Verschlechterung des Rechtsgutspotentials führe. Diese Fälle seien dadurch gekennzeichnet, daß die Verschlechterung des Rechtsgutspotentials kausalgesetzlieh auf einen bestimmten Menschen zurückgeführt werden könne, da sie entfiele, wenn dieser Mensch nicht existieren bzw. hinweggedacht werden könnte. Diese Kausalbeziehung würde es rechtfertigen, den eingetretenen Erfolg als das Werk dieses Menschen anzusehen und auf der Tatbestandsebene zumindest als ersten strafrechtlichen Anknüpfungspunkt eine Verantwortlichkeit dieses Menschen für den verursachten Erfolg anzunehmen. 50 Auf der anderen Seite könnten Rechtsguts- oder Handlungsobjekte dadurch tangiert werden, daß ihre Situation nicht verbessert werde. In diesen Fällen sei eine Rückführung der nicht eingetretenen Verbesserung auf einen bestimmten Menschen als Urheber nicht in derselben Weise möglich, wie in den Fällen eines Eingriffs in das Rechtsgutspotential, da sich die Situation des Rechtsguts- oder Handlungsobjekts bei unterstellter Nichtexistenz des als Täter in Betracht kommenden Menschen nicht verändern würde. 51 Es sei hier vielmehr gerechtfertigt, zur Begründung des Unrechtstatbestandes zusätzliche Voraussetzungen zu verlangen und dies rechtstechnisch durch die Einordnung der betreffenden Fälle in die Verhaltenskategorie des Unterlassens umzusetzen, in der die Strafbarkeit nur bei Vorliegen eines Gebotstatbestandes oder der in § 13 StGB genannten Voraussetzungen gegeben sei. 52 Sieber ist allerdings der Auffassung, daß die Feststellung, daß das Kausalitätskriterium den wesentlichen Wertgesichtspunkten des Strafrechtssystems für die Einordnung von Verhaltensweisen in die Kategorien des Tuns und des Unterlassens gerecht werde, noch keine abschließende Antwort auf die hier zu 49 Sieber (Fn. 44), S. 434. Er beruft: sich in diesem Zusammenhang auf Samson (s. zu diesem unten unter VI. 2. d».

so Sieber (Fn. 44), S. 434. Dabei sollen diese Überlegungen gleichermaßen für Erfolgs-, Tätigkeits- und abstrakte Gefährdungsdelikte gelten. 51 Sieber (Fn. 44), S. 434. Er hält es weder für sinnvoll noch für möglich, allen Menschen, die den fraglichen Erfolg hätten erzielen können, die nicht eingetretene Verbesserung zuzurechnen und alle Menschen zur Verbesserung der Situation des Rechtsgutspotentials zu verpflichten, da das entsprechende Gebot zu weit ginge und zu einem uferlosen Tatbestand ohne Eingrenzungsfunktion führen würde. 51. Sieber (Fn. 44), S. 434.

80

6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

lösende Abgrenzungsfrage darstellen könne, weil für eine methodisch abgesicherte Begründung noch die Frage zu beantworten sei, ob und inwieweit dieses im Ansatzpunkt taugliche Kriterium durch zusätzliche Kriterien zu korrigieren sei. Dabei sei vor allem zu erörtern, ob die bisher grundsätzlich angenommene Haftung des Menschen für alle von ihm kausal verursachten Erfolge zutreffend ist. 53 Bedenken gegen eine derartige grundsätzliche Haftung ergeben sich für Sieber vor allem in den Fällen, die durch das von Engisch begründete Energiekriterium noch zusätzlich aus der Verhaltenskategorie des Tuns ausgeschieden würden. Diese Fälle seien dadurch charakterisiert, daß kein Energieeinsatz, sondern die bloße Existenz eines Menschen oder die Existenz eines Menschen an einem bestimmten Ort für deliktische Erfolge kausal werde. 54 Soweit in diesen Fällen die tatbestandlichen Erfolge allein durch die Existenz des Menschen verursacht würden, liege es auf der Hand, daß ein auf die Beeinflussung menschlichen Verhaltens abzielendes Strafrecht an diesem Verhalten keinen ausreichenden Anknüpfungspunkt finden könne, da ein den Erfolg verhinderndes Alternativverhalten überhaupt nicht existiere. 55 Aber auch in Fällen, in denen lediglich die Existenz eines Menschen an einem bestimmten Ort für einen tatbestandlichen Erfolg kausal werde, sei eine grundsätzliche Zurechnung nicht möglich, denn hier müsse das den Erfolg verhindernde Alternativverhalten grundsätzlich zumindest unter dem Korrektiv der Möglichkeit und der Zumutbarkeit der Handlung stehen. 56 Sieber betont, daß diese Einschränkungen bereits bei der Unterscheidung von Tun und Unterlassen durch eine Einbeziehung der betreffenden Verhaltensweisen in die Kategorie des Unterlassens und nicht im Rahmen eines unabhängig davon zu entwickelnden allgemeinen strafrechtlichen Instituts zu erfolgen habe,57 wofür entscheidend der Gesichtspunkt spreche, daß hier ähnliche Probleme und Fragestellungen auftauchten wie in den Fällen, die aufgrund des Kausalitätskriteriums dem Unterlassungsbereich zugeordnet würden. 58 Zudem böte diese Lösung die Möglichkeit, die verbleibenden Fälle 53

Sieb er (Fn. 44), S. 434.

54

Sieber (Fn. 44), S. 434, dort auch näher zu den einzelnen Fällen.

55

Sieber (Fn. 44), S. 434 f.

56

Sieber (Fn. 44), S. 435.

Sieber (Fn. 44), S. 435. Er denkt hier etwa im Rahmen einer allgemeinen Zurechnungsbegrenzung bei wertneutralen Handlungen oder im Rahmen eines entsprechenden Rechtfertigungsgrundes. 51

58 Sieber (Fn. 44), S. 435. Dies gelte vor allem im Hinblick auf das Erfordernis, daß das Alternativverhalten des durch seine bloße Existenz kausalen Menschen ebenso wie die bisher der Unterlassungskategorie zugeordneten Verhaltensweisen unter dem Vorbehalt der Möglichkeit und Zumutbarkeit des Verhaltens stehen müßte.

A. Darstellung der Abgrenzungstheorien

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über die Lehren von der objektiven Zurechnung bzw. § 34 StGB klarer zu lösen. 59 Deshalb will Sieber dann bei der Kausalititsprüfung nicht bereits an die räumliche Existenz des Menschen, sondern mit der von Engisch begründeten Lehre an das Mehr eines Kraft- oder Energieeinsatzes anknüpfen, weicht aber, wie gesehen, in seiner Begründung für das Energiekriterium von der Engisch 's ab. 6O III. Normativistische Betrachtungsweise nach Husserl

Husserl will aufgrund seiner normativistischen Betrachtungsweise zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen den Willen der Rechtsordnung sowie deren Auslegung heranziehen - Unterlassung als negativer Rechtswille, Tun als positiver Rechtswille - und dabei letztlich den Charakter der Norm als Gebots- oder Verbotsnorm als ausschlaggebend ansehen - Tun als Inhalt einer Gebotsnorm, Unterlassen als Inhalt einer Verbotsnorm. 61 IV. Kriterium des Lebenssprachgebrauchs i. V.m. einer wertenden Betrachtungsweise von H. Mayer

Die Kennzeichnung von Tun und Unterlassen nach dem Lebenssprachgebrauch und dem ihm entsprechenden Vorstellungsbild, bei der eine wertende Betrachtung miteinbezogen wird, ist auf H. Mayer zurückzuführen. H. Mayer versteht als Tun dasjenige, was "einverständlich von der Allgemeinheit als positive Tätigkeit gewertet" wird, wobei es sich um das mehr aktive eingreifende Tun handele einschließlich jener nur "scheinbaren" Unterlassungen, welche in aktiven Zeitworten angesichts dessen miteinbegriffen seien, daß der Einzelne sehr innig in den schadenstiftenden Vorgang verflochten sei, das Verhalten also rechtlich als positive Tätigkeit gelte, weil es S9

SiebeT (Fn. 44), S. 435.

ro SiebeT (Fn. 44), S. 435. Er ist der Ansicht, daß die Frage, ob aufgrund der Anwendung des Energiekriteriums für die Definition des Tuns auf das Kausalitätskriterium verzichtet werden könne, weil letzteres im Rahmen des allgemeinen Verbrechensaufbaus sowieso zu prüfen sei, allenfalls für die Erfolgsdelikte bejaht werden könne, soweit jedoch der Energieeinsatz für Tatbestandsmerkmale außerhalb der Erfolgsumschreibung dieser Delikte kausal werde, ein derartiger Verzicht dagegen nicht möglich sei, weshalb das Kausalitätserfordernis aus Gründen einer einheitlichen Begriffsbildung für alle Delikte beibehalten werden sollte; s. SiebeT (Fn. 44), S. 435 Fn. 51. 61 Husserl, Negatives Sollen, 1931, 38 ff. Man kann sie auch als "normentheoretische" Betrachtungsweise bezeichnen.

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6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

in diesen Fällen eine "gleiche Intensität rechtsfeindlichen Willens" aufweise wie ein zweifellos als aktives Tun "gewertetes" Verhalten. 62 Als Unterlassung stuft er deshalb diejenige Untätigkeit ein, die der "Sprachgebrauch" nicht mehr als Tun gelten läßt, insbesondere wenn sie sich durch eine geringere intensität des bösen Willens auszeichne, mit dem schadenstiftenden Vorgang also nicht innig verbunden sei. 63 Zudem betont H. Mayer ausdrücklich, daß er den Unterschied zwischen Tun und Unterlassen als einen "Wertungsunterschied" auffaßt, was auch dem "Lebenssprachgebrauch" und dem "Vorstellungsbild" in seiner Faktizität entspreche. 64 Letztlich entscheide das "Werturteil" darüber, ob das Gesamtverhalten im Zusammenhang ein aktives Tun darstellt,65 wobei die Vorzeichen dieser Bewertung an sich logisch jederzeit vertauschbar seien. 66 V. Kriterium der sozialen Sinnbedeutung(-haftigkeit) des Verhaltens

Die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen aufgrund der sozialen Sinnbedeutung(-hajtigkeit) des Verhaltens, entwickelt von Eb. Schmidt, beruht auf der ebenfalls von ihm begründeten sozialen Handlungslehre.

62 s. hierzu H. Mayer, Strafrecht, 1936, S. 215. Vgl. auch H. Mayer, Allg. Teil, Lehrbuch, 1953, S. 113, wo er zu dem Schluß kommt, daß die körperliche Untätigkeit im Rechtssinne als echtes Tun aufzufassen sei, wenn diese unechte Unterlassung das gleiche Maß "rechtsfeindlicher Willensenergie" verlange wie die positive Tätigkeit. Im übrigen weist er dort darauf hin, daß die Rechtssprache zwar von vornherein die unechten Unterlassungen in die Tatbestandsbeschreibungen einbezogen habe, doch darüber, inwieweit derartige Unterlassungen unter das Vorstellungsbild fielen, welches durch die Tatbestandsbeschreibung ausgedrückt werde, entscheide der "natürliche Sprachgebrauch". S. zusätzlich H. Mayer, Allg. Teil, Studienbuch, 1967, S. 81, der an dieser Stelle betont, daß kein Grund bestehe, die Tatbestände des Besonderen Teils begrifflich auf die Verursachung durch positives Tun zu verengen, denn auszugehen sei vom gesetzlichen Wortlaut, der sich an die "Umgangssprache" anlehne, so daß unechte Unterlassungen insoweit in die Tatbestände einbegriffen seien, als der "natürliche Wortlaut" der Tatbestandsbeschreibung reiche. 63 H. Mayer (Fn. 62), Strafrecht, S. 215. 64 H. Mayer (Fn. 62), Strafrecht, S. 214 f. ("gewisse Verhaltensweisen werden positiv, gewisse negativ gewertet").

6S H. Mayer (Fn. 62), Strafrecht, S. 215. Ebenso ders. (Fn. 62), Lehrbuch, S. 112, denn dort will er die Einordnung einer Handlung in die Rubriken Begehung oder Unterlassung durch "Werturteil" vornehmen. 66 H. Mayer (Fn. 62), Lehrbuch, S. 112. Vgl. bereits ders. (Fn. 62), Strafrecht, S. 214, wo er ausführt, eine Handlung habe ein bestimmtes Vorzeichen nicht an und für sich, sondern durch Wertung.

A. Darstellung der Abgrenzungstheorien

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1. Die soziale Handlungslehre im Verständnis von Eb. Schmidt Der soziale Handlungsbegrijf, wie ihn Eb. Schmidt definiert hat,67 beruht auf seiner Behauptung, daß Gegenstand der rechtlichen Bewertung nur menschliche "Handlungen" sein könnten, was aber Verhaltensweisen mit "sozialer Sinnhaftigkeit" seien, wie sie die Erfahrung im sozialen Leben einen verstehen lehrte. 68 Die "soziale Sinnbedeutung" solle alles das, was zu einer Handlung gehöre, zusammenschließen und maßgebend dafür sein, wie und wo der Ausschnitt aus dem Gesamtablauf aller Geschehnisse vorzunehmen sei, um das, was in concreto als Handlung und damit als Bewertungsobjekt interessiere, zu gewinnen. 69 Für das, was über die Sinnbedeutung eines Verhaltens entscheidet, müssen nach Eb. Schmidt zum einen der menschliche Wille, der zweckgerichtet und somit sinngebend die Einwirkung des Menschen auf das soziale Leben steuert, und zum anderen diejenigen Erfolge, die soziale Erfahrung und die Anschauung des sozialen Lebens im einzelnen Falle mit einer vom Willen gesteuerten Einwirkung auf das soziale Leben verbinden, berücksichtigt werden. 70 2. Die soziale Sinnbedeutung(-haftigkeit) des Verhaltens als Abgrenzungsmethode nach Eb. Schmidt In Abkehr des von ihm vormals vertretenen Körperbewegungskriteriums (s. oben unter I. 1.) läßt Eb. Schmidt nunmehr die soziale Sinnbedeutung bzw. -haftigkeit des Verhaltens und nicht mehr das äußere Bild des Verhaltens dar67 Eh. Schmidt gibt somit die von ihm noch in der 26.Aufl. des v. Liszt'schen Lehrbuchs (s. oben unter I. 1.) vertretene naturalistische Betrachtungsweise hinsichtlich des Handlungsbegriffes auf.

68 tR

Eh. Schmidt, Arzt im Strafrecht, 1939,75. Eh. Schmidt (Fn. 68), S. 75 f. LV.m. Fn. 29.

10 Eh. Schmidt (Fn. 68), S. 75 Fn. 29, S. 77. Zum sozialen Handlungshegrijf s. auch die Ausführungen von Eh. Schmidt, FS-Engisch, 1969, 339. Dort weist er zunächst darauf hin, daß jede, die soziale Umwelt berührende einzelmenschliche Verhaltensweise durch diesen sozialen Kontakt eine spezifische "Bedeutung" erhalte, die von dem Meinen und Wollen ihres Urhebers her nicht mehr allein bestimmt werden könne, S. 340. Zudem betont er, daß der Handlungsbegriff seinen maßgeblichen Sinn von da herbekomme, wie er objektiv-sozial zu verstehen sei und daß sich für die soziale Gemeinschaft die Handlungen als funktionale Sinneinheiten darstellten, die so zu verstehen seien, wie sie sich nach den Anschauungen, Erfahrungen, Gewohnheiten des sozialen Lebens auffassen lassen müßten, S. 340 f. Auch soll sich seiner Ansicht zufolge der "soziale Sinn eines Verhaltens" vielfach ohne Feststellung des Gewollten nicht mit Sicherheit bestimmen lassen, denn das äußere Bild eines Verhaltens könne so indifferent sein, daß je nach dem, was der Handelnde gewollt, gemeint, bezweckt habe, eine ganz verschiedene Sinngestaltung herauskomme, S. 344.

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6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

über entscheiden, ob für die strafrechtliche Beurteilung von einer Tatbestandsverwirklichung durch positives Tun - wenn der "soziale Sinn" des Verhaltens in der aktiven Erfolgsherbeiführung liegt - oder durch Unterlassen - wenn der "soziale Sinn" des Verhaltens in der Nichtabwendung eines bestimmten Erfolges liegt - gesprochen werden muß. 71 Man kann also sagen, daß nach Eb. Schmidt "Handlung" sozial sinnhaftes Verhalten ist und die soziale Sinnhaftigkeit darüber entscheidet, ob von "positivem Tun" oder von "Unterlassungen" ausgegangen werden muß.n. 73 3. Reaktion in der Lehre Das Kriterium der sozialen Sinnbedeutung des Verhaltens zur Unterscheidung von Tun und Unterlassen hat im Schrifttum nur wenig Zuspruch gefunden. Erwähnenswert sind hier lediglich Dahm, für den es auf den objektiven Sinn ankommt, der dem Verhalten in der Gemeinschaft zugewiesen werde,74 Hall, der meint, die soziale Sinnbedeutung eines Verhaltens liege oft mehr in einem Unterlassen als in einem Tun75 - beide unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Eb. Schmidt - sowie Meyer-Bahlburg, der das Verhalten als soziale Erscheinung sieht. 76 71 Eh. Schmidl (Fn. 68), S. 78 f. Im übrigen gebraucht er zur näheren Kennzeichnung dieses Unterscheidungsmerkmals auch die Begriffe "Signum" des Verhaltens, S. 79, "sozialer Sinnzusammenhang" , "soziale Sinnerfassung" , S. 85, "soziale bzw. sinngemäße Bedeutung" des Verhaltens, S. 160. Vgl. bereits früher Nagler, GS Bd. 111 (1938), 1,33 f., der vom Vorstoßen der rechtlichen Betrachtung bis zum "Sinngehalt des Geschehens", von der Zweckbestimmung, vom "sozialen Zusammenhang" sowie davon spricht, daß es für die rechtliche Beurteilung naturgemäß in erster Linie auf die "sozial-rechtliche Wertung des Hergangs" ankomme. 72 Vgl. Eh. Schmidl (Fn. 68), S. 80. 73 Die obigen Ausführungen zur Abgrenzungsfrage bestätigend Eh. Schmidl, MonSchrKrimBiol Bd. XXXIII (1942), 85, 88 f. ("sozialer Sinn" des Verhaltens); ders., Strafrechtspraktikum, 3.Aufl. 1949, S. 6 f. ("soziale Sinnbedeutung" des Verhaltens bzw. "spezifischer sozialer Sinn" des Verhaltens); ders., Lehrkommentar zur StPO, Teil I, 2.Aufl. 1964, Rdn. 375 ("sozialer Sinn, Handlungssinn" der Verhaltensweise); ders. (Fn. 70), S. 347 ff. ("sozialer Sinn" des Verhaltens, "soziale Sinnbedeutung, -haftigkeit" des Verhaltens, "soziale (Be-)Deutung" des Verhaltens). 74 Dahm, ZStW Bd. 59 (1940), 153, 160.

Hall, Erinnerungsgabe Grünhut, 1965,213,228. Meyer-Bahlburg, GA 1968,49, 49 f. Vgl. auch TriJfterer, JuS 1971, 181, 182 ("strafrechtlich relevante 'soziale Sinnbedeutung' des Verhaltens") und Müller, JuS 1981, 255, 257 ("sozialer Sinngehalt des Verhaltens"). Zu den widersprüchlichen Ausführungen von Lampe und Herzberg, die einerseits auf die Körperbewegung, andererseits auf den sozialen Sinn der Handlung abstellen, s. oben unter I. 2. b). 7S

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A. Darstellung der Abgrenzungstheorien

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VI. Kausalitätskriterium In neuerer Zeit wird von einer immer größer werdenden Anzahl an Autoren in der Strafrechtswissenschaft zur Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen das Kriterium der Kausalität herangezogen. Dies gilt insbesondere für die Vertreter des finalen Handlungsbegriffs . 77

1. Begründung durch Annin Kaufmann Das Kausalitätskriterium ist auf die Ausführungen von Annin Kaufmann zurückzuführen. Ausgehend von seiner These, daß die innerhalb der Verhaltenslehre - und auch für den Strafjuristen - allein interessierende Kausalfrage diejenige nach der Kausalität des Menschen sei und bei der Unterlassung diese Frage nach der Ursächlichkeit des Unterlassenden für das Ausbleiben der unterlassenen Handlung verneint werden müßte, weil man den Unterlassenden "hinwegn Zur finalen Handlungslehre vgl. Welzel, Strafrecht, 11.Aufl. 1969, S. 33 f., der diese dort wie folgt skizziert: Menschliche Handlung sei die Ausübung der Zwecktätigkeit, also "fmales" Geschehen. Die "Finalität" oder Zweckhaftigkeit der Handlung beruhe auf der Fähigkeit des Menschen, die möglichen Folgen seines Tätigwerdens in bestimmtem Umfange vorauszusehen, sich darum verschiedenartige Ziele setzen und sein Tätigwerden auf diese Zielerreichung hin planvoll lenken zu können. Aufgrund dieser Fähigkeit vermöge er die einzelnen Akte seiner Tätigkeit so zu steuern, daß er das äußere Kausalgeschehen auf ein Ziel hinlenke und es fmal überdeterminiere. Finale Tätigkeit sei insofern ein bewußt vom Ziel her gelenktes Wirken und damit "sehend". Da die Finalität auf der Fähigkeit des Willens beruhe, in bestimmtem Umfange die Folgen des kausalen Eingreifens vorauszusehen und dadurch dieses zur Zielerreichung hin planvoll zu steuern, sei der zielbewußte, das kausale Geschehen lenkende Wille das Rückgrat der fmalen Handlung. Es sei der Steuerungsfaktor, der das äußere Kausalgeschehen überdeterminiere und es dadurch zur zielgerichteten Handlung mache. Ohne ihn würde diese in ihrer sachlichen Struktur zerstört, zu einem blinden Kausalprozeß herabsinken, weshalb der finale Wille, da und soweit er das äußere Geschehen objektiv gestalte, als integrierender Faktor zur Handlung hinzugehöre. S. dazu auch Welzel, ZStW Bd. 51 (1931), 703, 718 und ders., Finale Handlungslehre, 1949. Als weitere Befürworter des "finalen" Handlungsbegriffs sind zu nennen: Niese, Finalität, 1951, 13 ff.; Boldt, ZStW Bd. 68 (1956), 335, 337 ff.; Armin Kauftnann, Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959,3, 16 ff., 66 ff.; ders., FS-Welzel, 1974, 393, 395 f.; Hirsch, Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960,329; ders., ZStW Bd. 74 (1962), 78, 92 ff., 103; ders., ZStW Bd. 93 (1981), 831, 838 ff.; Maurach, Allg. Teil, 4.Aufl. 1971, S. 180 ff.; Jakobs, Fahrlässiges Erfolgsdelikt, 1972, 70 ff.; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, 1973, 152 ff.; Schaffstein, FS-Welzel, 1974, 557; Stratenwerth, Allg. Teil I, 3.Aufl. 1981, Rdn. 146 ff.; Weidemann, GA 1984, 408; Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, 44 ff.

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6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

denken" könne, ohne daß das Unterlassene entfiele, denn an der Negation der Handlung ändere sich nichts dadurch, daß der handlungsfähige Mensch vorhanden sei oder fehle,78 sieht Armin Kaufmann den Unterschied zwischen Handlung und Unterlassung darin, daß bei dieser der Unterlassende für das Ausbleiben der gedachten Handlung nicht urstichlich und damit auch nicht kausal für die Folgen seines Nicht-Handelns sei, während bei jener der Handelnde urstichlich jar sein Handeln sei, er die Handlung bewirke. 79 Er gelangt zu diesem Ergebnis aufgrund der folgenden Erwägungen. Zunächst fragt Armin Kaufmann nach der Kausalität des Nichttuns und stellt in diesem Zusammenhang die Behauptung auf, daß das die Unterlassung kennzeichnende Fehlen eines bestimmten Energieeinsatzes als ursächlich anzusehen sei, ein Element des Unterlassungsbegriffes, nämlich das Ausbleiben einer bestimmten - der unterlassenen - Handlung, also kausal für Ereignisse oder für den Nichteintritt von Ereignissen sei. 80, 81 Deshalb meint er dann auch, daß man mit Rücksicht auf die Ursächlichkeit des Fehlens der - unterlassenen - Handlung "die Unterlassung" als "kausal" bezeichnen könne. 82 Doch bei dieser Feststellung der Kausalbeziehung zwischen dem Nichttun und weiteren Folgen glaubt Armin Kaufmann nicht stehen bleiben zu können 78 Annin Kaufmann (Fn. 77), Unterlassungsdelikte, S. 61. Er kommt daher zu dem Schluß, daß es keine Kausalbeziehung zwischen dem Unterlassenden und der unterlassenen Handlung gebe. 79 Annin Kaufmann (Fn. 77), Unterlassungsdelikte, S. 63. Dort betont er auch, daß dieses Ergebnis nicht von der Anwendung eines bestimmten Kausalbegriffes abhänge, denn die Beantwortung der Frage, ob ein Mensch durch sein Unterlassen kausal zu werden vermöge, könne nicht je nach dem zugrundegelegten Kausalbegriff verschieden ausfallen, vielmehr müsse bei dem Problem der Kausalität des Unterlassenden selbst jeder Verursachungsbegriffzu einem negativen Ergebnis kommen.

80 Annin Kaufmann (Fn. 77), Unterlassungsdelikte, S. 60 f.; hinsichtlich der Kausalität geht er von der Bedingungstheorie i.S.d. conditio-sine-qua-non-Formel aus, s. hierzu S. 59 i.V.m. Fn. 150 und S. 60. 81 Annin Kaufmann (Fn. 77), Unterlassungsdelikte, S. 60, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß auch Nichtänderungen der Wirklichkeit in die Kausalbetrachtung einbezogen werden müßten und daß bei näherem Zusehen alle Kausalabläufe eine Aufeinander- und Ineinanderfolge von Änderungen und Nichtänderungen der bestehenden Wirklichkeit seien und daß das menschliche Eingreifen in das Kausalgeschehen stets sowohl Änderungen als auch Nichtänderungen "bewirkt". 82 Annin Kaufmann (Fn. 77), Unterlassungsdelikte, S. 61. Aus der Anwendung der Bedingungstheorie ergibt sich für ihn, daß das Verhalten, das hinweggedacht werden müsse, beim positiven Tun ein "ganz bestimmter, konkreter Energieeinsatz" , beim Unterlassen die Negation eines solchen sei; s. Annin Kaufmann (Fn. 77), Unterlassungsdelikte, S. 59.

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und gelangt deshalb zu der oben angesprochenen Kausalfrage nach der "Kausalität des Menschen", die er verneint. 83 Zur Begründung seiner Theorie hebt Annin Kaufmann vorrangig auf die von ihm erkannten Unterlassungsvoraussetzungen ab. So sei die Handlungsfähigkeit nicht Ursache des Ausbleibens der Handlung, denn man könne diese Eigenschaft des Menschen - auch samt dem Menschen selbst - hinwegdenken, ohne daß sich am Fehlen des Energieeinsatzes etwas ändern würde. Und hinsichtlich des Fehlens des Handlungsentschlusses könnte man zwar sagen, daß sich bei gegebener physischer Handlungsmöglichkeit der Tatentschluß nicht hinzudenken ließe, ohne daß auch die Handlung vorliege. Aber das Fehlen dieses Handlungsentschlusses sei seinerseits nicht bedingt durch die Existenz des Menschen, denn man könne den Unterlassenden hinwegdenken, ohne daß sich am Fehlen des Handlungsentschlusses etwas ändere. 84 Damit bleibt festzuhalten, daß nach Annin Kaufmann an der Unterlassung nur ein Unterlassungselement ursächlich ist, nämlich das Nichthandeln, die Nichtveränderung der Wirklichkeit. Für dieses Fehlen der Handlung ist die Existenz des Unterlassenden keine Bedingung. Für die Kausalität des Unter-

83 Die vorherigen Ausführungen bestätigend Annin Kaufinann, FS-v. Weber, 1963, 207, 219 i.V.m. Fn. 29. Dort meint er, daß der Wille des Begehungsvorsatzes Betätigungswille und betätigter Wille sei, dem Unterlassungsvorsatz aber unzweifelhaft die Willensbetätigung fehle, worin gerade der Unterschied zwischen Handlung und Unterlassung, zwischen Begehungsvorsatz und angeblichem Unterlassungsvorsatz liege. Hieraus schließt er, daß deswegen der Unterlassung die Kausalität fehle, "genauer gesagt; durch Unterlassen kann man nicht ursächlich werden". Auch weist er darauf hin, daß zwar das die Unterlassung kennzeichnende Fehlen des äußeren Energieeinsatzes ursächlich für die Folgen, die bei Energieeinsatz inhibiert worden wären, sei, es aber an einer Kausalbeziehung zwischen dem Untätigen und dem Fehlen des Energieeinsatzes mangele. 84 Zum vorherigen Annin Kaufinann (Fn. 77), Unterlassungsdelikte, S. 61 f. Dem möglichen Einwand gegen seinen Lösungsvorschlag, man könnte sagen, der Unterlassende sei doch kausal für und durch seinen Unterlassungswillen, hält er entgegen, sofern man unterstellen würde, es gäbe einen Unterlassungswillen bei den Unterlassungen, dann ließe sich auch dieser Unterlassungswille hinwegdenken, ohne daß sich am Fehlen des Energieeinsatzes etwas ändern würde, denn Hinwegdenken des Unterlassungswillens bedeute nicht etwa Hinzudenken eines Handlungswillens, sondern lediglich, daß vom Fehlen des Unterlassungswillens auszugehen sei, S. 61. Und in dem weiteren Einwand, wenn man den Unterlassenden hinwegdenke, sei auch keine Unterlassung mehr vorhanden und da die Unterlassung ihrerseits für Folgen kausal sei, sei auch der Unterlassende Bedingung dieser Folgen, sieht er einen gefährlichen Trugschluß, denn es würde heißen, die Zusammenfassung in einem Begriff an die Stelle des Kausalzusammenhanges setzen, S. 62.

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6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

lassenen ist der Unterlassende nicht kausal, also Verneinung der Ursächlichkeit des Unterlassenden für das Unterlassen. 85 2. Obernahme und Modifikation des Kausalitätskriteriums

In der Lehre hat das Kausalitätskriterium eine Vielzahl zustimmender Stellungnahmen erfahren, die aber nicht immer das von Armin Kaufmann damit verbundene Verständnis übernehmen, sondern es mitunter auch abwandeln und modifizieren. a) Arthur Kaufmann sieht das Unterscheidungsmerkmal zwischen Tun und Unterlassen in der - verschiedenartigen - Beziehung des Tatverhaltens zum Taterfolg, die so aussehe, daß beim positiven Tun der Täter selbst eine Gefahrenlage schafft, die letztlich zum tatbestandlichen Erfolg führt - er spricht insoweit vom Vorliegen von Eigenkausalitlit bzw. Verursachung-, während beim Unterlassen diese Gefahrenlage besteht und der Täter aufgerufen ist, sie zu beseitigen - er spricht insoweit vom Vorliegen von Fremdkausalität bzw. Beherrschbarkeit. 86 Demzufolge ist es seiner Ansicht nach so, daß sich beim aktiven Tun der Handelnde das Kausalwerden des eigenen Körpers dienstbar macht - "Indienstnehmen von Eigenkausalität" -, sich hingegen beim Unterlassen der Handelnde einen außerhalb seiner selbst liegenden fremden Kausalvorgang dienstbar macht - "Indienstnehmen von Fremdkausalität" . 87 b) Für Welzel richtet sich die Unterscheidung zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikt nach der Kausalität oder Nichtkausalität des Verhaltens, denn hat der Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg vorsätzlich oder fahrlässig verursacht, sei ein Begehungsdelikt verwirklicht, fehlt dagegen dem deliktischen Verhalten die Kausalität für den Erfolg, komme nur ein Unterlassungsdelikt in Betracht. 88

8S Vgl. Annin Kaufmann (Fn. 77), Unterlassungsdelikte, S. 62. Vgl. hierzu auch Annin Kaufmann (Fn. 83), S. 220, der an dieser Stelle ausführt, wenn bei der Unterlassung gerade die Willensbetätigung und eine kausale Beziehung zwischen einem Unterlassungswillen und dem Nichtgeschehen des Energieeinsatzes fehle, dann fehle damit auch der Finalnexus - ohne Kausalablauf keine Finalsteuerung. 86 Arthur Kaufmann, FS-Eb. Schmidt, 1961, 200, 214 und Arthur Kaufmann/Hassemer, JuS 1964, 151, 156, wo auch ausgeführt wird, daß ein Unterlassen gegeben sei, wenn das Täterverhalten zur tatbestandsmäßigen Situation nur im Nexus der Beherrschbarkeit, nicht der Kausalität steht, S. 156. 87 Arthur Kaufmann, FS-H. Mayer, 1966, 79, 105. 88 Wekel (Fn. 77), Strafrecht, 9.Aufl. 1965, S. 183 bis zur 11.Aufl. 1969, S. 203.

A. Darstellung der Abgrenzungstheorien

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c) Samson nimmt die Unterscheidung zwischen Begehung und Unterlassung mit dem Kriterium der KausalitiU des Täters wie folgt vor: "Ist der Täter die gesetvni1ßige Bedingung .tar die schließlich eingetretene Rechtsgutslage, 89 dann hat er gehandelt. Ist diese Rechtsgutslage ungünstiger als diejenige, die ohne die Existenz des Täters eingetreten wäre, dann hat er durch Begehung die Rechtsgutslage verschlechtert und gegen ein Verbot verstoßen. Wird dagegen festgestellt, daß der Täter .tar die schließlich eingetretene Rechtsgutslage nicht gesetzmäßige Bedingung war, dann hat er ein Gebot verletzt, sofern er zur Verbesserung der Rechtsgutslage fähig war und eine ihn zum verbessernden Handeln verpflichtende GarantensteIlung innehatte. Das Verbot verletzt, wer einen verschlechternden Eingriff vornimmt, das Gebot verletzt, wer dem Rechtsgut nicht die verbessernde Leistung erbringt. "90 Samson gelangt zu diesem Schluß, daß die Unterscheidung von Begehung und Unterlassung mittels des Kriteriums der Kausalität des Täters zu erfolgen habe, aufgrund der folgenden Überlegungen.

Die Rechtsgenossen könnten voneinander manche Verhaltensweisen immer, 'andere jedoch nur unter besonderen Umständen erwarten. Sei der Grund für diese Differenzierung nicht in der Belastung des Normadressaten zu finden, so liege er vielleicht in der Art, wie die eine oder andere Verhaltensweise den Rechtsgutsträger betrifft. Zwar könne der Rechtsgenosse von jedermann erwarten, daß dieser nicht in seine Rechtsgüter eingreift, dagegen könne nur von manchen erwartet werden, daß sie dem Rechtsgut eine Leistung zukommen lassen; freilich bedürften die Begriffe Leistung und Eingriff der Präzisierung.91. 92

89 Samson, FS-Welzel, 1974, 579, 587, hält die conditio-sine-qua-non-Fonnel zur Ennittlung der Kausalität für ungeeignet und folgt der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. Nach dieser kommt es bezüglich der Kausalität eines Verhaltens für einen bestimmten tatbestandsmäßigen Erfolg allein darauf an, ob sich an jenes Verhalten als zeitlich nachfolgend Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit dem Verhalten und untereinander in ihrer Aufeinanderfolge naturgesetzmäßig verbunden waren; so Engisch (Fn. 14), S. 21. 90 Samson (Fn. 89), S. 595. Er schließt sich dabei ausdrücklich dem Unterscheidungskriterium von Welzel und Annin Kauftnann an, die seiner Ansicht nach beide auf die "Kausalität des Täters" abstellen; s. dazu seine Ausführungen auf S. 587 f. Seine begriffliche Schärfe und Eindeutigkeit soll dieses Abgrenzungsmerkmal im wesentlichen daher beziehen, daß es problemlos festzustellende ontische Gegebenheiten für allein erheblich halte; auch soll die Verwendung deskriptiver Begriffsmerkmale nicht ohne weiteres eine Auslieferung an die ontischen Gegebenheiten bedeuten und die durch deskriptive Merkmale gewonnene Einteilung vollständig der Wertung entsprechen können; so Samson (Fn. 89), S. 588.

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Dabei ist Samson der Ansicht, daß das Recht Rechtsgüterschutz durch die Aufstellung von Normen erreichen wolle. Die Norm wirke, indem sie den Normadressaten zu einem bestimmten Verhalten motiviere. Solle festgestellt werden, ob die Motivierung eines bestimmten Normadressaten für den Schutz eines Rechtsgutes erforderlich ist, so müsse untersucht werden, welche Auswirkungen mögliche Verhaltensweisen des Normadressaten auf den Bestand des Rechtsgutes haben könnten, wobei diese Untersuchung mit Hilfe einer gedanklichen Operation geschehe;93 diese demonstriert er am Beispiel des Rechtsgutes Leben. 94 Samson kommt dabei zu dem Schluß, daß sich die beiden hier interessierenden Verhaltensweisen dadurch auszeichneten, daß sie die konkrete Lebensspanne determinierten, sie damit beide für den auf sie folgenden Effekt kausal seien. Würde man Verhaltensweisen, die einen Erfolg verursachen, als Handlungen bezeichnen, dann ergäbe sich, daß das Recht das Rechtsgut Leben in der Weise schützen könne, daß es lebensverkürzende Handlungen verbietet und lebensverlängernde Handlungen gebietet. Normwidrig sei dann die Vornahme einer lebensverkürzenden und die Unterlassung einer lebensverlängernden Handlung. 95

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Samson (Fn. 89), S. 59l.

Ausgangspunkt der Überlegungen von Samson (Fn. 89), S. 590, ist dabei die Tatsache, daß der Kreis der Unterlassungsdelikte sehr viel enger gezogen sei als der der Begehungsdelikte, weshalb die Frage laute, ob die durch das Merkmal der Kausalität abgesteckten Bereiche von Begehung und Unterlassung die unterschiedliche Behandlung von Begehungs- und Unterlassungsdelikt rechtfertigten. Am auffalligsten würde sich die Behandlung von Begehung und Unterlassung im Bereich der Erfolgsdelikte unterscheiden, denn während jedermann die Verletzung eines Rechtsgutes durch Handlung verboten sei, gebiete das Recht nicht jedermann die Bewahrung von Rechtsgütern vor Verletzung. Wenn es gelänge, den Grund für diese unterschiedliche Regelung aufzufinden, dann ließe sich die Brauchbarkeit des Unterscheidungskriteriums der Kausalität auch von diesem Grund her beurteilen. Vgl. diesbezüglich noch den Hinweis von Samson (Fn. 89), S. 585, da Einigkeit darüber bestehe, daß die Erfolgsdelikte des Strafgesetzbuches immer dann gegeben sind, wenn der Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg durch Begehung verursacht hat, andererseits jedoch nicht jeder den Tatbestand erfüllt, der den Erfolg hätte abwenden können, sei es erforderlich, die Begriffe Begehung und Unterlassung im Blick darauf zu bestimmen, daß der Unterlassungstäter nur dann tatbestandsmäßiges Unrecht erfüllt, wenn er zugleich eine Garantenstellung innehat. 92

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Samson (Fn. 89), S. 59l.

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Zu den näheren Einzelheiten s. Samson (Fn. 89), S. 591 f.

Samson (Fn. 89), S. 592. Er meint, daß diese Schlußfolgerungen zwar nicht neu seien, sie vielmehr der These entsprechen würden, die Handlung und Unterlassung 95

A. Darstellung der Abgrenzungstheorien

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Aufgrund dieser Betrachtungsweise eröffnet sich dann für Samson eine Differenz auch im Erfolg. 96 Die Tötung durch Handeln sei Verursachung einer Lebensverkürzung, die Tötung durch Unterlassen sei Nichtverursachung einer Lebensverlängerung. Allgemeiner gesprochen bedeute dies, daß der Begehungstäter die Lage des Rechtsgutes verschlechtert, während der Unterlassungstäter die Rechtsgutssituation nicht verbessert. 97 Eine solche differenzierende Erfolgsbeschreibung bei Begehung und Unterlassen sei aber nur möglich, wenn ein Normalzustand des Rechtsgutes gefunden werde, über den gesagt werden könne, er sei verschlechtert oder nicht verbessert worden. 98 Dieser Normalzustand sei in der Weise zu konstruieren, daß die hypothetische Entwicklung des Rechtsgutes ohne die Existenz des Täters betrachtet werde. 99 Der Wahl gerade dieses Ansatzpunktes, der die Differenz zwischen Begehung und Unterlassung betont und auch in der Erfolgsdifferenz sieht, liegt folgende Erwägung zugrunde. 100 Das von Samson verwandte Modell geht von einer hypothetischen Rechtsgutsentwicklung aus, die unter Abstraktion von der Existenz des Normadressaten bestimmt wird. Es wird der Normadressat diesem so bestimmten Rechtsgutspotential gegenübergestellt. Da, wo die Norm dem Adressaten die Verschlechterung des Potentials verbietet, würde sie das Rechtsgut in eine Lage versetzen, die der entspricht, in der der Normadressat nicht existiert, so daß die Verbotsnorm eine Vereinzelung des Rechtsgutes bewirke. Es bleibe zwar weiter den Gefahren der Vernichtung durch Kausalverläufe ausgesetzt, nur vom Rechtsgenossen sollten ihm keine Gefahren drohen. Die Verbotsnorm befreie das Rechtsgut also - bildhaft gesprochen - von den Gefahren der Sozietät. Demgegenüber sei der Effekt der Gebotsnorm ein entgegengesetzter, denn hier werde die Lage des Rechtsgutes gegenüber dem als Ausgangsdanach unterscheidet, daß jene einen Erfolg verursacht, diese aber nicht, doch bestünde gleichwohl ein Unterschied zwischen dem von ihm entwickelten Modell und der herkömmlichen Betrachtungsweise, denn diese betrachte das Wesen der Tötung durch Unterlassen in der Nichtabwendung des Todeserfolges und das der Tötung durch Handeln in der Herbeiführung des Todeserfolges, so daß sich Handlung und Unterlassung nur auf der Verhaltensseite unterschieden, womit dann die Notwendigkeit entstehe, auch den materialen Unterschied allein auf die Unterschiede im Verhalten zu beziehen und von Energie und Leistung zu sprechen. 96 Samson (Pn. 89), S. 592. 97 Samson (Pn. 89), S. 592 f. Er hält die Erfolgszurechnung nur dann für möglich, wenn feststeht, daß die Rechtsgutslage ohne die Täterhandlung tatsächlich günstiger gewesen wäre, S. 593 Pn. 68. 98 Samson (Pn. 89), S. 593.

99

Samson (Pn. 89), S. 593 f.

100

Zum nachfolgenden s. Samson (Pn. 89), S. 594 f.

8 Stoffers

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6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

position gedachten Zustand der Vereinzelung in der Weise verbessert, daß Mitglieder der Sozietät nunmehr für den von der Norm intendierten Zustand zur gesetzmäßigen Bedingung würden. Die Rechtsordnung wolle den Bestand des Rechtsgutes uneingeschränkt auf der Höhe erhalten, den es ohne die Existenz des Normadressaten gehabt hätte, während sie nur in Ausnahmefällen einen durch die Existenz von Normadressaten bedingten Rechtsgutsbestand intendiere. Jedermann sei die rechtsgutsverletzende Handlung verboten, dagegen würden rechtsgutsvermehrende Handlungen nicht unter allen Umständen und nicht jedermann geboten. Damit entstammten die Verbote individualistischem Denken, die Gebote bestimmten den Umfang der Pflicht zu gegenseitiger Solidarität. d) Bockelmann glaubt die Unterscheidung von Tun und Unterlassen mit Hilfe der methodischen Mittel treffen zu können, die regelmäßig zur Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit menschlichen Tuns oder Lassens angewendet würden. Ergebe daher die Prüfung, daß ein bestimmtes Verhalten nicht weggedacht werden kann, ohne daß auch der tatbestandsmäßige Erfolg weggedacht werden müßte, so handele es sich um Begehung durch Tun, müsse dagegen ein bestimmtes Verhalten hinzugedacht werden, damit der Erfolg weggedacht werden kann, so seien die Merkmale der Begehung durch Unterlassen gegeben. lOl Für ihn besteht also ein Tun im "Ingangsetzen der Ursachenreihe" .102 e) Stratenwerth vollzieht die Unterscheidung zwischen Begehung und Unterlassung aufgrund des von ihm sowohl für das Begehungs- als auch für das unechte Unterlassungsdelikt vertretenen Prinzips der Risikoerhöhung l03 im Rahmen der objektiven Zurechnung derart, daß eine strafrechtlich relevante Handlung immer dann vorliegen soll, wenn der Täter die Gefahr, die in

101 Bockelmann, Allg. Teil, 2.Aufl. 1975, S. 142, 3.Aufl. 1979, S. 150; BockelmannIVolk, Allg. Teil, 4.Aufl. 1987, S. 147 f. Vgl. auch Bockelmann (Fn. 101), 2.Aufl. 1975, S. 128, 3.Aufl. 1979, S. 135, BockelmannlVolk (Fn. 101), 4.Aufl. 1987, S. 133, wo darauf hingewiesen wird, daß die Nichtabwendung des tatbestandsmäßigen Erfolges als ein Negatives kein reales Substrat habe, wie es bei der Begehung durch Tun im Kausalzusammenhang zwischen der Handlung des Täters und dem Erfolgseintritt gegeben sei. 102 s. Bockelmann (Fn. 101), 2.Aufl. 1975, S. 130, 3.Aufl. 1979, S. 137; Bockelmann/Volk (Fn. 101), S. 134.

103 Vgl. dazu Stratenwerth (Fn. 77), l.Aufl. 1971, Rdn. 222 f., 1094 f. bis zur 3. Aufl. 1981, Rdn. 224 f., 1028. Hiernach soll es beim Begehungsdelikt für die Zurechnung des Erfolges genügen, wenn der Täter zu der Gefahr beigetragen hat, die sich im Erfolg realisiert, während beim Unterlassungsdelikt das Unterlassen einer Handlung genügen soll, die die zur Rechtsgutsverletzung ftihrende Gefahr vermindert hätte. Vgl. hierzu außerdem Stratenwerth, FS-Gallas, 1973,227.

A. Darstellung der Abgrenzungstheorien

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den Erfolg umgeschlagen ist, herbeigeführt oder gesteigert, eine Unterlassung hingegen immer dann, wenn er jene Gefahr nicht vermindert hat. 104 f) Jakobs zieht zur Unterscheidung zwischen Handlung und Unterlassung den Aspekt der Motivation heran, wonach detjenige, der handelt, wenn er nicht handeln soll, ein Motiv zuviel habe, hingegen detjenige, der unterläßt, wenn er handeln soll, ein Motiv zuwenig habe. lOS Beides kann für ihn strafrechtliche Relevanz erlangen, weil neben die Verbotsnormen, die durch Begehung der verbotenen Handlung übertreten und durch deren Unterlassung befolgt würden, Gebotsnormen treten, die durch Vollzug der gebotenen Handlung befolgt und durch deren Unterlassung übertreten würden. 106 Diese Differenzierung deckt sich seiner Ansicht nach mit der Differenzierung nach der Kausalität (Handlung) oder Nicht-KausaliUlt (Unterlassung) des Verhaltens, bezeichne aber den Kausalitätsbeginn genauer, denn dieser liege nicht beim Körper oder bei der Körperbewegung, sondern bei der Motivation. 107

g) Abschließend sind noch einige Autoren zu erwähnen, die ebenfalls dahin tendieren, die Abgrenzungsfrage zwischen Tun und Unterlassen mit Erwägungen zur Kausalität zu beantworten; es handelt sich bei ihnen um Seebald, 108 Leukauf/Steininger,u)9 Lackner. 11 0 Maiwald,lll Fanfsinn 112 und Tröndle ll3 • 114.

Stratenwerth (Pn. 77), 2.Aufl. 1976, 3.Aufl. 1981, jeweils Rdn. 976. lOS Jakobs, Allg. Teil, l.Aufl. 1983, S. 638, 2.Aufl. 1991, S. 776, wo er jetzt vom Motiv zu einer Körperbewegung spricht. 106 Jakobs (Pn. 105), l.Aufl. 1983, S. 638, 2.Aufl. 1991, S. 776. 107 Jakobs (Pn. 105), l.Aufl. 1983, S. 638 f., 2.Aufl. 1991, S. 776 f. 108 Seebald, GA 1969, 193, 194. 109 LeukaujlSteininger, StGB (Österreich), l.Aufl. 1974, Vorbem. § 1 Anm. 1 b), 2.Aufl. 1979, Vorbem. § 1 Rdn. 8. 104

110 Lackner, StGB, 9.Aufl. 1975, § 13 Anm. 2 a) bis zur 19.Aufl. 1991, § 13 Anm. 2 a) aa). 111 Maiwald, Kausalität, 1980, 84. Vg!. auch seine Ausführungen auf S. 83, denn dort weist er darauf hin, daß es unter dem Blickwinkel der Zurechnung durchaus wichtig sei zu unterscheiden zwischen solchen "gesetzmäßigen Abläufen, in die eine Person durch Energieeinsatz eingegriffen" habe und solchen, bei denen die Person lediglich in der Beobachterposition verharrt habe. 112 Fanfsinn, Aufbau des fahrlässigen Verletzungsdelikts durch Unterlassen, 1985, 35 (unter Bezugnahme auf Weq, und Arthur Kauftnann). 113 Tröndle, in: Dreher/Tröndle, StGB, 45.Aufl. 1991, Vor § 13 Rdn. 20. 114 Vg!. neuerdings noch Gimbernat Ordeig, GedS-Annin Kaufmann, 1989, 159, 161, 166 f. (unter Bezugnahme auf Arthur Kaufmann) und Kapper (Pn. 77), S. 44 f., 46. Ähnlich auch schon früher Kissin, Strafrecht!. Abh., Heft 317, 1933, 1, 37 f., 41 und Stree, GA 1963, 1, 8.

94

6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

Man kann deren Ausführungen dahingehend zusammenfassen, daß beim Handeln der Tdter in eigener Person einen Kausalverlauf in Richtung auf den Erfolg in Gang setzen bzw. aktiv in die Außenwelt eingreifen und so den Schaden herbeiführen soll, während beim Unterlassen der Täter nicht in einen stattfindenden Kausalverlauf - durch Setzen einer hindernden Bedingungeingreifen bzw. einen schon durch andere Umstände in Richtung auf den Erfolg in Gang gesetzten Kausalprozeß nicht abändern und so bezüglich der kausalen Schadensherbeiführung untätig bleiben soll. VII. Kriterium der Rechtsgutsbeeinträchtigung durch körperliche Aktivität oder Inaktivität nach Gössel

Gössel hält die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen im Bereich des äußeren Verhaltens für möglich. Begehen wie Unterlassen werden von ihm als verschiedene strafrechtlich relevante Formen menschlichen Handeins aufgefaßt, die sich durch ihre je verschiedene Beziehung zu einer Rechtsgutsbeeinträchtigung unterscheiden würden: beim Begehen werde die Rechtsgutsbeeinträchtigung durch in der Außenwelt bemerkbare körperliche Tätigkeit vermittelt, bei der Unterlassung durch ebensolche Untätigkeit. 115 Für Gössel sind sowohl Tun als auch Unterlassen Handlungen, die sich lediglich in ihrer Form danach unterscheiden, ob die bewußt angestrebte Rechtsgutsbeeinträchtigung durch körperliche Aktivität oder durch körperliche Inaktivität erreicht wird,116 so daß über die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen letztlich der Einsatz körperlicher Tätigkeit als Mittel der Rechtsgutsbeeinträchtigung entscheiden soll. 117 Zur Begründung dieses Lösungsvorschlages weist Gössel darauf hin, daß Normwidrigkeiten durch Begehen rechtsgutsbeeinträchtigender Handlungen wie durch Unterlassen rechtsgutserhaltender Maßnahmen begangen werden

115 Gössel, in: Maurach/GösseUZipf, Allg. Teil, Teilbd. 2, 5.Aufl. 1978, S. 125 bis zur 7.Aufl. 1989, S. 173. Er meint dort auch, daß Begehen eine tatbestandsmäßige Handlung sei, die durch körperliche Tätigkeit zu einer tatbestandsmäßigen Rechtsgutsbeeinträchtigung führe, während Unterlassen eine tatbestandsmäßige Handlung darstelle, die durch körperliche Untätigkeit zu einer tatbestandsmäßigen Rechtsgutsbeeinträchtigung führe. 116 Gössel, ZStW Bd. 96 (1984), 321, 326 f. Vgl. außerdem Gössel (Fn. 116), S. 328, wo er ausführt, daß beim Unterlassen körperliche Untätigkeit als Mittel des Handlungszieles eingesetzt werde, beim Tun hingegen körperliche Tätigkeit zum Mittel des Handlungszieles werde. 117 So Gössel (Fn. 116), S. 330.

A. Darstellung der Abgrenzungstheorien

95

könnten. ll8 Der handlungsmäßige Unterschied zwischen diesen beiden Arten menschlichen Verhaltens könne nun aber nicht im Bereich der innersubjektiven psychischen Verhaltensvorgänge, sondern nur im dadurch bestimmten Bereich des äußeren Verhaltens gefunden werden. 119 Dies ergebe sich daraus, daß der Unterschied im äußeren Verhalten zwischen rechtsgutsbeeinträchtigendem Begehen und dem Unterlassen rechtsgutserhaltender Maßnahmen evident sei, denn im ersten Falle werde eine in der Außenwelt wahrnehmbare körperliche Tätigkeit entwickelt, im zweiten Falle dagegen nicht, während ein vom steuernden Willen beherrschtes menschliches Verhalten ein bestimmtes Ziel ebensogut durch eigene körperliche Tätigkeit wie durch eigene körperliche Untätigkeit erreichen könne; der Unterschied zwischen diesen beiden Fällen liege lediglich darin, daß im zweiten Falle eigene Untätigkeit als Mittel zur Erreichung des erstrebten Zieles eingesetzt werde. VIII. Weitere Abgrenzungstheorien

In der gebotenen Kürze sollen hier noch einige weitere Lösungsvorschläge zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen skizziert werden. 1. Die rechtspolitische Betrachtungsweise durch v. Dassei, wonach die Unterlassungsdelikte nur eine rechtspolitische Lücke ausfüllen und daher lediglich in diesem begrenzten Bereich Ansatzpunkt strafrechtlicher Untersuchungen sein können. 120 v. Dassei geht dabei von der These aus, daß das Unterlassungsdelikt aus dem rechtspolitischen Bedürfnis heraus entwickelt worden sei, Erfolgsherbeiführungen, die zwar nicht durch positives Tun bewirkt seien, diesen jedoch im Unrechtsgehalt gleichstünden, zu bestrafen. 121

2. Das Kriterium des erlaubten Risikos von Ulsenheimer, der - unter Berufung auf Engisch und Nowakowski - eine Unterlassung annehmen will, 118 Gössel (Fn. 115), nur 7.Aufl. 1989, S. 169, 171 und ders. (Fn. 116), S. 326. Zu seiner nonnentheoretischen Grundkonzeption, die auch bei der Abgrenzungsproblematik eine besondere Rolle spielt, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll, s. im einzelnen Gössel (Fn. 115), nur 7.Aufl. 1989, S. 169 und ders. (Fn. 116), S. 321 ff. 119 Zum nachfolgenden vgl. Gössel (Fn. 115), nur 7.Aufl. 1989, S. 171 f., wo er beiläufig noch darauf hinweist, daß die körperliche Tätigkeit mit Engisch auch als Energieeinsatz bezeichnet werden könne sowie ders. (Fn. 116), S. 326. 120 v. Dassei, Anwendung der für die unechten Unterlassungsdelikte entwickelten Kausalitätsfonnel auf die Fälle positiven Tuns, 1961, 24.

121 v. Dassel (Fn. 120), S. 24; vgl. auch ihre Ausführungen auf S. 23 f., wo sie dafür plädiert, die Begriffe Tun und Unterlassen bei ihrer Verwendung im Strafrecht aufgrund des "äußeren Erscheinungsbildes", also mit Hilfe einer "natürlichen Betrachtungsweise" abzugrenzen.

96

6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

wenn das Verhalten im Rahmen des erlaubten Risikos liegt, eine Handlung hingegen, wenn es sich als unerlaubtes Risiko erweist. 122 3. Das Eindrucksmoment nach Salm, aufgrund dessen das Täterverhalten dann als Handlung zu bewerten sei, wenn es deutlicher, eindrucksvoller ausgeprägt ist, und als Unterlassung, wenn es unauffälliger und mehr oder weniger eindruckslos wirkt. 123 Salm weist allerdings darauf hin, daß er die Abgrenzungsfrage überhaupt als fragwürdig und oft willkürlich ansieht, weshalb er das hier beschriebene Verfahren nur anwenden will, soweit die Unterscheidung einigermaßen durchführbar sei. 124

B. Kritische Ameinandersetzung mit den Abgrenzungskriterien Im Anschluß an die Darstellung der zur vorrechtlich-ontologischen Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen vertretenen unterschiedlichen Theorien bedarf es nun ihrerseits einer kritischen Auseinandersetzung. I. Rein naturalistische Betrachtungsweise nach dem äußeren Erscheinungs bild (Körper bewegungs kriterium)

Den Vertretern dieses Lösungsvorschlags gereicht insbesondere ihre Einseitigkeit zum Nachteil. Sie stellen zur Unterscheidung von Handeln und Unterlassen ausschließlich auf das äußerlich Sichtbare - die (willkürliche) Körperbewegung bzw. -ruhe - ab, ohne in irgendeiner Weise den Zweck oder die Bedeutung des Verhaltens zu berücksichtigen. 125 Wollte man das Körperbewegungskriterium tatsächlich als ein taugliches Kriterium zur Lösung der Abgrenzungsproblematik ansehen, so fiele die Entscheidung, ob ein Mensch sich aktiv oder passiv verhält, infolge der naturwissenschaftlichen Wertfreiheit dieses Merkmals letztlich in das abseits liegende Gebiet der Naturwissenschaften und damit in die Zuständigkeit des - hier inkompetentenNaturforschers. 122 U/senheimer, Verhältnis zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten, 1965, 95 Fn. 196 i.V.m. 93. Als FundsteIle von Engisch zitiert er dessen Rezensionsabhandlung zu Eb. Schmidt aus dem Jahre 1939 (s. Fn. 15), von Nowakowski dessen Aufsatz "Zu Welzels Lehre von der Fahrlässigkeit", JZ 1958, 335,337. 123 Salm, Vollendetes Verbrechen, l.Teil, Halbbd. 2, 1967, S. 107.

Salm (Fn. 123), S. 107. Wenn Beling auch auf die Zurückhaltung der motorischen Nerven und das Unterbleiben oder die Vornahme einer Muskelbewegung bzw. -regung abstellt, so ist hiermit im Hinblick auf die kritisierte Einseitigkeit dieses Abgrenzungsmerkmals gleichwohl keine Abhilfe geschaffen. 124

12S

B. Kritische Auseinandersetzung mit den Abgrenzungstheorien

97

Zudem ist zu berücksichtigen, daß eine absolute Ruhe und Untätigkeit eines Menschen nicht existiert, sich dieser also niemals in völliger Ruhestellung befindet. Selbst wenn er eine bestimmte Handlung unterläßt, "tut" er gleichzeitig etwas anderes, nimmt eine beliebige andere - (straf)rechtlich irrelevante Tätigkeit vor. Um es überspitzt zu formulieren: Der Einzelne müßte schon "zur Salzsäule erstarrt" sein, wollte er dem Erfordernis der Körperruhe genügen. Zwar findet diese auf das äußere Erscheinungsbild abstellende Abgrenzungstheorie ihre dogmatische Grundlage in der naturalistischen Handlungslehre, doch kann dieser Handlungsbegriff nicht überzeugen. Er "versagt" und wird widerlegt gerade dort, wo es sich um deliktische Tatbestände handelt, bei denen die Art der Körperbewegung und ihre physischen Auswirkungen völlig irrelevant sind. Dies gilt vor allem für die Äußerungsdelikte, wie etwa für die Beleidigung gemäß § 185 StGB. Hier müßte dann konsequenterweise die Beleidigungshandlung als eine Reihe von Kehlkoptbewegungen, Schallwellenerregungen, Gehörreizungen und Gehirnvorgängen aufgefaßt werden, während das Wesentlichste, der sprachliche Sinn und die soziale Bedeutung der Beleidigung, außen vor bliebe. 126 Schließlich kann man sich im Strafrecht nicht der Tatsache verschließen, daß die Tatbestandsmerkmale nicht rein naturalistisch zu verstehen sind. Somit ergibt sich, daß das Körperbewegungskriterium und die damit verbundene rein naturalistische Betrachtungsweise als Unterscheidungsmerkmal nicht geeignet ist. 127 11. Energiekriterium

Für die Auseinandersetzung mit dem Energiekriterium bedarf es einer Trennung zwischen den Ausführungen von Engisch sowie den ihm unmittelbar zustimmenden Autoren und den Erörterungen derjenigen Strafrechtswissenschaftler, die das Energiemerkmal mit Kausalitätserwägungen verknüpfen. 1. Energiekriterium im Verständnis

VOll

Engisch

Hinsichtlich des Energiekriteriums im Verständnis von Engisch ist zunächst einzuwenden, daß der Begriff "Energie" in seiner überkommenen Bedeutung als Kraftentfaltung in enger Verbindung mit der rein naturalistischen Betrachtungsweise steht, denn er wird - als ein äußeres Kriterium - an der Bewegung 126 Vgl. hierzu Radbruch, FG-v. Frank, 1930, 158, 161; Engisch (Fn. 17), Weltbild, S. 37; Spendel (Fn. 8), FS-Eb. Schmidt, 1961, 191; Eb. Schmidt (Fn. 70), S. 342. 127 Auf den Widerspruch in den Ausführungen von Lampe und Herzberg , wenn sie einerseits auf das Körperbewegungs-, andererseits auf das Sinnkriterium abstellen, wurde bereits hingewiesen. Zur Kritik am Merkmal des sozialen Sinns s. unten unter V.

98

6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

sichtbar. 128 Allerdings versteht Engisch, wie geschildert, Energie nicht im rein physikalisch-naturalistischen Sinne, sondern mehr normativ und sozialsinnhaft im alltäglichen Sinne als "Leistung", "Anstrengung" .129 Dieser wertende Einschlag führt jedoch zum Verlust der - wenn auch einseitigen - Eindeutigkeit der Energiethese. Der daraus resultierende "Undeutlichkeitsfaktor" hat zur Folge, daß ein derart verstandener Energieeinsatz allenfalls die Anschaulichkeit einer anderweitig begründeten Abgrenzung zu erhöhen vermag. 130 Zudem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Definition des Tuns als Energieeinsatz und des Unterlassens als Nichteinsatz von Energie (in einer bestimmten Richtung) auf einem "Zirkelschluß" beruht, also letztlich - in versteckter Weise - auf die zu definierenden Begriffe wieder zurückläuft. Schließlich besagt Energieeinsatz im Grunde genommen nicht mehr als Bewirken von Geschehnissen und Veränderungen in der Außenwelt durch aktives äußeres Verhalten, also eben durch Tun, während dann Unterlassen als Nichteinsatz von Energie im Ausbleiben eines bestimmten Tuns besteht. 13 !

128 Der Begriff "Energie" stammt von dem griechischen Wort "ENEPTEIA" und bedeutet soviel wie "Kraft", "Tätigkeit".

129 s. hierzu etwa auch Engisch (Fn. 15), MonSchrKrimBiol Bd. XXX (1939), 423 Fn. 28, 424 Fn. 29, wo er die Identifizierung des Tuns mit der Körperbewegung und die Gleichachtung des Unterlassens als Körperruhe mit dem Hinweis ablehnt, der willkürliche Krafteinsatz brauche nicht nach außen zu wirken, sowie ders. (Fn. 17), FS-Gallas, 1973, 173, wo er ausdrücklich der naturalistischen Konzeption der Energiethese und damit dem Körperbewegungskriterium eine Absage erteilt. Von dieser Warte aus ist es nur konsequent, wenn er auch die nach innen gerichtete Energie erfaßt. Vgl. aber andererseits Engisch (Fn. 14), S. 29 LV.m. Fn. 1, denn dort tendiert er noch eindeutig zu einer naturalistischen Interpretation der Energiethese, und ders. (Fn. 17), Weltbild, S. 37 Fn. 70, da er an dieser Stelle hinsichtlich des Energiekriteriums vom Einklang mit der natürlichen Auffassung spricht. 130 Beachte dazu die Kritik von Jakobs (Fn. 105), S. 777 Fn. 4, diese Differenzierung nach der Leistung oder dem Fehlen eines - nicht naturalistisch, sondern sozial-sinnhaft verstandenen - Energieeinsatzes könne allenfalls die Anschaulichkeit einer anderweitig begründeten Abgrenzung erhöhen, es sei denn, man wolle etwa auch epileptische Anfalle - gewaltige Energieeinsätze - zu Handlungen erklären. Für Küpper (Fn. 77), S. 73, ist nicht recht erkennbar, worin die Normativität dieser Auffassung bestehen soll, denn der Einsatz von Kraft sei ein seinsmäßiges Kriterium, das ohne besondere Wertungen in der Außenwelt feststellbar seL 131 Vgl. auch die Kritik von Samson (Fn. 89), S. 591 Fn. 63, das Energiekriterium könne nicht überzeugen, solange dem geltenden Recht eine GarantensteIlung wegen "Geringfügigkeit des Aufwandes" unbekannt sei, sowie von Volk, FS-Tröndle, 1989, 219, 235, das Energiemerkmal sei deshalb ungeeignet, weil es nur auf die isolierte Aktion eines isoliert gedachten Individuums fixiert sei und nicht einzubeziehen vermöge, was dieses Individuum sonst gerade tut, ob jemand etwas von ihm erwartet und erwarten darf.

B. Kritische Auseinandersetzung mit den Abgrenzungstheorien

99

Auch der Zusatz "in bestimmter Richtung" führt nicht weiter. Engisch will damit zum Ausdruck bringen, daß es sich beim Unterlassen immer um ein "etwas Bestimmtes Nichttun" handelt, daß sich der Unterlassende nicht in der "erwarteten" bzw. sonstwie vorgestellten Richtung anstrengt. 132 Auf diesem Wege gelangt aber lediglich ein weiterer "Unsicherheitsfaktor" in die mit Hilfe des Energiekriteriums vorgenommene Abgrenzungsmethode. Dieser resultiert aus dem Umstand, daß bis heute ungeklärt geblieben ist, ob das Merkmal der "Erwartung" überhaupt zum Unterlassungsbegriff gehört und ob diese "Erwartung", wenn es sich um eine "Unterlassung im Rechtssinne" handelt, nur eine rechtliche Erwartung sein kann oder ob auch eine anderweitig begründete Erwartung für jenen Unterlassungsbegriff als solchen ausreicht. 133. 134 Die zuvor geäußerte Kritik gilt in gleicher Weise für diejenigen Strafrechtswissenschaftler, die das Energiekriterium von Engisch in seiner ursprünglichen Fassung übernommen haben, und zwar letztlich unabhängig

132

Engisch (Fn. 17), FS-Gallas, 1973, 174.

Auf dieses - normative - Merkmal der "Handlungserwartung" und die damit verbundenen Fragen soll nicht näher eingegangen werden. S. hierzu im einzelnen bei Mezger, Strafrecht, Lehrbuch, 3.Aufl. 1949, S. 130, 132 f.; ders., Allg. Teil, Studienbuch, 9.Aufl. 1960, S. 75; H. Mayer (Fn. 62), Lehrbuch, S. 112 f.; Gallas (Fn. 8), S. 8 ff.; Boldt (Fn. 77), S. 347 f.; Annin Kaufmann (Fn. 77), Unterlassungsdelikte, S. 50 ff.; Arthur Kaufmann (Fn. 86), S. 215; ders. (Fn. 87), S. 103 f. i.V.m. Fn. 81; Androulakis (Fn. 26), S. 101 ff.; Welzel (Fn. 77), Strafrecht, S. 201 f.; Otter (Fn. 27), S. 98 f., 175 f.; Schöne, JZ 1977, 150, 150 f. i.V.m. Fn. 6, 7; Bloy, ZStW Bd. 90 (1978), 609, 617; Bockelmann (Fn. 101), S. 135 f.; Bockelmann/Vo/k (Fn. 101), S. 133 f.; Maiwald, JuS 1981,473,474 f.; WK-Nowakowski (Fn. 31), Vorbem. § 2 Rdn. 14; Blei, Allg. Teil, Studienbuch, 18.Aufl. 1983, S. 309; BaumannIWeber, Allg. Teil, 9.Aufl. 1985, § 16 11 4 b); Jescheck, in: Leipziger Kommentar (LK), StGB, 10.Aufl. 1985, Vor § 13 Rdn. 85; ders. (Fn. 8), S. 556; Haft, Allg. Teil, 4.Aufl. 1990, S. 170; SK-Rudolphi (Fn. 38), Vor § 13 Rdn. 1, 4; Stree, in: Schönke!Schröder (S!S), StGB, 23.Aufl. 1988, Vorbem. §§ 13 ff. Rdn. 139; Gössel (Fn. 115), S. 174; Gimbernat Ordeig (Fn. 114), S. 160 f. i.V.m. Fn. 2, 3. 133

134 Die Kritik von Ranft, JZ 1987, 859, 860 i.V.m. Fn. 7, die Frage nach der Bedeutung des Merkmals "in bestimmter Richtung" werde von ihren Befürwortern "naturalistisch-ontologisch" beantwortet, ist zu global. Wie gezeigt, betonen etwa Engisch, Androulakis und Kamps gerade eine normativ-alltägliche Auslegung der Energiethese und lehnen ausdrücklich ein naturalistisch-physikalisches Verständnis ab. Ranft zitiert als Beleg lediglich Otto/Brammsen, die zugegebenermaßen zu einem naturalistischen Verständnis des Energiemerkmals tendieren. S. auch den kritischen Hinweis von Ranft (Fn. 134), S. 860, das Energiekriterium sei für die Unterscheidung von Begehungs- und Unterlassungsdelikt wertneutral, oft aber Auslösungsgrund für Garantenstellungen, insbesondere für Ingerenz- und BeschützergarantensteIlungen aus verantwortlicher Übernahme eines Gefahrenbereichs.

100

6. Abschnitt: Vorrechtlich-ontologische Unterscheidung

davon, ob sie die Energiethese mehr naturalistisch oder eher normativ interpretieren oder ob sie sich hierzu überhaupt nicht äußern. Abschließend ist eine kritische Würdigung der dogmatischen Herleitung des Energiekriteriums, wie sie durch Engisch erfolgt ist, geboten. Hier ist zunächst anzumerken, daß es in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend ist, wenn Engisch behauptet, daß das Gebot vom Täter mehr verlange als das Verbot, etwa größere Anstrengung und Geschicklichkeit. Denn es sind Fälle denkbar, in denen das Ingangsetzen der rettenden Kausalreihe vom Täter lediglich eine sehr geringfügige Leistung verlangt, so daß dessen Belastung durch das Gebot nicht notwendig größer sein muß als durch das Verbot. 135 Insoweit sind Verbote oft sogar schwieriger zu befolgen als Gebote. Zudem läßt sich die Behauptung von Engisch, daß ein Gebot den Handlungsspielraum des Einzelnen stärker beschränkt als ein Verbot, nicht uneingeschränkt aufrechterhalten. Es ist doch so, daß der Handlungsspielraum des Normadressaten durch die Gesamtheit der Normen bestimmt wird, mit der Folge, daß eine Häufung von Verbotsnormen den Verhaltensspielraum des Individuums in weit stärkerem Maße beschränken kann, als es vielleicht nur vereinzelt vorkommende Gebotsnormen tun. Darüber hinaus sind Situationen denkbar, in denen schon das einzelne Verbot den Handlungsspielraum erheblich stärker reduziert als es zahlreiche Handlungsgebote täten, was immer dann der Fall ist, sobald die verbotene Handlung einen bis dahin überhaupt nicht oder nur sehr begrenzt vorhandenen Verhaltensspielraum erst eröffnet. 136 Die hiergegen gerichtete Replik von Engisch, es sei zwar richtig, daß die Erfüllung eines Gebotes eventuell geringere Anstrengung erfordere, aber in der "Natur der Sache" liege doch, daß auch sehr große und womöglich lange andauernde Anstrengungen gefordert würden, während umgekehrt die von einem Verbot verlangte Unterlassung eines einzelnen Aktes leicht erbracht werden könne,137 stellt lediglich eine bloße Wiederholung und Bestätigung seiner Grundposition dar. Insoweit ist sie ebenfalls den zuvor geschilderten Einwänden ausgesetzt.

I3S s. hierzu Samson (Fn. 89), S. 586, 590 f. Folglich ist auch die in die gleiche Richtung tendierende Begründung von Kamps unergiebig. 136 Vgl. zum vorherigen auch Samson (Fn. 89), S. 586. S. hierzu außerdem Volk (Fn. 131), S. 237, der meint, daß Engisch's Argumentation eine pragmatische Schwäche habe, denn die stillschweigende Prämisse seiner Überzeugungskraft sei, daß man sich einen Menschen vorstellt, der sonst nichts zu tun hat. Ihm zufolge ist es aber so, daß wir alle ansonsten immer etwas zu tun und dabei immer vieles zu beachten hätten, und das, was einen dabei unfrei machen würde, Gebote oder Verbote sein könnten; für den Grund der Unfreiheit spielte das keine Rolle.

\31

So Engisch (Fn. 17), FS-Dreher, 1977,325 f. Fn. 22.

B. Kritische Auseinandersetzung mit den Abgrenzungstheorien

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Zusammenfassend ist festzustellen, daß sich das Energiekriterium im Verständnis von Engisch zur Lösung der Abgrenzungsproblematik als nicht praktikabel erwiesen hat. 2. Verbindung des Energiekriteriums mit Kausalitiitserwiigungen Sofern von einigen Autoren das Energiekriterium mit Kausalitätserwägungen verbunden bzw. eine kumulative Kombination von Kausalitäts- und Energiekriterium befürwortet wird, so kann zunächst auf die Kritik am Energiemerkmal im Verständnis von Engisch verwiesen werden, da die dort vorgebrachten Einwände auch für sie gelten, soweit sie die Energiethese betreffen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß von ihnen der Energiebegriff vorrangig naturalistisch interpretiert wird. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit dieser verbindenden Betrachtungsweise soll im übrigen an dieser Stelle aber nicht erfolgen. Dies hat seinen Grund darin, daß die Anwendung von Kausalitätserwägungen zur Lösung der Abgrenzungsfrage noch Gegenstand ausführlicher - auch kritischer - Erörterungen sein wird (s. unten unter C.). Hier genügt der Hinweis, daß es der zusätzlichen Heranziehung des Energiemerkmals nicht bedarf, falls sich herausstellen sollte, daß die Unterscheidungsproblematik schon allein mit Hilfe des Kausalitätskriteriums bewältigt werden könnte. Eine Diskussion über die Gründe, mittels derer Sieber diese Möglichkeit jedoch ablehnt, wird dann ebenfalls erst später vorgenommen (s. unten unter C. 11. 9.). Darüber hinaus rechtfertigen die dogmatischen Ausführungen von Welp wohl eher die bloße Berücksichtigung von Kausalitätserwägungen zur Beantwortung der Abgrenzungsfrage als auch die weitere Verwendung des Energiemerkmals. Dies gilt vor allem dann, wenn er hierzu den Menschen in seiner Beziehung zu den Veränderungen der realobjektiven Außenwelt - den Erfolgen - betrachtet und diesbezüglich von einem dahingehend feststellbaren Dualismus spricht, daß der Mensch entweder selbst Kausalverläufe in Gang setzt oder abändert oder aber sich gegenüber anderweitig in Gang gesetzten Kausalverläufen rein passiv verhält. III. Normativistische Betrachtungsweise nach Husserl

Den auf der normativistischen Betrachtungsweise beruhenden Erwägungen Husserl's kann nicht gefolgt werden. Schließlich gibt nicht die Fassung der Norm als Gebots- oder Verbotsnorm Aufschluß darüber, was Handeln oder Unterlassen ist. Das Unterlassen kann also nicht vom Inhalt der Norm her bestimmt und vom positiven Verhalten unterschieden werden, sondern es ist gerade umgekehrt so, daß sich der Charakter der Norm als einer Gebots- oder

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6. Abschnitt: Vorrechtlich..