Täter von Grafeneck: Vier Ärzte als Angeklagte im Tübinger „Euthanasie“-Prozess 1949 3515125167, 9783515125161

Die Planung und Durchführung der Krankenmorde zur Zeit des Nationalsozialismus ist ein seit Jahrzehnten intensiv erforsc

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German Pages 242 [246] Year 2020

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Table of contents :
Dank
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die NS-„Euthanasie“
2.1 „Euthanasie“-Diskurse vor 1939
2.2 Die Organisation der Krankenmorde
2.3 Die „Kindereuthanasie“
3 Der Weg zum Prozess
4 Vier Ärzte als Täter des Krankenmords
4.1 Dr. Alfons Stegmann
4.2 Dr. Martha Fauser
4.3 Dr. Max Eyrich
4.4 Dr. Otto Mauthe
5 Das Urteil im Grafeneck-Prozess
6 Das Leben der vier Ärzte in der jungen Republik
7 Résumé
7.1 Der typische „Euthanasie“-Arzt
7.2 Ursachen der Tatbeteiligung
7.3 Schluss
8 Abkürzungsverzeichnis
9 Abbildungsverzeichnis
10 Quellenverzeichnis
10.1 Archive
10.2 Literatur
10.3 Periodika
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Täter von Grafeneck: Vier Ärzte als Angeklagte im Tübinger „Euthanasie“-Prozess 1949
 3515125167, 9783515125161

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Verena Christ

Täter von Grafeneck Vier Ärzte als Angeklagte im Tübinger „Euthanasie“-Prozess 1949

Geschichte Franz Steiner Verlag

88

contubernium Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte

contubernium Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte Herausgegeben von Jörg Baten, Ewald Frie, Sigrid Hirbodian, Andreas Holzem, Ulrich Köpf, Anton Schindling, Jan Thiessen und Urban Wiesing Band 88

Verena Christ

TÄTER VON GRAFENECK Vier Ärzte als Angeklagte im Tübinger „Euthanasie“-Prozess 1949

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Schloss Grafeneck Foto: Alfred Reiter Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: Jeanette Frieberg, Buchgestaltung | Mediendesign, Leipzig Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12516-1 (Print) ISBN 978-3-515-12521-5 (E-Book)

Meiner Familie

Dank

Viele haben über die Jahre zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Mein besonderer Dank gilt Herrn PD Dr. Henning Tümmers für die großartige Betreuung, die vielen Hinweise und kritischen Bemerkungen zu meiner Arbeit. Er hat diese Dissertation von Anfang bis zum Ende in jeder Phase betreut und mich in die Archiv-Arbeit eingewiesen. Ich hätte keine bessere Unterstützung haben können. Ich danke auch Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing für das Überlassen dieses sehr interessanten Themas. Bedanken möchte ich mich bei meinem Mitdoktoranden Joe Bhandari für die zahlreichen Gespräche und vielen Anregungen. Mein Dank gilt Till Buchholz, der mir viele Hinweise zum juristischen Abschnitt dieser Arbeit gegeben hat. Zahlreiche Mitarbeiter aller besuchten Archive haben mich immer freundlich auf weitere interessante Dokumente hingewiesen. Ohne diese Unterstützung wäre die Arbeit nicht möglich gewesen. Besonders möchte ich mich für die Hilfe von Herrn Michael Barczyk, Stadtarchivar in Bad Waldsee, bedanken. Großer Dank gebührt auch Markus Noll für die Unterstützung, die mir die Arbeit an dieser Dissertation sehr erleichtert hat. Für die nötige Motivation zum Anfertigen des Verlags-Manuskripts möchte ich mich bei Dr. Steffen Reik bedanken, der sicherlich dazu beigetragen hat, dass ich dieses Projekt am Ende abschließen konnte. Ein ganz besonderer Dank geht an meine Mutter und meine beiden Geschwister, die mich zu jeder Zeit in meinem Vorhaben unterstützt und Interesse für meine Arbeit gezeigt haben. Besonders möchte ich meinem Bruder für seine Hilfe in den Tagen vor Abgabe dieser Dissertation bedanken. Ohne seinen Beistand wäre die Fertigstellung der Dissertation nicht möglich gewesen.

Inhaltsverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1

Einleitung

2 2.1 2.2 2.3

Die NS-„Euthanasie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Euthanasie“-Diskurse vor 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Organisation der Krankenmorde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „Kindereuthanasie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Der Weg zum Prozess

4 4.1

Vier Ärzte als Täter des Krankenmords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Alfons Stegmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2

4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4

4.4.1 4.4.2 4.4.3

21 24 26 33

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Alfons Stegmann und die „Euthanasie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfons Stegmann im Rittersaal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen der Tatbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martha Fauser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martha Fauser und die „Euthanasie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martha Fauser und die forensischen Patienten der Anstalt . . . . . . . . . . . . Martha Fauser im Rittersaal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen der Tatbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Eyrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Eyrich und die „Euthanasie“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Eyrich im Rittersaal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen der Tatbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Otto Mauthe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Mauthe und die „Euthanasie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Mauthe im Rittersaal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen der Tatbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 52 52 64 65 66 66 95 97 101 103 103 135 136 138 138 182 185

10

Inhaltsverzeichnis

5

Das Urteil im Grafeneck-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189

6

Das Leben der vier Ärzte in der jungen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

7 7.1 7.2

Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der typische „Euthanasie“-Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen der Tatbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.3

212 212 213 Die Kriegserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Die Eugenik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Der „Minderwertigkeitskomplex“ der Anstaltspsychiatrie . . . . . . . . . . . . 217 Weitere Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

8

Abkürzungsverzeichnis

9

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

226

10 10.1 10.2 10.3

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227 227 229 242

7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

1

Einleitung

Im Frühjahr 1940 kursierten in Württemberg beunruhigende Nachrichten. Graue Busse mit Milchglasscheiben fuhren mehrmals pro Woche hinauf zum Schloss Grafeneck bei Münsingen. „Es rauchte unablässig hinter dem hohen Bretterzaun, und bei der Bevölkerung ging das Gerücht, hier würden Geisteskranke getötet und dann verbrannt“1, beschrieb der ehemalige Ortsgruppenleiter Lupp 1946 die Stimmung, die in der Umgebung Grafenecks herrschte. Das Gemunkel verbreitete sich lokal und die ominösen Todesnachrichten, die einige Bürger von ihren in Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten Angehörigen erhielten, verstärkten den schaurigen Verdacht. Auch Theodor Huzel2, Richter am Landgericht Stuttgart, kannte diese Geschichten, als er im Frühjahr 1940 den Fall eines straffälligen psychisch Kranken verhandeln sollte. Huzel rang mit sich: „Ich hatte das Gefühl, dass, wenn ich nun einen Angeklagten in eine Heilanstalt einweisen würde, damit ich ihn gleichzeitig zum Tode verurteilen könnte.“3 Huzel fuhr ins württembergische Innenministerium nach Stuttgart, um die Gerüchte dort offen anzusprechen. Er traf auf Dr. Otto Mauthe, Obermedizinalrat und ärztlicher Berichterstatter: „Zunächst bestritt Dr. Mauthe, überhaupt von diesen Dingen amtliche Kenntnis zu haben, gab aber schließlich zu, von diesem Gerücht auch schon erfahren zu haben.“ Diese Antwort war für Huzel unbefriedigend: Als ich darauf hinwies, dass die Heilanstalten ihm unterstellt seien und er deswegen doch Kenntnis haben müsse, schlug er vor, bei unserer Besprechung einmal zu unterstellen, dass das Gerücht richtig sei: Ich habe ihm dann auf seine Bitte den Tatbestand des bei mir anhängigen Verfahrens erzählt und er erklärte, man könne wohl hier die Gemeingefährlichkeit des Angeklagten verneinen.

Huzel ließ den Angeklagten daraufhin nicht in eine Heilanstalt einweisen. Vielleicht rettete der Richter ihm dadurch das Leben.

1 2 3

Bericht Lupp über „Grafeneck“, 19.2.1946, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1758. Zur Rolle von Paul Theodor Huzel als „Rasseschande“-Richter s. Hiller (2009), S. 347 u. 353–361. Dazu und zum Folgenden s. Vernehmung Theodor Huzel, 5.7.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756.

12

Einleitung

Zu diesem Fall befragte der Untersuchungsrichter des Amtsgerichts Münsingen im Januar 1948 Dr. Otto Mauthe – jenen Arzt, der 1940 trotz seines Wissens um die sich in Gang befindende „Aktion Gnadentod“ Huzel die Wahrheit zu verschweigen suchte. Diese richterliche Vernehmung diente der Aufklärung der Massenmorde an über 10 000 Patienten in Heil- und Pflegeanstalten Württembergs, Badens und Bayerns in der Gaskammer des Schlosses Grafeneck und war Teil der Voruntersuchungen zum sogenannten Grafeneck-Prozess, der von Juni bis Juli 1949 in Tübingen stattfand. Die Antworten, die Mauthe dem Untersuchungsrichter gab, offenbarten Charaktereigenschaften, die sich auch später im Prozess zeigten: eine abwägende, ängstliche Haltung und „Vorsicht“, die wahren Gegebenheiten in Württemberg zu offenbaren; eine im Prinzip aber durchaus vorhandene Bereitschaft, potentielle Opfer vor der Ermordung zu bewahren, wenn es sich um einen Fall handelte, mit dem er selbst in Berührung kam. Die vorliegende Studie analysiert das Handeln einiger Täter von Grafeneck und leistet damit einen Beitrag zur Neueren Täterforschung.4 Untersucht werden die vier im Grafeneck-Prozess angeklagten Ärzte Dr. Otto Mauthe, Obermedizinalbeamter und ärztlicher Berichterstatter im Innenministerium in Stuttgart, Dr. Max Eyrich, Psychiater und Landesjugendarzt, Dr. Alfons Stegmann, Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten und Dr. Martha Fauser, stellvertretende Leiterin der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten. Die angeklagten Mediziner waren mit die ersten in Württemberg, die mit dem als „Euthanasie“5 bezeichneten Krankenmord konfrontiert waren. Obwohl die „Euthanasie“ in Fachkreisen mit der Erscheinung der Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“6 von Binding und Hoche im Jahr 1920 durchaus diskutiert wurde, stellte die Massentötung von Patienten für die beteiligten Ärzte ein Novum dar, das jeglicher gesetzlicher Grundlage entbehrte. Grafeneck wurde die erste Vernichtungsanstalt und besaß eine Vorreiterrolle nicht nur für weitere Tötungsanstalten, sondern auch für den Holocaust. Das Personal der „Aktion T4“, wie die „Euthanasie“ heute auch in Anlehnung an die Zentrale des Krankenmordes in der Tiergartenstraße 4 in Berlin genannt wird, wechselte zu großen Teilen später in die Vernichtungslager des „Ostens“ und wandte dort die durch die Krankenmorde erlernte Technik des Tötens an.7 Aber auch die Organisatoren der „Euthanasie“ auf höchster Ebene sahen sich mit einer neuen Aufgabe konfrontiert, die indes nicht immer zu deren Zufriedenheit gelöst werden konnte. Professor Werner Heyde, seit 1939 medizinischer Leiter des Kranken-

Viola Schubert-Lehnhardt weist zu Recht darauf hin, dass der Begriff der Täterschaft kritisch hinterfragt werden muss, da es subtile, aber strafrechtlich durchaus relevante Unterschiede zwischen Tätern, Mittätern oder Mitläufern gibt. S. Schubert-Lehnhardt (2009), S. 302. In dieser Arbeit wird als Täter oder Täterin die Person bezeichnet, die sich in irgendeiner Form an einem Verbrechen beteiligt hat. 5 Zur Etymologie und Geschichte der „Euthanasie“ s. Kapitel 2. 6 Binding, Hoche (1920). 7 S. Schmuhl (1987), S. 364. 4

Einleitung

mords und Obergutachter bei der Auswahl der zu ermordenden Patienten8, mit dem Martha Fauser anlässlich eines Kameradschaftsabends in Grafeneck gesprochen haben will, erklärte, „es seien anfangs Fehler gemacht worden, er habe deshalb das Personal gewechselt“9. Was genau Heyde damit meinte, erläuterte er nicht näher. Möglicherweise spielte er auf die von vielen Ärzten kritisierte Selektion der Patienten an. Gleichwohl wirft die Aussage des Obergutachters die Frage auf, ob es seinerzeit gleichsam einen Typus des „Euthanasie“-Arztes gegeben hat: ob Gemeinsamkeiten im Handeln, der Gesinnung, der Wahrnehmungen und des Wertesystems existierten. Diese Frage rekurriert auf Ansätze der Täterforschung, die nach Gemeinsamkeiten von NS-Verbrechern fragt. Die frühe Täterforschung war Ende der 1940er Jahre vor allem von einer Perspektive auf die sogenannten Hauptkriegsverbrecher geprägt. Als Täter galten folglich die in den Nürnberger Prozessen Angeklagten, alle anderen, selbst Kommandeure, die für die Erschießung von tausenden Juden in Osteuropa verantwortlich waren, galten als „Gehilfen“.10 Diese kleine Gruppe von Haupttätern stand in der frühen Nachkriegszeit einer kaum größeren von Adlaten gegenüber.11 Die als Hauptschuldige ausgemachten Angeklagten unterlagen einer „Diabolisierung“12, wenngleich auch schon durch Psychologen, die die Beschuldigten des Nürnberger-Prozesses untersucht hatten, festgestellt worden war, dass es sich bei ihnen keineswegs um Menschen mit einer pathologischen Persönlichkeit handelte.13 Diesem Bild des dämonischen Täters folgte in den 1960er Jahren mit dem Prozess gegen Adolf Eichmann ein neuer Täter-Typus, nämlich der des „Schreibtischtäters“. Bis Ende 1980 prägten diese „bürokratische[n] Vollstrecker“14 das Täterbild, die, geschützt durch die Anonymität ihres Büros, den Massenmord verwalteten. Schreibtischtäter galten lange als „unselbständige Rädchen im Getriebe“15, die mit Distanz zu ihren Opfern agierten. Bekannt wurde vor allem Hannah Arendts Werk „Eichmann in Jerusalem“16. Die Forschung der 1990er Jahre zeichnete mit Christopher Browning ein Bild von „ordinary men“17 und entwickelte 1996, nur drei Jahre später, mit Ulrich Herberts Stu-

S. Klee (2010), S. 121–125. Aussage Dr. Fauser, 28.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Zur Biographie Werner Heydes s. Klee (2011), S. 252. 10 S. Bajohr (2013), S. 2. 11 Ebd. 12 S. Paul (2002), S.  16. Auch in der Stellungnahme von Prof. F. H. Rein aus Göttingen in der Göttinger-Universitäts-Zeitung vom 20.6.1947 mit dem Titel „Wissenschaft und Unmenschlichkeit“, abgedruckt bei Mitscherlich, Mielke (1949), S. 280. 13 S. Welzer (2013), S. 8 f. 14 S. Pohl (2013), S. 16. 15 S. Bajohr (2013), S. 2. 16 Arendt (1964). 17 Zu nennen ist hier Christopher Browning mit seiner Monographie über das Reserve-Polizeibataillon 101. S. Browning (1993). Auch Daniel Goldhagen beschäftigte sich mit dem Reserve-Polizeibataillon 101, 8 9

13

14

Einleitung

die über Werner Best ein konkreteres Täterprofil, das diese einer bestimmten Generation und Weltanschauung zuordnet.18 Browning wollte in seiner Darstellung des Reserve-Polizeibataillons 101, das an der Ermordung osteuropäischer Juden beteiligt war, zeigen, dass diese Polizisten keine besonders sadistischen Züge aufwiesen, sondern „ganz normale Männer“19 waren: Das Reservebataillon „wurde zur Vernichtung von Juden nur herangezogen, weil es die einzige Einheit war, die für eine solche Aufgabe hinter den Linien zur Verfügung stand“.20 Herbert betonte in seiner Best-Studie die „historische Bedeutung generationeller Erfahrungen, die sich in den untersuchten Lebensgeschichten vor allem als langfristig prägend herausstellten“21. Werner Best, Jurist und in leitender Tätigkeit im Reichssicherheitshauptamt, trug Mitverantwortung für den Mord an hunderten Menschen. Michael Wildt führte in seiner Untersuchung der Täter aus dem Reichssicherheitshauptamt den Ansatz Herberts fort. Für ihn waren „Generation“ und „Weltanschauung“ wichtige Analysefaktoren, die es allerdings noch zu ergänzen galt.22 So schrieb Wildt: Nicht die Annahme eines dominanten Tätertypus wird den Weg der künftigen Forschung weisen, als vielmehr die Analyse des Zusammenhangs verschiedener Akteure und Institutionen, von intentionalem Vernichtungswillen und strukturellen Bedingungen, von Ideologie und Funktion, individuellem Vorsatz und situativer Gewaltdynamik.23

Die gegenwärtige Täterforschung versucht folglich eine Synthese der einzelnen Modelle, die „weder einfach unter den Begriff der ‚Schreibtisch- noch den der Weltanschauungstäter‘ subsumierbar ist“24. Vielmehr will sie der Heterogenität der Täter gerecht werden und konstatiert, dass ein Modell zur Erklärung der Verbrechen sicherlich nicht ausreicht.25 Zahlreiche Studien beschäftigten sich hierbei zwar mit den Tätern des Holocaust26, weniger jedoch mit Personen, die am Massenmord von behinderten Kindern und Patienten der Heil- und Pflegeanstalten beteiligt waren.27 Jüngst erschienen Aufsätze von Hans-Werner Schmuhl über Walter Creutz und von C. Beyer zog aber aus den Quellen andere Schlüsse als Browning. S. Goldhagen (1996). Browning warf diesem deswegen auch eine „einseitige Auswahl der Quellen“ vor. S. Browning (1998), S. 161. 18 Herbert (1996). 19 S. Browning (1993), S. 208–246. 20 Ebd., S. 216. 21 S. Herbert (1996), S. 19. 22 S. Wildt (2002), S. 25. 23 Ebd., S. 23. 24 S. Paul (2002), S. 61 f. 25 S. Pohl (2013), S. 16 u. Mallmann, Paul (2011), S. 1 f. 26 Welzer (2013). 27 Zu nennen sind eine Studie über den Arzt Irmfried Eberl, der die Tötungsanstalten Brandenburg und Bernburg leitete und eine Analyse über Otto Hebold, der als „T4“-Gutachter tätig war. S. Grabher (2006) u. Hohmann, Wieland (1996). Udo Benzenhöfer verfasste einen Beitrag über Friedrich Berner. S. Benzenhöfer (2010). Zum Leben von Friedrich Panse, Psychiater und „T4“-Gutachter s. Forsbach (2012). Zum Heidelberger Psychiater und „T4“-Gutachter Carl Schneider erschien 2012 ein Artikel von Maike Rotzoll

Einleitung

über Gottfried Ewald, der als einer der wenigen Psychiater Widerstand gegen den Krankenmord leistete.28 „Euthanasie“-Täter wurden auch in den bekannten Werken zum Krankenmord beschrieben, blieben dabei aber doch immer Randfiguren. Die Neuere Täterforschung erkennt in Abgrenzung zu älteren Studien überdies an, dass es sich bei NS-Tätern eben nicht um eine kleine Gruppe von Personen im Dunstkreis um Adolf Hitler handelte, sondern dass die Verbrechen von vielen begangen wurden. Für den Massenmord an Patienten bedeutet dies, dass sich nicht nur die Organisatoren in der Kanzlei des Führers, Mitarbeiter der Innenministerien, die Anstaltsärzte, Mediziner und das Transportpersonal an den Verbrechen beteiligten, sondern beispielsweise auch das Pflegepersonal und Schreibkräfte. Zudem beschäftigte sich die Forschung lange Zeit vor allem mit Männern als Täter. Täterinnen wurden in den 1950er Jahren entweder als sadistische Persönlichkeiten oder als unschuldig dargestellt.29 In den 1970er Jahren schwand allmählich die Vorstellung, nach der Frauen keine Täterinnen sein konnten. Es dauerte allerdings zwei weitere Jahrzehnte, ehe Frauen eine aktivere Rolle im Nationalsozialismus zugebilligt wurde.30 So konstatiert die heutige Forschung, dass es zahlreiche Frauen gab, die sich aktiv an NS-Verbrechen beteiligten. Weiter geht man davon aus, dass Studien, welche sich mit männlichen Tätern auseinandergesetzt haben, in vielen Fällen auch auf Frauen übertragen lassen und damit „postulierte Geschlechterdifferenzen verschwimmen“31. Diese Arbeit greift auf Erkenntnisse dieser Neueren Täterforschung zurück, wobei mit Blick auf die Frage nach Gemeinsamkeiten der am Krankenmord von Grafeneck Beteiligten insbesondere Ereignisse analysiert werden, in denen die Akteure gezwungen waren, ihr Handeln zu überdenken, in denen der strikte Ablauf des Tötens unterbrochen wurde und in denen sie individuelle Entscheidungen treffen mussten. Der ärztliche Berichterstatter des Innenministeriums, Dr. Mauthe, schilderte beispielsweise in seinen Aussagen gleich mehrere Situationen, in denen er individuelle und ganz konkrete Entscheidungen treffen musste. Die Rechtfertigungsstrategien, die schon andere Werke zur Täterforschung erörterten32 und die sich auch in den Aussa-

und Gerrit Hohendorf. S. Rotzoll, Hohendorf (2012). Zu Hans Römer und seinem Versuch, die Krankentötungen zu verhindern s. Roelcke (2013). 28 Schmuhl (2013), Beyer (2013). 29 Kompisch (2008), S. 7–18. 30 Ebd., S. 10. 31 Ebd., S. 11. 32 Harald Welzer erklärte das Handeln der Täter mit ihrer Fähigkeit, „sich selbst als Opfer einer Aufgabe wahrzunehmen, die ihnen die historischen Umstände zu diktieren schienen.“ Außerdem schilderten sie vor Gericht häufig ihre Tatbeteiligung als gering, stellten dafür die Ablehnung derselben möglichst ausschweifend dar. S. Welzer (2013), S. 12 u. 193. Christopher Browning nannte typische Rechtfertigungsstrategien in seiner Untersuchung des Reserve-Polizeibataillons 101. Dazu gehörte, dass sich die Beschuldigten darauf beriefen, lediglich Befehle ausgeführt zu haben und ihre Weigerung der Mitarbeit möglicherweise bestraft worden wäre. S. Browning (1993), S. 222. Weitere Verteidigungsstrategien finden sich bei Hoffmann (1983), S. 80.

15

16

Einleitung

gen der Beschuldigten wieder finden, kumulierten schließlich im Grafeneck-Prozess des Jahres 1949, der als letzter Moment der Irritation für die Angeklagten betrachtet werden kann. Obwohl die Zahl der untersuchten Ärzte niedrig ist und sich dadurch keine allgemeingültigen Theorien entwickeln lassen, so soll doch, wie für die Täter des Holocaust bereits geschehen, durch die Analyse der Biographien und des Verhaltens der Ärzte, der Versuch einer Typisierung gewagt werden. Für diese Arbeit konnte auf eine breite Quellenlage zurückgegriffen werden. Vorwiegend wurden Bestände des Staatsarchivs Sigmaringen für die Untersuchung herangezogen. In den dortigen Justizakten zum Grafeneck-Prozess finden sich Vernehmungsmitschriften und Aussagen der Angeklagten zwischen 1945 und 1948, die Anklage- und Urteilsabschrift, Äußerungen von Zeugen, Korrespondenzen zwischen Richtern und Verteidigern, Erlasse aus dem Innenministerium in Stuttgart, Transportlisten sowie die Gnadenakten der Angeklagten Mauthe und Stegmann.33 Die Tatsache, dass es sich bei diesen Quellen um Justizakten aus der Nachkriegszeit handelt, birgt aus quellenkritischer Sicht einige Probleme. Zum einen entstand durch das Interesse der Staatsanwälte und Untersuchungsrichter, die Verbrechen strafrechtlich zu ahnden, ein bei den Angeklagten eingeschränkter Aussagehorizont.34 Zum anderen wurden die Aussagen aller Zeugen erst nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 dokumentiert, sie sind zudem auf Täterseite geprägt von apologetischen Tendenzen und Verteidigungs- und Entlastungsstrategien.35 Einige von ihnen waren angesehene Beamte, die hofften, sich mühelos in die Nachkriegsgesellschaft36 integrieren zu können und die sich nicht durch unüberlegte Aussagen belasten wollten. Es finden sich hingegen kaum originale Schriftstücke von Tätern aus der Zeit der Krankenmorde. Allerdings lassen sich anhand einiger Dokumente aus der Zeit von 1939 bis 1945 in den Beständen des Staatsarchivs Sigmaringen Rückschlüsse auf den Ablauf und die Organisation des Krankenmords in Württemberg ziehen. Um die Biographien der Ärzte zu vervollständigen, konnte ferner auf die Spruchkammerakten des Staatsarchivs Sigmaringen zurückgegriffen werden. Daneben lagern im Hauptstaatsarchiv Stuttgart die Personalakten einzelner Angeklagter und des Landrates Alber. Er beschlagnahmte Grafeneck 1939 für die National-

Die Gerichtsakten sind im Bestand Wü 29/3 T 1 Nr. 1752 bis 1759 im Staatsarchiv Sigmaringen, aber auch in digitalisierter Form online zugänglich. 34 S. Kunz (2008), S. 2 u. 10. 35 Ebd., S. 10 u. 18 f. Welzer konstatierte, dass die Aussagen der Täter in der Nachkriegszeit in einem für diese anderem Referenzrahmen gemacht wurden und deswegen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden müssen. S. Welzer (2013), S. 193. Browning erklärte wie Täter versuchten, selbst grausame Taten später moralisch zu rechtfertigen. So hatten an Erschießungskommandos in Osteuropa Beteiligte ausgesagt, nur deswegen Kinder erschossen zu haben, weil diese ohne ihre bereits toten Mütter nur hätten leiden müssen. S. Browning (1993), S. 106 f. 36 Das Problem der Eingrenzung des Begriffs der „Nachkriegszeit“ beschrieb Klaus Naumann. S. Naumann (2001), S. 11 f. 33

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sozialisten, floh 1944 vor der Gestapo in die Schweiz und stellte nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1945 gemeinsam mit der französischen Militärregierung erste Nachforschungen zur „Euthanasie“ in Württemberg an.37 Zudem liefern Bestände des Innenministeriums Hinweise über Otto Mauthe als Mitglied von Erbgesundheitsgerichten. Ebenso finden sich dort Prüfungsakten der Mediziner sowie Schriftstücke zur Tätigkeit Eyrichs in seiner Funktion als Landesjugendarzt. Von Relevanz waren außerdem Bestände des Staatsarchivs Ludwigsburg, des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde, diverser Universitätsarchive sowie einzelner Tageszeitungen. Das Staatsarchiv Ludwigsburg bewahrt die Passakten von rund 145 000 Bürgern aus Stuttgart auf, die vor allem durch die enthaltenen Passbilder für diese Arbeit interessant waren. Dokumente zu Parteimitgliedschaften und Zugehörigkeiten zu nationalsozialistischen Verbänden archiviert das Bundesarchiv Berlin. In den Universitätsarchiven von Heidelberg und Tübingen sind die Studentenakten einiger Angeklagter zugänglich. Als aussagekräftig erwiesen sich zuletzt Bestände des Schwäbischen Tagblatts, archiviert im Tübinger Stadtarchiv. Diese Quellen, zusammen mit den Berichten anderer regionaler Zeitungen, stellen die einzigen Dokumente dar, in denen sich Aussagen der Angeklagten in der Hauptverhandlung finden. Abgesehen von diesen Quellenbeständen kann diese Arbeit auf Studien zur Geschichte des Krankenmords aufbauen. Dazu zählen zunächst grundlegende Standardwerke aus den 1980er Jahren wie die 1983 veröffentlichte Monographie „‚Euthanasie‘ im NS-Staat“ von Ernst Klee, eine Gesamtdarstellung dieser NS-Verbrechen.38 Aber auch Hans-Walter Schmuhl versuchte in seiner 1987 erschienenen Studie die bis dato vorliegenden Quellen zur Genese der „Euthanasie“ im Nationalsozialismus „zu einem umfassenden Deutungsmuster zusammenzufügen“39. Schmuhl ging grob von zwei Faktorenkomplexen aus, mit denen er den Massenmord an Patienten zu erklären versuchte. Der Historiker machte Ärzte und Wissenschaftler nicht zu bloßen Vollstreckern nationalsozialistischer Ideen, sondern betrachtete sie als eigentliche Initiatoren der rassenhygienischen Programmatik, die ab 1890 immer größere Resonanz und mit der Institutionalisierung der Rassenhygiene auch Eingliederung in die Politik fand.40 Dabei stellte ihm zufolge die Rassenhygiene das deutsche Äquivalent der Eugenik dar, die auch im Ausland großen Anklang fand. Für Schmuhl markierte die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten einen entscheidenden Wandel, der zu einem „rapiden Radikalisierungsprozess“ des rassenhygienischen Programms führte.41 Die speziellen politischen Strukturen der nationalsozialistischen Herrschaft erleichterten diese

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Zu Richard Alber s. Kapitel 3. Klee (1983). S. Schmuhl (1987), S. 18. Ebd., S. 18–21. Ebd., S. 19.

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Radikalisierung: Die „charismatische Herrschaft“42 der Nationalsozialisten und die polykratische Herrschaftsstruktur trieben die dem rassenhygienischen Paradigma inhärente Radikalisierung voran.43 Schmuhl skizzierte die Struktur eines „rassenhygienischen Paradigmas“ in vier Punkten.44 Demnach beruhten erstens gesellschaftliche Entwicklungen auf Naturgesetzen. Wichtig für die Rassenhygiene war zweitens vor allem das Selektionsprinzip. Überwiegend von diesem machte sie den „Fortschritt der humanen Phylogenese“ abhängig.45 Drittens trieben die eigentlich konträren Züchtungsutopien und Degenerationstheorien die Rassenhygiene an und sorgten für die ihr immanente Radikalisierung.46 So konnten bei Umsetzung des rassenhygienischen Programms die „‚Züchtungsziele‘  – bei gleichzeitiger Perhorreszierung der ‚Entartungsgefahr‘ – immer höher geschraubt werden, was zwangsläufig zu einer Verschärfung der gesellschaftlichen Auslese und ‚Ausmerze‘ führen musste“47. Viertens war das rassenhygienische Paradigma geprägt von einem Antiindividualismus, der das Wohl des „Volkskörpers“ über das des Einzelnen stellte.48 Laut Schmuhl schuf erst das Zusammentreffen der eugenisch geprägten Therapiekonzeptionen der Medizin und Psychiatrie mit dem charismatischen Legitimitätsanspruch des Nationalsozialismus sowie dem Nebeneinander verschiedener nationalsozialistischer Institutionen mit Herrschaftsbefugnis die Rahmenbedingungen für die negative Eugenik, die Ausgrenzung von Randgruppen, die am Ende zu deren Ermordung führte.49 Schmuhl wies ebenfalls auf die Verbindung zwischen „Euthanasie“ als erster Stufe zur „Endlösung der Judenfrage“ hin, die sich auf personeller Ebene zeigte.50 Dem Zusammenhang von „Euthanasie“ und „Endlösung“ widmete sich im Detail der in die USA emigrierte Historiker Henry Friedlander. Ebenso wie Schmuhl beschäftigte er sich mit den ideologischen Grundlagen der Ausgrenzung und Ermordung von Behinderten, Juden, Roma und Sinti. Dabei ging er auf die zunehmende Bedeutung der Biowissenschaften im In- und Ausland ein. Friedlander deutete des Weiteren die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg als den Wendepunkt, an dem sich die positive Eugenik zur negativen kehrte.51

„Charisma“ meint dabei „eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit […], um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird“. S. Weber (1980), S. 140. 43 S. Schmuhl (1987), S. 361. 44 Ebd., S. 357. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 20. 50 Ebd., S. 364. 51 S. Friedlander (1997), S. 41. 42

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In den frühen 1990er Jahren setzte mit dem Fund von rund 30 000 Krankenakten getöteter Patienten im ehemaligen Stasi-Ministerium eine neue Forschungswelle ein, die insbesondere auf die Opfer der Massenmorde fokussierte.52 Eine Forschergruppe um Maike Rotzoll, Petra Fuchs und Gerrit Hohendorf konnte erstmals auf die Selektionskriterien eingehen, die zur Ermordung der Kranken führten. Auf einem Kongress in Heidelberg stellten sie 2006 ihre Ergebnisse vor; 2010 erschien ergänzend ein Sammelband.53 In zahlreichen Aufsätzen wurden neue Erkenntnisse zur „Euthanasie“ vorgestellt, individuelle Opferbiographien geschildert, aber auch Ergebnisse zu den Tätern der „Euthanasie“ präsentiert. Einen anderen Zugang wählte Robert Jütte, als er 2011 versuchte, die kaum noch überschaubaren Forschungsarbeiten zur NS-Medizin zu bilanzieren und Schneisen in das breite Forschungsfeld zu schlagen.54 In seinem Werk widmete sich Jütte neben der „Euthanasie“ als Teil der NS-Gesundheitspolitik auch der medizinischen Forschung im „Dritten Reich“. Ein Kapitel beschäftigte sich mit der juristischen Aufarbeitung der Medizinverbrechen in Westdeutschland, aber auch in der DDR und sowjetischen Besatzungszone.55 Ebenso hilfreich erwies sich die Dokumentation von Dick de Mildt, der 2009 die Strafurteile zu den „Euthanasie“-Prozessen nach 1945 zusammenstellte.56 Wer sich den Themen „Grafeneck“ und „Euthanasie“ im Südwesten Deutschlands nähert, stößt auf die Werke von Thomas Stöckle. Der Leiter der Gedenkstätte Grafeneck hat in zahlreichen Veröffentlichungen die Geschichte des Schlosses als Vernichtungsanstalt aufgearbeitet und damit einen wesentlichen Beitrag zur Erinnerung und zum Gedenken an die Ermordeten geleistet.57 Auch die Teilnahme einiger Heil- und Pflegeanstalten Württembergs an der „Aktion T4“ hat Stöckle untersucht.58 Außerdem trat er 2009 gemeinsam mit Franka Rößner durch einen Sammelbandbeitrag hervor, der Biographien zu Eugen Stähle, Christian Wirth, Otto Mauthe und Jakob Wöger59 beinhaltete.60 Zuletzt publizierte Stöckle gemeinsam mit dem Tübinger Professor für Straf- und Strafprozessrecht Jörg Kinzig einen Band mit Vorträgen eines Symposiums anlässlich des 60-jährigen Gedenkens an den Grafeneck-Prozess.61 Neben einem Beitrag von Stöckle enthält der Sammelband eine Untersuchung des Urteils im Grafeneck-Prozess von Jörg Kinzig und einen Aufsatz zur Berichterstattung der Presse von Buttlar (2003). Rotzoll (2010). Jütte (2011). Ebd., S. 267–283. De Mildt (2009). Stöckle (2002), Stöckle (2006). Stöckle (2000), Stöckle (1998). Jakob Wöger (*3.5.1897), Kriminalkommissar und Angeklagter im Grafeneck-Prozess. Wöger richtete das Standesamt in Grafeneck ein und war, laut eigenen Aussagen, von Januar bis August 1940 dort. S. Aussage Jakob Wöger, 4.10.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1758/03/02. 60 Abmayr (2009). 61 Kinzig, Stöckle (2011). 52 53 54 55 56 57 58 59

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Hans-Joachim Lang.62 Urban Wiesing ging darin außerdem der Frage nach, wie sich der moralische und zivilisatorische Bruch vollziehen konnte, der Ärzte zu Beteiligten des Massenmordes werden ließ.63 Wiesing konstatierte, dass bereits vor 1933 die ärztliche Moral einem Wandel unterlag, der den Arzt nicht nur zu einem Helfer des Einzelnen, sondern auch des „Volkskörpers“ machte. Da sich durch den Massenmord an den „Minderwertigen“ in gewisser Weise eine Heilung des „Volkskörpers“ vollzog, ließ dieser sich für die Ärzte einfacher legitimieren.64 2010 erschien Henning Tümmers’ Aufsatz über den Grafeneck-Prozess, der auf Material des Staatsarchivs Sigmaringen beruhte.65 Tümmers wies auf den unterschiedlichen Umgang der Justiz mit dem TäterBegriff hin. Neben den Angeklagten, deren zahlreiche Verteidigungsstrategien er beleuchtete, beschrieb er auch das geringe Interesse der Gesellschaft an der Tübinger Hauptverhandlung.66 Die nachfolgende Darstellung gliedert sich in fünf Kapitel: Zunächst sollen die Etymologie und Geschichte der „Euthanasie“ von ca. 500 v. Chr. bis 1945 vorgestellt werden. Das folgende Kapitel stellt die schon Mitte 1945 beginnenden Versuche der amerikanischen und französischen Militärregierung dar, Beweise für den Massenmord zu sichern, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Auf deutscher Seite setzte der vor den Nationalsozialisten geflüchtete Landrat Alber nach seiner Rückkehr erste Ermittlungen in Gang. Kapitel 4 liefert anhand der Prozessunterlagen, Personalakten und Presseberichte eine „dichte Beschreibung“ der Ärzte, ihrer Taten und ihrer Einstellung zum Krankenmord. Auch einzelne Widerstandshandlungen der Angeklagten werden beleuchtet. In den Biographien und Aussagen der Ärzte lassen sich Gründe für ihre Beteiligung am Massenmord finden: Die Kriegserfahrung, die eugenische Bewegung seit dem 19. Jahrhundert, das mangelnde Ansehen der Psychiatrie und individuelle Faktoren. Kapitel 5 erläutert das Urteil 1949 und ordnet es in den zeitgeschichtlichen Kontext ein. Das folgende Kapitel widmet sich dem Leben der Angeklagten nach Prozessende und ihrem Werdegang in der jungen Bundesrepublik. In einem Résumé sollen die Ursachen der Tatbeteiligung diskutiert und gezeigt werden, wie das „Generationenmodell“ der Holocaust-Forschung auch als ein Erklärungsansatz der Beteiligung der Ärzte und Ärztinnen am Krankenmord dienen kann.

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Kinzig (2011), Lang (2011). Wiesing (2011). S. Wiesing (2011), S. 57. Tümmers (2011). S. Tümmers (2011), S. 112.

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Aus der Einstellung heraus, dass ein Recht zum Leben nur hat, wer dem nationalsozialistischen Staat und seiner Macht nützt, liess Hitler seit Beginn des Krieges und während desselben über seine Kanzlei und die Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums sein Euthanasieprogramm zur Durchführung bringen, das sich die weitgehende Beseitigung der in öffentlichen oder privaten Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten Geisteskranken als Lebensunwerte zum Ziel setzte.67

Mit diesen Worten leitete die Staatsanwaltschaft am 4. Januar 1949 die Anklage gegen die acht Menschen ein, die sich im Grafeneck-Prozess für die Krankenmorde verantworten mussten. Wie genau der Massenmord in Württemberg organisiert wurde, lässt sich anhand von Zeugenaussagen der Verantwortlichen und Originaldokumenten aus dem „Dritten Reich“ rekonstruieren: Im Oktober 1939 trat Dr. Herbert Linden mit Eugen Stähle, der in Stuttgart das Amt des Leiters der Gesundheitsabteilung im Innenministerium bekleidete, in Verbindung. Linden, Ministerialdirigent im Reichsinnenministerium und Leiter der Abteilung für Gesundheitswesen und Volkspflege (Abteilung IV), sprach mit Stähle über die „Euthanasie“-Aktion, die bald beginnen sollte. Dafür benötigte er „in Württemberg eine kleine Anstalt mit etwa 50 Betten für Geisteskranke, bei welcher Gelände für Aufstellung von Baracken vorhanden sei und die […] vom Verkehr abgelegen und leicht bewachbar seien“68. Stähle schlug daraufhin die Samariterstiftung Grafeneck vor. Er wusste, dass die Anstalt zu einem Mordzentrum für Patienten werden könnte. Das ehemalige Barockschloss Grafeneck im Landkreis Reutlingen, das heute wieder als Einrichtung der Behindertenhilfe sowie als Gedenkstätte und Dokumentationszentrum dient, wurde am 14. Oktober 1939 „für Zwecke des Reichs“69 beschlagnahmt.70 Eine Gruppe von Ärzten, Mitarbeitern der Kanzlei des Führers und aus dem Reichsinnenministerium ließen Grafeneck zur ersten Tötungsanstalt umfunktionieren, die als Vor67 68 69 70

Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Aussage Dr. Stähle, 26.6.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/20. Innenministerium Stuttgart an Alber, 12.10.1939, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/02/04. Alber an Dr. Stähle, 14.10.1939, ebd.

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bild für die fünf anderen Tötungszentren Brandenburg an der Havel, Bernburg (Saale), Hartheim bei Linz, Sonnenstein bei Pirna und Hadamar diente. Über 70 000 Patienten mit psychischen und psychiatrischen Erkrankungen, Behinderte und sogenannte Kriegsinvalide, im Jargon der Nationalsozialisten als „nutzlose Esser“71 bezeichnet, wurden im Rahmen der zentral organisierten Phase der „Euthanasie“, der sogenannten „ Aktion T4“ von Januar 1940 bis Ende August 1941 ermordet.72 Allein in Grafeneck starben mindestens 10 654 Menschen, wie die Staatsanwaltschaft im Grafeneck-Prozess hervorhob.73 Doch damit sind bei weitem noch nicht alle Patienten erfasst, die der nationalsozialistischen Ideologie vom „Gnadentod“74 zum Opfer fielen.

Abb. 1 Schloss Grafeneck75

In den Heil- und Pflegeanstalten begann nach August 1941 ein für die Kranken neues Kapitel, in dem viele schutzlos Ärzten und Ärztinnen gegenüberstanden, die die „Euthanasie“ befürworteten oder schon früher „Sterbehilfe“ geleistet hatten. Diese töteten Patienten später durch Giftspritzen, „Hungersterben“ oder durch Unterversorgung in Eigenregie oder auf Anweisung. Dabei bleibt zu betonen, dass diese sogenannte „wilde Euthanasie“ nicht etwa planlos und völlig willkürlich von Anstaltsärzten durchgeführt wurde, wie der Name suggeriert. Vielmehr geschahen die Einzeltötungen meist auf Initiative höherer StelIen (beispielsweise auf Anreiz des Innenministeriums in Stuttgart). Über 90 000 Patienten fielen diesen Tötungen in den Anstalten zum Opfer.76 1943 begann

Viktor Brack, Abschrift aus dem Nürnberger Ärzteprozess, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1758/07/02. S. Schmuhl (1987), S. 213, Benzenhöfer (2009), S. 117, Klee (2010), S. 265. Laut der sogenannten „Hartheimer Statistik“, abgebildet bei Klee (2010), S. 265, wurden bis zum „Euthanasie“-Stopp 70 273 Menschen ermordet. 73 Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. 74 Ermächtigungsschreiben Hitler an Bouhler und Brandt, ebd. 75 Schloss Grafeneck. Fotographie von Steffen Brenner. 76 S. Benzenhöfer (2009), S.  117. Heinz Faulstich stellte eine Statistik über die durch Unterernährung, Mangelversorgung und Medikamentenmord in den staatlichen Anstalten der deutschen Länder und Provinzen gestorbenen Patienten auf und berechnete ihre Zahl auf rund 90 000. In den konfessionellen, pri71 72

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im Zuge der „Reinstitutionalisierung der Euthanasieaktion“77 eine wieder deutlich zentraler gesteuerte Form der Krankentötungen.78 Diese Phase, die den Namen „Aktion Brandt“79 erhielt, vollzog sich im Zusammenhang mit der Räumung von Anstalten im durch alliierte Fliegerangriffe luftgefährdeten Raum. Dabei wurde wieder mit zentral bestellten Sammeltransporten gearbeitet, die die Patienten in Heil- und Pflegeanstalten brachten, in denen im „Normalbetrieb“ durch Medikamente getötet wurde.80 Die sogenannte „Aktion Brandt“ löste allerdings keinesfalls die Einzeltötungen in den Anstalten ab, sondern lief mehr oder weniger zeitgleich ab.81 In weiteren „Sonderaktionen“ wurden bis November 1942 über 1 000 jüdische Anstaltsinsassen vergast.82 Kranke oder arbeitsunfähige KZ-Häftlinge starben bis Mitte Dezember 1944 durch die „Sonderbehandlung 14f13“83 in den Tötungsanstalten. Ihre Zahl wird auf 20 000 geschätzt.84 Nicht vergessen werden dürfen auch die Kinder, die außerhalb der Heil- und Pflegeanstalten in sogenannten „Kinderfachabteilungen“ ermordet wurden. Jene Kinder aus Heil- und Pflegeanstalten, die mittels Meldebogen erfasst worden waren, starben in den Gaskammern im Rahmen der „Erwachseneneuthanasie“.85 Vorsichtige Schätzungen gehen von mindestens 10 000 ermordeten Kindern aus.86 Die Gesamtzahl der dokumentierbaren „Euthanasie“-Opfer in ganz Europa87 beträgt 296 000.88 vaten und österreichischen Anstalten wurden zusätzlich rund 20 000, in Polen, der Sowjetunion und in Frankreich zusammen rund 60 000 Kranke Opfer der Nationalsozialisten. S. Faulstich (1998), S. 582. 77 Schmuhl (1987), S. 214. 78 S. Benzenhöfer (2009), S. 116, Schmuhl (1987), S. 214. 79 Die „Aktion Brandt“ wurde nach Karl Brandt benannt, der ab 1942 Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen und 1944 Reichskommissar wurde. Für die „Euthanasie“-Zentrale stellte Karl Brandts Funktion eine Legitimation der Krankentötungen dar. S. Schmuhl (1987), S. 233. Zur Aktion Brandt s. ebd., S. 230–236. 80 Ebd., S. 234. Neuere Forschungsergebnisse zur „Aktion Brandt“ finden sich bei Faulstich (1998), S. 587– 608. 81 Die Bezeichnungen „wilde Euthanasie“ und „Aktion Brandt“ werden in der Forschung immer noch nicht einheitlich verwendet. Dies betrifft vor allem die Zeit der Krankentötungen nach dem Stopp der „ Aktion T4“ bis zur Ernennung von Karl Brandt zum Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen 1942. Für einige Historiker gilt die „Euthanasie“ außerhalb der Tötungszentren als „wilde Euthanasie“, für andere sollten die Krankentötungen nach dem Stopp der „Aktion T4“ als „Aktion Brandt“ bezeichnet werden. Ein guter Kompromiss scheint die in der Forschung konstatierte Meinung, dass die Reichsarbeitsgemeinschaft Heilund Pflegeanstalten (RAG) mit der „Aktion Brandt“ nach örtlichem Bedarf tötete, während die „wilde Euthanasie“ weiter in den Anstalten praktiziert wurde. S. Faulstich (1998), S. 609. Einen guten Überblick über die Kontroverse gibt Faulstich (1998), S. 609–620. Winfried Süß fasste die in der Forschung diskutierten Ansätze über diese zweite Phase der „Euthanasie“ zusammen. S. Süß (2003), S. 311–314. 82 S. Schmuhl (1987), S. 216. 83 „14f13“ war ein Aktenzeichen. Dabei bedeutete die Zahl „14“ Todesfälle in den KZ und die Zahl „13“ die Todesart, nämlich Vergasung. S. ebd., S. 217. 84 Ebd., S. 219. Faulstich erhöhte diese Zahl noch um 12 000. S. Faulstich (2000), S. 222. 85 S. Schmuhl (1987), S. 183. 86 Aly (2014), S. 113. 87 Faulstich nannte Daten aus Deutschland, Frankreich, Polen und der UdSSR. S. Faulstich (2000), S. 228. 88 Ebd., vgl. auch Roelcke (2010), S. 1317.

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Die NS-„Euthanasie“

2.1

„Euthanasie“-Diskurse vor 1939

Der Begriff der „Euthanasie“ war keine Erfindung der Nationalsozialisten. Aus dem griechischen Wort „euthanatos“89, das in der epikureischen Philosophie ein leichtes und schmerzloses Sterben oder in stoischen Maßstäben den guten und ehrenvollen Tod bezeichnete90, entstand im „Dritten Reich“ ein Euphemismus für die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“.91 Dabei hatte sich die Bedeutung des Begriffs schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten langsam verändert. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts meinte „Euthanasie“ eine Sterbebegleitung, ohne das Leben zu verkürzen.92 Danach begann der Diskurs über die „Ausscheidung der Schwachen“93. Diese Veränderungen waren vom Aufkommen des Sozialdarwinismus und der Eugenik94 geprägt.95 In den 1890er Jahren begann die Diskussion um „Sterbehilfe“ und „Tötung auf Verlangen“, die von Adolf Jost und Ernst Haeckel96 inspiriert war und 1920 in der kleinen Schrift von Binding und Hoche „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“97 gipfelte.98 Darin forderten Bindung und Hoche die Möglichkeit, unheilbar psychisch kranke Patienten und Patientinnen unter gewissen Voraussetzungen, töten zu können. Auf dem Boden dieser sich veränderten Haltung zu chronisch kranken Patienten und Patientinnen sollte 1933 die Amtliche Strafrechtskommission unter Vorsitz von Reichsjustizminister Franz Gürtner99 das deutsche Strafrecht reformieren.100 Professor Wenzelslau Graf von Gleispach, der als Jurist Mitglied der Strafrechtskommission war, fasste im 1935 veröffentlichten Berichtband die Ergebnisse im Bereich „Tötung“ zusammen. Die Kommission schlug demnach vor, den Sondertatbestand Tötung auf Verlangen Erstmals wohl beim griechischen Dichter Kratinos (ca. 500 v. Chr.). S. Benzenhöfer (2009), S. 13. S. Schmuhl (1987), S. 25. S. Hinz-Wessels (2010), S. 77. S. Schmuhl (2010), S. 71. Über die „Ausscheidung der Schwachen“ schrieb Charles Darwin in seinem 1871 erschienenem Werk „The descent of man and selection in relation to sex“ („Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“). S. Darwin (1871). 94 Der Sozialdarwinismus begriff in Bezug auf die Lehre Charles Darwins auch die Gesellschaft als den Naturgesetzen der „natürlichen Auslese“ unterworfen. Die Eugenik bezeichnete wissenschaftliche Konzepte mit dem Ziel, die Verbreitung von Erbkrankheiten zu reduzieren und erbschädigende Einflüsse innerhalb einer Gesellschaft zu eliminieren. Dabei kann die Rassenhygiene als eine Art radikalisierte Durchführung der Eugenik betrachtet werden, die diese dann in Deutschland mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ersetzte. Als Umsetzungen der Rassenhygiene gelten die Nürnberger Gesetze, die Zwangssterilisationen, aber auch die „Euthanasie“. 95 S. Benzenhöfer (2009), S.  69 f. Zum Sozialdarwinismus, zur Rassenhygiene und zur Eugenik s. Klee (2010), S. 19–34 und Schmuhl (1987), S. 25–105. 96 Jost (1895), Haeckel (1924), dazu Benzenhöfer (2009), S. 82–86, Nowak (1978), S. 45 ff. 97 Binding, Hoche (1920). 98 Zur Geschichte der „Euthanasie“ s. auch Zimmermann (2000), Ricciardi – von Platen (2000). 99 Zum Reichsjustizminister Franz Gürtner s. Klee (2011), S. 209. 100 S. Benzenhöfer (2009), S. 98. 89 90 91 92 93

„Euthanasie“-Diskurse vor 1939

§ 216 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) fallen zu lassen, da er eine „individualistische Einstellung“101 bekämpfe und jedes Mitglied der „Volksgemeinschaft“ die Pflicht habe, der Gemeinschaft bis zum letzten zu dienen; man dürfe sich dem nicht feige durch Selbsttötung oder durch „verlangte“ Tötung entziehen.102 Die Kommission fasste zusammen: Eine Freigabe der Vernichtung sog. lebensunwerten Lebens kommt nicht in Frage. Der Hauptsache nach handelt es sich um schwere Geisteskranke oder Vollidioten. Der nationalsozialistische Staat sucht dem Entstehen solcher Entartungen im Volkskörper durch umfassende Massregeln vorzubeugen, so dass sie immer seltener werden müssen. Aber die Kraft der sittlichen Norm des Tötungsverbots darf nicht dadurch geschwächt werden, dass aus blossen Zweckmäßigkeitsgründen Ausnahmen für die Opfer schwerer Erkrankungen oder Unfällen gemacht werden, mögen auch diese Unglücklichen nur durch ihre Vergangenheit oder äussere Erscheinung dem Volkskörper verbunden sein.103

Sterbehilfe erkannte die Kommission nur dann an, „wenn der Arzt es unterlässt, ein bereits erlöschendes, qualvolles Leben künstlich zu verlängern oder wenn er den Todeskampf in ein sanftes Hinüberschlummern verwandelt“104. Im Oktober 1935 fand der Tatbestand der Tötung auf Verlangen doch im reformierten Strafgesetzbuch Erwähnung, zu einer tatsächlichen Reformierung des Strafgesetzbuches nach der letzten Sitzung der Kommission im Oktober 1936 kam es aber nicht.105 Dennoch sprach Reichsärzteführer Gerhard Wagner laut einer Aussage von Karl Brandt im Nürnberger-Ärzteprozess Hitler auf dem Reichsparteitag 1935 auf das Thema „Euthanasie“ an. Hitler wollte die Diskussion der „Euthanasiefrage“ auf Kriegszeiten verschieben.106 Wagner hielt den Diskurs über die Frage der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ allerdings aufrecht.107 So trafen die Bittbriefe, die in den Jahren 1938/1939 von Seiten Angehöriger unheilbar Kranker an die Kanzlei des Führers108 geschickt wurden, auf fruchtbaren Boden; Von Gleispach, zitiert nach ebd. Ebd. Zitat nach der Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr.1754/01/01. Von Gleispach, zitiert nach ebd. S. Benzenhöfer (2009), S. 99. S. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01, s. dazu auch Benzenhöfer (2009), S. 99, Schmuhl (1987), S. 180. 107 S. Schmuhl (1987), S. 181. Laut Schmuhl wurde vor allem im „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ weiter über die „Euthanasie“ diskutiert, der um die Jahreswende 1937/1938 entstanden sein soll. S. Schmuhl (1987), S. 362. Benzenhöfer ging davon aus, dass der „Ausschuss“ 1939 von der Planungsgruppe der „Kindereuthanasie“ gegründet wurde und nicht, wie Roth und Aly 1984 behaupteten, aus einem geheimen Reichsausschuss für Erbgesundheitsfragen hervorging. S. Benzenhöfer (2000), S. 2768, Roth, Aly (1984), S. 104 ff. In seinem jüngst erschienenen Werk „Die Belasteten“ nannte Götz Aly allerdings auch ein späteres Datum der Gründung des „Reichsausschusses“. S. Aly (2014), S. 43. 108 Die Kanzlei des Führers war eine Parteiorganisation der NSDAP und unterstand direkt Hitler. Zu einem wichtigen Aufgabenfeld gehörte die Bearbeitung von Gnaden- und Bittgesuchen. Leiter der Kanzlei 101 102 103 104 105 106

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der sogenannte Fall Knauer109 machte das Thema „Euthanasie“, vor allem die „Kindereuthanasie“, wieder konkret. Die Eltern des Kindes „Knauer“ sprachen Werner Catel110, der in Leipzig Professor für Kinderheilkunde war, auf die Möglichkeit an, ihr schwerstbehindertes Kind111 zu töten. Catel beriet sich mit Karl Brandt, der eigens hierfür aus Berlin angereist war und die beiden Ärzte beschlossen, das Kind durch Spritzen zu ermorden.112 In der Folge soll Hitler Brandt und Bouhler mündlich ermächtigt haben, in anderen Fällen ebenso zu handeln. Die Frage der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ wurde nun wieder aufgegriffen.113 2.2

Die Organisation der Krankenmorde

Spätestens im Sommer 1939114 begann die konkrete Planung einer systematischen Erfassung und Ermordung von psychisch kranken Menschen und Behinderten in den deutschen Heil- und Pflegeanstalten. Laut Benzenhöfer kam es dabei zu Problemen bei der Frage der Zuständigkeit, da anfangs der neue Reichsärzte- und Gesundheitsführer Leonardo Conti den „Auftrag zur Durchführung der Erwachseneneuthanasie“ erhielt, ihm dieser aber wieder entzogen wurde.115 Belegt ist, dass Hitler die Verantwortung in einem Ermächtigungsschreiben Bouhler und Brandt übertrug. Hitler lehnte ein Gesetz als Rechtsgrundlage auf Vorschlag des Chefs der Reichskanzlei Lammers ab. So blieb der von Hitler im Oktober 1939 unterzeichnete, jedoch auf den 1. September 1939, den Kriegsausbruch, zurückdatierte geheime Führererlass die einzige Legitimation der „Erwachseneneuthanasie“:116 Reichsleiter Bouhler u. Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich bestimmter Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.117

war ab 1934 Phillip Bouhler. S. Klee (2010), S. 78–81. Zu Phillip Bouhler s. Schmuhl (1999). 109 Zur Kontroverse um den Fall Knauer s. Klee (2010), S. 81–83, sowie Benzenhöfer (1998). 110 Informationen zur Person Catels s. Klee (2011), S. 91. 111 Laut einer Aussage Karl Brandts im Nürnberger Ärzteprozess vom 4.2.1947 „handelte [es] sich um ein Kind, das blind geboren war, idiotisch schien und [dem] außerdem ein Bein und ein Teil eines Armes fehlte.“ Zitiert nach Klee (2010), S. 81. 112 Zum Kind Knauer s. Schmuhl (1987), S. 182 u. Benzenhöfer (1998). 113 S. Schmuhl (1987), S. 182. 114 S. Benzenhöfer (2009), S. 107 u. Schmuhl (1987), S. 190. 115 S. Benzenhöfer (2009), S. 108 f., vgl. dazu auch Schmuhl (1987), S. 190. 116 S. Schmuhl (1987), S. 190, Benzenhöfer (2009), S. 111, Stöckle (2002), S. 32 f. 117 Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01, auch bei Klee (1985), S. 85.

Die Organisation der Krankenmorde

Laut den Akten des Grafeneck-Prozesses lag dem Landgericht Frankfurt eine Fotokopie des Ermächtigungsschreibens von der amerikanischen Militärregierung für das Strafverfahren gegen an der Tötungsanstalt Hadamar tätiges Personal vor. Diese Fotokopie enthält auch den von Reichsjustizminister Gürtner unterschriebenen Vermerk: „Von Bouhler mir übergeben am 27.8.1940.“118 Möglicherweise erfuhr der Reichsjustizminister also erst viel später119 offiziell von der „geheimen Reichssache“. Bis dahin hatten die Organisatoren des Massenmordes versucht, offizielle Dienststellen zu umgehen.120 Die neuere Forschung zur „Euthanasie“ stellt fest, dass Polen als „Experimentierfeld der Mörder“121 diente. Dort wurden bereits Ende September 1939 polnische Anstaltsinsassen des Gaus Danzig-Westpommern erschossen. Die Organisation des Krankenmords ging von der Kanzlei des Führers der NSDAP aus, die dem NSDAP-Reichsleiter Phillip Bouhler unterstand und ihren Sitz in der Voßstraße 4 in Berlin hatte. Innerhalb der Kanzlei des Führers war für die „Euthanasie“ das Hauptamt II zuständig, das Viktor Brack leitete, dessen Vertreter (und Leiter des Amts IIa) Werner Blankenburg122 war. Das Amt IIb führte Hans Hefelmann123, in dessen Zuständigkeit die „Kindereuthanasie“ lag. Das Amt IIc (Transportwesen) unterstand Reinhold Vorberg124. Die Organisatoren konnten nicht vermeiden als staatliche Stelle die Abteilung IV (Gesundheitswesen und Volkspflege) des Reichsinnenministeriums in die „Euthanasie“-Pläne einzuweihen. Die Abteilung IV, die Herbert Linden125 leitete, kontrollierte die staatlichen Heil- und Pflegeanstalten.126 Laut Götz Aly wechselten die Zuständigkeiten ab September 1941. Die Kanzlei des Führers, die bis dahin für die Organisation der „Aktion T4“ verantwortlich war, wich ab September 1941 dem Einfluss der Abteilung IV des Innenministeriums, das bis dahin vor allem für die Erfassung der Anstalten zuständig gewesen war.127 Auf ärztlicher Seite leitete Werner Heyde die „Euthanasie-Aktion“.128 Im Laufe der Zeit wurden Ärzte rekrutiert, die sich bereit erklärten, am Krankenmord mitzuwirken.129 Die Kanzlei des Führers lud sie nach Berlin ein, wo man das „Euthanasiepro-

Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Laut Lothar Gruchmann erfuhr Gürtner am 12.7.1940 durch ein privates Treffen mit Pastor Braune und Ferdinand Sauerbruch von der „Euthanasie-Aktion“. S. Gruchmann (2002), S. 506. 120 S. Schmuhl (1987), S. 190 f., Stöckle (2002), S. 33. 121 S. Faulstich (1998), S. 248. 122 Werner Blankenburg (1905–1957), SA-Obersturmführer. S. Klee (2011), S. 52. 123 Hans Hefelmann (1906–1986), Diplomlandwirt. S. ebd., S. 236. 124 Reinhold Vorberg (1904–1983), Leiter der Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft (GEKRAT). S. ebd., S. 245. 125 Herbert Linden (1899–1945), Arzt und Ministerialdirigent in der Abteilung IV im Reichsinnenministerium. S. ebd., S. 373. 126 S. Klee (2010), S. 79, Schmuhl (1987), S. 191 u. 193. 127 S. Aly (2014), S. 47. 128 Schmuhl (1987), S. 191. 129 Eine Liste mit Namen findet sich bei Schmuhl (1987), S. 191 f., Klee (2010), S. 84. 118 119

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gramm“ erläuterte und man den Geheimerlass Hitlers als gesetzeskräftig auslegte. Die Mitarbeit war laut Zeugenaussagen freiwillig und Straffreiheit wurde garantiert. Die Organisatoren wiesen lediglich auf die Notwendigkeit unbedingter Geheimhaltung hin.130 Gottfried Ewald kann hier als Beispiel dienen. Der Psychiater hatte sich geweigert, als Gutachter für die Ermordung von Kranken tätig zu werden und sogar Protestbriefe an offizielle Stellen, u. a. den Reichsärzteführer Conti, verfasst. Diese Schreiben blieben zwar wirkungslos, hatten aber auch keine persönlichen oder beruflichen Folgen für Ewald.131 Ewalds Absage an die Organisatoren blieb dennoch eine Ausnahme.132 Schmuhl nennt mindestens 50 Ärzte, die unmittelbar am „Euthanasieapparat“ mitarbeiteten, sowie 42, die bis Juni 1943 als Gutachter tätig waren.133 Laut der Aussagen von 230 Personen, die in den Tötungsanstalten in Brandenburg, Bernburg und Sonnenstein bei Pirna tätig waren, unterlag das übrige Personal (Pfleger, Schwestern, Schreibkräfte, Verwaltungsangestellte, Techniker) überwiegend einer Dienstverpflichtung134. Diese wurde durch die NSDAP, Arbeitsämter, Landwirtschaftskammern oder Polizeipräsidien ausgesprochen und erfolgte keineswegs immer gegen den Wunsch der Angestellten.135 Die Mitarbeit war grundsätzlich freiwillig, Verweigerung aber schwieriger als für das ärztliche Personal.136 Das Personal musste eine Verpflichtung zur Geheimhaltung unterschreiben, deren Verletzung mit der Todesstrafe bedroht wurde.137 Die Kanzlei des Führers versuchte nach außen hin, nicht mit der „Euthanasie“ in Verbindung gebracht zu werden. Dazu tarnten sich einige ihrer Mitarbeiter mit Decknamen. So trat Brack als „Jennerwein“, Blankenburg als „Brenner“, Vorberg als „Hintertal“ auf. Auch in Grafeneck gaben sich die Ärzte Pseudonyme. So nannte sich beispielsweise der Tötungsarzt Ernst Baumhard „Dr. Jäger“.138 Der bürokratische Teil der „Euthanasiezentrale“ zog aus der Voßstraße in die Tiergartenstraße 4 in Berlin, was der „Euthanasie“ den Namen „Aktion T4“ gab. Zusätzlich wurden vier Tarnorganisationen gegründet:139 Erstens erfasste die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten (RAG) die Opfer mit Hilfe von Fragebogen und speicherte die Daten.

Vgl. Schmuhl (1987), S. 192. Vgl. Roelcke (2010). Vgl. Harms (2010b), S. 270. Schmuhl (1987), S. 191 f., Klee (2010), S. 83. Neueres zur Altersstruktur, Tätigkeitsfeldern und Nachkriegswerdegang der „T4“-Gutachter sowie Kurzbiographien finden sich bei Harms (2010a) und Harms (2010b). 134 Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 13.2.1939. 135 S. Schmuhl (1987), S. 193. Zur Herkunft, Alter, Parteizugehörigkeit des nicht-ärztlichen Personals der Tötungsanstalten s. Hoffmann (2010). 136 S. Schmuhl (1987), S. 193. 137 Ebd. 138 S. Klee (2011), S. 32. 139 S. Schmuhl (1987), S. 194 f., Stöckle (2002), S. 33. 130 131 132 133

Die Organisation der Krankenmorde

Nach der Ermordung übernahm die RAG die Nachlassverwaltung.140 Die bürokratische Abteilung leitete Gerhard Bohne141, ab 1941 Dietrich Allers142, die medizinische führte Werner Heyde, den im Dezember 1941 Paul Nitsche143 ablöste.144 Die Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege wickelte zweitens die Besoldung von an der „ Aktion T4“ beteiligten Ärzten, Schwestern, Pflegern, Chemikern, Kraftfahrern und Bürokräften ab. Außerdem finanzierte sie die Gebäude, das Tötungsgas, Arzneimittel und kümmerte sich um die Verwertung von Schmuck und Zahngold der Opfer. Der Reichsschatzmeister der NSDAP145 besorgte die finanziellen Mittel.146 Die Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft (GEKRAT) verlegte drittens die Opfer. Reinhold Vorberg leitete die GEKRAT, die eigene Transportstaffeln mit den typischen grauen Omnibussen aus SS-Beständen unterhielt.147 Die Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten unter Leitung von Dietrich Allers und H. J. Becker148 erhielt viertens ab April 1941 die Pflegegelder der Opfer, die weit über den tatsächlichen Todestag gezahlt wurden. Dadurch erwirtschaftete die Zentralverrechnungsstelle Millionenbeträge. Außerdem regelte sie den Verkauf des Zahngoldes.149 Am 9. Oktober 1939 erhielten die Leiter der Heil- und Pflegeanstalten einen Runderlass aus dem Reichsministerium des Inneren, der die Anstaltsinsassen erfassen sollte.150 Danach waren die Anstaltsärzte verpflichtet, Patienten zu melden, die gewisse Kriterien erfüllten. Darunter fielen u. a. Kranke mit Schizophrenie, Epilepsie, Chorea Huntington und anderen neurodegenerativen Erkrankungen, die in den Anstalten keine Arbeit oder nur mechanische Arbeiten verrichten konnten. Genannt werden mussten auch forensisch untergebrachte Patienten sowie solche, die sich seit über fünf Jahren dauerhaft in einer Anstalt befanden. Außerdem verlangten die Organisatoren eine Angabe aller Kranker ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Der Erlass enthielt zwei Meldebogenformulare, die anhand des beiliegenden Merkblattes auszufüllen waren. Meldebogen 1 diente der Selektion der Opfer im Rahmen der „Euthanasie-Aktion“, Meldebogen 2 sollte die Struktur der Anstalt (u. a. Flächengröße des Gesamtareals, Sonderabteilung für Kriminelle, Höhe des Jahresetats, Gesamtzahl der vorhandenen Krankenbetten, Krankenbestand, Anzahl der Ärzte, Anzahl der PfleS. Schmuhl (1987), S. 194. Gerhard Bohne (1902–1981), Jurist. S. Klee (2011), S. 62. Dietrich Allers (1910–1975), Jurist, Oberregierungsrat, SA-Sturmbannführer (1943). S. ebd., S. 12. Paul Nitsche (1876–1948), „T4“- Gutachter, Todesurteil LG Dresden am 7.7.1947. S. ebd., S. 437. S. Schmuhl (1987), S. 194, Stöckle (2002), S. 33, Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. 145 Franz Xaver Schwarz (1875–1947), ab 1925 Reichsschatzmeister der NSDAP. S. Klee (2011), S. 572. 146 S. Schmuhl (1987), S. 195, Stöckle (2002), S. 33, Klee (2010), S. 121. 147 S. Klee (2010), S. 122, Schmuhl (1987), S. 194, Stöckle (2002), S. 33. 148 Hans-Joachim Becker (1909–?), 1970 vom LG Frankfurt wegen Beihilfe zum Mord zu 10 Jahren Haft verurteilt, 1974 entlassen. S. Klee (2011), S. 34 f. 149 S. Schmuhl (1987), S. 195. 150 Ebd., S. 197. 140 141 142 143 144

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ger) erfassen.151 Durch Meldebogen 2 sollte eine künftige Umgestaltung der Anstaltspsychiatrie oder eine Nutzung von Anstaltsraum für militärische Zwecke möglich werden. Die Anstalten schickten Meldebogen 1 zur Abteilung IV des Reichsinnenministeriums, von dort gelangten die Unterlagen zur „Euthanasiezentrale“, wo für jeden Meldebogen eine Zentralakte und eine Karteiakte angelegt wurde. Der von den Anstalten ausgefüllte Meldebogen wurde vier- bis fünffach kopiert. Das Original und zwei Kopien verblieben in der Zentralakte, weitere Kopien wurden an drei Gutachter anhand einer Liste geschickt, die, ohne die Patienten jemals gesehen zu haben, unabhängig voneinander darüber entschieden, ob ein Patientenleben „lebenswert“ war oder nicht.152 Dabei vermerkten sie auf dem Meldebogen mittels eines roten Kreuzes, wenn der Patient getötet werden sollte oder eines blauen Minus, wenn er am Leben bleiben durfte. Waren sie sich uneins, setzten sie ein Fragezeichen an den Rand des Meldebogens.153 Die Gutachter erhielten für die bearbeiteten Fragebogen ein Honorar, das mit der Anzahl der bearbeiteten Fälle stieg.154 Die Gutachter schickten die Meldebogen zurück an die Zentralstelle nach Berlin, wo die Zeichen der Gutachter auf das Original in der Zentralakte übertragen wurden. Ein Obergutachter (anfangs nur Herbert Linden, später Heyde, am Ende ersetzte Nitsche Linden) erhielt den Meldebogen und vermerkte am Ende sein Urteil mit denselben Zeichen (Kreuz, Minus). Er konnte im Zweifel noch Zurückstellungen fordern.155 Die Meldebogen wurden wieder an die Zentraldienststelle geschickt und dann an die GEKRAT weitergeleitet, falls beschlossen war, dass der Patient getötet werden sollte.156 Die GEKRAT erstellte Transportlisten, die an die Tötungsanstalt und über das Reichsinnenministerium157 an die Stammanstalt gesendet wurden.158 Die Tötungsanstalten entschieden über das Datum der Vernichtung und schickten eine Transportliste an die Stammanstalt und eine an die GEKRAT, die dann eine Transportstaffel, meist mit eigenem Personal, zur Abholung der Opfer entsandte.159 Die grauen GEKRAT-Busse fuhren vollbesetzt. Dies war eine Anweisung an die Transportleiter. Dazu befanden sich die Namen von rund 25 Prozent mehr Anstaltsinsassen auf den Transportlisten. So mussten bei Todesfällen oder Transportunfähig151 StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/02/02. Vgl. Schmuhl (1987), S. 201. Zu den unterschiedlichen MeldebogenVersionen, die es im Verlauf der „Aktion“ gab und zur Bedeutung der Arbeitsfähigkeit auf die Selektion s. Harms (2010b). 152 S. Hinz-Wessels (2010). Die Zentralakte wurde intern als „Z-Akte“ bezeichnet. Nach der Vergasung erfolgte die Kennzeichnung der Z-Akte mit einem Zeichen, das den Tod des Patienten markierte. Anschließend wurde die Akte archiviert. 153 S. Schmuhl (1987), S. 202. 154 Ebd. 155 Ebd. S. auch Klee (2010), S. 123. 156 S. Schmuhl (1987), S. 202. 157 In Württemberg erfolgte dies über das württembergische Innenministerium. S. Klee (2010), S. 129. 158 S. Schmuhl (1987), S. 203. 159 Ebd., S. 204.

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keit andere Patienten auf der Liste die Plätze im Bus übernehmen. Gleichzeitig erhielten die Anstaltsleiter auch die Möglichkeit, arbeitsfähige Kranke zurückzustellen.160 Die Möglichkeit der Zurückstellung gab es, laut Otto Mauthe, in Württemberg allerdings nur für die Leiter von staatlichen Heil- und Pflegeanstalten: „Bei den privaten Heil- und Pflegeanstalten war die Sache schwieriger. Stähle lehnte es ab, dass den Leitern dieser Anstalten das Recht zuerkannt wurde, Kranke von den Transportlisten zu streichen, mit der Begründung, sie seien arbeitsfähig.“161 Ab April 1940 gelangten die Opfer über sogenannte Zwischenanstalten in die Tötungsanstalt. Dies waren Heil- und Pflegeanstalten, die von Patienten geräumt und umfunktioniert worden waren.162 Warum die Organisatoren ihre Opfer nicht über den direkten Weg in die Tötungsanstalt bringen wollten, hatte mehrere Gründe. So diente der Umweg über die Zwischenanstalt der Tarnung, weil Angehörige schwieriger nachvollziehen konnten, wo sich die Anstaltsinsassen aufhielten. Gleichzeitig konnten Fehlurteile noch besser korrigiert werden, wenn die Kranken noch einige Wochen in der Zwischenanstalt blieben. Aly spricht auch von einer „versteckten Widerspruchsfrist“163, d. h., dass Angehörige in dieser Zeit noch Entlassungsanträge stellen konnten.164 In den meisten Fällen war der Aufenthalt der Kranken jedoch kurz. Martha Fauser, Leiterin der Zwischenanstalt Zwiefalten, sprach davon, dass die Patienten in der Regel nur wenige Tage in Zwiefalten blieben.165 Trafen die Opfer in der Tötungsanstalt ein, vergingen meist kaum 24  Stunden, ehe sie vergast wurden. Die Kranken wurden davor in einem Warteraum gewogen, gemessen, fotografiert und mit einer Nummer gekennzeichnet, bis der Tötungsarzt im Untersuchungszimmer die Identität der entkleideten Opfer und die Richtigkeit der Meldebogen und Krankengeschichten überprüfte. Außerdem sollte die Untersuchung die Patienten in Sicherheit wägen.166 Die Opfer wurden dann in einer Gaskammer, die als Duschraum getarnt war, durch Kohlenmonoxyd getötet. Den Gashahn drehte ein Arzt auf. Sogenannte Brenner167 warfen die Leichen, nachdem ihnen die Goldzähne herausgebrochen worden waren, in die Verbrennungsöfen. Die Asche wurde in Urnen gesammelt.168

160 Dies machte die Ärzte zu Rettern und Tätern zugleich: Einerseits konnten sie Kranke vor dem Tod bewahren, andererseits wurden sie zu „Komplizen der Euthanasiebürokraten“. S. ebd., S. 204 f. 161 Aussage Dr. Mauthe, 29.8.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/06. 162 S. Schmuhl (1987), S. 205. 163 Zitiert nach Schmuhl (1987), S. 205. Vgl. auch Aly (1985), S. 26. 164 S. Schmuhl (1987), S. 205. 165 Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. 166 S. Schmuhl (1987), S. 206 f. Vgl. auch Benzenhöfer (2009), S. 112. 167 In Grafeneck als „Leichenverbrenner“ arbeitete u. a. Josef Oberhauser, der als Angehöriger der SS zwischen 1942 und 1943 auch für die „Aktion Reinhardt“, in deren Folge über zwei Millionen Juden und 50 000 Roma des Generalgouvernements ermordet wurden, tätig war. S. Klee (2011), S. 440. 168 S. Benzenhöfer (2009), S. 112 f., Schmuhl (1987), S. 207.

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Die Stammanstalten erhielten kurze Mitteilung über den Tod des Kranken, die Angehörigen sogenannte Trostbriefe, die fingierte Todesursachen enthielten. Diese waren standardisiert und wurden mit der Unterschrift des Tötungsarztes versehen, der meist einen Falschnamen verwendete.169 Die Sterbeurkunden wurden von speziell eingerichteten „Sonderstandesämtern“170 ausgestellt und den Trostbriefen beigefügt. Die „Aktion T4“ wurde im August 1941 abgebrochen. Die Gründe werden in der Forschung unterschiedlich diskutiert. Vor allem die ablehnende Haltung der Bevölkerung, die ab 1940 von den Massenmorden erfuhr171 und der demoralisierende Krieg gegen die Sowjetunion172, aber auch der Widerstand der Kirchen173 setzten die Organisatoren unter Druck.174 Außerdem bot sich in den besetzten Ostgebieten ein rechtloser Raum, der für die „Entscheidungsträger in den außernormativen Machtaggregaten“175 die Möglichkeit bot, die „Euthanasie-Aktion“ weiterzuführen, was dadurch noch erleichtert wurde, dass die geplante Zahl von 70 000 Tötungen im „Altreich“ bereits erreicht worden war.176 Zwar war die „Aktion T4“ damit Ende August 1941 beendet, die Vergasungsanlagen in Hartheim, Bernburg und Sonnenstein blieben allerdings im Rahmen der sogenannten „Sonderbehandlung 14f13“, der KZ-Häftlinge zum Opfer fielen, in Betrieb177. Überdies begann in den Heil- und Pflegeanstalten die „wilde Euthanasie“. Interessanterweise erschien nach dem Stopp der zentral organisierten „Euthanasie“ im Reichsgesetzblatt eine Verordnung, die zumindest die Organisation der „Aktion T4“ legalisierte.178 Ab dem 23. Oktober 1941 gab es offiziell einen Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten.179

S. Schmuhl (1987), S. 208. Das „Sonderstandesamt“ in Grafeneck entstand am 12.12.1939. S. Schreiben des Innenministeriums Stuttgart an Landrat Alber, 12.12.1939, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/02/04. 171 S. Schmuhl (1987), S. 208. So häuften sich anfangs Todesnachrichten von Patienten aus den gleichen Anstalten und beunruhigten die Bevölkerung. Außerdem weckten die fingierten Todesursachen bei den Bürgern den Verdacht, dass ihre Angehörigen nicht eines natürlichen Todes gestorben waren. 172 S. Aly (2014), S. 176. 173 Am berühmtesten ist hier wohl die Predigt von Clemens Graf August von Galen vom 3.8.1941. Zum Widerstand seitens der Kirchen vgl. Nowak (1978). 174 S. Schmuhl (1987), S. 211. 175 Ebd. Schmuhl bezog sich auf Ernst Fraenkel, der in seiner Studie „Der Doppelstaat“ den Normenstaat als einen Staat beschrieb, in dem noch Rechtsvorschriften gültig sind und den Maßnahmenstaat als einen, der sich nicht an Gesetzen orientiert und ein System der Willkür ist. Im „Dritten Reich“ existierten Normen- und Maßnahmenstaat nur scheinbar nebeneinander. Tatsächlich konnten die Grundrechte mit der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28.2.1933 aufgehoben werden. Vgl. Fraenkel (1974). Dazu auch Königstein (2004), S. 391 f. u. Schmuhl (1987), S. 135. 176 S. Schmuhl (1987), S. 211. 177 S. Schmuhl (1987), S. 213. 178 S. Aly (2014), S. 184. 179 Ebd. 169 170

Die „Kindereuthanasie“

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Die „Kindereuthanasie“

Auch geistig und körperlich behinderte Neugeborene, Säuglinge und Kinder galten für die Nationalsozialisten als „Ballastexistenzen“.180 Einige dieser jungen Patienten konnten, da sie in Anstalten untergebracht waren, mittels der Meldebogen erfasst werden und starben dann im Rahmen der „Erwachseneneuthanasie“ in den Gaskammern der Tötungszentren.181 Für Kinder, die sich in Obhut ihrer Eltern befanden, mussten die Nationalsozialisten ein eigenes System zur Registrierung erschaffen. Auch hier organisierte und plante die Kanzlei des Führers, auch hier tarnte sie sich. Der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ war der Deckmantel für das Amt IIb in der Kanzlei des Führers unter der Leitung von Dr. Hans Hefelmann, einem Agrarökonomen. Als sein Stellvertreter trat der kaufmännische Angestellte Richard von Hegener auf. Das Reichsministerium des Inneren forderte im streng vertraulichen Runderlass vom 18. August 1939 Ärzte in Entbindungsanstalten, Hebammen und Hausärzte auf, behinderte Kinder im Alter bis zu drei Jahren „zur Klärung wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiete der angeborenen Mißbildung und der geistigen Unterentwicklung“ an das zuständige Gesundheitsamt zu melden.182 Mitte September 1941 wurde die Altersgrenze der zu meldenden Kinder auf sechzehn Jahre erhöht. Die Gesundheitsämter leiteten die Meldebogen an den „Reichsausschuss“ weiter.183 Dort sortierten Hefelmann und von Hegener die Fälle aus, die ihrer medizinischen Laien-Meinung nach für eine „Behandlung“184 nicht in Frage kamen. Die anderen Fragebogen erhielten die drei Gutachter Prof. Catel, Dr. Ernst Wentzler, ein Kinderarzt und Dr. Hans Heinze, ein Jugendpsychiater, die dann entschieden, ob ein Kind in eine „Kinderfachabteilung“185 überwiesen werden sollte. Dabei trat der „Reichsausschuss“ mit den „Kinderfachabteilungen“ in Kontakt, informierte über die Einweisung der Kinder und erteilte die Ermächtigung zur Tötung. Die Amtsärzte der zuständigen Gesundheitsämter hatten die Aufgabe, die Verlegung in die Wege zu lei180 Zur „Kindereuthanasie“ s. Benzenhöfer (1998, 2000), Schmuhl (1987), S. 182–189, Klee (2010), S. 333– 366. Zu Kindern als Opfern von Medizin-Versuchen s. Klee (2010), S. 366–385. 181 S. Schmuhl (1987), S. 183. 182 Aus dem Runderlass des Reichsministers des Inneren vom 18.8.1939, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/01/03. 183 Der „Reichsausschuss“ formulierte die Meldebogen im Laufe der Zeit immer präziser. Dies diente, so Marc Burlon, einerseits der exakten Erfassung der Erkrankung und des Zustands des Kindes, andererseits aber auch einer genauen Selektion aus Forschungsinteresse der „Reichsausschussmitglieder“. So zeigte Burlon in seiner Dissertation für die beiden Hamburger „Kinderfachabteilungen“ im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort (KKR) und in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn (HPL), dass für das KKR 35 % der Kinder nicht den Vorgaben der Meldebogen entsprachen und für das HPL 20 %. S. Burlon (2011), S. 84. 184 Wie auch der Begriff „Euthanasie“ ist „Behandlung“ ein Euphemismus für Tötung. 185 Laut Benzenhöfer musste eine „Kinderfachabteilung“ nicht nur eine bestimmte Abteilung innerhalb einer Anstalt sein. Tatsächlich konnten die Kinder auf verschiedenen Abteilungen und Stationen getötet werden. S. Benzenhöfer (2011), S. 73. Des Weiteren gibt Benzenhöfer in seinem Beitrag einen Überblick über die über 30 historisch gesicherten und möglichen Orte der „Kinderfachabteilungen“. S. Benzenhöfer (2011), S. 69 f.

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Die NS-„Euthanasie“

ten und die Eltern zu informieren. Dabei gaukelte man den Eltern vor, die Kinder profitierten von „neuen Behandlungsmethoden“ oder erhielten „besondere Betreuung“.186 Die Amtsärzte erhielten mit dem Erlass vom 20. September 1941 den Auftrag, die Eltern der Kinder darauf hinzuweisen, „dass unter Umständen geprüft werden müsse, ob nicht in der Zurückweisung des Angebots eine Überschreitung des Sorgerechts zu erblicken ist“187. Waren sich die Gutachter in ihrer Beurteilung des Kindes unsicher, ließen sie es dennoch zur Beobachtung in eine „Kinderfachabteilung“ verlegen. Kriterien zur Rettung der Kinder waren eine mögliche „Bildungs- und Arbeitsfähigkeit“.188 Im Gegensatz zu den „Massenvernichtungen“ der „Aktion T4“ durch Gas, ermordeten die Ärzte die Kinder meist einzeln mittels Gabe eines Barbiturats, meist Luminal, oder durch gezielte Unterversorgung.189

186 187 188 189

S. Klee (2010), S. 340–347. Erlass des Reichsinnenministeriums, 20.9.1941, StAS Wü 29/3 T1 Nr. 1757/01/02. S. Klee (2010), S. 333. S. Benzenhöfer (2011), S. 74.

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Der Weg zum Prozess

Wer mit den Nachforschungen zur „Euthanasie“ begann, wer den Grundstein legte, die Verbrechen im Barockschloss Grafeneck aufzuklären, ist aus heutiger Sicht schwierig nachzuzeichnen. Gegen Kriegsende erhielt der Staatsanwalt in Ulm eine Anzeige wegen der „Grafenecksache“.190 Er war für Grafeneck zuständig und leitete die Anzeige an den Generalstaatsanwalt in Stuttgart weiter. Dieser hatte schon im Sommer 1940 von den Verbrechen erfahren, so jedenfalls stand es in einem Bericht, den er am 1.  August 1940 an den Reichsjustizminister adressiert hatte: „Die Volksmeinung geht dahin, dass die Patienten aus reinen Nützlichkeitserwägungen ermordet werden.“191 Eugen Stähle gab in seiner Vernehmung durch das Amtsgericht Münsingen 1947 an, dass er die Generalstaatsanwaltschaft im Mai 1940 informiert habe, „als ich allmählich erkannte, daß die Aktion über das hinauszugehen schien, was ich mir unter Euthanasie im Kriege vorgestellt habe.“192 Die Anzeige sei allerdings nicht weiterverfolgt worden. Der Generalstaatsanwalt in Stuttgart wurde im Sommer 1945 erschlagen und entging damit einer strafrechtlichen Verfolgung.193 Im Juni 1945 begann der französische Psychiater Robert Poitrot194 auf Anweisung der französischen Militärregierung („Kabinett Koenig“)195 mit Untersuchungen zur Oberstaatsanwalt Krauss, 11.10.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/08. Ebd. Aussage Dr. Stähle, 7.11.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/17. Oberstaatsanwalt Krauss, 11.10.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/08. Weiter schrieb Krauss, dass der Reichsjustizminister damals alle Oberlandesgerichtspräsidenten zusammengerufen und über die „Euthanasie“ aufgeklärt habe. Krauss: „Eine Diskussion wurde bei dieser Versammlung nicht zugelassen. Es muss angenommen werden, dass während des dritten Reiches Strafverfahren gegen Täter und Teilnehmer an den innerhalb des nazistischen Euthanasieprogrammes durchgeführten Massenmorden nicht geführt worden sind.“ S. ebd. 194 Zur Biographie Robert Poitrots ließen sich nur wenige Hinweise entdecken. Es findet sich eine Dissertation, die Poitrot am 3.7.1937 der medizinischen Fakultät in Marseille vorstellte und verteidigte. S. Poitrot (1937). Der Dissertation liegt kein Lebenslauf bei. Lediglich das Deckblatt gibt Hinweise auf Poitrots Lebensweg. Geboren wurde Poitrot am 6.3.1908 in Agen, Aquitanien. Er war ehemals Student an verschiedenen Krankenhäusern und Assistenzarzt am psychiatrischen Krankenhaus in Aix-En-Provence. Der Mediziner erlangte sein Diplom vom Institut de Médecine Coloniale in Marseille. 195 Zur Organisation des „Gouvernement militaire pour la zone francaise d’occupation“ s. Henke (1983), S. 57 ff. Zur allgemeinen Charakteristik der französischen Militärregierung in Deutschland s. ebd., S. 49–89. 190 191 192 193

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„Euthanasie“. Seine Ergebnisse veröffentlichte der Mediziner im Dezember 1945 mit der kaum 100  Seiten umfassenden Schrift „Die Ermordeten waren schuldig“. Wie Poitrot in der Einleitung schrieb, ging es ihm bei seinen Nachforschungen nicht nur um die Geschehnisse in Grafeneck, sondern auch um die Psychiatrie im Nationalsozialismus.196 Auch die Angeklagten im Tübinger Prozess beriefen sich immer wieder auf das Werk, wodurch es zum Bestandteil der Ermittlungen wurde und der Staatsanwaltschaft als Quelle zur Aufklärung der Verbrechen diente. Poitrot besaß ein Dienstzimmer in der Anstalt Schussenried und leitete von dort seine Untersuchungen.197 Der französische Psychiater verfasste das Werk mit Hilfe von Anstaltsleitern aus den Heilund Pflegeanstalten in Baden und Württemberg, Dokumenten aus Ministerien und eigenen Beobachtungen der Zeit nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft.198 Er sammelte dabei Aussagen von Ärzten, die auch später im Grafeneck-Prozess oder in anderen „Euthanasie“-Verfahren (zum Beispiel in der Verhandlung gegen Sprauer und Schreck vor dem Landgericht Freiburg 1948) Zeugnis ablegten. Dabei war der französische Psychiater der Meinung, dass „die Invasion ein Schreckstadium hervorgerufen hatte, welches die Erlangung ehrlicher Zeugenaussagen erheblich erleichterte“199. Er beschrieb die Organisation der „Euthanasie“ nicht nur in Württemberg unter Eugen Stähle, sondern auch die Zustände in Baden unter Ludwig Sprauer. Dabei ging Poitrot sehr milde mit den Anstaltsärzten ins Gericht. Beispiele, das Verhalten der Ärzte zu entschuldigen, finden sich zuhauf: „Die Lage war für die leitenden Ärzte äußerst peinlich, denn sie wussten ja tatsächlich nichts.“200 Und: „Die Ärzte versuchten nun mit anderen Mitteln, die Kranken zu retten, indem sie die Diagnose hinauszögerten und im Falle von Schizophrenie, welche die schwersten Folgen hatte, harmlose und günstigere Diagnosen abzugeben.“201 Auch auf die Methoden Eugen Stähles, dem ärztlichen Hauptberichterstatter des Stuttgarter Innenministeriums, ging Poitrot ein. So schrieb er: „Berichte über die Fortschritte im Heilverfahren und die Möglichkeit, bestimmte Arten der Psychose zu beseitigen, die bisher als unheilbar galten, wurden von der Zensur Stähles und Sprauers erfasst, und ihre Veröffentlichung meist verhindert.“202 Psychiatrische Heilverfahren, mit denen vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten gearbeitet wurde, seien von diesen später verboten worden, moderne HeilbehandPoitrot unterstand als Chefarzt der neurologischen Kliniken der französisch besetzten Zone der „Direction de la santé publique“ unter Leitung von Generalinspektor Coulon. 196 S. Poitrot (1945), S. 5. 197 Schreiben von Dr. Götz an das Staatssekretariat für die französisch besetzten Gebiete in Württemberg-Hohenzollern, 25.2.1946, StAS Wü 42 T 94 Nr. 444. S. auch Richter (2005), S. 171 u. Fiebrandt (2014), S. 613. 198 Berichte wurden von Dr. Götz, Dr. Morstatt und Dr. Seitzer an den französischen Arzt geschickt. S. StAS Wü 42 T 94 Nr. 444. 199 S. Poitrot (1945), S. 5. 200 Ebd. S. 69. 201 Ebd. 202 Ebd.

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lungen mit Insulin, Cardiazol oder Elektrokrämpfen unmöglich gewesen. Tatsächlich wurden moderne Therapieformen auch im „Dritten Reich“ angewandt, da gerade diese Methoden Heilung einiger psychiatrischer Patienten versprachen. Diese Therapieerfolge waren für die Psychiatrie von immenser Wichtigkeit.203 Poitrots Dokument ist, trotz der apologetischen Haltung, die der Autor gegenüber den Anstaltsärzten einnahm, in seiner Funktion als frühe Arbeit über die NS-Verbrechen und als Quelle, die die ersten Versuche der französischen Militärregierung darstellt, die „Euthanasie“Morde zu ahnden, wichtig. Ob Poitrots Arbeit allerdings die Beachtung fand, die dem Dokument vom Schwäbischen Tagblatt mit seinem Erscheinen im November 1947 vorausgesagt wurde, bleibt fraglich.204 Im Juni 1945 begann der ehemalige Münsinger Landrat Richard Alber, der 1939 Grafeneck zu „Reichszwecken“ beschlagnahmt hatte, in der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten zu ermitteln. Alber hatte sich während des „Dritten Reiches“ bei den Nationalsozialisten unbeliebt gemacht und war in die Schweiz geflohen. Nach seiner Rückkehr aus der Schweiz am 27. Mai 1945 durfte er mit Erlaubnis der französischen Militärregierung wieder im Landratsamt Münsingen arbeiten. Alber wurde 1893 als Sohn eines Postamtmanns in Stuttgart geboren, studierte Jura in Tübingen, wo er Mitglied der Verbindung „Roigel“ war und machte 1922 Examen. Als Student war er 1919 Freikorpsangehöriger, aber nicht an der blutigen Niederschlagung der Münchener Räterepublik beteiligt, sondern in Augsburg stationiert.205 Etwa im Juni 1934 wurde Alber, der 1922 seine Laufbahn in der württembergischen Innenverwaltung begonnen hatte, von seinem Ortsgruppenleiter aufgefordert, in die

Zu den therapeutischen Entwicklungen innerhalb der Psychiatrie und zur Wichtigkeit von neuen Behandlungsmethoden s. Kapitel 7.2.3. Zur Insulin-Komatherapie, Cardiazol-Schocktherapie und Elektro-Schocktherapie bei Schizophrenie s. Bangen (1992), S. 43–62 und Shorter (1999), S. 313–336. Im 19. Jahrhundert dominierten die deutschen Wissenschaftler die psychiatrische Lehre und Forschung, im Nationalsozialismus verlagerten sich die Forschungen in den Westen, v. a. in die USA. S. Shorter, S. 116 u. S. 295. Laut Bangen wurde die Insulintherapie in den 20er Jahren vor allem bei Nahrungsverweigerung eingesetzt. Der jüdische Mediziner Manfred Sakel versuchte dann ab 1933, die Schizophrenie durch Induktion eines hypoglykämischen Komas zu heilen. 1942 verboten die Nationalsozialisten die Insulin-Komatherapie auf Grund eines herrschenden Mangels an Insulin. Die wenige Monate nach der Insulin-Komatherapie vom ungarischen Psychiater Ladislas von Meduna erstmals angewandte Cardiazol-Schocktherapie etablierte sich nicht, obwohl in den USA bis zur Entdeckung der Elektro-Schockbehandlung in den späten 30er und frühen 40er Jahren damit experimentiert wurde. S. Shorter (1999), S. 322 und S. 326. Die Elektrokrampftherapie etablierte sich in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs und war anfangs nur für die Behandlung der Schizophrenie indiziert, später auch für die Therapie schwerer Depressionen. Die heute angewandte Elektrokonvulsionstherapie ist eine Weiterentwicklung der Elektrokrampftherapie. S. Bangen (1992), S. 56–63. Versuche, die Schizophrenie durch eine Malariatherapie zu heilen, waren nicht erfolgreich. Diese Therapieform wurde allerdings zur Behandlung der Progressiven Paralyse eingesetzt, einem späten Stadium der Syphilis, in den 40er Jahren dann allerdings von der Behandlung mit Penicillin abgelöst. S. Shorter (1999), S. 291–297. Tilman Steinert beschrieb in seiner Dissertation die seit 1938 in der Heilanstalt Weissenau angewandte Insulinschock- und Cardiazolkur. S. Steinert (1985), S. 117 f. 204 Schwäbisches Tagblatt, 7.11.1947, Nr. 89. 205 Gespräch mit dem Sohn von Richard Alber, Helmut Alber, am 9.4.2013. Vgl. aber Ruck (1993), S. 57. Ruck beschrieb Alber als „Frontkämpfer vom ersten bis zum letzten Tag des Krieges“. 203

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NSDAP einzutreten. Dies tat er, ohne aber aktiv in der Partei tätig zu sein.206 Lediglich Kreisführer des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) sei Alber gewesen.207 Ab 1938 hatte er den Posten als Landrat in Münsingen inne. Laut Erzählungen seines Sohnes sei der Vater kein begeisterter Nationalsozialist gewesen. Im Laufe des Krieges habe er dann die Regierung Hitler immer kritischer gesehen. Seine Sekretärin sammelte Material gegen ihn und denunzierte ihn 1944.208 Am 21. Juli 1944 schickte ihm der württembergische Innenminister Dr. Schmid folgendes Schreiben: Nach den Einräumungen, die Sie gegenüber dem Gaurichter Dr. Rohde am 6.7.1944 gemacht haben, haben Sie Ihre Pflichten als Beamter aufs Gröbste verletzt. Ich verbiete Ihnen mit sofortiger Wirkung gemäß § 6 AbS.  1 DBG [Deutsches Beamtengesetz von 1937, Anmerkung der Verfasserin] die Weiterführung Ihres Dienstgrades. Landrat Knöpfle (Reutlingen) wird die Geschäfte weiterführen.209

Am selben Tag forderte Gauleiter Murr Albers Parteiausschluss. Er begründete die Entscheidung damit, dass Alber „neben einen Leitartikel des Gauorgans der NSDAP, dem Stuttgarter NS-Kurier, im Jahre 1942 den Vermerk ‚Quatsch‘ und weiter unten die Worte ‚hält man das deutsche Volk für so dumm, dass es einen solchen Blödsinn heute noch glaubt‘ geschrieben [hatte]“210. Außerdem habe Alber Londoner Sender abgehört und den Inhalt in Gesprächen wiedergegeben. Doch mit der Entziehung des Dienstgrades und dem Ausschluss aus der Partei war es noch nicht getan. Laut Helmut Alber war sein Vater im Zusammenhang mit dem Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli 1944 von Freunden vor weiteren von den Nationalsozialisten geplanten Strafmaßnahmen gewarnt worden. In einer „Nacht- und Nebelaktion“211 habe Dr. Gärtner, der Chefarzt des Münsinger Krankenhauses, erreicht, Alber in seinem Wagen zu Bekannten nach Biberach zu bringen. Von dort sei er über Langenargen nach Dornbirn und von dort über die Grenze in die Schweiz geflohen. „Ich habe auf allen Vieren mein Vaterland verlassen“212, habe Richard Alber später seinem Sohn erzählt. Am 15. August 1944 berichtete der Kreisleiter dem Bürgermeister des Kreises von einem Brief, den ihm Frau Alber übergeben hatte. In diesem hatte ihr Mann seinen Selbstmord im Bodensee verkündet: „Ein teuflisches Weibsbild hat durch Verrat mich so weit gebracht, dass ich diesen Weg gehen muss.“213 Murr kritisierte den Landrat für seine Worte und drückte

206 Bericht des kommissarischen Landrates Storz an das württembergische Innenministerium, 20.6.1945, HStAS EA 2/404 Bü 905. 207 Ebd. 208 Gespräch mit Helmut Alber am 9.4.2013. S. auch Bericht des kommissarischen Landrates Storz an das württembergische Innenministerium, 20.6.1945, HStAS EA 2/404 Bü 905. 209 Schreiben Dr. Schmid an Alber, 21.7.1944, ebd. 210 Kreisleiter Murr an Alber, 21.7.1944, ebd. 211 Helmut Alber im Gespräch vom 9. April 2013. 212 Ebd. 213 Kreisleiter Murr an die Bürgermeister des Kreises, 15.8.1944, HStAS EA 2/404 Bü 905.

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seinen Respekt für die Denunziantin aus, die mit ihrer Aussage gegen Alber, dessen „Wühlarbeit“ beendet habe.214 Am Ende seines Briefes gab der Kreisleiter dann noch einen Hinweis auf die Konsequenzen, die den Landrat erwarteten: Wer sich heute in der Stunde der Entscheidung gegen den Staat und gegen den Nationalsozialismus stellt, hat sein Leben verwirkt. Wer ausländische Sender abhört und sich dadurch seine politische Einstellung verseuchen lässt, wer glaubt, dass er die Umgebung beeinflussen darf, hat vor den Richtern keine Gnade zu erwarten.215

Am 11. Oktober 1944 leitete das Innenministerium ein Dienststrafverfahren gegen Richard Alber ein. Scheinbar glaubte dort niemand an Albers Selbstmord. Die ersten Ergebnisse seiner Nachforschungen schilderte Alber bereits wenige Tage nach seiner Rückkehr aus der Schweiz am 3. Juni 1945 dem „M. le commandant da gouvernement militaire francais“ in einem Brief mit dem Betreff „Grafeneck“: Um die Ermittlungen wegen Grafeneck zu beginnen, habe ich mich am Samstag, den 2.6.1945, nach Zwiefalten begeben und in der dortigen staatlichen Heilanstalt Erkundigungen angestellt. Diese haben, ohne vollständig zu sein – die Zeit reichte für eine genaue Zusammenstellung nicht aus – folgendes ergeben: Aus der Heilanstalt Zwiefalten kamen von Sept. 1939 bis 31.3.1941 etwa 1 700 Personen nach Grafeneck und wurden dort getötet. Etwa 1 240 von diesen 1 700 Personen wurden aus anderen Anstalten über Zwiefalten durchgeschleust. Die Leute wurden auf Grund von Vorschlagslisten, die die Anstalten einzureichen hatten, von der Reichskanzlei herausgesucht. Was die Einzelheiten des Verfahrens anlangt, so dürfte darüber der frühere Direktor der Badischen Heilanstalt Rastatt, Medizinalrat Dr. Schreck, jetzt im Ruhestand in Pfullendorf lebend, Auskunft geben können. Derselbe war wegen der Sache mehrfach in Berlin bei der Reichskanzlei. – Nach meiner Kenntnis ist die ganze Sache unter der Bezeichnung „Gnadentod“ von Hitler selbst angeordnet worden. – In Zwiefalten wurde mir mitgeteilt, dass der neue Leiter des Gesundheitswesens in Wttbg, Dr. Winter, Stuttgart, Alexanderstraße 12 in Sachen Grafeneck ebenfalls bereits Ermittlungen anstellt. Ich bin der Auffassung, dass zwecks Vereinfachung der Sache zuerst mit diesem in Verbindung getreten werden sollte.216

Selbst wenn Dr. Winter die Ermittlungen zum Massenmord in Grafeneck führte, tat er dies nur für eine kurze Zeit. Schon am 25. Juni 1945 schied er aus der Stadtverwaltung in Stuttgart aus, nachdem er nicht einmal zwei Monate dort tätig gewesen war. Der am 13. Juli 1899 geborene Eugen Winter war nie Mitglied in der NSDAP gewesen und gehörte auch sonst keiner nationalsozialistischen Vereinigung an. Beliebt war

Ebd. Ebd. Alber an den Kommandanten der franz. Militärregierung, 3.6.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/03, Hervorhebung im Original. 214 215 216

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er in Stuttgart dennoch nicht. Am 2. Juni 1945 schrieb Kirchenrat Pressel217 an Oberbürgermeister Klett: „Man hört fortwährend Klagen über den von Euch zum Leiter des städtischen Gesundheitsamtes bestellten Dr. med. Winter. […] Er scheint nicht sonderlich viel Vertrauen bei der Ärzteschaft zu genießen.“218 Weiter kritisierte Pressel Winters „sprunghafte und launenhafte Art“ und seine „persönlich geübte Personalpolitik“.219 Der Kirchenrat präzisierte dann, was er darunter verstand: „Anscheinend genügt schon die Tatsache, dass jemand Parteigenosse war und vor allem, wenn er ohne sein Zutun als Arzt irgendeinen Rang in der SA bekommen hat, um den Betreffenden als untragbar zu bezeichnen.“220 Bereits am 22.  Juni 1945 war beschlossene Sache, dass Winter seines Amts enthoben werden sollte. Dazu schrieb Landesdirektor Ulrich221 an Oberbürgermeister Klett: Gaupp wird neuer Leiter des Gesundheitswesens, Dr. Gerlach222 wird Referent für Gesundheitswesen. Dr. Hoffmann und Dr. Lempp werden eng mit ihm zusammenarbeiten. Ich darf wohl annehmen, dass Dr. Winter nunmehr von Ihnen bereits seines Amtes enthoben sein wird.223

Am 25.  Juni 1945 schied Winter aus der Stadtverwaltung aus. Er wollte sich fortan wieder mehr der Forschung widmen und plante eine Arbeit mit dem Thema „Operationen am Herz“.224 Ob er diese Arbeit begann, ist fraglich. Gegen Winter wurden Ermittlungen wegen Betruges eingeleitet. Am 15. August 1945 teilte Oberstaatsanwalt Eisenbacher Oberbürgermeister Klett mit, dass Winter zugegeben habe, vor Jahren nicht, wie er behauptet hatte, für eine illegale Abtreibung, sondern wegen Betruges verurteilt worden zu sein.225 Mehr Informationen über Dr. Winter lassen sich in seiner Personalakte nicht finden. Viele Nachforschungen zur „Euthanasie“ in Grafeneck hatte

217 Oberkirchenrat Pressel wurde in seinem Spruchkammerverfahren in der Nachkriegszeit in die Gruppe der „Entlasteten“ eingestuft. Einige seiner Weggefährten machten den Kirchenrat allerdings für die „politische Loyalität“, die die evangelische Kirche dem nationalsozialistischen Regime gegenüber zeigte, verantwortlich. S. Vollnhals (1989), S. 187. 218 Personalakte Dr. med. Eugen Winter, StdAS Bestand 212/2 Personalamt, Signatur 578. 219 Ebd. 220 Ebd. 221 Gemeint ist wahrscheinlich Fritz Ulrich. Dazu schrieb Michael Ruck: „Obwohl die Innenressorts von Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und Baden-Württemberg über anderthalb Jahrzehnte von den beiden SPD-Politikern Fritz Ulrich und Viktor Renner geleitet wurden, konnte dort kein einziger Sozialdemokrat reüssieren. Stattdessen griffen die beiden Ressortchefs gerne auch auf die Mithilfe von schwer belasteten Spitzenbeamten des NS-Regimes zurück, wenn nur deren Fachqualifikation den Durchschnitt überragte“. S. Ruck (1996), S. 237. 222 Gemeint ist wahrscheinlich Dr. Walter Gerlach. Er war „Land Commissioner of Public Health“ und bereits durch die französische Besatzungsmacht zum Gesundheitsreferenten von Württemberg-Baden ernannt worden. S. Ellerbrock (2004), S. 124 223 Personalakte Dr. med. Eugen Winter, StdAS Bestand 212/2 Personalamt, Signatur 578. 224 Ebd. 225 Ebd.

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Dr. Winter während seiner Zeit als Leiter des Gesundheitsamts in Stuttgart wohl nicht betrieben. Die amerikanische Militärregierung in Stuttgart stimmte der Nominierung Robert Gaupps zum Leiter des Gesundheitswesens zu, vor allem wohl, weil er nie NSDAPMitglied gewesen war. Dass sich Gaupp, Professor und bis zum Jahr 1936 Leiter der Tübinger Universitätsnervenklinik, früher vor allem für die Rassenhygiene engagiert hatte, spielte offenbar keine Rolle.226 Und obwohl die Militärregierung Gaupps Nominierung zustimmte, blieb das Verhältnis zwischen den Besatzern und der konservativen Stuttgarter Stadtverwaltung, die politische Säuberungsverfahren ablehnte, gespannt.227 Gaupp und auch Oberbürgermeister Klett stellten sich gegen Entnazifizierungen und wollten selbst stark belastete Ärzte nicht ihrer Ämter entheben.228 Gaupps Beitrag an den Ermittlungen zur „Euthanasie“ war wahrscheinlich klein. Vielleicht wollte er auch nicht, dass sein tatenloses Verhalten um 1940 publik wurde. Denn seinerzeit hatte ihm sein früherer Assistenzarzt Max Eyrich von den Krankentötungen erzählt und ihn um Rat gefragt. Eyrich hatte auf den Einfluss seines ehemaligen Mentors gehofft: „Das betrübende Ergebnis auch dieser Unterredung war die Feststellung, dass auch ein Mann wie Prof. Gaupp, einer der bekanntesten Irrenärzte mit internationalem Ruf […] mit völlig gebundenen Händen dastand.“229 1948 bestritt Gaupp in seiner Vernehmung, von seinem ehemaligen Assistenzarzt konkret wegen der „Euthanasie“ um Rat gefragt worden zu sein: „Wenn er mir etwas derartiges gesagt hätte, so würde ich ihm mit ganz bestimmten, klaren Worten gesagt haben, sich gegen die Zumutungen zu wehren und irgendwelche Beteiligung abzulehnen.“230 Tatsächlich half aber Dr. Gerlach, Gesundheitsreferent von Württemberg-Baden, bei den Ermittlungen in der „Grafeneck-Sache“ der Militärregierung. Er suchte in den Anstalten nach Vorgängen, die mit der „Aktion“ in Verbindung standen.231 Bei den Nachforschungen, die Gerlach einholte, ging es der Militärregierung auch um die Frage, ob ausländische Patienten Opfer der Krankenmorde geworden waren.232 In der französischen Besatzungszone fand Richard Alber am 30. Juni 1945 die Akten zu Grafeneck im Landratsamt Münsingen, die er vernichtet glaubte, da er bei seinem Dienstantritt im Juni mehrmals nach Dokumenten gefragt, aber diese nie alle erhalten hatte. Teilweise waren die Schriftstücke mit Vermerken versehen wie „Wiedervorlage

S. Ellerbrock (2004), S. 120 f. Ellerbrock konstatierte, dass Gaupp einer jener „retired non-Nazi […] officials“ war, die die Militärregierung einzusetzen hoffte. S. auch Klee (2001), S. 58 und S. 86. 227 S. Ellerbrock (2004), S. 153. 228 Ebd. 229 Schreiben Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. 230 Aussage Prof. Gaupp, 2.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/09. 231 Schreiben des Direktors des Gesundheitswesens an die Heilanstalten vom 14.2.1946, StAS Wü 42 T 94 Nr. 444. 232 Schreiben Dr. Gerlach an das Staatssekretariat in Tübingen, 9.10.1946, ebd. 226

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am 1.9.1945“ oder „Wiedervorlage nach Kriegsende“. So teilte er dem Kommandanten der französischen Militärregierung mit: Bisher war ich der Auffassung, dass die Akten über die sogenannte Landespflegeanstalt Grafeneck die als „Geheime Reichssache“ bezeichnet war, bei der im April 1945 von der Regierung befohlenen Vernichtung der Geheimakten mit vernichtet wurden zumal ich den Schrank der bisher die Geheimakten enthielt bei meinem Dienstantritt am 12.6.1945 völlig leer vorfand.233

Ein Registraturbeamter in Münsingen fügte schließlich aber einige Unterlagen zusammen und übergab sie Alber am 30. Juni 1945. Dieser rekonstruierte anhand der Akten die Vorgänge in Grafeneck und ließ für die französische Militärregierung Übersetzungen anfertigen.234 In einem weiteren Schreiben an den französischen Kommandanten nannte Alber zwei Namen, die nähere Auskünfte über die Verbrechen geben könnten: Eugen Stähle, Ministerialrat und höchster Medizinalbeamter in Württemberg und Martha Fauser, Leiterin der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten. Am Ende wies Alber darauf hin: Bezüglich der aufgefundenen und vorgelegten Akten zum Fall Grafeneck erlaube ich mir noch darauf hinzuweisen, dass es bezeichnend ist für die strenge Geheimhaltung der Sache gegenüber jedermann, also auch gegenüber den Beamten, dass nirgends in schriftlicher Form auch nur andeutungsweise der wahre Verwendungszweck der Anstalt erwähnt wurde.235

Was der Landrat selbst von den Geschehnissen in Grafeneck wusste, bleibt fraglich. Die Bevölkerung jedenfalls ahnte, spätestens nachdem 1940 die ersten Todesmitteilungen aus Grafeneck an Angehörige verschickt worden waren, dass im Schloss Menschen ermordet wurden. Dazu erklärte Alber: Bezüglich der Frage, wann die ersten Gerüchte über die wahre Verwendung von Grafeneck in der Umgebung bekannt wurden, erlaube ich mir, auf ein Gespräch mit dem derzeitigen kommissarischen Landrat Herrn Landoberstallmeister Storz hinzuweisen, in dem er mir erklärte, er selbst habe, obwohl er unmittelbarer Nachbar von Grafeneck ist, erst im Februar 1940 den wahren Verwendungszweck erkannt.236

Die Akten zur „Euthanasie“ in Grafeneck übergab Alber also am 30. Juni 1945 der französischen Militärregierung. Eine erste Stellungnahme von Dr. Otto Mauthe ist datiert

233 Schreiben Landrat Alber an den Kommandanten der französischen Militärregierung, 30.6.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/03. 234 Schreiben Landrat Alber an den Kommandanten der französischen Militärregierung, 4.7.1945, ebd. 235 Schreiben Landrat Alber an den Kommandanten der französischen Militärregierung, 9.7.1945, ebd. 236 Ebd.

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auf den 22. Juni 1945237, eine Befragung durch den Chef der württembergischen Landespolizei fand am 29. August 1945 statt.238 Stähle wurde am 26. Juni zum ersten Mal zu seiner Rolle bei den Krankentötungen durch die Landespolizei Stuttgart befragt.239 Später ermittelte Oberlandesgerichtsrat Dr. Gilsdorf vom Amtsgericht Münsingen. In einem Artikel aus dem Schwäbischen Tagblatt hieß es: Bei einer Besichtigung der Heil- und Pflegeanstalt Grafeneck durch Vertreter der Presse, – sie erfolgte auf Veranlassung des Justizministeriums am Mittwoch –, gab der zuständige Untersuchungsrichter, Oberlandesgerichtsrat Dr. Gilsdorf, Münsingen, einen umfassenden Überblick über die Ergebnisse der von der Justizbehörde in Württemberg-Hohenzollern geführten Untersuchung. Die Staatsanwaltschaft Tübingen konnte erst am 29. Juli 1947 die Voruntersuchung beantragen, weil nach der am 26. Juni 1945 erfolgten ersten Vernehmung der beiden Hauptschuldigen, Ministerialrat Dr. Stähle und Obermedizinalrat Dr. Mauthe, der Sachbearbeiter des Irrenwesens in Württemberg war, zunächst die amerikanische Militärregierung den Fall Grafeneck nachprüfte. […] Am 15. Juli 1947 ist dann die weitere Untersuchung den Justizbehörden in Württemberg-Hohenzollern von der amerikanischen Militärregierung übertragen worden. Daraus erklärt sich, dass erst von diesem Zeitpunkt an die deutschen Ermittlungen gründlicher einsetzen konnten. Nach acht Monaten emsiger Arbeit, bei der viele Schwierigkeiten zu überwinden waren, ist jetzt der Komplex Grafeneck so weit geklärt, dass der Prozess gegen die beiden schon genannten, in Münsingen in Haft befindlichen Hauptschuldigen sowie gegen die ebenfalls in Haft befindlichen Leiter des für Grafeneck gebildeten eigenen Polizei- und Standesamtes und acht verhaftete Pfleger und Transporteure wahrscheinlich Ende dieses Jahres geführt werden kann. Der Untersuchungsrichter hatte im Oktober 1947 Haftbefehle gegen 25  Beteiligte erlassen. Es konnten zwölf Verhaftungen in allen Gegenden Deutschlands erfolgen. Bedauerlich ist, dass aus dem Kreis der eigentlichen Täter – der SS-Henker – voraussichtlich niemand zur Verantwortung gezogen werden kann. Drei SS-Ärzte, die in Grafeneck tätig waren, konnten trotz ihrer Decknamen ermittelt werden. Es handelt sich um Dr. Schumann, Dr. Bornhardt [Dr. Baumhard, Anmerkung der Verfasserin] und Dr. Hennecke, alle aus Halle a. S. Schumann, der später in Auschwitz war, ist verschollen. Die anderen beiden Mediziner haben später als Marineärzte auf U-Booten Dienst verrichtet und nach zuverlässigen Ermittlungen den Seemannstod erlitten. Der Wirtschaftsverwalter von Grafeneck sitzt in der russischen Zone in Haft. Professor Dr. Nitsche, der letzte psychiatrische Obergutachter – zuerst hatte Professor Dr. Heyde (Würzburg) das Amt inne – ist vom Schwurgericht Dresden wegen der in Sonnenstein bei Pirna verübten Euthanasieverbrechen zum Tode verurteilt worden. Er wurde über Grafeneck protokolla-

237 StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/03. Für wen er diese Stellungnahme anfertigte, ist in der Akte nicht ersichtlich. 238 Aussage Dr. Mauthe, 29.8.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/06. 239 Aussage Dr. Stähle, 26.6.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/20.

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risch vernommen, seine Hinrichtung soll demnächst erfolgen. Aus den vielen Einzelheiten, die der Bericht des Untersuchungsrichters noch brachte, ist hervorzuheben, dass das Ergebnis der bisherigen Ermittlungen sich auf Dokumente, Zeugenaussagen und sonstige authentische Beweismittel stützt.240

Der Grafeneck-Prozess begann erst über ein Jahr später, am 8. Juni 1949.

240

Schwäbisches Tagblatt, 19.3.1948, Nr. 22.

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Vier Ärzte als Täter des Krankenmords

Der Rittersaal auf dem Tübinger Schloss war in letzter Zeit Schauplatz eines Prozesses, der dunkelste Zeiten deutscher Geschichte berührt. […] Und jetzt ist er gar zum Schwurgericht geworden, vor dem der Grafeneck-Prozess verhandelt worden ist. Ein leises Frösteln kommt uns an, wenn wir an die unterirdischen Verliese denken, über denen nun wieder eine Tragödie menschlichen Wahnes sich entrollte. „Sic transit gloria mundi“ steht über dem so verwandelten Rittersaal. Alles wandelt sich, Zeit, Raum, Menschen! Sorgen wir Heutigen dafür, dass es zum Besseren geschieht.241

So verklärt beschrieb ein Redakteur des Schwäbischen Tagblatts den Grafeneck-Prozess einen Tag, bevor das Urteil verkündet werden sollte. Umschreibungen der anhaltenden Morde an behinderten Patienten als „die dunkelsten Zeiten deutscher Geschichte“ verstärkten das surreale Bild, das in der Prozessberichterstattung geschaffen wurde. Der Rittersaal des Tübinger Schlosses wurde zur Kulisse eines Schauspiels, die Angeklagten bekamen als Protagonisten die Möglichkeit, die Inszenierung selbst zu beeinflussen.242 Die relative Nähe des Verhandlungsortes zum Ort des Verbrechens – Grafeneck liegt keine 45 Kilometer von Tübingen entfernt – wurde auch von den Journalisten hervorgehoben. Die ambivalente Einstellung der Presse, die zwischen der Brandmarkung der grausamen Verbrechen und der Hoffnung auf milde Urteile schwankte, gipfelte in den Berichten über Martha Fauser, die einerseits „dem Beobachter geradezu Grauen einflößt“243, aber auch „durch ihre offenen Aussagen einen günstigen Eindruck“244 machte. Und so wie Fauser war durch die örtliche Nähe jeder irgendwie beteiligt an den Verbrechen in und um Grafeneck. Man hatte die grauen Busse gesehen, selbst der Staatsanwalt „hat […] den Schornstein von Münsingen aus rauchen sehen können“245. Jeder Schwäbisches Tagblatt, 4.7.1949, Nr. 78. Cord Arendes beschrieb Gerichte „als Räume mit begrenzter Öffentlichkeit“, die durchaus „die Bühnen für das juristische Geschehen in den Verfahren wie auch für die Präsentationsmodi der Angeklagten“ lieferten. S. Arendes (2012), S. 16. 243 Stuttgarter Nachrichten, 23.6.1949, Nr. 110. 244 Schwäbisches Tagblatt, 15.6.1949, Nr. 76. 245 Dr. Fauser, nach einem Bericht im Schwäbischen Tagblatt, 2.7.1949, Nr. 77. 241 242

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wusste davon und der Widerstand gegen die Ermordung der Patienten blieb gleichwohl zaghaft. So war auch die Presse mit Verurteilungen zurückhaltend. Der Journalist Herrmann Mostar erlangte mit seinem Bericht am Tag vor der Urteilsverkündung sogar überregional Berühmtheit. Der „Herr Mozart vom Radio“246 ergriff in seiner Sendung für Radio Stuttgart Partei für Martha Fauser und die Pflegekräfte: Wie kann ein Staatsanwalt, der im Dritten Reich amtierte, von einfachen Leuten den Mut verlangen, den er selbst nicht aufbrachte? Daß Geisteskranke vergast wurden, war allgemein bekannt. Es wäre also Aufgabe des Staatsanwalts gewesen, diesen Verbrechen nachzugehen und gegen die Verantwortlichen Klage zu erheben.247

Der Vorwurf, die Entscheidung des Gerichts durch die Presse beeinflusst zu haben, veranlasste sogar eine Große Anfrage im Landtag und führte zu Diskussionen über Pressefreiheit.248 Die milde Beurteilung durch die Presse war vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass nach Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 der Großteil der deutschen Bevölkerung die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit für beendet betrachtete und das Interesse an der Verurteilung von Schuldigen nachließ.249 In den Tübinger Gemeinderatsprotokollen fand sich keine Erwähnung des Grafeneck-Prozesses und die Berichterstattung in der Presse beschränkte sich, bis auf wenige Ausnahmen, auf die regionalen Zeitungen. Die Nähe Tübingens zu Stuttgart und Grafeneck und die damit verbundenen Probleme wurden schon im Vorfeld deutlich. So wurde die Selbstablehnung des eigentlich zum Vorsitzenden Richter bestimmten Landgerichtsdirektor Biedermann im Februar 1949 vom Landgerichtspräsidenten akzeptiert, da Biedermann mit dem Ehepaar Eyrich befreundet war und sich deswegen befangen fühlte.250 Auch Landgerichtsrat Dorner lehnte als Bundesbruder von Dr. Mauthe seine Beteiligung als stellvertretender Vorsitzender ab.251 Den neuen Vorsitz erhielt Oberamtsrichter Dieterich in Calw, sein Stellvertreter wurde Amtsgerichtsrat Rietschel in Neuenbürg und Zweiter Beisitzer Amtsgerichtsrat Dreger in Tübingen.252 Obwohl mit keinem der Angeklagten bekannt, nahm Oberamtsrichter Dieterich sein Amt nur wider willig an: Unter Bezugnahme auf die zwei vorausgehenden Ferngespräche möchte ich aber wie schon mündlich auch noch schriftlich ausdrücklich feststellen, dass ich mich nicht zur Uebernahme dieses Vorsitzes bereit erklärt habe, sondern, dass ich, wenn die Entschlies-

Titel des Artikels über Herrmann Mostar in Der Spiegel, 5.8.1950, Nr. 31. S. ebd. Zum Beispiel im Schwäbischen Tagblatt vom 27.7.1949, Nr. 88. Die Redakteure führten eine Umfrage zum Thema „freie Meinungsäußerung und richterliche Unabhängigkeit“ durch. 249 S. Arendes (2012), S. 124 f. 250 Schreiben des Landgerichtspräsidenten, 1.2.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/01/01. 251 Schreiben des Landgerichtspräsidenten, 3.2.1949, ebd. 252 Beschluss des Landgerichtspräsidenten, 22.2.1949, persönliche Unterlagen von Wilhelm Dieterich. 246 247 248

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sung nicht zurückgenommen wird, lediglich gezwungen durch die, wie ich annehmen muss, rechtmässige Bestellung, tätig wurde.253

Dieterich hatte Zweifel, der historischen Aufgabe gewachsen zu sein: Der Fall gegen Dr. Mauthe u. a. ist wahrscheinlich der bedeutendste Fall mit politischem Einschlag und damit der am meisten im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehende, der in Süd-Württemberg je vorgekommen ist und vorkommen wird. Es springt in die Augen, dass die Besetzung eines Schwurgerichts mit einem Oberamtsrichter und zwei Amtsgerichtsräten an sich eigenartig ist und ganz besonders die Besetzung desselben in einem derartig bedeutenden Fall.254

Zwar erkannte Dieterich an, dass es gesetzlich möglich war, einen Amtsrichter zum Vorsitzenden eines Schwurgerichts zu machen, doch war es nicht Praxis in Württemberg: „Es scheint mir beschämend für das Landgericht in der Hauptstadt des Landes Süd-Württemberg zu sein, wenn es nicht in der Lage sein sollte entsprechend dieser Uebung aus seinen Reihen einen Vorsitzenden für diesen Fall zu stellen.“255 Dieterich kritisierte also die völlig untypische Besetzung des Schwurgerichts in einem, wie er ihn nannte, „bedeutenden Fall“. Doch nicht nur die unübliche Besetzung machte dem Oberamtsrichter zu schaffen, er witterte auch politische Motive speziell seine Ernennung betreffend: Ausserdem werde ich den Verdacht nicht los, dass niemand auch nur entfernt daran gedacht hätte, mich für diesen Fall als Vorsitzenden heranzuziehen, wenn ich nicht zu den durch die Entnazifizierung nicht betroffenen Personen gehören würde. […] Nun stehe ich auf dem Standpunkt, dass es unter den wieder in den Justizdienst hereingenommenen Richtern, die entnazifiziert sind und den Eid geschworen haben, keinen Unterschied mehr darnach geben darf, wie sie bei der Entnazifizierung eingestuft wurden. Die spezielle Heranziehung von unbelasteten Richtern zur Verhandlung und Entscheidung politischer Fälle schmeckt nach Sonderstrafgericht, eine Einrichtung, die mir in der Nazizeit in der Seele zuwider war und die es mir heute nicht minder ist.256

Dieterich kritisierte auch, dass der Landgerichtspräsident und keine Person aus dem Justizministerium seine Art kennengelernt hatten, eine Verhandlung zu führen. Dies sei aber, so Dieterich, für diesen Fall sehr wichtig. Am Ende seines Schreibens bat der

253 Schreiben von Dieterich an den Landgerichtspräsidenten in Tübingen, 24.2.1949, persönliche Unterlagen von Wilhelm Dieterich. 254 Ebd. 255 Ebd. 256 Ebd.

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Oberamtsrichter den Landgerichtspräsidenten, seine Berufung zum Vorsitzenden des Schwurgerichts rückgängig zu machen257, blieb aber mit seiner Bitte erfolglos.258 Dies waren die ersten Hürden, die es vor Beginn des Prozesses zu bewältigen galt, nachdem die Anklageschrift allen Beteiligten bereits vor der Ernennung von Oberamtsrichter Dieterich zum Vorsitzenden des Schwurgerichtsprozesses am 21.  Januar 1949 zuging. Die Verantwortlichen schätzten das öffentliche Interesse für den Prozess sehr hoch ein und verlegten die Verhandlung aus dem Landgericht Tübingen in den geschichtsträchtigen und größeren Rittersaal des Schloss Hohentübingen. Dabei lockte der erste Prozesstag gerade einmal 35 Beobachter in den historischen Raum.259 Vom 8. Juni bis zum 5. Juli 1949 dauerte der Prozess, in 16 Verhandlungstagen wurden die Angeklagten und 77 Zeugen gehört. Teil der Verhandlung war auch die Besichtigung von Grafeneck und der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten mit den Angeschuldigten, ihren Verteidigern, den Richtern und der Staatsanwaltschaft.260 Den angeklagten Ärzten bot sich durch den Prozess eine seltene Gelegenheit, sich öffentlich zu äußern.261 Natürlich ging es ihnen dabei vor allem darum, die eigene Unschuld zu beweisen und sich zu rechtfertigen. Dabei gilt zu beachten, dass ein strafrechtlicher Freispruch nicht mit einem moralischen gleichzusetzen ist, aber doch für die breite Öffentlichkeit die einzig möglich wahrnehmbare Form des Schuldfreispruchs darstellte. Die Spruchkammerverfahren der Mediziner hingen in der Schwebe, solange ein strafrechtliches Urteil nicht gefällt war. Da die politische Säuberung wichtig für den Wiedereinsatz als Beamter war, hatten auch die Angeklagten Interesse an einer schnellen Urteilsfindung, um verspätet ins Nachkriegs-Leben starten zu können. 25 Haftbefehle hatte die Staatsanwaltschaft erlassen, nur acht Personen wurden am Ende im Grafeneck-Prozess angeklagt.262 An den „Euthanasie“-Verbrechen in Württemberg waren aber deutlich mehr Menschen beteiligt. Einige der Beschuldigten starben vor dem Prozess263, andere waren nach Einmarsch der Alliierten auf der Flucht, viele wurden allerdings nie in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen. Von den württember-gischen Anstaltsleitern saßen nur Martha Fauser und Alfons Stegmann auf der Anklagebank. Dabei waren viele indirekt an den Morden beteiligt. Als Direktoren oder angestellte Ärzte der Heilund Pflegeanstalten sorgten auch andere Mediziner dafür, dass die Meldebogen, die am Anfang der „Aktion“ standen, ausgefüllt, Patienten zu den Transportautos gebracht oder bei unruhigen, sonst transportunfähigen Kranken, Beruhigungsspritzen gegeben

Ebd. Zu Dieterichs unfreiwilliger Ernennung zum Vorsitzenden Richter im Grafeneck-Prozess vgl. auch die Darstellung von Wilhelm Dieterich, Sohn des Oberamtsrichters und selbst Jurist, Dieterich (2002). 259 Schwäbisches Tagblatt, 9.6.1949, Nr. 67. 260 Protokoll des Prozessablaufs, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/01/14. 261 S. Arendes (2012), S. 44. 262 S. Schwäbisches Tagblatt, 19.3.1948, Nr. 22. 263 Eugen Stähle starb Ende 1948 in Untersuchungshaft, der ehemalige Direktor der Anstalt Winnental, Otto Gutekunst, erlag 1948 einem Krebsleiden. S. StAL EL 905 Bü 253. 257 258

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wurden. Dies alles stellten keine Tötungshandlungen im eigentlichen Sinne dar, aber sie waren Teil von Handlungsketten, die mit der Ermordung der Patienten endeten. Wäre die Handlungskette an nur einer Stelle unterbrochen worden, hätte sich der Tötungsprozess zumindest verzögert. In zahlreichen Vernehmungsprotokollen der Anstaltsärzte Württembergs lässt sich ein Eindruck über die Einstellung dieser zur „Euthanasie“ gewinnen. Es zeigen sich aber auch mögliche Handlungsspielräume der Mediziner, die genutzt werden konnten, um den Tötungsablauf zu unterbrechen. Die in den Vernehmungsprotokollen beschriebenen Widerstandshandlungen müssen dabei kritisch betrachtet werden. Bei diesen Quellen handelt es sich nämlich um Aussagen von Zeugen, deren Rolle für den Untersuchungsrichter noch nicht völlig klar war und die selbst noch nicht wissen konnten, ob sie einer Täterschaft verdächtig waren oder ob gegen sie Anklage erhoben werden würde. So waren die Zeugenangaben in vielen Fällen darauf ausgelegt, den Befragten in ein möglichst positives Licht zu rücken. Volker Roelcke wies zu Recht darauf hin, dass zwischen Aussagen nach 1945 und Quellen aus den Jahren bis 1945 unterschieden werden muss.264 Aussagen von an den Verbrechen Beteiligten, die über Mittäter gemacht wurden, sind dabei heute besonders problematisch einzustufen. Immerhin konnte durch die Belastung eines anderen, die eigene Rolle bei Verbrechen heruntergespielt werden. Dass es immer wieder Interessenkonflikte gab, schien dabei unausweichlich. Als Beispiel seien die gemeinsamen Besuche von Max Eyrich und Otto Mauthe in den Heil- und Pflegeanstalten genannt. Diese Visitationen fanden statt, weil einige Anstalten versäumt hatten, die Meldebogen auszufüllen, eine Aufgabe, die dann Otto Mauthe als ärztlicher Berichterstatter des Innenministeriums Stuttgart und Max Eyrich als Landesjugendarzt übernehmen sollten. In ihren Aussagen zu diesen Begutachtungen beschrieben die Ärzte dann ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen. So sagte Otto Mauthe in seiner Vernehmung: Bei der Ausfüllung der Meldebogen hat Dr. Eyrich lediglich die Diagnose gestellt. Ich hatte von Dr. Eyrich den Eindruck, daß er die Euthanasie nicht ablehnte, ich mußte deshalb ihm gegenüber Vorsicht und Zurückhaltung wahren und habe ihm gegenüber meine Absicht der Rettung vieler Kranker nicht klar zum Ausdruck gebracht.265

Eyrich bescheinigte in seiner Befragung Mauthe durchaus den Willen, die Patienten günstig zu bewerten, aber bestritt, die Krankentötungen zu befürworten.266 Außerdem stellte er klar: „Verantwortung, Federführung und die gesamte vorhergehende und weitere Bearbeitung dieser Sache lagen ausschließlich bei Dr. Mauthe, bzw. beim GT.X des IM [Gesundheitsabteilung des Innenministeriums, Anmerkung der Verfasserin].“267 264 265 266 267

S. Roelcke (2013), S. 1064. Aussage Dr. Mauthe, 10.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Aussage Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. Stellungnahme Dr. Eyrich, 8.3.1948, ebd.

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Für eine Analyse der im Grafeneck-Prozess beschuldigten Ärzte und für den Versuch, ein Täterprofil zu erstellen, ist es wichtig, die Handlungsoptionen aufzuzeigen und einzugrenzen. Dabei muss deutlich werden, dass nicht jeder Arzt die gleichen Möglichkeiten hatte, „Widerstand“268 zu leisten. Abhängig von der jeweiligen Position, die er bekleidete, dem Ansehen im nationalsozialistischen Staat oder dem Part, den der Mediziner im Vernichtungsprozess einnahm, ergaben sich dadurch unterschiedliche Handlungsspielräume. Es ist wichtig zu unterscheiden, in welcher Weise die Beteiligten versuchten, die „Euthanasie-Aktion“ als Ganzes abzumildern und wann in konkreten Einzelfällen gehandelt werden konnte. Die Einzelfälle werden in den Kapiteln zu den Ärzten aufgezeigt, soweit sie im Prozess geschildert wurden. Dies müssen allerdings auch nicht immer Fälle des „Widerstandes“ sein, sondern können auch Situationen sein, in denen die Angeklagten der „Euthanasie-Aktion“ zuarbeiteten. Im Folgenden sollen die grundlegenden Handlungsspielräume aufgezeigt werden. Den Beginn der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ stellten die Meldebogen dar, die im Oktober 1939 an die Heil- und Pflegeanstalten geschickt wurden. Einige Anstaltsärzte füllten diese in der Vermutung, dass sie zur Selektion von Patienten dienten, nicht aus. Diese Möglichkeit des Widerstands konnte natürlich nur nutzen, wer den Zweck der Meldebogen zu wissen glaubte bzw. tatsächlich kannte. Viele Anstaltsärzte konnten in ihren „Nachkriegsaussagen“ glaubhaft versichern, dass man über die Bedeutung der Meldebogen zwar diskutierte, aber ihrer Beantwortung doch arglos entgegensah. Dies gaben nicht nur die beiden angeklagten Anstaltsärzte Martha Fauser und Alfons Stegmann an, sondern auch die Verantwortlichen anderer Anstalten. So auch Dr. Weskott, der seit 1925 in der Heilanstalt Weissenau arbeitete: „Der Zweck der im Herbst 1939 von Berlin eingegangenen Meldebogen war uns Ärzten unbekannt.“269 Überliefert ist, dass in der Nervenanstalt Sarepta die Formulare nicht ausgefüllt wurden. Verantwortlich hierfür zeigte sich der Psychiater Karsten Jaspersen270, der wusste, welche Folgen damit verbunden waren.271 Einige württembergische Anstaltsdirektoren wurden im Februar 1940 von Eugen Stähle im Innenministerium Stuttgart über die „Euthanasie-Aktion“ aufgeklärt und zum Schweigen verpflichtet.272 Dabei lässt sich aus den Verhörprotokollen der einzelnen Anstaltsleiter nicht genau schließen, was Stähle

268 Der Begriff „Widerstand“ bleibt dabei kritisch zu betrachten. Detlef Naeve argumentierte in seiner Dissertation im Sinne Martin Broszats, dass bei einer Begrenzung und Eindämmung der nazistischen Verbrechen nicht von Widerstand, sondern von Resistenz gesprochen werden sollte. S. Naeve (1998), S. 134 f. Vgl. auch Broszat (1981), S. 693–698. In dieser Arbeit wird als Widerstand jedes Verhalten bezeichnet, das sich gegen die „Aktion“ richtete. 269 Aussage Dr. Weskott, 12.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/05. 270 S. Thierfelder (1990), S. 229–239. 271 S. Roelcke (2013), S. 1064 u. Plezko (2011), S. 67. 272 Dr. Weskott erinnerte sich in seiner Aussage vor dem Amtsgericht Münsingen am 12.2.1948 an Dr. Götz aus Schussenried, Dr. Joos aus Weinsberg und Dr. Stegmann aus Zwiefalten. S. StAS Wü 29/3 T1 Nr. 1756/03/05.

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den Ärzten mitgeteilt hatte. Einige erklärten, dass sie anfangs überzeugt gewesen seien, dass in einer weiteren Anstalt erst die Selektion der Kranken stattfinden würde und dass es deswegen nicht verwunderlich erschienen sei, dass auch „leichte Fälle“ abgeholt wurden.273 Später konnten diese „leichten Fälle“ und arbeitsfähige Kranke zurückbehalten werden, was die Ärzte der Anstalten dazu veranlasste, die Arbeitsfähigkeit der Patienten möglichst hoch zu bewerten. Entlassungen der Kranken, deren Namen auf der Liste standen oder Benachrichtigung der Angehörigen, lagen im Rahmen der Möglichkeit dessen, was die Ärzte hätten tun können. Der Chefarzt der Heilanstalt Rottenmünster, Dr. Wrede, entwickelte laut seinen Aussagen ein eigenes System, Kranke zu retten. Als Vorsprachen bei Stähle im Innenministerium keinen Erfolg brachten, habe er gemeinsam mit den Angestellten seiner Anstalt, eigene Abwehrmaßnahmen besprochen. Wrede habe mit kirchlichen Stellen gesprochen, um von dort einen allgemeinen Protest gegen die Krankentötungen auszulösen.274 Außerdem hätten die Mediziner in Rottenmünster versucht, alle Staatspfleglinge zu Privatpfleglingen zu machen, da sie hinter der „Aktion“ wirtschaftliche Erwägungen vermuteten.275 Laut Wredes Eingaben seien auch Krankenakten gefälscht, Diagnosen verändert und Patienten zu „Pensionären“ gemacht worden, die damit nicht vom Innenministerium erfasst werden konnten. Darüber hinaus hätten die Rottenmünster Ärzte Patienten entlassen, Familienmitglieder gebeten, diese abzuholen oder versucht, sie irgendwo auf dem Land unterzubringen.276 Wrede habe auch versucht, einflussreiche Personen auf die „Aktion“ aufmerksam zu machen. So sei eine Baronin als Patientin in der Anstalt Rottenmünster untergebracht gewesen, deren Mutter einen Generaloberst gekannt habe und mit diesem über die Verbrechen in Württemberg sprechen wollte.277 Von einem Rücktritt seiner Position, wie es viele Ärzte nach Konfrontation mit der „Euthanasie-Aktion“ in Erwägung zogen, habe sich Wrede nichts versprochen: „Weder Opposition noch pasiver [sic!] Widerstand, noch Rücktritt der Aerzte – theoretisch alle drei gut ausnehmend – sondern nur Taktik einem so verlogenem Staate gegenüber konnte mit einem grösstmöglichsten Erfolg rechnen.“278 Andere Ärzte sahen im Rücktritt oder der eigenen Pensionierung die letzte Möglichkeit des Widerstands. So beschrieb Anna Plezko in ihrer Dissertation die Versuche Hans Roemers, die Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Illenau vor der Deportation in die Vernichtungsanstalten zu bewahren.279 Roemer, seit 1929 Leiter in Illenau, habe lange versucht, die „Aktion“ zu unterbinden.280 Er sprach mit dem zuständigen Mediziner im badischen 273 274 275 276 277 278 279 280

Ebd. Aussage Dr. Wrede, 10.12.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/01/07. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Plezko (2011). Roemers Widerstandshandlungen beschrieb Anna Plezko in ihrer Dissertation. S. Plezko (2011), S. 54–63.

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Innenministerium, Dr. Sprauer, sowie dem ihm durch seine Arbeit für den Deutschen Ausschuss für psychische Hygiene bekannten und sehr einflussreichen Prof. Rüdin. Diese Gespräche blieben jedoch erfolglos. Außerdem suchte Roemer den Kontakt zu Paul Nitsche. Er hatte die Hoffnung, dass dieser Gegenmaßnahmen einleiten würde, ohne zu wissen, dass Nitsche zu den Organisatoren der „Euthanasie“ gehörte. Auch dieser Versuch scheiterte. Vor seiner Pensionierung im Oktober 1940 hatte er einen letzten Vorstoß bei Herbert Linden gewagt, der allerdings nichts bewirkt hatte.281 Hans Roemer standen durch seine Position und seine Bekanntschaft mit einflussreichen Psychiatern natürlich mehrere Möglichkeiten offen, Widerstand zu leisten. Doch auch einfache Anstaltsärzte hätten sich an die zuständigen Mediziner im Innenministerium in Stuttgart wenden und Einspruch geltend machen können. In den folgenden Kapiteln sollen nun die vier angeklagten Ärzte vorgestellt und ihre Mitarbeit an der nationalsozialistischen „Euthanasie“ erörtert werden. 4.1

Dr. Alfons Stegmann

4.1.1

Alfons Stegmann und die „Euthanasie“

Im Juni 1940 besuchte Dr. Alfons Stegmann die Heilanstalt Winnental. Dort hatte der junge Arzt, Jahrgang 1908, von 1935 bis 1939 erst als Assistenzarzt, später dann als Medizinalrat gearbeitet. Im Herbst 1939 hatte die Anstalt bereits Meldebogen erhalten, deren Zweck niemand kannte. Im November desselben Jahres war ein Erlass gefolgt, der Verlegungen von Patienten angekündigt hatte. Zu diesem Zeitpunkt war Stegmann allerdings schon zur Wehrmacht eingezogen worden. Die Heilanstalt leitete seit 1935 Dr. Otto Gutekunst, mit dem sich Stegmann Gerüchten zufolge nicht immer gut verstanden hatte. Dazu äußerte sich Otto Mauthe, der als Mitarbeiter des Innenministeriums über die Personalverhältnisse der württembergischen Anstalten informiert war: „Dr. Stegmann mußte zu Beginn des Krieges aus Winnental mehr oder weniger strafversetzt werden. Die Gründe waren charakterlicher und moralischer Art, Dr. Gutekunst hat ihn abgelehnt.“282 Nach Erhalt der Verlegungslisten hatte Direktor Gutekunst Vermutungen über den Zweck der geplanten Deportationen angestellt, ohne Sicherheit zu haben: „Ich nahm etwaige Verlegungen aus kriegsbedingten Gründen, Freimachung für Lazarettzwecke oder dergl. an […].“283 Im Februar 1940 hatte er dann Gewissheit erhalten. Eugen Stähle hatte ihn nach Stuttgart zitiert und ihm eröffnet, dass auf Befehl des Führers unheilbar Kranke ermordet werden sollten. „Er wies mich darauf hin, daß es sich um ein strengstes Staatsgeheimnis handele, über 281 282 283

Ebd., S. 60 f. Aussage Dr. Mauthe, 19.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Aussage Dr. Gutekunst, 23.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/02.

Dr. Alfons Stegmann

das nicht gesprochen werden dürfte, andernfalls handele es sich um Hochverrat“284, so Gutekunst in seiner Vernehmung. Nach der offiziellen Einweihung des Direktors waren die ersten Transporte erfolgt. Patienten waren abgeholt und ermordet worden. Und auch am Tag des Besuchs des ehemaligen Anstaltsarztes Stegmann war wieder ein Transport angekündigt. Der junge Arzt selbst, nun Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten, reiste mit einem der Transportautos an. Warum Stegmann seine ehemalige Arbeitsstelle besuchte, blieb unklar. Dr. Gutekunst erklärte in seiner Vernehmung: „Dr. Stegmann […] hat erklärt, er sei im Auftrag des Ministeriums da, um mich zu kontrollieren, ob ich sozial höher gestellte Kranke von den befohlenen Verlegungen zurückhalte.“285 Auch andere in Winnental Angestellte verstanden nicht, welchen Zweck der Besuch des ehemaligen Kollegen hatte. So gab der Anstaltsarzt Dr. Barlen an: „Ob Dr. Stegmann damals die Verlegungen der Kranken kontrolliert hat, weiß ich nicht. Sein Benehmen war damals zumindesten taktlos, er rauchte Zigaretten, machte ironische Bemerkungen, während die Pflegerinnen teilweise heulten.“286 Als eine Patientin in eines der Transportautos gebracht wurde, soll Stegmann zum Transportpersonal gesagt haben: „Das ist meine Braut, die jetzt einsteigt.“287 Auch Alfons Stegmann wurde in seiner Vernehmung zu diesem Vorfall befragt. Er bestritt, einen Auftrag zur Kontrolltätigkeit bekommen zu haben: „Ich hatte damals anlässlich der Abholung von Patienten aus Zwiefalten von den Transportleuten erfahren, daß sie nächster Tage nach Winnental fahren würden. Ich habe gebeten, mitfahren zu dürfen, um dort Kirschen zu kaufen.“288 Stegmann hatte keine Bedenken, in einem der grauen Omnibusse mitzufahren, um Erledigungen zu machen, keine Berührungsängste, eine Patientin, die zur Tötung bestimmt war, zu beleidigen. Er hatte auch keine Angst, eine Kontrolltätigkeit vorzuschützen. Die Tatsache, in welch belastender Situation er Patienten antraf und welche zweifelhafte Rolle er bei seinem kurzen Besuch einnahm, schien ihm gleichgültig. Während andere an den „Euthanasie“-Verbrechen Beteiligte durchaus von den seelischen Qualen erzählten, die sie während der Krankenmorde ertragen mussten, schien Stegmann die „Aktion“ kalt zu lassen. Diese Kälte unterschied den jüngsten der im Prozess angeklagten Ärzte von den anderen Beschuldigten. Und doch ist diese Gleichgültigkeit der „Euthanasie“-Täter kein unbekanntes Phänomen. Auch andere an Krankenmorden Beteiligte zeigten oft keine Skrupel. So wurde das Personal der Vernichtungsanstalt Hartheim zweimal pro Monat mit einem der Transportbusse zu Ausflugsfahrten mitgenommen, „die dem Vergnügen und der Entspannung dienen sollten“289.

284 285 286 287 288 289

Ebd. Ebd. Aussage Dr. Barlen, 29.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/01/06. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Aussage Dr. Stegmann, 4.8.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/04. S. Horsinga-Renno (2008), S. 100.

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Die Episode aus Winnental, die Stegmann zumindest als skrupellos zeigte, ist nur eine von wenigen, in denen seine Beteiligung an der „Euthanasie“ und seine Einstellung zum Krankenmord gezeigt werden können. Momente, in denen Stegmann aktiv in einen Teilschritt des Massenmords eingriff, um Patienten zu helfen, blieben selten. Als Anstaltsleiter sorgte er für einen reibungslosen Ablauf der Tötungen und so konnte er auch im Prozess kaum Beweise für Widerstandshandlungen aufbringen. Auch auf andere Prozessteilnehmer machte der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 41-Jährige keinen guten Eindruck. So schrieb ein Journalist: „Was in Grafeneck vorging, war ihm genau bekannt. Es berührte ihn persönlich nicht sonderlich, nachdem man in Stuttgart erklärt hatte, die Aktion sei gesetzlich. […] Auf dem Hof der Anstalt wurden die Kleider der in Grafeneck vergasten Opfer aufgestapelt.“290 Stegmann reihte sich fast lückenlos ein in die Reihe jener von den Nationalsozialisten „privilegierten Tötungsärzte“291, die kein Schuldbewusstsein bei der Ermordung von Patienten zeigen durften. Den Gashahn auf Grafeneck bediente Stegmann freilich nicht, obwohl er Interesse an der Tätigkeit gezeigt haben soll. So gab Otto Mauthe in seiner Vernehmung an: Ich habe durch Dr. Baumhardt [sic!], der sich übrigens abfällig über Dr. Stegmann äußerte, und vielleicht auch durch Amtmann Metzger erfahren, daß er öfters in Grafeneck gewesen sein soll. Dr. Baumhardt sagte mir auch, daß er Versuche gemacht habe, in einer Vernichtungsanstalt verwendet zu werden.292

Stegmann selbst bestritt später, jemals das Bestreben gehabt zu haben, in einer Tötungsanstalt zu arbeiten: „Ich habe das nicht getan, ich habe lediglich einmal einen Grafenecker Arzt gefragt, was er verdiene. Seine Antwort ist mir nicht mehr in Erinnerung, aber meine Erwiderung, die dahin ging, daß er ein bedeutend höheres Gehalt bekomme als ich.“293 Dennoch passte Alfons Stegmann ins Profil jener Mediziner, die die direkte Verantwortung für die Tötung der Patienten hatten, die den Gashahn aufdrehten. Blickt man auf die Biographien dieser Männer scheint auffällig, dass vor allem sehr junge Ärzte für diese Aufgabe bestimmt wurden. Sie gehörten fast alle der sogenannten „Kriegsjugendgeneration“ an. Von vierzehn der in Vernichtungsanstalten tätigen Ärzte gehörten dreizehn zum Jahrgang jünger als 1900, nur einer war deutlich älter.294 Michael Wildt stellte in seiner Studie zu den führenden Persönlichkeiten des

Schwäbische Zeitung, 15.6.1949. Dass die Tötungsärzte ihre Stellung als „privilegiert“ empfanden, beschrieb Horsinga-Renno. S. Horsinga-Renno (2008), S. 46. 292 Aussage Dr. Mauthe, 19.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. 293 Aussage Dr. Stegmann, 4.8.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/04. 294 Die Ärzte der Vernichtungsanstalten: In Grafeneck: Horst Schumann (1906–1983), Ernst Baumhard (1911–1943), Günther Hennecke (1912–1943), in Brandenburg: Irmfried Eberl (1910–1948), Aquilin Ullrich (1914–2001), Heinrich Bunke (1914–2001), in Hadamar: Ernst Baumhard, Günther Hennecke, Friedrich Berner (1904–1945), Curt Schmalenbach (1910–1944), Adolf Wahlmann (1876–1956), Hans Bodo Gorgaß (1909–1993), in Sonnenstein: Horst Schumann, Curt Schmalenbach, Klaus Endruweit (1913–1994), Kurt 290 291

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Reichssicherheitshauptamts fest, dass mehr als drei Viertel der „Kriegsjugendgeneration“ entstammten und dass diese generationelle Prägung, neben anderen, eine Erklärung für die Beteiligung an den Verbrechen darstellte. Nicht nur die Erfahrung der Kriegszeit, sondern mindestens ebenso die unmittelbaren, entbehrungsreichen wie politisch instabilen Nachkriegsjahre und besonders das Erlebnis des politisch wie wirtschaftlich desaströsen Inflationsjahrs 1923, in dem die bürgerliche Welt gewissermaßen auf den Kopf gestellt wurde, haben die Kriegsjugendgeneration geprägt295,

so Wildt. Auch Alfons Stegmann war Teil der Generation derer, die zwar nicht aktiv am Ersten Weltkrieg teilgenommen, ihn aber dennoch an der Heimatfront miterlebt hatten. Die verpasste Bewährung im Ersten Weltkrieg war der diese Altersgruppe prägende Dorn, der die „Unbedingtheit“ der späteren Taten beeinflusste. Der Einsatz fürs Vaterland, der im Ersten Weltkrieg versäumt wurde, sollte später nachgeholt werden. In gewisser Weise traf diese Haltung auch auf den Mediziner Stegmann zu, der mit seinem Interesse an der Tätigkeit des Tötungsarztes seinen Drang zeigte, aktiv zu werden, ein „Macher“ zu sein. Alfons Stegmann wurde am 16. Mai 1908 in Granheim, Kreis Ehingen, Württemberg, geboren. Sein Vater Josef arbeitete als Oberlehrer. Stegmann, katholisch getauft, besuchte die Volksschule und wechselte im Alter von elf Jahren aufs Gymnasium in Ehingen. 1928 machte er sein Abitur. Im April 1928 begann Stegmann ein Studium der Humanmedizin an der Universität in Tübingen. Dort blieb er für ein Jahr und wechselte dann an die Universität in Heidelberg.296 Mit seiner universitären Ausbildung teilte Stegmann eine weitere Gemeinsamkeit mit den Tätern des Reichssicherheitshauptamts. Auch sie hatten größtenteils ein Hochschulstudium absolviert. Zwar reicht die Zugehörigkeit zu einer Generation bei weitem nicht aus, einen Menschen zu einem nationalsozialistischen Verbrecher oder zu einem Tötungsarzt zu prädestinieren. Aber sie gibt einen Eindruck von der Weltanschauung und Mentalität, die bei der Alterskohorte von gut ausgebildeten jungen Männern vorherrschte, zu der auch die Tötungsärzte und Alfons Stegmann gehörten. Die Überlegungen Michael Wildts können zwar nicht verallgemeinert werden, vor allem können die Verbrechen des Führungskorps des Reichssicherheitshauptamts nicht mit den „Euthanasie“Tötungen gleichgesetzt werden, doch zeigen sie den Einfluss, den die generationelle Prägung haben kann:

Borm (1909–2001), in Hartheim: Rudolf Lonauer (1907–1945), Georg Renno (1907–1997), in Bernburg: Irmfried Eberl, Heinrich Bunke. S. Klee (2011). 295 S. Wildt (2002), S. 25. 296 Lebenslauf von Alfons Stegmann vom 18.7.1937, UAH H-III-862/76 fol. 344.

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Wer, zwischen 1900 und 1910 geboren, die Stabilität des Kaiserreichs höchstens als Kindheitserfahrung, dagegen Krieg, Revolution, Nachkriegswirren und Hyperinflation des Jahres 1923 als entscheidende Prägungen erlebt hatte, der war schwerlich von der Zukunftsfähigkeit einer bürgerlichen Zivilgesellschaft zu überzeugen.297

Dabei entwickelte Alfons Stegmann nicht das von Wildt propagierte Führerdenken und die Radikalität der Führungselite des Reichssicherheitshauptamts. Und doch lassen sich einige der diese „Weltanschauungselite“ prägenden Begriffe wie „Tat“ und „Entschiedenheit“ auch auf Stegmann übertragen. Er war Teil dieser zielstrebigen Generation, die „Zögern, Skrupel oder moralische Bedenken“298 nicht kannte. Zukunft hieß für die Kriegsjugendgeneration, die bis dahin nur Instabilität, Diskontinuität und Zusammenbruch erlebt hatte, vor allem radikale Kritik am bürgerlichen Mummenschanz, an den hohlen Versprechungen liberaler Politiker, hieß Mißtrauen in die Steuerungsmedien bürgerlicher Gesellschaft, wie parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung und durch Gesetz verbürgertes Recht299,

so Wildt. Und so faszinierten Stegmann wahrscheinlich die Grafenecker Tötungsärzte, die handeln konnten, viel Geld verdienten und nicht dazu verdammt waren, den Geschehnissen tatenlos zuzuschauen. Denn Stegmanns Handeln beschränkte sich darauf, in einigen wenigen Fällen Kranke zurückzuhalten, die er dafür benötigte, die Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten wirtschaftlich am Laufen zu halten. Auch weitere Parallelen lassen sich zwischen dem Anstaltsarzt Stegmann und den Tötungsärzten der Vernichtungsanstalten ziehen. Neun der Tötungsärzte traten spätestens bis 1933 der NSDAP bei, vier bis 1937. Stegmann selbst wurde 1930 Mitglied. Da er allerdings versäumte, den Mitgliedsbeitrag zu bezahlen, wurde er wieder ausgeschlossen. 1938 erfolgte der erneute Beitritt.300 Die Gründe seiner Mitgliedschaft schilderte er in seinem politischen Säuberungsverfahren 1950, zwanzig Jahre nachdem er sich voller Tatendrang der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen hatte: „Mich führte die idealistische Begeisterung dazu.“301 Er schloss sich 1930 auch dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) an302, der an den Hochschulen an Einfluss gewann.303 In Heidelberg, wo Stegmann neben Studienaufenthalten in Dorpat (Estland) und Wien den größten Teil seines Studiums absolvierte, erreichten die Nationalsozialisten im Sommersemester 1930 bereits 40 Prozent der Sitze im Studen-

297 298 299 300 301 302 303

Wildt (2002), S. 138. Ebd., S. 142. Ebd., S. 850. Spruchkammerakte Dr. Stegmann, StAS Wü 13 T 2 Nr. 2679/154. Spruchkammerakte Dr. Stegmann, StAS Wü 13 T 2 Nr. 1413/016. Lebenslauf Dr. Stegmann vom 18.7.1937, UAH H-III-862/76 fol. 344. Zur Rolle des NSDStB s. auch Wildt (2002), S. 85–89.

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tenparlament.304 Der Mediziner war wahrscheinlich bloß ein einfaches Mitglied des NSDStB ohne aktiv Aufgaben zu übernehmen, dennoch herrschte bereits während seiner Studienzeit an den Universitäten ein antisemitisch und militantes Klima, das auch den unbeteiligten Studenten nicht entgehen konnte. Die Anziehungskraft des NSDStB auf die Studierenden […] erklärt sich aus einem umfangreichen Syndrom von Motiven; zu ihnen zählten vor allem das vielen Intellektuellen und Akademikern der Weimarer Republik gemeinsame nationale Unbefriedigtsein, die Ablehnung der Demokratie, die Attraktivität der Parolen von „Volksgemeinschaft“ und nationalem Sozialismus, die Überfüllungskrise für nahezu alle akademischen Berufe und die daraus resultierende Konkurrenzangst, aus der sich neben dem Motiv der nationalen Emotion der studentische Antisemitismus speiste, die Suche nach dem Rettungsweg aus der allgemeinen Misere der Weltwirtschaftskrise und aus dem versagenden parlamentarischen System305,

so der Historiker Eike Wolgast. Stegmann schloss sein Studium im Dezember 1933 mit der Note „gut“ ab, erlebte also gerade noch den Wechsel an der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik, die mit Carl Schneider306 einen neuen Leiter bekam, der auch die studentische Ausbildung veränderte. Bis zum Sommersemester 1933 wurde im Fach Psychiatrie über unterschiedliche und weit gefächerte Themengebiete gelehrt, ab 1934 konzentrierten sich die Dozenten in ihren Vorlesungen auf die Eugenik, Themengebiete wie „Volk“ und „Rasse“ und „Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“.307 Stegmann erfuhr also als Student von der Umgestaltung der Lehre hin zu erbbiologischen, völkischen Themen nur noch am Rande. Sicher hatte er aber noch die Vertreibung der jüdischen Dozenten und die Entlassung des ehemaligen Leiters der psychiatrisch-neurologischen Klinik Karl Wilmanns miterlebt.308 Nach seinem Staatsexamen durchlief Stegmann im Rahmen seines Praktischen Jahres verschiedene Stationen in unterschiedlichen Kliniken. Ein halbes Jahr arbeitete der junge Mediziner in der orthopädischen Klinik in Heidelberg-Schlierbach, im August 1934 war er an der Medizinischen Klinik in Heidelberg angestellt, von September bis Dezember 1934 arbeitete er in der Inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses in Pforzheim.309 Im Januar 1935 erhielt Stegmann im Auftrag von Dr. Sprauer, dem höchsten Medizinalbeamten Badens, seine Approbationsurkunde.310 Im Februar 1935 begann er als Assistenzarzt der Heilanstalt Winnental zu arbeiten. Ende 1935 heiratete Alfons Stegmann die Apothekerassistentin Gisela Wolff, im Juni 1937 wurde das erste gemeinsame 304 305 306 307 308 309 310

Zahlen übernommen von Faust (1973), Bd. 1, S. 103, zitiert nach Wildt (2002), S. 86 f. Wolgast (2006), S. 59. Zu Carl Schneider, s. auch Rotzoll, Hohendorf (2006). Ebd., S. 916. Ebd., S. 911 ff. Aus dem Lebenslauf von Dr. Stegmann, 18.7.1937, UAH H-III-862/76 fol. 344. Ebd., fol. 345.

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Kind geboren.311 Im Juli 1937 bewarb sich der Assistenzarzt um seine Zulassung zur Promotionsprüfung. Im dafür verfassten Lebenslauf versicherte er, dass er und seine Ehefrau „arisch abstämmig [seien]“312. Seine Dissertation mit dem Titel „Disposition und Belastung zur Progressiven Paralyse“313 begutachtete im Juli 1937 Prof. Dr. Schneider, die dieser mit dem „Prädikat sehr gut“314 bewertete. Die Promotionsprüfung legte Stegmann im September 1937 im Hauptfach Psychiatrie, Nebenfächer Frauenheilkunde und Innere Medizin ab. Er erhielt als Gesamtnote ein „sehr gut“.315 Auf Anfrage eines Kollegen erfolgte sein Beitritt in das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK). Dort war er vor allem ärztlich tätig und erreichte den Rang eines Sanitäts-Obertruppenführers. Er war nominelles Mitglied des Reichsbundes der Deutschen Beamten (RDB), der NSV, des NS-Ärztebundes, des Reichskolonialbundes, des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland (VDA) und des DRK. 1937 erfolgte Stegmanns Austritt aus der katholischen Kirche.316 Schon ein paar Jahre vor Beginn der Krankenmorde beteiligte sich der junge Assistenzarzt an der Umsetzung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik. Die Tatsache, dass die Anstalt Winnental zur Landeszentrale für die erbbiologische Bestandsaufnahme317 wurde, mit Otto Gutekunst als Obmann, der mit der Durchführung der erbbiologischen Maßnahmen an den Geisteskranken Württembergs betraut war318, und Stegmann als Leiter der erbbiologischen Arbeiten319, wurde von beiden in Aussagen der Nachkriegszeit nie erwähnt. Der junge Arzt sollte in Zusammenarbeit mit den Gesundheitsämtern alle Personen erfassen, auf die „das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ Anwendung finden könnte. Seine Tätigkeit begann im März 1938 und beinhaltete auch Hausbesuche bei Patienten. Ziel war es, alle ab dem 1. Januar 1939 neu aufgenommenen Patienten innerhalb von fünf Jahren zu erfassen. Die Ärzte fragten die Patienten nach ihrer Religion, Rasse, Erkrankung, Arbeitsfähigkeit und begangenen Straftaten. Außerdem erstellten sie eine detaillierte Sippentafel zur Erfassung erbkranker Angehöriger.320 Stegmann sei den Patienten gutgesinnt gewesen.321 Schon Ebd. Ebd. Stegmann (1938). S. Schreiben von Prof. Schneider, Direktor der psychiatrisch-neurologischen Klinik vom 23.7.1937, UAH H-III-862/76 fol. 343. 315 Ebd., fol. 342. 316 Spruchkammerakte Dr. Stegmann, StAS Wü 13 T 2 Nr. 2679/154. 317 Schon vor 1935 hatten sich Psychiater mit dem Thema der erbbiologischen Bestandsaufnahme beschäftigt, 1936 sollten dann offiziell in jedem Land Zentralen für die erbbiologische Bestandsaufnahme gebildet werden, welche die psychisch kranken Patienten der staatlichen und privaten Anstalten erfassen sollten. Es wurden Karteikarten erstellt, in denen mit Stammbäumen ganze Familien abgebildet werden konnten. Das Projekt hatte zum Ziel, das ganze deutsche Volk zu registrieren. S. Mamali (2011), S. 210. 318 S. Poitrot (1945), S. 19. 319 S. Eitel Müller (2009), S. 178. 320 Ebd., S. 179. 321 Ebd. 311 312 313 314

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in seiner Dissertation von 1937 hatte Stegmann eine Art erbbiologische Forschung zur progressiven Paralyse betrieben. Er diskutierte in seiner Arbeit die sich widerstreitenden Annahmen über die Entstehung der Progressiven Paralyse aus endogenen oder exogenen Ursachen und erklärte dazu: „So wird man doch wieder dazu geführt, die Frage der Paralysedisposition auf dem Wege erbbiologischer Untersuchungen aufzugreifen.“322 Für seine Studie hatte Stegmann alle seit 1900 in die Anstalt Winnental aufgenommenen Patienten untersucht, die an Progressiver Paralyse erkrankt waren. Er hatte dazu nicht nur die Krankengeschichten und Belege der Anstalt verwendet, sondern auch die dortige erbbiologische Kartei. Diese Kartei erfasste alle Patienten, die in den letzten 100 Jahren in eine psychiatrische Anstalt des Landes aufgenommen wurden. Er hatte angenommen, dass er sich gerade durch die Verwendung der Kartei „ein sichereres Urteil“323 bilden konnte, um den Einfluss der erblichen Belastung auf die Entwicklung einer Progressiven Paralyse feststellen zu können. In seiner Arbeit konstatierte er, dass 88,3  Prozent der männlichen und 92,1  Prozent der weiblichen Patienten, die an einer Progressiven Paralyse litten, erblich belastet waren.324 Stegmann betonte die Vorteile einer erbbiologischen Kartei für das gesamte Reich, denn dadurch könnten „die immer wieder auftretenden Schwierigkeiten bis auf ein Mindestmaß reduziert werden“325. Stegmann wurde im August 1939 zum Medizinalrat ernannt und sollte nach Zwiefalten versetzt werden, um dort die Stelle des stellvertretenden Direktors anzunehmen. Bei seiner Versetzung spielte sicher eine gewisse Parteitreue eine Rolle, zumindest wurden nicht-ärztliche Stellen nur nach Weisung der NSDAP-Kreisleitung und der Deutschen Arbeitsfront Münsingen besetzt.326. Da einige Angehörige der NSDAP-Ortsgruppe in der Anstalt Zwiefalten arbeiteten, allen voran der Ortsgruppenleiter Eugen Balle, wurde von der Partei vor Ort Druck ausgeübt.327 Kurze Zeit nach seiner Ernennung wurde der junge Mediziner zur Wehrmacht eingezogen. Er arbeitete im Reservelazarett Winnental, bis er im November desselben Jahres aufgrund einer Körperbehinderung entlassen wurde. Stegmann trat dann im November 1939 den Posten als Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten an. Eugen Stähle erklärte hierzu: „Es war mir nicht bekannt, daß es in Winnental Schwierigkeiten mit ihm gegeben hätte. Seine Ver-

S. Stegmann (1938), S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 13 u. 15. Ebd., S. 13. Mit den „Schwierigkeiten“ beschrieb Stegmann das Problem, dass die erbbiologischen Karteien bisher nur Patienten eines Landes erfassten. Einige Kranke ließen sich allerdings über Landesgrenzen hinaus behandeln und konnten deswegen nicht registriert werden. Diese Patienten, die der Erfassung entwichen, verfälschten Stegmanns Zahlen. Seine Ergebnisse zur erblichen Belastung bei Progressiver Paralyse stellten für den Arzt dann auch nur ein „Mindestmaß“ dar – die wahren Prozentzahlen zur erblichen Belastung schätzte Stegmann deutlich höher ein. 326 S. Rüdenburg (1996), S. 37. 327 S. Pretsch (1996), S. 95. 322 323 324 325

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setzung nach Zwiefalten hing wohl mit seiner Ernennung zusammen. Da sie schon im August 1939 erfolgt ist, ist ein Zusammenhang mit der Euthanasieaktion sicher nicht gegeben.“328 In den Stellenakten der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten wurde vermerkt, dass die Versetzung aus „dienstlichen Gründen“329 erfolgte. Der frisch zum Medizinalrat ernannte Arzt übernahm dann im November faktisch die Leitung der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten, ohne im Bilde darüber zu sein, dass er bald die Tötung von Patienten abzuwickeln haben würde. Stegmann war zum Zeitpunkt der Übernahme der Leitung in Zwiefalten 31 Jahre alt und verpasste den Eingang der berüchtigten Meldebogen durch seinen kurzen Militäreinsatz in Winnental. Ausgefüllt wurden die Meldebogen von den damals anwesenden Anstaltsärzten, Stegmann unterschrieb sie dann in seiner Funktion als Anstaltsleiter.330 Es folgte der Runderlass aus dem württembergischen Innenministerium, der die Verlegung von Patienten ankündigte.331 Der Mediziner erinnerte sich bei der Aussage vor dem Untersuchungsrichter daran, dass Stähle ihm auch mündlich von den Krankentransporten erzählt hatte, die nach Zwiefalten kommen würden und um die er sich kümmern sollte: „Er sagte mir nicht wohin die Leute kommen würden.“332 Einige Wochen später, im Februar 1940, ließ Eugen Stähle Alfons Stegmann ins Innenministerium nach Stuttgart kommen. Dort wurde er in die „Aktion“ eingeweiht und unterschrieb, wie andere Anstaltsleiter, eine Geheimhaltungsklausel. Dies lässt sich jedenfalls den Aussagen einiger Direktoren entnehmen. Stegmann brachte in der Voruntersuchung zu seiner Verteidigung hervor, dass Stähle ihm nicht gesagt habe, dass die Patienten zum Zwecke der Ermordung aus Zwiefalten verlegt würden.333 Er will lange darüber im Unklaren geblieben sein, welchem Ziel die Deportationen dienten: „Ich habe in dieser Zeit noch nicht angenommen, daß die Kranken in Grafeneck getötet werden würden.“334 Laut Aussagen der Direktionsassistentin Lydia Geiselbrecht verbot Stegmann ihr, über die Transporte zu sprechen. Er gab ihr die Transportlisten und bat sie, die entsprechenden Krankenakten zu besorgen. Die Direktionsassistentin war bei einem Transport mit weiblichen Kranken im August 1940 anwesend und wunderte sich über die arbeitsfähigen Patientinnen, die mit auf der Liste standen. Geiselbrecht habe Stegmann darauf hingewiesen, dieser habe geantwortet: „[…] Wo die hinkommen, braucht man auch arbeitende Kranke.“335 Er versuchte nicht, Patientinnen von der Liste zu streichen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt wusste, was mit

Aussage Dr. Stähle, 10.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/17. Stellenakten Zwiefalten, Schreiben des württembergischen Innenministeriums an die Heilanstalt Zwiefalten, 28.8.1939, StAS Wü 42 T 94 Nr. 465. 330 Aussage Lydia Geiselbrecht, 3.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. 331 Erlass des württembergischen Innenministeriums, 23.11.1939, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/02/04. 332 Aussage Dr. Stegmann, 3.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/04. 333 Ebd. 334 Ebd. 335 Aussage Lydia Geiselbrecht, 3.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. 328 329

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ihnen geschehen würde. Stegmann selbst gab vor Gericht an, dass diese Aussage nicht von ihm gemacht worden sei, sondern vom Transportleiter und dieser auf die Mitnahme aller Patientinnen bestanden habe.336 Mit dem Transportpersonal verstand sich Stegmann gut. Er traf mehrmals mit Angestellten aus Grafeneck im Gestütsgasthof Marbach zusammen. Dort betrank sich das Personal der Tötungsanstalt häufiger. Die Wirtin Pauline Eisenschmid beschrieb in ihrer Vernehmung die Besuche: „Ganz im Anfang war der Umgang mit dem Personal noch tragbar, mit der Zeit hat es aber ausgeartet, sie hat der Teufel Alkohol geritten, sie bekamen offenbar auf Grafeneck erheblich zu trinken.“337 Auch auf einen Kameradschaftsabend auf das Schloss lud man den Mediziner im Juni 1940 ein. Dort erhielt er eine Besichtigung der Baracken und des Vergasungsraums. Danach wurde Bier getrunken.338 „Spätestens von meinem Besuch in Grafeneck her war ich im Bilde, was vor sich ging“339, so Stegmann bei seiner Vernehmung. Doch kann davon ausgegangen werden, dass er sein Unwissen als eine Verteidigungsstrategie benutzte. Der Mediziner selbst stellte auch einmal eine Transportliste zusammen. Im Gegensatz zum sonstigen Ablauf erhielt er für einen Transport nur die Fotokopien von Meldebogen von einer Anzahl von Patienten. Dazu gab Stegmann vor Gericht an: „Ich habe diese Fotokopien so behandelt wie die Transportliste und ließ von dem Frl. Geißelbrecht anhand der Kopien eine Liste aufstellen über diejenigen Kranken, die in Wirklichkeit abgegeben wurden.“340 Der Mediziner arbeitete also effizient als Teil der Vernichtungsmaschinerie ohne sich zu weigern, Patienten, die nicht auf einer Transportliste standen, herauszugeben. Am 1. September 1940 verlor Stegmann seinen Direktorenposten, da sein Verhältnis mit der Frau des zum Wehrdienst eingezogenen Bürgermeisters von Zwiefalten publik wurde. Der Bürgermeister war Kreispropagandaleiter und stand in Beziehungen zum Kreisleiter. „Aus diesem Grund hat die Partei den Fall entgegen ihrer sonstigen Übung offenbar aufgegriffen“341, so der Wirtschaftsverwalter der Anstalt Zwiefalten. Der junge Mediziner beantragte seine Entlassung aus dem Dienst selbst, da er um die Einleitung eines förmlichen Dienstverfahrens besorgt war.342 Im März 1941 teilte das Innenministerium Württemberg Stegmann mit, dass er künftig weder die Bezeichnung „Medizinalrat“ noch „Medizinalrat a. D.“ führen durfte.343 Das Wehrbezirkskommando in Sigmaringen forderte die Abstammungsurkunde von Stegmann und seiner Frau.344

Aussage Dr. Stegmann, 6.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/04. Aussage Pauline Eisenschmid, 22.9.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1758/02/03. Aussage Dr. Stegmann, 3.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/04. Ebd. Aussage Dr. Stegmann, 6.2.1948, ebd. Aussage Heinrich Metzger, 2.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. Schreiben des württembergischen Innenministers an den Reichsstatthalter in Württemberg, 22.11.1940, StAS Wü 42 T 94, Nr. 465. 343 Schreiben des württembergischen Innenministeriums an Dr. Stegmann, 6.3.1941, ebd. 344 Ebd. 336 337 338 339 340 341 342

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Arbeitslos war der Mediziner dennoch nicht. Stegmann arbeitete bis Anfang 1943 als praktischer Arzt. Im Februar desselben Jahres wurde er wegen des Verdachts auf illegale Abtreibung in Untersuchungshaft genommen. Im Juli 1943 erfolgte die Verurteilung zu zwei Jahren Haft und Entzug der Approbation für drei Jahre. Auf Grund dieses Vergehens wurde er von der NSDAP ausgeschlossen.345 Einer Gefängnisstrafe entging Stegmann durch seine Bemühungen, zur Wehrmacht eingezogen zu werden. Dies gelang ihm Anfang 1944. Er wurde als Soldat in der Panzer-Ersatzabteilung 7 in Böblingen stationiert und kam nach seiner Ausbildung im September 1944 an die Front. Schon einige Wochen später erlitt Stegmann einen Knochendurchschuss der linken Hand mit Splittern im linken Oberarm und in beiden Augen. Nach seiner Heilung arbeitete er als Sanitätsgefreiter in der Sanitätsabteilung V in Ulm, ab März 1945 im Reservelazarett in Sigmaringen. Er geriet in Gefangenschaft, aus der er Ende Juli 1945 entlassen wurde. Stegmann zog zurück zu seiner Familie nach Zwiefalten.346 Die französische Militärregierung nahm ihn im Herbst 1945 für sechs Wochen in Untersuchungshaft, entließ ihn allerdings im Dezember 1945, weil er nicht als Kriegsverbrecher betrachtet werden konnte.347 Aufgrund seiner Verurteilung 1943 konnte Stegmann im Nachkriegs-Deutschland nicht mehr als Arzt tätig sein. Um seine Frau und seine vier Kinder finanziell zu unterstützen, nahm er zahlreiche Hilfstätigkeiten an, z. B. als Angestellter der Molkerei in Zwiefalten, Waldarbeiter oder als Portier.348 1947 erließ die Staatsanwaltschaft Ulm Stegmann seine nicht verbüßte Gefängnisstrafe wegen versuchter Abtreibung349, außerdem erlosch das Verbot zur Ausübung des Arztberufes.350 Allerdings wurde Stegmann in einem ersten Spruchkammerverfahren durch die Spruchkammer Reutlingen im Mai 1947 als „Naziaktivist“ verurteilt, was eine erneute Entziehung der Approbation nach sich zog.351 Im September 1947 begannen die Voruntersuchungen zum Grafeneck-Prozess und damit die Befragungen von Alfons Stegmann durch den Untersuchungsrichter. Im Januar 1949 erschien die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, die Stegmanns Beteiligung an den Krankentötungen strafrechtlich bewertete. Was wurde Dr. Stegmann in der Anklageschrift vorgeworfen? Während der Zeit, in der er die Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten leitete (von November 1939 bis August 1940), wurden unter seiner Verantwortung 621 Patienten abtransportiert, 616 davon starben in der Gaskammer Grafenecks. Dabei waren 405 Kranke keine Patienten der Anstalt Zwiefalten, sondern wurden dorthin zwischenverlegt. Die Staatsanwaltschaft

Spruch vom 25.7.1950, Spruchkammerakten Dr. Stegmann, StAS Wü 13 T 2 Nr. 2679/154. Aussage Dr. Stegmann, 3.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/04. S. Spruchkammerakten Dr. Stegmann, StAS Wü 13 T 2 Nr. 2679/154 und Schreiben des Gouvernement Militaire de la zone francaise d’occupation vom 10.12.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/03. 348 Schreiben Bürgermeisteramt Zwiefalten, 4.6.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/02/01. 349 Verfügung der Staatsanwaltschaft Ulm, 7.3.1948, ebd. 350 Staatssekretariat für das französisch besetzte Gebiet in Württemberg an die Landesdirektion der Justiz, 2.6.1947, ebd. 351 Spruchkammerakten Dr. Stegmann, StAS Wü 13 T 2 Nr. 2679/154. 345 346 347

Dr. Alfons Stegmann

bezweifelte, dass Stegmann erst seit Juni 1940 Kenntnisse von den Massentötungen in Grafeneck hatte, zumal er auch mit dem Personal der Tötungsanstalt in Kontakt stand. Außerdem ging sie davon aus, dass der angeklagte Mediziner „mit der Euthanasie und den Verlegungen nach Grafeneck grundsätzlich einverstanden war“352. Zwar wurde ihm von seinen Anstaltsärzten bescheinigt, dass er prinzipiell bereit war, arbeitsfähige Patienten zurückzustellen, dies habe er jedoch nur aus wirtschaftlichen Erwägungen für die Anstalt und auf Initiative des Wirtschaftsverwalters Metzger getan.353 Der Wirtschaftsverwalter354 gab vor Gericht an, dass Stegmann „außer Zweifel die Grafeneck-Aktion gebilligt“355 habe. Heinrich Metzger habe nach eigenen Angaben den Deportationen der Kranken einige Male aus seinem Bürofenster zugeschaut. Er habe gehört, dass Stegmann den Patienten erzählte, sie dürften jetzt Auto fahren und kämen in eine andere Anstalt, wo es ihnen besser ginge. „Mit der Zeit […] war jedoch zu den Kranken durchgesickert, daß sie umgebracht werden würden“356, sagte der Wirtschaftsverwalter vor Gericht. Deswegen seien nicht alle Transporte reibungslos verlaufen, sondern einige Kranke hätten Widerstand geleistet, so dass sie mit Gewalt in den Transportwagen gebracht werden mussten.357 Stegmann habe auch diesen zwangsweisen Verlegungen beigewohnt, ohne einzugreifen. Zur Haltung des Mediziners äußerte sich auch Eugen Stähle. Er gab bei seiner Vernehmung an, dass Stegmann positiv zur „Euthanasie-Aktion“ eingestellt gewesen sei. Die Anklageschrift schloss mit den Worten: Aus all dem muss geschlossen werden, dass es von Dr. Stegmann gebilligt wurde, wenn die ihm anvertrauten Pfleglinge der Tötung zugeführt wurden, und dass er nur im Interesse des Wirtschaftsbetriebs seiner Anstalt Kranke, die noch arbeitsfähig waren, von den Verlegungen zurückbehielt, ohne hiebei von dem Gedanken geleitet zu sein, vor der Euthanasie alle die Anstaltsinsassen zu bewahren, bei denen er hierfür irgend eine Möglichkeit sah.358

Tatsächlich kann anhand von Stegmanns Aussagen nicht darauf geschlossen werden, dass er die Möglichkeiten, Kranke zu retten, ausschöpfte. Er hielt zwar arbeitende Patienten zurück, aber tat sonst nicht mehr für sie. Außerdem blieb er unter den weniAnklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Ebd. Ein Porträt über den Wirtschaftsverwalter der Anstalt Zwiefalten findet sich im Kapitel zur katholischen Kirche in Zwiefalten im von Pretsch herausgegebenen Sammelband zu den „Euthanasiemorden“ in Südwestdeutschland. Metzger hatte seine Gegnerschaft zur NSDAP bereits in Reden zu den Reichstagswahlen 1932 und 1933 bekundet und war deswegen zahlreichen Anfeindungen von Partei-leuten ausgesetzt. Auch Martha Fauser drohte ihm mehrmals mit dem KZ. Während der Besatzungszeit bekleidete er ein Jahr lang das Amt des Bürgermeisters in Zwiefalten und war Beisitzer zahlreicher Spruchkammerverfahren. S. Pretsch (1996). 355 Aussage Heinrich Metzger, 2.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. 356 Ebd. 357 Ebd. 358 Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. 352 353 354

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gen Anstaltsleitern in Württemberg, die nicht in Stuttgart vorstellig wurden und versuchten, Kranke zu retten. Hierzu sagte Eugen Stähle: „Während die Leiter der Anstalten, denen die Euthanasieaktion Sorge machte, wie Wrede, Gutekunst, Joos usw., alle bei mir waren, um sich auszusprechen, oder schriftlich vorstellig wurden, […] war dies seitens Dr. Stegmann nicht der Fall.“359 Es sind keine Anekdoten überliefert, die davon erzählen, wie der Arzt persönlich Patienten zu retten versuchte. Im Gegenteil: Viele Zeugen hatten den Eindruck, dass er die Krankentötungen tolerierte. So zeigte auch Stegmanns Besuch in Winnental, dass der junge Arzt kein Taktgefühl besaß und eine Patientin verhöhnte, die zur Ermordung bestimmt war. 4.1.2

Alfons Stegmann im Rittersaal

Vor Gericht versuchte der Arzt immer wieder, sich zu rechtfertigen. Sein Verteidiger gab Otto Mauthe die Schuld, Stegmann nicht richtig über die Möglichkeit, arbeitsfähige Kranke zurückzuhalten, aufgeklärt zu haben.360 Stegmann gab an, dass er über den genauen Ablauf der „Euthanasie“ im Unklaren gelassen worden sei und lange Zeit gedacht habe, die Kranken würden in einer weiteren Anstalt für die Tötung selektiert. Er bekundete vor Gericht seine Ablehnung der „Euthanasie“, fügte aber hinzu, dass er sie „auf gesetzlicher Grundlage, beschränkt auf absolut unheilbare Geisteskranke“361, hätte akzeptieren können. Außerdem verwies er in der Hauptverhandlung auf die Tatsache, dass die „Euthanasie“ durchaus schon vor 1933 wissenschaftlich erörtert worden war.362 Mit dieser Aussage wollte der Mediziner die „Euthanasie“ als wissenschaftlich und von vielen Ärzten diskutiertes Problem darstellen und gleichzeitig auch sein Unverständnis darüber zum Ausdruck bringen, dass er für diese viel disputierte „Sache“ vor Gericht gezerrt worden war. Im konkreten Fall eines Transports mit weiblichen Patientinnen im August 1940 konzedierte Stegmann, er hätte keine Zeit mehr gehabt, die Kranken zu retten, da der Transport sehr kurzfristig durchgeführt worden sei und der Transportleiter auf Mitnahme aller Kranken gepocht habe. Die Tatsache, dass die Verbrechen in Grafeneck bei Prozessbeginn über acht Jahre zurücklagen, diente dem Mediziner ebenfalls als Mittel seiner Verteidigung. So konnte er behaupten, dass sich eine Zeugin, die dem Arzt eine zynische Aussage über seine Patienten zuschrieb, geirrt haben musste. Die Worte seien damals vom Transportleiter gesprochen worden, die Zeugin hatte das wohl verwechselt. Ein Prozessbeobachter schilderte, wie er Stegmann im Rittersaal erlebte:

359 360 361 362

Aussage Dr. Stähle, 10.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/21. Schwäbische Zeitung, 14.6.1949. Aussage Dr. Stegmann, 3.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/04. Ebd.

Dr. Alfons Stegmann

Dr. Stegmann ist exemplarisch für den „gewissenlosen Arzt“: Etwa 40 Jahre alt, stiernackig, mit grobem Gesicht und Händen. Ein starkknochiger Mann, der dem Prozeß ziemlich gleichgültig folgt. Er war damals eifrig bei der Sache, um sich als „junger Mann“ zu bewähren. „Das ist meine Braut, die jetzt einsteigt“, sagte er lachend, als eine Irre in den „Todesomnibus“ stieg. Besonderes Interesse zeigte er für das Gehalt des „Tötungsarztes“ von Grafeneck. Wegen versuchter Abtreibung wurde er 1943 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und ihm die Ausübung des Arztberufes für drei Jahre untersagt. Stegmann leitete die Heilanstalt Zwiefalten, die als Auffang- und Durchgangsanstalt für das naheliegende Grafeneck eingerichtet war. Unter seiner Leitung wurden 621 Pfleglinge in die Gaskammer von Grafeneck transportiert.363

Der Staatsanwaltschaft reichten die Einlassungen Stegmanns vor Gericht nicht. Am 28. Juni 1949 stellte sie den Antrag, Alfons Stegmann zu vier Jahren und sechs Monaten Zuchthaus mit Ehrverlust von drei Jahren zu verurteilen.364 Am 30. Juni 1949 folgte das Plädoyer des Verteidigers. Er forderte einen Freispruch für seinen Mandanten.365 In seinem abschließenden Wort plädierte auch Alfons Stegmann auf Freispruch.366 4.1.3

Ursachen der Tatbeteiligung

Mehrere Faktoren führten dazu, dass sich Alfons Stegmann am Massenmord der Kranken beteiligte. Zum einen gehörte der 1908 geborene Arzt einer Generation an, die stark von der Enttäuschung geprägt war, für den Kampf im Ersten Weltkrieg zu jung gewesen zu sein. Diese verpasste Möglichkeit der Bewährung äußerte sich dann in einem gesteigerten Tatendrang und einer weltanschaulichen Einstellung ohne moralische Bedenken und Skrupel. Deswegen zeigte er wohl auch Interesse an der Stelle des Tötungsarztes in Grafeneck, dem Ort der Tat, des Verbrechens. Tatsächlich hätte Stegmann gut zur Riege dieser Mediziner gepasst, die fast ausschließlich zur „Kriegsjugendgeneration“ gehörten, der Tatenlosigkeit fremd war.367 Der Mediziner studierte zu einer Zeit als Eugenik und Rassenhygiene im Vormarsch waren. Er erlebte auch, wie der Nationalsozialismus an der Universität Heidelberg erstarkte, wurde also sehr von den politischen Verhältnissen geprägt, gestaltete diese aber auch durch seine Mitgliedschaft im NSDStB mit. Mit der „Machtergreifung“ machte er sein medizinisches Examen, erlebte wahrscheinlich die Absetzung jüdischer

363 Aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung, Nr. 77, 1949, mit dem Titel „Zehntausend Irre in den Gaskammern von Grafeneck“. Spruchkammerakten von Dr. Fauser, StAS Wü 13 T 2 Nr. 1425/011. 364 Prozess vor dem Landgericht Tübingen, 28.6.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/01/14. 365 Ebd. 366 Ebd. 367 Benöhr (2003).

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Professoren mit und war anpassungsfähig genug, in künftigen Bewerbungen seine „arische Abstammung“ zu betonen. Er beteiligte sich dann durch seine Arbeiten im Rahmen der erbbiologischen Bestandsaufnahme aktiv an der NS-Gesundheitspolitik. Für Stegmann, der bei der Deportation seiner ihm anvertrauten Patienten und Patientinnen gleichgültig blieb, mit dem Personal des Schlosses auf Kameradschaftsabenden Bier trank, blieb das „Heiler-Ethos“, das „Tötungs- und ‚Euthanasie‘-Verbot“ ein „entferntes und verstummtes Ritual aus der Zeit des letzten medizinischen Examens“.368 Vielleicht war diese Skrupellosigkeit auch seiner Überforderung als junger Anstaltsleiter geschuldet. Immerhin war der Mediziner sofort nach Dienstantritt mit den Meldebogen und nur ein paar Monate später mit den Deportationen konfrontiert. Auch die von Harald Welzer aufgestellte These, dass Täter in der Lage seien, ihr Handeln in einen spezifischen Referenzrahmen einzuordnen369, mag dazu beigetragen haben, dass Alfons Stegmann mitmachte und keinen Widerstand leistete. 4.2

Dr. Martha Fauser

4.2.1

Martha Fauser und die „Euthanasie“

Ende April 1945 marschierten französische Truppen in Württemberg-Hohenzollern ein. Ein paar Tage später hielten die Soldaten eine Gruppe deutscher Zivilisten über Nacht in Hayingen auf der Schwäbischen Alb fest. Die deutschen Bürger übernachteten in einem alten Schulsaal und legten sich mit ihren Kleidern für die Nacht auf den Boden. Einige kamen ins Gespräch. Der einzige Mann der Gruppe redete mit der neben ihm liegenden Frau. Sie war Ärztin und erzählte ihm, dass sie die Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten leitete. Der Mann hörte der Fremden erwartungsvoll zu. Er kannte die schaurigen Gerüchte, die man sich über diese Anstalt erzählte. Seine Schwester war dort Patientin gewesen bis sie 1939 verstarb. Er fragte die Ärztin, ob die Geschichten von den „Himmelfahrts-Omnibussen“ wahr seien, die Patienten aus der Anstalt abgeholt hätten. Die Ärztin bejahte die Frage und fügte hinzu: „Leider!“ In dieser Nacht ergriff der fremde Mann die Chance, die Leiterin der Anstalt in Zwiefalten weiter auszuforschen. Sie erzählte ihm von Meldebogen, die über die Kranken ausgefüllt werden mussten, über die Transportlisten und von ihren vergeblichen Versuchen, gegen die Transporte zu protestieren. „Als ich keinen Ausweg mehr sah, wollte ich mein Amt zur Verfügung stellen, es kam aber der Befehl, bleiben zu müssen“, sagte die Medizinerin. Der fremde Mann fragte sie, ob sie wusste, was in Grafeneck geschehen war. Sie bejahte die Frage, denn irgendwann konnte es niemandem mehr verborgen

368 369

S. Lifton (1988), S. 514. S. Welzer (2013), S. 14.

Dr. Martha Fauser

bleiben. „Heißen Sie die Vorkommnisse in Grafeneck für gut?“, wollte der Mann wissen. Sie antwortete energisch: „Um Gotteswillen, nein, nicht aus medizinischen und nicht aus menschlichen Gründen. […] Denn kein Mensch hat das Recht, zu töten.“ Dann fügte sie hinzu: „Irrenanstalten sind dazu da, diesen armen Kranken eine erträgliche Heimat zu bieten und das war immer mein Bestreben.“370

Abb. 2 Martha Fauser371

Der fremde Mann hatte in jener Nacht mit Martha Fauser gesprochen, der Ärztin, die später im Grafeneck-Prozess angeklagt werden sollte und die sich so klar wie in dieser Nacht auf der Schwäbischen Alb selten gegen die „Euthanasie-Aktion“ aussprach. Tatsächlich blieb Martha Fauser während ihrer Zeit als Anstaltsleiterin in Zwiefalten und auch während des Prozesses ein ambivalenter Charakter. Anfang Dezember 1940 lud der Grafenecker Tötungsarzt Dr. Baumhard Martha Fauser, damals kommissarische Leiterin der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten, auf einen Kameradschaftsabend auf Schloss Grafeneck ein. Baumhard erklärte ihr, dass das Grafenecker Personal bald von dort weggehen würde.372 Fauser nahm die Einla370 Dieses Ereignis wurde von Bernhard Koch im Juni 1949 in einem Brief an das Gericht geschildert. S. StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/02/01. 371 Passakte Dr. Fauser, StAL F 215 Bü 13. 372 Aussage Dr. Fauser, 28.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01.

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dung an, weil sie interessierte, „was für Menschen in Grafeneck sind“373. Ihre Neugierde galt vor allem den beiden jungen Ärzten, die in Grafeneck für die Ermordung der Patienten verantwortlich waren und sich öfter bei Fauser über ihre Tätigkeit beklagt hatten, „sie hätten niemand, mit dem sie über die Sache sprechen könnten, so daß ich Mitleid mit ihnen hatte“374. Der Kameradschaftsabend fand nach einer Tagung statt, an der auch Professor Nitsche und Professor Heyde, beide Obergutachter der „T4“Zentrale, teilgenommen hatten. Fauser begann ein Gespräch mit Professor Heyde. Er fragte sie, wie sie „von der Sache Kenntnis bekommen habe“375 und auch was sie davon halte. Fauser erzählte ihm von den Meldebogen, deren Zweck keiner kannte und von den Angaben von Dr. Joos, der als Anstaltsleiter in Weinsberg als erster mit den Transporten konfrontiert gewesen war und sich auf diese „keinen Reim“ machen konnte, „weil die Auswahl kunterbunt gewesen, leichte und schwere Fälle abgeholt worden seien, weil ihm verboten worden sei, jemand zurückzuhalten und er nicht habe erfahren können, wohin der Transport gehe“.376 Fauser erklärte weiter, dass dann Gerüchte im Umlauf waren, Angehörige erzählten von Todesnachrichten. Heyde reagierte betreten, gestand Fehler ein, die initial gemacht worden seien. Er habe dann aber hinzugefügt: „Nur ein so reiner Mensch wie unser Führer, kurz ein Mann so ohne Schuld und Fehler, könne es sich leisten, ein Gesetz herauszugeben, nach welchem die Anstaltspsychiatrie förmlich geschrien habe.“377 Fauser, beeindruckt von der Rede Heydes, erklärte diesem, dass sie nicht nach diesem Gesetz geschrien habe. Sie brachte Heyde dann ihre Form der Sterbehilfe nahe, nämlich, im Sterben liegenden Patienten die Todesstunde zu erleichtern. Heyde ließ sich nicht darauf ein, immerhin hatte der Führer die „Aktion“ gewünscht. Weiter machte Fauser keine Angaben zu ihrem Gespräch mit Werner Heyde. Die Kritik an der „Aktion“, die sie gegenüber dem Professor äußerte, beschränkte sich auf die Art und Weise ihrer Durchführung. Sie bat ihn nicht, die Tötungen zu verhindern, obwohl sie direkt mit einem mächtigen Arzt Fühlung aufnahm. Sie hatte als eine der wenigen Anstaltsärzte die Möglichkeit, den Organisatoren der Massenmorde sehr nah zu kommen. Und auch wenn sie Kritik an der Art und Weise der Durchführung der „Euthanasie“ äußerte, so kann man ihr Verhalten nicht als Widerstand deuten, wie es im Prozess von ihrem Anwalt versucht wurde. Von dieser Tagung in Grafeneck erzählte Martha Fauser 1947 in ihrer Vernehmung durch das Landgericht Freiburg noch nichts. Fauser war nach ihrer Internierung durch die Militärregierung im August 1945 im Zuge der Ermittlungen im „Euthanasie“-Verfahren gegen den höchsten badischen Ministerialbeamten Ludwig Sprauer und den

373 374 375 376 377

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

Dr. Martha Fauser

Leiter der Anstalt Wiesloch und „T4“-Gutachter Arthur Schreck378 Ende Januar 1946 in die Dienststelle des Landgerichts Freiburg nach Baden-Baden überführt worden und saß dort bis zu ihrer Überstellung 1948 nach Münsingen in Untersuchungshaft.379 Dem Freiburger Untersuchungsrichter schilderte sie aber einen Besuch in Grafeneck, den sie später dann auch dem Ermittler in Münsingen nochmals beschrieb. Sie habe gegenüber Tötungsarzt Baumhard380 den Wunsch geäußert, sich eine Vergasung anzuschauen: „Ich wollte mir Gewissheit verschaffen, was tatsächlich in Grafeneck vorging.“381 Baumhard sei ihrem Wunsch Ende Dezember 1940 nachgekommen. Er habe ihr ein Auto geschickt, das sie in Zwiefalten abholte und sie dann nach Grafeneck brachte. Später sagte sie zu diesem Besuch: „Ich ging nicht leichten Herzens dorthin. Es fiel mir der Schillerspruch ein: Wehe dem, der durch die Wahrheit geht durch Schuld, sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.“382 Sie schilderte dann, was sie in Grafeneck gesehen habe, den Wachposten in SS-Uniform, einen großen Bau mit Büroräumen und vielen Schreibgehilfinnen, den hohen Bretterzaun, der die Anstalt umgab und schließlich einen Bereich, auf dem einige Baracken standen, der Vergasungsraum und zwei Verbrennungsöfen.383 Tötungsarzt Baumhard habe die Medizinerin dann in eine der Baracken geführt. Dort sei gerade ein Transport mit Patienten angekommen, die sich ausziehen mussten. Zum Schutz vor Kälte habe jeder Patient danach einen Mantel erhalten. Es sei die Begutachtung der Kranken erfolgt, die am Unterarm Nummern trugen. „Von diesem Transport wurden eine oder zwei Frauen auf meine Veranlassung zurückgehalten, alle übrigen wurden zur Tötung bestimmt“384, so Fauser. Sie schilderte dann, wie die Patienten in den Vergasungsraum geführt worden seien. In einem Vorraum seien ihnen die Mäntel wieder abgenommen worden, „[s]ie waren also im Vergasungsraum völlig nackt“385. Weiter erzählte Fauser: „Der Raum sah aus wie ein grosser Baderaum, es standen Bänke darin. […] Die Leute gingen ruhig in den Raum, es wurde ihnen erklärt, sie würden jetzt geduscht und bekämen dann etwas zu essen. Der Gasraum wurde dann fest geschlossen.“386 Fauser habe die Tötung durch ein kleines Fenster beobachten können: Nach etwa 1 Minute sanken die Patienten nach hinten, als ob sie sich anlehnen wollten. Nach etwa 2 Minuten machte mich Dr. Baumwardt [Baumhard, Anmerkung der Verfasse-

378 Ludwig Sprauer und Arthur Schreck wurden vom Landgericht Freiburg 1950 zu 11 und 12 Jahren Haft verurteilt. Beiden wurde die Strafe allerdings 1954 von Ministerpräsident Gebhard Müller erlassen. S. Klee (2011), S. 592 f. u. S. 559. 379 StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. 380 Nicht immer einheitliche Schreibweise, manchmal auch „Baumhardt“. 381 Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. 382 Aussage Dr. Fauser, 28.1.1948, ebd. 383 Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, ebd. 384 Ebd. 385 Ebd. 386 Ebd.

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rin] auf eine leichte Rotfärbung der Gesichtsfarbe der Leute aufmerksam. Er erklärte, dies sei ein sicheres Zeichen des eingetretenen Todes.387

Die Verbrennung der Ermordeten habe sich Fauser nicht mehr angeschaut. Sie sei „ergriffen“ gewesen und „nur beruhigt wegen der humanen Art der Tötung.“388 Möglich, dass sich die Täter einen schmerzlosen Tod der Opfer selbst einredeten, um die Ermordung besser mit dem eigenen Gewissen vereinbaren zu können. Denkbar auch, dass die Beobachtung des „menschlichen“ Sterbens in der Gaskammer nur als Rechtfertigungsstrategie vor Gericht dienen sollte. Viele mit der „Euthanasie“ in Berührung gekommenen Ärzte erklärten in späteren Aussagen, dass der Tod durch Kohlenmonoxyd ein äußerst humaner und schmerzloser gewesen sei. So sagte der Tötungsarzt aus Hartheim, Georg Renno: „Die Kranken selber hatten nichts gemerkt, gar nichts.“389 Jedoch gab es durchaus glaubhaftere Zeugen, die in Prozessen angaben, dass der Tod in der Gaskammer ein qualvoller gewesen sein muss und es als Zuschauer unerträglich gewesen sei, den Anblick der Sterbenden zu ertragen.390 Martha Fauser hatte, nach eigenen Aussagen, der letzten Vergasung auf Grafeneck zugeschaut, denn fast das gesamte Personal zog einige Wochen später in die Vernichtungsanstalt Hadamar.391 Diese Angabe ist heute schwierig zu verifizieren. Der letzte Transport ging, laut der Statistik, die das Gericht aufstellte, am 13. Dezember 1940 mit 20 Patienten nach Grafeneck, Fauser beschrieb aber eine Vergasung von etwa 70 Kranken.392 Ihre Behauptung, auf ihre Veranlassung hätte man zwei Patienten zurückgestellt, ist schwierig zu widerlegen. Dies sagte sie bei ihrer Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter aus Freiburg.393 In einer späteren Vernehmung als Zeugin gegen andere an den Krankenmorden Beteiligte sprach sie davon, dass die Tötungsärzte zwei Patienten zurückgestellt hätten, die dann zurück nach Zwiefalten geschickt und von dort nach sechs Monaten entlassen worden seien.394 Man muss der Tatsache Beachtung schenken, dass Fauser bei ihrer Aussage in Freiburg noch davon ausgehen musste, angeklagt zu werden, während sie 1960 bereits verurteilt war und ihre Strafe verbüßt hatte. Die Erklärung, warum sie nicht mehr Patienten vor der Gaskammer rettete, lieferte sie auch in ihrer Vernehmung: „Die übrigen Fälle waren auch alles schwere Krankheitsfälle.“395 Die Juristen im Grafenecker Verfahren bezogen Fausers Aussagen vor dem Freiburger Untersuchungsrichter mit in ihre Beurteilung ein. Dadurch ergaben sich für die

387 388 389 390 391 392 393 394 395

Ebd. Aussage Dr. Fauser, 28.1.1948, ebd. Zitiert nach Kohl (2000), S. 8. S. Klee (2001), S. 325. Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Aussage Dr. Fauser, 24.1.1946, ebd. Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, ebd. Aussage Dr. Fauser am 7.7.1960 vor dem Landeskriminalamt Baden-Württemberg, BArch B 162/487. Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01.

Dr. Martha Fauser

Ärztin Probleme, denn in ihrer ersten Vernehmung hatte sie gestanden, Patienten nach Abbruch der „Aktion“ mit Medikamenten getötet zu haben. Dieses Geständnis hatte sie dann bei ihrer späteren Aussage in Münsingen zurückgenommen.396 Fauser gab vor Gericht an, dass sie vom Freiburger Untersuchungsrichter eingeschüchtert gewesen sei, was ihr der Staatsanwalt in Tübingen nicht glauben wollte. Dazu schrieb der Journalist Mostar, der in der Stuttgarter Zeitung jeden Montag über Gerichtsprozesse berichtete, die „in Württemberg die Grundlage für juristische Stammtischgespräche“397 bildeten: Der Staatsanwalt hält das für eine Ausrede; wir aber müssen doch feststellen, daß jener erste, ein dreißigjähriger Herr aus Freiburg [der Freiburger Untersuchungsrichter, Anmerkung der Verfasserin], eines nicht abzustreiten wagte: daß er die Sechzigjährige mit den Worten empfangen habe: „Sie, Fräulein, wollen die Tochter des Sanitätsrates Fauser sein? Wieviel uneheliche Kinder haben Sie denn?“398

So hatte die zweifelsohne strittige Eingangsfrage des Freiburger Untersuchungsrichters den Journalisten Mostar parteiisch werden lassen. Was sie allerdings auch offenbarte, ist, dass der Jurist die der Angeschuldigten zur Last gelegten Verbrechen nicht in Einklang bringen konnte mit dem Bild, das er sich von der Tochter des angesehenen und überregional bekannten Arztes August Fauser machte. Auch Eugen Stähle betonte die Reputation von Fausers Vater: Die Nachfolgerin des Dr.  Stegmann, die Dr.  Fauser, war mir bekannt als Tochter des verst[orbenen] Direktors des Bürgerspitals, dessen Name wegen seiner Organabbauforschung in der Psychiatrie einen guten Klang hatte, so daß man annehmen konnte, daß eine Anlage zur Psychiatrie vorhanden sei.399

August Fauser, 1856 in Heilbronn geboren, wollte eigentlich Theologe werden400, verließ dann allerdings nach einem Jahr das Tübinger Stift und begann ein Studium der Medizin. 1907 erhielt Fauser den Posten des Direktors des Bürgerhospitals in Stuttgart. Der Mediziner galt als Modernisierer, der das „über 600 Jahre bestehende Spital den Forderungen neuer Zeit angepasst und aus dem alten Notasyl für Geisteskranke ein großes modernes Krankenhaus gemacht [hat]“.401 1919 folgte seine Habilitation, ehe er

396 Stuttgarter Zeitung vom 4.7.1949, Nr. 104, gefunden in StAL EL 905 Bü 253. Mostar veröffentlichte seine Artikel nicht nur in der Stuttgarter Zeitung, sondern später auch in einem Sammelband. S. Mostar (1950). Im Folgenden wird aus Mostars Sammelband zitiert. 397 „Herr Mozart vom Radio“, Der Spiegel, 5.8.1950, Nr. 31. 398 S. Mostar (1950), S. 126. 399 Aussage Dr. Stähle, 10.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/17. 400 Personalakte August Fauser, HStAS M 430/3 Bü 2602. 401 S. Kreuter (1996), S. 327.

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1924 in den Ruhestand ging. 1938 starb Fauser in Stuttgart.402 Martha Fauser war eine von drei Töchtern.403 Sie wurde am 8. August 1889 in Stuttgart geboren. Von 1895 bis 1903 besuchte sie das „Katharinenstift“, wechselte dann für vier Jahre an das Mädchengymnasium in Stuttgart.404 Martha Fauser lernte das Klavierspiel und spielte auch während ihrer ärztlichen Tätigkeit gerne.405 Ihren weiteren Werdegang beschrieb Fauser so: „Anschließend habe ich bei meinem Vater privat im Labor geholfen, welcher damals Chefarzt des Bürgerhospitals war. Während des Ersten Weltkrieges betätigte ich mich dort als Hilfsschwester.“406 Für ihre Verdienste für die Versorgung der Verwundeten erhielt sie das Charlottenkreuz.407 Durch die Arbeit bei ihrem Vater pflegte Fauser den ersten längeren Kontakt zu psychisch kranken und behinderten Patienten, der auch ihren Wunsch formte, Psychiaterin zu werden. Nach Ende des Ersten Weltkriegs besuchte sie das Reformrealgymnasium, wo sie 1919 im Alter von 30 Jahren das Abitur machte.408 „Das Abitur habe ich deshalb erst so spät abgelegt, weil ich mich erst kurz zuvor entschlossen hatte, Medizin zu studieren“409, so Martha Fauser vor dem Untersuchungsrichter in Freiburg. Als sie 1919 ihr Medizinstudium begann, hatte sie den großen Kampf der Frauen um Zugang zu universitärer Ausbildung zwar nicht mehr selbst ausgetragen, aber stellte als Frau in einer von Männern dominierten Studentenschaft doch noch einen Teil der Minderheit dar. Die Länder hatten sich erst sukzessive Anfang des 20. Jahrhunderts dem Frauenstudium geöffnet. In Baden-Württemberg wurde Frauen ab dem Sommersemester 1904 die Immatrikulation gewährt.410 Der Anteil der Frauen unter den Studierenden der Medizin betrug 1919 rund zehn Prozent.411 Fauser absolvierte ihr Medizinstudium bis auf ein Semester, das sie in München verbrachte, in Tübingen und legte 1925 das Staatsexamen ab.412 1926 reichte sie ihre Doktorarbeit mit dem Titel „Ein Fall von pluriglandulärer Störung“413 ein. Das württembergische Ministerium des Innern verlieh Fauser 1926 die Approbation.414 1925 waren nur fünf Prozent Ebd. Personalakte August Fauser, HStAS M 430/3 Bü 2602. Spruchkammerakten Dr. Fauser, StAS Wü 13 T 2 Nr. 1425/011. Schreiben von Maria Bay an den Rechtsanwalt von Martha Fauser, 2.6.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/01/13. S. auch Breucker (1998), S. 381. 406 Aussage Dr. Fauser vor dem Landeskriminalamt Baden-Württemberg, 7.7.1960, BArch B 162/487 407 Personalakte Dr. Fauser, Blatt Personal-Nachweisung, StAS Wü 42 T 60 Nr. 116. 408 Spruchkammerakten Dr. Fauser, StAS Wü 13 T 2 Nr. 1425/011. 409 Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. 410 S. Burchardt (1993), S. 19. 411 Der Anteil an Studentinnen im Fach Medizin betrug in Tübingen nach dem Ersten Weltkrieg etwas über 10 %. S. Breucker (1998), S. 381. Für die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin galt für das Jahr 1918 ein Prozentsatz von 9,8 für Medizinstudentinnen. S. Burchardt (1993), S. 20. Franz-Werner Kersting ging von 10,8 % Medizinstudentinnen im Jahr 1918 aus. S. Kersting (1996), S. 73. 412 Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. 413 Fauser (1927). 414 Prüfungsakten Innenministerium, HStAS E 151/55 Bü 33. 402 403 404 405

Dr. Martha Fauser

der Mediziner und Medizinerinnen weiblich415, was Fauser, auch als approbierte Ärztin, zur Ausnahme machte. Nach ihrem medizinischen Staatsexamen arbeitete die Ärztin ein Jahr lang als Medizinalpraktikantin in der medizinischen Klinik in Tübingen, wo sie „ihre Kenntnisse und Fähigkeiten im Bereich der Untersuchung und Behandlung innerer Krankheiten in schönem Umfang“416 erweitern konnte. Es folgte eine Beschäftigung von über einem Jahr als Volontärassistentin am Staatlichen Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt am Main. Danach arbeitete sie von Oktober 1927 bis Ende Juni 1928 als Assistenzärztin am Städtischen Krankenhaus in Geislingen an der Steige, wo der leitende Arzt der Abteilung „ihre offene unbefangene und streng individualisierende, dabei heitere und liebenswürdige Art im Verkehr mit den Kranken“417 sehr schätzte. Es folgte eine Anstellung an der Universitäts-Hautklinik in Tübingen, wo sie etwas länger als ein Jahr blieb.418 Sie verließ die Klinik zum 1. Oktober 1929, „um sich auf psychiatrischem Gebiete weiter auszubilden und sich dort eine dauernde Stellung zu gründen“419. Der von ihr schon lange gehegte Wunsch, Psychiaterin zu werden, ließ sich dann mit ihrer am 1. Oktober 1929 beginnenden Anstellung an der privaten Heil- und Pflegeanstalt Dr. Landerer „Christophsbad“ in Göppingen erfüllen.420 Etwas über ein Jahr blieb sie dort und wechselte dann, nach einem vierwöchigen Sezierkurs, den sie in Stuttgart besuchte, 1931 an die staatliche Heilanstalt in Weissenau. Sie hatte sich bereits im Dezember 1930 um die Assistenzarztstelle in Weissenau beworben und war mit ihrer Bewerbung am Ende erfolgreich, weil sich kein männlicher Arzt um die Stelle bemüht hatte und Ärztemangel herrschte, der „sich besonders während der über Monate sich hinziehenden Zeit der Erholungsurlaube bemerklich“421 machte. Zur Bewerbung von Fauser äußerte der damalige Direktor Dr. Krimmel: „Ärztinnen sind wohl nicht ganz so leistungsfähig wie Ärzte und sie ersetzen insbesondere an Irrenanstalten eine männliche Kraft kaum ganz. Allein es ist nicht zu erwarten, daß sich in absehbarer Zeit Ärzte bewerben werden.“422 Ende 1932 legte Fauser die Prüfung für den ärztlichen Staatsdienst ab. Sie schnitt nur mäßig gut ab und war die schlechteste ihrer Prüfungsgruppe. Es sei „eigenes Urteil […] in ihren Ausführungen nicht viel zu finden […]“423. Am 10. Dezember 1932 erhielt die Medizinerin ihr Zeugnis. Im Oktober 1934 erlangte Fauser Beamtenstatus und arbeitete dann zunächst als OberärzS. Kater (2000), S. 157. Zeugnis von Prof. Müller, Vorstand der Medizinischen und Nervenklinik Tübingen, 22.5.1926, Personalakte Dr. Fauser, StAS Wü 42 T 60 Nr.116. 417 Zeugnis Dr. Georgii vom 12.11.1928, Personalakte Dr. Fauser, ebd. 418 Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. 419 Zeugnis von Prof. Linser vom 4.12.1930, Personalakte Dr. Fauser, StAS Wü 42 T 60 Nr. 116. 420 Zeugnis Dr. Glatzel vom 5.12.1930, Personalakte Dr. Fauser, ebd. 421 Schreiben des Direktor Dr. Krimmel an das württembergische Innenministerium, 14.3.1930, StAS Wü 42 T 94 Nr. 466. 422 Direktor Dr. Krimmel an das Innenministerium in Stuttgart, 23.12.1930, Personalakte Dr. Fauser, StAS Wü 42 T 60 Nr. 116. 423 Prüfungsakten, HStAS E 151/55 Bü 34. 415 416

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tin, ab 1935 dann als Medizinalrätin in Weissenau.424 Obwohl sie vom Innenministerium für die Oberarztstelle vorgeschlagen worden war, weil sie „arischer Abstammung“425 sei und „an ihrem vollen Eintreten für den nationalen Staat kein Zweifel“ bestehe, und es außerdem keinen anderen Bewerber gab426, musste noch der Reichsstatthalter überzeugt werden. So argumentierte das Innenministerium: „Gegen die Anstellung von weiblichen Ärzten bei Irrenanstalten bestehen keine Bedenken; es ist vielmehr erwünscht, zur Verwendung auf der Frauenabteilung bei jeder Heilanstalt eine Ärztin zu haben.“427 Fauser hatte durchaus Karriere gemacht in einer Zeit, in der die männliche Ärzteschaft „bis zuletzt gegen das (mögliche) Eindringen von Frauen in ihr berufliches Wirkungsfeld Front gemacht [hatte]“428. Aufstiegschancen hatten in der Heilanstalt ab 1933 vor allem Personen, die der Partei nahestanden. Aus diesem Grund wurden 1933 Direktor Krimmel, der Ökonomieverwalter und eine Pflegevorsteherin in den Ruhestand geschickt429 und von Seiten der NSDAP darauf hingewiesen, dass der neue Direktor ein Nationalsozialist zu sein musste. So schrieb der Blockwart Hans Friedrich an den württembergischen Kultusminister Professor Mergenthaler: „Ich möchte nun […] ermahnend bitten, bei der Neueinsetzung des Direktors hier ein wachsames Auge zu haben, denn gewisse Herren Beamte, Deutschnationaler Gesinnung, hängen sich jetzt nach aussen ein Mäntelchen um und geben sich auch als Nationalsozialisten aus.“430 Auch Fauser fand Anschluss an Parteigliederungen. 1934 trat sie der NS-Frauenschaft bei. Sie fühlte sich zur Sozialen Mitarbeit verpflichtet, „die von uns Frauen gefordert wurde“431. Ab 1935 bekleidete sie das Amt einer Kreissachbearbeiterin im rassepolitischen Amt. Sie hielt rund einmal im Monat verschiedene Vorträge vor der NS-Frauenschaft und dem Bund deutscher Mädel (BDM) über rassenpolitische Fragen, wie z. B. über die Erblehre, Erbkrankheiten, die Mendelschen Gesetze und die Sterilisation. Etwa ein halbes Jahr war Fauser auch Kreisjugendgruppenführerin.432 Sie erhielt dieses Amt, weil sie schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten „durch das Organisieren und Mitwirken bei ernsten und heiteren, meist musika-

Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Fauser hatte ihrer Bewerbung zum Nachweis ihrer arischen Abstammung, Abstammungsurkunden beigefügt. S. Personalakte Fauser, StAS Wü 42 T 60 Nr. 116. 426 Dr. Fehr aus Weinsberg war wohl im Gespräch. Er hatte sich aber nicht offiziell um die Stelle beworben und das Innenministerium stufte ihn auch als für den Posten ungeeignet ein. S. Personalakte Dr. Fauser, StAS Wü 42 T 60 Nr. 116. 427 Schreiben des württembergischen Innenministeriums an den Reichsstatthalter, 31.8.1934, Personalakte Dr. Fauser, ebd. 428 S. Kersting (1996), S. 73. 429 S. Kretschmer (1998), S. 361 f. 430 Blockwart Hans Friedrich an Prof. Mergenthaler, 26.6.1933, Stellenakten Weissenau, StAS Wü 40 T 29 Nr. 229. 431 Spruchkammerakte Dr. Fauser, Beilage zum Fragebogen, StAS Wü 13 T 2 Nr. 1425/011. 432 Spruchkammerakte Dr. Fauser, StAS Wü 13 T 2 Nr. 2639/083. 424 425

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lischen Aufführungen für die Kranken der Heilanstalt Weissenau“433 bekannt geworden war. Sie trat 1934 der NSV bei und 1936 dem RDB.434 1937 erfolgte die Aufnahme Fausers in die NSDAP (Mitgliedsnummer: 5.050.823).435 Im Fragebogen zu ihrer politischen Säuberung gab Fauser 1950 als Gründe ihres Beitritts an, dass sie sich als Beamtin dazu verpflichtet gefühlt habe und außerdem den von der Partei propagierten Kampf gegen den Bolschewismus befürwortet habe.436 Im selben Jahr erfolgte ihr Austritt aus der evangelischen Kirche, obwohl sie religiös eingestellt war.437 „Mir hat die Bezeichnung ‚gottgläubig‘438 besonders gut zugesagt“439, so Fauser vor dem Untersuchungsrichter. In ihrem Spruchkammerverfahren wurde die Ärztin als „überzeugte Nationalsozialistin“440 bezeichnet, die allerdings keinen Groll gegen politisch Andersgesinnte gehegt habe. In Weissenau erlebte Martha Fauser mit ihren Kollegen dann die einschneidenden Veränderungen, die die nationalsozialistische Gesundheitspolitik für den ärztlichen Beruf bedeutete. Als Anstaltsärzte waren auch die Weissenauer Mediziner zur Antragsstellung auf Unfruchtbarmachung im Rahmen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ berechtigt. In der Anstalt Weissenau wurden bis 1939 310 Anträge gestellt, von denen 299 bewilligt wurden.441 Auch Poitrot nahm in seiner Untersuchung zur Haltung der Anstaltsärzte zu den Zwangssterilisierungen Stellung: „Wenn sich die meisten von ihnen auch ablehnend verhielten, so sind doch manche durch ihren Eifer aufgefallen, wie z. B. die Doktorin Fauser, Oberärztin in Weissenau, deren Eifer mit der Zeit immer mehr zunahm.“442 Poitrot gab keine Quellen für diese Feststellung an. Fauser erklärte, dass sie die Sterilisationen im Allgemeinen befürwortet habe443, in den Aussagen ihrer Kollegen und Mitarbeiter in Weissenau ließ sich allerding kein Hinweis darauf finden, dass sie dabei besonders in den Vordergrund getreten oder rigoros gewesen wäre. Indoktriniert war sie zweifellos durch die nationalsozialistische Rassenhygiene. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Dr. Götz besuchte Fauser im September 1935 die Jahresversammlung Deutscher Neurologen und Psychiater in Dresden.444 Eine Teilnehmerin dieser Versammlung berichtete, dass die Tagung „fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der weiteren Ausgestaltung der Rassenhygiene gestanden [habe], für die sich die heutige Psychiatrie und Neurologie Spruchkammerakte Dr. Fauser, Beilage zum Fragebogen, StAS Wü 13 T 2 Nr. 1425/011. Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. BArch Reichskartei NSDAP. Spruchkammerakte Dr. Fauser, 12.4.1950, StAS Wü 13 T 2 Nr. 1425/011. Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Zum Begriff „gottgläubig“ s. Schmitz-Berning (2007), S. 281. Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Spruchkammerakte Dr. Fauser, 25.7.1950, StAS Wü 13 T 2 Nr. 1425/011. S. Kretschmer (1998), S. 366 f. S. Poitrot (1945), S. 21. Aussage Dr. Fauser, 1.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Schreiben der Heilanstalt Weissenau an das württembergische Innenministerium, 10.8.1935, Personalakte Dr. Fauser, StAS Wü 42 T 60 Nr. 116. 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444

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mit allen Kräften einsetzt“445. Für viele Psychiater war die Rassenhygiene ein staatspolitisch wichtiges Projekt, das einen Prestigegewinn für das Fach bedeuten konnte.446 Vielleicht war dies auch der Grund, dass sich Fauser 1936 gegen einen Wechsel an ein Gesundheitsamt entschied. Ob sie selbst Bestrebungen hatte, eine Amtsarztstelle zu bekommen oder ob sie von anderer Seite ermutigt wurde, konnte durch die Quellen nicht belegt werden. Jedenfalls sprach sie mit Ministerialdirektor Eugen Stähle über die Stelle und beschloss dann, doch Anstaltsärztin zu bleiben, „nicht um eine besser bezahlte Stelle“ zu haben, „sondern um eine hochwertigere Funktion und Arbeit“ auszuüben.447 Tatsächlich gab es Schwierigkeiten, Stellen in Gesundheitsämtern mit männlichen Ärzten zu besetzen, da die Bezahlung relativ schlecht war. Deswegen wurde ab 1936 versucht, ledige Ärztinnen für diese zu gewinnen.448 In ihrer Ablehnung der Amtsarztstelle erklärte Fauser auch, dass sie dem Anstaltsarzt innerhalb und außerhalb der Anstalt zu mehr Ansehen verhelfen wolle. Weiter schrieb sie: „Eine staatliche Heilanstalt soll m. E. ebenso das Gesicht des 3. Reiches tragen wie jeder andere Betrieb.“449 Im Oktober 1939 trafen in der Heilanstalt Weissenau mit den Meldebogen aus Berlin die Vorboten der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik der „unnützen Esser“ ein. Auch Fauser füllte die Formulare aus. Sie kannte den Zweck der Meldebogen nicht, aber sie und ihre Kollegen vermuteten, dass es sich um die Aufstellung einer Statistik handelte.450 Fauser bearbeitete während ihrer Tätigkeit in Weissenau über 300 der Formulare. Dazu gab sie an: „Wiederholt habe ich beim Ausfüllen der Fragebogen Rückfragen beim Pflegepersonal gehalten, damit mir ja keine Fehler unterlaufen sollten.“451 Im November 1939 erfolgte der Erlass des Innenministeriums, in dem Verlegungen von Patienten angekündigt wurden. Im Februar 1940 wurden die beiden Weissenauer Ärzte Dr. Götz und Dr. Weskott ins Innenministerium nach Stuttgart zitiert und dort in die „Euthanasie-Aktion“ eingeweiht und zum Schweigen verpflichtet. Der stellvertretende Direktor wurde wohl aus „parteipolitischen“452 Gründen nicht aufgeklärt. „Im April 1940 teilte uns Dr. Sorg in der täglichen Ärztebesprechung mit, er habe von dem Direktor der Heilanstalt Weinsberg telefonisch die Mitteilung bekommen, dass in der Anstalt Weinsberg ein Transport Kranker weggebracht worden sei“453, so Fauser in ihrer Vernehmung. Laut der Aussage der Ärztin gingen von Mai bis September 1940 vier Transporte mit rund 250 Patienten von Weissenau ab. Die Statistik der Verlegungen, die vom Gericht aufgestellt wurde, zählte von Mai bis einschließlich September

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Aussage einer Ärztin aus Hadamar, zitiert nach Sandner (2003), S. 254. S. Sandner (2006), S. 119. Schreiben von Dr. Fauser, 23.3.1936, Personalakte Dr. Fauser, StAS Wü 42 T 60 Nr. 116. S. Kompisch (2008), S. 109. Schreiben Dr. Fauser, 23.3.1936, Personalakte Dr. Fauser, StAS Wü 42 T 60 Nr. 116. Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Ebd. Aussage Dr. Weskott, 12.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/05. Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01.

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1940 acht Transporte mit insgesamt 528 Patienten, die von Weissenau nach Grafeneck gebracht wurden. Hinzu kamen 54 Patienten, die von der Heilanstalt Rottenmünster nach Weissenau zwischenverlegt worden waren.454 Nach Abgang eines Transportes habe die Ärztin, die die Frauenstation zu betreuen hatte, einen Brief von Angehörigen einer Patientin erhalten, in dem diese ihr mitgeteilt hätten, dass die Kranke an einer Eierstockentzündung verstorben sei. Sie habe den Brief ihren Kollegen gezeigt, weil sie die Todesursache für nicht plausibel hielt. „Von meinen Kollegen wurde ich dahin aufgeklärt, dass es Tatsache ist, dass diese Patienten [Patienten, von denen die Angehörigen nach der Deportation Todesnachrichten erhielten, Anmerkung der Verfasserin] eines nicht natürlichen Todes gestorben sind“455, so Fauser. Dennoch habe sie weiter an der Existenz der „Aktion Gnadentod“ gezweifelt, weil auch immer wieder sehr gut arbeitende Patienten deportiert worden seien. Die Ärztin war nicht nur im Ausfüllen der Meldebogen gewissenhaft, sondern auch in der Arbeit für die Anstalt. Als sie Direktor Sorg einmal für wenige Stunden vertreten habe, sei ein Schreiben aus Berlin in der Anstalt eingegangen, welches eine Transportliste enthalten habe. Einige der Patienten auf der Liste seien gute Arbeitskräfte gewesen. Fauser beschloss zu intervenieren, „dass diese guten Arbeiter nicht zum Transport kommen sollten“456. Sie habe im Innenministerium in Stuttgart angerufen. Während die Ärztin auf die Durchstellung des Gesprächs gewartet habe, sei Dr. Sorg zurückgekehrt. Sie habe ihrem Vorgesetzten dann von ihrem Vorhaben erzählt. „Herr Dr. Sorg war sehr bekümmert, weil man sich in diese Angelegenheit nicht einmischen sollte“457, erklärte Fauser in ihrer Befragung. Sorg habe dann das Gespräch übernommen und mit Otto Mauthe gesprochen. Wie Mauthe darauf reagierte, wurde von Fauser und Sorg in ihren Vernehmungen unterschiedlich geschildert. Während Fauser gehört haben will, wie Mauthe Dr. Sorg anschrie, habe das Gespräch für Sorg, trotz des vielleicht barschen Tons Mauthes, auf freundschaftlicher Basis stattgefunden.458 In dem, was Mauthe gesagt haben soll, stimmten allerdings beide Aussagen überein. So erklärte Sorg vor Gericht, was der Beamte des Innenministeriums ihm telefonisch mitgeteilt habe: „Dr. Weskott ist von Dr. Stähle mit der Durchführung der Verlegungen beauftragt. […] Dr. Mauthe sagte mir dann noch, daß Dr. Stähle empört über mich sei, ich hätte die Angehörigen von der Verlegung verständigt.“459 Fausers Handeln in dieser Geschichte mag heroisch erscheinen, wenn man die Rüge betrachtet, die ihr Anruf in Stuttgart für ihren Vorgesetzten zur Folge hatte. Doch bleiben ihre Motive unklar. Sie sagte in ihrer Vernehmung nicht etwa, dass sie gerne alle Kranken gerettet hätte, aber sich nur bei den Arbeits454 S. Zeittafel der festgestellten Transportfahrten der Grafenecker Krankenomnibusse und Zahl der Verlegten, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/04. 455 Aussage Dr. Fauser, 24.1.1946, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. 456 Ebd. 457 Ebd. 458 Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, ebd., Aussage Dr. Sorg, 13.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/01/02. 459 Aussage Dr. Sorg, 13.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/01/02.

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fähigen Erfolg ausrechnete, sondern sie gab an, sie wollte versuchen, „dass diese guten Arbeiter nicht zum Transport kommen sollten“460. Die Tötung von „schweren Fällen“ betrachtete sie dann auch nicht als Unrecht, sondern als hinreichende Begründung, warum andere Patienten den Tod finden mussten. Für die Anstaltspsychiatrie, die der „psychiatriefeindlichen Gesinnung“461 des nationalsozialistischen Staates gegenüberstand, waren gerade therapeutische Erfolge von immenser Wichtigkeit. So propagierte der Psychiater Carl Schneider, von 1933 bis 1945 Ordinarius für Psychiatrie der Universität Heidelberg und ab Juli 1939 Teil der Expertengruppe des „Euthanasie“-Programms, eine Arbeitstherapie für alle psychiatrischen Patienten, „die in die seelischen, körperlichen und physiologischen Regulationsabläufe des Kranken eingreift“462. Chronisch Kranke allerdings, die nicht durch moderne Methoden (Arbeit, Cardiazol- oder Insulintherapie) behandelbar waren und nicht arbeiten konnten, blieben für die Psychiatrie uninteressant.463 Dennoch sollte Fauser der Rettungsversuch ihrer arbeitsfähigen Patienten angerechnet werden – welche Hintergründe er auch hatte.

Abb. 3 Martha Fauser464

Im September 1940 erhielt Fauser nach dem Weggang von Alfons Stegmann den Posten als stellvertretende Direktorin der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten. Zu ihrer Ernennung äußerte Eugen Stähle: „Damals herrschte Arztmangel. Meiner Erinnerung nach hat Dr. Mauthe die Dr. Fauser für Stegmann in Vorschlag gebracht. Sie dürfte dienstaltermäßig dran gewesen sein. […] Parteizugehörigkeit und Euthanasieaktion

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Aussage Dr. Fauser, 24. Januar 1946, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. S. Faulstich (1998), S. 101. S. Rotzoll, Hohendorf (2012), S. 312. Ebd., S. 314. Passakte Dr. Fauser, StAL F 215 Bü 168.

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spielten hierbei keine besondere Rolle.“465 Sicherlich war die Parteizugehörigkeit für Fausers Bestimmung zur stellvertretenden Direktorin nicht unerheblich, aber wahrscheinlich auch nicht all zu wichtig. Fauser stellte für das Innenministerium Stuttgart anfangs nur eine Übergangslösung dar und sollte ersetzt werden, sobald ein passender Kandidat gefunden wurde. So sagte Otto Mauthe in seiner Vernehmung: „Sie kam als endgültige Direktorin keinesfalls infrage [sic!].“466 Aus diesem Grund behielt Fauser zu Beginn ihrer Tätigkeit parallel zu ihrer neuen Unterkunft in Zwiefalten auch noch ihr Zimmer in der Heilanstalt Weissenau. In der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten bewohnte sie die ehemalige Assistentenwohnung mit zwei Zimmern im ersten Stock des Prälaturbaus.467 Im Mai 1941 besichtigte Otto Mauthe die Anstalt Zwiefalten und nutzte seine Visitation, um sich zu versichern, ob die Ärztin ihre Aufgabe gut erfüllte. In seinem Bericht stellte er fest: Dr. Fauser ist sachlich und durch ihr entschiedenes Auftreten den Geschäften der Direktion wohl gewachsen. Immerhin gibt ihr besonderes Wesen wie ich gehört habe, doch hin und wieder Anlass zu Reibereien. […] Ob Frl. Dr. Fauser auf die Dauer in der Lage sein wird, die Anstalt zu leiten, lässt sich heute noch nicht ganz übersehen; die weiteren Entwicklungen müssen noch abgewartet werden.468

Diese „besonderen“ charakterlichen Züge wurden auch von zahlreichen Zeugen vor Gericht beschrieben. Prozessteilnehmer charakterisierten die Medizinerin als „besonders menschliche Ärztin“469. Gleichzeitig kam aber immer wieder ihr leicht reizbarer und ambivalenter Charakter zur Sprache. Zahlreiche Zeugen und Zeuginnen bescheinigten Fauser eine doch manchmal sehr grobe Art mit Patienten und Patientinnen oder Angehörigen zu sprechen, die dann aber auch schnell wieder in das Gegenteil umschlagen konnte. Exemplarisch seien einige Charakterisierungen genannt. Die Pflegevorsteherin der Anstalt Zwiefalten bezeichnete Fauser als „offenen Charakter“470. Es sei nicht immer gut Kirschen essen gewesen mir ihr, weil sie oft unbeherrscht gewesen sei, jedoch „gutmütig“.471 Otto Mauthe beschrieb Fauser als „Psychopathin“472, Eugen Stähle bezeichnete sie als „hypoman“, aber möglicherweise im Bereich des Normalen.473 Ihr zwiespältiger Charakter wurde auch vom Wirtschaftsverwalter der Anstalt Zwiefalten in seiner Aussage betont: „Sie konnte manchmal gegen mich und gegen das

Aussage Dr. Stähle, 10.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/17. Aussage Dr. Mauthe, 19.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Schreiben Heinrich Metzger, 15.10.1941, Personalakte Dr. Fauser, StAS Wü 42 T 60 Nr.116. Bericht von Otto Mauthe über die Besichtigung der Heilanstalt Zwiefalten, 27./28.5.1941, Personalakte Dr. Fauser, ebd. 469 Schwäbisches Tagblatt, 29.6.1949, Nr. 76. 470 Aussage Paula Rehm, 5.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. 471 Ebd. 472 Aussage Dr. Mauthe, 19.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. 473 Aussage Dr. Stähle, 10.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/17. 465 466 467 468

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Personal […] sowie gegen Angehörige von Patienten recht ausfällig werden, konnte aber im nächsten Augenblick schon wieder außerordentlich gütig sein.“474 Ihr Erscheinungsbild war der Ärztin unwichtig. Dazu sagte Dr. Weskott: „Ihr Äußeres war nicht sehr gepflegt, sie kokettierte gerne mit ihrer Häßlichkeit, gab sich aber sehr natürlich.“475 Das Bild, das die Ärztin Helene Volk von Fauser entwickelte, hielten andere Zeugen für übertrieben. Volk war ein Jahr lang Volontärärztin in Zwiefalten gewesen und hatte die Anstalt 1938 verlassen. Auf einer Rückreise von München im Sommer 1940 beschloss sie, einen kurzen Halt in Zwiefalten einzulegen, um ihre ehemalige Arbeitsstelle zu besuchen. Was sie in Zwiefalten erlebte, schockierte sie: Der lange, ehemalige Klostergang war übervoll mit Patienten gepfropft. Sie lagen auf der Erde, auf den Stühlen, auf Strohsäcken, auf Tischen, bunt durcheinander, alte und junge, unförmige, missgestaltete, völlig kahl geschorene Menschen, denen mit blauer Farbe eine Nummer auf die Vorderstirn und auf den Unterarm aufgeschrieben war. Auch die Krankensäle waren mit diesen unglücklichen „Nummern“ vollgepresst. Es waren dies Insassen aus einer Idiotenanstalt Württembergs. Ich habe eine derartige Massierung an menschlichem Elend und an unästhetischen Gestalten nie mehr angetroffen. Ich konnte nur durch wenige Säle gehen, es war mir psychisch nicht möglich, und als ich dann in den Klostergang zurückschritt, streckten die Patienten mir ihre Hände, um die sie einen Rosenkranz geschlungen hielten, entgegen und beteten im Chor: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder.“ Ich vermochte nicht mehr weiter zu gehen und verliess fluchtartig die Station. […] Von den ehemaligen Kollegen war niemand mehr da. Ich meldete mich bei dem leitenden Arzt und stand im Direktionszimmer einer Medizinalrätin, Frl. Dr. Fauser, gegenüber. […] Ich habe […] nie den Eindruck vergessen, den ich von dieser Person bekommen habe, als ich ihr gegenüberstand. Sie war die entmenschlichste Frau, die mir je begegnet ist. Es war kein Funke von Güte, von fraulichem Wesen mehr an ihr. Sie kam mir vor wie eine Bestie, die, ohne mit der Wimper zu zucken, den Auslieferungsschein von Hunderten von Patienten unterschrieb. […] Ohne dass ich es ahnte, war ich in die Vorstation von Grafeneck geraten und erfuhr dann noch, dass die dicken, unförmigen Menschen weniger Oel bei der Verbrennung brauchten als die mageren.476

Zu Volks Angaben äußerten sich andere Zeugen und erklärten, dass nur die, die Fauser nicht kannten, ein solches Bild von ihr entwickeln konnten. So gab Heinrich Metzger zu Protokoll, dass diese Beurteilung von Fauser viel zu weit gehe. Außerdem sei sie häufig abweisend gewesen und deswegen kalt erschienen.477 Die sonstigen Verhältnisse der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten, die Volk in ihrer Aussage so drastisch geschildert hatte, kommentierte Metzger ebenfalls: „Die nach Zwiefalten von auswärtigen Anstal474 475 476 477

Aussage Heinrich Metzger, 2.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1755/02/05. Aussage Dr. Weskott, 12.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/05. Aussage Dr. Fürst, 16.11.1946, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Aussage Heinrich Metzger, 2.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05.

Dr. Martha Fauser

ten zwischenverlegten Patienten mußten in den Wandelgängen des Klosters untergebracht werden, weil in den Sälen kein Platz war.“478 Auch seien die Patienten schon mit den Nummern am Körper in Zwiefalten eingetroffen. Metzger fügte hinzu: „Daß es sich hier um eine Massierung von Elend gehandelt hat, ist klar.“479 Fauser trage seiner Meinung nach allerdings keine Schuld daran. Tatsächlich war die Anstalt Zwiefalten als Zwischenstation für Grafeneck im Jahre 1940 kurzzeitig mit der Aufnahme von hunderten Patienten konfrontiert, die dann keinen Platz in den Krankensälen mehr fanden. Faulstich berechnete die Gesamtzugänge des Jahres 1940 auf über 1 200, was dann eine Gesamtpatientenzahl von über 1 900 im Jahr 1940 ausmachte.480 Die Tatsache, dass in der Anstalt am 1. Januar 1941 652 Patienten gezählt wurden, weist auf das Schicksal der zwischenverlegten Patienten hin.481 Nicht alle zwischenverlegten Patienten wurden in Grafeneck ermordet, einige starben auch vor der Deportation ins Tötungszentrum eines natürlichen Todes, selten konnten zwischenverlegte Patienten als Arbeitskräfte deklariert und damit der Ermordung entzogen werden. Otto Mauthe hatte der Anstaltsleiterin Fauser bei einem Besuch im September 1940 nicht gestattet, zwischenverlegte Patienten zurückzuhalten. Von ihren eigenen Kranken durften „Alterspsychosen, frische Fälle, arbeitende Leute und Kriegsbeschädigte“482 von den Transportlisten gestrichen werden. Die Ärztin sagte hierzu vor Gericht: „Ich habe mich aber nicht nur bemüht, Kranke der eigenen Anstalt zurückzuhalten, sondern auch Leute der Durchgangstransporte.“483 Dies sei ihr später allerdings vom Tötungsarzt Baumhard verboten worden, der rund dreimal bei Fauser in Zwiefalten gewesen sei. Zu diesen Gelegenheiten habe die Ärztin versucht, ihn in eine Diskussion über „Euthanasie“ zu verwickeln, die er allerdings abgeblockt habe. Die Transporte fertigte Fauser immer persönlich ab. Sie sah dann auch, dass nicht alle Patienten arglos in die grauen Busse stiegen. „Von den von Zwiefalten nach Grafeneck abtransportierten Kranken gingen 2/3 freiwillig mit“, so Fauser, „das restliche Drittel hat sich gegen den Abtransport mehr oder weniger stark gewehrt.“484 Die Patienten, die sich weigerten, in das Transportauto zu steigen, wurden vom Begleitpersonal mit Gewalt in die Omnibusse gezerrt. Für eine Gegnerin der „Euthanasie“, wie sie in der Eingangsgeschichte geschildert wurde, tat die Anstaltsleiterin dann doch wenig gegen die Deportation der Patienten. Vielleicht war sie aber auch mit der Masse an Kranken, die Zwiefalten von anderen Anstalten zugeführt wurden, überfordert, denn bis 1942 standen ihr nur zwei Assistenzärzte zur Seite, danach war sie bis zu ihrer Festnahme im August 1945 ohne ärztliches Personal.485 478 479 480 481 482 483 484 485

Ebd. Ebd. S. Faulstich (1998), S. 355. Ebd. Aussage Dr. Fauser, 27.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Ebd. Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, ebd. S. Breucker (1998), S. 385

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Im Oktober 1940 unterzeichnete Fauser eine Geheimhaltungsverpflichtung, war also offiziell in die „Aktion T4“ eingeweiht. Dazu Fauser: „Ich hatte keine Brille bei mir und unterschrieb die Verpflichtung, ohne sie zu lesen.“486 Zu ihrer Verteidigung vor Gericht führte sie an, dass sie einmal bei Stähle persönlich vorgesprochen und die „Euthanasie“ kritisiert habe. Im November 1940 sei sie nach Stuttgart gefahren und habe dem Ministerialdirektor erklärt, dass sie die „Euthanasie“ nicht nur wegen der Tötung der Patienten ablehne, sondern auch wegen der Unruhe, die die ganze „ Aktion“ im Volk auslöse. Stähle habe aber entgegnet, dass es ein Befehl des Führers und die „Aktion“ außerdem bald vorbei sei, was sie, nach eigenen Angaben, beruhigt habe.487 Es gab Fälle, in denen Martha Fauser sich persönlich für ihre Kranken einsetzte. Noch zu ihrer Zeit in Weissenau habe sie eine Patientin kennengelernt, die an Schizophrenie gelitten und ausgezeichnet Klavier gespielt habe. Die beiden hätten zusammen immer wieder Musik gemacht, „weil ich sie durch die Musik noch am besten aus ihrer Schizophrenie herausbekam“488, so die Ärztin. Fauser habe häufiger mit ihren Pflegekräften einzelne Patienten besprochen und kleine Randnotizen in den Patientenakten gemacht, falls besondere Begabungen vorgelegen hätten. So habe sie das musikalische Talent auch bei dieser Patientin in einer Bemerkung in der Patientenakte notiert. Dennoch habe sie den Namen der Kranken auf einer Transportliste entdeckt und die Patientin sei mit einem grauen Omnibus nach Grafeneck gebracht worden. Tötungsarzt Baumhard habe sie jedoch verschont. Fauser habe den Arzt daraufhin nach dem Grund der Zurückstellung gefragt. Er habe entgegnet, dass er Fausers Eintrag in der Krankenakte gelesen habe, „ich hätte so warm für sie gesprochen, daß er sich veranlaßt gesehen habe, sie zurückzuschicken“489, sagte die Medizinerin. Ein Fall, der zeigen kann, dass persönliche Fürsprache viel bewirken konnte – womöglich aber ein Einzelfall. Zwar kann nicht nachgewiesen werden, wie häufig Fauser sich durch Randnotizen für ihre Kranken einsetzte, jedoch bleibt zu bezweifeln, dass sie zu allen Patienten ein inniges Verhältnis entwickelte. Jedenfalls erwähnte sie in ihrer Befragung keine weiteren Kranken, die sie durch persönliche Fürsprache gerettet hatte. Es scheint für Fauser so gewesen zu sein, dass ein Rest an „menschlichen“ Eigenschaften, ein Rest an „Konnex mit der Umwelt“ oder ein besonderes musikalisches Talent die Mitwirkung bei den Krankentötungen schwieriger oder gar unmöglich machten. Immerhin waren Patienten, die man erreichen konnte, diejenigen, die noch für psychiatrische Therapieformen zugänglich waren. Bei Kranken, die teilnahmslos und arbeitsunfähig waren, zeigte die Medizinerin eine andere Haltung, die dann auch in dem von ihr verwendeten Vokabular deutlich wurde. So berichtete Fauser von weiteren in Grafeneck zurückgestellten Patienten: „Vereinzelt und auch in größeren Transporten hat mir 486 487 488 489

Aussage Dr. Fauser, 28.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, ebd. Aussage Dr. Fauser, 28.1.1948, ebd. Ebd.

Dr. Martha Fauser

Dr. Baumhard auch mißgestaltete Idioten zugeschickt, die in der Folge aber nach Grafeneck wieder geholt wurden.“490 Baumhard hatte für die Tobis-Werke491 in Grafeneck Patienten selektiert, die dann in Zwiefalten gefilmt und später wieder nach Grafeneck zurückgeschickt werden sollten. Tatsächlich hatte die Tobis-Filmkunst GmbH in einem Schreiben, Besuche in verschiedenen Anstalten zum Zwecke der „Filmarbeit“ für August bis Oktober 1940 angekündigt.492 Auch Poitrot erwähnte in seinem Bericht Filme, die von den Nationalsozialisten als Mittel der Propaganda gedreht werden sollten, um die Öffentlichkeit zu beeinflussen: Man zeigte absichtlich nur solche Fälle, welche die Geisteskrankheit in ihrer abstoßendsten Form darstellten: Degenerationserscheinungen mit körperlichen Defekten, chronisch Erkrankte, welche an der äußersten Grenze körperlicher und geistiger Entartung angelangt waren. In dem Gedankengang des Zuschauers mußte naturgemäß die Überlegung einsetzen: „Warum das Leben von Individuen erhalten, die das Leid gezeichnet hat, und die vielleicht nicht einmal das Bewußtsein ihrer Existenz haben und sich am liebsten selbst vernichten würden, wenn nicht geschickte Vorsichtsmaßregeln der Wärter sie daran hindern würden?“493

Karl Heinz Roth beschrieb die 1940 bestehenden Pläne der Kanzlei des Führers, Propagandafilme zu drehen: „Geplant waren Dokumentar-, Kultur- und wissenschaftliche Filme, die die Tötungspraxis in differenzierter Form zeigen und legitimieren würden.“494 Erste Vorschläge für einen „Propagandafilm“ lieferte Paul Nitsche, umsetzen sollte sie Hermann Schwenninger, der als Fahrer der GEKRAT auch für die Transporte von Patienten zu ihren Tötungsstätten verantwortlich war.495 Es sollten Bilder gezeigt werden, die auf die durch die behinderten und geisteskranken Patienten beanspruchte Fläche und die schönen Bauten hinwiesen, in denen die Psychiatrien untergebracht waren, gefolgt von Darstellungen, die das „Elend“ der Kranken sichtbar machen sollten. Das Ende eines Films würde sich den Aufnahmen von „unnützen Essern“ widmen und vergleichende Zahlen anführen, die den Aufwand und die Kosten der Pflege dieser erläutern sollten.496 Schwenninger bemühte sich um die Umsetzung von Nitsches Forderungen, es „setzte eine Jagd auf besonders fotogen entstellte Patienten ein, an der sich schließlich auch die Ärzte der ‚Ausscheidungsanstalten‘ beteiligten“497. Zu diesem Zweck wurden auch Patienten zurückgestellt, die schon in die Tötungsanstalt gebracht

Ebd. Die Tobis Filmkunst GmbH ist nicht mit der heute bestehenden Filmverleihgesellschaft Tobis Film zu verwechseln. 492 Schreiben der Tobis-Filmkunst GmbH an Dr. Stähle, 20.8.1940, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/02/04. 493 S. Poitrot (1945), S. 16. 494 S. Roth (1985), S. 133. 495 Ebd. 496 Ebd., S. 133 ff. 497 Ebd., S. 136. 490 491

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worden waren. Laut Roth ruhten die Arbeiten am Dokumentarfilm ab Dezember 1940. Gefragter wurden in der Folgezeit Spielfilme, die die Meinung der Bevölkerung subtiler beeinflussen sollten.498 Auch für diese von Grafeneck vorerst zurückgestellten Patienten trug Fauser die Verantwortung. In der Anklage warf die Staatsanwaltschaft Fauser konkret die Verantwortung für die Deportation von insgesamt 376 Patienten vor, die mit Ausnahme von sieben Patienten, die in der Tötungsanstalt Hadamar starben, alle in Grafeneck den Tod fanden. Die meisten der Todesopfer gingen der Anstalt Zwiefalten im Zuge der Zwischenverlegungen zu, 55 stammten aus Zwiefalten selbst.499 Die Staatsanwaltschaft glaubte nicht, dass Fauser die „Euthanasie“ ablehnte. Sie führte dazu zahlreiche Zeugenaussagen an. Der Wirtschaftsverwalter der Anstalt Zwiefalten gab an, dass Stähle Fauser als ein „willfähriges Werkzeug zur Durchführung der Grafenecker Aktion betrachtete und als gute Nachfolgerin in diesem Sinne von Dr. Stegmann“500. Nur deswegen habe sie den Direktorenposten in Zwiefalten erhalten. Ihr ehemaliger Assistenzarzt Dr. Kraus machte in seiner Aussage deutlich, seine Vorgesetzte „habe […] immer die Hoffnung gehegt, die Grafenecker Aktion wiederhole sich“501. Dr. Götz, seit Mai 1940 Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Schussenried, sagte aus, Dr. Stähle sei mit seiner Haltung bezüglich der „Euthanasie“ nicht einverstanden. Dr.  Fauser hingegen müsse man eher bremsen.502 Zu ihrer eigenen Einstellung äußerte sich Fauser vor Gericht mehrmals. So gab sie an: Schon seit ich als Anstaltsärztin tätig bin habe ich sterbenden Patienten oder zum mindest [sic!] schwerkranken Patienten Einspritzungen von Morphium oder Scopalamin gemacht. […] Nie habe ich solche Einspritzungen gegeben, wenn etwa nur eine unheilbare Geisteskrankheit vorlag, sondern immer nur dann, wenn zu der unheilbaren Geisteskrankheit ein fortgeschrittenes körperliches Siechtum hinzukam oder aber auch eine akute schwere Erkrankung wie z. B. Lungenentzündung.503

Später gab sie an, dass sie dem Menschen Sterbehilfe leistete, „bei dem der Tod mit Sicherheit in kurzer Zeit, innerhalb Stunden […] zu erwarten ist, bei dem also ein Todeskampf vorliegt, den man diesem Menschen ersparen will“504. Sie sagte dazu aus, dass diese Form der Sterbehilfe, „ärztlicher Brauch und menschliche Pflicht“505 sei und bereits vor 1933 angewandt wurde. Die Form der „Euthanasie“, die Massentötung von Patienten, wie sie in Grafeneck praktiziert worden sei, lehne sie hingegen ab, weil sie „im Grundsatz, nach der Art ihrer Durchführung, nach ihrem Zweck, überhaupt 498 499 500 501 502 503 504 505

Ebd., S. 137 f. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Aussage Heinrich Metzger, 2.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Aussage Dr. Götz, 2.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/01/03. Aussage Dr. Fauser, 26.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Aussage Dr. Fauser, 28.1.1948, ebd. Ebd.

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keine Euthanasie in irgendwelchem Sinne“ gewesen sei.506 Warum sich Fauser dezidiert zu ihrer Haltung zur „Euthanasie“ äußern musste, lag an der vor allem in den letzten Kriegsjahren hohen Zahl an Sterbefällen in der Anstalt Zwiefalten, die auch dem Untersuchungsrichter aufgefallen war. Für den Juristen lag die Vermutung nahe, dass Fauser möglicherweise Patienten durch Medikamente tötete. Nach Fausers Angaben ließ Stähle über Mauthe 1941 den Wunsch an sie herantragen, „Einzeleuthanasie“ zu betreiben: „Er betonte dabei den Namen Stähle, zweifellos, um sich nicht selbst mit diesen Worten zu identifizieren.“507 Sie habe sich abgewandt und Mauthe auf Nachfrage gesagt: „Wenn Sie es wollen, können Sie es ja bejahen.“508 Dabei betonte sie in ihrer Aussage, dass über die Form der „Euthanasie“ nicht gesprochen worden sei und sie keine als die von ihr erwähnte Form der Sterbehilfe geleistet habe. Auch dem Wirtschaftsverwalter Metzger gegenüber sprach sie über Stähles Ansinnen. Dazu gab dieser vor Gericht an: „Mein Eindruck war, daß sie nicht widersprochen hat, jedoch immerhin möglicherweise nur im Sinne einer Sterbehilfe.“509 Auch Metzger selbst glaubte nicht, dass in Zwiefalten Patienten ermordet wurden. Die hohen Sterberaten wurden von allen Zeugen auf den Charakter der Anstalt zurückgeführt, die ab 1941 Pflegeanstalt für Württemberg wurde und deswegen vor allem schwer kranke Patienten aufnehmen musste. Auch der Untersuchungsrichter kam zu dem Urteil, dass „die Zahl der Todesfälle […] keinen Anhaltspunkt für die Verabreichung überdosierter Spritzen und Tabletten [gebe]“510. Fauser selbst äußerte sich dazu vor Gericht: „Die Sterblichkeit in der Anstalt ist ab 1942 dauernd angestiegen.“511 Dies führte sie auf verschiedene Ursachen zurück. Sie betonte, dass Zwiefalten Pflegeanstalt geworden sei, und sogar „sterbende“ Patienten aufgenommen habe. Außerdem seien 1942 die Tuberkulose-Fälle angestiegen. Ursächlich hierfür seien die schlechte Ernährungslage und die Überbelegung. „Die Anstalt bekam keine Zulagen […].“512 Dennoch war auch Fauser erstaunt, dass bei der Volks-Röntgenuntersuchung, die 1943 stattfand, bei kaum einem Patienten eine Tuberkulose diagnostiziert worden war. Die Kranken hätten häufig unter Lungenentzündungen gelitten, weil es wenig Heizmaterial gegeben habe und immer wieder seien Typhus-Fälle aufgetreten. Faulstich wies nach, dass die Tagesausgaben für die Ernährung eines Patienten in der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten zwischen 1938 und 1944 sanken (von 65 auf 47 Reichspfennige).513 Dies galt allerdings für alle staatlichen Anstalten Württembergs und war Teil des nationalsozialistischen Vernichtungsplans gegen Anstaltspfleglinge. Betrachtet man die von Faul506 507 508 509 510 511 512 513

Ebd. Aussage Dr. Fauser, 29.1.1948, ebd. Ebd. Aussage Heinrich Metzger, 2.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. Aktennotiz von Untersuchungsrichter Gilsdorf, 27.10.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. Aussage Dr. Fauser, 29.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Ebd. S. Faulstich (1998), S. 345.

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stich aufgestellte Statistik hinsichtlich der Sterbefälle, ergibt sich ein gravierendes Bild. Während die Sterberate in Zwiefalten zwischen 1935 und 1938 durchschnittlich noch bei 3,8  Prozent lag, stieg sie bis 1945 kontinuierlich bis auf 46,5  Prozent an.514 Dazu schrieb Faulstich: „Die Zahlen sind erschütternd und weisen auf aktive Tötungsmaßnahmen hin.“515 Faulstich ging bereits bei Sterberaten von über 20 Prozent von einer aktiven Tötung von Patienten durch „Hungersterben“ oder die Kombination aus Hunger und Medikamentengabe aus.516 Für die in Zwiefalten durch Medikamente ermordeten Patienten gibt es allerdings keine genauen Zahlen.517 Auch das Gericht in Tübingen ahndete nur eine geringe Anzahl von sicher nachweisbaren Fällen. Dennoch zeigten sich bei den Angaben der Anstaltsdirektorin, des Zwiefaltener Personals und der im Innenministerium Verantwortlichen Dr. Stähle und Dr. Mauthe Auffälligkeiten und Widersprüche. Stähle stellte in Abrede, je einen Auftrag zur „Einzeleuthanasie“ gegeben zu haben und auch Mauthe erinnerte sich vor Gericht nicht daran.518 Das Personal leugnete, dass Tötungen in Zwiefalten vorgekommen seien. Auffällig blieb, dass der nach Fausers Festnahme als Direktor der Anstalt eingesetzte Arzt bei seiner Kontrolle der Tagesberichte der einzelnen Abteilungen Angaben über die Verabreichung von dreimal täglich 0,3 Gramm Luminal gefunden hatte. Dazu gab der Untersuchungsrichter an: „Nach Ansicht des Dir. Dr. Möller ist diese Dosis hoch und kann bei einer gewissen Hinfälligkeit des Kranken bei wiederholter Verabreichung zum Tode führen.“519 Tatsächlich entsprach diese Dosierung dem sogenannten Luminal-Schema, das Professor Nitsche 1940 entwickelt hatte und mit dessen Hilfe unterernährte Patienten mit niedrigen Dosierungen des Barbiturats getötet werden konnten. Im Urteil gegen Nitsche hieß es dazu: Anfang 1940 erhielt der Angeklagte Dr. Nitsche in Berlin den Auftrag, eine Art Modellverfahren durchzuführen zur Feststellung, wie niedergeführte Geisteskranke durch Verabreichung von Luminal, Veronal, Trional oder Paraldehyt getötet werden können.520

Auch auf die konkrete Tötung ging das Urteil ein: Das geschah dadurch, dass einmal oder mehrfach den Kranken gewöhnlich zweimal 0,3 Gramm täglich Luminal, eine an sich zulässige, bei dem schwachen Zustand jedoch für manchen Kranken zu hohe Dosis – manchmal auch dreimal 0,3 Gramm Luminal – verabreicht wurde.521

514 515 516 517 518 519 520 521

Ebd., S. 355. Ebd., S. 356. Ebd., S. 586. Ebd., S. 356. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Aktennotiz von Untersuchungsrichter Gilsdorf, 27.10.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. Abschrift des Urteils gegen Dr. Hermann Paul Nitsche u. a., StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1759/04/03. Ebd.

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Eine Tötungsmethode also, die sich tarnen ließ. So hatte auch das Gericht in Tübingen Probleme, die Medikamentengabe als zu hoch dosiert zu betrachten. Zum einen wurde im Prozess ein Sachverständiger gehört, der bescheinigte, dass die in Zwiefalten verabreichten Dosierungen eigentlich üblich gewesen seien, zum anderen gab das Pflegepersonal an, dass viele Medikamentengaben aus Zeitmangel gar nicht in die Patientenakten eingetragen worden seien. Auffallend erhöht zeigten sich auch Fausers Medikamentenanforderungen. Dies fiel auch dem Wirtschaftsverwalter Metzger auf. Den Grund, so gab er vor Gericht an, habe er nicht gekannt.522 Auch die Apothekerin, von der die Anstalt die Medikamente bezog, berichtete über ein Ansteigen der bestellten Mengen. Es sei ihr jedoch kein anormaler Verbrauch aufgefallen.523 Die Anstalt hatte einen Vertrag mit der Apotheke und musste die Medikamente von dort beziehen. Die Direktionsassistentin erinnerte sich an zwei Fälle, in denen sie Anforderungen für Arzneimittel nicht an die Apotheke geschickt habe. Eine Bestellung ging im November 1944 an den Wehrkreis, eine weitere im Januar 1945 an Eugen Stähle.524 Vor Gericht sagte Fauser dazu, dass sie ein paar Mal Scopalamin wegwerfen musste, weil es alt geworden sei. Fand dieses abgelaufene Medikament dennoch Verwendung, so sei der Verbrauch höher gewesen, da die Dosierung zum Erreichen einer Wirkung gesteigert werden musste. Da sie 1944 wegen Luftangriffen in ständiger Sorge gewesen sei, dass ihre Vorräte zerstört werden könnten, habe sie das Angebot eines Sanitätsoffiziers des Wehrkreises angenommen, von dort Medikamente zu bestellen, um an verschiedenen Stellen innerhalb der Anstalt Vorräte einrichten zu können.525 Einige Aussagen, die Fauser gegenüber ihren Angestellten machte, scheinen zumindest einen Hinweis auf ihre wahre Einstellung gegenüber der nationalsozialistischen „Mordaktion“ zu liefern. Auf einer Autofahrt 1941 oder 1942, genau konnte sich Wirtschaftsverwalter Metzger in seiner Aussage nicht mehr erinnern, hätten Fauser und er über die vielen Todesfälle in der Heil- und Pflegeanstalt gesprochen. Fauser habe daraufhin in „spaßhaftem Ton“ geäußert, dass sie „hier und da“ etwas nachhelfe.526 „Wenn Du nicht parierst, kriegst Du eine Spritze“527, sagte sie oft zu den Pflegekräften und den Kranken. Es ergibt sich kein schlüssiges Bild über die Einstellung und Handlungen der Medizinerin, auch den Menschen, die Fauser kannten, blieb sie am Ende ein Rätsel. So erzählte Wirtschaftsverwalter Metzger vor Gericht, dass er am Ende des Krieges 1945 mit ihr sprach und sie zu ihm gesagt haben soll, „daß noch etwa 500 Kranke im Hause seien, die für Grafeneck geeignet gewesen wären“528. Die vielen Todesfälle in der Anstalt Zwiefalten blieben auch in der Umgebung nicht unbemerkt. Heinrich Hermann, Hausvater der Taub522 523 524 525 526 527 528

Aussage Heinrich Metzger, 2.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. Aussage Luise Kaiser, 5.2.1948, ebd. Aussage Lydia Geiselbrecht, 5.2.1948, ebd. Aussage Dr. Fauser, 1.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Aussage Heinrich Metzger, 2.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. Aussage Paula Rehm, 5.2.1948, ebd. Aussage Heinrich Metzger, 2.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05.

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stummenanstalt Wilhelmsdorf, hatte bereits im März 1941 19 Patienten zum Transport vorbereiten müssen. Über die Zwischenanstalt Zwiefalten wurden diese Kranken in das Tötungszentrum Hadamar verlegt, wo sie ermordet worden waren. Nach dieser für den Hausvater schlimmen Erfahrung hatte er versucht, im Innenministerium zu erreichen, dass seine Patienten von weiteren Deportationen verschont blieben. „Die Erwiderung war, daß Meldungen so lange erfolgen müssen, als Schwachsinnige und Epileptische vorhanden seien […]“529, so Hermann in seiner Aussage. Dieser Ansage war im Juli 1943 ein Schreiben des württembergischen Innenministeriums gefolgt, das eine Untersuchung der Wilhelmsdorfer Patienten durch Dr. Mauthe und Dr. Sorg ankündigte. Die noch in der Anstalt verbliebenen „Schwachsinnigen und Epileptiker“ sollten demnach verlegt werden. Die Untersuchung fand statt und einige Kranke wurden selektiert. Die Jugendlichen wurden nach Heggbach, Erwachsene nach Zwiefalten verlegt. Vor Gericht gab Hermann an, dass die Jugendlichen in Heggbach gut versorgt worden seien, zu Zwiefalten sagte er: „Bezüglich der nach Zwiefalten verlegten, insbesondere weiblichen Pfleglinge, ist mir aufgefallen, daß sie nach und nach gestorben sind.“530 Hermann sprach mit Fauser über die Todesfälle. Sie erwiderte: Ich kann Ihnen das eine sagen, wenn ich ein kleines Kind eingeliefert bekomme, von dem ich annehme, daß es seinen Eltern eine Last ist und dieses Kind bekommt eine Lungenentzündung, dann werde ich nicht mehr alle Mittel anwenden […] um das Leben zu verlängern.531

Diese Äußerung Fausers habe den Hausvater beruhigt. Zu den Wilhelmsdorfer Patienten nahm Fauser vor Gericht Stellung. Diese seien eines natürlichen Todes gestorben.532 Die Patientenakten der verstorbenen Wilhelmsdorfer Kranken zeigten allerdings einige Auffälligkeiten. In der Krankenakte einer Patientin wurde als Todesursache eine Lungenentzündung vermerkt. Diese Diagnose war allerdings das erste Mal am Todestag dokumentiert worden. Vier von Hermanns ehemaligen Patienten starben in Zwiefalten an Epilepsie, einer Todesursache, die laut Heinz Faulstich eine gewisse Skepsis nach sich ziehen sollte.533 Als aufschlussreich zeigten sich dem Gericht auch die Kommentare, die den Patientenakten hinzugefügt wurden. Drei der Wilhelmsdorfer Patientinnen bezeichnete Fauser als „wertlos“534. Obwohl diese Fälle in der Anklageschrift genannt wurden, ließen sie sich nicht beweisen. Und so blieb es im Fall der Wilhelmsdorfer Patienten nur bei Verdachtsmomenten.

529 530 531 532 533 534

Aussage Heinrich Hermann, 8.12.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/03. Ebd. Ebd. Aussage Dr. Fauser, 31.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. S. Faulstich (1998), S. 255. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01.

Dr. Martha Fauser

Zwar stritt Fauser ab, mit dem Sterben der Wilhelmsdorfer Patienten zu tun zu haben, doch hatte sie in einer früheren Aussage einige Fälle der „Einzeleuthanasie“ gestanden. In ihrer Befragung durch den Freiburger Untersuchungsrichter sprach sie offen von drei Einzeltötungen. Sie erzählte die Geschichte eines Patienten, der an angeborenem Schwachsinn oder dem Endzustand einer progressiven Paralyse gelitten habe, in der Heilanstalt Zwiefalten aber immer noch bedingt arbeitsfähig gewesen sei. Eines Tages habe der etwa 60-Jährige von seiner Arbeit zu fliehen versucht, sei aber nach einigen Tagen aufgegriffen worden. Durch die Aufregung der Flucht habe er eine Bronchitis entwickelt. Fauser habe dem Kranken erklärt, dass er ab jetzt in der Anstalt bleiben müsse. Der Mann habe daraufhin erwidert, dass er lieber sterben wolle als weiter in der Anstalt zu leben. Fauser habe dem Patienten dann durch einen Pfleger Morphium und Scopalamin intravenös verabreichen lassen. Da die Spritzen keine Wirkung gezeigt hätten, habe sie dem Kranken noch Trional geben lassen. Der Patient sei eine bis zwei Wochen später an einer Lungenentzündung verstorben, so Fauser.535 Zu diesem Fall fügte sie hinzu: „Da dieser Patient neben seiner unheilbaren Geisteskrankheit auch noch Bronchitis […] hatte, nahm ich diese Gelegenheit wahr, um durch Verordnung der Spritzen ihn von seinem Leiden zu erlösen.“536 Die Medikamente seien aber auch durch seinen Erregungszustand gerechtfertigt gewesen, um ihn zu beruhigen. Sie fügte dann noch hinzu: „Bei den späteren Einspritzungen fiel aber dieses Motiv weg.“537 In einer späteren Vernehmung schilderte Fauser den Fall etwas anders. Der Erregungszustand des Patienten habe sich durch die Scopalamingabe nicht gebessert. Deswegen habe sie ihm Trional in Tablettenform verabreicht. Der Patient sei an einer Lungenentzündung erkrankt und als sie ihn das nächste Mal gesehen habe, sei er bereits in einem desolaten Zustand gewesen.538 Um sein Leiden zu mindern, habe sie ihm nochmals Trional geben lassen. Obwohl sie in ihrer zweiten Aussage „nur“ Sterbehilfe gewährte, verriet Fauser dennoch in ihrem Vokabular etwas über ihre Einstellung zu diesem Patienten: „Es handelte sich um einen Alkoholiker mit amoralischem Schwachsinn, seit langem in Anstalten. Von Weißenau nach Zwiefalten verlegt, weil als Arbeiter nicht zu gebrauchen, oft vorbestraft.“539 Zu einem weiteren Fall äußerte sich Fauser auf Nachfragen des Untersuchungsrichters. Der Jurist hatte den Brief des Juden Siegbert Einstein erhalten, in dem dieser die Geschichte einer in Zwiefalten verstorbenen jüdischen Patientin erzählte. Einstein sei im März 1942 mit dem Fahrrad durch Zwiefalten gefahren und habe auf dem Klostergelände einen Mann, der einen „Judenstern“ trug, gesehen. Er habe angehalten und die beiden seien

535 536 537 538 539

Diesen Fall schilderte Fauser am 26.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Ebd. Ebd. Aussage Dr. Fauser, 31.1.1948, ebd. Ebd.

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ins Gespräch gekommen: „Er stellte sich mir als ein Herr P. vor […].“540 Frau P. sei wegen einer psychischen Erkrankung in die Pflegeanstalt Zwiefalten gebracht worden. Ihr Mann habe sie dort bereits einmal besucht und sie in gutem Zustand vorgefunden. Nun habe er auf dem Anstaltsgelände gewartet, weil er die Möglichkeit bekommen sollte, die leitende Ärztin zu sprechen. Er habe die Hoffnung gehabt, seine Frau wieder mit nach Hause zu nehmen. Siegbert Einstein habe ihm dabei Gesellschaft geleistet. Einige Stunden später sei P. sehr erregt von seinem Gespräch mit der Anstaltsleiterin zurückgekehrt. Diese hätte ihm erklärt, dass der Zustand seiner Frau nicht so gut sei wie er geglaubt habe und dass er der jüdischen Gemeinde in Buchau berichten solle, „dass in wenigen Tagen die Beerdigung seiner Frau dort stattfinde“541. „Diesen Bericht“, so Einstein, „bekam der Ehegatte der Frau P. zu einer Zeit, wo seine Frau noch am Leben war und einige Stunden vor dieser Unterredung bei bester Verfassung sich befand.“542 Frau P. sei einige Tage später gestorben und in Buchau beerdigt worden. Herr P. sei ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert worden. Er habe vor seiner Deportation noch mit Einstein gesprochen und einen „gewissen Verdacht“543 geäußert. Fauser beschrieb Frau P. als Schlaganfall-Patientin, die „völlig verwirrt und aufgeregt“544 in die Anstalt Zwiefalten verlegt worden sei. Dort habe sie einen zweiten Schlaganfall erlitten. Weiter erklärte Fauser: „Ich erinnere mich noch, dass der Ehemann der Patientin mir erklärte, er käme jetzt weg, könne aber seine Frau nicht mitnehmen und er bitte mich, seine Frau von ihrem Leiden zu erlösen.“545 Die Patientin habe zur Beruhigung Scopalamin und Morphium erhalten. Fauser konnte sich nicht mehr erinnern, ob die Patientin durch die Medikamente oder eines natürlichen Todes gestorben war, sie habe bei der Behandlung allerdings unter dem Einfluss der Bitte des Ehemanns gestanden.546 Vor dem Münsinger Gericht bestritt Fauser allerdings, die Patientin P. als „Euthanasie“-Fall zu betrachten. Möglicherweise habe sie bei der Kranken sogar deswegen auf eine Medikamentengabe völlig verzichtet, weil Frau P. Jüdin war und sie entstehenden Gerüchten vorbeugen wollte.547 Antonie V., die wahrscheinlich an einer unerkannten Schilddrüsenhypoplasie gelitten hatte und nie sprechen und gehen lernte, wurde von ihren Eltern im Alter von sechs Jahren in die Anstalt Herten am Rhein verlegt und ein Jahr später, 1927, nach Bamlach gebracht, wo sie bis 1940 blieb. Die junge Patientin wurde dann ohne Kenntnis der Eltern nach Zwiefalten zwischenverlegt mit dem Ziel, in Grafeneck ermordet zu werden. Die Tötung verzögerte sich, da die Kranke für nationalsozialistische Propaganda 540 541 542 543 544 545 546 547

Schreiben von Siegbert Einstein, 17.5.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. Ebd. Ebd. Ebd. Aussage Dr. Fauser, 26.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Ebd. Ebd. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01.

Dr. Martha Fauser

gefilmt werden sollte.548 Die Eltern konnten nur in mühevoller Recherche herausfinden, wohin ihre Tochter verlegt worden war. Der Vater habe im November 1940 Antonie in der Anstalt besucht und beschrieb seine Ankunft in Zwiefalten vor Gericht: „Schon als ich mich in der Ortschaft Zwiefalten nach der Anstalt erkundigte, konnte ich aus dem Verhalten der Ortsbewohner, die ich befragte, schliessen, dass in der Anstalt etwas vorgehe, das nicht in Ordnung war.“549 Er habe seine Tochter in Zwiefalten besucht und sei froh gewesen, dass es ihr gut gegangen sei. Stutzig habe ihn nur die Nummer gemacht, die seiner Tochter mit Tintenstift auf die Hand gezeichnet geworden sei. Daraufhin habe er verlangt mit der Anstaltsleitung zu sprechen. „Ich sagte ausdruecklich zu Frau Dr. Fauser, dass man bei uns zu Hause das Vieh im Schlachthofe mit Nummern versehe“550, so V. in seiner Aussage. Die Direktorin habe ihm „andeutungsweise [erklärt], dass es für das Kind das Beste wäre, wenn es sterben würde“551. Er habe die Ärztin gebeten, seine Tochter mit nach Hause nehmen zu dürfen, sie habe es ihm verweigert. Fritz V. erklärte dann: „Nachdem, was ich jetzt hier gesehen und beobachtet habe, sehe ich ein, dass ich meine Tochter eben auch opfern muss und dagegen machtlos bin.“552 Fauser fügte vor Gericht hinzu, dass V. sie gebeten habe, das Kind dann wenigstens im Sarg mit nach Hause nehmen zu können.553 Der Vater sei nach Hause gefahren und habe einige Tage später ein Schreiben der Anstalt erhalten, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass seine Tochter an Darmgrippe erkrankt sei. Er sei mit seiner Frau nach Zwiefalten gefahren und habe seine Tochter krank und bleich im Bett gefunden. Das Ehepaar habe nicht mehr mit Fauser gesprochen. Diese habe ihrem Assistenten, Dr. Kraus, die Aufgabe übertragen, der jungen Frau Scopalamin zu verabreichen, „damit die Eltern einen Sarg und keine Urne bekämen“554. „Die Antonie V. ist dann am folgenden Tag auch gestorben“555, erklärte Fauser dem Untersuchungsrichter. In ihrer Aussage betonte die Ärztin, dass der Vater der Patientin Parteigenosse gewesen sei und sie vom Kreisleiter die Erlaubnis bekommen habe, ihm „ruhig die Wahrheit zu sagen“556. Dies habe sie auch getan, indem sie ihm angedeutet habe, dass der Tod für seine Tochter das Beste sei. Diese Offenheit, so scheint es, konnte bei vermeintlichen Gesinnungsgenossen also gezeigt werden. So gibt die Aussage des Vaters, er müsse eben auch ein Opfer bringen, die Fauser in ihrer Vernehmung mit den Worten „wenn der Führer das wolle“557 etwas verändert wiedergab, einen Hinweis darauf,

548 549 550 551 552 553 554 555 556 557

Aussage Dr. Fauser, 29.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr.1756/03/04. Aussage Fritz V., 8.12.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. Ebd. Aussage Dr. Fauser, 26.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Aussage Fritz V., 8.12.1948, StAS Wü 29/3 T1 Nr. 1756/02/05. Aussage Dr. Fauser, 26.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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dass die Idee der Ermordung von Geisteskranken zumindest als Teil der nationalsozialistischen Ideologie akzeptiert wurde. Die Ärztin versuchte dem Untersuchungsrichter ihr Verhalten im Fall von Antonie V. verständlich zu machen. Sie betonte, dass ihr Handeln von der Absicht getragen worden sei, den Eltern den Wunsch zu erfüllen, die Tochter im Sarg beerdigen zu können. Damit gab sie ihrem Handeln ein moralisches Motiv.558 Diese Verteidigungsstrategie fand sich auch bei anderen Tätern und wurde beispielsweise in Himmlers Posener Rede vor SS-Gruppenführern 1943 propagiert, die bei der Ermordung von Juden „anständig geblieben“559 waren. Und auch Welzer beschrieb die „Spur jener Ethik der Anständigkeit, die die nationalsozialistische Moral den Tätern mit auf den Weg gegeben hat“560. In ihrer späteren Vernehmung war sich Fauser sicher, dass Antonie V. in Zwiefalten „auf natürliche Weise erkrankt“561 sei. Ihr sei lediglich zur Schmerzlinderung eine Morphiumspritze gegeben worden.562 Zwischen dem Tod von Antonie V. und dem der 29-jährigen Patientin Ilse H. lagen nur wenige Wochen. H. wurde ebenfalls 1940 nach Zwiefalten verlegt, um dann nach Grafeneck gebracht zu werden. Auch ihre Mutter erfuhr nichts von der Verlegung und wurde erst benachrichtigt, als ihre Tochter bereits in Zwiefalten angekommen war. Sie besuchte ihr Kind einige Male. „Die ersten 4 Male war meine Tochter in guter Verfassung, ich hatte den unbedingten Eindruck, dass sie gut gepflegt und gut ernährt war und dass alles in Ordnung war“563, so Susanne H. bei ihrer Vernehmung. Der Assistenzarzt Kraus habe ihr damals schon erklärt, dass sie um die Entlassung ihrer Tochter beim Innenministerium in Stuttgart bitten könne, was sie getan habe. Sie habe jedoch keine Antwort auf ihr Schreiben erhalten. Als sie ihre Tochter ein weiteres Mal besucht habe, sei diese krank gewesen. Dazu H.: „Med. Rät. Dr. Fauser erklärte, die Lunge sei angegriffen und mit dem Schlimmsten sei zu rechnen.“564 Bereits am folgenden Tag starb Ilse H. Erst an diesem Tag erhielt ihre Mutter Nachricht aus Stuttgart. Ihre Bitte um Entlassung der Tochter war vom Innenministerium abgelehnt worden.565 Die Mutter ließ die Leiche ihrer Tochter zwei Tage später nach Mariaberg überführen. Als Todesursache, so H., habe Fauser ihr gegenüber von einem vertrockneten Lungenflügel gesprochen. H. sei von einem natürlichen Tod ihrer Tochter ausgegangen, da ihr bereits ein anderer Anstaltsarzt einige Jahre zuvor erklärt habe, dass die Lunge ihrer Tochter angegriffen sei. Fauser schilderte in ihrer Vernehmung, dass sie, wie im Fall V., nach der Erkrankung des Mädchens ihren Assistenten Dr. Kraus angewiesen habe, der Patientin intravenös Medikamente zu verabreichen. „Als ich Dr. Kraus 558 559 560 561 562 563 564 565

Ebd. Zitiert nach Elbe (2010). S. Welzer (2013), S. 193. Aussage Dr. Fauser, 29.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Ebd. Aussage Susanne H., 26.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05. Ebd. Ebd.

Dr. Martha Fauser

den Auftrag zu den Einspritzungen gab, bezweckte ich dadurch den Tod des Kindes herbeizuführen“566, so die Ärztin. Die Mutter sei ihr nach dem Tod der Tochter vor Dankbarkeit um den Hals gefallen. Sie habe zum Ausdruck gebracht, ihr Kind lieber im Sarg zu sehen, als eine Urne mit nach Hause nehmen zu müssen.567 In ihrer späteren Vernehmung schilderte Fauser auch diesen Fall anders. Auch Ilse H. sei aus Grafeneck zurückgestellt worden, weil sie in Zwiefalten gefilmt werden sollte. „Die H. ist ohne unser Zutun erkrankt“568, so Fauser. Sie erhielt dann Sterbehilfe „zur Erleichterung des Todes“569. Bei ihrer Vernehmung in Freiburg erklärte die Medizinerin, dass V. und H. keine Einzelfälle gewesen seien: „Ich habe also in ähnlich gelagerten Fällen Einspritzungen gegeben, damit die Leute sterben konnten.“570 Die Ärztin sprach offen mit dem Freiburger Untersuchungsrichter. Ohne gefragt zu werden, schilderte sie die Geschichte eines Patienten, der sie um Sterbehilfe gebeten habe, die sie ihm dann auch gewährt haben will. „Der fragliche Patient hat unter Tränen mich an den Händen gefasst und angefleht, ich soll ihm eine Spritze geben, er wolle neben seinem Kameraden liegen“571, erzählte Fauser vor Gericht. Der Kranke habe nach dem Tod seines Bettnachbarn seinen Lebenswillen verloren. Die Medizinerin habe ihm auf seine Bitte Morphium in hoher Dosis verabreicht, „dass der Tod alsbald eintreten musste“572. Die Identität dieses Patienten konnte durch das Gericht nicht geklärt und so der Wahrheitsgehalt von Fausers Aussagen nicht festgestellt werden. Die einzige Möglichkeit für das Gericht überhaupt Anhaltspunkte für ein Verbrechen zu erhalten, war die Prüfung der noch vorhandenen Krankenakten. Bei Auffälligkeiten in den Dokumenten war die Medizinerin gezwungen, Angaben zu machen. So musste die Ärztin eine Aussage zu einem jungen Patienten aus der Schweiz machen, dessen Krankenakte zumindest dem Verdacht Raum gab, dass bei seinem Tod nachgeholfen wurde. Der Kranke litt an Epilepsie und entwickelte in der Zwiefaltener Anstalt eine Lungenentzündung, die die Ärzte mit Chinin-Calciumlösungen573 zu behandeln versuchten. Da diese Versuche erfolglos blieben, ließ Fauser ihm zur Beruhigung eine Scopalamin-Injektion verabreichen. Sie selbst gab dazu an: „Möglich ist, daß ohne diese Injektion das Herz vielleicht einige Tage länger durchgehalten hätte […].“574 Nicht nur die Patientenakte weckte das Interesse der Staatsanwaltschaft, sonAussage Dr. Fauser, 26.8.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Ebd. Aussage Dr. Fauser, 29.1.1948, ebd. Ebd. Aussage Dr. Fauser, 26.8.1947, ebd. Ebd. Ebd. Chinin-Calciumlösungen wurden in den 30er-Jahren zur Therapie der Pneumonie verwendet und galten als der sog. „Serumtherapie“ überlegen. S. Schöndube (1937). Nebenwirkungen des Chinins, wie z. B. Herzrhythmusstörungen, waren bekannt. Es wurde deswegen empfohlen, die Chinin-Calciumlösungen nicht intravenös zu verabreichen. S. Aschenbrenner, Codas-Thompson (1937), S. 1754. 574 Aussage Dr. Fauser, 30.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. 566 567 568 569 570 571 572 573

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dern auch die Aussagen der ehemaligen Anstaltsärzte. Die Anstaltsleiterin hatte in der Patientenakte eingetragen: „Bei dem völlig idiotischen epileptischen Knaben wird von therapeut. Massnahmen betr. seine Bronchopneumonie nun abgesehen, er erhält eine Injektion Scopol. zur Beruhigung.“575 Der Assistenzärztin Dr. Jehnes sei zu diesem Fall aufgefallen, dass die Krankenakte am Todestag sehr dürftig geführt worden war. Von einem Erregungszustand des Patienten habe sie nichts gelesen und sich deswegen über die Beruhigungs-Spritze gewundert.576 In seiner Aussage vor der französischen Militärregierung behauptete Dr. Kraus, Fauser habe mit der Injektion von Scopalamin den Tod des Patienten bezweckt.577 In der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten starben nicht nur Erwachsene unter zweifelhaften Umständen, sondern auch einige der in die Anstalt aufgenommenen kranken Kinder. Die ehemalige Leiterin konstatierte in ihrer Befragung, dass sie Kindern nie Medikamente zum Zwecke der „Euthanasie“ verabreicht habe. Zu den Todesfällen bemerkte sie: „Im Frühjahr 1944 erkrankte eine Anzahl der Kinder schwer und starben auffällig rasch.“578 Sie habe mit der Dienststelle des Landesjugendarztes telefoniert und gebeten, dass keine Kinder mehr geschickt werden, weil Infektionsgefahr herrsche.579 Vor Gericht gab die Psychiaterin an, weder von der Tätigkeit des „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ gehört, noch gewusst zu haben, dass „Kinderfachabteilungen“ existierten. Dies habe sie alles erst später erfahren. Die Angaben der Ärztin ließen sich nicht verifizieren. Es blieben dem Gericht nur die verdächtigen Krankenblätter der jung verstorbenen Patienten. So hatte Fauser über einen 8-jährigen, an einer Lungenentzündung erkrankten Patienten, notiert: „Da es sich um einen Vollidioten handelt, wird keine Therapie angewandt.“580 Über ein Mädchen, das 1944 an einer „Herzschwäche“ verstorben war, hatte die Ärztin in der Krankenakte folgendes vermerkt: „Bei der Idiotie wird von therap. Versuchen abgesehen.“581 Die Staatsanwaltschaft fand vor allem die Tatsache beachtlich, dass viele der im März und April 1944 gesund nach Zwiefalten verlegten Kinder bereits kurz nach ihrer Ankunft in der Anstalt erkrankt und dann rasch verstorben waren. Es war für die Juristen allerdings schwierig, Fauser ein Verbrechen nachzuweisen. Immerhin bestätigte auch das Pflegepersonal im Großen und Ganzen die Angaben der Ärztin.582 Gerüchte über die Geschehnisse in der Anstalt Zwiefalten entstanden aber nicht erst nach Kriegsende. Schon der Vater der Patientin V. hatte davon gesprochen, dass in Zwiefalten gemunkelt worden sei, es gehe etwas Unrechtes in der Anstalt vor. 575 576 577 578 579 580 581 582

Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Ebd. Ebd. Aussage Dr. Fauser, 1.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Ebd. Die Rolle Eyrichs wird in Kapitel 4.3 diskutiert. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Ebd. So z. B. Lydia Geiselbrecht am 3.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/05.

Dr. Martha Fauser

Die schwache Indizienlage machte es für die Staatsanwaltschaft schwierig, gegen Fauser in allen Verdachtsfällen Anklage zu erheben. So wurde der Ärztin am Ende vorgeworfen, dass sie „wohlüberlegte Tötungen zur Beseitigung ‚lebensunwerten Lebens‘ ausgeführt hat zum mindesten in dem Bewusstsein, damit in Übereinstimmung mit dem nazistischen Euthanasieprogramm zu handeln, und davon mitbestimmt“583. Außerdem ging die Staatsanwaltschaft von weiteren Fällen aus, die allerdings nicht näher bestimmt werden konnten. Fauser hatte in den jüngsten Vernehmungen Einzeltötungen abgestritten und hatte nur indirekte Sterbehilfe bejaht. Auch die Pfleger und Pflegerinnen bestritten vor Gericht, dass in der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten „Euthanasie“ betrieben wurde. Eine einzige Pflegerin gab zu Protokoll, dass auf der „Unruhigen“-Station der Patientinnen auch dann noch Injektionen verabreicht worden seien, wenn die Kranken längst ruhig geworden waren. „Sie sind gestorben, wenn sie mehrere Spritzen hintereinander gekriegt haben“584, so ihre Aussage. 4.2.2

Martha Fauser und die forensischen Patienten der Anstalt

Das Gericht hatte Schwierigkeiten, Fauser die Tötungen ihrer Patienten nachzuweisen und so blieb nur ihre Aussage vor dem Freiburger Untersuchungsrichter, dem sie gestanden hatte, drei Patienten mit Medikamenten ermordet zu haben. Die Anschuldigung eines ehemaligen Zwiefaltener Patienten, Johannes B., die Direktorin der Anstalt hätte für seine Deportation in das KZ Mauthausen gesorgt, wurde nicht untersucht und kam dann auch nicht zur Anklage. „Mit Euthanasie haben diese Verlegungen nichts zu tun, sie bildeten daher auch nicht den Gegenstand der Anklage der Staatsanwaltschaft“585, so das Gericht zum Fall des Patienten. Dieser war wegen verschiedener kleiner Delikte straffällig geworden und wurde im Februar 1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten gebracht.586 Grundlage der Einweisung bildete das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“, Paragraph 42 b des RStGB. Das Gesetz trat 1934 in Kraft und wurde damit zum „Instrument der nationalsozialistischen Kriminalpolitik“ sowie Zeichen der nationalsozialistischen Asylierungspolitik gegenüber unliebsamen Mitgliedern der Gesellschaft wie schuldunfähigen Verbrechern, aber auch gegenüber politisch Andersdenkenden.587 Ein Verbrecher konnte nach Paragraph 51,1 RStGB selbst dann in eine Anstalt eingewiesen werden, wenn er als öffentliche Bedrohung galt. „Mit dieser neuen

Ebd. Aussage Lina Fischer, 14.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/01/02. Schreiben des Oberlandesgerichtsrats an das Amtsgericht Gmünd, 23.2.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/13. 586 Auszug aus dem Strafregister der Staatsanwaltschaft Ellwangen, ebd. 587 S. Lang (2010). 583 584 585

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Regelung wurden die Heil- und Pflegeanstalten auch Organe des Justizvollzuges“588, so Ulrich Morlock, der sich in einem Aufsatz mit den forensischen Patienten der Anstalt Zwiefalten beschäftigte. In Zwiefalten waren zwischen 1934 und 1945 96 Personen gerichtlich in der Anstalt untergebracht.589 Johannes B., der 1948 nicht nur ein Spruchkammerverfahren für Fauser, sondern auch eine Entschädigung für seine Deportation ins Konzentrationslager forderte, schilderte seine eigene Geschichte in einer Aussage: Ich bin auf Grund eines Urteils des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd im Oktober 1939 in die Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten eingeliefert worden. […] Ich persönlich hatte in dieser Anstalt eine gute Behandlung, weil ich es verstand, mich mit dem Pflegepersonal und den Ärzten gutzustellen. […] Die Abt. Ärztin Frl. Dr. Jehnes äusserte sich mir gegenüber, dass sie mich jederzeit gern entlassen möchte, da ich nicht hierhergehöre, aber die Fr. Dr. Fauser erklärt sich mit meiner Entlassung nicht einverstanden.590

Er habe dann persönlich mit Fauser gesprochen und diese habe ihm erklärt, dass die Entscheidung über eine Entlassung beim zuständigen Gericht liege. Johannes B. habe sich daraufhin an einen Anwalt gewandt, der dann bei Gericht eine Befürwortung seiner Entlassung bewirken konnte.591 Weiter schilderte B.: Bei einer sonntäglichen-Visite [sic!] vor den versammelten Patienten äusserte sich Fr. Dr.  Fauser den Patienten gegenüber, die mit einer Bitte an sie herangetreten sind „ihr gehört alle aufgehängt“. Diesen Ausspruch tat sie nicht nur einmal sondern ich habe es selbst zwei Mal mit angehört. […] Im Februar 1944 wurde ich dann von der Heil- und Pflegeanstalt in das KZ Mauthausen überführt. Wie ich schon […] erwähnte, hatte ich in der Anstalt alle Freiheiten und konnte mich auch ausserhalb dieser Anstalt bewegen. Auffällig war jedoch, dass ich 14 Tage vor meinem Abtransport in’s [sic!] KZ, keinen freien Ausgang mehr hatte und ich schon mehrere Tage vorher durch den Oberpfleger Burger erfahren musste, dass Frau Dr. Fauser beabsichtigte mich fort zu tun.592

Tatsächlich war Johannes B. einer von zwölf Männern, die im März 1944 von der Kriminalpolizei übernommen und ins KZ Mauthausen gebracht wurden.593 Die Deportation der Männer erfolgte auf Grund eines Erlasses des Reichsjustizministers vom März 1943. Dieser unterstellte alle nach Paragraph 42 untergebrachten Patienten, die keine psychiatrische Behandlung mehr benötigten und arbeitsfähig waren, der Polizei. Konkret sollten die Patienten dann zum Arbeitsdienst in einem Konzentrationslager eingesetzt werden.594 Im Januar 1944 schickte der Stuttgarter Generalstaatsanwalt 588 589 590 591 592 593 594

S. Morlock (1996), S. 52. Ebd., S. 53. Aussage Johannes B., 25.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/13. Ebd. Ebd. S. Morlock (1996), S. 64. Ebd., S. 61.

Dr. Martha Fauser

dann Listen an die staatlichen Anstalten Württembergs, welche die Namen der abzugebenden Patienten enthielten. Es war den Direktoren erlaubt, Namen von Listen zu streichen, falls die Personen für die Anstalt unentbehrlich waren.595 Ökonomieverwalter Metzger sagte zum Fall B. später aus, dass die Entscheidungsgewalt über die Entlassung der nach Paragraph 42 untergebrachten Patienten ausschließlich bei den Gerichten gelegen habe. Er fügte hinzu: „Die Überführung des B. in das KZ Mauthausen am 21.3.44 geschah nicht auf Veranlassung von Frau Dr. Fauser, sondern wurde von ‚höherer Stelle‘ angeordnet.“596 Dies stimmte insofern, als dass die Listen tatsächlich von der Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart aufgestellt wurden. Fauser hatte allerdings Einfluss darauf. Und den nutzte sie auch in einigen Fällen. So bat sie die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart im März 1944 nach Eintreffen der Listen, zwei der genannten Patienten in Zwiefalten behalten zu dürfen. Dafür sei sie bereit, fünf andere Patienten abzugeben, „da wir dieselben gern aus dem Rahmen der Anstalt heraushätten, weil sie immer wieder Schwierigkeiten machen und ihre Arbeitskraft nicht genügend ausgewertet werden kann“597. Diese fünf Männer wurden in ein Konzentrationslager gebracht. Auch zu einem späteren Zeitpunkt machte Fauser Vorschläge, welche Kranken zum Arbeitsdienst abgegeben werden könnten.598 16  forensische Patienten aus Zwiefalten kamen ins Konzentrationslager, zwei dieser Menschen starben dort. Dreizehn nach Paragraph 42 RStGB Untergebrachte starben im Rahmen der „Euthanasie“ in einem Tötungszentrum, 25 weitere in der Anstalt Zwiefalten.599 Johannes B. überlebte die Zeit im KZ Mauthausen. Die Staatsanwaltschaft untersuchte die Angaben des Zeugen nicht weiter.600 Damit wurde Fausers Rolle bei der Deportation der forensischen Patienten zum Arbeitsdienst ins Konzentrationslager auch nicht mit in die Anklageschrift übernommen. 4.2.3

Martha Fauser im Rittersaal

Die Wirkung, die Fauser während der Gerichtsverhandlung in Tübingen auf Prozessbeobachter machte, ähnelte dem Eindruck, den auch ihre Angestellten und Bekannten von ihr hatten. Der Tenor der Presse zu Fausers Charakter blieb ambivalent. Um einen Eindruck ihrer Aussagen in der Hauptverhandlung zu gewinnen, seien einige Berichte aus den Zeitungen wiedergegeben. Ihre „offene“601 Art machte bei einigen Ebd., S. 62. Aussage Heinrich Metzger, 27.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/13. Schreiben der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten an den Generalstaatsanwalt in Stuttgart, 9.3.1944, zitiert nach Morlock (1996), S. 64. 598 Ebd., S. 64 ff. 599 Ebd., S. 61. 600 Schreiben des Oberlandesgerichtsrats an das Amtsgericht Gmünd, 23.2.1949, ebd. 601 Schwäbisches Tagblatt, 15.6.1949, Nr. 76. 595 596 597

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Vier Ärzte als Täter des Krankenmords

Journalisten einen „günstigen Eindruck“602. Sie schilderte „den Hergang der Dinge, wie sie ihn sah“603. Auf die Frage des Gerichts, wie sie die Patienten ausgewählt hatte, die sie von den Transporten zurückhielt, erklärte sie, dass ihr wichtig gewesen sei, ob ein Kranker noch Verbindung zur Außenwelt gehabt habe. Außerdem habe sie nicht an der gesetzlichen Grundlage der „Euthanasie“ gezweifelt, denn „der Staatsanwalt hat doch den Schornstein von Münsingen aus rauchen sehen können und es wurde nichts unternommen“.604 Die Ärztin betonte vor Gericht auch wiederholt, dass die Patienten „wohl kaum ihr Schicksal begriffen“605. Um diese Aussage zu belegen, brachte sie ein Beispiel an. Einmal habe sie eine Gruppe von Kranken auf den Knien mit gefalteten Händen überrascht, die ihr gesagt hätten: „Wir beten, weil wir jetzt bald durch den Schornstein zum lieben Gott dürfen.“606 Fausers Pflicht sei es gewesen, sich der humanen Art der Tötung zu versichern, was dann bei ihrem Besuch in Grafeneck geschehen sei. Zu den ihr zur Last gelegten Einzeltötungen sagte sie, „es wünsche sich doch jeder Mensch einen schönen Tod, einen Todeskampf wolle niemand“607. Ein Berichterstatter der Schwäbischen Zeitung bescheinigte Fauser ein „einfaches Gemüt“608. „Examen und Bücher seien nie so ihr Fall gewesen.“609 Auf die Frage des Richters, ob sie die Ermordung der Patienten gebilligt habe, antwortete Fauser: „Nein. Auch der Idiot hat meist noch Freude am Leben. Solange der Mensch zu lachen vermag, ist ihm das Dasein etwas wert.“610 Zu ihrer Verteidigung sagte die Ärztin, dass sie das Schlimmste verhindern wollte. Deswegen habe sie auch durch Randnotizen auf den Patientenakten versucht, einige Kranke zu retten.611 Ein Journalist nannte Fauser „naiv und unbekümmert“, wenn sie angab, dass „der Bombenkrieg mit seinem größeren Schrecken ihr Gewissen beruhigt hätte.“612 Die Opfer in Grafeneck seien Kriegsopfer gewesen, so die Ärztin.613 Die Schwäbische Zeitung berichtete auch über Fausers Stellungnahme zu den Einzeltötungen. Sie habe das Ansinnen, mit dem Mauthe und Stähle an sie herangetreten seien, abgelehnt. Die einzige Form der von ihr angewandten Sterbehilfe sei die schon vor dem „Dritten Reich“ von Ärzten praktizierte Art. Diese Aussage führte zu einer Nachfrage des Vorsitzenden: „Reichen solche Fälle aus, um die hohe Sterblichkeit in Ihrer Anstalt zu erklären?“614 Fauser antwortete mit Hinweis auf eine

602 603 604 605 606 607 608 609 610 611 612 613 614

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Schwäbische Zeitung, 15.6.1949. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

Dr. Martha Fauser

Grippeepidemie, auf den Charakter der Anstalt als Pflegeanstalt für ganz Württemberg und auf die schlechte Ernährungslage im Krieg. Auch dem Prozessbeobachter schien Fauser „die ‚Sterbespritze‘ sehr großzügig“ gegeben zu haben.615 In der Hauptverhandlung betonte sie allerdings, nicht getötet, sondern nur erlöst zu haben. Die im Prozess verlesenen Krankengeschichten brachten das entwertende Vokabular ans Licht, mit dem die Ärztin ihre Patienten beschrieben hatte: „Keine Verständigung möglich, spricht gar nichts, stiert blöd, schlägt bisweilen um sich, völlig idiotisch und epileptisch. Daneben besteht doppelseitige Pneumonie.“616 Dieser im Prozess vorgetragene Auszug aus der Patientenakte sollte beweisen, dass die Angeklagte keine Heilung des Kranken mehr anstrebte, sondern ihn mit einer Scopalamin-Injektion tötete. Dazu sagte Fauser dem Gericht, dass „sie die Leiden von Vollidioten abkürzte, an die psychisch nicht mehr heranzukommen war“617. Sie fügte hinzu, dass sie gegen Ende des Kriegs keine Sterbehilfe mehr geleistet habe. Sie habe von den Gerüchten erfahren, die um ihre Person und die Anstalt rankten und habe weitere Spekulationen verhindern wollen. Da sie in ihrer ersten Vernehmung in Freiburg sehr viel offener gewesen war und freimütig von Einzeltötungen erzählt hatte, wurde im Grafeneck-Prozess auch der Freiburger Untersuchungsrichter zu seiner Einschätzung der Angeklagten befragt. Dieser gab an, dass Fauser ihm gegenüber „frei von Zögern“ gewesen sei.618 Auch der Vater von Antonie V. sagte als Zeuge aus. Er schilderte die Geschichte seiner Tochter wie bereits in der Voruntersuchung. Auf Frage des Richters, warum Fauser dem Vater nicht die Mitnahme der Tochter gewährt habe, konnte die Angeklagte keine Antwort geben.619 Siegbert Einstein, der seine Mutmaßungen über die Umstände des Todes der Patientin Rosa P. schilderte, zeigte sich vor Gericht erstaunt, als er hörte, dass Herr P. Fauser tatsächlich ein Dankesschreiben an Fauser für den „menschlichen Beistand“620 und die Betreuung seiner Frau Rosa geschickt haben soll. Für das Gericht Interessantes erwähnte Einstein dann noch, als er darauf hinwies, „dass von Oktober 1939 bis März 1940 sechs jüdische Leichen von Zwiefalten nach Buchau übergeführt worden seien, die dem Verdacht gleichfalls Nahrung gegeben hätten“621. Zwiefalten war 1939 per Erlass zur Sammelanstalt für jüdische Pfleglinge geworden. Im Oktober 1939 befanden sich zwanzig jüdische Patienten in der Anstalt, von denen nur zwei das Jahr 1940 überlebten. Doch auch diese beiden, ebenso wie später nach Zwiefalten verlegte Juden, entgingen dem mörderischen Regime nicht. Sie starben entweder in der Gaskammer von Hadamar, den Vernichtungslagern im Osten, im Rahmen von „Einzeleuthanasie“

615 616 617 618 619 620 621

Ebd. Ebd. Ebd. Schwäbische Zeitung, 25.6.1949. Ebd. Ebd. Ebd.

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oder „Hungersterben“.622 Der Journalist einer Zeitung623 lieferte in seinem Artikel eine Charakterisierung Fausers: Sie ist das, was man ein „Original“ nennt: Ueber 50 Jahre alt, klein, graues Haar, mit einer dicken Knollennase und breitem Mund. Sicher ist sie mit viel Mutterwitz begabt. Während der Verhandlung verhält sie sich wie eine aufmerksame Sextanerin: sie schreibt eifrig mit. Wenn ihr Name genannt wird, richtet sie sich auf der vorderen Stuhlkante kerzengerade auf. Sie scheint unproblematisch und leicht zu beeinflussen. Ihre Aussagen widersprechen sich häufig. Sie ist der Typ, der sich „nichts dabei denkt“. In ihrer Anstalt verhielt sie sich wie eine wohlwollende Kindergärtnerin, die allgemein beliebt ist. Wenn ein besonderer Schützling vergast werden sollte, verstand sie es mit viel Schläue und Umsicht, ihn zu retten. Ihr ärztliches Gewissen ist sehr strapazierfähig. Sie betrieb die Einzeleuthanasie mit erstaunlicher Nonchalance.624

Deutlich negativer beurteilte Otto Färber, Mitbegründer der Stuttgarter Nachrichten, die Angeklagte. Sie flöße dem Beobachter Grauen ein, schrieb er in seinem Artikel und fügte hinzu: Ist es nicht eine Groteske, daß diese Frau, die man anderwärts als „Engelmacherin“ bezeichnet, in einem gerichtsärztlichen Gutachten selbst als pathologisch und hypomanisch geschildert wird? Wie viele pathologische und hypomanische Personen sind von ihr und ihresgleichen dem Gas und dem Feuerofen überantwortet worden?!625

Färber bezeichnete die Ärztin dann als „häufig lächelnde ‚Tante‘“, deren Hinweis auf ihr den Kranken gegenüber empfundenes Mitleid „abstoßend“ und „unglaubwürdig“ wirke.626 Am Ende fasste er Fausers Einstellung zusammen: „Sie war eine hundertprozentige Bejaherin der Auffassung ihres ‚Führers‘.“627 Am 27. Juni 1949 besuchte das Gericht mit einigen Vertretern der Presse, darunter Herrmann Mostar, Schloss Grafeneck und die Anstalt Zwiefalten. Den Antrag auf diese Visitation hatte der Anwalt Fausers gestellt.628 Die Gruppe besichtigte zuerst das Schloss mit dem Speisesaal, dem Verwaltungsbüro, den Räumen des Standesamts, dem Arztbüro und den Wohnräumen des Arztes. Der Angeklagte Heinrich Unverhau führte die Teilnehmer dann zu den Baracken und dem Vergasungsraum. Danach folgte die Visitation der Anstalt Zwiefal-

S. Rexer (1996), S. 32 f. Aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung, Nr. 77, 1949, mit dem Titel „Zehntausend Irre in den Gaskammern von Grafeneck“, gefunden in den Spruchkammerakten von Dr.  Fauser, StAS Wü 13 T 2 Nr. 1425/011. 624 Ebd. 625 Otto Färber in seinem Artikel für die Stuttgarter Nachrichten, 23.6.1949, Nr. 110. 626 Ebd. 627 Ebd. 628 Prozessprotokoll, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/01/14. 622 623

Dr. Martha Fauser

ten.629 Herrmann Mostar berichtete, dass einige der Patienten Martha Fauser freudig wiedererkannten.630 Der Journalist beschrieb dann die Symptome und das Aussehen einiger der chronisch kranken Patienten und stellte dem Leser die Frage, ob, wenn dies noch nicht die schlimmsten Fälle gewesen seien, weil die wirklich „schlimmen Fälle“ ja bereits beseitigt worden waren, der Arzt nicht die Pflicht habe zur „erlösenden Spritze?“631 Der Journalist wagte dann in seinem Bericht einen Vergleich, der ähnlich schon in Propaganda-Filmen der Nationalsozialisten gemacht wurde und versuchte damit, Fausers Handlungen zu rechtfertigen: Wenn man bedenkt, daß hier sieben Ärzte und wer weiß wie viele Wärter, wohl an hundert Räume mit siebenhundertundfünzig Betten, dazu Parks, Felder, Ställe mit herrlichem Getier für siebenhundert dem Tode entgegendämmernde, entgegenkreischende, entgegenleidende Wesen beansprucht sind, und wenn man sich dann der Flüchtlingsbaracken erinnert, in denen gesunde Menschen an bloßer Zusammenpferchung, am Hunger vergehen, Kinder moralisch verkommen, Lebenskraft und Arbeitskraft brach liegen: sollte man, widerwillig den beizenden Urin- und Kotgeruch einatmend, der trotz aller Sauberkeit ob der Unfähigkeit der Kranken, auch nur die primitivsten Köperfunktionen zu beherrschen, wie Verwesung über allem liegt – sollte man nicht meinen, es sei besser, den Flüchtlingen, dem Leben zu dienen als den Irren, dem Sterben?632

Mostar zügelte sich dann wieder. Er erklärte, man dürfe nur, weil man selbst in einem solchen Leben keinen Wert mehr sehe, eben nicht einfach töten: „Darfst du etwas töten, weil du es nicht begreifst? Darfst du dich aufs Mitleid berufen, wo es kein Mitleiden mehr gibt?“633 Bei Fausers Verteidigung blieb er allerdings und beendete sein Plädoyer mit der Frage: „Darf man eine Ärztin, die dies bejaht, deshalb mit Zuchthaus bestrafen?“634 Dies forderte allerdings der Staatsanwalt in seinem Plädoyer Ende Juni 1949. Er beantragte für die Ärztin fünf Jahre Zuchthaus und drei Jahre Ehrverlust. Fauser plädierte auf Freispruch.635 4.2.4

Ursachen der Tatbeteiligung

Fausers Beteiligung an den „Euthanasie“-Morden wurde erst durch den Prozess noch einmal gebündelt dargestellt, wenngleich zahlreiche Verdachtsmomente wie die erhöhte Sterberate in Zwiefalten und die Deportationen von Patienten ins KZ vom 629 630 631 632 633 634 635

Prozessprotokoll, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/01/14. Mostar (1950), S. 126. Ebd., S. 127. Ebd., S. 127 f. Ebd., S. 128. Ebd. Prozessprotokoll, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/01/14.

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Gericht nicht geahndet wurden. So nebulös wie ihr Charakter blieben die Motive der Ärztin, die sie zum Mitmachen am Massenmord bewegten. In Zeitungsartikeln wurde sie zur menschlichen Ärztin stilisiert, die aus Mitleid tötete, andere machten sie zur pathologischen „Bejaherin des Führerprinzips“636. Die Medizinerin, die 1889 geboren wurde, gehörte eigentlich zu einer Generation, die der Historiker Michael Ruck als „Nutznießer“ bezeichnete und deren Verhalten vor allem durch „passive Anpassung“ geprägt war.637 Die „Nutznießer“ hatten ihre Ausbildung noch in der Monarchie begonnen, waren dann aber durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg am beruflichen Aufstieg verhindert. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten war ein Weiterkommen im Beruf schwer, denn sie waren für eine Karriere zu alt, aber für den Ruhestand zu jung. So versahen sie ihr Amt „ohne jegliche sachliche Beanstandung im Sinne des NS-Regimes“638. Fauser passte in verschiedener Hinsicht nicht ganz in diese Gruppe. Zum einen hatte sie ihre universitäre Ausbildung erst 1919 im Alter von 30 Jahren begonnen, hatte also nicht, wie die Generation der „Nutznießer“, noch das Obrigkeitsdenken des Kaiserreichs kennengelernt. Zum anderen hatte sie als Frau andere Voraussetzungen als die männlichen Mitglieder dieser Generation. Was sie allerdings mit ihnen teilte, war die starke Prägung ihrer Weltanschauung durch den Ersten Weltkrieg. Während der Kriegsjahre arbeitete Fauser als Hilfsschwester im Bürgerhospital, das zum Vereinslazarett geworden war, und versorgte verwundete Soldaten. Sie machte quasi ihre eigene Kriegserfahrung fernab der Front. Für ihre Verdienste erhielt Fauser das Charlottenkreuz. Einerseits formte ihre Zeit im Bürgerhospital ihren Willen, Psychiaterin zu werden, andererseits ließ sie das dort gesehene Elend wohl auch zu einer fatalen Einstellung gegenüber chronisch Kranken gelangen. Im Prozess bezeichnete sie die Patienten, die in der Gaskammer Grafenecks starben, als „Kriegsopfer“ und gab an, „dass der Bombenkrieg mit seinen größeren Schrecken ihr Gewissen beruhigt [habe]“639. So waren für die Ärztin der Erste und später dann auch der Zweite Weltkrieg prägende Erfahrungen, die ihre Haltung zu den Kranken bestimmten. Ihre Notizen in den Krankenakten geben Aufschluss über den Wert, den sie ihren Patienten beimaß. Von „wertlos“ und „unnütz“ war da die Rede. Mit ihrer durch den Krieg geformten Haltung stand Fauser nicht allein. Schon im Ersten Weltkrieg, als tausende psychiatrische Patienten verhungerten, hatte sich die Einstellung auch anderer Psychiater verändert. Sie wandten sich von ihren Patienten ab und fragten sich, ob nicht Lebensmittel eher leistungsfähigeren, für das Vaterland wertvolleren Menschen, zustünden.640 Für die Täterin Fauser muss auch ihre Rolle als Frau betrachtet werden. Da Frauen in medizinischen Berufen in der Weimarer Republik und während des „Dritten Reiches“ in der

636 637 638 639 640

Otto Färber in seinem Artikel für die Stuttgarter Nachrichten, 23.6.1949, Nr. 110. S. Ruck (1996), S. 212. Ebd., S. 211. Schwäbische Zeitung, 15.6.1949. S. Faulstich (1998), S. 80.

Dr. Max Eyrich

Minderheit waren, hatten sie größere Schwierigkeiten beruflich erfolgreich zu sein als ihre männlichen Kollegen. Die Medizinerin erhielt ihre Stelle in Weissenau nur aus dem Grund, dass sich kein Arzt finden ließ, wie der Schriftwechsel ihres damaligen Vorgesetzten Dr. Krimmel mit dem württembergischen Innenministerium beweist. Dass die Ärztin aber tatsächlich berufliche Ambitionen hatte, zeigte ihre Weigerung, die für sie vorgesehene Stelle als Amtsärztin anzunehmen. Dies deutet darauf hin, dass Fauser keineswegs ein Opfer der männlichen Dominanz war, sondern durchaus fähig, eigene Ziele durchzusetzen. Begeistert zeigte sie sich von der nationalsozialistischen Bewegung, die auch Frauen durchaus Chancen zur Mitarbeit bot. In ihren Vorträgen über Erbgesundheit, die sie für die NS-Frauenschaft hielt, konnte sie sich dann auch für die Gesundheitspolitik des Regimes engagieren. Fauser, die bereits während ihres Studiums durch die Vorlesungen bei Robert Gaupp, der ein Befürworter der eugenischen Bewegung war, geprägt wurde, trat für die Zwangssterilisierungen ein und stellte selbst Anträge. Mit Hilfe der Eugenik konnte die Hoffnung Fausers, dass die Psychiatrie wieder mehr Ansehen in der Medizin erfahre, verwirklicht werden. Immerhin sollten die Zwangssterilisierungen den „Volkskörper“ heilen. Und so stellte der dann folgende und radikalere Schritt, die Massentötungen von Patienten im Rahmen des „Euthanasie“-Programms, ein für die Ärztin im Kriege erlaubtes Mittel dar, mit für Volk und Vaterland zu kämpfen. Obwohl sie vor Gericht die Sterberate mit der allgemein schlechten Versorgungssituation im Krieg zu erklären versuchte, entlarvten die noch vorhandenen Krankenakten die eigentliche Haltung der Medizinerin. Sie „opferte“ ihre Patienten für die propagierte Heilung des Volkes. Dass sie dabei auch „Mitleid“ empfand, wie der Journalist Mostar als Motiv ihrer Tötungen vermutete, lässt sich nicht widerlegen. Schuldgefühle entwickelte Martha Fauser allerdings nie. Sie war beruhigt durch die „humane Art“ der Massentötungen und durch den Krieg, der die „Euthanasie“ für sie legitimierte. 4.3

Dr. Max Eyrich

4.3.1

Max Eyrich und die „Euthanasie“

„Im Rahmen meiner Tätigkeit als Landesjugendarzt hatte ich mit der Beseitigung von Geisteskranken nichts zu tun“641, gab Max Eyrich 1947 vor der Spruchkammer zu Protokoll. Er hoffte auf ein schnelles Verfahren642, das sich zu seinem Bedauern allerdings

641 Dr. Eyrich, Vernehmung vor der Spruchkammer in Vaihingen-Rohr, 26.4.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/26. 642 Höchstwahrscheinlich wurde das Spruchkammerverfahren in Vaihingen nicht zu Ende geführt, weil die Spruchkammer die juristische Klärung des Falles abwartete. Die eigentliche Entnazifizierung des Mediziners erfolgte dann auch erst nach dem Prozess im Dezember 1949.

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hinzog.643 Eyrich, der in Stuttgart zumindest in seiner Funktion als Landesjugendarzt bekannt war, hatte in den Nachkriegsjahren nicht nur mit der überraschenden Befragung durch die Landespolizei zu kämpfen, sondern auch mit den Gerüchten, die sich um ihn und seine Familie rankten.644 Am Ende einer Vernehmung reichte Eyrich dem Untersuchungsrichter ein selbst verfasstes Schreiben, in dem er sich zu den ihm gemachten Vorwürfen äußerte: Es ist mir wiederholt zu Ohren gekommen, dass ich auch in Ärztekreisen mit der Irrentötungsaktion in Zusammenhang gebracht worden bin. Dieses Gerede konnte nur aus Unkenntnis der wirklichen Verhältnisse, meiner wirklichen Tätigkeit und Zuständigkeit entstehen. Aber es gab zu jener Zeit keine Möglichkeit für mich, solchem Gerede entgegen zu treten.645

Abb. 4 Max Eyrich646

Die Geschichten, die über ihn erzählt wurden und auf die der Psychiater sich bezog, wurden tatsächlich in Stuttgart weitergegeben. So schrieb Dr. Huberta von Bronsart: Es geht nun in Sonnenberg ganz allgemein das Gerücht, dass Herr Dr. Eyrich massgeblich an den Vorgängen in Grafeneck beteiligt gewesen sei, von Frau Dr. Eyrich wird erzählt, 643 Dr. Eyrich, Vernehmung vor der Spruchkammer in Vaihingen-Rohr, 26.4.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/26. 644 Stellungnahme Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. 645 Ebd. 646 Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315.

Dr. Max Eyrich

sie habe im Krieg die Aufgabe gehabt, die zur Wehrmacht eingezogenen Helferinnen auf ihren Gesundheitszustand zu untersuchen und habe sich gerühmt, auch kränkliche junge Mädchen als verwendungsfähig erklärt zu haben, denn der Führer brauche sie.647

Was die Stuttgarter Bürger genau über die „Euthanasie“ in Grafeneck wussten und welche Taten sie Eyrich vorwarfen, kam in den Geschichten um den Landesjugendarzt nicht zum Ausdruck. Seine Tatbeteiligung versuchte später das Gericht zu analysieren. So hieß es in der Anklageschrift: „Veranlasst durch einen Telefonanruf Dr. Mauthes im Herbst 1940 liess sich Dr. Eyrich als Psychiater zu seiner Mitwirkung in Euthanasieangelegenheiten herbei.“648 Den Grund von Eyrichs Beteiligung erwähnte Eugen Stähle in seiner Aussage: „Eine Anzahl Anstalten hatte die vom RMDI [Reichsministerium des Inneren, Anmerkung der Verfasserin] verlangten Meldebogen nicht ausgefüllt. Das Reichsministerium hat das württ. Innenministerium ersucht, auf die Ausfüllung der Meldebogen zu drängen.“649 Trotz dieser Mahnung durch das Innenministerium in Stuttgart weigerten sich einige Anstalten weiter, die Meldebogen zu bearbeiten. So beschloss das Ministerium, die Eintragungen zu überwachen oder selbst vorzunehmen. Für Stähle sei es logisch gewesen, Eyrich zu dieser Aufgabe heranzuziehen, weil dieser als Psychiater die Diagnosen der Patienten kannte und außerdem Landesjugendarzt gewesen sei. Über die „Geheime Reichssache“ war Eyrich bereits im Frühjahr 1940 von Stähle aufgeklärt worden. Es schien sich um die Absicht zu handeln, das zu verwirklichen, was unter der Bezeichnung „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ auf eine Schrift dieses Titels von Binding und Hoche bald nach dem Ersten Weltkrieg eine zeitlang im Fachschrifttum ernsthaft diskutiert worden war und ich habe diese Vermutung wohl auch geäussert, gleich aber auch Dr. Stähle darauf hingewiesen, dass ein diesbezügliches Vorgehen de lege lata und nach juristischem Denken wohl die Beurteilung als Mord erwarten müsste ohne die vorherige Schaffung der entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen650,

so Eyrich in seiner Vernehmung. Stähle soll ihn daraufhin beruhigt haben, dass eine juristische Regelung getroffen sei und Eyrich habe sich für das Problem nicht weiter zuständig gefühlt, obwohl er „erschüttert“651 gewesen sein will. Später im Frühjahr will der Jugendpsychiater Gemunkel von Tötungen in Grafeneck gehört haben, „das ‚Volk‘ wusste überhaupt gleich viel mehr als nicht unmittelbar damit befasste Ärzte und Beamte“652. Seine Mutter erzählte ihm von Schauermärchen und die Frau des Stette647 Aussage Dr. Huberta von Bronsart, Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), 1.11.1947, Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315. 648 Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. 649 Aussage Dr. Stähle, 4.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/17. 650 Stellungnahme Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. 651 Aussage Dr. Eyrich, 8.3.1948, ebd. 652 Stellungnahme Dr. Eyrich, 8.3.1948, ebd.

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ner Anstaltsarztes Dr. Gmelin von Patienten-Deportationen aus Stetten. Frau Gmelin bat Eyrich dann, mit Stähle über die Unmöglichkeit der Vorgänge zu sprechen. Dieser lehnte jedoch ab: „Ein eigener Schritt erschien mir völlig aussichtslos. Ich verfügte parteimässig überhaupt über kein Ansehen und hatte schon einmal durchaus negative Erfahrungen gemacht.“653 Der Landesjugendarzt besuchte nach seiner anfänglichen Weigerung den Leiter der Gesundheitsabteilung im Innenministerium dann doch noch, weil er nach dem Gespräch mit einem Nachbarn, der ihn gefragt hatte, „ob [er] etwas von Grafeneck wisse, dort würde es ‚rauchen‘“654, in Erklärungsnot geraten sei. Was genau Eyrich an den Gerüchten empörte, erklärte er Stähle dann: „Die Massentötungen standen im Widerspruch zu dem, was er mir gesagt hatte, daß es sich nämlich um sorgfältig ausgewählte Einzelfälle handeln würde.“655 Wie auch Fauser störte er sich nicht grundsätzlich an der „Euthanasie“, sondern vor allem an der Tatsache, dass sie nicht gesetzlich geregelt war und offensichtlich willkürlich durchgeführt wurde. Dies hatte er in seiner ersten Aussage 1945 noch präzisiert: Die ganze Aktion hatte überhaupt einen Zug ins Grosse und zu einer Durchführung in diesem Umfang bestand meines Erachtens gar kein zwingender Anlass, da der Platzmangel in den Anstalten und die Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung in keiner Weise mit der Lage von 1917/1918 verglichen werden konnte.656

Es war ihm unangenehm, dass die „Aktion“ „durch gänzlich ungeeignete Handhabung in kürzester Zeit publik geworden war […]“657. Prinzipiell, so seine Aussage 1945, war die in „ärztlichen und psychiatrischen und auch juristischen Kreisen längst ernsthaft diskutierte Sache, durch die bei taktvollem Vorgehen unendlich viel menschliches Leid verhindert werden könnte, auf unabsehbare Zeit in völligen Misskredit gebracht worden“658. War Eyrich also prinzipiell für eine „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ wie bei Hoche und Binding diskutiert? Konkret äußerte sich der Psychiater nicht zu der Thematik. Der Untersuchungsrichter fragte ihn, warum Otto Mauthe den Eindruck hatte, dass Eyrich die Krankentötungen nicht ablehnte. Dazu sagte der Psychiater: „Die Andeutung des Dr. Mauthe, ich sei auch nur einigermaßen Anhänger der Euthanasie in dieser Form gewesen, ist unrichtig.“659 In welcher Form die „Euthanasie“ für Eyrich vertretbar gewesen wäre, war für den Untersuchungsrichter strafrechtlich nicht relevant. Jedenfalls sei dem Landesjugendarzt Eyrich nach dem Gespräch mit

653 654 655 656 657 658 659

Ebd. Aussage Dr. Eyrich, 10.7.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/24. Aussage Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. Aussage Dr. Eyrich, 10.7.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/24. Ebd. Ebd. Aussage Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25.

Dr. Max Eyrich

Stähle, das im Sommer 1940 stattgefunden hatte, bewusst geworden, dass von diesem keine Hilfe zu erwarten war.660 Er erhoffte sich Hilfe bei seinem ehemaligen Lehrer, Professor Robert Gaupp, dem er von den Vorgängen berichtet haben will. Wie bereits beschrieben, betrieb Robert Gaupp die Ermittlungen zu den Krankentötungen in den Nachkriegsjahren wahrscheinlich mit wenig Engagement. Auch Eyrichs Aussage, er habe den Professor um Hilfe gebeten, wollte dieser nur teilweise bestätigen. So erinnerte sich Gaupp in seiner Befragung zwar an ein Treffen mit dem Ehepaar Eyrich, allerdings nicht daran, dass über „Euthanasie“ gesprochen wurde. Dazu gab Gaupp an: Ich erinnere mich, dass Dr. Eyrich einmal mit seiner Frau bei mir war und dass er einen sehr gedrückten Eindruck machte. […] Weil er sich nicht näher aussprach, konnte ich ihm keinen bestimmten Rat geben; ich glaube mich aber zu erinnern, dass ich ihm dem Sinne nach gesagt habe, er soll die Finger davon lassen oder so ähnlich.661

Gaupp fügte seiner Aussage hinzu, dass er Eyrich von jeder Beteiligung abgeraten hätte, wenn dieser sich konkret zu seiner Tätigkeit im Rahmen des Krankenmordes geäußert hätte. Das Interesse des Emeritus an Aufklärung und Hilfe schien gering, zumal er sich wohl selbst bewusst war, dass er als Leiter der Tübinger Nervenklinik mit Motor einer Entwicklung der Medizin gewesen war, die Randgruppen immer mehr ausgrenzte. Hatte er noch als einer der wenigen Universitätsprofessoren 1920 die Schrift von Binding und Hoche positiv rezensiert und damit dem Werk „die gewichtige Unterstützung einer der einflußreichsten psychiatrischen Autoritäten der Weimarer Zeit“662 geliefert, so fand er nach 1945 keine Parallelen zwischen den in der Schrift propagierten Forderungen und den nationalsozialistischen Patientenmorden.663 Ob Eyrich nun mit Gaupp 1940 über die Vorgänge in Württemberg sprach, lässt sich nicht mehr klären. Unbestritten ist, dass Gaupp für den Arzt eine Art Mentor war, der ihn auch ideell sehr geprägt hat. Max Eyrich, am 22. März 1897 als Sohn des Arztes Theodor Eyrich und Mutter Ida Bopp in Stetten am kalten Markt geboren, besuchte in Ebingen die Lateinschule664, danach in Stuttgart das Karlsgymnasium, wo er im Sommer 1915 das Abitur ablegte.665 Im Wintersemester 1915/1916 begann er das Medizinstudium in Tübingen, das er allerdings bereits nach dem Sommersemester 1916 unterbrach, um Kriegsdienst zu leisten, „davon zwei Jahre im Feld“666. Laut seiner Personalakte wurden die Jahre 1917 und 1918

660 661 662 663 664 665 666

Ebd. Aussage Prof. Gaupp, 2.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/09. S. Köhnlein (2001), S. 114. Ebd. Lebenslauf in Eyrichs Dissertation. S. Eyrich (1923). Personalakte Dr. Eyrich, UAT 155/860 a. Lebenslauf Eyrich in seiner Dissertationsschrift. S. Eyrich (1923).

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als Kriegsjahre berücksichtigt.667 Nach der Demobilisierung führte der Mediziner das Studium von 1919 bis zum Sommersemester 1920 in Tübingen fort, wechselte dann nach München, wo er im Herbst 1922 sein Staatsexamen mit der Note „gut“ ablegte.668 In Tübingen war Eyrich ab 1919 Mitglied der Verbindung VCF Turnerschaft Hohenstaufia, die er 1921 wieder verließ.669 Er begann seine Promotion 1923 während seiner Stationen als Medizinalpraktikant in der Medizinischen Klinik Tübingen unter Ottfried Müller.670 In seiner Dissertation mit dem Titel „Über die Entstehung der Stasen in den Kapillaren“671 beschäftigte sich der junge Arzt mit der These von Linzenmeier, der die Entstehung der Stasen mit der erhöhten Agglutination der Blutkörperchen „gut und einleuchtend“ erklären konnte. Die Begutachter seiner Dissertation schlugen die Note „sehr gut“ vor672 und so wurde er nach bestandener Promotionsprüfung im Juli 1923673 zum Dr. med. promoviert. Im Mai 1923 begann für den Mediziner die Zeit unter seinem Lehrer Robert Gaupp an der Tübinger Universitätsklinik für Gemütsund Nervenkrankheiten, erst als Medizinalpraktikant bis Ende Juni 1923, dann für drei Wochen als Volontärarzt. Die Tübinger Zeit sollte ihn prägen.674 Eyrich lernte an der Tübinger Nervenklinik die vier Jahre ältere Ärztin Hedwig Braun kennen. Die beiden heirateten am 5. Juni 1924.675 Hedwig Eyrich arbeitete mit Unterbrechungen durch die Geburt der beiden Kinder, Tochter Beate und Sohn Klaus, wie ihr Mann unter Gaupp in der Nervenklinik Tübingen.676 Eyrich, der sich im Wintersemester 1923 noch für ein Jahr als Student für Philosophie einschrieb677, blieb bis 1929 in Tübingen. Nach Stellen als Volontärarzt, Hilfsassistenzarzt und von Juli 1924 bis Dezember 1925 mithilfe eines Rockefellerstipendiums678 als außerordentlicher Assistenzarzt, bekleidete er ab 1926 eine Assistenzarztstelle und leitete die Kinderabteilung der Nervenklinik.679 Zur Benennung Eyrichs als Assistenzarzt schrieb Frank Köhnlein, der die Entstehung der Tübinger Kinderabteilung der Nervenklinik untersucht hat: „Gaupps Entscheidung für den 28jährigen Arzt sollte eine Fortsetzung und Verschärfung des von Villinger eingeführten und von Gaupp intendierten Selektionsgedankens in der Kinderabteilung

Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315. Ebd., Studentenakte Eyrich, UAT 259/473, Personalakte Dr. Eyrich, UAT 155/860 a. Spruchkammerakte Dr. Eyrich, StAS Wü 13 T 2 Nr. 655/11. Personalakte Dr. Eyrich, UAT 155/860 a. Eyrich (1923). Promotion Dr. Eyrich, UAT 125/86, 11 Nr. 83. S. Köhnlein (2001), S. 366. Eyrichs Zeit in der Tübinger Nervenklinik beschrieb Frank Köhnlein in seiner Dissertation. Köhnlein (2001), S. 364–396. 675 Aussage Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. 676 Personalakte Dr. Eyrich, UAT 155/860 a. Zum Lebenslauf von Hedwig Eyrich s. Köhnlein (2001), S. 367 f. 677 Studentenakte Dr. Eyrich, UAT 259/473. 678 Personalakte Dr. Eyrich, UAT 155/860 a. 679 Köhnlein (2001), S. 364 f. 667 668 669 670 671 672 673 674

Dr. Max Eyrich

sein.“680 Der Mediziner war Teil der sogenannten „Tübinger Psychiatrieschule“, die auch außerhalb von Deutschland Bekanntheit erlangte und renommierte Wissenschaftler wie Ernst Kretschmer, Werner Villinger und Alfred Storch hervorbrachte.681 Die Ärzte arbeiteten in einem „lebendigen Team“, in dem die individuelle wissenschaftliche Leistung oft unterging, die in der Gauppschen Klinik allerdings eine „einzigartige Blüte und wissenschaftliche Produktivität“ erlebte.682 Eyrich selbst, obwohl ab 1926 Leiter der Kinderabteilung, beschäftigte sich wissenschaftlich erst ab den 1930er Jahren mit pädiatrischen Fragen. In seiner Zeit unter Gaupp gelangen ihm zahlreiche wissenschaftliche Publikationen.683 Eine pädiatrische Arbeit verfasste der Kinderpsychiater gemeinsam mit seiner Frau zum Thema der „Prognose der epidemischen Encephalitis im Kindesalter“684. Laut Köhnlein verstärkte sich unter dem Ehepaar Eyrich „die selektionsideologische Ausrichtung der Kinderabteilung“.685 Als Ursachen dafür können die „veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen“686 mit einer Neuordnung des Fürsorgeerziehungswesens und dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG), sowie die durch „Separationsgedanken geprägten Wertvorstellungen auf der Seite der leitenden Ärzte der Abteilung“687, betrachtet werden. Köhnlein zeigte die neue Prägung der Kinderabteilung anhand des Vokabulars, das das Ehepaar Eyrich bei der Beschreibung der jungen Patienten verwendete. Neben Begriffen wie „zigeunermäßig“ beschrieb Eyrich eine Patientin als „bockiges, moroses, reizbares und gewalttätiges Mädchen“ mit „malignen Zügen“.688 Gerade die Eheleute gingen mit entwertenden Charakterisierungen ihrer Patienten weiter als andere Ärzte der Kinderabteilung.689 Durch Max Eyrichs Tätigkeit an der Kinderabteilung der Universitätsnervenklinik wurde nicht nur seine wissenschaftliche Karriere gefördert, sondern er erhielt auch Einblicke in die Kinder- und Jugendpsychiatrie Württembergs zur Zeit der Weimarer Republik.690 Der Mediziner war mit für die „unheilvolle Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Südwestdeutschland der 1930er Jahre verantwortlich und zwar spätestens mit seiner Ernennung zum Landesjugendarzt 1933“.691

680 Ebd., S. 364. „Zur Vorgeschichte und Entstehung der ‚Kinderabteilung der Nervenklinik‘ in Tübingen 1919/20 im Spannungsfeld zwischen therapeutischer Innovation und sozialer Selektion“ s. Castell et al. (2003), S. 19–33. 681 S. Köhnlein (2001), S. 104. 682 Ebd., S. 104 f. 683 Eyrich (1925), Eyrich (1926), Eyrich (1927). 684 Eyrich, Max u. Hedwig (1928). 685 S. Köhnlein (2001), S. 376. 686 Ebd. 687 Ebd. 688 Ebd., S. 376 f. 689 Ebd., S. 378 f. 690 Ebd., S. 379. 691 Ebd.

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Am 16. Oktober 1929 wechselte Eyrich als Assistenzarzt an die Rheinische Provinzialkinderklinik in Bonn, von Mitte Juni 1930 bis 31. März 1933 hatte er dort als Beamter eine Oberarztstelle. Er arbeitete unter dem jüdischen Professor Otto Löwenstein, der im März 1933 nach zahlreichen antisemitischen Angriffen ins Saarland floh und 1938 in die USA emigrierte.692 In seiner Zeit in Bonn entstanden weitere Veröffentlichungen, welche sich vermehrt mit Themen der Sozialhygiene auseinandersetzten.693 Seinen Weggang aus Bonn beschrieb er in der Nachkriegszeit im Zuge seines Spruchkammerverfahrens. Einige Wochen nach der Vertreibung seines jüdischen Chefs Löwenstein sei die Hakenkreuzflagge über dem Institutsgebäude gehisst worden.694 „Der Erste Landesrat Dr. Kitz, die massgebende Persönlichkeit beim Landeshauptmann in Düsseldorf, erschien, liess sich von mir berichten und fragte mich, ob ich nicht Nachfolger des emigrierten Chefs werden wollte“695, so Eyrich im Dezember 1949. Er habe abgelehnt, weil er schon nach Stuttgart berufen worden sei und weil er in Bonn von den Nationalsozialisten Schwierigkeiten erwartet habe. In Stuttgart sei das Gehalt „bescheidener und wirtschaftlich mit dem Bonner Angebot überhaupt nicht zu vergleichen [gewesen]“696. Dennoch habe er damals dem Landesrat einen anderen Kandidaten als Leiter der Kinderanstalt vorgeschlagen, den „neutraleren“ Dr. Schmitz. Dieser sei dann in der Tat Direktor geworden und sei es zum Zeitpunkt der Aussage, 1949, immer noch.697 Ob Eyrich selbst als Nachfolger von Otto Löwenstein im Gespräch war, ist zweifelhaft. In der Literatur über die ‚Rheinische Provinzialanstalt für seelisch Abnorme in Bonn‘ findet sich dazu kein Hinweis. Tatsache ist allerdings, dass Prof. Dr. Hans Alois Schmitz zum Direktor der Provinzialkinderanstalt ernannt wurde. Es kann Max Eyrich allerdings nicht als Verdienst angerechnet werden, diesen vermeintlich politisch neutralen Arzt ins Spiel gebracht zu haben. Schmitz setzte sich für die „Nutzbarmachung der erbbiologischen Forschung für die nationalsozialistische Rassenideologie“698 ein. Später trat er als Gutachter in der Kinderfachabteilung Waldniel auf, wo er die Kinder für die Tötung durch den Leiter, Dr. Wesse, selektierte.699 Außerdem habe er die Begutachtung von Fällen für Sondergerichte und den Volksgerichtshof übernommen.700 Für seine Beteiligung an der „Kindereuthanasie“ musste sich Schmitz nie verantworten. Er arbeitete, mit einer kurzen Unterbrechung 1947, weiter

S. Forsbach (2006), S. 349 f. Eyrich (1930), Eyrich (1931), Eyrich (1932). Die Vorgänge um die Absetzung Otto Löwensteins beschrieb Annette Waibel in ihrer Dissertation. Waibel (1998), S. 41 ff. 695 Erklärung zur Frage der durch den Nationalsozialismus erlittenen Nachteile, 11.12.1949, Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315. 696 Ebd. 697 Ebd. 698 Waibel (1998), S. 106. 699 Klee (2011), S. 550. 700 Ebd. 692 693 694

Dr. Max Eyrich

als Arzt.701 Eyrich jedenfalls fühlte sich 1949 durch den Nationalsozialismus benachteiligt: „Durch den Nationalsozialismus und die mit ihm verbundenen Verhältnisse bin ich um die entscheidende Chance meiner beruflichen Laufbahn gekommen. Bekannt als entschiedener Anti-Nazist war unmöglich [sic!], diese Chance wahrzunehmen.“702 Dass der Mediziner sich bereits Ende 1932 um die Stelle des ‚Leiters der Nervenärztlichen Beratungsstelle für das Fürsorgeerziehungswesen‘ als Nachfolger von Dr. Hans Koch beworben hatte, der als Direktor der Heilanstalt Schussenried vorgesehen war, erwähnte er nicht.703 Mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten verschärfte sich Eyrichs Einstellung zur Auslese und Asylierung von „Minderwertigen“. Wenn er Anfang der 1930er Jahre noch vor einer „Überbewertung erblicher Anlagen gewarnt“ und auf „die Verantwortung des Arztes entgegen dem Biologismus hingewiesen [hatte]“, so änderte sich seine medizinisch-ethische Anschauung 1933.704 Die Stelle als ‚Leiter der Nervenärztlichen Beratungsstelle für das Fürsorgeerziehungswesen‘ war in Württemberg 1925 im Zuge des RJWG von 1922 entstanden und machte den immer größer werdenden Einfluss der Psychiater auf das Fürsorgeerziehungswesen deutlich. Ärzte hatten schon Mitte des 19. Jahrhunderts versucht, Mitsprache bei der Fürsorgeerziehung zu gewinnen, ein Bereich, den lange Pädagogen für sich beanspruchten.705 Dass auch die Fürsorgeerziehung in der Hand der Psychiater Auslese und Asylierungstendenzen aufwies, war dem RJWG immanent, denn es sah vor, dass Fürsorgeerziehung nur bei Aussicht auf Erfolg angewandt werden sollte.706 Erfolglosigkeit vermutete man bei psychiatrischen Erkrankungen wie Epilepsie oder Charakteranomalien  – alles ärztlich gestellte Diagnosen. Diese Jugendlichen, bei denen es nach psychiatrischem Ermessen keine Heilung geben konnte, galt es, auszusondern oder zu verwahren.707 Auf seiner Suche nach einem geeigneten Nachfolger schien Max Eyrich für Koch der geeignetste Bewerber. Interesse zeigten auch andere Anwärter, die allerdings kaum Erfahrung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hatten oder zu jung waren. Als Gründe für die Favorisierung des Bonner Oberarztes nannte Koch in einem Schreiben an das württembergische Innenministerium nicht nur die Tatsache, dass dieser von den Professoren Kretschmer in Marburg und Villinger in Hamburg empfohlen worden sei, sondern auch, dass Eyrichs Frau ebenfalls Psychiaterin sei und als solche in der Lage, ihren Mann zu vertreten. Weiter schrieb Koch:

S. Klee (2011), S. 550 f. Erklärung zur Frage der durch den Nationalsozialismus erlittenen Nachteile, 11.12.1949, Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315. 703 Schreiben von Dr. Koch an das Innenministerium Stuttgart vom 20.12.1932, HStAS E 151/01 Bü 850. 704 S. Köhnlein (2001), S. 385. 705 Ebd., S. 55. 706 Ebd., S. 67. 707 Ebd., S. 75. 701 702

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Eyrich ist religiös, mit den Bedürfnissen beider großen christlichen Glaubensbekenntnisse wohl vertraut und von beiden in der freien Wohlfahrtspflege sehr geschätzt. Seine Frau, die immer noch in der Jugendpsychiatrie tätig ist, wäre jederzeit imstand, ihn zu vertreten. Beide sind Württemberger und mit dem schwäbischen Wesen in allen Bevölkerungsschichten wohl vertraut.708

Zwar hatte der Kinderpsychiater die Prüfung für den Staatsdienst nicht abgelegt, doch „sie dürfte auch wohl kaum erforderlich sein, da Eyrich mit allen einschlägigen Bestimmungen des bürgerlichen und Strafrechts, insbesondere aber auch des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes und des Jugendgerichtsgesetzes als Praktiker und Begutachter aus langjähriger Tätigkeit durchaus vertraut [sei]“709. Zum 1. April 1933 wurde Eyrich die Stelle des ‚Leiters der Nervenärztlichen Beratungsstelle für das Fürsorgeerziehungswesen‘ als vollbesoldete Medizinalratstelle übertragen.710 Landesjugendarzt wurde er 1934. Dabei vollzog sich nur eine Änderung der amtlichen Bezeichnung. In einem Schreiben an das Staatsministerium gab der württembergische Innenminister als Grund der Namensänderung an, dass die alte Bezeichnung „nicht nur schwerfällig, sondern auch zu eng und deshalb unzweckmäßig [sei], weil der Hinweis auf die Fürsorgeerziehung von den beteiligten Bevölkerungskreisen erfahrungsgemäß unangenehm empfunden [werde]“711. Eyrichs Diensträume befanden sich in den Räumlichkeiten der württembergischen Landesfürsorgebehörde. Zur Bewältigung des Arbeitspensums wurde ihm eine fürsorgeerzieherisch ausgebildete Schreibkraft zur Verfügung gestellt.712 Seine Aufgaben als Landesjugendarzt beschrieb er in seiner Vernehmung: Meine Tätigkeit als Landesjugendarzt bestand im wesentlichen [sic!] in der fachärztlichen Beratung der Jugendämter, der Erziehungsanstalten, der Inneren Mission und der Charitas [sic!], sowie des Landesfürsorgeverbandes als Fürsorgeerziehungsbehörde. Gelegentlich wurde ich auch zu Berichten für den Geschäftsteil IX und für die Zentralleitung für das Stiftungs- und Anstaltswesen herangezogen.713

1938 sah er die Aufgaben des Psychiaters in der Fürsorgeerziehung noch etwas anders. Einerseits wollte er die „Erbtüchtigen, normal veranlagten und prognostisch aussichtsreichen Zöglinge“, ebenso wie die „in überdurchschnittlichem Masse Erbgeschädigten und sich ohne die Möglichkeit grundsätzlicher Beeinflussung abwegig Entwickeln-

Schreiben von Dr. Koch an das Innenministerium Stuttgart, 20.12.1932, HStAS E 151/01 Bü 850. Ebd. Laut Eyrich ernannte ihn der damalige Innenminister Eugen Bolz noch zum ‚Leiter der Nervenärztlichen Beratungsstelle‘. S. Aussage Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. Bolz verlor sein Amt im März 1933. 711 Jonathan Schmid an das Staatsministerium,16.7.1934, HStAS E 151/01 Bü 850. 712 Ebd. 713 Aussage Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. 708 709 710

Dr. Max Eyrich

den“ erfassen und nur bei Erfolgsaussichten behandeln.714 Andererseits bestand seine Arbeit darin, die „Gemeinschaftsunfähigen in Bewahrungsfürsorge oder sichernde Verwahrung“715 zu überführen. 1934 erhöhte sich das Arbeitspensum für Eyrich, weil „der Leiter der Nervenärztlichen Beratungsstelle auch noch mit einer Teilaufgabe zur Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses beauftragt wurde“716. Er stellte eine Fürsorgerin ein, die neben der Tätigkeit als Schreibgehilfin auch Kenntnisse in sozialer Arbeit besaß und deren Gehalt in Anteilen vom württembergischen Innenministerium übernommen wurde.717 Eyrich befürwortete das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, was in seinem Tätigkeitsbericht von 1934 zum Ausdruck kam. Er hoffte, dass sich „der Bestand der Insassen“ in den Anstalten der Fürsorgeerziehung, „hinsichtlich seiner qualitativen Zusammensetzung“ deutlich verbessere.718 Und weiter: Bei der bekannt zahlreichen Fortpflanzung schwachsinniger asozialer Stämme, bei denen 6 und noch mehr in der Fürsorgeerziehung befindliche Kinder keine Seltenheit, eher die Regel sind, war es dahin gekommen, daß gerade diese prognostisch besonders ungünstigen und erzieherisch wenig dankbaren Fälle das Gesicht der Anstalten mehr und mehr bestimmt und auf die Erfolgsmöglichkeiten gedrückt haben.719

Für Eyrich half das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ dabei, die Aufgaben der Anstaltserziehung wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren, „nämlich helfend einzusetzen, wo der natürliche Verband der Familie aus äußeren Gründen zerstört wurde und andere Familien nicht ersetzend eintreten können“720. Und so griff er durchaus mahnend ein, wenn Anstalten der Meldung ihrer Zöglinge nicht nachkamen.721 So besuchte der Landesjugendarzt das Kinderasyl Ingerkingen zweimal jährlich, um Anträge zu stellen.722 In seinem Tätigkeitsbericht von 1936 gab Eyrich an, dass vom 1. April 1934 bis zum 31. März 1935 236 seiner Anträge stattgegeben worden seien und er vom 1.  April 1935 bis 31.  März 1936 171  Anträge auf Unfruchtbarmachung gestellt habe, von denen 145 befürwortet worden seien.723 Der Jugendpsychiater äußerte sich Tätigkeitsbericht des Landesjugendarztes April 1938, StAL E 191 Bü 6873. Ebd. Auszug aus dem Verfügungsheft des Vorsitzenden der württ. Landesfürsorgebehörde, 28.6.1934, HStAS E 151/01 Bü 851. S. auch Schreiben von Eyrich an das württ. Innenministerium, 29.11.1935, HStAS E 151/01 Bü 851. 717 Auszug aus dem Verfügungsheft des Vorsitzenden der württ. Landesfürsorgebehörde, 28.6.1934, HStAS, E 151/01 Bü 851. 718 Tätigkeitsbericht Landesjugendarzt 1934, zitiert nach Köhnlein (2001), S. 383. 719 Ebd. 720 Ebd., S. 384. 721 S. Naeve (1998), S. 66. 722 Ebd., S. 67. 723 Tätigkeitsbericht Landesjugendarzt, 7.4.1936, HStAS E 151/09 Bü 382. 714 715 716

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in seinem Bericht besonders abfällig über katholische Anstalten, da dort die „Zusammenwürfelung von heterogenen Elementen“724 besonders groß sei. So schrieb er: „Die Ursache dieser Erscheinung ist darin zu erblicken, dass Zigeuner-, Zigeunerbastarde, sowie der Abschaum der Schlossberger, Matzenbacher, Unterdeufstetter und Lützenhardter Bevölkerung und ihren näheren und ferneren Zweigen fast ausnahmslos katholisch sind.“725 Als Konsequenz forderte Eyrich den Ausschluss von Roma und Sinti, weil „die gemeinsame Erziehung erbgesunder junger Volksgenossen mit Zigeunern und zigeunerartigen Jugendlichen […] den Gesichtspunkten, die in der heutigen Staatsführung die Richtung weisen [widerspreche]“726. Zwei Jahre später sollte die Aussonderung von Roma- und Sinti-Kindern bereits angeordnet werden. In seinem Tätigkeitsbericht von April 1938 betonte Eyrich seine Beteiligung an Maßnahmen der Fürsorgeerziehung. Für ihn stellten die Kinder und Jugendlichen, die der Fürsorgeerziehung überwiesen wurden, „zum erheblichen Teile eine anlagemässig dazu bestimmte negative Auslese dar“727. Er sah den Sinn der Fürsorgeerziehung vor allem auch im „Schutz der gesunden und gut veranlagten Jugend vor demoralisierenden Einflüssen“ und war überzeugt, dass sie wirksam war, „den Volkskörper von ungeeigneten Elementen frei zu halten.“728 Der Jugendpsychiater präzisierte: Die Tätigkeit des Landesjugendarztes ist weiterhin auf die Leitlinie eingestellt geblieben, erbbiologische und volksbiologische Gedankengänge bei der Durchführung der Fürsorgeerziehung wirksam zu machen. Von einer Fürsorgeerziehung, die ihre Aufgaben erfüllt, muss gefordert werden, dass sie einerseits erbtüchtige und normal veranlagte Jugendliche, die ihr zugewiesen werden, zu erkennen und in normaler Weise und unbehindert in die Volksgemeinschaft einzugliedern vermag, dass sie andererseits über wirksame Wege verfügt, mit dem Schutz der Volksgemeinschaft vor den Gemeinschaftsunfähigen eine möglichste Brauchbarmachung der beschränkt Gemeinschafts- und Leistungsfähigen zu verbinden und ihre Arbeit, die sonst verloren geht, in geeigneter Weise einzusetzen. Schließlich und nicht zuletzt hat sie in nachdrücklicher und wirksamer Weise bei der Vorbereitung und Durchführung der von den erbbiologischen Gesetzen des Staates gebotenen Massnahmen mitzuwirken.729

Systematisch sichtete Eyrich die Fürsorgezöglinge, die die Schule bald verlassen würden und entschied, bei welchen Kindern ein Antrag auf Unfruchtbarmachung gestellt werden sollte. Kinder, die für den Erfolg der Fürsorgeerziehung nicht zugänglich waren, wurden verwahrt. „Es handelt sich dabei einerseits um Schwachsinnige, ande-

724 725 726 727 728 729

Ebd. Ebd. Ebd. Tätigkeitsbericht Landesjugendarzt, 6.4.1938, StAL E 191 Bü 6873. Ebd. Ebd.

Dr. Max Eyrich

rerseits um kriminelle Schwerpsychopathen und um einige asoziale jugendliche Dirnen“730, so der Arzt. Vom 1. April 1936 bis zum 31. März 1938 stellte er 316 Anträge auf Unfruchtbarmachung.731 Für den Landesjugendarzt zeigte sich die Anzahl der Anträge rückläufig, was er darauf zurückführte, dass die meisten Patienten bereits kurz nach Inkrafttreten des Gesetzes erfasst worden und die Gerichte in der Befürwortung von Anträgen in letzter Zeit zurückhaltender geworden waren.732 Eyrichs Forderung nach Asylierung der „minderwertigen Zigeuner“ wurde im November 1938 vom Innenministerium in Stuttgart aufgegriffen. Der sogenannte „Heimerlass“ regelte eine Umverteilung des „Zöglingsbestandes“. „Nach dieser Anweisung sollten unter anderem die schulpflichtigen ‚Zigeunerkinder‘ und die ‚zigeunerähnlichen‘ Kinder aus den verschiedenen Heimen herausgenommen und in einem besonderen Heim zusammengefaßt [sic!] werden“733, so Johannes Meister, der sich mit dem Schicksal der Roma- und Sinti-Kinder aus Mulfingen beschäftigte. Verantwortlich für die Zuweisung der Zöglinge in die einzelnen Anstalten war der Landesjugendarzt.734 Einen Tag nach der Veröffentlichung des Heimerlasses fand in Stuttgart die „Württembergische Anstaltstagung“ statt, an der Mitarbeiter der Fürsorgeeinrichtungen teilnahmen. Auch Max Eyrich war anwesend und hielt einen Vortrag mit dem Titel „Fürsorgezöglinge, erbbiologisch gesehen“735. Er beschrieb in seiner Rede die unterschiedlichen Gründe der Verwahrlosung der Anstaltszöglinge: Kinder mit familiären Problemen, Jugendliche, die aus Konflikten heraus Straftaten begingen, Kinder, die aufgrund beginnender psychiatrischer Erkrankungen auffällig wurden und Gewohnheitsverbrecher. Dann fügte er hinzu: „Es fällt auf, wie viele der Unerziehbaren unter den Fürsorgezöglingen aus Kreisen des fahrenden Volks stammen. […] Das fahrende Volk ist zu allen Zeiten als Landplage empfunden worden und jede Zeit hat sich der Plage auf ihre Weise zu erwehren versucht […].“736 Eyrich erwähnte auch die Forschungen Robert Ritters737, der eine „umfassende erbbiologische Bestandsaufnahme der gesamten deutschen Vagantensippen [durchführe]“738. Im Gegensatz zu Ritter hielt der LanEbd. Ebd. Ebd. S. Meister (1987), S. 14. Ebd. Eyrich (1939). Ebd., S. 254 f. Der 1901 geborene Robert Ritter war Nervenarzt und hatte Anfang der 1930er Jahre einige Zeit unter Robert Gaupp an der Tübinger Nervenklinik als Assistenzarzt gearbeitet. 1934 leitete er die „Rassenhygienische Eheberatungsstelle“ in Tübingen. Ab 1936 war Ritter an der „Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Dienststelle“ am Reichsgesundheitsamt angestellt. Der Mediziner zeigte sich als „Vorbereiter und letztlich Mittäter der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik an den sogenannten ‚Zigeunern‘“. S. Schmidt-Degenhard (2008), S. 245. Eine Zusammenfassung der Biographie findet sich ebd., S. 245–250. Informationen zu Ritters Zeit an der Tübinger Universitätsnervenklinik finden sich bei Köhnlein (2001), S. 401–404. 738 Eyrich (1939), S. 256. 730 731 732 733 734 735 736 737

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desjugendarzt die überwiegende Mehrzahl der „Vaganten“ für „nicht schwachsinnig“739. Keinen Platz in der Fürsorgeerziehung hatte der Mediziner für „die schwersten Formen des angeborenen Schwachsinns“740. Er kritisierte in seinem Vortrag auch das Verhalten mancher Anstaltsleiter, die davon ausgingen, „daß [sic!] bei dieser Sammelerziehung eine Hebung der minderen Elemente durch die besseren erfolge“741. Dem widersprach er: „Demgegenüber sagt uns eine einfache Erfahrung, daß [sic!] ein fauler Apfel auch die gesunden um ihn herum ansteckt.“742 Eyrich sah im „Heimerlass“ eine Lösung der Probleme der Fürsorgeerziehung: Wir werden uns zuerst bemühen, ein klares Bild von der körperlichen und geistigen Veranlagung und Verfassung eines Zöglings zu gewinnen, und dabei alle Methoden und Erfahrungen anwenden, die der heutigen Psychiatrie, Charakterkunde und Pädagogik zur Verfügung stehen. Mit dieser Aufgabe werden Aufnahmeheime beauftragt werden, welche über die erforderlichen Einrichtungen verfügen und dann wird durch Gruppierung der Anstalten und der Zöglinge zusammengefaßt werden, was zusammenpaßt und seiner Natur nach zusammengehört. Wir werden also aus dem großen Sammeltopf, den die bisherige Anstaltserziehung in Württemberg zum Teil noch darstellt, einiges herausnehmen: 1. Die erbbiologisch normal veranlagten und nicht verwahrlosten Kinder. 2. Die stark unterbegabten und schwachsinnigen, ferner solche Schwerpsychopathen, die für den gewöhnlichen Vollzug der Anstaltserziehung nicht tragbar sind. 3. Die Zigeuner und die sonstigen zigeunerartigen Elemente.743

Die württembergischen „zigeunerischen oder zigeunerähnlichen“ Kinder wurden nach November 1938 alle in die St. Josefspflege nach Mulfingen verlegt. 1944 wurden 39 Kinder aus Mulfingen nach Auschwitz deportiert, wo 35 von ihnen ermordet wurden.744 Der Historiker Peukert wies darauf hin, dass Eyrichs Vortrag vom November 1938 keinen Rassismus im Sinne der „pornographischen Hetze des ‚Stürmers‘“ darstellte, sondern „sanfter“ und weitaus „gefährlicher, weil subtiler und dichter eingebunden in Alltagsdiskurse“ erschien.745 Vorträge, wie der des Landesjugendarztes, suggerierten, dass „durch den kombinierten Einsatz akribischer Wissenschaft und hart zupackender Staatsmacht die endgültige Beseitigung von Armut, Elend, Krankheit und Verbrechen durch die eugenische Praxis von Auslese und Ausmerze möglich [sei]“746.

739 740 741 742 743 744 745 746

Ebd. Ebd. Ebd., S. 259. Ebd. Ebd. S. Meister (1987), S. 40. S. Peukert (1982), S. 265. Ebd., S. 278.

Dr. Max Eyrich

Ende 1938 leistete Eyrich vier Wochen lang als Unterarzt Sanitätsdienst in der Sanstaffel bei Ludwigsburg. 1939 und in den folgenden Jahren wurde er wegen einer UK-Stellung (Unabkömmlichstellung747) zurückgestellt.748 Im November 1939 veröffentlichte der Jugendpsychiater einen Aufsatz mit dem Titel „Gerichtsärztliche Aufgaben bei Kindern und Jugendlichen“749. Er kritisierte, dass Ärzte und Staat lange weggeschaut hätten, wenn Kinder und Jugendliche „sich unangenehm bemerkbar“750 gemacht hätten. Für Eyrich war wichtig, „die in Frage kommenden Abnormen möglichst frühzeitig als solche zu erkennen und zu erfassen“751. Dafür sei allerdings eine ärztliche Diagnose notwendig. Weiter ging der Mediziner auf das Jugendgerichtsgesetz ( JGG) ein, das zu prüfen habe, „ob für einen jugendlichen Rechtsbrecher Erziehungsmaßregeln erforderlich“752 seien. Dabei komme auch dem Sachverständigen eine wichtige Rolle zu, immerhin soll dieser nicht nur über die Zurechnungsfähigkeit des jugendlichen Delinquenten, sondern auch „aus seiner ärztlichen Blickweise bei der Wahl von Strafen und Erziehungsmaßregeln beraten und zur Frage der sozialen Prognose Stellung nehmen“753. Wichtig sei der Sachverständige vor allem, um das öffentliche Interesse zu schützen, wenn es sich „um den Beginn einer sozial abwegigen Entwicklung handel[e]“754. Er müsse dann die entsprechenden Maßnahmen ergreifen, neben den „erbbiologischen und den Maßnahmen einer vorbeugenden Be- oder Verwahrung – im geeigneten Fall auch [die] Entfernung der Keimdrüsen […]“755. Eyrich selbst habe von der Möglichkeit der „Entmannung“ „bei einer Reihe von hochgradig Schwachsinnigen innerhalb und außerhalb von Anstalten Gebrauch gemacht.“756 Auch wenn einige Patienten danach unter der sogenannten „Kastratenfettsucht“ gelitten hätten, so rechtfertige der Gedanke an das Gemeinwohl den Eingriff.757 Weiter kritisierte der Arzt in seinem Artikel, dass das Gesetz noch keine Möglichkeit zur vorbeugenden Verwahrung von „gemeinschaftsschädlichen“ Individuen nach Ende der Fürsorgeerziehung kenne. Für Eyrich kamen hierfür eine Unterbringung im Arbeitshaus oder im Konzentrationslager in Frage.758

747 Durch die UK-Stellung wurden im 2. Weltkrieg Fachkräfte befristet oder widerruflich aus dem Wehrdienst entlassen, wenn sie zur Durchführung einer Reichsverteidigungsaufgabe der Kriegswirtschaft, des Verkehrs oder der Verwaltung unersetzbar waren (§ 5 AbS. 2 WehrG). 748 Spruchkammerakte Dr. Eyrich, StAS Wü 13 T 2 Nr. 655/11. 749 Eyrich (1940). 750 Ebd., S. 550. 751 Ebd. 752 Ebd., S. 552. 753 Ebd., S. 554. 754 Ebd. 755 Ebd. 756 Ebd. 757 Ebd., S. 554 f. 758 Ebd., S. 556.

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Im Juni 1942 hielt der Landesjugendarzt im Rahmen einer Besprechung mit Vertretern der NSDAP-Gauleitung, der Hitler-Jugend (HJ), des BDM, des Jugendamts Stuttgart, des Württembergischen Fürsorgeverbandes und der Stuttgarter Kriminalpolizei einen Vortrag über „die Durchführung der Fürsorgeerziehung im Kriege“759. Eyrich betonte, dass sich das Ansehen der Fürsorgeerziehung in Fachkreisen „nach vorübergehendem Tiefstand entschieden gefestigt“760 habe. Der Jugendpsychiater stellte heraus, dass die Fürsorgeheime auch dafür da seien, „die Öffentlichkeit, Familie, Schule, Straße von allerlei Unzuträglichkeiten zu entlasten“761. Dann fügte er in Bezug auf die Kriegsjahre hinzu: „Wenn das Bild des öffentlichen Lebens im dritten Kriegsjahre trotz aller Schwierigkeiten auf diesem Gebiet noch so sauber und geordnet ist, wie wir es täglich sehen, so sei es diesem – auch kriegswichtigen – Einsatz der Fürsorgeerziehung zu verdanken.“762 Für therapeutisch besonders wichtig hielt der Mediziner auch den Arbeitseinsatz der Pfleglinge, „der mehr als ‚Beschäftigung‘ sein“ müsse und das Selbstbewusstsein des Patienten stärke: „Auch du arbeitest für Deutschland.“763 Eyrich verwies dann auf noch nicht veröffentlichte Forschungen von Dr. Robert Ritter, der bewiesen haben will, dass bei Fürsorgezöglingen „der alemannisch-nordisch bestimmende Blutsanteil so gut wie keine Rolle spiele[…]“764. Auch 1942 war für den Landesjugendarzt die „erbbiologische“ Arbeit sehr wichtig, denn die Fürsorgeerziehung dürfe „keinesfalls zu einer Förderung erblich entarteter Sippen führen“765. Für die Zukunft erhoffte sich Eyrich in seinen Schlussworten eine „Verlagerung des Gewichts von der heilenden Fürsorge – zur vorbeugenden Vorsorgeerziehung“766. Anfang 1940 klärte Eugen Stähle den Landesjugendarzt über die „EuthanasieAktion“ in Württemberg auf. Im selben Jahr trat Eyrich in die NSDAP ein767, damit zwar etwas später als die anderen Angeklagten, jedoch nicht zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt. Nach Aufhebung des Aufnahmestopps von 1939 traten in den Jahren 1940/1941 wieder viele Ärzte der Partei bei.768 Er war seit 1934 bei der NSV, seit dem 1. Dezember 1936 Mitglied im RDB, seit 1938 im NS-Altherrenbund und seit dem 4.  Februar 1941 im NS-Ärztebund.769 Seit 1935 leitete Eyrich die Gemeinschaft der Alkoholgegnerischen Verbände Württembergs. Im Rahmen seines Spruchkammer-

Eyrich (1942). Ebd., S. 40. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 41. Aussage Dr. Eyrich vor der Spruchkammer, 26.4.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/26. S. Kater (2000), S. 103 f. u. S. 391. 1940/1941 verzeichnete die Partei 20,6 Prozent der Neuzugänge unter den Ärzten, mehr waren es nur 1933 mit 22 Prozent neu beigetretenen Medizinern. 769 Spruchkammerakte Dr. Eyrich, StAS Wü 13 T 2 Nr. 655/11. 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768

Dr. Max Eyrich

verfahrens im Dezember 1949 wurde diese Funktion erklärt und beurteilt.770 Es gab in Württemberg schon lange alkoholgegnerische Verbände, die in einer Landesarbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen waren, welche durch die Gleichschaltung in eine Reichsarbeitsgemeinschaft überführt wurde. Von dieser spaltete sich 1938 wegen interner Streitigkeiten die „Reichsstelle gegen die Alkohol und Tabakgefahren“ ab, die dem Reichsgesundheitsführer unterstand. Im Gau Württemberg war Eugen Stähle zuständig. Zu den Verbänden gehörten konfessionelle Einrichtungen wie zum Beispiel das Weiße Kreuz771, aber auch Verbände wie „Die Hauptberatungsstelle für Alkoholkranke in Stuttgart“. Eyrich wurde vom Leiter zum stellvertretenden Leiter der Arbeitsgemeinschaft des Gaus, weil er laut seiner eigenen Aussage, in der Partei kein Ansehen besessen habe.772 Jedoch ist dies eine Darstellung aus dem Spruchkammerverfahren des Jugendpsychiaters, die mit Vorsicht zu bewerten ist.773 Die Beurteilung schloss mit den Sätzen: „Es handelte sich hier zweifellos um eine gemeinnützige Arbeit, die mit dem Nazismus nichts, gar nichts zu tun hatte, sich im Gegenteil in Parteikreisen kaum einer Stütze erfreuen konnte.“774 Zu seinem Beitritt in die NSDAP und ihren Gliederungen äußerte sich Eyrich in einer Stellungnahme im August 1946: Meine Beziehungen zur Partei und ihren Gliederungen erschöpfen sich in dem erst 1940 erfolgten Eintritt in die Partei und in der Weiterbetreuung der alkoholgegnerischen Verbände in Württemberg, auch nachdem diese (ca. 1941) als „Reichsstelle gegen die Alkoholund Tabakgefahren“ Gau Württemberg-Hohenzollern, der Reichsgesundheitsführung unterstellt worden waren. […] Einen politischen Rang in der Partei habe ich nie gehabt, eine Funktion nie ausgeführt. […] Unter den im württembergischen Staatsdienst stehenden Ärzten bin ich wohl mit Abstand der letzte gewesen, der so lange noch ausserhalb der Partei gestanden hat, soweit nicht der eine oder andere als Wehrmachtsangehöriger sich weiter freihalten konnte. Es ist für einen Beamten meines Alters und in meiner Stellung dieser Schritt zu diesem Zeitpunkt und bei Zugrundelegung der damaligen äußeren und inneren politischen Lage – so wie sie de facto war – nach meiner damaligen und auch noch heutigen Überzeugung einfach unausweichlich geworden, falls er sich nicht seiner sachlichen Wirkungsmöglichkeiten begeben und mehr oder weniger kaltstellen lassen wollte.775

Beurteilung der Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren, Spruchkammerakte Dr. Eyrich, ebd. Heute: Evangelischer Fachverband für Sexualethik und Seelsorge Weißes Kreuz e. V. Beurteilung der Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren, Spruchkammerakte Dr. Eyrich, StAS Wü 13 T 2 Nr. 655/11. 773 Im Prinzip erlebte die alkoholgegnerische Bewegung schon in der Weimarer Republik eine Blüte. Die „Degenerationstheorie“ konstatierte, dass Alkohol das Erbgut schädigte. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlaubte aus diesem Grund auch die Zwangssterilisierungen von Alkoholabhängigen. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 5–6 Prozent der rund 400 000 Zwangssterilisierten alkoholabhängig waren. S. Briesen (2010), S. 110. Vgl. auch Korte (2007), S. 93. 774 Beurteilung der Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren, Spruchkammerakte Dr. Eyrich, StAS Wü 13 T 2 Nr. 655/11. 775 Stellungnahme Dr. Eyrich, 5.8.1946, Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315. 770 771 772

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Der Jugendpsychiater stilisierte sich in der Nachkriegszeit zum unpolitischen Mitläufer. In seiner Stellungnahme machte er deutlich, dass er nicht aus „innerer Überzeugung“ der Partei beigetreten sei, sondern als treuer Beamter, „nachdem über Form und Schicksal dieses Staates, dem der Unterzeichnete in dieser und jener Form seit nun bald 25 Jahren diente, eine Mehrheit anders als in der Linie unserer Wünsche und Überzeugungen entschieden hatte.“776 Eyrich sympathisierte, laut eigenen Aussagen, mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), wie der Kreis um die Professoren Gaupp und Wilbrandt in Tübingen.777 Gaupp bestätigte Teile dieser Aussage: „Früher stand er [Eyrich, Anmerkung der Verfasserin] der Partei fern. Ich habe dann selbst erlebt, dass er allmählich den Nationalsozialistischen Gedankengängen nähertrat, ohne aber in die Partei einzutreten. […] Dass er im DAI [Deutsches Ausland-Institut, Anmerkung der Verfasserin] war, wusste ich nicht.“778 Das Deutsche Ausland-Institut galt bei den amerikanischen Alliierten als belastet.779 Die Mitgliedschaft beschränkte sich, so der Jugendpsychiater, auf das Hören einiger Vorträge in Stuttgart und Bezahlen des Mitgliedsbeitrags.780 Nachdem die Gespräche mit Stähle und Gaupp ohne Konsequenzen geblieben seien und die Krankentötungen weiterliefen, will Eyrich seine Bekanntschaft mit dem Leiter der „Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren“, SS-Sturmbannführer Dr.  Theodor Paulstich781, geltend gemacht haben, den er im Rahmen einer Tagung der Leiter der Trinkerheilstätten im Zieglerstift Haslachmühle traf. „Ich wusste, dass Dr.  Paulstich in einem nahen Verhältnis zum Reichsgesundheitsführer Dr.  Conti stand“782, schilderte der Arzt vor Gericht. Ob Paulstich in Berlin vorsprach, bleibt unbekannt, er schien jedoch betroffen und „wollte Weiteres erwägen“783.

Ebd. Ebd. Zeugnis von Prof. Gaupp, 22.10.1946, Personalakte Dr. Eyrich, ebd. Nach seiner Gründung 1917 und dem verlorenen Ersten Weltkrieg bemühte sich das DAI vor allem um ein verbessertes Image von Deutschland im Ausland. Dabei kümmerte sich das Institut vor allem um die zahlreichen Auslandsdeutschen, beriet aber auch Deutsche, die auswandern wollten. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 folgte die Gleichschaltung des Instituts. Der Fokus legte sich mit dem Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Strölin auf die Planung der Volkstumspolitik des nationalsozialistischen Staates, was durch Zusammenarbeit mit der Gestapo, der NSDAP und dem Außenpolitischen Amt der NSDAP erreicht wurde. Auch kam es vor, dass um Rat suchende Menschen denunziert wurden. Zur Geschichte des Deutschen Ausland-Instituts, das 1949 als „Institut für Auslandsbeziehungen neugegründet wurde, s. https://www.ifa.de/wp-content/uploads/2019/02/ifa_geschichte.pdf (letzter Zugriff am 26.3.2019). 780 Spruchkammerakten Dr. Eyrich, StAS Wü 13 T 2 Nr. 2683/301. 781 Paulstich, Theodor, geboren am 28.9.1891 in Hanau, Amtsarzt, Abteilungsleiter am Hauptgesundheitsamt Berlin. Leiter der 1939 gegründeten Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren. S. Klee (2011), S. 452. 782 Stellungnahme Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. S. dazu auch Schmuhl (2005), S. 331. 783 Aussage Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. 776 777 778 779

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Immer wieder betonte Eyrich vor Gericht, dass er, außer durch die Schweigeverpflichtung, die ihm Stähle im Frühjahr 1940 abgenommen habe, mit „dieser Aktion“ nichts zu tun gehabt habe.784 Die Staatsanwaltschaft jedoch sah in den Besuchen, die der Landesjugendarzt gemeinsam mit dem Berichterstatter der Gesundheitsabteilung des Innenministeriums, Otto Mauthe, im Herbst 1940 unternahm, durchaus eine objektive Beteiligung an der „Euthanasie“. Die Besuche, bei denen die beiden Mediziner Meldebogen ausfüllten, führten dazu, dass im Frühjahr 1941 61 Patienten in die Anstalt Weinsberg verlegt wurden. 57 dieser Kranken starben nach ihrem Weitertransport in der Gaskammer in Hadamar.785 Dennoch war der Staatsanwaltschaft nicht klar, „ob die weiter erforderlichen Voraussetzungen für ein strafrechtliches Verschulden ebenfalls bei ihm vorhanden [seien]“786. In seiner Vernehmung sagte Eyrich zu den Reisen mit Obermedizinalrat Mauthe: Erheblich spätere Zeit erhielt ich dann den Auftrag gemeinsam mit Ob. Med. Rat Dr. Mauthe einige Anstalten aufzusuchen und dort über Insassen Fragebogen für die RAG Heil- und Pflegeanstalten gemeinsam auszufüllen. […] Unsere Tätigkeit bei diesen Reisen hatte die ausgesprochene Tendenz, den Kreis der arbeitsfähig zu erklärenden Kranken möglichst weit zu ziehen, da sich die RAG nur für arbeitsunfähige Kranke interessierte.787

Auf Frage des vernehmenden Beamten, ob er nicht gewusst habe, dass es sich um die berüchtigten Bogen der RAG handele, antwortete Eyrich: „Ich wusste, dass es sich bei den Fragebogen um solche der RAG handelt und dass Dr. Mauthe dieselben weiterleiten wird.“788 Der Landesjugendarzt lehnte den Auftrag nicht ab, „denn es war ein dienstlicher Auftrag, den ich ausführen musste und daher nicht ablehnen konnte“789. Interessant ist der Vergleich der Aussagen Eyrichs von 1945 mit der Vernehmung durch das Amtsgericht Münsingen 1948. In seiner späteren Befragung gab der Mediziner an, dass Mauthe als Zweck der Besuche angegeben habe, „diese Anstalten aus der Zuständigkeit der Reichsarbeitsgemeinschaft herauszubringen und zu diesem Zweck diejenigen Pflegefälle festzustellen, die in eine staatliche Anstalt verlegt werden sollten“790. Darauf konfrontierte ihn der Untersuchungsrichter mit der Vernehmung von Otto Mauthe, der angab, dass die Reisen allein dem Zweck dienten, die angemahnten Meldebogen auszufüllen791 und seiner eigenen Aussage vor dem Chef der deutschen Polizei Stuttgart von 1945, in der er konstatiert hatte, den Zweck der Meldebogen gekannt zu haben. Dazu sagte Eyrich: 784 785 786 787 788 789 790 791

Ebd. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Ebd. Aussage Dr. Eyrich, 10.7.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/24. Ebd. Ebd. Aussage Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. Aussage Dr. Mauthe, 10.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13.

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Meiner Erinnerung nach hat mich Dr. Mauthe so belehrt. […] Die damalige Frage, ob ich gewußt habe, daß es sich bei den Fragebogen um solche der RAG handele, und daß Dr. Mauthe dieselben weiterleiten werde, habe ich zwar damals mit ja beantwortet, ich war mir jedoch bei der Reise mit Dr. Mauthe und bei seiner Ausfüllung dieser Meldebogen ihrer weittragenden möglichen Bedeutung nicht bewusst, zumal meine Verantwortung sich auf das Diagnostische beschränkte und die Tendenz von Dr. Mauthe, diese Diagnose möglichst gut zu stellen, unverkennbar war.792

Die Reisen mit Mauthe fanden vom 10. Oktober bis 13. November 1940 statt. Die beiden Mediziner besuchten neun Bruderhäuser der Gustav-Werner-Stiftung, die Anstalten Tempelhof, Obersontheim, Wilhelmsdorf, Heiligenbronn, Eckwälden und die Paulinenpflege Winnenden.793 Eyrich nahm auf die Besuche seine Schreibmaschine mit, weil er die Meldebogen „nach Diktat“ ausfüllen und diagnostische Berichtigungen vornehmen sollte.794 „Verantwortung, Federführung und die gesamte vorhergehende und weitere Bearbeitung dieser Sache lagen ausschließlich bei Dr.  Mauthe […]“795, erklärte der Arzt. Die Angestellten der besuchten Anstalten schilderten das Verhalten der beiden Ärzte unterschiedlich. Bei einigen Besuchen sei die Anwesenheit von Eyrich als Wohltat empfunden worden, bei anderen sei er durch spitze Bemerkungen aufgefallen. Dr. Franz Geraths, der das Heil- und Erziehungsinstitut für seelenpflegebedürftige Kinder in Eckwälden leitete, sagte nicht nur vor Gericht, sondern auch in dessen Spruchkammerverfahren für Eyrich aus: Am 24. Okt. [1940, Anmerkung der Verfasserin] kamen die beiden Ärzte, Dr. Mauthe verlangte die Vorstellung aller Kinder, nicht nur der 16 gemeldeten, hat sich aber dann doch mit der Vorstellung weniger Kinder begnügt. Dr. Mauthe war der Wortführer. Die beiden Herren haben gemeinsam diagnostiziert. Sie haben bei ihrer Beurteilung einen sehr milden Maßstab angelegt. Dr. Eyrich klärte Dr. Mauthe über die Bedeutung der Seelenpflege an Hand einiger nervöser Kinder auf.796

Der Leiter Eckwäldens will dann mit dem Landesjugendarzt in Stuttgart gefährdete Kinder durchgesprochen und deren Eltern benachrichtigt haben, ihre Kinder abzuholen. Geraths fügte seiner Aussage hinzu: „Dass Dr.  Eyrich bei dem erwähnten Besuch dabei war, empfand ich als Wohltat.“797 Wie auch andere Zeugen bestätigte der Heimleiter, dass der Landesjugendarzt sich bei den Besuchen nicht in den Vor-

792 793 794 795 796 797

Aussage Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Stellungnahme Dr. Eyrich, 8.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. Ebd. Aussage Dr. Franz Geraths, 9.7.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/08. Erklärung zur Entlastung Eyrichs, 4.11.1946, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25.

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dergrund drängte und Fragen an den ärztlichen Berichterstatter weitergab. Geraths wollte Eyrich darauf hinweisen, dass er sich nicht an den „Sperrerlass“ von September 1940 halten könne, der den Anstalten verbot, Patienten ohne Erlaubnis des Innenministeriums zu entlassen. Dieser habe ihn daraufhin zu Dr. Mauthe geschickt, der ihm mitgeteilt habe, dass man dann nichts machen könne.798 Der Heimleiter sah im Jugendpsychiater während des Krieges einen Helfer, der die Anstalt Eckwälden wegen „des Zusammenhangs […] mit der Anthroposophie Rudolf Steiners“799 vor der Gestapo geschützt und auch gegen Bestrebungen der NSV, Eckwälden zu beschlagnahmen, verteidigt habe. „All diese Mühen nahm Dr. Eyrich auf sich, nicht weil er die Anthroposophie schätzte – die er nicht näher kannte –, sondern weil ihm als Jugendarzt die Heilung und Erziehung der Kinder wirklich am Herzen lag“800, so der Heimleiter. Tatsächlich widersprach es Eyrichs Einstellung nicht, dort zu helfen, wo Therapien anschlugen. Auch hatte er in mehreren Vorträgen und Schriften propagiert, dass die Erziehung, wo sie erfolgreich sei, eben auch angewandt werden solle. Genau diesen Zweck hatten die Besuche der beiden Ärzte. Sie sollten nicht etwa alle Patienten der Anstalten zur Ermordung freigeben, sondern genau die, die der Gesellschaft keinen Nutzen mehr bringen konnten. So kann es kaum als Rettungsversuch der Kranken gelten, wenn nur die „schweren Fälle“ wirklich gemeldet wurden, denn genau dies war das Ziel der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Organisatoren. Der ehemalige Hausvater des Bruderhauses Loßburg-Rodt, in welches Hilfsschüler und Erwachsene aufgenommen wurden, kannte Dr. Eyrich bereits durch frühere Besuche und hielt ihn für „der Anstalt und den Hilfsschülern gut gesinnt“801. Beim Besuch der beiden Ärzte habe der Landesjugendarzt sofort erklärt, „daß die Hilfsschüler ausscheiden würden“802. Der Hausvater fügte hinzu: „Ich hatte den Eindruck, daß die Ärzte in loyaler Weise unsere Arbeitskräfte uns belassen wollten.“803 Der ehemalige Hausvater des Bruderhauses Bleiche bei Urach, Fritz Schradin, erinnerte sich ebenfalls an den Besuch der beiden Mediziner: Dr. Eyrich war mir anläßlich seiner vielfachen Überprüfung der Jugendlichen der Anstalt in seiner Eigenschaft als Landesjugendarzt bekannt. Ich hatte durchaus Zutrauen zu ihm. […] Dr. Mauthe betrachtete ich als den höher gestellten und als den Wortführer. Ich erkannte jedoch alsbald, daß die Tendenz beider Ärzte dahin ging, der Anstalt möglichst viel Pfleglinge zu belassen.804

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Aussage Dr. Franz Geraths, 9.7.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/08. Erklärung zur Entlastung Eyrichs, 4.11.1946, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/25. Ebd. Aussage Ludwig Haap, 1.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/04. Ebd. Ebd. Aussage Fritz Schradin, 1.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/04.

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Für einige Patienten reichte das „milde Urteil“ der beiden Ärzte jedoch nicht. Sie bestanden auf Meldung von drei Patienten. Dazu Schradin: „Bei drei Kranken, Maria B., Julie G. und Ernst V., war eine Zurückhaltung nach Ansicht der Ärzte nicht möglich. Die beiden ersteren waren schon in einer Nervenheilanstalt gewesen. Auf diese Tatsache legten die Ärzte Gewicht.“805 Auch hier zeigte sich, dass die Ärzte ihre übertragene Aufgabe sehr gewissenhaft ausführten und die Patienten auswählten, die auch nach den Plänen der „T4“-Organisatoren sterben sollten. Als Kriterium diente die Tatsache, dass die beiden Patientinnen bereits erfolglos in einer Nervenheilanstalt behandelt worden waren. Sie waren damit chronisch krank und sollten der Gesellschaft nicht länger zur Last fallen. Hausvater Schradin erreichte dennoch eine Rettung der Frauen, die nach dem Besuch der Ärzte nach Weinsberg verlegt wurden: Diese beiden Frauen sind zwar später nach Weinsberg verlegt worden, ich habe jedoch eine Eingabe zu ihren Gunsten gemacht, auf die hin die beiden Frauen von Weinsberg wieder zurückkamen. Bezüglich Ernst V. erklärten beide Ärzte, daß dieser Fall völlig aussichtslos sei. Dr. Eyrich kannte den V. von Loßburg-Rodt her. Er war erheblich schwachsinnig und körperlich sehr benachteiligt. Ich entschloß mich daher, für ihn auch keine Eingabe zu machen, um nicht die Lage anderer Kranker zu gefährden. Ernst V. kam aus Weinsberg nicht zurück. Nachricht über seinen Tod ist über die Angehörigen eingetroffen.806

Die Geschehnisse im Bruderhaus Bleiche zeigen, dass auch Angestellte der Anstalten zu Mittätern wurden, indem sie bei „völlige aussichtslosen“807 Fällen Rettungsversuche unterließen. Die Sekretärin der Hauptverwaltung der Gustav-Werner-Stiftung empfand die Anwesenheit von Dr. Eyrich als „Beruhigung“, als er mit Mauthe die Mutteranstalt der Bruderhäuser in Reutlingen besuchte.808 Zum Ablauf der Visitation gab sie zu Protokoll: „Die beiden Ärzte verhielten sich außerordentlich entgegenkommend.“809 Die Mediziner ließen sich etwa zehn Kranke in Reutlingen vorstellen, über die die Sekretärin gemeinsam mit Mauthe Meldebogen ausfüllte. Die Meldungen über die restlichen Patienten sollte sie dann in Eigenregie machen: „Die Ausfüllung der übrigen etwa 60 Meldebogen hat mir Dr. Mauthe völlig überlassen und gesagt, ich wisse ja jetzt, wie ich es machen solle, er wisse, daß wir lauter brauchbare Leute im Hause hätten. Dr. Eyrich bemerkte hierauf scherzhaft, offenbar sei die Elite der Menschheit im Bruderhaus.“810

805 806 807 808 809 810

Ebd. Ebd. Ebd. Aussage Gertrud Kiefner, 1.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/04. Ebd. Ebd.

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Jakob Looser, der ehemalige Hausvater des Bruderhauses Göttelfingen ahnte bei dem Besuch der beiden Mediziner schon, dass es um „Euthanasie“ gehe. Looser erzählte vor Gericht, dass die beiden bei ihrer Visitation zuerst auf die „schweren Fälle“ getroffen seien, da diese nicht gearbeitet hätten und deswegen schon da gewesen seien. „Die Ärzte verhielten sich ordentlich […]“811, so Looser. Neunzehn Patienten aus Göttelfingen wurden gemeldet. „Diese Kranken kamen dann später alle weg“812, so der Hausvater. Ewald Müller, Pfarrer und Inspektor der Paulinenpflege Winnenden, hatte einen guten Eindruck von den beiden Medizinern. In seiner Aussage schilderte er: „Über den Besuch Mauthe/Eyrich hatte ich im Ergebnis den Eindruck, daß die Herren die Anstalt schonen wollten.“813 Die Ärzte füllten dennoch 27 Meldebogen aus. Sieben der gemeldeten Patienten wurden im März 1941 nach Weinsberg und von dort weiter in eine Tötungsanstalt gebracht.814 Die Tatsache, dass von 27 gemeldeten Patienten am Ende nur sieben abgeholt wurden, war für die Staatsanwaltschaft ein weiteres Zeichen für Eyrichs Beteiligung an der Vernichtungsaktion. Er hatte mit der Meldung von zu vielen Patienten Kranke gefährdet und sie damit dem Zugriff der RAG ausgesetzt.815 Der Lehrer und Hausvater der Anstalt Tempelhof kannte Eyrich aus früheren Besuchen und vertraute ihm. Beim Besuch der Mediziner konnte er kurz alleine mit dem Landesjugendarzt sprechen: „Als ich ihn bei dem erwähnten Besuch allein erwischen konnte, bat ich ihn, die Leute doch dazulassen, er sagte, wenn bei uns keine ausgewählt würden, dann würde die Instanz, die die Besichtigung der Anstalt angeordnet habe, misstrauisch werden und ganz anders vorfahren [sic!].“816 Der Vorstand der Erziehungsanstalten Heiligenbronn, Georg Pfaff, stellte nach Mahnung durch das Innenministerium eine Liste über neunzehn Patienten auf. „Die beiden Ärzte Dr. Mauthe und Dr. Eyrich legten bei ihrer Beurteilung sichtlich einen milden Maßstab an, denn alle Umstände, die ich zur Entlastung der Zöglinge anführte, wurden von ihnen bereitwillig berücksichtigt“817, so Pfaff. Am Ende mussten neun Patienten endgültig gemeldet werden, die alle noch arbeitsfähig waren.818 Laut Aussagen des Vorstands wurden keine Patienten deportiert. Dennoch bleibt zu bemerken, dass der Maßstab der beiden Ärzte offensichtlich schärfer als der der Obergutachter gewesen sein muss. Immerhin standen die von den beiden gemeldeten Patienten später nie auf einer Transportliste. Heinrich Hermann, Hausvater in Wilhelmsdorf, gewann einen etwas anderen Eindruck vom Landesjugendarzt, als dieser die Anstalt gemeinsam mit Mauthe besuchte. 811 812 813 814 815 816 817 818

Aussage Jakob Looser, 1.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/04. Ebd. Aussage Ewald Müller, 30.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/04. Ebd. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Aussage Otto Knöll, 4.8.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/01. Aussage Georg Pfaff, 30.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/08. Ebd.

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Hermann hatte erfahren, dass Patienten anderer Anstalten ermordet worden waren und beschloss, die ihm aus Berlin geschickten Meldebogen nicht auszufüllen. Er hatte lediglich Meldebogen 2 beschriftet und diesen mit einem Brief im August 1940 zurück ins Reichsministerium des Inneren nach Berlin geschickt. Eine Abschrift des Briefes lag auch dem Untersuchungsrichter vor. In einem Auszug daraus hieß es: Ich kenne den Zweck dieser planwirtschaftlichen Erfassung. Ich weiss von den vielen Todesnachrichten, welche die Angehörigen verschiedener württembergischer und badischer Heil- und Pflegeanstalten in den letzten Monaten erhalten haben. Ich kann da gewissenshalber nicht schweigen und nicht mitmachen. […] Die Vernichtung des Lebens anders als zur Sühnung gewisser Verbrechen oder im Krieg steht uns Menschen nicht zu. […] Es tut mir leid, aber man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Ich bin bereit die Folgen dieses meines Ungehorsams auf mich zu nehmen.819

Im September 1940 war ein Schreiben des württembergischen Innenministeriums gefolgt, „in welchem ich ersucht wurde, eine Liste der bei uns untergebrachten Schwachsinnigen, Epileptischen und Geisteskranken in zweifacher Fertigung vorzulegen“820, so Hermann. Diesen Brief hatte er im Zusammenhang mit der Ankündigung des Besuches von Mauthe und Eyrich erhalten, die „die Ausfüllung der Meldebogen […] überwachen“821 sollten. Hermann habe Bedenken gehabt, eine solche Liste aufzustellen und sich Rat bei Pfarrer Schlosser vom Landesverband der Inneren Mission in Württemberg geholt, welcher ihm dann geschrieben habe: Ich glaube, dass Sie zunächst alle Gerechtigkeit erfüllen, wenn Sie eine doppelte Liste Ihrer Pfleglinge einschicken, soweit sie unter den Begriff „schwachsinnig“ fallen. Bei den leichten Fällen, Hilfsschülern, würde ich aber von vorn herein das Wort Hilfsschüler in Klammer setzen. […] Wenn dann die beiden Herren Dr. Maute [sic!] und Dr. Eyrich kommen sollten, dann wird ja die Berliner Liste wohl von ihnen selbst ausgefertigt werden.822

Hausvater Hermann meldete daraufhin 45 Patienten. Im Oktober 1940 besuchten der Landesjugendarzt und der ärztliche Berichterstatter des Innenministeriums Württemberg die Anstalt Wilhelmsdorf. Bei der Ankunft soll Mauthe geäußert haben: „Nicht wahr, Herr Hermann, das ist ein trauriger Anlaß, warum wir heute kommen!“, während Eyrich gesagt haben soll: „Aber nicht wahr, Herr Hermann, für diese Leute ist es doch nicht schad!“823 Der Wilhelmsdorfer Hausvater will erwidert haben: „Aber es ist nicht recht, was Sie tun!“824 Der Landesjugendarzt habe nicht zufrieden gewirkt und 819 Schreiben von Heinrich Hermann an den Reichsminister des Inneren, 6.8.1940, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/03. 820 Aussage Heinrich Hermann, 8.12.1947, ebd. 821 Ebd. 822 Schreiben von Pfarrer Schlosser an Hermann, 26.9.1940, ebd. 823 Aussage Heinrich Hermann, 8.12.1947, ebd. 824 Ebd.

Dr. Max Eyrich

entgegnet, dass mit Herrn Hermann nichts anzufangen sei.825 43 Meldebogen wurden über die Kranken ausgefüllt. Auch diesmal schickte der Hausvater die Formulare nicht kommentarlos nach Stuttgart zu Mauthe, sondern legte ihnen einen Brief bei, der an anderer Stelle erläutert werden soll. Der Besuch von Mauthe und Eyrich hatte zur Folge, dass neunzehn Wilhelmsdorfer Patienten im März 1941 nach Weinsberg deportiert wurden. Nur ein Patient kehrte zurück. Dazu erklärte Hermann: „Im Laufe des Monats Mai kamen dann seitens der Angehörigen die Todesnachrichten. Die Angehörigen hatten größtenteils die Todesnachricht aus Hadamar, in einigen Fällen aber auch aus Sonnenstein, erhalten.“826 Die Privattaubstummenanstalt St.  Josefs in Schwäbisch Gmünd wurde kurz vor dem Besuch der beiden Ärzte im November 1940 von der NSV beschlagnahmt. Diese Tatsache nutzten die Schwestern, um alle Patienten zu entlassen. Als die beiden Ärzte, die zu spät über die Räumung der Anstalt informiert worden und dennoch nach Schwäbisch Gmünd gefahren waren, die Anstalt erreichten, hätten sie sich laut Zeugenaussagen „ungehalten“ darüber gezeigt, dass keine Pfleglinge mehr da waren.827 In Schwäbisch Gmünd war der Landesjugendarzt kein unbekanntes Gesicht. So erklärte eine Schwester: Ich kannte den Landesjugendarzt Eurich [sic!], weil dieser jedjährlich kam, um die zur Schulentlassung heranstehenden Kinder darauf zu prüfen, ob sie nach dem Erbgesundheitsgesetz zu sterilisieren sind oder nicht. Ich hatte damals den Eindruck gewonnen, dass der Landesjugendarzt Eurich sehr darauf bedacht war, dass kein Kind der Sterilisation entgeht.828

Mit dem Verhalten Eyrichs während des Besuches in Schwäbisch Gmünd endete die Anklageschrift in ihrer Ausführung über die Beteiligung des Landesjugendarztes an der „Euthanasie“. Dennoch blieb für die Staatsanwaltschaft die Ungewissheit, ob er strafrechtlich Täter sein konnte. Was die Staatsanwaltschaft nicht untersuchte, war seine Beteiligung an der Deportation der Roma- und Sinti-Kinder aus der St. Josefspflege in Mulfingen. Ebenso wenig wurde der Mediziner zur „Kindereuthanasie“ befragt. Nach Durchsicht der Akten zum Grafeneck-Prozess bleibt die Vermutung, dass der Landesjugendarzt auch die Meldung einiger Kinder an den „Reichsausschuss“ zu verantworten hatte. Während die Beteiligung an der Ermordung von psychiatrischen Patienten für die Justiz mit den Besuchen des Arztes Ende des Jahres 1940 endete, blieb Eyrich bis zur totalen Kapitulation im Mai 1945 Landesjugendarzt. Fast fünf Jahre, in denen der Kinderund Jugendpsychiater sich klar an rassenideologischer Propaganda und vehement an 825 826 827 828

Ebd. Ebd. Aussage Schwester Xaveria, 12.5.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/10. Aussage Rosa Wolpert, 12.5.1948, ebd.

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der Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ beteiligte.829 In seinem Tätigkeitsbericht von 1941 berichtete er, dass die Rassenhygienische Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamts in seinem Amt eine Forschungsstelle eingerichtet habe.830 „Es werden hier umfangreiche erbbiologische Untersuchungen über die Abstammung von Württembergischen Fürsorgezöglingen durchgeführt“831, so der Mediziner in seinem Bericht. Im März 1942 verlor Eyrich seine UK-Stellung.832 Ansonsten vergingen die Jahre 1942 bis 1943 ohne besondere Zwischenfälle. Der Jugendpsychiater beklagte die Tatsache, dass er wegen mangelnder Treibstoffzuteilung seinen Wagen, einen Ford, Typ.  Eifel, 1157 ccm Hubraum, Kennzeichen: IIIA 30273, nicht bewegen könne und die Öffentlichen Verkehrsmittel benutzen müsse, was bei der sehr abschüssigen Lage einiger Anstalten schwer zu bewerkstelligen sei.833 Seinen nächsten Tätigkeitsbericht verfasste er aus gesundheitlichen und personellen Gründen erst im April 1944.834 „Das Gesamtbild der deutschen Jugend, wie es sich in der Arbeit unseres Amtes bietet, hält bis ins 5. Kriegsjahr hinein gut stand,“835 so Eyrich zu Beginn seines Berichts. Er sei im Grunde zufrieden, die Kriminalität bewege sich im normalen Rahmen. „So sticht auch das äussere Bild unserer Jungen und Mädel, straff und gesund, deutlich von dem der ebenfalls unsere Strassen bevölkernden ausländischen Zivilarbeitern ab, bei denen äussere und innere Verwahrlosung weithin die Regel bildet,“836 so der Landesjugendarzt. Er freue sich, dass der „grösste Unfug, das Einpflanzen von Zigeuner- oder Zigeunermischlingskindern in gute deutsche Pflegefamilien aufgehört ha[be]“837. Auf einer der folgenden Seiten brachte der Jugendpsychiater zum ersten Mal in einem seiner Tätigkeitsberichte die „Euthanasie“ ins Spiel und zeigte dort seine eigene Haltung deutlicher als in Aussagen, die er während der Voruntersuchung zum Prozess machte. So schrieb er: Nicht geringer sind die Schwierigkeiten, denen wir bei der Unterbringung schulunfähiger, pflegebedürftiger Schwachsinniger begegnen. Die allein noch zur Verfügung stehende Anstalt Heggbach ist voll, die Staatl. Anstalt in Zwiefalten bietet auch nur beschränkte Aufnahmemöglichkeiten für solche Fälle […]. Die staatliche Anstalt in Eichberg/T. kommt auch nur für eine beschränkte Anzahl dieser Fälle in Frage und nimmt u. W. [unseres Wissens, Anmerkung der Verfasserin] auch nur Kinder der jüngeren Altersklassen auf.838

829 830 831 832 833 834 835 836 837 838

Tätigkeitsbericht Landesjugendarzt, 30.5.1941, HStAS E 151/09 Bü 382. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Tätigkeitsbericht Landesjugendarzt, 1.4.1944, ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Eyrich ging dann auf Fälle des „Schwachsinns“ ein, die nicht vererbt seien, sondern zufällig entstünden und oft das erste Kind einer Frau beträfen. Man sehe dann immer wieder, wie sich Mütter um diese Kinder besonders kümmern, eine „geradezu krankhaft anmutende Bindung entwickeln, während der Tod des Kindes zwar später, wenn erst die Trennung verschmerzt ist, fast immer nur als Erlösung empfunden [werde]“839. Dem fügte der Landesjugendarzt hinzu: Wir erwähnen in diesem Zusammenhang noch eine Äusserung, die wir im Personalbogen einer Hilfsschule gefunden haben: „es handelt sich um einen geistig überaus schwach befähigten schwer schwachsinnigen (idiotischen) Knaben. […] Das Beste wäre: Vernichtung!“ Dem vernünftigen Gedanken der Euthanasie lebensunwerter ist durch solche Entgleisungen nicht zuständiger Stellen schlecht gedient.840

War Eyrich für eben genau die Form der „Euthanasie“, die die Nationalsozialisten propagierten? Wie schon in seinen Berichten zuvor war der Landesjugendarzt auch im Jahr 1944 nicht zufrieden mit den Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte. Er verstand nicht, warum es in Fällen, „die eine in jeder Richtung mehrfach durchgesiebte negative Auslese darstellen und bezüglich ihrer persönlichen und erbbiologischen Minderwertigkeit keine Wünsche offen zu lassen pflegen, in der Regel zu keinen und oft zu ablehnenden Beschlüssen komm[e]“841. Der Mediziner war der Meinung, dass „eine rege Fortpflanzung auch der eindeutig asozialen Sippen ein schmerzlicher Tatbestand [sei]“842. Was verriet Eyrich über die „Euthanasie“ in seinem Tätigkeitsbericht 1944? Er nannte sie einen „vernünftigen Gedanken“, aber zeigte sich empört, wenn sie durch „nicht zuständige Stellen“ oder unsachgemäß ausgeführt wurde. Seine Einstellung zu den Krankentötungen wurde in den Aussagen zum Prozess nicht deutlich, seine Angaben ähnelten ihrem Inhalt nach dem, was auch die anderen Beschuldigten vor Gericht erklärten. Keiner der Angeklagten zeigte Reue und keiner sagte konkret, dass die „Euthanasie“ ein abscheulicher Gedanke sei und es schrecklich gewesen sei, Teil der Tötungsmaschinerie zu werden. Tatsächlich wird erst durch die Kenntnis der Berichte Eyrichs deutlich, dass der Arzt weit mehr über die „Euthanasie“ wusste als er später zugeben würde und weit tiefer in die Tötungsmaschinerie eingebunden war, als das Gericht 1949 erkannte. Deutlich wird dies, wenn er in seinem Bericht beispielsweise über die Unterbringung „schulunfähiger pflegebedürftiger Schwachsinniger“ referierte, einer Gruppe von Patienten, die, wie er schon Jahre zuvor propagierte, aus der Fürsorgeerziehung ausscheiden sollte, da keine Chance auf Heilung bestehe. Diese Kinder sollten in Pflegeanstalten untergebracht werden, wo sie natürlich als nicht 839 840 841 842

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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arbeitsfähig, potentielle Opfer der „Aktion-T4“ darstellten. In der staatlichen Anstalt Eichberg befand sich eine sogenannte „Kinderfachabteilung“, in der „Kindereuthanasie“ im Rahmen des „Reichsausschussverfahrens“ betrieben wurde. Tatsächlich wurden über das „Reichsausschussverfahren“ vor allem jüngere Kinder erfasst. Es sind aber auch Fälle von jungen Erwachsenen belegt, die über den „Reichsausschuss“ gemeldet, in eine „Kinderfachabteilung“ verlegt und dort ermordet wurden.843 Kinder starben allerdings nicht nur durch die Meldung beim „Reichsausschuss“, sondern auch im Rahmen der zweiten Phase der Krankentötungen.844 Ob die Tötung von Patienten nach 1941 in Zwiefalten weiterging, wurde vom Gericht zwar vermutet, konnte aber nicht bewiesen werden. Es gilt aber nach Berechnungen von Heinz Faulstich anhand der Sterbefälle in der Anstalt Zwiefalten in den Jahren 1941 bis 1945 als belegt. Und auch die Aussagen von Fauser und einigen Mitarbeitern lassen darauf schließen, dass Patienten dort durch Medikamentengaben ermordet wurden.845 Schon der Untersuchungsrichter befragte Fauser zur erhöhten Sterblichkeit von Kindern in der Anstalt. Sie behauptete, diese Kinder seien eines natürlichen Todes gestorben. Welche Rolle spielte Eyrich? Seine Verantwortung für den Tod der Kinder lässt sich nicht belegen. Auffallend bleibt eine Aussage Fausers, sie hätte den Landesjugendarzt gebeten, ihr wegen der in der Anstalt herrschenden hohen Sterblichkeit, keine Kinder mehr zu schicken. Dazu sagte Fauser: „Im Frühjahr 1944 erkrankte eine Anzahl der Kinder schwer und starben auffällig rasch. Ich habe dann der Dienststelle des Landesjugendarztes Eyrich telefoniert, Stuttgart möge mir keine Kinder mehr schicken, es sei Infektionsgefahr in der Anstalt.“846 Eyrich war also an Verlegungen von Kindern in die Anstalt Zwiefalten beteiligt. Er selektierte Kinder, die bildungsunfähig waren und bei denen keine Chance auf Arbeitsfähigkeit bestand und ließ sie in Pflegeanstalten verlegen. Dazu schrieb Ernst Klee: Um es vorweg zu sagen: Das einzige Kriterium, daß Kinder nicht getötet werden, ist ihre spätere produktive Nützlichkeit. Das Todesurteil lautet in allerlei Variationen: Keinerlei Arbeitseinsatzfähigkeit zu erwarten. Ebenfalls ein Todesurteil bedeutet die Formulierung Dauernde Anstalts- und Pflegebedürftigkeit. Manchmal heißt es: Bildungs- und arbeitsverwendungsunfähig.847

Der Jugendpsychiater selbst verfasste Gutachten folgender Art: „Der Junge ist so schwachsinnig, dass eine weitere Belassung in dieser Anstalt nicht möglich ist. Er 843 Zum Beispiel der 24-jährige Heinz F. Er wurde auf Wunsch seines Vaters und mit Hilfe der beiden Ärzte Dr. Gutekunst und Dr. Stähle über das „Reichsausschussverfahren“ zuerst nach Eichberg und von dort nach Hadamar verlegt. In Hadamar starb er 1944. S. Aussage von Heinrich F., 3.7.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/02. 844 S. auch Benzenhöfer (2011), S. 68. 845 S. Kapitel 4.2.1 Martha Fauser und die „Euthanasie“. 846 Aussage Dr. Fauser, 1.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. 847 S. Klee (2010), S. 333.

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gehört vielmehr in eine Schwachsinnigenschule und steht an der Grenze der Bildungsunfähigkeit.“848 Ein weiterer Hinweis auf eine mögliche Beteiligung des Landesjugendarztes an der „Kindereuthanasie“ fand sich bei Durchsicht der Akten zum Grafeneck-Prozess. Zweimal tauchte der Landesjugendarzt in Verbindung mit Verlegungen von Kindern in die „Kinderfachabteilung“ Eichberg auf, einmal sorgte er dafür, dass ein Mädchen in die Anstalt Heggbach gebracht und dann später nach Eichberg deportiert wurde. Alle drei Kinder wurden in Eichberg ermordet. Die Geschichte des nach Heggbach verlegten und dann später in Eichberg ermordeten Mädchens schilderte Detlef Naeve in seiner Dissertation.849 „Wer das Kind letztlich dem „Reichsausschuss“ meldete  – die Städtischen Kinderheime, der Landesjugendarzt oder das Städtische Sozialamt – bleibt ungeklärt“850, so Naeve. Über einen sechsjährigen Jungen, der im Oktober 1944 in Eichberg starb, fanden sich außer der Bemerkung „Verlegung veranlasst durch: Landesjugendarzt Stgt [Stuttgart, Anmerkung der Verfasserin]“851 keine weiteren Hinweise auf Eyrichs Beteiligung. Bei einem jungen Patienten tauchte der Landesjugendarzt neben den Gesundheitsämtern Waiblingen und Biberach als mitverantwortlich für die Verlegung auf.852 Der Junge war im Alter von drei Jahren von seinen Eltern in die Anstalt Heggbach gebracht worden, „um ein normales Aufwachsen seines Schwesterchens, das gesund [war], zu gewährleisten“853. Der kleine Patient war zuvor schon häufiger zur Behandlung in Stuttgart gewesen, wo als Diagnosen „Idiotie“ und „Cerebralschaden“ festgestellt worden waren.854 In Heggbach hatte sich sein Zustand gebessert, vor allem die Schreianfälle hatten nachgelassen. Im März 1943 meldete das Gesundheitsamt den Jungen dann dem „Reichsausschuss“, welcher eine „Behandlung“ empfahl und Ministerialrat Stähle zu erwägen bat, „ob die Möglichkeit einer unauffälligen Verlegung nach Eichberg gegeben [sei].“855 Ende Juli 1943 bat das Gesundheitsamt Waiblingen die Anstalt Heggbach, den Jungen, wenn möglich, nach Eichberg zu überführen. Die Anstalt lehnte ab, weil man, so Naeve, bemüht war „jede Mithilfe an den Verlegungen zu verweigern“856. Den Transport übernahm dann das Gesundheitsamt Biberach, der Junge wurde am 17. August 1943 in die Anstalt Eichberg überführt, wo er sechs Wochen später starb.857 Interessanterweise taucht in den Akten Gutachten des Landesjugendarztes, StAL E 191 Bü 6895. Dokumente über die Verlegung finden sich auch bei den Akten des Grafeneck-Prozesses, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/04 f. sowie bei Naeve (1998), S. 124 f. 850 S. Naeve (1998), S. 125. 851 Ermittlungen zur „Kindereuthanasie“. Übersicht über die erfolgten Verlegungen, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/02. 852 Ebd. 853 Arztbericht aus Heggbach vom 26.8.1943, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/04. 854 Ebd. 855 Schreiben des Reichsausschusses an Stähle, 11.5.1943, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/04. 856 S. Naeve (1998), S. 126. 857 Schreiben des Gesundheitsamts Waiblingen an den württembergischen Innenminister, 25.8.1943, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/04. Todestag des Jungen: 27.9.1943, Übersicht über die erfolgten Verlegungen, 848 849

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zum Verlegungsvorgang des jungen Patienten auch der Name Hedwig Eyrich auf. Die Ärztin wurde 1941 an das Gesundheitsamt Stuttgart kriegsdienstverpflichtet und sollte den an die Ostfront versetzten Arzt vertreten.858 Im Gesundheitsamt arbeitete sie in der Abteilung für Erb- und Rassenpflege. Im Fall des Jungen aus Heggbach schickte sie einen Meldebogen über ihn mit der Bitte um „Weiterbehandlung“ an Dr. Mauthe ins Innenministerium.859 Die „Weiterbehandlung“ diente als Tarnung der Ermordung in einer „Kinderfachabteilung“. Hedwig Eyrich war an weiteren Fällen der „Kindereuthanasie“ beteiligt. Zugegeben hat sie es nie: „Von einer ‚Zentralorganisation für Kindereuthanasie‘ war mir nichts bekannt […]. Die Vorgänge in der Anstalt Eichberg sind mir erst nach 1945 durch die Zeitung bekannt geworden.“860 Hedwig Eyrich wurde noch zu Kriegszeiten in die „Kindereuthanasie“ eingeweiht. Dies beweist ein Schreiben des „Reichsausschusses“ an Stähle. Hedwig Eyrich hatte versehentlich die Unterlagen eines zur „Behandlung“ vorgesehenen Mädchens an die Heilanstalt Winnental geschickt, die nicht über die „Kindereuthanasie“ informiert war.861 Daraufhin schrieb der „Reichsausschuss“ an Stähle im württembergischen Innenministerium: Selbstverständlich ist es unerwünscht, wenn derartige Schreiben des Reichsausschusses einer Anstaltsdirektion zugeleitet werden, die nicht über unsere Bestrebungen unterrichtet ist. Ich bitte jedoch, daraus keinen Vorwurf gegen Frau Dr. Eyrich abzuleiten, da diese offenbar seinerzeit noch nicht durch uns eingeweiht war.862

Köhnlein schließt daraus, dass Hedwig Eyrich später „eingeweiht“ wurde.863 Und auch die von den Ermittlern im Grafeneck-Prozess gesammelten Unterlagen zur „Kindereuthanasie“ lassen diesen Schluss zu. Die Beteiligung des Ehepaars Eyrich an der „Kindereuthanasie“ wurde strafrechtlich nicht untersucht, Akten, die eine Täterschaft des Landesjugendarztes belegen könnten, gibt es nicht mehr. Die Dokumente des Landeswohlfahrtsverbandes Württemberg-Hohenzollern, die eine Verantwortung belegen könnten, wurden von diesem nach 1964 vernichtet. Auf diese Tatsache hatte Johannes Meister das Innenministerium Stuttgart aufmerksam gemacht [wohl im Zuge seiner Recherchen zum Schicksal der Sinti- und Roma-Kinder in Mulfingen, Anmerkung der Verfasserin]. Auf Nachfrage des Innenministeriums beim Landeswohlfahrtsverband blieb man auch auf den Hinweis, „dass es historisch wichtige Akten seien […] unbe-

StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/02. 858 Aussage Hedwig Eyrich, 23.7.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/03, sowie Schreiben von Dr. Lempp, 18.1.1945, HStAS E 151/09 Bü 382. 859 Schreiben von Hedwig Eyrich, 21.7.1943, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/04. 860 Aussage Hedwig Eyrich, 23.7.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/03. 861 S. Köhnlein (2001), S. 380. Vgl. auch Klee (1985), S. 243 f. 862 Schreiben des „Reichsausschusses“ an Ministerialrat Prof. Dr. Stähle, 22.11.1943, abgedruckt bei Klee (1985), S. 243 f. 863 Köhnlein (2001), S. 380.

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eindruckt“864. Der dort zuständige Sachbearbeiter „sei froh […] daß die Akten nicht mehr vorhanden seien, sie hätten seine Dienststelle nur belastet“865. Der Reichsstatthalter in Württemberg beantragte 1943 die Ernennung Eyrichs zum Obermedizinalrat.866 Diesem Antrag wollte der Reichsinnenminister nicht stattgeben, weil der Landesjugendarzt die Voraussetzungen zu diesem Titel nicht erfülle. „Dagegen bestehen keine Bedenken gegen eine Ernennung zum Oberregierungsmedizinalrat“867, so hieß es im Schreiben an den Reichsstatthalter. 1944 wartete der Jugendpsychiater immer noch auf seine Ernennung zum Oberregierungsmedizinalrat. Er vermutete, dass durch Fliegerschäden ein mögliches Ernennungsschreiben verloren gegangen sei. So schrieb er an den Regierungsdirektor: „Sie wissen, dass ich bis dahin nicht gedrängt habe, allmählich werde ich aber nach den gemachten Erfahrungen doch etwas ungeduldig, es möchten die Akten ein zweites Mal der Vernichtung anheimfallen.“868 Lange musste Eyrich sich nicht mehr gedulden. Am 1. September 1944 ernannte ihn Adolf Hitler zum Oberregierungsmedizinalrat.869 Mitte September 1944 wurden die vier Räume, die der Arzt im fünften Stock des Hauses Lindenspürstraße 39 als Arbeitsplatz nutzte, durch Fliegerangriffe zerstört und er musste danach von zu Hause aus arbeiten.870 Im Oktober 1944 wurde beschlossen, dass alle Ärzte Jahrgang 1897 und jünger zur Wehrmacht einberufen werden sollten, solange sie kriegsverwendungsfähig seien. Das württembergische Innenministerium war sich nicht sicher, ob Eyrich in seiner Funktion als Landesjugendarzt ersetzbar sei.871 Mauthe bat das Wehrersatzbezirksamt, Eyrich nicht einzuberufen.872 Der Jugendpsychiater entging einer Berufung zur Wehrmacht, weil er als unentbehrlich galt. Im Januar 1945 sollte er zu seiner Arbeit als Landesjugendarzt die Stelle in der Abteilung für Erb- und Rassenpflege im Stuttgarter Gesundheitsamt übernehmen, die seine Frau vertretungsweise bekleidete. Hedwig Eyrich konnte das Amt nicht weiter ausführen, weil „die Verhältnisse in ihrer Familie, insbesondere aber auch ihr Gesundheitszustand dies nicht mehr gestatten würden“873. Ihr Mann zeigte sich von diesem Vorschlag anfangs nicht begeistert, „doch findet der ganze Plan mich auch so inzwischen freundlicher gestimmt“874. Er hatte befürchtet, dass die Arbeit als Landesjugendarzt durch die zusätzliche berufliche Belastung leiden

864 865 866 867 868 869 870 871 872 873 874

Aktenvermerk vom 19.9.1972, HStAS EA 99/101 Bü 14. Ebd. Schreiben des Reichsministers des Inneren vom 18.10.1943, HStAS E 151/01 Bü 850. Ebd. Schreiben Dr. Eyrich, 9.8.1944, HStAS E 151/09 Bü 382. Ernennungsurkunde Dr. Eyrich, 1.9.1944, ebd. Schreiben Dr. Eyrich an das württembergische Innenministerium, 14.9.1944, ebd. Schreiben des württembergischen Innenministeriums, 11.10.1944, ebd. Schreiben Dr. Mauthe an den Wehrersatzbezirksarzt, 11.10.1944, ebd. Schreiben Dr. Lempp, 18.1.1945, ebd. Schreiben Dr. Eyrich, 6.2.1945, ebd.

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könnte.875 Am 22. März 1945 ordnete das württembergische Innenministerium Eyrichs Mitarbeit im städtischen Gesundheitsamt an.876 Im Juli 1945 befragte die württembergische Landespolizei den Landesjugendarzt zur „Euthanasie“ in Grafeneck. Dazu schrieb der Generalstaatsanwalt Richard Schmid an das Ministerium für politische Befreiung: Die Württembergische Landespolizei hat im Jahre 1945 Ermittlungen zu Grafeneck gemacht. Nach Vornahme dieser Erhebungen wurden die Geheimakten des Württembergischen Innenministeriums über die sog. Euthanasie in einem Panzerschrank gefunden, der sich im Luftschutzkeller des zerstörten früheren Gebäudes des Innenministeriums befand. Die Militär-Regierung hat diese Akten sofort abholen lassen und bis heute nicht wieder zurückgegeben. Nach den hier vorliegenden Akten kommen als Beteiligte in Betracht: Dr.  Eugen Stähle, Dr. Mauthe, Dr. Mayser, Dr. Eyrich, Dr. Gutekunst.877

Am 26. September 1945 wurde Eyrich im Zuge des „automatischen Arrests“ von den Amerikanern interniert. Er sprach diesen Umstand seiner späten Ernennung zum Oberregierungsmedizinalrat zu: Meine erst im November 1944 [September, Anmerkung der Verfasserin] erfolgte Beförderung aus der „Rats“- in die „Oberrats“- gruppe ist mit vieljähriger Verspätung erfolgt. […] Es ist anzunehmen, dass eine andere als die notorisch so sparsame damalige Landesregierung mich gleich als Oberrat berufen hätte, was mich aber nicht abgehalten hat, den Ruf der Heimat gegenüber materiell besseren Möglichkeiten vorzuziehen. Dieser verspäteten Beförderung verdanke ich aber eine Lagerinternierung von über 9 Monaten Dauer.878

Bis zum 6. Juli 1946 blieb Eyrich interniert. 1947 begann der ehemalige Landesjugendarzt als praktischer Arzt in der Praxis seines Vaters in Ebingen auszuhelfen. Im April 1947 folgte eine erste Vernehmung des Mediziners vor der Spruchkammer. Der Untersuchungsrichter im Grafeneck-Prozess befragte ihn im März 1948 zu seiner Täterschaft, im Januar 1949 ging Eyrich die Anklageschrift im Grafeneck-Prozess zu. Er war angeklagt „zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit wissentlich Hilfe geleistet“879 zu haben.

Ebd. Schreiben des württembergischen Innenministeriums, 22.3.1945, ebd. Schreiben des Generalstaatsanwalts Richard Schmid an das Ministerium für politische Befreiung, 11.10.1946; Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315. 878 Stellungnahme Dr. Eyrich, 5.8.1946, Personalakte Dr. Eyrich, ebd. 879 Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. 875 876 877

Dr. Max Eyrich

4.3.2

Max Eyrich im Rittersaal

Am 13. Juni 1949 sagte Eyrich in der Hauptverhandlung des Grafeneck-Prozesses aus. Die Presse berichtete dazu: Am Montagvormittag wurde der 52jährige Angeklagte Dr. Max Eyrich, ehemaliger Landesjugendarzt, vernommen. Er hatte die Erziehungsanstalten zu betreuen und war nach seiner Aussage bemüht, diese Anstalten möglichst von der Aktion freizubekommen. Er schilderte, welche Gefahren einem beamteten Arzt drohten, der eine abwegige Haltung einzunehmen versuchte.880

Auf den Vorhalt des Richters, dass er in der Lage gewesen wäre, seine Mitarbeit zu verweigern, entgegnete Eyrich: „Das wäre verantwortungslos gewesen. Ich konnte doch nicht einfach meine Anstalten im Stich lassen.“881 Richter Dieterich fragte ihn dann, worin der Nutzen seiner Mitwirkung bestanden habe, worauf der Psychiater antwortete: „Ich habe als Psychiater Gelegenheit gehabt, Diagnosen weitgehend zugunsten der gefährdeten Zöglinge zu stellen und habe es getan.“882 Die Tatsache, dass Eyrich bei der Ausfüllung von Meldebogen mitgeholfen hatte, wollte er sich nicht zum Vorwurf machen lassen, immerhin hatten alle Anstaltsleiter diese bearbeitet. Außerdem kannte er den genauen Zweck nicht. Er fügte hinzu: „Wir Aerzte standen damals allein. Wir hatten keinerlei Hilfe, auch bei den Gerichten nicht. Wir mußten selbst sehen, was und wen wir retten konnten.“883 Zu seiner Verteidigung brachte der ehemalige Landesjugendarzt an, dass, wenn überhaupt, das Ministerium hätte eingreifen können. Er sei aber nicht Beamter des Ministeriums gewesen. Für Stähle hätte sowieso der Zweck die Mittel geheiligt. Eyrich „habe den Anstaltsleitern geraten, gefährdete Kinder heimzuschicken, solange dies möglich war“884. Er fügte hinzu, dass er auf die Mithilfe der Anstaltsleiter hoffen musste, die manchmal in ihrer „fanatischen Wahrheitsliebe“ so weit gegangen seien, dass sie den Tod eines Patienten in Kauf genommen hätten.885 Am 28. Juni 1949 folgte das Plädoyer der Staatsanwaltschaft. Sie schenkte Eyrichs Schilderungen Glauben und stellte keine Anträge gegen ihn. Dazu schrieb der Prozessbeobachter der Süddeutschen Zeitung: Da ist Dr. med. Eyrich – Erziehungspsychologe – von anderem Kaliber. Ein Mann von knappen 50 Jahren, groß, schlank, graumeliertes Haar, zurückhaltend, sachlich. Ebenfalls der Beihilfe zum Massenmord angeklagt, ist Dr. Eyrich durch die Beweisaufnahme entlastet worden. Er ging zu Stähle, sagte: „Das ist Mord, was hier gespielt wird“, und nahm

880 881 882 883 884 885

Schwäbische Zeitung, 14.6.1949. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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den Kampf auf. Mit Mauthe bereiste er die Heilanstalten und füllte die Meldebogen an Ort und Stelle aus. „Wenn wir es nicht machen, dann machen es Aerzte aus Berlin und lassen keinen übrig“, dachte er sich. Auf ihn findet die rechtliche Definition Anwendung, die Staatsanwalt Dr. Kraus in seinem Plädoyer für die „Widerstandskämpfer im Dienst“ fand: „Für sie muß ein neues Recht geschaffen werden, weil die alte Rechtsordnung auf sie nicht angewendet werden kann. Der Widerstandskämpfer gegen Massenverbrechen des Staates ist für seine Beteiligung an der Massentötung nicht zu strafen, wenn er 1. sich nur deshalb und ausschließlich aus diesem Motiv beteiligt, den Widerstand gegen den verbrecherischen Staat aufzunehmen. 2. Dieses Motiv allein genügt nicht. Er muß dieses Motiv ständig und während der ganzen Zeit seiner Betätigung in die Tat umgesetzt haben. Es darf keinen Fall geben, wo er auch nur eine Gelegenheit ungenützt ließ und nicht half “.886

4.3.3

Ursachen der Tatbeteiligung

Wie der Staatsanwalt den ehemaligen Landesjugendarzt zum „Widerstandskämpfer im Dienst“ deklarieren konnte, bleibt rätselhaft, ist aber vielleicht durch die fehlende Kenntnis der den Arzt belastenden Dokumente erklärbar. Freilich, im Grafeneck-Prozess wurde nur eine mögliche Beteiligung des Mediziners an den Krankenmorden verhandelt und so blieb seine Verantwortung für die Deportation der Roma- und Sinti-Kinder sowie eine mögliche Täterschaft im Rahmen der „Kindereuthanasie“ uner wähnt. So inszenierte sich Eyrich zum unpolitischen Beamten, der in seinem Posten verharrte, um möglichst viele Kranke zu retten. Dabei zeigen gerade die Tätigkeitsberichte des Landesjugendarztes, dass er im Grunde ein Befürworter der NS-Gesundheitspolitik war und sie sogar aktiv antrieb. Motive für das Engagement des Jugendpsychiaters bei der Asylierung und Selektion von Kindern und Jugendlichen sind schwer auszumachen. Wichtig scheinen bei der Analyse von Eyrichs Verhalten mehrere Faktoren: Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, die das Wertesystem des Arztes mitgestalteten; das schon seit dem Kaiserreich immer schlechter werdende Ansehen der Psychiatrie; der Vormarsch der Eugenik, die in der Tübinger Nervenklinik mit Robert Gaupp einen starken Unterstützer hatte und Eyrichs eigene berufliche Karrierepläne, die mit der „Machtergreifung“ in andere politische Rahmenbedingungen eingeordnet werden mussten. Der Jugendpsychiater, der zur „jungen Frontgeneration“ gehörte und damit eigentlich Teil einer Gruppe von Männern darstellte, die die Weimarer Republik ablehnten,887 wurde durch seine Kriegserfahrung stark geformt. „Angetreten in rauschhafter Begeisterung“, erlebte diese Generation den Ersten Weltkrieg „als ungeheure Schlachtbank“.888 Die Erfahrungen des Todes anderer Soldaten 886 887 888

Süddeutsche Zeitung Nr. 77, 1949, Spruchkammerakten Dr. Fauser, StAS Wü 13 T 2 Nr. 1425/011. S. Ruck (1996), S. 216. S. Friedmann (2008), S. 39.

Dr. Max Eyrich

machten den jungen Kriegsteilnehmern klar, „der Einzelmensch gilt nichts, erst im Kollektiv der feldgrauen Uniformen wird er zu einer Macht“889. In Schützengräben starben junge, gesunde Männer, während in der Heimat chronisch Kranke, die keinerlei Nutzen für das Vaterland hatten, versorgt werden mussten. Zudem schwand im Kaiserreich das Ansehen der Psychiatrie, welche keine Antwort auf unheilbare Erkrankungen fand. Psychiater versuchten dem in der Weimarer Republik dann mit Reformen zu begegnen, die allerdings chronisch Kranke und Arbeitsunfähige ausschlossen. Ansonsten gewannen in den 1920er Jahren Eugenik und das Erblichkeitsdogma in der Medizin immer mehr an Einfluss, den auch Eyrich spürte. Schon als Student hörte er Vorlesungen seines späteren Mentors Gaupp, einem Eugeniker. Die Bestrebungen der Medizin, nicht nur den einzelnen Menschen zu betrachten, sondern auch den „Volkskörper“, wurden Teil von Eyrichs Denken. Während seiner Tübinger Zeit verschärfte der Mediziner die „selektionsideologische“ Prägung der Kinderabteilung und brachte durch sein in den Krankenakten der jungen Patienten verwendetes diskriminierendes Vokabular sein Wertesystem zum Ausdruck. Zwar litt die Psychiatrie im Umfeld der Hochschulen weniger unter mangelnder Anerkennung, immerhin traten Universitäts-Psychiater durch zahlreiche wissenschaftliche Publikationen hervor, konnten Patienten als geheilt entlassen oder „unheilbare“, chronisch kranke Patienten an die Anstaltspsychiatrie verweisen, doch sorgte gerade Eyrichs Mitgliedschaft in dieser elitären Gruppe von Forschern dafür, dass er sich später radikalisierte. Wie seine Kollegen Ernst Kretschmer und Werner Villinger, die beide renommierte Professoren wurden, wollte der Mediziner beruflich erfolgreich sein. Durch seine Stelle als Landesjugendarzt wurde er zu einem der einflussreichsten Kinder- und Jugendpsychiater Württembergs. Noch von Eugen Bolz zum ‚Leiter der nervenärztlichen Beratungsstelle für das Fürsorgeerziehungswesen‘ ernannt, änderten sich 1933 mit der „Machtergreifung“ die Rahmenbedingungen für Eyrich. Um beruflich erfolgreich zu bleiben, musste er sich an die neuen Verhältnisse anpassen. Dies fiel dem Jugendpsychiater allerdings nicht schwer, da die Nationalsozialisten zum größten Teil das verwirklichen wollten, was auch schon zu Tübinger Zeiten seinen Plänen entsprochen hatte. So war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ dann auch nur der erste Schritt einer immer radikaleren Umsetzung der Rassenhygiene. Der subtile Rassismus Eyrichs890 und sein Plan, nicht nur Arzt des Einzelnen, sondern Arzt des Volkes zu sein, richteten sich gegen „Minderwertige“ und „Volksschädlinge“, aber auch gegen Kinder, denen der Landesjugendarzt „Bildungsunfähigkeit“ bescheinigte. So stellte die „Euthanasie“ für Eyrich nur eine Fortführung der Entwicklungen der Medizin dar, die er befürwortete. Vielleicht nicht in der Art, wie die Massentötungen dann in Württemberg praktiziert wurden, sondern in genau der heimtückischen und heimlichen

889 890

Ebd. S. Peukert (1982), S. 265.

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Weise, wie sie die Nationalsozialisten eigentlich geplant hatten. Max Eyrich, der als Beamter als Kollaborateur der Machthaber fungierte891, blieb nicht nur Mitläufer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik der 1930er und 1940er Jahre, sondern war ihr Motor. 4.4

Dr. Otto Mauthe

4.4.1

Otto Mauthe und die „Euthanasie“

Im Juni 1945 schrieb Otto Mauthe in einer Stellungnahme: Ich bin überzeugt, daß mein derzeitiger schlechter Gesundheitszustand auf die vielen fortdauernden Schwierigkeiten zurückzuführen ist, die ich im Zusammenhang mit der Irrenverfolgung hatte. Die Gefahr der Entdeckung meiner widersetzlichen Tätigkeit war immer vorhanden. […] Ich fühle mich wirklich völlig schuldlos in dieser Sache.892

Die Staatsanwaltschaft, die Mauthe im Januar 1949 anklagte, sah dies allerdings anders und widmete dem im Grafeneck-Prozess Hauptangeklagten 24 Seiten in der Anklageschrift.893 Klar blieb, dass Mauthe nicht selbst getötet hatte, aber als ärztlicher Berichterstatter des Innenministeriums in Stuttgart unter seinem Vorgesetzten Eugen Stähle, Teil der Tötungsmaschinerie wurde. Er verfasste Schreiben an Anstalten und unterzeichnete Transportlisten, die nichts anderes als den Tod der Patienten ankündigten, wählte selbst Patienten für die Deportation aus und selektierte mit seiner Unterschrift Kinder, die er dadurch der Ermordung in „Kinderfachabteilungen“ preisgab. Seine Schuld juristisch aufzuschlüsseln, sie individuell zu machen und dabei trotzdem den Blick auf die Umstände der Zeit nicht zu verlieren, machte die Anklage für die Staatsanwaltschaft schwierig, vor allem nach dem Tod des Hauptverantwortlichen Eugen Stähle 1948 in Untersuchungshaft. Hinzu kam, dass das immense Versagen der Justiz im „Dritten Reich“ immer noch präsent war und nicht erst durch die Aussage der angeklagten Ärztin Martha Fauser in der Hauptverhandlung auch einer breiteren Öffentlichkeit wieder bewusst gemacht wurde, dass nämlich auch die Justiz von den Tötungen in Kenntnis gesetzt war.894 Am Ende stellte die Anklage eine klare Verantwortlichkeit von Otto Mauthe an der „Euthanasie“ an Erwachsenen und Kindern in Württemberg fest. Dazu hatte der Untersuchungsrichter in der Sache „Grafeneck“ Akten und Erlasse, aber auch Zeugenaussagen gesammelt, die die Einstellung des Arztes zu den Krankentötungen belegen sollten. Hinzu kamen Zeugnisse, die den Men891 892 893 894

S. Ruck (1996), S. 216 f. Stellungnahme Dr. Mauthe, 22.6.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/03. S. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Schwäbisches Tagblatt, 15.6.1949, Nr. 76.

Dr. Otto Mauthe

schen und eigentlichen „Euthanasiegegner“ beurteilten. Daneben versuchte der Mediziner in zahlreichen Fällen darzustellen, wie er den Massenmord zu sabotieren und Kranke zu retten versuchte. Dabei machen gerade die von ihm erzählten Geschichten seiner vermeintlichen Rettungsaktionen deutlich, wie nah er der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ eigentlich kam. Nicht immer nämlich blieb der ärztliche Berichterstatter für das Irrenwesen anonym in seinem amtlichen Büro. In einigen Situationen wurde er erzwungenermaßen konkret mit der Ermordung geistig und körperlich behinderter Patienten konfrontiert, sei es durch den Kontakt mit Angehörigen, die ihn schon 1940 als verantwortlich entlarvten und ihn deswegen im Innenministerium besuchten oder bei seinen Selektionsreisen mit dem Tötungsarzt Ernst Baumhard und dem Landesjugendarzt Eyrich. Freilich versuchte Mauthe später, sich selbst in ein besseres Licht zu rücken und sich sogar zum Widerstandskämpfer zu stilisieren. In der Anklageschrift fasste die Staatsanwaltschaft einleitend die Beteiligung des Medizinalrates an den Krankentötungen zusammen: Der Angeschuldigte Dr. Mauthe hat als Sachbearbeiter für das Irrenwesen unter der Aufsicht des Leiters des Gesundheitswesens beim Württ. Innenministerium, des inzwischen verstorbenen Angeschuldigten Dr.  Stähle, vom Jahr 1940 an die Anordnungen bearbeitet oder selbst getroffen, die in Württemberg zur Durchführung der Vernichtungsaktion gegen die Geisteskranken erlassen worden sind. Er war insbesondere an der Erfassung und der Verlegung von geisteskranken Anstaltspfleglingen in Euthanasieanstalten, sowie von Kindern in Kinderfachabteilungen massgeblich mitbeteiligt, er betätigte sich selbst bei Aufstellung und Weiterleitung von Meldebogen an die zuständigen Berliner Stellen, sowie bei der Ueberprüfung geisteskranker Anstaltsinsassen, ob sie der Euthanasie zuzuführen seien, und wirkte darauf hin, dass Widerstände gegen die Durchführung des Euthanasieprogramms, die aus Anstaltskreisen oder aus der Bevölkerung an ihn herangetragen wurden, aus dem Wege geräumt wurden. Er hat dadurch zur Tötung von Tausenden geisteskranker Pfleglinge beigetragen.895

Für Otto Mauthe zeigten sich die gedanklichen Vorboten zur „Euthanasie“ schon vor den im Januar 1940 in Grafeneck beginnenden Massentötungen. Er habe schon auf Besprechungen mit anderen Ärzten und Verantwortlichen des Anstaltswesens gemerkt, dass körperliche und geistig behinderte Patienten zunehmend als Problem betrachtet worden seien. Dazu erklärte Mauthe 1948 in seiner Vernehmung: So war ich wohl im Jahre 1939 [wahrscheinlich 1938, Anmerkung der Verfasserin], es war dies zur Zeit des Mussolini-Besuchs, zusammen mit Oberregierungsrat Kley, dem Verwaltungsberichterstatter für das Irrenwesen, bei einer Besprechung in München. Während früher bei derartigen Besprechungen die Sorge für die Geisteskranken unangefochten war,

895

Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01.

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hat damals zum ersten Male ein SS-Mann namens Bernotat896, Berichterstatter in Kassel, die Geisteskranken als minderwertig bezeichnet, es erfolgte dann eine ziemlich erregte Auseinandersetzung.897

Bereits im September 1939 habe, so Mauthe, die Gesundheitsabteilung des württembergischen Innenministeriums vom Reichsinnenministerium den Auftrag erhalten, Anstalten zu nennen, in denen sich „Geisteskranke, Schwachsinnige und Epileptiker auch neben sonstigen Pfleglingen“898 befanden. Diese Meldungen machte das Innenministerium, woraufhin im Oktober 1939 der Erlass des Reichsinnenministeriums folgte, in welchem die Anstalten zur Ausfüllung von Meldebogen aufgefordert wurden. Wie es für den Arzt weiter ging, schilderte er in seiner Vernehmung: Nach einiger Zeit wurde Grafeneck beschlagnahmt, nachdem Dr. Stähle mit zwei Herren aus Berlin in Württemberg einige Häuser besichtigt hatte. […] Stähle hatte mich hievon nicht in Kenntnis gesetzt. Es ist mir noch in Erinnerung, dass damals auch Schloss Ehrenfels bei Zwiefalten eine Rolle spielte, es hätte, wie ich später erfuhr, dann Zwiefalten als Aufnahmeanstalt und Ehrenfels als Vernichtungsanstalt dienen sollen.899

Ende November 1939 ging den Anstalten ein Erlass mit der Ankündigung von Verlegungen von Patienten im Auftrag des Reichsverteidigungskommissars zu. Dessen Hinzuziehung sei ihm damals schon seltsam erschienen, so Mauthe vor Gericht. Stähle habe ihm dann erklärt, dass der Reichsverteidigungskommissar, „nämlich der Gauleiter“ im Krieg solche Maßnahmen treffen dürfe. „Ich habe keineswegs an Euthanasie gedacht“900, so Mauthe weiter. Nach der Räumung Grafenecks machte sich auch die Bevölkerung im Umkreis Gedanken über den Zweck der Enteignung des Schlosses. Gerüchte wurden laut, die auch Landrat Alber in Münsingen erreichten. Dieser schrieb im Dezember 1939 an das Reichspropagandaamt Württemberg: Nach eingehender Aussprache mit Pg. Dr. Bohne beabsichtige ich, um den über die künftige Verwendung von Grafeneck umlaufenden Vermutungen den Boden zu entziehen, im Albboten (Kreisamtsblatt) folgendes zu veröffentlichen: „Der Landrat teilt uns mit, dass das bisherige Krüppelheim Grafeneck soweit es für Zwecke der Reichsverteidigung nicht benötigt wird, vorübergehend zur Unterbringung von siechen schweren Geisteskranken

896 Fritz Bernotat (1890–1951), SS-Standartenführer und seit 1937 Landesrat und Dezernent für Anstaltswesen in Hessen-Nassau, organisierte im Bezirk Nassau den Krankenmord und nach Einstellen des Mordzentrums Grafeneck den Ersatz in der Tötungsanstalt Hadamar. Bernotat, der als überzeugter und fanatischer Nationalsozialist galt, floh 1945 vor den Alliierten und lebte bis zu seinem Tod 1951 unter falschem Namen. S. Klee (2011), S. 43. 897 Aussage Dr. Mauthe, 2.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. 898 Aussage Dr. Mauthe, 9.1.1948, ebd. 899 Ebd. 900 Ebd.

Dr. Otto Mauthe

aus Anstalten des Räumungsgebiets im Westen benützt wird.“ Ich bitte wegen Vorstehendem noch mit Herrn Ministerialrat Dr. Stähle im Innenministerium Fühlung zu nehmen.901

Die Antwort aus dem Reichspropagandaamt kam prompt, eine Pressenotiz über Grafeneck erschien „nicht ratsam“. Dennoch sei man interessiert an den „Vermutungen“, „die in der Bevölkerung über die zukünftige Verwendung von Grafeneck angestellt werden“.902 Von diesem Schriftwechsel will der ärztliche Berichterstatter allerdings nichts gewusst haben. Ebenso wenig habe er Kenntnis über die Einrichtung eines Standesamts in Grafeneck gehabt. „Meiner Erinnerung nach erhielt ich von der Einrichtung eines eigenen Standesamts in Grafeneck erst Kenntnis durch meinen späteren Besuch von Grafeneck im Frühjahr 1940“903, so der Mediziner später. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Tötungen bereits begonnen und Mauthe war zur Verschwiegenheit verpflichtet worden. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass er im Januar 1940 in die „Euthanasie“ eingeweiht wurde, bevor sein Vorgesetzter, Eugen Stähle, seinen alljährlichen Winterurlaub antrat. Der Mediziner will allerdings erst im Februar mit den Anstaltsdirektoren offiziell von der „Aktion“ erfahren haben. „Wenn Dr. Gutekunst von Winnental am 16. Februar 1940 eingeweiht worden ist, so durfte es ebenfalls um diese Zeit gewesen sein, denn wir wurden alle ungefähr um dieselbe Zeit eingeweiht […]“904, so Mauthe dazu vor Gericht. Im Gegensatz zu den Anstaltsdirektoren habe Stähle ihn nicht nur zur Verschwiegenheit verpflichtet, sondern auch darauf hingewiesen, dass auf „Widersetzlichkeit“ die Todesstrafe stehe. „Wenn die anderen verpflichteten Herrn angeben, dass sie nur zum Schweigen verpflichtet worden seien und auf die Todesstrafe bei Widersetzlichkeit nicht hingewiesen worden seien, so hat Dr. Stähle das Letztere bei mir wenigstens gesagt, zum mindesten dem Sinne nach“905, gab der ärztliche Berichterstatter auf Nachfrage des Untersuchungsrichters an. Die Tatsache, dass Stähle ihm mit der Todesstrafe gedroht habe, wenn er sich weigere, an der „ Aktion“ mitzuwirken, diente Mauthe dann im Prozess immer wieder als Argument, warum er seinen Posten nicht quittiert habe. Stähle klärte seinen Berichterstatter nicht nur mündlich über den Ablauf der Krankentötungen auf, sondern gab ihm auch die Möglichkeit, sich vor Ort, in Grafeneck, selbst ein Bild zu machen. Seinen Besuch im Mordzentrum beschrieb der Mediziner dem Untersuchungsrichter: In das Frühjahr 1940 fällt mein erster und einziger Besuch von Grafeneck zum Zwecke der Besichtigung der Anstalt. Der Besuch fand statt zusammen mit Dr. Stähle, Min. Dirigent Dr. Linden, welcher den Besuch veranlasste – er war damals Referent für das Irren901 902 903 904 905

Richard Alber, 4.12.1939, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/02/04. Antwort des Reichspropagandaamts, 8.12.1939, ebd. Aussage Dr. Mauthe, 9.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Aussage Dr. Mauthe, 2.1.1948, ebd. Ebd.

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wesen im Reichsinnenministerium, alter Kämpfer, goldenes Parteiabzeichen – und Min. Rat Dr. Sprauer von Baden. Meine Teilnahme erfolgte auf Veranlassung von Stähle; ich selbst nahm Interesse an der Sache aus Verwaltungsgründen, keineswegs aus Neugierde am Tötungsvorgang.906

Dr. Sprauer, der höchste badische Ministerialbeamte, ließ sich von seinem Fahrer bis nach Metzingen bringen, wo er in Stähles Wagen umstieg, in dem Mauthe bereits mit Linden saß. Mauthe vermutete damals, dass Sprauer seinen Fahrer nicht eingeweiht hatte und deswegen nicht wollte, dass dieser in die Nähe des Schlosses Grafeneck kam.907 Am Besuchstag sollten 45 Patientinnen aus der Heilanstalt Betburg-Hau ermordet werden. „Bei unserem damaligen Besuch von Grafeneck war der dortige Chefarzt Dr. Schumann anwesend, nicht aber Dr. Baumhardt“908, so der Mediziner. Die Gruppe schaute sich dann das Verwaltungsgebäude an, bekam den genauen Ablauf der Tötung und das System der „Absteckabteilungen“ erklärt.909 Der Ermordung der Patientinnen schaute Mauthe dann ebenfalls zu: Der Vergasungsraum befand sich in einem Wirtschaftsgebäude und bestand meiner Erinnerung nach aus einem Vorraum und einem zweiten Raum der scheinbar als Bad eingerichtet war. Die Vergasungskammer wurde nachher auch in der Anstalt kurzerhand das „Bad“ genannt. […] Nachdem die Kranken die beiden Räume betreten hatten, wurden die Türen abgeschlossen. Das Gas strömte lautlos ein. Durch ein kleines Guckfenster konnte man die Vorgänge im Innern der Vergasungskammer beobachten. Ich selber sah auch kurz durch das Guckfenster, doch war dies aber zu einem Zeitpunkt, als das Gas noch nicht einströmte.910

Bei seiner Vernehmung betonte Mauthe, dass er das Sterben der Patientinnen nicht beobachtet habe. Dieser Punkt war ihm später dann auch in der Hauptverhandlung sehr wichtig.911 Für ihn sei die Anwesenheit bei der Ermordung dieser Frauen sehr qualvoll gewesen. Einerseits hatten ihn sicher die Bilder schockiert, die sich ihm offenbarten, als die Patientinnen in die Gaskammer gepfercht wurden, andererseits hatten ihn damals noch andere Sorgen geplagt. Eine nähere Angabe über die Nöte, die der Arzt bei jenem Besuch im Schloss gelitten haben will, lieferte sein Anwalt 1949: Es ist nun eine weitere Tatsache, dass Dr. Mauthe bei jenem Besuch bei der Besichtigung des „Baderaumes“ (Vernichtungszelle), die für ihn furchtbaren Vermutungen hegte, man könne ihn vielleicht bei dieser Gelegenheit umbringen, weil inzwischen anscheinend

906 907 908 909 910 911

Aussage Dr. Mauthe, 8.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Ebd. Ebd. Aussage Dr. Mauthe, 29.8.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/06. Ebd. Schwäbische Zeitung, 11.6.1949.

Dr. Otto Mauthe

bekannt geworden sei, dass er über Kley die Anregung gab, das bischöfliche Ordinariat zu benachrichtigen, um einen Protest der Kirche herbeizuführen.912

Der Mediziner hatte tatsächlich kurz nach seiner Aufklärung über die „Euthanasie“ mit seinem Kollegen Wilhelm Kley gesprochen. Er vertraute dem Ministerialrat, der als Verwaltungsberichterstatter für das Irrenwesen im Innenministerium Stuttgart tätig war. In seiner Vernehmung gründete Mauthe das Vertrauen, das er Kley schenkte, in die politische und religiöse Gesinnung, die beide teilten: Wir beide waren Nazigegner und Hasser der Nazi. Kley war nicht Pg. [Parteigenosse, Anmerkung der Verfasserin] und gläubiger ausübender Katholik, während ich selbst nicht so strenge religiöse Anschauung hatte, aber doch in meiner Grundhaltung katholisch war. Ich erklärte ihm, dass ich als kleiner Mann gegen die Euthanasieaktion nichts unternehmen und mich nicht sträuben könne. Ich bat ihn, unverzüglich den Stadtpfarrer Sturm zu informieren, seinen Geistlichen in Fellbach.913

Er habe Angst gehabt, mit dem Geistlichen seiner Gemeinde zu sprechen, weil er vermutete, überwacht zu werden. Kley, der 1931 noch unter Eugen Bolz als Oberregierungsrat ans Innenministerium berufen worden war, „galt […] bei den deutschnationalen Traditionalisten innerhalb der Verwaltung als ‚zwar rechtlich denkender und im ganzen rechts gerichtete(r), aber doch ausgesprochene(r) Zentrumsmann‘914, der für einen rechtsautoritären Kurs à la Papen nicht zu haben sei“915. Oberregierungsrat Kley war 1933 „aus politischen Gründen kalt gestellt und in das als neutral anzusehende Referat X Gesundheitswesen […] versetzt [worden], und zwar als Verwaltungsberichterstatter […]“916. Er bestätigte die ablehnende Haltung des Arztes zum Massenmord: Dr. Mauthe hat mir gegenüber die Euthanasieaktion auf das lebhafteste verurteilt. Er hat sich bemüht, aus humanitären Gründen die Zahl der zu tötenden möglichst zu verringern, wollte mindestens die brauchbaren Arbeiter retten und hat zum Ausdruck gebracht, daß er hierbei ein großes Risiko auf sich nehme.917

Kley bestätigte auch, dass der Mediziner ihn gebeten habe, mit seinem Stadtpfarrer zur sprechen, was Kley getan haben will. Dazu der Verwaltungsberichterstatter: „Der Vorschlag Mauthes war sicherlich nicht nur eine Geste, um sich eine Art Alibibeweis zu verschaffen, sondern entsprang seinem Drang, die Sache zu verhindern.“918 Das Schreiben von Rechtsanwalt Dr. Zimmerle, 14.6.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/02/02. Aussage Dr. Mauthe, 3.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Polizeipräsident Dr. Rudolf Klaiber an Ministerialrat Himmel, 20.08.1933 (HStAS E 140 Bü 123), zitiert nach Ruck (1996), S. 53. 915 S. Ruck (1996), S. 53. 916 Aussage Wilhelm Kley, 12.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/04. 917 Ebd. 918 Ebd. 912 913 914

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Gericht hatte offensichtlich den Eindruck gewonnen, dass sich der Mediziner schon früh Persilscheine für das Leben nach dem „Zusammenbruch“ sammeln wollte. Diesen Verdacht erweckte Mauthe vor allem durch seine eigenen Aussagen. Der Arzt erklärte vor Gericht, er habe gewusst, dass seine Beteiligung an der Mordaktion jeder rechtlichen Grundlage entbehre, obwohl Stähle ihm erklärt habe, es sei ein Gesetz in Planung.919 In der Hauptverhandlung sagte Mauthe aus, dass ihm klar gewesen sei, dass er sich eines Tages verantworten müsse. Er will dabei allerdings an eine Instanz des „Dritten Reiches“ gedacht haben.920 Dies scheint natürlich fragwürdig, immerhin wusste er, dass der Massenmord an Patienten ein vom Regime durchgeführtes Projekt war, bei dem mitzuwirken ihm wohl kaum von der nationalsozialistischen Justiz zur Last gelegt worden wäre. Explizit um ein Zeugnis für die Nachkriegszeit bat der Arzt einen Kollegen, Medizinalrat Dr.  Scherb. Die beiden Ärzte aßen täglich im Restaurant „Alter Bahnhof “ in Stuttgart zu Mittag. „Dr. Scherb war ein absoluter Antinazi, nicht Pg., ich war mit ihm sehr befreundet“921, so Mauthe. „Ich sagte ihm, wenn der Krieg schief ausgehe, wie wir beide annehmen würden, dann müsse er mir bezeugen, dass ich diesen Dingen fernstehe, und dass ich gezwungen worden sei, daran beteiligt zu sein.“922 Scherb bestätigte die Aussage seines Freundes insofern, als dass dieser ihn damals gebeten habe, ihm nach Ende des „Dritten Reiches“ zu bescheinigen, wie sehr ihn „die Sache seelisch belastet ha[be].“923 Offen konnte Mauthe, seiner eigenen Aussage nach, nur gegenüber Vertrauten sein. Zwischen Stähle und ihm habe kein Vertrauensverhältnis existiert. So erklärte der Medizinalrat dem Untersuchungsrichter: „Ich habe ihm meine Abneigungen gegen die Euthanasie niemals deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich musste ihm gegenüber stets heucheln, es war dies im Falle der Euthanasie nicht das erste Mal.“924 Er sei geistig von Stähle abhängig gewesen, der ein Verfechter des „Führungsprinzips“ gewesen sei. Er habe seine Entscheidung ans württembergische Innenministerium gewechselt zu haben, oft bereut, erzählte der Mediziner später dem Verwaltungsberichterstatter Kley.925 Welchen Werdegang hatte der Frauenarzt Mauthe hinter sich, als er 1936 ans Innenministerium wechselte und warum nahm er die Stelle an, die ihm später so verhasst wurde? Otto Mauthe wurde am 9. November 1892 als Sohn des Forstmeisters Fidelis Mauthe und seiner Frau Bertha in Derdingen, Kreis Vaihingen, geboren. Sein Abitur machte er 1911 in Ulm, danach begann er ein Medizinstudium in Tübingen, wo er im Februar 1914 ein sehr gutes Physikum machte. Das sechste Semester verbrachte er in Kiel. Zweimal meldete sich Mauthe als Freiwilliger zum Kriegsdienst, zweimal wurde er als untaug919 920 921 922 923 924 925

Aussage Dr. Mauthe, 2.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Schwäbische Zeitung, 11.6.1949. Aussage Dr. Mauthe, 3.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Ebd. Aussage Hermann Scherb, 18.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/08. Aussage Dr. Mauthe, 3.1.1948, StAS Wü 29/3 T1 Nr. 1754/01/13. Aussage Wilhelm Kley, 12.4.1948, StAS Wü 29/3 T1 Nr. 1756/02a/04.

Dr. Otto Mauthe

lich eingestuft. Dennoch wurde er, noch als Medizinstudent im Juli 1914, aus Mangel an Personal Feldunterarzt bei der Ersatzreserve und im November im Reservelazarett in Stuttgart-Feuerbach stationiert.926 Das medizinische Staatsexamen machte Mauthe 1920 in Tübingen. In seiner Tübinger Zeit hörte er, ebenso wie Martha Fauser, Vorlesungen bei Robert Gaupp.927 In Tübingen war Otto Mauthe Mitglied der Verbindung Alamannia.928 Eine Mitgliedschaft in einer Korporation war dabei für einen späteren Beamten im Innenministerium Stuttgart typisch. Rund vierzehn der vom Historiker Michael Ruck untersuchten Beamten der württembergischen Innenverwaltung waren in der rechtskatholischen Alamannia.929 Verbindungen und Burschenschaften dienten nicht nur als „Seilschaften“, sondern gewannen vor allem durch den „völkisch-nationalistischen Zeitgeist“, der die „Kriegsfreiwilligen“ und „Kriegsjugendlichen“ befiel, an Attraktivität.930 Im Juli 1920 promovierte Mauthe an der Tübinger Frauenklinik.931.

Abb. 5 Otto Mauthe932

Nach seinem Studium arbeitete Mauthe ein Jahr an der Universitätsfrauenklinik in Tübingen, danach bis 1927 an der Landeshebammenschule in Stuttgart als Assistenzarzt. 1924 legte er die ärztliche Staatsprüfung ab.933

926 927 928 929 930 931 932 933

S. Personalakte Dr. Mauthe, HStAS M 430/3 Bü 7383. Studentenakte Otto Mauthe, UAT 258/12099, Studentenakte Martha Fauser, UAT 258/4223. Aussage Dr. Mauthe, 29.8.1945, StAS Wü 29/3 T1 Nr. 1754/01/06. S. Ruck (1996), S. 46. Ebd., S. 40 f. Promotionsakte der Medizinischen Fakultät für Otto Mauthe, UAT 125/83, 7 Nr. 44, Mauthe (1920). Passakte Dr. Mauthe. StAL F 215 Bü 184. Akten zur ärztlichen Staatsprüfung, HStAS E 151/55 Bü 25 u.26.

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1927 trat er eine Stelle als Oberamtsarzt in Herrenberg an und wurde Medizinalrat.934 Im April 1928 heiratete er Hedwig Bopp, das erste von drei Kindern wurde 1930 geboren. Politisch, so Mauthe, stand er dem Zentrum nah. Er war von 1924 bis 1927 eingetragenes Mitglied. Auf den Rat des Herrenberger Kreisleiters, Dr. Karl Ludwig Lechler, Jahrgang 1899, der selbst in Tübingen Medizin studiert hatte, sei er 1934 in die NSDAP eingetreten. Wegen des Aufnahmestopps sei sein Eintrittsdatum allerdings auf den 1. Mai 1933 vordatiert worden.935 Die deutschen Ärzte waren schon ab 1933 stark in der NSDAP vertreten, obwohl die Partei vor der nationalsozialistischen Machtübernahme für nur wenige Ärzte eine Option dargestellt hatte.936 Dass der Mediziner 1934 eingetreten sein will, scheint etwas fraglich, denn von 1934 bis 1936 „wurden nur die jüngsten Bewerber und ein paar bevorzugte Gruppen in die Partei aufgenommen“937. Doch kann es durchaus sein, dass Otto Mauthe in Kreisleiter Dr. Lechler, einem Wegbegleiter des Reichsstatthalters Wilhelm Murr, einen einflussreichen Fürsprecher hatte.938 Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ habe den „Nazigegner“ dann etwas in seiner Entscheidung bestärkt: „Nach dem Erscheinen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses war es mir möglich, mich weltanschaulich eher auf den Boden der NSDAP zu stellen, weil ich schon lange vor der Machtergreifung ein Anhänger der Sterilisierung gewesen war.“939 Bereits im März 1933 war Mauthe in der SA-Reserve. Laut Kater waren vor 1933 fast nur überzeugte Nationalsozialisten in der SA, die zum „harten Kern“940 gehörten, nach der Machtübernahme wurde der Beitritt zur SA dann auch für andere attraktiver.941 Mitglied der SA wurde Mauthe, weil er nicht „um Amt und Brot“942 kommen wollte. Er trat der NSV bei und war Anwärter für den NS-Ärztebund.943 Dazu erklärte der Mediziner: „Der Eintritt in die Partei und deren Organisationen war für mich als Beamter wegen der erwähnten Schwierigkeiten ein Zwang; auch bei einem Austritt aus dem Staatsdienst wären mir vom Ärzteführer Dr.  Stähle bei einer Niederlassung in freier Praxis alle Schwierigkeiten gemacht

Vgl. Kater (2000), S. 45 f. Laut Michael Kater war der Posten des Amtsarztes schlecht bezahlt und vor wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg unbeliebt. 935 Stellungnahme Dr. Mauthe, 22.6.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/03. 936 S. Kater (2000), S. 103. Laut Kater sind vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten weniger als 7 % der Ärzte Parteimitglieder. In den Jahren 1933 und 1937 traten dann prozentual die meisten Mediziner der NSDAP bei. 937 Ebd., S. 104. 938 S. Schnermann (1999), S. 385. 939 Aussage Dr. Mauthe, 29.8.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/06. 940 S. Kater (2000), S. 126. 941 S. ebd. 942 Auszug aus Mauthes Stellungnahme für die Spruchkammer, 24.1.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/04. 943 Laut Kater war das wichtigste politische Ziel des NS-Ärztebundes, „den deutschen Arzt, soweit er beeinflussbar war, zu einem ideologisch motivierten Soldaten und Führer zu formen.“ S. Kater (2000), S. 122. Von den zwischen 1919 und 1924 zugelassenen Ärzten waren 48,7 % Parteimitglieder der NSDAP, 45,6 % im NS-Ärztebund. S. Kater (2000), Tabelle 2.4., S. 394. 934

Dr. Otto Mauthe

worden.“944 Auch glaubte der Arzt, dass „ein Austritt aus der Partei gleichbedeutend mit der Entlassung aus dem Staatsdienst, mit dem wirtschaftlichen Ruin gewesen wäre […]“945. Weder für die Partei noch für die SA-Reserve sei er sehr aktiv gewesen. Dennoch beförderte ihn der höhere SA-Führer im Stuttgarter Innenministerium bis zum Sanitätssturmführer.946 „Diese Beförderungen waren mir an sich nicht recht, aber ich konnte sie unmöglich ablehnen ohne mir wiederum schwere Anfeindungen zuzuziehen“947, erklärte Mauthe. Während seiner Zeit in Herrenberg referierte er im Auftrag von Dr. Lechler, der neben seinem Amt als Kreisleiter in Herrenberg auch Gauamtsleiter des Rassenpolitischen Amts war, über Erb- und Rassenpflege. Einige Vorträge hielt er auch noch nach seinem Wechsel ins Innenministerium nach Stuttgart. So sprach er Ende Januar 1942 im Kreisschulungsamt zum Thema „Vererbung und Erbpflege“. In einer seiner Reden hieß es: Seit 1900 hatte Deutschland einen Geburtenschwund aufzuweisen, der seine Ursache im Mangel an Verantwortlichkeit gegen Staat und Familie hatte. So sank die Kinderzahl gerade in den erbgesunden Kreisen zugunsten einer Ueberwucherung der Erbkranken. Die gesunde Ehe ist die Grundlage einer gesunden Bevölerungspolitik [sic!], deshalb unterstützt sie der nationalsozialistische Staat durch Ehestandsdarlehen, Beihilfen, Steuerermässigung, Fürsorge und Eheberatung; die Erbpflege macht aber auch hemmende Massnahmen notwendig, wie Eheverbot und die Sterilisierung Erbkranker, z. B. Schwachsinniger und Geisteskranker. Ein unerbittliches Naturgesetz lässt alles Lebensuntaugliche zugrunde gehen, aber menschliches Mitleid tätigt sich in der Fürsorge für die so bedauernswerten Menschen. Ihre Fortpflanzung muss aber unbedingt verhindert werden. Der Führer sagt zu den Aufgaben der Erbpflege: „Wer körperlich und geistig nicht gesund und würdig ist, darf sein Leiden nicht im Körper seines Kindes fortsetzen“.948

Als Amtsarzt gehörte Mauthe wohl schon 1935 dem Erbgesundheitsgericht949 in Freudenstadt950, dem Erbgesundheitsgericht Herrenberg im Geschäftsjahr 1936/1937951 und Stellungnahme Dr. Mauthe, 22.6.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/03. Stellungnahme Dr. Mauthe, 24.1.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/04. Es war für Ärzte nicht besonders schwierig, in der SA aufzusteigen. Es reichten teilweise schon Geldspenden für wohltätige Zwecke, gelegentlicher kostenloser Dienst in SA-Lagern und die Teilnahme an Aufmärschen und Versammlungen. S. Kater (2000), S. 126 f. 947 Stellungnahme Dr. Mauthe, 22.6.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/03. 948 Abschrift aus dem „Heilbronner Tagblatt“ vom 31.1.1942, S. 5, StAS Wü 29/3 T1 Nr. 1754/01/02. 949 Erbgesundheitsgerichte waren mit einem Amtsrichter, einem beamteten Arzt und einem approbierten Arzt besetzt. Außerdem wurden für alle Mitglieder Vertreter bestimmt. S. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933. 950 Schreiben des Landgerichts Rottweil an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Stuttgart, 5.12.1935, HStAS E 151/53 Bü 151. 951 S. Schreiben des Präsidenten des württembergischen Landgerichts Tübingen an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Stuttgart, 3.4.1936, ebd. Das Erbgesundheitsgericht Herrenberg kritisierte die Bestellung Mauthes. Da dieser in seiner Funktion als Amtsarzt selbst Anträge auf Sterilisierung stellte, war es ihm eigentlich nicht erlaubt an den Entscheidungen mitzuwirken. Allerdings schienen diese Einwände nichts 944 945 946

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dem Erbgesundheitsgericht in Calw als Stellvertreter des verbeamteten Arztes 1936952 an. Er stellte Anträge auf Sterilisierung und wurde später als stellvertretender beamteter Arzt an das Erbgesundheitsobergericht Stuttgart berufen.953 Vielleicht war es gerade in Herrenberg schwierig für den Mediziner, sich dem Einfluss der Partei und dem des Kreisleiters Karl Ludwig Lechler zu entziehen. Lechler selbst war 1934 der Überzeugung, dass die Wirkung des Nationalsozialismus im Kreis Herrenberg besonders stark zu spüren sei: „Heute gibt es, davon bin ich fest überzeugt, wenige Kreise in Württemberg, die so von innen heraus nationalsozialistisch denken und fühlen wie der Kreis Herrenberg […].“954 Das Verhältnis zwischen Mauthe und Lechler, der 1943 in Russland Selbstmord beging, war gut. Jedenfalls lassen die Aussagen Mauthes diese Meinung zu: Dem Dr. Lechler gegenüber, der einer der wenigen Idealisten bei den Nationalsoz. war und der 1943 bei der Wehrmacht in Rußland Selbstmord beging, zweifellos weil er seinen Irrweg als solchen erkannt hatte, konnte ich offen kritisieren und tat es auch, und er hat mir in vielen Dingen Recht geben müssen; andererseits sagte er auch, daß manches besser wäre, wenn eben auch mehr Männer der Intelligenz zeitig der Partei beigetreten wären und diese dann beeinflusst hätten.955

Der Mediziner schien jedenfalls dem Einfluss Lechlers ausgesetzt, noch dazu „verlief die Machtergreifung in Herrenberg außerordentlich zügig und problemlos“956, das Bürgertum und auch die Kirchen waren auf Seiten der NSDAP.957 Und doch bleibt es schwierig, Mauthes später so klar formulierte Ablehnung des Nationalsozialismus mit seiner Tätigkeit in Herrenberg in Einklang zu bringen, war er dort in seiner Funktion als Amtsarzt doch Teil des Systems. Ruck, der Beamte in Südwestdeutschland während der Weimarer Republik, im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit untersuchte, stellte fest, dass viele bereits 1933 in die Partei eintraten. Doch sollte man, so Ruck, „aus dem allein noch keine allzu weitgehenden Rückschlüsse auf ihre tatsächlichen politischen Einstellungen“958 ziehen. Der frühe Eintritt beweise nur die „Homogenität und governementale Fixierung“ der württembergischen Beamten.959 Der Medibewirkt zu haben und Mauthe blieb am Erbgesundheitsgericht Herrenberg. In den von Stähle erstellten Übersichten über die Erbgesundheitsgerichte wurde Mauthe bereits im Jahr 1934 als Mitglied des Erbgesundheitsgerichtes Herrenberg geführt. 952 Schreiben des Präsidenten des württembergischen Landgerichts Tübingen an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Stuttgart, 29.6.1936, ebd. 953 Bestellung des Erbgesundheitsobergerichts durch den Oberlandesgerichtspräsidenten am 9.6.1938, ebd. Als beamteter Arzt fungierte Eugen Stähle, nicht beamteter erster Beisitzer war Dr. Lechler. 954 Zitiert nach Schnermann (1999), S. 378 f. 955 S. Stellungnahme Dr. Mauthe, 24.1.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/04. 956 S. Schnermann (1999), S. 381. 957 Ebd. 958 S. Ruck (1996), S. 89. 959 Ebd., S. 90.

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ziner Mauthe gehörte zur Gruppe der „jungen Frontgeneration“, die „der NSDAP das größte Potential aktiver Kollaborateure unter den Verwaltungseliten Badens und Württembergs […]“960 anbot. „Mit jugendlicher Begeisterung und Gefühlsüberschwang“961 wollte er in den Krieg ziehen. Zwar erlebte er dann durch seine Untauglichkeit den Kampf nicht an der Front, sondern nur in der Heimat als Feldunterarzt, doch prägte ihn das dort gesehene Elend der verwundeten Soldaten. Viele Mitglieder der jungen Frontgeneration waren nicht nur antirepublikanisch eingestellt, sondern hatten „den unbedingten Etatismus tief in sich aufgesogen, und die meisten hielt allein schon das habitualisierte Pflichtgefühl davon ab, ‚Treuebruch‘ gegenüber dem Staat auch nur in Erwägung zu ziehen“962. Seine Position im Innenministerium Stuttgart habe er, nach Auflösung des Gesundheitsamts Herrenberg 1936, nicht ganz freiwillig angetreten, sondern war „gezwungen, diese Stellung anzunehmen; da die Anfeindungen in Herrenberg von Parteiseite auch nicht aufhörten und [er] andererseits erfuhr, daß man in Stuttgart parteipolitisch untertauchen könne und weniger belästigt würde […]“963. In der Beschreibung seines beruflichen Werdegangs machte sich Mauthe quasi zum „Opfer“ der politischen Umstände. Diese Opferrolle würde der Mediziner auch bei den Erklärungsversuchen zu seiner Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus beibehalten. Im Innenministerium war der Arzt Sachbearbeiter für das Irrenwesen. Zahlreiche Zeugen bescheinigen Mauthe zumindest im privaten Umfeld seine Ablehnung des Nationalsozialismus deutlich gemacht zu haben. So äußerte sich sein langjähriger Nachbar aus Stuttgart-Degerloch, der ehemalige Senatspräsident Dr. Bruno Coste, im Zuge einer Stellungnahme für Mauthes Spruchkammerverfahren 1946: Bei den Besuchen der Familien wurde fast stets auch über die politische Lage gesprochen. Dabei machte Dr. M. [Mauthe, Anmerkung der Verfasserin] aus seiner dem Nationalsozialismus durchaus feindlichen Einstellung keinen Hehl. Er pflegte sich in so heftiger und entschiedener Weise auszusprechen, daß ich ihn oft warnte, er solle, auch wenn er seinen Gesprächspartner genau zu kennen glaube, in seinen Äußerungen vorsichtig sein, da er sich sonst nutzlos der Gefahr des KZ aussetze. An der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit des Dr. M. bei diesen Gesprächen kann kein Zweifel sein.964

Der Regierungsoberinspektor Hermann Cantignon, der seit 1934 in der Abteilung X im Innenministerium arbeitete, bescheinigte seinem ehemaligen Kollegen ebenfalls, die Hitler-Regierung abgelehnt zu haben: „Politisch konnte man mit Dr.  Mauthe immer offen reden. Nach seinen Äußerungen war er ein Zentrumsmann und innerlich

960 961 962 963 964

Ebd., S. 216 f. S. Harten, Neirich, Schwerendt (2006), S. 99. S. Ruck (1996), S. 222. Stellungnahme Dr. Mauthe, 24.1.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/04. Dr. Bruno Coste, 12.5.1946, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/09.

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Gegner des Nationalsozialismus.“965 Und auch Ferdinand Notz, der Mauthe schon aus Studententagen kannte und ihn auch während seiner Zeit als Amtsarzt in Waiblingen nicht aus den Augen verloren hatte, war sich sicher, dass dieser den Rechtsextremismus ablehnte: „Nach 1943 habe ich mit Dr. Mauthe viel über Nationalsozialismus gesprochen. Aus der Unterhaltung habe ich unbedingt seine Einstellung gegen den Nationalsozialismus entnommen.“966 Der Mediziner sprach aber nicht nur mit Bekannten offen über seine politische Haltung, sondern traf sich ab 1941 zum Stammtisch mit bekennenden Gegnern des Nationalsozialismus. Eugen Orgeldinger, der als Gewerbeschulrat 1940 von den Nationalsozialisten abgesetzt wurde und schließlich als Berufsschullehrer arbeitete, erinnerte sich: In Anbetracht meiner eigenen politischen Maßregelung verhielt ich mich anfänglich ihm gegenüber vorsichtig. Dr. Mauthe hat jedoch alsbald sehr stark über den Nat. Soz. geschimpft. Ich muß unbedingt annehmen, daß diese abfälligen Äußerungen des Dr. Mauthe aufrichtig waren, denn beispielsweise hat er mich einmal, als ich am Stammtisch mich gegen den Nat. Soz. aussprach, vor einem Anwesenden, einem SA-Führer, gewarnt.967

Die Liste der Zeugen, die Otto Mauthe davon freisprachen, überzeugter Nationalsozialist zu sein, ist lang. Und selbst sein Vorgesetzter Eugen Stähle gab sich keinerlei Illusionen hin: „Mauthe war äußerlich Nationalsozialist, innerlich nicht.“968 Otto Mauthe gab vor Gericht an, dass ihm seine Arbeit im Referat X des Innenministeriums in Stuttgart verhasst gewesen sei: Meine persönliche Auffassung dürfte wohl meinem unmittelbaren Vorgesetzten Min. Rat Dr. Stähle nicht ganz entgangen sein, ich besass nie sein Vertrauen, er war im Gegenteil immer bewußt unfreundlich zu mir, auch hat er mich nie in wichtigeren Dingen selbständig entscheiden lassen, meine dienstliche Stellung als ärztlicher BE. [Berichterstatter, Anmerkung der Verfasserin] war unselbständig und ich war eigentlich nur der Sekretär […]. Im Kriege wuchsen die Schwierigkeiten und Konflikte mit Dr. Stähle immer mehr an.969

Sein Vorgesetzter Eugen Stähle sah keine Probleme in der Zusammenarbeit mit Otto Mauthe: „Meine Zusammenarbeit mit Dr. Mauthe im Ministerium verlief im Großen und Ganzen reibungslos. Es gab, abgesehen von Kleinigkeiten, nie ernsthafte Verstimmungen oder gar Auseinandersetzungen.“970 Zwar glaubte Stähle, dass Mauthe „den Anforderungen nur in mäßigem Umfange gewachsen sein würde“, doch „da er sich in Herrenberg durch Vorträge über Erb- und Rassenkunde hervortat und infolge-

965 966 967 968 969 970

Aussage Hermann Cantignon, 24.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/06. Dr. Ferdinand Notz, 23.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/09. Aussage Eugen Orgeldinger, 17.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/08. Aussage Dr. Stähle, 5.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/17. Stellungnahme Dr. Mauthe, 22.6.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/03. Aussage Dr. Stähle, 5.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/17.

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dessen auch eine politische Empfehlung des dortigen Kreisleiters, Dr. Lechler, hatte, bestanden auch keine politischen Bedenken.“971 Doch auch Stähle entging nicht, dass sein Berichterstatter auf seinem neuen Posten unzufrieden war. So habe sich Mauthe immer wieder bei seinem Vorgesetzten über den geringen Verdienst beklagt, obwohl er eigentlich durch die Abnahme von Krankenpflegeprüfungen und Apothekerassistentenprüfungen ganz ordentlich dazu verdient habe. Er habe Stähle auch erklärt, dass er gerne einen freien Posten als Amtsarzt übernehmen würde, sobald einer frei würde. „Im Jahre 1944 wurde die Amtsarztstelle in Ravensburg, Dr. Heribert Müller, altershalber frei“972, so Stähle. Diese habe er Mauthe angeboten, der jedoch in Abrede gestellt habe, das Ministerium verlassen zu wollen.973 Der Ministerialdirektor bestritt, dass er „jemanden aus politischen Gründen gedrückt habe“974. Er fügte dann hinzu: „Ein offenes Wort war mir lieber als Heuchelei.“975 Freunde schienen die beiden nicht gewesen zu sein. Andere Mitarbeiter beurteilten das Verhältnis der beiden Ärzte zueinander vielleicht etwas objektiver. So sagte Wilhelm Kley: „Soweit ich das Verhältnis Stähle/ Mauthe beobachten konnte, war es korrekt, jedoch hat Mauthe den Dr. Stähle nicht geschätzt. Er hat oft derbe Ausdrücke über ihn gebraucht, den Beweggrund kenne ich nicht.“976 Andere Mitarbeiter des Ministeriums bescheinigten Stähle ein eigentlich gegenüber seinen Mitarbeitern korrektes Verhalten: „Dr. Stähle war außerordentlich fleißig. Gegenüber mir und meines Wissens auch gegenüber den anderen Beamten war er korrekt. […] Aus seiner nationalsozialistischen Einstellung machte er keinen Hehl, ohne aber Druck auszuüben.“977 Ähnlich äußerte sich Regierungsoberinspektor Hermann Cantignon, der aussagte, dass Stähle zwei Seiten gehabt habe: „Er war im allgemeinen liebenswürdig, klug, kenntnisreich, gewissenhaft und sehr fleißig, eine charaktervolle Persönlichkeit, vor der man Achtung haben musste. Seine andere Seite war die Gefangenschaft in seine politischen Ideen, die sich im Verlauf des Krieges immer mehr zeigte.“978 Dabei habe er allerdings nie religiösen oder politischen Druck ausgeübt.979 Viele seiner Kollegen beschrieben Otto Mauthe als ängstlich. Er sei ein Mensch gewesen, der neben dem starken Charakter von Eugen Stähle nur mit Schwierigkeiten bestehen konnte. Doch trotz der von Mauthe in seinen Aussagen beschriebenen

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Aussage Wilhelm Kley, 12.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/04. Aussage von Gustav Mayer, der von 1938 bis Mai 1940 als Verwaltungshauptberichterstatter im Innenministerium gearbeitet hat, 23.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/06. 978 Aussage Hermann Cantignon, 24.6.1948, ebd. 979 Ebd. 971 972 973 974 975 976 977

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Probleme, die er im Innenministerium in Stuttgart v. a. mit seinem Vorgesetzten hatte, blieb der Mediziner neun Jahre im Amt. Dieses Amt bedingte dann auch die Verantwortung Otto Mauthes für den Massenmord der Anstaltspatienten. Die Staatsanwaltschaft betrachtete die Erlasse, die er für Stähle vorbereitet und in dessen Abwesenheit unterschrieben hatte, als Beweis seiner Mitwirkung an der „Euthanasie“. Diese Dokumente standen in kausalem Zusammenhang mit der Mordmaschinerie. Außerdem schickte er in Einzelfällen Transportlisten an die Anstalten. Das Gericht legte Mauthe also vor allem diese eigentlich anonyme Verwaltungstätigkeit zur Last. Zu Mauthes Täterschaft äußerte sein Vorgesetzter Stähle: „Die von mir unterschriebenen Erlasse hat regelmäßig Dr. Mauthe ausgearbeitet […]. In der Folgezeit wurde zur Anordnung des Abtransportes ein Formular mit Nr. X 5220980 verwendet.“981 Dies bestätigten auch Zeugen aus dem Innenministerium. Exemplarisch steht die Aussage der Stenotypistin Helene Kopp für die Angaben der anderen Zeugen: Von Berlin sind auch Listen eingetroffen, an denen vom Ministerium nichts zu ändern war und die dann im Original weitergegeben wurden unter Beifügung des hektografierten Erlasses des Württ. Innenministerium Nr. X 5220, in welchem für den Einzelfall Datum und Adresse der Heilanstalt eingesetzt wurden. Auch bezüglich dieser Listen hat in der Regel der Dr. Mauthe die Weisung der Weiterleitung an die betr. Heilanstalt gegeben.982

Durch diese Erlasse, so die Staatsanwaltschaft, wurden unter Verantwortung des Mediziners Tausende in Transporten in die Tötungsanstalten eingeliefert. Weiter warf die Staatsanwaltschaft dem Arzt vor, dass er selbst einen Erlass für das Landeskrankenhaus Sigmaringen entworfen hatte. Am 20.  Februar 1941 schrieb Mauthe mit dem Erlass X 943 in „Geheimer Reichssache“ nach Sigmaringen: „Auf Anordnung des Reichsverteidigungskommissars sind die in den beifolgenden Listen aufgeführten 34 Kranken (19 Männer und 15 Frauen) von dem Fürst-Carl-Landeskrankenhaus in Sigmaringen in die württ. Heilanstalt Weinsberg zu verlegen.“983 Mauthe hatte am sogenannten „Sperrerlass“ vom 9. September 1940 (X 3935) mitgearbeitet, welcher den Zweck hatte, die Entlassung von Patienten zu verhindern. In diesem Erlass hieß es: Um Störungen der öffentlichen Ruhe und Sicherheit durch vorzeitig entlassene noch anstaltsbedürftige Schwachsinnige, Epileptische oder Geisteskranke, sowie Störungen der öffentlichen Verkehrsmittel durch Verlegung solcher Kranken sicher zu vermeiden,

980 Der Erlass X 5220 mit dem Betreff „Verlegung von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten“ war den Transportlisten beigefügt, geändert wurde nur die Anschrift der jeweiligen Anstalt. Mustererlass an die Heilanstalt Rottenmünster, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/02/04. 981 Aussage Dr. Stähle, 7.11.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/21. 982 Aussage Helene Kopp, 9.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/04. 983 Erlass vom 20.11.1941, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/02/08.

Dr. Otto Mauthe

ordne ich auf Weisung des Reichsverteidigungskommissars für den Wehrkreis V an, daß Schwachsinnige, Epileptische und Geisteskranke nur mit meiner Genehmigung aus den verschiedenen Anstalten Württembergs, in denen solche Kranke untergebracht sind, entlassen oder in eine andere Anstalt verlegt werden dürfen.984

Der Sperrerlass wurde zwar von Stähle unterzeichnet, Mauthe behauptete allerdings vor Gericht, er habe maßgeblich auf die Formulierungen Einfluss genommen. Zum Sperrerlass verfasste er ein Schreiben an die Anstalt Christophsbad, Göppingen: Durch meinen Erlaß vom 9. September 1940 Nr. X 3935 habe ich eindeutig bestimmt, dass die Anstalten Antrag auf Genehmigung der Entlassung zu stellen haben. Ich ersuche deshalb dringend, davon abzusehen, Angehörige zu veranlassen, dieserhalb hier vorstellig zu werden. Den Gesuchsteller habe ich verständigt.985

Vor Gericht versuchte der Mediziner später, den Sperrerlass als einen Akt des Widerstands darzustellen: „Diesem Erlaß sind Klagen vorausgegangen von Berlin oder Grafeneck über Entlassungen von Geisteskranken, die aufgrund der Fotokopien in die Transportlisten aufgenommen worden waren.“986 Er habe dann von seinem Vorgesetzten Dr. Stähle den Auftrag bekommen, ein Schreiben zu entwerfen, das Entlassungen von Patienten verbieten sollte. Dazu fügte Mauthe hinzu: „Ich hatte Bedenken gegen ein absolutes Entlassungsverbot, weil dieses der Euthanasie dienlich gewesen wäre, und schlug eine Entlassungsgenehmigung vor, um auf diese Weise wenigstens eine gewisse Zahl Kranker von der Euthanasie retten zu können.“987 Er habe dann alle Entlassungsgesuche genehmigt. In einer statistischen Gegenüberstellung der Entlassungsanträge und der Genehmigungen, die das Gericht für den Zeitraum von September 1940 bis Juli 1941 aufstellte, konnte diese Aussage nicht bestätigt werden. Laut der Aufstellung wurden 446 Ansuchen auf Entlassung gestellt, von denen 412 stattgegeben wurden, was eine Ablehnung von 34 Anträgen ergibt.988 Die Tötungen begannen in Grafeneck im Januar 1940. Kurze Zeit später erhielten Angehörige die ersten Todesnachrichten oder wurden von den Verlegungen ihrer Patienten benachrichtigt, Gerüchte verbreiteten sich. Die Patientenschicksale, die Stähle und Mauthe im Innenministerium besiegelten, blieben für die beiden eine Zeit lang nur „Verwaltungsakte“. Im Laufe des Jahres 1940 erschienen allerdings Bürger im Ministerium, um über die Verlegungen und den Verbleib ihrer Angehörigen aufgeklärt zu werden. Diesen war nämlich bekannt, dass die Heil- und Pflegeanstalten dem Innen-

984 Erlass X 3935 des württembergischen Innenministers, 9.9.1940, sog. Sperrerlass, abgedruckt bei Poitrot (1945), S. 34 ff. 985 StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/02/05. 986 Aussage Dr. Mauthe, 22.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. 987 Ebd. 988 Statistik des Gerichts über genehmigte Entlassungen, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/19.

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ministerium unterstanden. Stähle verwies die Besucher meist an seinen Sachbearbeiter, der dadurch direkt mit dem Schicksal der Patienten verbunden wurde. Im Zusammenhang mit dem Erscheinen der Familienangehörigen in Stuttgart warf die Staatsanwaltschaft Mauthe vor, diese bewusst getäuscht zu haben. Der Mediziner äußerte sich vor Gericht über die Besuche der Angehörigen. Diese seien überzeugt gewesen, dass er wisse, was mit den Patienten geschehen sei. Er habe allerdings erwidert, dass er „keinen Einfluss habe“ und „der Sache fernstehe“.989 Weiter schilderte Mauthe: Die Leute haben mir natürlich vorgehalten, dass in Grafeneck Tötungen erfolgen würden. Ich erwiderte, dass ich diese Gerüchte kenne, und habe sie abgeleugnet, indem ich sagte, ich könne nicht daran glauben. Bei vertrauenswürdigen Personen erfolgte diese Ableugnung in einer Form, durch die sie die Wahrheit merken mussten.990

Bei Anwesenden, die, wie er, verbeamtet waren, stellte er seine Beamteneigenschaft in den Vordergrund, „so daß der Besucher merken musste, daß ich nicht aussagen könne“991. Da die Besucher „in berechtigter Sorge um ihre Angehörigen“992 gewesen seien, hätten die Gespräche oft einen erregten und lauten Ton angenommen. „Hätte ich den Besuchern gesagt, daß ihre Angehörigen in Grafeneck getötet worden seien, so wäre ich aufgrund meiner Schweigepflichtverletzung und wie ich infolge der Todesdrohung annehmen mußte, sowie nach der allgemeinen Einstellung von Dr. Stähle bestimmt dem Tode verfallen gewesen“993, erklärte Mauthe. Nicht immer leugnete der Arzt die Massentötungen. Als ihn im Herbst 1940 der Landgerichtsdirektor Huzel in privater Angelegenheit ein zweites Mal aufsuchte, zeigte sich der Mediziner ehrlicher. In seiner Vernehmung konnte sich Mauthe kaum noch an Huzels Besuch erinnern. Huzel gab an, dass er den ärztlichen Berichterstatter wegen seines Bruders aufgesucht habe, der seit Jahren Patient der Anstalt Stetten gewesen sei. Er habe in Stetten erfahren, dass sein Bruder auf einer Transportliste stehe und am folgenden Tag nach Grafeneck gebracht werden sollte. „Ich habe ihn sofort dort abgeholt und einige Tage bei mir behalten und dadurch seine Verbringung nach Grafeneck verhindert“994, so Huzel. Er habe dann allerdings erfahren, dass der Name seines Bruders erneut auf einer Transportliste stehe. Daraufhin sei er ins Innenministerium gefahren, um zu veranlassen, dass sein Bruder endgültig von der Liste gestrichen werde. Im Innenministerium sprach der Landgerichtsdirektor erneut mit Stähles Stellvertreter: „Bei diesem Besuch hat Dr. Mauthe nicht mehr bestritten, dass er von der Aktion Kenntnis habe, hat aber behauptet, er habe mit der Aufstellung der Listen nichts

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Aussage Dr. Mauthe, 9.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Aussage Theodor Huzel, 5.7.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/08.

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zu tun […]. Wie ich kurz nachher erfahren habe blieb mein Bruder auf der Liste.“995 Mauthe hatte dem Juristen also nicht geholfen, seinen Bruder von der Transportliste streichen zu lassen. Während sich Mauthe kaum an den Fall Huzel erinnerte, war ihm der Besuch des ehemaligen Ministerpräsidenten Bolz im Gedächtnis geblieben. Dieser habe ihn um Rat wegen seiner Schwägerin gefragt, die schon längere Zeit Patientin einer Anstalt gewesen sei. „Dr. Bolz frug, ob sie gefährdet sei, ich redete offen mit ihm über die Lage und erklärte, die Gefährdung seiner Schwägerin für außer Zweifel“996, gab Mauthe bei seiner Vernehmung an. Er habe ihm daraufhin die vorübergehende Unterbringung der Kranken in privater Pflege in einer abgeschiedenen Schwesternstation auf dem Land vorgeschlagen. Da Eugen Bolz Ende 1944 im Zusammenhang mit den Widerständlern des 20. Juli festgenommen und im Januar 1945 hingerichtet wurde, konnte er die Angaben Mauthes nicht bestätigen. Das Gericht verzichtete auf eine Anhörung der Witwe Bolz und unterstellte Mauthes Aussage als wahr. Nicht nur verzweifelte Bürger, die sich um das Schicksal ihrer Angehörigen sorgten, seien in seinem Büro erschienen, so der Mediziner vor Gericht. Einige der Besucher hätten sich beklagt, „daß ihre Angehörigen noch nicht geholt worden seien“997. Er habe diese abgewiesen und gesagt, dass dies nicht die Angelegenheit des Innenministeriums sei. Ergriffen sei der Arzt gewesen, als ihm Angehörige den letzten Brief eines Patienten zeigten, den dieser Tage vor seiner Ermordung geschickt hatte: „Der Kranke hatte u. a. geschrieben, daß sein Bruder im Felde sei und sein Leben für das Vaterland gegebenenfalls opfern müsse, auch er werde eben für das Vaterland sterben.“998 Der Untersuchungsrichter zeigte dem Mediziner daraufhin den Abschiedsbrief einer Patientin, den diese vor ihrer Abholung durch die grauen Omnibusse an ihren Vater gesandt hatte. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um Zeilen, die im Freiburger „Euthanasie“-Prozess vom vorsitzenden Richter vorgelesen wurden:999 Mein geliebter Vater! Leider geht es nicht anders. Ich weiß aber, daß ich als Märtyrin sterben darf. Jedoch möchte ich nicht von hinnen scheiden, ohne Dich zu bitten, Deinem Kinde nichts nachzutragen. Denke immer wieder, es geht in den Himmel! Gott wolle meine Krankheit und mein Sterben als Sühne annehmen. Ich gehe mit festem Mut und Gottvertrauen. Uns wird der Lohn zuteil am jüngsten Tag. So geht Dein Kind dem Heiland entgegen, Dein Kind Helene.1000

Ebd. Aussage Dr. Mauthe, 9.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Ebd. Ebd. Der in der Freiburger Verhandlung verlesene Brief ist wie das Schreiben, zu dem Mauthe Stellung nehmen sollte, auf den 1.10.1940 datiert. 1000 Brief der Helene M. an ihren Vater, 1.10.1940, wiedergegeben in: „Ein Brief klagt an“, Schwäbische Zeitung, 15.6.1949. 995 996 997 998 999

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Ähnlich sei der Brief des Patienten gewesen, gab Mauthe an und fügte hinzu: „Ich war damals außerordentlich erschüttert.“ Er brach dann vor dem Untersuchungsrichter „sichtlich erregt in Tränen aus.“1001 Die Verantwortlichen im Innenministerium sahen sich allerdings nicht nur mit Besuchern konfrontiert, sondern auch mit Verwaltungsfragen, die der gewaltsame Tod der Patienten mit sich bringen konnte. Im Juni 1940 erhielt die Witwe eines Landwirts, der 1929 durch einen Berufsunfall pflegebedürftig geworden war, die Benachrichtigung, ihr Mann sei an einem „Gehirnschlag“ in Grafeneck gestorben. Sie fragte nun bei der Berufsgenossenschaft an, ob die Todesursache in Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall ihres Mannes stünde, weil sich daraus für sie Anspruch auf eine Witwenrente ergebe. Auf Nachfrage in Grafeneck stellte ein Arzt namens Keller ein Zeugnis aus, das einen Zusammenhang zwischen Arbeitsunfall und Todesursache des Verstorbenen verneinte. „Daraufhin musste die landw. Berufsgenossenschaft den Antrag der Witwe G. auf Gewährung von Hinterbliebenen-Rente ablehnen […]“1002, erklärte Oberregierungsrat Fritz Adae bei seiner Vernehmung 1945. Dieser wurde mit dem Fall konfrontiert, da die Witwe Berufung einlegte. Adae wusste um die Tötungen in Grafeneck: „Da ich wohl wusste, was es mit dem Gehirnschlag, an dem G. in dem berüchtigten Grafeneck gestorben war, für eine Bewandtnis hatte, bat ich die Gesundheitsabteilung des Innen-Ministeriums telefonisch um nähere Aufklärung, besonders auch um Angabe der Adresse des Dr. med. Keller.“1003 Stähle erreichte er nicht, deswegen sprach er telefonisch mit Mauthe, von dem er keine näheren Informationen erhielt. Er habe auch versucht, das Innenministerium zur Rentenzahlung zu veranlassen, womit er gescheitert sei. Daraufhin verfasste Adae einen geheimen Bericht an das Innenministerium, in dem er darauf hinwies, dass es zu erheblichem Unmut in der landwirtschaftlichen Bevölkerung kommen würde, wenn die Witwe keine Rente erhalten sollte.1004 Nachdem das Innenministerium diesen Brief erhalten hatte, wurde dem Oberregierungsrat mitgeteilt, dass sich ein Obergutachter, ein gewisser Professor Heyde aus Würzburg, der Sache annehmen werde. Weiter erzählte Adae: „Eines Tages rief, während ich zufällig abwesend war, Dr. Heyde beim Oberversicherungsamt an […] und fragte […], um was es sich handle. Mein Sekretär […] sagte ihm echt schwäbisch, es handle sich um die Tötung eines Geisteskranken in Grafeneck.“1005 Nach einiger Zeit habe Heyde dann das Gutachten geschickt, in dem er eindeutig feststellte, dass zwischen Unfall und Tod ein Zusammenhang bestehe. Die ganze Sache sei ihm seltsam vorgekommen, so Adae in seiner Vernehmung, das Gutachten von Heyde schien bestellt worden zu sein. Da er hoffte, die beiden Ärzte Keller

1001 1002 1003 1004 1005

Protokoll Dr. Mauthe, 9.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Fritz Adae, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/02. Ebd. Aussage Fritz Adae, 12.7.1945, ebd. Ebd.

Dr. Otto Mauthe

und Heyde einander gegenüber stellen zu können, rief er erneut im Innenministerium bei Dr. Mauthe an und fragte ihn nach Dr. Keller. Dieser sagte ihm: „An Dr. Keller kommen Sie nicht heran; sie machen am besten eine Aktennotiz, dass Dr. Keller gestorben oder im Osten gefallen ist.“1006 Adae zweifelte an der Wahrheit der Aussage und suchte den Arzt im Ministerium auf, wo dieser ihm gesagt haben soll, dass ein Dr. Keller gar nicht existiere und er ja nichts davon weitererzählen solle. Der Oberregierungsrat entschied den Fall daraufhin nicht. Die Witwe des Ermordeten erhielt dennoch eine Rente, da sich das Reichsversicherungsamt einschaltete und die Berufsgenossenschaft verpflichtete, die Witwe zu bezahlen.1007 Die Geschichte, in der Mauthe als Vermittler nur eine geringe Rolle spielte, zeigt, welch groteske Züge die „Euthanasie-Aktion“ annehmen konnte und wie der Mediziner als kleines, aber doch entscheidendes Rädchen der Vernichtungsmaschinerie versuchte, die Täuschung der Beteiligten aufrechtzuerhalten. Von einer Schuldlosigkeit konnte keine Rede sein. Mauthe gab vor Gericht an, er habe mit Stähle über Adaes Besuch gesprochen und dieser habe ihm gesagt, er solle behaupten, dass Dr. Keller gestorben sei.1008 Nicht nur der Umgang mit Angehörigen oder die Verhandlung im Versicherungsfall zeigten die Verstrickung des ärztlichen Berichterstatters in die „T4-Aktion“. Die Staatsanwaltschaft sah in den Reisen, die Otto Mauthe im Herbst 1940 mit dem Landesjugendarzt Eyrich machte, ein weiteres Indiz seiner Beteiligung an den Massentötungen. Die Fahrten der beiden Ärzte führten in Anstalten, die keine Meldebogen ausgefüllt hatten. In diesen sichteten sie dann Patienten und meldeten sie nach Berlin. Zu den Motiven der Visitationen gab Mauthe an: „Ich selbst habe mich zu dieser Tätigkeit bewusst angeboten, um bei der Ausfüllung der Meldebogen möglichst viel zur Rettung von Kranken beitragen zu können.“1009 Für die Staatsanwaltschaft war es schwer, Mauthe als Befürworter der „Euthanasie“ zu entlarven. Ihr standen nur kleine Teile eines großen Puzzles zur Verfügung, einzelne Schriftstücke, die am Ende ein lückenloses Bild des Hauptangeklagten liefern sollten. So hielt der Untersuchungsrichter dem Arzt in seiner Befragung ein Schriftstück vor, mit dem Mauthe eine Anstalt mahnend an die Ausfüllung der Meldebogen erinnerte. Dazu sagte der Angeklagte: „Dieser von mir unterschriebene Erlass geht auf eine Mahnung des Reichsinnministeriums oder der RAG zurück, die ich unmöglich umgehen konnte, sonst wäre mein ganzes Rettungswerk zerstört worden.“1010 Für die Staatsanwaltschaft waren die Besuche, die Mauthe im Sommer 1940 mit dem Tötungsarzt Baumhard machte, Zeichen seiner Täterschaft. Die beiden Ärzte

Fritz Adae, ebd. Aussage Fritz Adae, 12.7.1945, ebd. Aussage Dr. Mauthe, 9.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Aussage Dr. Mauthe, 17.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11. Aussage Dr. Mauthe, 21.7. 1948, ebd. S. auch Anklageschrift Grafeneck-Prozess, 4.1. 1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. 1006 1007 1008 1009 1010

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besuchten Anstalten, um dort Patienten auf ihre Arbeitsfähigkeit zu überprüfen. Stähle habe das Recht, arbeitsfähige Patienten zurückzuhalten, fast ausschließlich den Leitern staatlicher Anstalten zugestanden, so Mauthe.1011 Er erklärte weiter: Mein Vorschlag, dass ich selbst in den Privatanstalten die Kranken auf ihre Arbeitsfähigkeit überprüfen dürfe, wurde von Stähle abgelehnt und mir nur zugestanden, dass ich diese Prüfung zusammen mit Dr. Baumhardt in Grafeneck vornehme. Mein Ziel war, bei diesen Besuchen die Arbeitsfähigkeit entgegen der Wirklichkeit höher einzusetzen und so möglichst viele Kranke zu retten. […] Meine Reisen zusammen mit Baumhardt führten nach Liebenau, Heggbach und Stetten, im Sommer 1940. […] Ich musste über jeden einzelnen Kranken mit ihm ringen. Ich kam an sich gut mit ihm aus, er wies jedoch stets auf seine Schwierigkeiten hin, die er mit Berlin bekomme. Die ausgeschiedenen Fälle wurden dann von den Transportlisten weggelassen; es wurde mir jedoch später von den Leitern der staatlichen Anstalten gesagt, also nicht von den Anstalten, die ich zusammen mit Baumhardt besucht hatte, dass Kranke, die sie als arbeitsfähig bezeichnet hätten, und die anfänglich von den Transportlisten gestrichen worden seien, später doch noch abgeholt worden seien.1012

Die Anstalt Liebenau mit ihren Zweiganstalten Hegenberg und Rosenharz beherbergte Anfang 1940 1 100 Patienten.1013 Über 500 Patienten wurden im Laufe der Jahre 1940 bis 1941 abgeholt und ermordet. Mauthe besuchte die Anstalt gemeinsam mit dem Tötungsarzt Baumhard im September 1940. Die beiden ließen sich einige Patienten vorstellen. Der Direktor konnte sich in seiner Befragung nicht mehr erinnern, ob die beiden Ärzte die Arbeitsfähigkeit der Kranken überprüften: „Der Besuch der beiden Herren hat nichts genutzt, denn auf 2.  Oktober 1940 wurde ein Transport von 121 Kranken angefordert, von denen […] 75 abtransportiert wurden, weil in die Transportautos nicht mehr hineingingen.“1014 Mauthe antwortete auf die Frage, warum trotz seines vermeintlichen Rettungsversuchs, 121 Namen auf der Transportliste standen: „Ich habe bei dem damaligen Besuch möglichst viele Kranke zu retten versucht. Die darauffolgende Abholung geschah ohne meine Kenntnis.“1015 Teile des Gesamtbildes, das die Beteiligung Otto Mauthes bei den „Euthanasie“Morden zeigen sollte, wurden durch die Aussagen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Anstalt Liebenau zusammengefügt. Bei einer Visitation habe der ärztliche Mitarbeiter auf die Deportation von sieben schwerkranken Patienten bestanden. In ihrer Aussage schilderte Schwester Epiphasia, warum für sie Mauthes Besuch keinesfalls dem Zweck diente, Patienten zu retten:

1011 1012 1013 1014 1015

Aussage Dr. Mauthe, 9.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Aussage Dr. Mauthe, 3.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11. Aussage Direktor Josef Wilhelm, 8.5.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/09. Ebd. Aussage Dr. Mauthe, 24.7.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11.

Dr. Otto Mauthe

Im Frühjahr 1941 sollten 9 Kranke über Weißenau nach Weinsberg verlegt werden. Wir mussten natürlich annehmen, daß sie getötet werden würden. 2 von diesen Kranken waren verstorben bzw. entlassen, so daß noch 7 infrage kamen. Dr. Ritter verweigerte in einem Telefongespräch mit Mauthe, der damals in Weißenau war, die Herausgabe, weil die Kranken nicht transportfähig waren. Mauthe kam dann selbst nach Liebenau und bestand auf der Herausgabe der Kranken. Es hat sich bei einigen um Leute mit Kopfgrippe aus dem vorletzten Krieg gehandelt. […] Dr. Mauthe ließ aber keinen Einwand gelten und bestand auf der Herausgabe der Kranken.1016

Mauthe vergaß nach Ende des Kriegs, dass er mit für den Tod der Liebenauer Patienten in den Tötungszentren Grafeneck und Hadamar verantwortlich war. Denn er bat 1946 den ehemaligen Anstaltsarzt Liebenaus, Dr. Ritter, durch einen Freund um ein Zeugnis für sein Entnazifizierungsverfahren. Ritter war zu diesem Zeitpunkt allerdings schon Leiter einer österreichischen Heilanstalt. Aus diesem Grund übernahm der Direktor der Anstalt Liebenau, Josef Wilhelm, die Beantwortung des Schreibens: Ich habe den Brief nicht beantwortet, weil ich es mit der Wahrheit nicht vereinbaren kann, dem verführten Mann zu bezeugen, dass er nicht verführt worden sei. Bei uns hat er leider gehaust ähnlich wie Stehle [sic!]. Er schrieb mir, er sei nur aus Todesangst P. G. gewesen, dabei vergisst er aber, dass die 511 Pfleglinge von Liebenau wahrlich auch Todesangst ausgestanden u. den Tod sogar erleiden mussten.1017

Die Anstalt Heggbach besuchten Mauthe und Baumhard ebenfalls im September 1940. Die Ärzte machten sich nicht die Mühe, die Patienten zu untersuchen, sondern sprachen sie anhand der Liste durch und achteten besonders auf die Arbeitsfähigkeit der Kranken. „Dr. Mauthe machte bei jedem einzelnen Fall […] seine Notizen“1018, so beschrieb Schwester Euphrasia das Vorgehen. Der ärztliche Berichterstatter habe dann zwei Transporte angekündigt. Als die anwesenden Schwestern Einwände erhoben, hätten die Ärzte erklärt, dass man nichts machen könne. Die Staatsanwaltschaft legte Mauthe auch zur Last, dass er Martha Fauser offiziell in die „Aktion“ eingeweiht, sie zum Schweigen gemahnt und ihr verboten habe, gelistete Patienten zurückzuhalten. Die Ärztin hatte schon während ihrer Anstellung in der Anstalt Weissenau die Deportationen von Patienten miterlebt, hatte allerdings noch keine Schweigeverpflichtung unterschrieben. In ihrer Vernehmung gab Fauser an: Ende Oktober oder Anfang November 1940 hat mich Dr. Mauthe in Stuttgart nach telefonischer Bestellung auf die Aktion verpflichtet. […] Er sagte, ich wisse ja um die Sache,

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Aussage von Oberin Epiphasia, 9.5.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/09. Schreiben von Direktor Wilhelm an Oberfinanzrat J. Schneider, 10.8.1946, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/09. Aussage Schwester Euphrasia, 3.12.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/09.

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ich dürfe niemand zurückhalten, die Euthanasie sei erlaubt, man dürfe nicht darüber sprechen, es würde dies als Landesverrat aufgefaßt, worauf Todesstrafe stehe.1019

Allerdings gab die Ärztin in einer anderen Befragung an, dass Mauthe bereits vor ihrer Verpflichtung einige Male in Zwiefalten gewesen sei und ihr dort mündlich gestattet hätte, Patienten zurückzuhalten.1020 Außerdem, so die Angeklagte, habe sie zumindest anfangs den Eindruck gehabt, dass der ärztliche Berichterstatter kein Gegner der „Euthanasie“ sei. Im November 1940 habe er sie dann allerdings gebeten, mit dem Tötungsarzt Baumhard zu sprechen, damit dieser die „Euthanasie“ einstelle. „Ich erwiderte, daß ich dies schon getan hätte, Baumhardt habe mir erklärt, die Sache würde auf Dezember eingestellt werden, es müsse nur noch ein bestimmtes Programm abgewickelt werden“1021, so Fauser vor Gericht. Darauf soll Mauthe erwidert haben: „Gott sei Dank.“1022 In einigen Fällen gestand die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten durchaus eine „verhältnismässig entgegenkommende Haltung“1023 zu. Sie berief sich dabei auf Zeugenaussagen wie beispielweise die des Chefarztes der Heilanstalt Rottenmünster Dr. Wrede. Dieser erklärte, dass er einige Tage oder Wochen bevor 71 Kranke aus seiner Anstalt abgeholt wurden, von Mauthe auf die bevorstehende Deportation hingewiesen worden sei. Die beiden hätten sich in Stuttgart getroffen und dann auf der Straße vor dem Marienhospital miteinander gesprochen. „Um jedes Aufsehen im Innenministerium zu vermeiden, fand dieses Gespräch auf der Strasse statt, soweit ich mich erinnere von Seiten des Ob. Medizinalrat Mauthe auch wohl zu dem Zweck, um uns rechtzeitig zu warnen, damit wir die möglichen Abwehrmaßnahmen durchführen konnten“1024, erklärte Wrede. Für Mauthe sagte auch Hans Berger aus, der 1940 als Amtsarzt in Sigmaringen tätig war. Bei einer Versammlung von Amtsärzten in Stuttgart habe Mauthe ihn zur Seite genommen und mit ihm über die „Geheime Reichssache“ gesprochen. Die Unterhaltung der beiden habe den Sinn gehabt, über mögliche Rettungsmaßnahmen für die Patienten zu diskutieren.1025 Mauthe sei der Ansicht gewesen, „dass eine Rettungsaktion nicht durchführbar sei, wenn überhaupt keine Geisteskranken zum Transport gegeben würden“1026. Berger fasste in seiner Vernehmung zusammen, was die beiden Mediziner als die beste Option zur Rettung der Kranken betrachteten:

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Aussage Dr. Fauser, 28.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Aussage Dr. Fauser, 20.8.1947, ebd. Aussage Dr. Fauser, 28.1.1948, ebd. Ebd. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Aussage Dr. Josef Wrede, 10.12.1947, StAS Wü 29/3 T1 Nr. 1756/01/07. Aussage Hans Berger, August 1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/01/05. Ebd.

Dr. Otto Mauthe

„Dr. Mauthe und ich waren uns nach der Richtung einig, dass es nur möglich sei, einen Teil der Geisteskranken zurückzuhalten.“1027 Positiv über Mauthe äußerte sich auch der Hausvater der Zieglerischen Anstalten in Wilhelmsdorf, Heinrich Hermann1028. Dessen Weigerung, die Meldebogen auszufüllen und sein ergreifender Brief an das Reichsinnenministerium, wurden bereits an anderer Stelle geschildert. Jedenfalls sollten Otto Mauthe und Max Eyrich das Ausfüllen der Dokumente überwachen als sie im Herbst 1940 die Wilhelmsdorfer Anstalt besuchten. Die Ärzte schauten sich die 45 gemeldeten Patienten an. Mauthe habe betont, dass sein Besuch einen traurigen Anlass hätte, so Hermann in seiner Vernehmung. Der Anstaltsleiter habe die Bestrebungen des Mediziners bemerkt, möglichst wenige Patienten zu melden: Bei der Durchsicht der Pfleglinge hatte Dr. Mauthe 2 Bögen zerrissen mit dem Hinweis, daß die Betreffenden neben dem Schwachsinn zugleich taubstumm seien, und als Taubstumme sie nicht zu melden wären. […] Bei der Untersuchung der Pfleglinge hat mir Dr. Mauthe den Eindruck gemacht, daß er möglichst wenig Pfleglinge in den Tod bringen wolle. Er wollte mich veranlassen, die Arbeitsleistung der Pfleglinge möglichst hoch einzuschätzen, er sagte öfters: „Sagen Sie, daß sei eine ganz wertvolle Kraft für die Landwirtschaft“.1029

Ähnlich äußerte sich auch Wilhelm Wittmann, der Vorstand der Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg. In Mariaberg ging im September 1940 ein Erlass ein mit einer Transportliste, auf der über 97 Namen von Patienten standen. Daraufhin fuhren der Vorstand Wittmann und Direktor Kraft nach Stuttgart, wo sie mit Stähles Sachbearbeiter sprachen: Dr. Mauthe hat sich bei den Besprechungen sehr loyal verhalten. Er hielt uns zwar vor, daß manchen Kranken, die in der Transportliste aufgeführt waren, kein Kostgeldnachlaß1030 gewährt worden sei, so daß anzunehmen sei, daß diese Leute nicht arbeitsfähig seien. […] Dr. Mauthe hat dann von den 97 Pfleglingen 41 freigegeben.1031

Ebd. Heinrich Hermanns Widerstandshandlungen beschrieb Aly (2014), S. 37 f. Aussage von Heinrich Hermann, 8.12.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/03. Laut Erich Kraft, dem Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Mariaberg, wurde in den Meldebogen auch nach einem sog. Kostgeldnachlass gefragt. Dieser wurde Patienten gewährt, die der Anstalt nützlich waren, weil sie arbeiten konnten. Kraft betonte aber in seiner Aussage, dass ein Kostgeldnachlass nicht mit der Arbeitsfähigkeit eines Patienten korrelieren musste: „Er gab jedoch kein entscheidendes Bild über die Arbeitsfähigkeit, weil dafür auch andere Gründe als die Arbeitsfähigkeit maßgeblich waren, z. B. wurde Kostgeldnachlaß gewährt einem Kranken, der an sich nicht sehr arbeitsfähig war, dessen Vater aber ein eifriger Sammler für die Anstalt war, während andererseits Kostgeldnachlaß nicht gewährt wurde, wenn ein Kranker oder seine Angehörigen entsprechendes Vermögen hatten.“ S. Aussage Erich Kraft, 15.1.1948, StAS Wü 29/3 T1 Nr. 1756/02/04. 1031 Aussage Wilhelm Wittmann, 15.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/04. 1027 1028 1029 1030

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Andere Zeugen bescheinigten Dr. Mauthe keinerlei entgegenkommendes Verhalten. So warf ihm die Staatsanwaltschaft vor, dass er „im Zusammenwirken mit Dr.  Stähle […] alle Bemühungen der Anstalt Stetten zur Rettung ihrer Pfleglinge vereitelt [hat]“1032 und dadurch über 300 Patienten ermordet wurden. Der Stettener Anstaltsarzt Dr. Gmelin befand sich 1940 als Oberstabsarzt der Luftwaffe in der Nähe von Paris stationiert und wurde von seiner Ehefrau über die Vorgänge in der Stettener Anstalt, die Patiententransporte und Todesnachrichten, informiert. Gmelin bat bei seinem Vorgesetzten um Fronturlaub, um im Innenministerium in Stuttgart mit Eugen Stähle über die Deportationen zu sprechen: Bei der Besprechung mit Stähle war Mauthe dabei. Ich kenne ihn aus dem ersten Weltkrieg seit dem Jahre 1917. Er versuchte damals, mich zu beruhigen, sagte, die Sache sei nicht so schlimm, sie werde vom Führer gewünscht. Ich erwiderte, das könne ich nicht glauben. Er antwortete, er könne mir bloß raten, es solle die Sache in aller Stille durchgeführt werden. Zur Sache selbst nahm Mauthe keine Stellung; er suchte mich zu beruhigen.1033

Zu den Vorgängen in Stetten machte auch Pfarrer Ludwig Schlaich Angaben. Dieser leitete die Anstalt. Nachdem dort Anfang September 1940 ein Erlass und ein Schreiben eingingen, dem zwei Transportlisten mit 120 und 131  Namen angeheftet waren, von denen 63 bzw. 70 Kranke abgeliefert werden mussten, fuhr Schlaich mit Dr. Gmelin und Rektor Rupp nach Stuttgart. Sie versuchten zuerst mit Reichstatthalter Murr zu sprechen, den sie allerdings nicht persönlich antrafen. Es folgte ein Besuch im Innenministerium bei Eugen Stähle, der Patiententötungen leugnete. In seiner Vernehmung sagte Schlaich: Hierauf gingen wir zu Dr. Mauthe. Dieser bestritt den Zweck der Verlegungen der Kranken, ihre Tötung, nicht. Auf meine Vorstellungen erklärte er mir (ich war damals in Uniform), „Befehl sei Befehl“, ein Befehl müsse befolgt werden. Auf meine Erwiderung, dass dies ein Rekrutenstandpunkt sei und dass wir Offiziere gegen einen Befehl, dessen Ausführung nicht verantwortet werden kann, uns wehren müssten, wich er aus. […] Er erklärte, wir müssten damit rechnen, dass wir 50 % der Kranken abgeben müssten. Er gab uns nicht den geringsten Fingerzeig, wie wir den Kranken helfen könnten. Er beharrte stur und starr auf der Durchführung des Befehls.1034

Auch die Ärztin Leoni Fürst, die 1940 die Vertretung von Dr. Gmelin übernahm, sagte aus. Am 5. November 1940 sollte ein Transport mit 92 Patienten aus Stetten abgehen: „Auf unsere Einwände erklärte der Transportführer, er habe Befehl von oben, diesmal alle Leute, die auf der Transportliste standen, mitzunehmen, es dürften keine Kranken,

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Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Aussage Dr. Albert Gmelin, 3.12.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/06. Aussage Ludwig Schlaich, 2.12.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/06.

Dr. Otto Mauthe

auch keine Arbeitsfähigen zurückgehalten werden.“1035 Diskussionen mit dem Fahrer aus Grafeneck blieben ergebnislos. Fürst hoffte sich Hilfe aus Stuttgart und beschloss ins Innenministerium zu fahren, während der Transportleiter wartete: „Der Transportleiter Seibl erklärte mit höhnischem Grinsen, er warte noch 2 Stunden, er könne mir aber sagen, daß mein Besuch in Stuttgart zwecklos sei.“1036 Die Ärztin fuhr dennoch, konnte allerdings nicht mit Eugen Stähle persönlich, sondern nur mit seinem Stellvertreter sprechen: Ich setzte Mauthe die Sache auseinander, sagte ihm, dass es unverantwortlich sei, arbeitsfähige Leute wegzunehmen, ich stellte die wirtschaftliche Seite, die Existenz der Anstalt, die von der Arbeit der Kranken abhing, bewußt in den Vordergrund, weil mit menschlichen oder ethischen Einwendungen ja nichts zu erreichen war. […] Dr. Mauthe erwiderte, es sei furchtbar, was wir für Geschichten machen würden, wir seien die einzige Anstalt, von der ein solcher Widerstand erfolge, er sage mir im Vertrauen, das Schicksal der Anstalt sei bereits besiegelt, wenn wir so weiter machen würden, würde die Anstalt noch vorher von der SS geräumt, ein SS-Arzt habe mich angezeigt, dass ich Sabotage treibe und Einwendungen mache, weil mein Vater selbst altersschwachsinnig sei.1037

Der Widerstand der Stettener Ärzte und der Direktion der Anstalt blieb erfolglos. Den Heimleiter von Eckwälden, Dr. phil. Franz Geraths, soll Mauthe eingeschüchtert haben, nachdem dieser eigenmächtig ein Kind entlassen habe. Beim Besuch von Mauthe und Eyrich, so Geraths, sei Mauthe der Wortführer gewesen.1038 Beide Ärzte hätten einen „milden Maßstab“ angelegt. Zwei Kinder schienen ihm nach dem Besuch der beiden Ärzte gefährdet, deportiert zur werden. Geraths rief die Eltern der jungen Patienten an und bat diese, ihre Kinder abzuholen. Dies taten die Eltern eines Jungen, welchen der Anstaltsleiter dann ohne Genehmigung einfach entließ: „Hiewegen habe ich später, als die Verlegung der beiden Kinder nach Weinsberg angeordnet war, im Frühjahr 1941, von Mauthe Vorwürfe erhalten.“1039 Weiter erzählte er: Nachdem mir die Verlegungsanordnung telefonisch vorausgegeben war, ging ich mit einem schriftlichen Einspruch zu Dr. Mauthe, übergab ihm denselben und erklärte ihm, dass ich als Treuhänder der Eltern keine Kinder ohne ihr Wissen weggeben werde. Dr. Mauthe hat mich etwa eine halbe Stunde lang einzuschüchtern versucht.1040

Mauthe musste sich zu den Vorwürfen des Anstaltsleiters äußern. Er gab an, sich kaum noch an den Besuch zu erinnern, gestand dann aber ein, dass es möglich sei, dass er

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Aussage Dr. Leoni Fürst, 13.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/06. Ebd. Ebd. Aussage Franz Geraths, 9.7.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/08. Ebd. Ebd.

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Geraths Druck gemacht habe. Dies habe er aber nur im Interesse des Anstaltsleiters getan. „Es war ja die Auflösung von Stetten wegen ähnlicher Fälle vorangegangen, ich wollte ähnliches vermeiden, zumal sich in Eckwälden noch eine Reihe ähnlicher Fälle befanden, hinsichtlich deren die Gefahr bestand, dass sie geholt worden wären“1041, so Mauthe. Exemplarisch schilderte die Anklageschrift auch das Verhalten von Dr. Mauthe gegenüber dem Samariterstift Obersontheim. Dort habe er nicht nur die „Euthanasie“ geleugnet, sondern die Leitung der Anstalt mehrmals aufgefordert, die Meldebogen auszufüllen. Dazu äußerte sich der Vorstand der Samariterstiftung, Stadtpfarrer Nathanael Fischer: Der Zweck der Meldebogen, Euthanasie, war mir damals bekannt. Ich habe auf die erhaltene Aufforderung daher nichts gemacht. Dr.  Mauthe mahnte nun mehrmals telefonisch an die Ausfüllung der Meldebogen […]. Die Anstalt erhielt dann den Besuch von Dr. Mauthe und Dr. Eyrich. […] Eine Hilfestellung durch Dr. Mauthe in meiner Abwehr habe ich weder bei der Ablehnung der Ausfüllung der Meldebogen noch bei seinem Besuch zusammen mit Dr. Eyrich gefunden oder erkennen können.1042

Ein Schreiben des Leiters der Anstalt Heiligenbronn nach dem Besuch von Mauthe und Eyrich im Oktober 1940 lässt nur erahnen, mit welch wenigen Worten über Leben oder Tod der Patienten entschieden werden konnte. Die beiden Ärzte hatten neun Patienten bestimmt, die nach Berlin gemeldet werden mussten. Laut Aussage von Superior Pfaff seien alle Patienten arbeitsfähig gewesen. Um doch noch etwas für seine Pfleglinge zu tun, schickte der Heimleiter die Meldebogen mit einem Begleitschreiben ins Innenministerium zu Mauthe: „Bei Meldebogen Nr. 4 haben Sie bei der Diagnose nur Blindheit vermerkt. Ich befürchte aber, daß hieraus der Schluß gezogen werden könnte, D. sei wirklich schwachsinnig. Bei der Diagnosestellung haben Sie aber ausdrücklich hervorgehoben, D., nicht schwachsinnig‘. Deshalb habe ich dies beigefügt.“1043 Für die Staatsanwaltschaft zeigten die Reisen Mauthes mit den Ärzten Baumhard und Eyrich, dass der Mediziner sich an Maßnahmen zur Durchführung der Massentötungen beteiligte. Zwar ließen die teils widersprüchlichen Angaben der Zeugen kein stimmiges Bild über den Medizinalbeamten zu, doch blieb es bei der objektiven Feststellung der Anklage, dass Mauthe auf seinen Reisen aktiv Patienten gemeldet hatte, die damit dem Eingriff der „T4“-Zentrale ausgesetzt wurden. Und auch nach dem Stopp der zentral regulierten „Aktion“ habe sich der Arzt, so die Anklage, weiter an der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ beteiligt.1044 1041 1042 1043 1044

Aussage Dr. Mauthe, 24.7.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11. Aussage Nathanael Fischer, 14.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/02. Schreiben Pfaff an Otto Mauthe, 17.10.1940, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/02/01. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01.

Dr. Otto Mauthe

1941 habe Mauthe Dr. Fauser mitgeteilt, dass sie die „Euthanasie“ nach dem Ende der Grafeneck-„Aktion“ in der Anstalt Zwiefalten fortsetzen solle. Der Medizinalrat habe dabei betont, dass er diesen Auftrag von seinem Vorgesetzten Stähle erhalten habe. „Etwa 1941 sagte mir Dr. Mauthe anläßlich einer Visitation, Stähle lasse mich grüßen und ausrichten, daß jetzt, wo die Grafeneckaktion aufgehört habe, Stähle es für selbstverständlich halte, daß die Direktoren selbst Euthanasie weiterbetreiben würden,“1045 so die Anstaltsleiterin vor Gericht. Mauthe erinnerte sich in seiner Befragung nicht daran, dass er der Ärztin einen Auftrag zu Einzeltötungen gegeben habe, weil er sie für eine „labile“ Persönlichkeit gehalten habe „und Zweifel haben musste, ob sie einem solchen Auftrag nicht doch nachgeben könnte“.1046 Fauser will Mauthe und dem Verwaltungsberichterstatter Kley bei einem Besuch der beiden 1944 in Zwiefalten ihre Form der Sterbehilfe erklärt haben. Zu diesem Zeitpunkt seien die Sterberaten in Zwiefalten schon sehr hoch gewesen und sie wollte nicht den Verdacht erwecken, dass sie etwa Stähles Auftrag ausführe. Sie erklärte Kley, den sie mehr geschätzt habe als Mauthe, dass sie nur sterbenden Patienten Medikamente gebe. Die beiden seien mit ihrem Vorgehen einverstanden gewesen.1047 Der Arzt erinnerte sich, „daß die Dr. Fauser im Zusammenhang mit der hohen Sterblichkeit erklärt hatte, daß sie keine Euthanasie betreibe“1048. Mauthe erklärte dem Untersuchungsrichter dann, dass die Art der von Fauser ausgeübten indirekten Sterbehilfe, das heißt die medikamentöse Erleichterung eines schmerzhaften Todes, durchaus üblich gewesen sei. Kley war das Gespräch mit der Direktorin nicht mehr lebendig, er meinte aber, dass sie wohl gesagt habe, keine Einzeltötungen vorzunehmen.1049 Es gilt als bewiesen, dass in der Anstalt Zwiefalten Patienten bis 1945 mit Medikamenten getötet wurden.1050 Auch wenn nicht sicher ist, ob der ärztliche Berichterstatter des Innenministeriums Stuttgart der Leiterin der Anstalt Zwiefalten den Auftrag zu Einzeltötungen übermittelte, so gestand er, dass er ein solches Ansinnen an zwei andere Anstaltsdirektoren richten sollte. Im März 1944 wurden Teile des Innenministeriums in die Heilanstalt Winnental verlagert.1051 Auch Mauthe musste mit seinem Büro dorthin umziehen, sein Vorgesetzter blieb in Stuttgart. Der ärztliche Berichterstatter besuchte Stähle in der Folgezeit häufiger in Stuttgart, um dienstliche Angelegenheiten zu besprechen.1052 Auch im Mai oder Juni 1944 fuhr der Mediziner dorthin. Bei einem Gespräch mit seinem Chef soll dieser gesagt haben, „daß in einzelnen Heilanstalten von geeigne-

1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052

Aussage Dr. Fauser, 29.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Aussage Dr. Mauthe, 20.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Aussage Dr. Fauser, 29.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/01. Aussage Dr. Mauthe, 20.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Aussage Wilhelm Kley, 12.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/02a/04. S. Kapitel 4.2.1. Aussage Dr. Mauthe, 20.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. Ebd.

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ten Ärzten durch Einspritzungen schwere Fälle euthanasiert werden sollten […]“1053. Stähle habe zu diesem Zweck ein Depot an Luminal angelegt, damit die Anstaltsleiter dieses nicht über Apotheken beziehen mussten, was möglicherweise aufgefallen wäre. Er habe nun seinem Berichterstatter den Auftrag gegeben, den Leiter der Anstalt Winnental, Dr. Gutekunst, über Einzeltötungen aufzuklären, „und zwar in dem Sinne, daß Gutekunst es tun solle“1054. Mauthe will den Auftrag abgelehnt und Stähle gebeten haben, Gutekunst selbst aufzuklären, was auch geschehen sein soll. Dazu Mauthe: Entweder zuvor schon oder nachher habe ich mit Dr. Gutekunst über die Angelegenheit gesprochen. Gutekunst lehnte ab, er erklärte, selbst wenn er prinzipiell geneigt wäre es zu tun, was er nicht sei, sei eine Durchführung unmöglich, denn sie könne vor dem Personal nicht geheim gehalten werden […]. Ich habe Dr. Gutekunst in dieser Auffassung bestärkt und ihm gesagt, er müsse notfalls eben Dr. Stähle anlügen.1055

Stähle gab bei seiner Vernehmung an, dass es „ausgeschlossen“ sei, dass Dr. Gutekunst in Winnental Einzeltötungen vorgenommen habe.1056 Der Winnentaler Direktor Gutekunst stritt ab, je einen Auftrag zur „wilden Euthanasie“ bekommen zu haben.1057 Was sagten die Angestellten der Anstalt vor Gericht? Anstaltsarzt Dr. Stöferle sagte aus, dass ihm lediglich einmal eine hohe Dosierung von Luminal (0,3 Gramm, dreimal täglich) aufgefallen und dies nach Hinweis an Gutekunst nie mehr vorgekommen sei.1058 Die Anstaltsärztin Blanckertz hielt es für „völlig ausgeschlossen“, dass in Winnental Patienten ermordet worden seien.1059 Anders sah es der ehemalige Anstaltsarzt Dr. Barlen, der von 1939 bis 1942 in der Anstalt tätig gewesen war, dann von 1942 bis 1945 für die deutsche Forschungsanstalt der Psychiatrie verschiedene Verlaufsformen der Schizophrenie untersuchte. Dies tat er in der Anstalt Winnental, wo er zwei Dienstzimmer behalten konnte. Warum Barlen glaubte, dass in Winnental Tötungen vorgenommen wurden, schilderte er in seiner Vernehmung: „1939 oder 1940 hat mir Dr. Stöferle gesagt, daß Dr.  Gutekunst bei einem Kranken […] ständig die Dosierung der Schlafmittel überschreite, so daß er, Dr. Stöferle, immer wieder genötigt sei, die Dosen herabzusetzen.“1060 Dann fügte er hinzu: „Während meiner Arbeit für das Reichsgesundheitsamt in der Anstalt hat mir das Personal ab und zu ganz vage Mitteilungen gemacht, aus denen ich schließen mußte, daß mit Hilfe von Arzneimitteln, insbesondere Luminal, Kranke beseitigt werden würden.“1061 Auch habe Gutekunst ihm kurz vor Kriegsende,

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Ebd. Ebd. Ebd. Aussage Dr. Stähle, 10.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/17. Aussage Dr. Otto Gutekunst, 29.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/03/02. Aussage Dr. Otto Stöferle, 20.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/01/06. Aussage Dr. Hella Blanckertz, 20.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/01/06. Aussage Dr. Fritz Barlen, 20.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/01/06. Ebd.

Dr. Otto Mauthe

„ganz unvermittelt und zusammenhanglos“ mitgeteilt, dass er die gesetzliche Befugnis habe, Patienten zu ermorden.1062 Sowohl Gutekunst als auch Stähle setzten, nachdem sie mit den Anschuldigungen konfrontiert wurden, mit ihren Aussagen über Dr. Barlen dessen Glaubwürdigkeit herab. Barlen sei Morphinist gewesen und deswegen kein glaubhafter Zeuge.1063 Eine Überprüfung der Winnentaler Krankenakten konnte durch das Gericht nicht durchgeführt werden, da die Original-Dokumente kurz vor Ende des Kriegs vernichtet wurden. Dazu sei Gutekunst von Stähle ersucht worden. „Es stimmt, daß ich Dr. Gutekunst aufgefordert habe, die Akten über die Euthanasiesache zu vernichten gem. dem allgemeinen Befehl zur Vernichtung aller Geheimakten“1064, so Stähle in seiner Vernehmung. In der Heilanstalt Winnental stiegen ab 1944 die Sterbezahlen der Patienten exorbitant an. Die erhöhten Zahlen gingen, laut Gutekunst, auf die schlechte Ernährungslage und Mangel an Heizmöglichkeiten zurück.1065 Faulstich vermutete, dass hinter den erhöhten Sterberaten ab 1944 Stähles Auftrag an Gutekunst steckte, Einzeltötungen vorzunehmen.1066 Auch dem Leiter der Heilanstalt Schussenried, Dr. Götz, sollte Mauthe den Auftrag übermitteln, Patienten mit Medikamenten zu töten. Mauthe übernahm diese Aufgabe und sprach mit Götz bei einem Besuch der Anstalt im Frühjahr oder Spätherbst 1944, bei dem ihn der Verwaltungsberichterstatter Kley begleitete. Kley habe nach einer kurzen Zeit das Wort übernommen, wodurch für Götz der Eindruck entstanden sei, dass nicht Mauthe, sondern Verwaltungsberichterstatter Kley die Order übermitteln sollte.1067 Dazu erklärte der ärztliche Berichterstatter: „Die Besprechung mit ihm war völlig unmißverständlich dahin, daß er diesen Auftrag niemals durchführen dürfe.“1068 Die Staatsanwaltschaft warf Mauthe vor, dass er „barsch“1069 reagiert habe, als der ehemalige Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Weissenau, Dr. Maximilian Sorg, ihn darauf hingewiesen habe, dass auf der Transportliste die Namen von guten Arbeitskräften stünden: Ich führte ein Gespräch mit Dr. Mauthe über die Angelegenheit, hielt ihm vor, daß das Innenministerium uns die besten Leute wegnehme, die seit 20 und noch mehr Jahren beste Arbeit geleistet hätten. Er erwiderte in einem an ihm ungewohnten barschen Tone etwa: Dich geht ja die ganze Sache nichts an, Dr. Weskott ist von Dr. Stähle mit der Durchführung der Verlegungen beauftragt.1070

Ebd. Aussage Dr. Stähle, 10.6.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/17. Ebd. Die Sterberate in Winnental stieg von 1938 bis 1945 kontinuierlich an, von 3,2 auf 51,5 %, ein großer Anstieg erfolgte von 1944 (28,5 %) auf 1945 (51,5 %). S. Faulstich (1998), S. 349. 1066 Ebd., S. 350. 1067 Schreiben von Götz an Poitrot, Poitrot (1945), S. 92. 1068 Aussage Dr. Mauthe, 20.8.1942, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/13. 1069 Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. 1070 Aussage Dr. Max Sorg, 13.2.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/01/02. 1062 1063 1064 1065

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Sorg hegte keinen Groll gegen den ärztlichen Berichterstatter. Im Gegenteil, er habe sich immer gut mit Mauthe verstanden und habe durch das Gespräch erfahren, was Stähle von ihm halte.1071 Weiter sagte Sorg vor Gericht: „Ich bin überzeugt, dass Dr. Mauthe nach seiner inneren Haltung kein Nationalsozialist ist. Er hat bei seinen Besuchen hier in Weißenau oft Äußerungen getan, die mich veranlassten, ihm zu sagen, was man denn mit Leuten von solcher Gesinnung im Ministerium tue.“1072 Wie bereits einleitend erwähnt, erfasste das nationalsozialistische „Euthanasie“-Programm nicht nur Erwachsene, sondern auch die in Anstalten untergebrachten Kinder. Die Meldung über den „Reichsausschuss“ betraf vor allem die Kinder, die nicht in Anstaltspflege untergebracht waren. Doch nicht nur über diese beiden über Meldebogen organisierten und zentral aus Berlin gesteuerten Verfahren wurden geistig und körperlich behinderte Kinder ermordet, sondern sie starben auch im Rahmen der „wilden Euthanasie“.1073 Es gilt als heute unbestritten, dass in Stuttgart Anfang 1943 eine „Kinderfachabteilung“ eingerichtet wurde.1074 Die Staatsanwaltschaft schien in ihrer Anklageschrift 1949 allerdings daran zu zweifeln. Sie nannte als bekannte „Kinderfachabteilungen“: Ansbach, Eichberg bei Eltville, Kaufbeuren, Eglfing/Haar bei München, Wiesloch und die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof bei Idstein. Heute geht man von ca. 31 „Kinderfachabteilungen“ aus.1075 In der Anklageschrift steht dazu: „Ob es tatsächlich zur Bildung einer Kinderfachabteilung in Stuttgart kam, mag zweifelhaft erscheinen.“1076 Die Richter verneinten im Urteil im Juli 1949 dann die Existenz einer solchen in Stuttgart.1077 Woran die Staatsanwaltschaft nicht zweifelte, war eine Mitverantwortung von Otto Mauthe an der „Kindereuthanasie“: „Im Rahmen der Euthanasieaktion ist Dr. Mauthe noch an verschiedenen Einzelfällen bei Durchführung der Kindereuthanasie beteiligt.“1078 In der Regel meldeten Ärzte, Hebammen oder Entbindungsstationen die Kinder an das zuständige Gesundheitsamt. Der Amtsarzt schickte dann den Meldebogen an den „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden.“ Dies geschah meist ohne Überprüfung der Meldung.1079 Jedes Jahr im Januar sollten die Gesundheitsämter dem württembergischen Innenministerium die Zahl und Art der „gemeldeten Mißbildungen“ nennen und auch Ebd. Ebd. Verdachtsmomente fanden sich beispielsweise in den Patientenakten von Kindern, die in Zwiefalten starben. S. Kapitel 4.2.1. 1074 Lediglich Rolf Königstein ging in seinem Aufsatz davon aus, dass im Städt. Kinderheim Stuttgart keine Tötungen stattfanden. S. Königstein (2004), S. 465–473. Zur Lektüre empfiehlt sich die Kritik von Karl-Horst Marquart zu Königstein. S. Marquart (2011), S. 160–163. 1075 Eine Übersicht findet sich bei Benzenhöfer (2011), S. 69 f. 1076 Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. 1077 Urteil im Grafeneck-Prozess, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02. 1078 Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. 1079 S. Klee (2010), S. 335. 1071 1072 1073

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deren Konfession mit angeben.1080 Die Verlegung der Kinder wurde meist durch die jeweiligen Gesundheitsämter, instruiert vom „Reichsausschuss“, organisiert. In einigen Fällen schaltete sich das württembergische Innenministerium ein und organisierte die Deportation. Schon 1949 war der Staatsanwaltschaft klar, dass die Erlasse, die vom „Reichsausschuss“ oder Innenministerium verschickt wurden, voller euphemistischer Worte steckten, die die Ermordung der Kinder verschleiern sollten: Diese Anordnungen waren bewusst irreführend gehalten. […] Unter dem nach aussen erweckten Anschein, als sei lediglich Pflege und Heilung beabsichtigt, wies er [der Reichsausschuss, Anmerkung der Verfasserin] die von ihm ausersehenen Kinder in die an bestimmten Anstalten errichteten Kinderfachabteilungen ein. Ihre Einlieferung geschah vielfach schon mit einer sog. Behandlungsermächtigung d. h. mit der vom Reichsausschuss erteilten Ermächtigung und dem Auftrag, eine Tötung vorzunehmen.1081

In anderen Fällen wurden die Kinder erst in die Anstalt eingewiesen, beobachtet und dann gegebenenfalls getötet. Erstaunlich ist, dass die Staatsanwaltschaft und später auch die Richter, den Angaben vieler Zeugen zum Kindermord Glauben schenkten. Diese allerdings deuteten in ihren Nachkriegs-Aussagen den Zweck von Schriftstücken um oder gaben an, nur zur „Tarnung“ mitgemacht zu haben. Otto Mauthe äußerte in seiner Befragung zur „Kindereuthanasie“: Vermutlich im Herbst 1942, nachdem die Massenvernichtungsanstalten geschlossen waren, traf von Berlin – entweder Reichsinnenministerium oder vom Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden – ein Erlaß an das Württ. Innenministerium und an die Gesundheitsämter ein, nach welchem die Ärzte, Hebammen und wohl auch das sonstige ärztliche Hilfspersonal Fälle von schweren Mißbildungen und von Schwachsinn, sowie anderen Leiden bei Neugeborenen zu melden haben.1082

Den ersten Erlass zur Erfassung behinderter Kinder schickte das Reichsinnenministerium bereits im August 1939, ein Erlass, der die „Behandlung“ dieser Kinder ankündigte, folgte im September 1941.1083 Mauthe sei aufgefallen, dass das Schreiben „sehr verworren“ gewesen sei und er hätte geahnt, dass es „keine Fachleute […] bearbeitet hatten.“1084 Wusste der Mediziner, welchen Zweck die Meldungen an den „Reichsausschuss“ hatten? Mauthe bejahte dies: „Daß der Name „Reichsausschuss“ nur eine Tarnung für 1080 Erlass Nr. X 3718 des württembergischen Innenministeriums, 24.8.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/01/02. 1081 Ebd. 1082 Aussage Dr. Mauthe, 17.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/01/04. 1083 Erlass des Reichsinnenministeriums, 18.8.1939, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/01/03. Erlass des Reichsinnenministeriums, 20.9.1941, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/01/02. 1084 Aussage Dr. Mauthe, 17.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/01/04.

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Euthanasie war, war mir klar.“1085 Im November 1942 reisten die für den Kindermord Verantwortlichen Dr.  Hefelmann und Dr.  von Hegener nach Stuttgart. Der Zweck ihrer Reise war nicht etwa, das Stuttgarter Innenministerium über die „Kindereuthanasie“ aufzuklären, denn die lief ja bereits in einigen „Kinderfachabteilungen“, sondern eine solche Abteilung in Württemberg einzurichten.1086 Im September 1942 hatte Hefelmann an Stähle geschrieben, dass er einen Besuch in Württemberg plane. „Es besteht nun ein Interesse daran, auch in Südwestdeutschland eine oder mehrere derartige Fachabteilungen zu errichten, da es gerade jetzt im Kriege unmöglich ist, die Kinder aus Württemberg bis zu den nächstgelegenen Stationen in Hessen und im Allgäu zu verlegen“1087, so im Schreiben des Organisators des Kindermords. Das Schreiben Hefelmanns hatte Mauthe in Händen gehalten, denn er hatte ihm eine Notiz hinzugefügt: „Dies muß geheim laufen und muß ein neuer G.-Bund [Geheim-Bund, Anmerkung der Verfasserin] angelegt werden.“1088 Am 18.  November 1942 fand das Treffen zwischen den beiden Berliner Verantwortlichen, Hefelmann und von Hegener, und den im Stuttgarter Innenministerium Zuständigen, Stähle und Mauthe, statt. Das Protokoll über die Besprechung führte der ärztliche Berichterstatter Mauthe: Man kam überein, dass eine solche Abteilung bei den Städt. Kinderheimen in Stuttgart einzurichten sei. Vorgesehen war zunächst eine besondere Abteilung, die vielleicht dem Dr. Bofinger, dem Referenten für Erb- und Rassenpflege beim Städt. Gesundheitsamt Stuttgart unter der Aufsicht von Obermed. Rat Dr. Lempp zu geben sei. Im Auftrag von MinRat Dr. Stähle habe ich in seiner Abwesenheit am 21.11. ds. Js. [des Jahres, Anmerkung der Verfasserin] unter Darlegung der Aufgaben Obermedizinalrat Dr. Lempp gefragt, ob er bereit wäre, eine solche Abteilung in einem seiner Kinderheime einzurichten. Dr. Lempp ist grundsätzlich damit einverstanden; er hat aber Bedenken gegen die Einrichtung einer besonderen Abteilung und die Zuziehung von Dr. Bofinger. Diese Bedenken sind m. E. begründet. Es ist sicher besser, wenn diese Kinder je nach ihrem Alter und der Art ihres Leiden in die für sie zuständigen einzelnen Heime verteilt werden. Zur Behandlung würde die Assistenzärztin Dr.  Schütte zugezogen, die von Dr.  Lempp als durchaus zuverlässig bezeichnet wird. Ausserdem hat Dr. Lempp dagegen Bedenken, dass Kinder auch von ausserhalb Württembergs oder Hohenzollerns aufgenommen werden.1089

Die Berliner wurden über die Einwilligung von Lempp und seiner Assistenzärztin Schütte informiert, es folgte die Antwort von Hefelmann: „Ich danke für Ihr Schreiben vom 25.11.1942 und bitte zu veranlassen, daß Herr Dr. Lempp und seine Assistenzärztin Ebd. Die Anstalt Eglfing-Haar erhielt seit beispielsweise 1941 Sonderzuwendungen für das Personal durch den „Reichsausschuss“. In Eichberg existierte vermutlich ebenfalls seit 1941 eine „Kinderfachabteilung“, in Kaufbeuren wohl seit Ende 1941. Informationen dazu bei Benzenhöfer (2011), S. 69 f. 1087 Schreiben von Hefelmann an Stähle, 11.9.1942, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/01/06. 1088 Handschriftliche Bemerkung von Dr. Mauthe im Schreiben von Hefelmann an Stähle, ebd. 1089 Schreiben von Mauthe an Hefelmann, 25.11.1942, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/01/06. 1085 1086

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Dr. Schütte bei passender Gelegenheit einmal nach Berlin kommen, damit sie in der Reichsschulstation Görden durch Dr. Heinze in die Art der Durchführung der betreffenden Aufgabe eingeführt werden können.“1090 Der ärztliche Berichterstatter war also direkt an der Einrichtung einer „Kinderfachabteilung“ in Stuttgart beteiligt, über jeden Schritt informiert, hatte den Kinderarzt Dr. Lempp um Mitarbeit gebeten und hatte außerdem dafür gesorgt, dass alle Dokumente und Schriftstücke „geheim“ blieben. Bei seiner Vernehmung gab der Mediziner allerdings an, dass Lempp bei der Besprechung mit Hefelmann und von Hegener im November 1942 selbst anwesend gewesen sei und bereits von Stähle über das Vorhaben der Berliner Organisatoren in Kenntnis gesetzt worden sei.1091 Auf die Hinweise des Gerichts auf die Original-Schriftstücke von 1942 und das von ihm selbst verfasste Protokoll über die Besprechung, änderte Mauthe seine Aussage etwas: „Ich kann mich mit ziemlicher Bestimmtheit daran erinnern, daß Dr. Lempp in der Besprechung vom 18. Nov. 1942 mit Dr. Hefelmann und v. Hegener dabei war, denn ich habe ihn abseits genommen und gewarnt, das weiß ich ganz bestimmt.“1092 Wahrscheinlich habe er am 21. November erneut mit Lempp gesprochen, nachdem Stähle diesen wohl bereits „kleingekriegt hat, wenigstens im Sinne eines äußeren vorläufigen Nachgebens des Dr. Lempp, welcher wohl sah, daß er im Augenblick nicht anders konnte“1093. Dann erklärte der Arzt noch, wie er auf Lempp Einfluss genommen habe: „Es ist sicher, daß ich dem Dr. Lempp gesagt habe, er solle sehen, wie er aus der Sache herauskomme.“1094 Der in seinem Protokoll erwähnte Dr. Bofinger sei wohl vor allem von Lempp abgelehnt worden, weil Bofinger „das besondere Vertrauen des Dr. Stähle, nicht aber das Vertrauen des Dr. Lempp“1095 besessen habe. Lempp habe Angst gehabt, seinen Einfluss auf die „besondere Abteilung“ zu verlieren.1096 Auch habe sich die Aussage, dass Dr. Schütte besonders zuverlässig sei, sicher nicht auf eine Zuverlässigkeit im Sinne der „Euthanasie“ bezogen, sondern allgemein auf das Vertrauen, das Lempp in seine Oberärztin gehabt habe.1097 Ob die beiden den Besuch in die Reichsschulungsstation Görden gemacht haben, konnte Mauthe nicht angeben. Er sei sich aber sicher, dass Lempp sehr schnell „Gegenminen“ eingeleitet habe. Am Ende schloss der Mediziner die Erörterung über die Frage, ob es eine „Kinderfachabteilung“ in Stuttgart gegeben habe, mit einem finalen Satz: „Im Endergebnis ist absolut sicher, daß in Württemberg keine Kinderfachabteilung eingerichtet worden ist.“1098 Der ärztliche Berichterstatter log und konnte sich sicher sein, dass Dr. Lempp und Dr. Schütte

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Schreiben von Hefelmann an Stähle, 5.12.1942, ebd. Aussage Dr. Mauthe, 17.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/01/04. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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seine Aussage größtenteils bestätigen würden, um sich nicht selbst zu belasten.1099 Und auch Stähle hatte ein Interesse daran, eine Beteiligung abzustreiten, immerhin saß er ebenfalls in Untersuchungshaft. So sagte Lempp in seiner Vernehmung, dass er eine Tötung der Kinder abgelehnt und lediglich einer Untersuchung bestimmter Kinder zugestimmt habe. Dies sei auch die Meinung seiner Oberärztin Schütte gewesen.1100 Die Frage, ob Lempp in der Anstalt Görden gewesen sei, verneinte der Arzt: „Ich war zwar im Winter 1942 bei einem Reichsluftschutzkurs in Berlin, wie angegeben, habe bei diesem Anlass dem Dr. Conti meine Unterredung mit Stähle und meine Stellungnahme mitgeteilt.“1101 Dr. Schütte sei zur selben Zeit in die Reichshauptstadt gefahren. Diese sagte: „Ich selber habe Verwandte in Berlin und habe die Gelegenheit gerne benutzt, nach Berlin zu kommen.“1102 Wenige Tage vor Einmarsch der Alliierten wurden im städtischen Gesundheitsamt Stuttgart Akten verbrannt. Dazu sagte eine Angestellte 1946 aus: „In den folgenden Tagen bemerkte ich, dass im Gesundheitsamt große Mengen von Akten verbrannt wurden. Der Zweck konnte nur der sein, die Akten nicht in die Hände der Feinde fallen zu lassen.“1103 Es habe sich um Schriftstücke, „die die Sterilisierung und dergleichen betrafen“, gehandelt. Die Angestellte des Gesundheitsamts verfasste einen Bericht, in dem sie Lempp als Verantwortlichen für die brennenden Dokumente nannte, weil er Leiter des Gesundheitsamts gewesen sei und übergab das Schreiben der Polizei. Die Mitarbeiterin wurde daraufhin von vielen als Denunziantin bezeichnet.1104 Tatsächlich war Lempp zu seiner Aufgabe als Leiter des Städtischen Kinderheims von 1941 bis zum „Zusammenbruch“ 1945 auch kommissarischer Leiter des Städtischen Gesundheitsamts.1105 Auch die Krankenakten des Städtischen Kinderkrankenhauses in Stuttgart zur Zeit des NS-Regimes wurden Mitte der 1960er Jahre zerstört.1106 Mit Hilfe von noch erhaltenen Totenscheinen und dem „Leichen-Register“ recherchierte Karl-Horst Marquart dennoch zur „Kindereuthanasie“ in Stuttgart. Er konnte 52 Todesfälle von Kindern mit einem „schweren angeborenen Leiden“ zwischen Januar 1943 und April 1945 feststellen, bei denen Krankenakten durch falsche ärztliche Eintragungen, falsche Todesursachen und Diagnosen manipuliert wurden.1107

1099 Karl-Horst Marquart recherchierte zur „Kinderfachabteilung“ in Stuttgart. Er konnte durch seine Arbeit die Ärzte Lempp und Schütte als Täter entlarven. Er beschrieb ausführlich, warum gerade in Stuttgart die Tarnung der „Kinderfachabteilung“ so gut gelang. Zur Biographie Lempps s. Marquarts Beitrag im Sammelband zu den Stuttgarter NS-Tätern in Marquart (2009). Zur „Kinderfachabteilung“ s. Marquart (2011). 1100 Aussage Dr. Lempp, 10.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/06. 1101 Ebd. 1102 Aussage Dr. Magdalena Schütte, 11.3.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/06. 1103 Aussage von Amalie Meissner vom städtischen Gesundheitsamt, 26.9.1946, Personalakte Prof. Dr. Karl Lempp, StdAS Bestand 212/2 Personalamt, Signatur 352. 1104 Ebd. 1105 S. Marquart (2011), S. 149. 1106 Ebd., S. 150. 1107 Ebd., S. 163.

Dr. Otto Mauthe

Die gute Tarnung der Stuttgarter „Kinderfachabteilung“ funktionierte, weil in Stuttgart nur Kinder aus Württemberg aufgenommen wurden, diese Kinder auf verschiedene Abteilungen verlegt wurden (es gab also nicht nur eine „Fachabteilung“) und Lempp als kommissarischer Leiter des Städtischen Gesundheitsamts Stuttgart auch direkt Einfluss auf die dem „Reichsausschuss“ zu meldenden Kinder bekam.1108 Die Frage, ob in Stuttgart eine „Kinderfachabteilung“ existierte, ließ Mauthes Verteidigungssystem häufig wanken. So verstrickte sich der Mediziner in Widersprüche im Fall eines dreijährigen Jungen, der in eine „Kinderfachabteilung“ verlegt werden sollte und nur durch das Eingreifen seiner Mutter überleben konnte.1109 Über den knapp dreijährigen Peter W., der im Kinderheim Waiblingen untergebracht war, ging 1943 eine Meldung an den „Reichsausschuss“ wegen „schwerer Idiotie“. Die Zentrale in Berlin beauftragte daraufhin das Innenministerium Stuttgart mit der Verlegung in eine „Kinderfachabteilung“.1110 Die Leiter des „Reichsausschusses“ ließen den Stuttgarter Ärzten die Wahl, wohin der Junge verlegt werden sollte, in das Städtische Kinderheim Stuttgart oder die „Kinderfachabteilung“ Eichberg. Dr. Mauthe veranlasste am 18. Juli 1944 die Verlegung des Kindes nach Eichberg.1111 Der junge Patient wurde nur deswegen nicht getötet, weil seine Mutter ihn schon am 4. Juni nach Hause geholt hatte.1112 Der Untersuchungsrichter zweifelte, wie auch später die Staatsanwaltschaft, an der Existenz einer „Fachabteilung“ in Stuttgart. Otto Mauthe hatte geleugnet, dass Karl Lempp und seine Oberärztin Schütte Kinder ermordeten. Nun verwunderte es tatsächlich, warum der Mediziner den Jungen nicht nach Stuttgart verlegen lassen wollte, sondern nach Eichberg, wo eine „Kinderfachabteilung“ eingerichtet worden war. So fragte der Untersuchungsrichter Mauthe in seiner Vernehmung, warum er den Jungen nicht in das Städtische Kinderheim nach Stuttgart verlegen ließ, wo, seinen eigenen Angaben nach, keine Kinder getötet worden seien. Darauf erwiderte der Arzt: „Ich habe damals angenommen, daß Dr. Lempp auch mit Euthanasie beauftragt war.“1113 Der Jurist wies den Arzt dann darauf hin, dass er in früheren Aussagen immer vom Gegenteil überzeugt gewesen sei. Dieser entgegnete: „Ich wusste nicht, ob unsere Bemühungen, eine Kinderfachabteilung in Stuttgart nicht zu errichten, Erfolg hatten. Ich musste dies annehmen, weil ja der Reichsausschuss das Städt. Kinderheim aufgeführt hatte.“1114 Zwar sprach der Staatsanwalt Mauthe im Falle von Peter W. von einer Verantwortung für ein Verbrechen frei, „da es sich um keine Tötung des Kindes han-

Ebd., S. 149 u. 163. Ob sie gewarnt wurde, ließ sich anhand der Grafeneck-Akten nicht rekonstruieren. Aussage Otto Mauthe, 18.8.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11. Zum Fall Peter W. s. Anklageschrift, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01 u. Aussage Otto Mauthe, 18.8.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11. 1112 S. Schreiben des Kinderheims Waiblingen an das württembergische Innenministerium, 22.7.1944, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/05/02. 1113 Aussage Dr. Mauthe, 18.8.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11. 1114 Ebd. 1108 1109 1110 1111

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delt“1115, doch zeige der Fall, „in welch bedenkenloser Weise er eine Verlegung in eine Tötungsanstalt anordnete“1116. In ihren Ermittlungen konnte die Staatsanwaltschaft keinen Fall von „Kindereuthanasie“ in Stuttgart feststellen. Auch das Verdachtsmoment im Falle eines Mädchens ließ sich für die Staatsanwaltschaft nicht erhärten. Diese junge Patientin starb am 27. April 1944 im Städtischen Kinderkrankenhaus, nachdem der „Reichsausschuss“ empfohlen hatte, das Kind dort einzuweisen. Marquart beschrieb den Fall in seinem Beitrag zur „Kindereuthanasie“ und machte dabei die Verschleierungstaktik der Berliner Stellen sowie des Innenministeriums in Stuttgart deutlich.1117 Mauthes Beteiligung am Tod des erst einen Monat alten Kindes konnte durch die überlieferten Dokumente nicht festgestellt werden.1118 Auch den 28-jährigen Sohn des Oberstudiendirektors Hermann H. zählten die Ermittler anfangs zu den „Euthanasie“-Opfern im Städtischen Kinderheim. Der Oberstudiendirektor, der mit Stähle bekannt war, brachte dem Leiter der Gesundheitsabteilung im Innenministerium im August 1943 ein prekäres Anliegen vor: Lieber Freund Stähle! Darf ich mich, um unnötige Umwege und unliebsame Weiterungen zu vermeiden, in folgender Sache unmittelbar-persönlich an Dich wenden? Es wird Dir kaum bekannt sein, daß wir einen infolge Fehlens der Schilddrüse von Geburt schwachsinnigen Sohn haben, der jetzt im 28. Lebensjahr steht. Der Fall hat sich nach jahrelangen Bemühungen, abzuhelfen, als unheilbar erwiesen. Wir haben noch 3 gesunde und gut begabte Töchter, die alle glücklich verheiratet sind. Dass der Schwachsinn des Sohnes und Bruders eine sehr große Belastung für die ganze Familie, in erster Linie für meine Frau bedeutet, kannst Du Dir denken. Meine Frau, die sehr an dem Kind hängt und die ungeheure Mühe seiner Betreuung (er muß wie ein Kleinkind ganz versorgt werden) nun 27 Jahre lang freudig auf sich genommen hat, konnte und kann es nicht übers Herz bringen, ihn in eine Anstalt einweisen zu lassen oder – wogegen wir alle weltanschauungsmässig keinerlei Bedenken hätten – ihm die Wohltat der Euthanasie zuteil werden zu lassen. Angesichts der jetzigen Kriegslager [sic!] aber besteht die Gefahr, daß wir beide plötzlich zu Tode kommen und womöglich das schwachsinnige Kind uns überlebt. Der Gedanke an diese Möglichkeit macht meiner Frau große Sorge. Den Töchtern oder Schwiegersöhnen aber die Last aufzubürden, könnten wir nicht verantworten, wie wir es auch für unrecht hielten, ihn der Allgemeinheit zur Last fallen zu lassen. Es muß also die Möglichkeit geschaffen werden, das schwachsinnige Kind nach dem Tode meiner Frau durch einen sanften Tod aus dem Leben zu schaffen. Kannst Du mir hiezu die amtliche Genehmigung

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Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Ebd. S. Marquart (2011), S. 153 ff. Zum Fall Monika B. s. StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/05/01.

Dr. Otto Mauthe

erteilen? – Über den Fall unterrichtet sind nachstehende Ärzte: Dr. Theodor Zahn (als Hausarzt), Ob. Med. Rt. Dr. Lempp, Ob. Med. Rt. Prof. Dr. Schmidt. […] Nimm mir, bitte, die persönliche Belästigung nicht übel, ich weiß mir nicht anders zu helfen und glaube, daß Du Verständnis und die Möglichkeit hast um die nötigen Schritte einzuleiten. Mit herzlichem Dank für Deine Mühewaltung und besten Grüssen Heil Hitler!1119

Der Brief von Hermann H. beweist zum einen, dass Mauthes frühere Aussage, Bürger seien mit der Bitte ins Innenministerium gekommen, ihre Angehörigen der „Euthanasie“ zuzuführen, stimmte. Zum anderen waren die Patiententötungen im „Dritten Reich“ bekannt, wurden innerhalb einiger Familien diskutiert, und stellten „weltanschauungsmässig“ für diese auch nicht immer ein Problem dar. Offiziell konnte Stähle einer solchen Bitte allerdings nicht nachkommen, immerhin war die „Euthanasie“ eine „Geheime Reichssache“. Er empfahl, den jungen Mann in das Städtische Kinderheim Stuttgart einzuweisen.1120 Wird nun vorausgesetzt, dass dort Patienten ermordet wurden, wird klar, dass Stähles ablehnende Haltung zum Schreiben des Oberstudienrates nur Tarnzwecken diente. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ergaben allerdings, dass der Sohn des Lehrers nicht im Städtischen Kinderheim ermordet wurde, sondern im Juli 1944 bei den Fliegerangriffen auf Stuttgart ums Leben gekommen war. Die Eltern hatten ihn wegen seiner Gebrechlichkeit nicht mit in den Luftschutzkeller nehmen können.1121 Die Staatsanwaltschaft ermittelte 93 Todesfälle von Kindern aus Württemberg, die mit „Kindereuthanasie“ in Verbindung gebracht werden konnten.1122 Mauthe selbst hatte in seiner Vernehmung von fünfzehn bis zwanzig Verlegungen von Kindern aus Württemberg gesprochen, die vom „Reichsausschuss“ beschlossen worden waren.1123 Laut der Zeugenaussage von Liselotte Staiger, die ab Oktober 1939 in der Geheimregistratur des württembergischen Innenministeriums arbeitete1124 und dort Abschriften von „Geheimsachen“ verfasste, wurden in Württemberg über 50 Kinder verlegt.1125 Staiger konnte sich noch an den Briefkopf des „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ erinnern und ahnte auch, dass die durch den „Ausschuss“ verlegten Kinder getötet werden sollten. Welche Rolle spielte Dr. Mauthe bei der Verbringung der Kinder in die „Fachabteilungen“? „Die Bearbeitung der Kinderverlegungen erfolgte vorwiegend durch Dr. Mauthe unter 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125

Schreiben von Dr. Hermann H. an Stähle, 20.8.1943, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/05/01. Schreiben Stähle an das Städt. Gesundheitsamt, 21.8.1943, ebd. Informationsdienst des Polizeipräsidiums Stuttgart an Dr. Gilsdorf, ebd. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Aussage Dr. Mauthe, 21.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/01/04. Aussage Liselotte Staiger, 13.4.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02a/04. Ebd.

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Mitzeichnung von Dr. Stähle, nicht etwa umgekehrt“1126, so die Zeugin vor Gericht. In Fällen, in denen die Nachforschungen der Staatsanwaltschaft eine direkte Beteiligung Mauthes vermuten ließen, befragte sie den Angeklagten. So fanden sich in Akten, die nach Einmarsch der Alliierten nicht vernichtet wurden, vier Fälle von „Kindereuthanasie“, an denen der Mediziner nachweislich beteiligt war. Das Mädchen Lore F. wurde mit einem Erlass vom 5.  Juni 1943, den Otto Mauthe entworfen, Eugen Stähle aber unterschrieben hatte, von Weinsberg in die „Kinderfachabteilung“ Ansbach verlegt.1127 Das Mädchen war im Juli 1935 geboren worden und im Alter von ungefähr neun Monaten an einer Hirnhautentzündung erkrankt. Die Familie hatte das Mädchen 1938 in eine Pflegeanstalt nach Schwäbisch Hall gebracht. 1940 wurde Lore F. nach Weinsberg verlegt.1128 Der Vater hegte lange Zeit die Hoffnung, dass man das Mädchen in Weinsberg töten würde, um „es von seinem Leiden zu erlösen“1129. Er selbst konnte sich nicht weiter um seine Tochter kümmern, da er vier gesunde Kinder hatte, um die er sich sorgen musste und den Gesundheitszustand seiner Frau gefährdet sah.1130 Der Anstaltsarzt in Weinsberg, Dr. Fehr, erinnerte sich an die kleine Patientin: „Im Falle des Kindes Lore F. haben meiner Erinnerung nach die Eltern die Tötung des Kindes gewünscht.“1131 In Weinsberg wollte diesem Wunsch allerdings niemand nachkommen. So schrieb der Vater der Patientin im April 1943 an den Kreisleiter Kölle in Ellwangen, den er auf der Gauschulungsburg Kapfenburg getroffen und mit dem er bereits über seinen Wunsch gesprochen hatte: Ich glaubte u. hoffte immer man würde dort [in Weinsberg, Anmerkung der Verfasserin] dem Kinde helfen u. es von seinem Leiden erlösen, aber leider bisher vergebens. […] Es wäre mir wie auch meiner Frau der Wunsch, dem Kinde das schwere Leiden zu nehmen u. es von seinen Schmerzen doch zu erlösen u. beglaubige ich dies mit Unterschrift […].1132

Beide Eheleute unterzeichneten den Brief. Kölle schickte das Schreiben von Felix F. an die NSDAP-Gauleitung, Amt für Volksgesundheit. Es erreichte Stähle, welcher einen Befundbericht über den Gesundheitszustand des Mädchens aus Weinsberg forderte und schon erkannte, dass die „Angelegenheit dem Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ zu unterbreiten war.1133 Am 30. April schickte der Leiter der Heilanstalt Weinsberg, Dr. Joos, seine Beurteilung nach Stuttgart.1134 Er beschrieb das Mädchen als „tiefen Verblödungszustand

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Ebd. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Brief von Felix F. an den Kreisleiter Kölle, 13.4.1943, StAS Wü 29/3 T1 Nr. 1757/03/01. Ebd. Ebd. Aussage Dr. Heinrich Fehr, 24.3.1948, ebd. Brief von Felix F. an den Kreisleiter Kölle, 13.4.1943, ebd. Schreiben an Weinsberg, 27.4.1943, ebd. Schreiben Dr. Joos an das Innenministerium Stuttgart, 30.4.1943, ebd.

Dr. Otto Mauthe

mit ungewöhnlich schweren, körperlichen Begleiterscheinungen als Folgen eines inneren Hydrocephalus, der wahrscheinlich auf frühkindliche Meningitis zurückzuführen ist“1135. Joos fügte dann hinzu: „Es ist kaum anzunehmen, dass es viel von seinem Zustand empfindet.“1136 Mauthe schickte den Befund zusammen mit dem Schreiben des Vaters vom April 1943 an den „Reichsausschuss“. Am 28. Mai folgte der Vorschlag aus Berlin, Lore F. von Weinsberg in die „Kinderfachabteilungen“ nach Eichberg oder Ansbach zu verlegen, denn „bei beiden Stellen könnte alsdann gegebenenfalls eine Behandlung erfolgen“1137. Am 8. Juli wurde das Mädchen nach Ansbach verlegt.1138 Zum Fall des Kindes äußerte sich Mauthe in einer Vernehmung: Erst aufgrund des eingegangenen Befundberichts wurde ich mit der Sache befaßt und auf die vorangegangene Anordnung von Dr. Stähle ein Bericht an den Reichsausschuss entworfen. Die vom 28.5.1943 datierte Verlegungsanordnung des Reichsausschusses habe ich ebenfalls auf Weisung von Stähle bearbeitet.1139

Der ärztliche Berichterstatter habe also nur die Anweisungen seines Vorgesetzten erfüllt und sei erst spät in die Vorgänge verwickelt gewesen. Die junge Patientin starb am 11. August 1943. Als Todesursache hatten die Ansbacher Ärzte eine Masern-Infektion und eine Lungenentzündung angegeben.1140 Einen zweiten Fall warf die Staatsanwaltschaft Otto Mauthe in der Anklageschrift vor. Das Gesundheitsamt Stuttgart meldete den Jungen Oswald K. am 15. März 1943 an den „Reichsausschuss“.1141 Dieser empfahl, den jungen Patienten nach Eichberg zu verlegen. Die Eltern des Kindes hatten es allerdings schon in die Anstalt Heggbach gebracht.1142 Der „Reichsausschuss“ bat Stähle deswegen am 11. Mai um eine „unauffällige“1143 Verlegung nach Eichberg. Mauthe kümmerte sich um die Deportation und verlangte am 17. Mai 1943 die Krankenakten des Jungen, die im Gesundheitsamt Stuttgart lagen.1144 Den eigentlichen Verlegungserlass entwarf der ärztliche Berichterstatter, ließ ihn allerdings von seinem Vorgesetzten zeichnen.1145 Am 17.  August 1943 wurde Oswald K. nach Eichberg verlegt. Die erfolgreiche Deportation meldete Mauthe dem „Reichsausschuss“.1146 Der Junge starb am 27. September 1943 in Eichberg.1147

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Ebd. Ebd. Schreiben des „Reichsausschuss“ an Stähle, 28.5.1943, ebd. Schreiben Dr. Joos and das württembergische Innenministerium, 13.8.1943, ebd. Aussage Dr. Mauthe, 17.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Schreiben des „Reichsausschuss“ an Stähle, 11.5.1943, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/04. Aussage Gotthold K., 15.6.1948, ebd. Schreiben „Reichsausschuss“ an Stähle, 11.5.1943, ebd. Schreiben Dr. Mauthe an das Gesundheitsamt Stuttgart, 17.5.1943, ebd. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Ebd. Ebd.

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Eine Mittäterschaft am Tod des 24-jährigen Erich R. warf die Anklage Otto Mauthe ebenfalls vor. Die Geschichte des jungen Mannes schilderte seine Mutter bei ihrer Aussage vor der Landespolizei Tübingen 1948: Mein Sohn Erich ist […] 1919 in Stuttgart geboren. Er hatte von Geburt an schwere körperliche Fehler. Das Kind war mißgebildet. […] Er konnte nur wenige Worte sprechen. Seine Worte ließen jedoch darauf schließen, daß er geistig normal war, sich jedoch von Dingen, die er noch nicht gesehen hatte, keinen Begriff machen konnte.1148

Frau R. vermutete, dass das Städtische Gesundheitsamt Stuttgart auf ihren Sohn aufmerksam geworden sei, da er wegen seiner körperlichen Schwäche nicht geimpft werden konnte.1149 Sie sei dorthin eingeladen worden und man habe sie gefragt, ob sie ihren Sohn nicht einige Zeit in eine Anstalt geben wolle, wo man ihn beobachten könne. Frau R. stimmte zu, da sie sich um ihre gelähmte Mutter habe kümmern müssen und „wegen der Pflege derselben sehr in Anspruch genommen [sei]“1150. Danach sei alles sehr schnell gegangen, erklärte Julie R. in ihrer Vernehmung: Einige Zeit später wurde mein Sohn in meiner Begleitung und in Begleitung von 2 Krankenschwestern in das Kinderheim Eichberg bei Eltville am Rhein gebracht. Die Reise wurde größtenteils mit der Reichsbahn durchgeführt. Anschließend wurden wir von einem Sanitätsauto abgeholt und in das betr. Kinderheim geführt. […] Nachher durfte ich mich von meinem Sohn nicht verabschieden. Es wurde mir gesagt, er befinde sich bereits bei den anderen Kindern. […] Nach einigen Tagen bekam ich von dort die Nachricht, daß mein Sohn am Tage nach der Einlieferung gestorben sei.1151

Erichs Mutter hatte bei ihrem Besuch im Gesundheitsamt mit Frau Dr. Hedwig Eyrich gesprochen, die zu dieser Zeit notdienstverpflichtet dort arbeitete. Sie war es, die am 21. Juli 1943 einen Meldebogen über den jungen Mann an Otto Mauthe schickte: „In der Anlage übermittle ich einen Meldebogen mit der Bitte um Weiterbehandlung. Die Mutter ist mit einer Anstaltsunterbringung einverstanden.“1152 Wie bereits erwähnt, gab Hedwig Eyrich später an, erst 1945 von der Existenz von „Kinderfachabteilungen“ erfahren zu haben.1153 Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage wurde bereits an anderer Stelle erörtert. Otto Mauthe jedenfalls meldete Erich R. dem „Reichsausschuss“, obwohl der junge Mann mit seinen 24 Jahren für das „Verfahren“ eigentlich zu alt war.1154 Auf Nachfrage des Gerichts konnte der Mediziner nicht mehr angeben, warum er ihn gemeldet hatte: „Dr. Stähle war zwar damals in Urlaub, ich konnte aber trotzdem die 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154

Aussage Julie R., 19.7.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/03. Ebd. Ebd. Ebd. Schreiben von Hedwig Eyrich an Mauthe, 21.7.1943, ebd. Aussage Hedwig Eyrich, 23.7.1948, ebd. S. Schreiben Dr. Hegener an Mauthe, 2.9.1943, ebd.

Dr. Otto Mauthe

Vorlegung des Meldebogens an den Reichsausschuss nicht umgehen, weil Dr. Stähle nach Rückkehr aus dem Urlaub wie üblich kontrolliert hat.“1155 Der „Reichsausschuss“ teilte dem ärztlichen Berichterstatter auf die Meldung im September 1943 mit, dass der junge Mann für die Unterbringung in einer „Kinderfachabteilung“ zu alt sei. Mauthe solle sich „direkt mit dem Leiter einer günstig gelegenen Heil- und Pflegeanstalt […] in Verbindung […] setzen“1156. Dieser leitete die Anweisung des „Reichsausschusses“ an das Gesundheitsamt Stuttgart (Frau Dr. Eyrich) weiter, von wo dann die Verlegung von Erich R. organisiert wurde. Der junge Mann wurde nach Eichberg gebracht, wo er einen Tag nach seiner Einlieferung starb.1157 Die Beteiligung Otto Mauthes an der Verlegung des Patienten ließ sich durch Dokumente belegen. Umso schwieriger entwickelte sich für den Arzt seine Verteidigung. Er gab zwar zu, dass er mit der Anweisung auf Verlegung des Patienten dessen Tod organisiert hatte, „aber damals drohte schon wieder die allgemeine Euthanasie, ich musste mich auch hier wieder verhalten, wie ein Offizier im feindlichen Generalstab und sehen, daß ich nicht in Verdacht komme“1158. Außerdem hatte er geglaubt, dass die Bemerkung von Frau Dr. Eyrich, dass die Mutter mit Anstaltsunterbringung einverstanden sei, eben bedeutete, dass sie den Tod des Jungen wünsche.1159 Im Fall Margarethe M., die wegen einer Hirnhautentzündung als bildungsunfähig galt, sorgte Otto Mauthe auf Empfehlung des „Reichsausschusses“ für die Verlegung des Mädchens durch das Gesundheitsamt Ludwigsburg in die „Kinderfachabteilung“ Eichberg. Die Mutter des Mädchens musste es am 5. Juni 1943 aus der Anstalt Heggbach abholen und nach Eichberg bringen.1160 Sie hätte ihr Kind gerne in der Anstalt Heggbach gelassen, so die Mutter vor Gericht, weil es ihrer Tochter dort „bestimmt gut gegangen [sei]“1161. Auch nach Heggbach hatte Frau M. ihre Tochter nicht freiwillig gebracht. Auf Anraten des Gesundheitsamts Ludwigsburg sollte sie ihre Tochter vom Landesjugendarzt in Stuttgart untersuchen lassen. „Die Ärztin1162, die das Kind dort untersuchte, […] sagte zu mir, dass das Kind unbedingt in eine Anstalt verbracht werden müsste“1163, gab Frau M. in ihrer Vernehmung an. Kurze Zeit später habe sie ein Schreiben des Gesundheitsamt Ludwigsburg erhalten, in dem ihr mitgeteilt worden sei, sie solle ihr Kind in die Anstalt Heggbach bringen. Sie habe damals den Eindruck gehabt, keine Wahl zu haben, so die Zeugin vor Gericht. Als Margarethe im März 1943

Aussage Dr. Mauthe, 18.8.1948, StAS Wü 29/3 T1 Nr. 1754/01/11. Schreiben des „Reichsausschuss“ an Dr. Mauthe, 2.9.1943, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/03. Zu den Akten Erich R. s. StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1747/03/03. Aussage Dr. Mauthe, 18.8.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11. Ebd. S. Schreiben der Anstalt Heggbach an das Städt. Sozialamt Ludwigsburg, 18.6.1943, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/04. 1161 Aussage Babette M., 3.7.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/04. 1162 Möglicherweise meinte Frau M. eine von Eyrich angestellte Fürsorgerin. 1163 Aussage Babette M., 3.7.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/04. 1155 1156 1157 1158 1159 1160

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in die Anstalt Heggbach gebracht worden war, war sie acht Jahre alt.1164 Im Mai desselben Jahres wurde die Mutter vom Sozialamt Ludwigsburg aufgefordert, ihre Tochter nach Eichberg zu bringen.1165 „Nach etwa 14 Tagen erhielt ich von der Anstalt Eichberg die Mitteilung, dass an meinem Kind Heilungsversuche unternommen werden“1166, so die Zeugin. Vier Wochen später starb ihre Tochter.1167 Otto Mauthe hatte den Erlass des „Reichsausschusses“ vom 17. April 1943, in dem die „Beobachtung – und gegebenenfalls auch Behandlung“ des Mädchens in der Anstalt Eichberg angeordnet wurde, bearbeitet.1168 Dazu gab er an: Der Erlaß ist von mir bearbeitet worden. Ich schrieb absichtlich nicht direkt nach Heggbach, wo das Kind sich befand, sondern an das Gesundheitsamt Ludwigsburg. Ich wollte dadurch Dr. Dierolf, den ich als Euthanasiegegner kannte, Gelegenheit bieten, einen Ausweg zu finden. […] Der Umweg über das Gesundheitsamt war ja ein verwaltungsmäßiger Unsinn.1169

Im Gesundheitsamt Ludwigsburg arbeitete neben dem von Mauthe erwähnten Dr. Dierolf Mauthes guter Bekannter Dr. Scherb. Diesem habe er sicher auch von der Sache erzählt, so Mauthe.1170 Dr. Scherb bestätigte Mauthe dann später, dass er unter seiner Verwicklung in die „Aktion“ gelitten habe. Die Behauptung des Mediziners, der Weg über das Gesundheitsamt sei Zeichen seiner Bemühung gewesen, die Angelegenheit zu verzögern, entlarvte schon der Untersuchungsrichter als schwachen Verteidigungsversuch. Es war üblich, dass der „Reichsausschuss“ Verlegungen über Gesundheitsämter organisieren ließ.1171 Die Anklageschrift beschrieb die Beteiligung des ärztlichen Berichterstatters an der Ermordung weiterer Kinder. Der Arzt verlangte von Anstalten, in denen geistig und körperlich behinderte Kinder untergebracht waren, Befundberichte, welche er im April 1944 an den „Reichsausschuss“ weiterleitete.1172 Der Untersuchungsrichter fragte ihn, „ob er diese Berichte nicht etwas abbiegen habe können […]“1173. Das hätten die Anstalten sicher schon getan, so Mauthe. Im Übrigen habe er immer versucht, „die Sache“ zu verzögern.1174 Auf Grund dieser Berichte wurden mehrere Kinder in die Anstalt Kalmenhof verlegt, die auch eine „Kinderfachabteilung“ besaß.1175 S. Naeve (1998), S. 124. Aussage von Babette M., 3.7.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/04. Ebd. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Schreiben des „Reichsausschuss“ an das Ministerium des Inneren in Stuttgart, 17.4.1943, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/04. 1169 Aussage Dr. Mauthe, 17.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11. 1170 Ebd. 1171 Zum Schriftverkehr betreffend Margarethe M. s. StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1757/03/04. 1172 Protokoll Mauthe, 18.8.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11. 1173 Ebd. 1174 Ebd. 1175 Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. 1164 1165 1166 1167 1168

Dr. Otto Mauthe

Am Ende wurde Mauthe vom Untersuchungsrichter darauf hingewiesen, dass 70 bis 80  Kinder über den „Reichsausschuss“ und die Gesundheitsämter in „Kinderfachabteilungen“ verlegt und dort getötet worden waren. Der Mediziner antwortete, dass er das alles nicht gewusst habe. „Ich habe angenommen, daß alle Verlegungen in Kinderfachabteilungen über das Innenministerium laufen“1176, so der Mediziner. Dabei hätte Mauthe als Beamter des Innenministeriums, von dem aus per Erlass die Forderung einer turnusmäßigen Anzeige über alle erfolgten Meldungen von Kindern an den „Reichsausschuss“ angeordnet worden war, einen sehr guten Überblick über die mögliche Opferzahl haben müssen. Am Ende schloss die Anklageschrift mit einer Beurteilung Mauthes: Aus all dem ergibt sich, dass Dr. Mauthe nicht gegen, sondern für die Euthanasie eingestellt war, wenn auch in einer gemässigten Form und nicht in der krassen Weise, wie die Aktion dann tatsächlich von Berlin aus verlangt wurde, weshalb er bestrebt war, die schlimmsten Auswüchse zu verhüten, zumal nachdem diese Geschehnisse in die Öffentlichkeit gedrungen waren und dort weitgehende Ablehnung fanden. Bei dieser positiven Einstellung war wohl mitbestimmend der Einfluss seines Vorgesetzten Dr. Stähle, eines entschlossenen Vertreters der Euthanasie nazistischer Prägung, umso mehr als sich ihm das sich Unterordnen und sich nach oben Fügen eigen war. Mitbestimmend war wohl weiter der Lauf der Dinge, von denen er sich aus Mangel an Aktivität und persönlichem Mut treiben liess. Das aber ändert nichts daran, dass seine massgebliche Mitwirkung bei Verwirklichung der nazistischen Euthanasie in Württemberg auf seiner freiwilligen, persönlichen Entscheidung beruhte und dass er dabei keinesfalls in Form einer getarnten Rettungsaktion als „Offizier im feindlichen Generalstab“ handelte. Es sind auch keinerlei Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass er dabei unter dem Druck der Gefahr für Leib oder Leben seitens Dr. Stähles oder Berliner Stellen gehandelt hätte.1177

Die Anklage beschränkte sich auf Mauthes Beteiligung an den „Euthanasieverbrechen“ in Württemberg. Zu seiner Mitwirkung bei der Entziehung des Doktortitels eines ärztlichen Kollegen wurde der Beamte zwar in der Voruntersuchung befragt, eine weitere strafrechtliche Verfolgung ergab sich daraus für Mauthe allerdings nicht.1178 1179

Aussage Dr. Mauthe, 18.8.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11. Anklageschrift im Grafeneck-Prozess, 4.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/01. Helmut Beil erhielt am 12.2.1931 seine Approbationsurkunde und arbeitete ab Juni 1937 als praktischer Arzt. Am 11. Januar 1939 entzog das Innenministerium Stuttgart ihm die Approbation, weil er bei der Volksabstimmung am 10.4.1938 gegen den Anschluss Österreichs gestimmt hatte. Nachdem er ein an das Innenministerium gerichtetes Schreiben, in dem er um eine Überprüfung seines Falls bat, mit „Dr. med.“ unterschrieb, veranlasste Otto Mauthe eine Aberkennung von Beils Doktortitel durch die Universität Tübingen. S. StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/08. 1179 Zum Verfahren der Universität Tübingen bei der Entziehung von Doktortiteln sei auf den Beitrag von Johannes Michael Wischnath im Sammelband über die Tübinger Universität im Nationalsozialismus 1176 1177 1178

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Vier Ärzte als Täter des Krankenmords

4.4.2

Otto Mauthe im Rittersaal

Am 8. Juni 1949 begann für Otto Mauthe der erste Prozesstag. Er zeigte sich während der Verhandlungstage als aufmerksamer und pflichtbewusster Angeklagter, der sich Notizen von den Aussagen der Zeugen machte und ihnen häufig Fragen stellte, „geradezu Suggestivfragen“.1180 Der vorsitzende Richter musste ihn deswegen häufiger zurückhalten.1181 In der Verhandlung wiederholte der Arzt vieles, was er bereits in der Voruntersuchung geschildert hatte. Er sagte aus, dass er die Verlegungen anfangs nicht mit der „Euthanasie“ in Verbindung gebracht habe, sondern davon ausgegangen sei, dass die Anstalten zur Einrichtung von Lazaretten geräumt werden mussten.1182 Dabei hinterließ er bei den Prozessteilnehmern keinen günstigen Eindruck: „Die Vernehmung brachte wenig sympathische Wesenszüge des Angeklagten an den Tag. Seinen Vorgesetzten, den in der Untersuchungshaft gestorbenen ehemaligen Ministerialrat Dr. Stähle belastete er über Gebühr, um seine Mitverantwortung abzuschwächen.“1183 Der Journalist zeichnete von Mauthe das Bild eines Bilderbuch-Bürokraten, bei dem selbst die Versuche, Patienten zu retten „überwiegend den Stempel der bürokratischen Entscheidung“1184 getragen hätten. Früher, so der Journalist, habe es vielleicht ein ärztliches Gewissen bei Otto Mauthe gegeben, später habe er dieses dann allerdings unter Papier, Vorschriften und der Schweigeverpflichtung begraben. Mauthe behauptete, dass er absichtlich Informationen über die „Euthanasie“ in die Schweiz gebracht habe. Am vierten Verhandlungstag, dem 11. Juni 1949, endete die Vernehmung des Hauptangeklagten mit Fragen zur „Kindereuthanasie“. Er wies darauf hin, dass viele Eltern den Tod ihrer Kinder gewünscht hätten, er selbst sei aber immer dagegen gewesen.1185 Um dem Gericht zu beweisen, dass die „Euthanasie“ ein viel diskutiertes Thema gewesen sei, machte Mauthes Rechtsanwalt auf internationale „Euthanasie“-Bewegungen aufmerksam.1186 Während die Staatsanwaltschaft betonte, dass die Gegenwehr des Mediziners nicht ausreichend gewesen sei, wiesen die Rechtsanwälte von Stegmann und Fauser darauf hin, dass dieser ihre Mandanten nicht darüber aufgeklärt habe, dass sie arbeitsfähige Kranke zurückhalten könnten. Um einen Eindruck des Ablaufs der Tötungen zu bekommen, musste Mauthe seinen Besuch in Grafeneck schildern. Und so beschrieb Mauthe die Gaskammer und das mulmige Gefühl, das ihn bei ihrem Betreten beschlichen habe. Dann erläuterte er, wie er an das kleine Fenster getreten

verwiesen. S. Wischnath (2010). 1180 Schwäbisches Tagblatt, 22.6.1949, Nr. 73, S. 4. 1181 Ebd. 1182 Schwäbische Zeitung, 9.6.1949. 1183 Ebd., 11.6.1949. 1184 Ebd. 1185 Ebd., 14.6.1949, S. 6. 1186 Schwäbisches Tagblatt, 13.6.1949, Nr. 69, S. 6. Wahrscheinlich spielte Mauthes Anwalt auf Artikel im „Readers Digest“ an.

Dr. Otto Mauthe

sei, von dem aus man ins Innere der Kammer sehen konnte, aber selbst nicht durchgeschaut habe.1187 „Was dann geschah?“1188, fragte ihn der Vorsitzende. Er habe dann im Schloss zu Mittag gegessen und danach der Leichenverbrennung beigewohnt.1189 Der Angeschuldigte musste sich auch zum „Sperrerlass“ äußern. Er betonte, er habe das strikte Entlassverbot dahingehend abgeschwächt, dass er daraus eine Genehmigungspflicht gemacht habe.1190 Der Richter konnte ihm aber einige Fälle vorstellen, in denen er der Entlassung der Patienten nicht zustimmte.1191 Im Rittersaal betonte Mauthe immer wieder seine Eigenschaft als Beamter, die mit Pflichterfüllung einhergehe.1192 Der ehemalige Landesjugendarzt Eyrich, dessen Vernehmung nach Abschluss der Aussagen Mauthes am 13. Juni 1949 begann, erklärte, er habe den Eindruck gehabt, „dass diesem die ganze Sache zu schaffen mache“1193. Auf Grund von Eyrichs Aussage beschloss das Gericht am Ende des fünften Verhandlungstages, noch mehr Zeugen zu hören, die über den Charakter des Hauptangeklagten Auskunft geben konnten. Dieser Beschluss führte dazu, dass ein Rechtsanwalt daran erinnerte, dass es in einer Gerichtsverhandlung nicht um moralische, sondern allein um rechtliche Schuld gehe. Diese Aussage empörte einen Zuschauer, der dann „wegen eines Zwischenrufes zur Ordnung gemahnt werden [musste]“1194. Die geladenen Zeugen, die Angaben zu Mauthes Charakter machen sollten, bescheinigten ihm, nicht unbeliebt gewesen zu sein. „Ein Zeuge erklärte dazu, daß Mauthe immer im Dienst gewesen sei“1195, so schrieb der Redakteur der Schwäbischen Zeitung. Das Verhältnis zwischen dem ärztlichen Berichterstatter und seinem Vorgesetzten wurde als nicht sehr gut beschrieben. Der Zeuge Ministerialrat a. D. Meier vertrat die Meinung, „dass Mauthe dem Euthanasie-Programm gegenüber erhebliche Bedenken gehabt hätte“1196. Irgendwie hineingeraten sei der ärztliche Berichterstatter in die „Euthanasie“, so ein Angestellter des Ministeriums, und zwar in dem Moment, „in dem Mauthe die Anweisung zur Durchführung des Euthanasie-Programms […] als ‚geheime Reichssache‘ empfangen und geöffnet hatte“.1197 Auch Mitarbeiter der Anstalten wurden gefragt, wie sie den ärztlichen Berichterstatter erlebten. Dabei schienen die Eindrücke unterschiedlich gewesen zu sein. Von Dr.  Wrede, Leiter der Anstalt Rottenmünster, wurde Mauthe entlastet. Ludwig Schlaich hingegen, Leiter der Heil-

1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197

Die Neue Zeitung, 18.6.1949, S. 2. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Stuttgarter Nachrichten, 23.6.1949, Nr. 110, S. 3. Schwäbische Zeitung, 14.6.1949. Ebd. Ebd., 18.6.1949. Ebd. Ebd.

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und Pflegeanstalt in Stetten, machte vor allem den ärztlichen Berichterstatter für die dortigen Vorkommnisse verantwortlich. Diese Angabe war für den Hauptangeklagten schwer nachvollziehbar und so fragte er Schlaich, ob dieser sich nicht mehr an seinen Rettungsversuch erinnere. „Der Zeuge bejahte, behauptete aber, in Berlin eher als in Stuttgart Bereitwilligkeit zur Hilfe gefunden zu haben“1198, so der Redakteur der Schwäbischen Zeitung. Immer wieder, so beschrieb ein Journalist Mauthes Verhalten, „schüttelt[e] er entrüstet den Kopf, dann nickt[e] er mit Zustimmung, wenn das Verbrechen der Euthanasie angeprangert“1199 wurde. Einige Tage vor der Urteilsverkündung erschien auch ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung. Im Bericht wurde Mauthe als „ängstlicher, weicher Mensch“ beschrieben, der „sorgsam auf seine und seiner Familie Sicherheit bedacht“ gewesen sei.1200 Und weiter: Gewiß wäre er mit dem Gesetz und seinem Gewissen niemals in Konflikt geraten, wenn nicht eines Tages Dr.  Stähle zu ihm gekommen wäre, ihn mit dem „Führerbefehl“ vertraut gemacht und ihm die absolute Schweigepflicht schriftlich abverlangt hätte. Da war er plötzlich „hineingeschlittert“. Sollte er mit der Faust auf den Tisch schlagen und sagen: „Lassen Sie mich aus dem Spiel, ich mache diese Schweinerei nicht mit. Ich stelle meinen Posten (den ach so sicheren Posten) zur Verfügung?“ – Nein – das lag ihm nicht. Er spielte lieber – um seine eigenen Worte zu gebrauchen – den „Offizier im feindlichen Generalstab.“ Eine peinliche Rolle für einen Mann mit schwachen Nerven. Mauthe zog sich dabei eine schwere angina pectoris zu – heute ist er ein gebrochener Mensch. Stähle hielt ihn niemals für einen Gegner der Aktion – im Gegenteil. Gewiß – er rettete viele, aber lieferte wesentlich mehr ans Messer.1201

„Natürlich fühlt sich Mauthe unschuldig“, so der Redakteur weiter. In einer Verhandlungspause begleitete er den Angeklagten nach draußen in den Schlosshof, wo Mauthe gesagt haben soll: Oh, diese Ungerechtigkeiten, diese Verdrehungen des Staatsanwaltes […]. Ich habe gerettet, wen ich retten konnte. Das unendliche Leid, das man heute meiner Familie zufügt, ist ebenso ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie die Euthanasie, deren schärfster Gegner ich war, verstehst Du? […] Ich bin nicht mehr Herr meiner selbst, verstehst Du? – Ich spritze Opium […]. Ich muß Sie anbetteln: können Sie mir eine Zigarette schenken.1202

Am 28. Juni 1949 forderte die Staatsanwaltschaft eine Zuchthausstrafe von acht Jahren mit fünf Jahren Ehrverlust für Otto Mauthe.1203 Mauthes Anwalt wandte sich gegen

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Ebd., 22.6.1949. Süddeutsche Zeitung, 1949, Nr. 77, Spruchkammerakten Martha Fauser, StAS Wü 13 T 2 Nr. 1424/011. Ebd. Ebd. Ebd. Prozessablauf, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/01/14.

Dr. Otto Mauthe

den Oberstaatsanwalt, der behauptet hatte, er habe nichts zur Verteidigung des Arztes beitragen können. Der Rechtsanwalt forderte Freispruch für seinen Mandanten. Der Oberstaatsanwalt unterbrach Mauthes rechtlichen Beistand bei dessen Plädoyer mit den Worten: „Reden Sie doch nicht wieder denselben Stuß.“1204 In seinem Schlusswort plädierte der Hauptangeklagte Otto Mauthe auf Freispruch.1205 Einen Tag vor der Urteilsverkündung erschien Mostars Beitrag über den Grafeneck-Prozess in der Stuttgarter Zeitung. Er erzählte vom Besuch des Anstaltsarztes Gmelin im württembergischen Innenministerium und beschrieb die Reaktion Mauthes auf die Ansprache des Anstaltsarztes: Und während Mauthe nach dieser Aussprache nach Hause schwankt und, wie so oft, vor seiner Frau weinend zusammenbricht: er halte das nicht mehr aus, nicht die Wahrheit, die er den protestierenden Ärzten, nicht die Lügen, die er den um das Schicksal der Ihren bangenden Angehörigen erzählen muß, nicht das Mitmachen dieser Dinge, die ihm als frommem Katholiken ein Gräuel und als ehemaligem Zentrumsführer ein politischer Wahnsinn sind – und es am nächsten Morgen doch wieder aushält, aushalten muß, wie er glaubt, weil sonst er, seine Frau, seine Kinder des Todes sein würden […].1206

Das Plädoyer und den Antrag der Staatsanwaltschaft wollte Mostar in seinem Bericht für die Stuttgarter Zeitung nicht kritisieren, sondern eher die Frage an den Hauptangeklagten stellen, „ob sich jemand als gläubiger Katholik bezeichnen und dennoch an führender Stelle bei Massenvernichtungsaktionen mitmachen darf […]“1207. Mauthe hatte im Plädoyer angegeben, er habe „auf beiden Schultern Wasser getragen“. Die eine Schulter habe „das Wasser der Tarnung und der Angst“, die andere „das Wasser der Menschlichkeit“ gestemmt.1208 Darauf ging der Staatsanwalt nicht ein und zitierte dabei die Bibel: „Du kannst nicht Gott dienen und dem Teufel!“1209 4.4.3

Ursachen der Tatbeteiligung

Für Mauthe, mehr als für die anderen drei angeklagten Ärzte, stellt sich die Frage, warum er bei den Krankentötungen mitmachte. Fast alle zur Sache befragten Zeugen bescheinigten dem Arzt, kein Nationalsozialist gewesen zu sein, er besuchte sogar Treffen von Regime-Gegnern. Selbst sein Vorgesetzter war sich bewusst, dass der ärztliche Berichterstatter kein überzeugter Nationalsozialist war. Und doch betei-

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Schwäbische Zeitung, 2.7.1949, S. 10. Ebd. S. Mostar (1950), S. 119. Ebd., S. 129. Ebd. Ebd.

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ligte er sich an den Tötungen, unterschrieb Transportlisten, verfasste Erlasse, organisierte die Verlegung von Kindern in „Kinderfachabteilungen“. Vielleicht brachte es ein Journalist mit der Feststellung, Mauthe habe seine ärztliche Ethik unter Papier begraben, besser auf den Punkt. Tatsächlich war der Medizinalrat spätestens mit seinem Wechsel ans württembergische Innenministerium mehr Beamter als Arzt. Und diese Eigenschaft als Amtsträger spielt wohl eine wichtige Rolle bei der Suche nach Motiven des Täters Otto Mauthe. Hinzu kommen Aspekte einer generationellen Prägung und Charaktereigenschaften, die ihn zum Mitmachen anfälliger machten. Seine Tätigkeit im Innenministerium in Stuttgart bedingte, dass der Arzt nur noch selten Patientenkontakt hatte. Als Staatsdiener erledigte er Verwaltungsangelegenheiten, die fernab jeder klinischen Medizin lagen. Diese Arbeit am Schreibtisch erleichterte Otto Mauthe sicher die Abwicklung der Tötungen und sorgte für eine gewisse Zeit auch für die nötige Anonymität – Ansprechpartner für Angehörige waren zuerst die Anstalten – die das Mitmachen bei der „Euthanasie“ zusätzlich erleichterte. Typisiert man den Hauptangeklagten mittels des „Generationenbegriffs“, so lassen sich einige der „jungen Frontgeneration“ zugeschriebenen Eigenschaften beim 1892 geborenen Arzt finden. Andere Merkmale passen allerdings nicht und so bleibt die generationelle Prägung Mauthes wohl hinter anderen Aspekten, die sein Handeln vielleicht besser erklären können, zurück. Freilich, auch der Mediziner wollte in den Ersten Weltkrieg ziehen und durfte dann auch, nachdem er sich zweimal freiwillig gemeldet hatte, zumindest als Hilfsarzt im Lazarett tätig werden. Eine quasi Kriegserfahrung prägte den Beamtensohn also. Sicher erlebte er das Leid der Soldaten und das Elend in der Heimat als einschneidendes Erlebnis und doch entwickelte er sich in keine für seine Generation typische Richtung. Als Mitglied der Zentrumspartei war Mauthe nicht antirepublikanisch eingestellt, im Gegenteil verstand sich das Zentrum als verfassungstreue Partei.1210 Doch lässt sich nicht ausschließen, dass Mauthe, wie auch Eyrich, durch die Kriegserfahrung und das Sterben eigentlich junger, gesunder Soldaten zu einer rationaleren Haltung gegenüber Patienten gelangte, die sich dann später in dem Gedanken manifestierte, dass Patienten-„Opfer“ für das Wohl des Volkes gebracht werden konnten. Den Einfluss der eugenischen Bewegung in den 1920er Jahren auf sein eigenes medizinisches Denken konstatierte Mauthe bereits in einer Vernehmung. Er gab zu, ein Befürworter der Zwangssterilisationen gewesen zu sein, deren Umsetzung im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ihm dann auch den Nationalsozialismus nähergebracht habe. Als Amtsarzt in Herrenberg stellte er selbst Anträge, als Mitglied von Erbgesundheitsgerichten entschied er auch über sie. Dass er auch den nächsten, radikaleren Schritt, die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ gehen wollte, das bestritt der Mediziner. Er habe die „Euthanasie“ abgelehnt, so der Arzt in seinen Vernehmungen. Im Gegensatz zu Eyrich, der sich in zahlreichen

1210

S. Becker (2000), S. 2.

Dr. Otto Mauthe

Berichten aus den 1930er und 1940er Jahren als Rassenideologe entlarven lässt, findet sich von Otto Mauthe, außer einem Protokoll eines Vortrags von 1942, kein Hinweis, dass er ein radikaler Verfechter der Rassenhygiene gewesen wäre. Obwohl Mauthe, der in seinen Vorträgen über die Erblichkeit der psychiatrischen Erkrankungen und die Pflicht des Einzelnen, dem Wohle des Volkes zu dienen, referierte, und damit entfernt von den Lehren der katholischen Kirche stand, die die Evolutionstheorie Darwins ablehnte, trat er nie aus der Kirche aus. Tatsächlich kann das allerdings nicht als Widerstandshandlung gegen das Regime gewertet werden. Zwar wuchs bei den katholischen und auch protestantischen Beamten das Unbehagen wegen der anti-kirchlichen Haltung des nationalsozialistischen Regimes, doch war die Akzeptanz dieser nationalsozialistischen Politik in der Bevölkerung und auch unter einigen Parteigenossen so gering, dass ein Bleiben in der Kirche meist keine Konsequenzen hatte.1211 Michael Ruck zeichnete in seiner Studie über die Beamten Baden und Württembergs von 1928 bis 1972 das Bild einer Gruppe von meist konservativen Staatsdienern, das sich in vielen Punkten auch auf Otto Mauthe übertragen lässt. Zwar war er als Arzt im Innenministerium in der Minderheit einer vor allem durch Juristen gestellten Verwaltung, dennoch zeigte sich seine Biographie ähnlich der seiner Kollegen. In Mauthes Eigenschaft als „typischer“ Vertreter des Beamtentums liegt dann auch der wichtigste Ansatz, sein Mitmachen an den Krankenmorden zu erklären, obwohl er eigentlich ein „Euthanasie“-Gegner gewesen sein will. Die Gruppe der Beamtenschaft, die ebenso wie Mauthe, zwischen 1890 und 1900 geboren war, hielt oft allein „das habitualisierte Pflichtgefühl davon ab, ‚Treuebruch‘ gegenüber dem Staat auch nur in Erwägung zu ziehen“1212. So gewann der Stettener Arzt Dr. Gmelin von Mauthe den Eindruck „eines treuen Vasallen seines Herrn Stähle“1213. Und obwohl sich der Beamte möglicherweise gegenüber Freunden abfällig über seinen Vorgesetzten äußerte, so blieb er doch im Innenministerium und tat seine Pflicht. Auch sein Beitritt in die Partei, 1933, war für einen Beamten seines Jahrgangs nicht untypisch, was nur die „Homogenität und gouvernementale Fixierung“ der „württembergischen Verwaltungselite“ belegte.1214 So war der vom Staatsanwalt vom Mediziner verlangte Rücktritt für den Staatsdiener wohl niemals eine Option. Hinzu kamen seine ängstliche und nervöse Natur, die von zahlreichen Zeugen beschrieben und auch von den Prozessbeobachtern bestätigt wurde. Sie kann im Rahmen des Prozesses vom Mediziner als Verteidigungsmittel benutzt worden sein, entsprach aber wohl eher seinem wahren Charakter. Die Angst vor Konsequenzen hinderte den Medizinalrat, in größerem Umfang Widerstand zu leisten. Vor allem in Abwesenheit seines Vorgesetzten wickelte Mauthe den Krankenmord noch

1211 1212 1213 1214

S. Ruck (1996), S. 195 f. Ebd., S. 222. Aussage Dr. Gmelin, 3.12.1947, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1756/02/06. S. Ruck (1996), S. 90.

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Vier Ärzte als Täter des Krankenmords

rigoroser und pflichtbewusster ab.1215 Er wollte seine Arbeit gut machen, vielleicht auch, um bei seinem als fanatischen Nationalsozialisten beschriebenen Chef Eindruck zu hinterlassen. Was bleibt von Otto Mauthe? Er war ein Beamter, dem Pflichterfüllung gegenüber einem Staat wichtiger war, als die schwächsten Bürger dieses Staates zu schützen, der auch dann diesem Staat die Treue hielt, wenn er die tyrannische Regierung eigentlich ablehnte. Und er war ein Mensch, der sich zu ängstlich zeigte, um im entscheidenden Moment eine Beteiligung abzulehnen und dann nicht mehr aus der „Sache“ herauskam. Natürlich hat auch Otto Mauthe in einigen Fällen Kranke gerettet, vor allem, wenn er persönlich von einem Schicksal berührt worden war. Doch er blieb dabei immer ein Kollaborateur der menschenverachtenden Politik, war Mittäter bei der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“.

1215

So im Fall von Erich R. S. StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/11.

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Das Urteil im Grafeneck-Prozess

„Unrecht!“, rief Otto Mauthe als am 5. Juli 1949 Oberamtsrichter Dieterich das Urteil im Grafeneck-Prozess verkündete.1216 Obwohl an einem Dienstag, machten sich viele Schaulustige auf den Weg hoch zum Tübinger Schloss. Alle 300 Plätze des Tübinger Rittersaals wurden besetzt1217 und stellten damit einen klaren Kontrast zum fast leeren Saal bei Prozessauftakt dar. Es war „atemlos“ still, als der vorsitzende Richter Dieterich, die beiden beisitzenden Richter und die sechs Geschworenen den Gerichtssaal betraten, „bleich“ sahen die acht Menschen auf der Anklagebank aus, dann war nur das Schluchzen des angeklagten Pflegers Heinrich Unverhau zu hören.1218 „Im Namen des deutschen Volkes“ verurteilte das Gericht die Ärzte Otto Mauthe und Alfons Stegmann „wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Form der Beihilfe“ zu Gefängnisstrafen von fünf und zwei Jahren. Die Medizinerin Martha Fauser belegten die Richter „wegen drei Verbrechen des Totschlags“ mit einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Landesjugendarzt Max Eyrich wurde mit den restlichen Angeklagten freigesprochen.1219 Auf die Strafen von Mauthe und Fauser wurde die Untersuchungshaft angerechnet. Die Ärztin hatte damit ihre Strafe bereits verbüßt. Das Urteil der Tübinger Richter umfasste 53 Seiten. Eine Stunde und 30 Minuten dauerte die Begründung des Urteils1220, die Richter Dieterich darlegte. Er widmete sich in einem allgemeinen Teil der „Tötung von Geisteskranken durch den Nationalsozialismus“, in dem er einleitend fast entschuldigend erläuterte, dass die „Euthanasie“ eben keine nationalsozialistische Idee per se, sondern in medizinischen und theologischen Kreisen schon vor der Machtergreifung diskutiert worden war.1221 Als zweiten Punkt erläuterte das Gericht im Urteil die Vorkommnisse in Württemberg und hob die Stellung Mauthes bei den Massentötungen hervor: „Er war der einzige Beamte des Innen-

1216 1217 1218 1219 1220 1221

Schwäbische Zeitung, 7.7.1949. Schwäbisches Tagblatt, 6.7.1949, Nr. 79, S. 6. Ebd. Urteil im Grafeneck-Prozess, 5.7.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02. Schwäbisches Tagblatt, 6.7.1949, Nr. 79, S. 6. Urteil im Grafeneck-Prozess, 5.7.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02.

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Das Urteil im Grafeneck-Prozess

ministeriums, der von Dr. Stähle in die Aktion offiziell eingeweiht und zur Verschwiegenheit verpflichtet worden war.“1222 Der dritte Teil widmete sich der Beteiligung der Angeklagten am Krankenmord. Auf diesen folgte die rechtliche Begründung des Urteils. Aus heutiger Sicht scheinen die Urteile recht mild, 1949 mag das vielleicht anders gewesen sein, da für viele Deutsche das nationalsozialistische Unrecht mit dem Ende der alliierten Prozesse juristisch aufgearbeitet worden war.1223 Deutsche Richter hatten seit Dezember 1945 formal die Möglichkeit gehabt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf Basis des Kontrollratsgesetzes (KRG) Nr. 10 zu verhandeln, wenn sich diese gegen Deutsche richteten.1224 Dennoch bildete für die meisten „Euthanasie“-Verfahren das deutsche Strafrecht mit dem Tatbestand des Mordes § 211 Strafgesetzbuch (StGB)1225, die Grundlage für die Urteilsfindung, denn „es hatte sich im deutschen Justizwesen schnell der Standpunkt durchgesetzt, dass einschlägige Straftatbestände wie Mord, Totschlag oder Freiheitsberaubung während des ‚Dritten Reiches‘ weder ganz noch teilweise aufgehoben worden waren“1226, und somit auch das deutsche Strafrecht während dieser Zeit weiter Gültigkeit besaß. Andere Gerichte, die „Euthanasie“Verbrechen ahndeten, wandten das KRG Nr. 10 tateinheitlich mit dem StGB an.1227 Das Tübinger Schwurgericht entschied sich allerdings gegen diesen Weg, denn für die Richter stellte die „Massentötung von Geisteskranken, Geistesschwachen, Epileptikern und missgestalteten Kindern ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Art. II 1c des Kontrollratsgesetzes Nr. 10“1228 dar. Es gab wahrscheinlich mehrere Gründe, warum die Tübinger Richter entgegen gängiger Praxis dem KRG Nr. 10 den Vorrang gaben. Die Richter selbst begründeten die Wahl damit, dass das StGB „keinen ‚massenhaften‘ oder ‚vielfachen‘ Mord, sondern nur den Mord einzelner Menschen“ kenne.1229 Das Strafgesetzbuch schütze damit die „Individualität des höchstpersönlichen Rechtsguts ‚Leben‘“.1230 Dabei sähe es explizit vor, dass, wie bei jedem Tötungsdelikt, dem Täter nachgewiesen werden müsse, dass er gerade in diesem Fall vorsätzlich gehandelt habe.1231 Dies konnten die Richter für den Massenmord der Patienten in Grafeneck allerdings nicht gewährleisten und hielten daher das deutsche Strafrecht für

Ebd. Vgl. Arendes (2012), S. 125. Ebd., S. 84. Das Strafgesetzbuch ist die heutige Bezeichnung für das Reichsstrafgesetzbuch von 1871. Im Laufe der Zeit erfuhr es zahlreiche Änderungen. Deswegen ist es möglich, dass in der 1949 gültigen Version einige Paragraphen heute nicht mehr identisch sind. Da die Richter im Grafeneck-Prozess mit dem 1949 gültigen Gesetz arbeiteten, beziehen sich alle im Text genannten Paragraphen auf diese Version. 1226 S. Arendes (2012), S. 86. 1227 Beispiele dazu im Urteil, 5.7.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02. S. auch die rechtliche Beurteilung des Grafeneck-Prozesses von Jörg Kinzig, Kinzig (2011), S. 42. 1228 Urteil vom 5.7.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02. 1229 Ebd. 1230 Ebd. 1231 Ebd. 1222 1223 1224 1225

Das Urteil im Grafeneck-Prozess

nicht geeignet zur Urteilsfindung bei den Krankentötungen. Ein Vorteil des KRG Nr. 10 war auch die Tatsache, dass es den Richtern einen sehr großzügigen Spielraum bei der Zumessung des Strafmaßes gewährte. Dazu schrieb das Gericht im Urteil: „Durch den weiten Strafrahmen wird die Möglichkeit gegeben, den untergeordneten Teilnehmer zu bestrafen, ohne den für diese Fälle oft nicht passenden Strafrahmen des StGB zugrunde legen zu müssen.“1232 Gleich am Anfang der rechtlichen Beurteilung stellte das Gericht fest, dass Hitlers Geheimerlass vom 1. September 1939 keine Gesetzeskraft besaß. Und selbst wenn man eine Gesetzesform annahm, so könne der Geheimerlass keine Gültigkeit besitzen, denn „diese Ausrottungsaktion ist in ihrer ganzen Heimtücke und Verlogenheit bei der Durchführung eine so schwere Verletzung der primitivsten Rechte und Pflichten der Menschheit gewesen, dass keine Macht imstande ist, ihr den Stempel des Rechtes zu geben“1233. Auch rückwirkend könne das KRG Nr. 10 Anwendung finden, so das Gericht, denn „die deutschen Gesetze […] können […] das Kontrollratsgesetz als die übergeordnete Rechtsnorm nicht ausser Kraft setzen“, so dass in diesem Fall der Grundsatz „nulla poena sine lege“1234, keine Gültigkeit erlangen könne.1235 Die Tötungen an Patienten beschrieb das Gericht im Urteil als „vorsätzlich“, „rechtswidrig“, „heimtückisch“, „mit Überlegung“ sowie in einigen Fällen als „grausam.“1236 Die Urteilsschrift widmete sich dann der rechtlichen Beurteilung der Beteiligung der Angeklagten an der „Aktion“. Erstens wurde allen Angeklagten eine Beteiligung „als Beihelfer“ bei der „Euthanasie“ nachgewiesen.1237 Lediglich die Reisen von Otto Mauthe mit dem Tötungsarzt Baumhard bildeten eine Ausnahme, denn diese, so kannte das Gericht an, dienten dem Zweck, arbeitsfähige Kranke, die bereits für Transporte bestimmt worden waren, zu ihrer Rettung auszuwählen.1238 Ebenso betrachtete das Gericht die Genehmigung der an das Innenministerium verfassten Entlassgesuche im Zuge des Sperrerlasses als die Tötungen einschränkende Maßnahme.1239 Zweitens sei den Angeschuldigten bewusst gewesen, dass ihr Handeln jeglicher rechtlicher Ebd. Ebd. Dabei bezogen sich die Richter möglicherweise auf die sog. „Radbruchsche Formel“, eine von Gustav Radbruch entwickelte These. In dieser konstatierte der Rechtsphilosoph Radbruch, dass „der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit […] dahin zu lösen sein [dürfte], daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“ Weiter schrieb Radbruch: „[…] Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Satzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“ Zitiert nach Forschner (2003), S. 8. 1234 Lat. „keine Strafe ohne Gesetz“. 1235 Urteil vom 5.7.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02. 1236 Ebd. 1237 Urteil vom 5.7.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02. 1238 Ebd. 1239 Ebd. 1232 1233

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Grundlage entbehre, wenngleich sie angaben „unter dem Befehl ihrer Vorgesetzten“ gehandelt zu haben.1240 Der Artikel II 4 b des KRG Nr. 10 schloss diesen Einwand allerdings aus und konstatierte, dass auch das Handeln laut Befehl die Verantwortlichkeit für eine Tat nicht schmälere.1241 Dazu stand in der Urteilsschrift: „Verstößt ein Gesetz, ein Erlass oder ein Befehl so offensichtlich gegen die einfachsten Gesetze der Menschlichkeit wie in diesem Fall, so können die Beteiligten auch die Rechtswidrigkeit und Unverbindlichkeit desselben erkennen.“1242 Immer wieder hatte Otto Mauthe vor Gericht betont, er habe um sein Leben gefürchtet, weil sein Vorgesetzter ihm bei Widersetzlichkeit mit der Todesstrafe gedroht habe. Das Gericht sah diese Einlassung jedoch aufgrund der Zeugenaussagen anderer verpflichteter Ärzte sowie des Eugen Stähle als widerlegt an.1243 Stähles Aussagen folgten die Richter, da diese glaubhaft gewesen seien. Insbesondere seien dessen Angaben durch Geradlinigkeit und Widerspruchslosigkeit gekennzeichnet.1244 Zwar ist wahrscheinlich, dass Mauthe nicht zum Mitmachen gezwungen, sondern lediglich zum Schweigen verpflichtet wurde. Doch bleibt die Einschätzung des Gerichts bezüglich Stähles Ehrlichkeit zweifelhaft. Immerhin hatte dieser seine Flucht ins Allgäu Ende April 1945 noch als Kuraufenthalt zur Behandlung seiner Tuberkuloseerkrankung getarnt. Seltsam nur, dass er in Überruh, Kreis Wangen, im selben Zeitraum ranghafte Namen des württembergischen Innenministeriums traf.1245 Jedenfalls wollten die Richter Mauthe den Schuldausschließungsgrund der Nötigung nach § 52  StGB1246 nicht zubilligen, denn den Richtern war „weder in diesem Prozess noch in den anderen ähnlichen Prozessen ein Fall bekannt geworden, daß ein Arzt wegen Verweigerung seiner Mitwirkung zum Tode verurteilt oder eingesperrt worden ist […]“1247. Das Gericht lehnte auch die Möglichkeit ab, dass Mauthe möglicherweise nur an einen Notstand geglaubt habe.1248 Der Mediziner habe nie in irgendeiner Form offenen Widerstand geleistet und habe dadurch nicht ahnen können, wie Stähles Reaktion auf eine Widerstandshandlung überhaupt ausgesehen hätte.1249 Der Arzt hätte am Ende nicht mehr riskiert als eine dienstliche Zurechtweisung. Die Richter beschäftigten sich bei den vier angeklagten Ärzten mit der Frage des „übergesetzlichen Notstandes“ und der

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Aussage Dr. Stähle, 26.6.1945, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/20. In Überruh im Allgäu traf Stähle auf Ministerpräsident Mergenthaler, den Innenminister Jonathan Schmid und die Frau des Kreisleiters Wilhelm Murr. 1246 In der heutigen Fassung des StGB § 34 „rechtfertigender Notstand“ in Form des „Nötigungsnotstandes“. 1247 Urteil vom 5.7.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02. 1248 Sog. Erlaubnistatbestandsirrtum. 1249 Urteil vom 5.7.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02. 1240 1241 1242 1243 1244 1245

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„Pflichtenkollision“.1250 Immer wieder erklärten Mauthe, Stegmann, Eyrich und Fauser, sowohl in den Voruntersuchungen zum Prozess, als auch in der Hauptverhandlung, sie hätten mitgemacht um das Schlimmste zu verhindern, eine Weigerung ihrer Beteiligung hätte nur zur Folge gehabt, dass sie durch weitaus strengere Ärzte ersetzt worden wären. Im Urteil erklärten die Richter dann, welche Voraussetzungen für einen „übergesetzlichen Notstand“ als Rechtfertigungsgrund erfüllt sein müssen, nämlich „daß ein minderwertiges Rechtsgut zur Erhaltung eines höherwertigen Rechtsguts verletzt wird“1251. Die Richter schlossen aus, dass diese Voraussetzungen erfüllt wurden, denn die Rettung von Patienten könne die Tötung anderer Patienten nicht aufwiegen. „Wertmässige Unterscheidungen zwischen einzelnen Menschenleben sind objektiv nicht möglich“1252, so das Gericht. Genau diese Wertungen hatten aber alle Angeklagten getroffen. Und genau dies entsprach auch der nationalsozialistischen Politik – nämlich die schwachen Glieder der Gesellschaft für die stärkeren zu opfern. Für die Richter bedeutete ein Ausschluss des „übergesetzlichen Notstandes“ aber keinesfalls ein nicht Bestehen von Schuldausschließungsgründen. Dabei schlossen sie sich den Urteilen anderer Strafkammern an (Strafkammer Münster, OGH Köln).1253 Diese hatten konstatiert, dass in besonderen Fällen von einer Strafbarkeit abgesehen werden könne. Um was für Fälle handelte es sich? Um dieser Frage nachzugehen erläuterte Richter Dieterich in seiner Urteilsverkündung den Gewissenskonflikt, den das Gericht den Ärzten zubilligte, die mit der „Euthanasie“ konfrontiert worden waren: „Wie sie auch handeln mochten, stets wurde ihr Gewissen belastet.“1254 Wenn sie ihre Stelle quittierten, überließen sie ihre Patienten dem eigenen Schicksal, blieben sie auf ihrem Posten, mussten sie sich nicht nur strafrechtlich verantworten, sondern beteiligten sich als Helfer beim Massenmord.1255 Der Vorsitzende kam in diesem Zusammenhang auf einen Aufsatz von Professor Dr. Helmut von Weber1256 zu sprechen, den auch Mauthes Anwalt Zimmerle immer wieder zur Verteidigung seines Mandanten zitierte. Weber hatte geschrieben, dass es größeren moralischen Mut erfordere, in der Stellung zu verharren, als diese zu verlassen. Er hatte aber auch hinzugefügt, dass die Rechtsordnung bei diesem Konflikt an ihre Grenzen komme und die Lösung desselben „vom Absoluten her im Gewissen gefunden werden“1257 müsse. Das Gericht pflichtete von Webers Aussagen bei und erklärte, dass, wer sich in einem solchen Dilemma für das Bleiben entscheide, dem könne dies unter bestimmten Voraussetzungen als Schuldausschließungsgrund gel-

1250 1251 1252 1253 1254 1255 1256 1257

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Eigentlich Hellmuth von Weber (1893–1970), Lehrstuhlinhaber in Jena und Rechtswissenschaftler. Urteil vom 5.7.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02.

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ten.1258 Dann widmeten sich die Richter den vier Ärzten und konstatierten, in welchem Umfang der Schuldausschließungsgrund der Pflichtenkollision jedem einzelnen zugerechnet werden könne. Mauthe wurde kein Schuldausschließungsgrund zugebilligt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er nicht um den Kranken zu helfen an der „Euthanasie“ beteiligt war, sondern weil er Angst hatte, persönlich benachteiligt zu werden.1259 Den Charakter des ärztlichen Berichterstatters beurteilte das Gericht als schwach und angsterfüllt. Jede die Aktion hemmende Handlung habe Mauthe nur getan, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Weiter stellten die Richter fest: Darüber hinaus hat der Angeklagte aber in den Fällen, in denen er im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens und nach Massgabe der gegebenen Richtlinien hätte helfen können, teils aus übertriebener Ängstlichkeit, teils aus bürokratischer Gleichgültigkeit nicht alle Möglichkeiten zur Rettung der Kranken ausgeschöpft, sondern die Aktion noch gefördert.1260

Einzig in den Reisen mit dem Landesjugendarzt Eyrich sah das Gericht den Handlungsspielraum von Mauthe ausgeschöpft, denn beide hätten „sehr wohlwollend“1261 selektiert. Am Ende kamen die Richter zu dem Schluss, dass Mauthe wohl ein Gegner der Nationalsozialisten gewesen sei, „aber aus Angst um seine Stellung mitgemacht ha[be]“1262. „Seine Rettungsaktion fand stets dort ihre Grenze, wo ein, auch noch so geringes Risiko damit verbunden war“1263, so die Richter. Der Mediziner habe in einigen Fällen „aus seiner bürokratischen Einstellung heraus mehr für die Aktion getan als unbedingt nötig gewesen wäre“1264. Auf Grund seines Charakters, seiner Ängstlichkeit, hätte Mauthe, bei Kenntnis der eigenen Persönlichkeit, nicht auf seinem Posten bleiben dürfen.1265 Für Max Eyrich erkannte das Gericht die Pflichtenkollision an, denn es konnte ihm nicht nachgewiesen werden, dass er bei seinen Reisen mit Mauthe nicht alles versuchte, um möglichst viele Kranke zu retten. Aus Mangel an Beweisen wurde der Jugendpsychiater freigesprochen.1266 Für das Gericht waren die Reisen mit dem ärztlichen Berichterstatter die einzigen Schnittpunkte des Landesjugendarztes mit der „Euthanasie“ in Württemberg.

1258 1259 1260 1261 1262 1263 1264 1265 1266

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

Das Urteil im Grafeneck-Prozess

Für den jüngsten der angeklagten Ärzte, Alfons Stegmann, fand das Gericht im Urteil keine positiven Worte. Er sei der Aktion gleichgültig gegenübergestanden, hatte Kontakt mit dem Tötungsarzt Baumhard und keine Hemmungen, in einem der grauen Omnibusse mitzufahren, um Kirschen zu kaufen. Erneut evozierten die Richter im Urteil die Geschichte von Stegmanns Besuch in Winnental und die abfälligen und bissigen Bemerkungen, die er gegenüber einer Patientin machte, die zu ihrer Fahrt in den Tod abgeholt wurde.1267 „Wer so kühl und geradezu zynisch sich bei dieser grauenvollen Situation verhält, von dem kann ein Widerstand nicht erwartet werden“ 1268, so die Richter. Auch Stegmann versuchte Patienten, die noch arbeiten konnten, in seiner Anstalt zu belassen, aber dies sei, so das Gericht, „nur zur Erhaltung des Wirtschaftsbetriebs der Anstalt, nicht im Interesse der Kranken [geschehen]“1269. Auch sei der junge Mediziner als einziger Anstaltsarzt nicht nach Stuttgart gefahren, um zu protestieren. Stegmann selbst habe sich aktiv an der „Euthanasie“ beteiligt, indem er mit Hilfe von Fotografien, die er von Tötungsarzt Baumhard erhalten hatte, eine Transportliste zusammenstellte.1270 Dazu sei er nicht verpflichtet gewesen, so das Gericht, und hätte wohl auch vom Innenministerium bei Weigerung mit keiner Strafe rechnen müssen. Nach Ansicht des Gerichts handelte der Mediziner folglich schuldhaft.1271 Die Richter selbst erklärten, dass sie die Ärztin Martha Fauser mit einem „milden Maßstab“ bewerteten. Sie betonten, dass es für Fauser als Frau besonders schwierig gewesen sein muss, sich durchzusetzen und ihr ihre Aufgaben im Laufe der Zeit zu schwer geworden seien. Sie hatte als Leiterin der Anstalt Zwiefalten eine Arbeit übertragen bekommen, die „schon für einen erfahrenen männlichen Anstaltsleiter zu viel gewesen [wäre]“1272. Fauser habe aber auf ihrem Posten verharrt, um ihre Patienten, um die sie sich „rührend“ und „aufopfernd“ gekümmert habe, nicht in den Tod zu schicken.1273 Diese Charakterisierung Fausers spiegelte alle gängigen Klischees über die Rolle von Frauen bei der Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen wieder. Die Ärztin wurde zum Opfer ihrer Weiblichkeit stilisiert und mit besonders vielen „typisch“ weiblichen Eigenschaften beschrieben, was ihr vor Gericht half, mehr Mitläuferin zu sein als Täterin.1274 Sie konnte das Gericht nicht nur davon überzeugen, dass sie ihren Posten behielt, um möglichst viele Kranke zu retten, sondern auch den Besuch in Grafeneck als mutige Handlung darstellen1275 – sie wollte, wenn sie ihre Kranken schon verlor, auch wissen, wie diese starben. Auch Cord Arendes beschrieb,

1267 1268 1269 1270 1271 1272 1273 1274 1275

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vor allem in der frühen Nachkriegszeit galten Frauen lange Zeit als unschuldig. S. Kompisch (2008), S. 7. Urteil vom 5.7.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02.

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dass Frauen in der Nachkriegszeit „entweder als Opfer des NS-Systems, als unbeteiligte Zeitgenossinnen oder allenfalls als Mitläuferinnen“ galten.1276 Fausers Verhalten, das viele Zeugen als „barsch“ oder „schroff “, die Ärztin Helene Volk sogar als „entmenschlicht“ beschrieben hatten, schrieben die Richter Fausers „temperamentvoller Veranlagung“1277 zu. Von Frauen erwarteten sie also grundsätzlich schon einen geringeren Widerstand als von Männern. So kam das Gericht zu dem Schluss, „dass die Angeklagte Dr.  Fauser, wenn auch objektiv in nicht sehr großem Umfang, so doch nach ihren Kräften so ausreichenden Widerstand geleistet hat, dass die Ausschließung ihrer persönlichen strafrechtlichen Schuld zu rechtfertigen ist“1278. Drei Fälle von Einzeltötungen hielt das Gericht nach der Hauptverhandlung für bewiesen. Fauser hatte zwar nur gegenüber dem Freiburger Vernehmungsrichter diese Fälle von „Einzeleuthanasie“ zugegeben, doch hielt das Gericht gerade diese Geständnisse für glaubhaft.1279 Fausers Tötungen fielen für die Richter nicht unter das KRG Nr. 10, weil die Taten „persönlich“ gewesen seien und nicht direkt mit der „verbrecherischen Aktion des nationalsozialistischen Staates“ in Verbindung standen.1280 Wahrscheinlich irrten sich die Richter in der Urteilsbegründung. Es konnten Fauser zwar nur drei Einzeltötungen nachgewiesen werden, die hohen Sterberaten lassen allerdings auch einen zweiten Schluss zu – die „Euthanasie“ wurde nach dem offiziellen Abbruch in der Anstalt Zwiefalten unter Fausers Aufsicht fortgesetzt. Dies hätte zur Folge, dass auch diese Tötungen als Teil der nationalsozialistischen Verbrechen hätten verurteilt werden müssen. Faulstich sah für das Jahr 1944 in 315 in Zwiefalten gestorbenen Patienten NS-Opfer, 1945 sogar in 524.1281 Es wäre schwierig für das Gericht geworden, in all diesen Fällen die Individualität der Tötungen nachzuweisen. Die hohen Sterberaten fanden im Urteil dann zwar Erwähnung, wurden aber damit erklärt, dass Zwiefalten als Pflegeanstalt schwerkranke Patienten aufgenommen habe, die allgemeine Ernährungslage im Krieg schlecht gewesen sei und wenig geheizt werden konnte.1282 Die drei Einzeltötungen fielen unter den § 212 StGB und wurden als Totschlag gewertet.1283 Das Verfahren gegen Fauser auf Grund von Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB wurde nach § 67 II StGB wegen Verjährung eingestellt. Im letzten Teil des Urteils gingen die Richter auf die Zumessung der Strafe ein. Für Mauthe wurde mildernd berücksichtigt, dass er prinzipiell bereit war, Kranke vor dem Tod zu bewahren, dies allerdings „nicht mit der erforderlichen Zielstrebigkeit und

1276 1277 1278 1279 1280 1281 1282 1283

S. Arendes (2012), S. 32. Urteil vom 5.7.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02. Ebd. Ebd. Ebd. S. Faulstich (1998), S. 355. Urteil vom 5.7.1949, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/02. Ebd.

Das Urteil im Grafeneck-Prozess

Folgerichtigkeit durchführte“1284. Dies genügte dem Gericht, Mauthe nicht zu einer Zuchthausstrafe zu verurteilen, sondern zu einer Gefängnisstrafe. Mauthes Gefängnisstrafe sollte dennoch „empfindlich“1285 sein, da er sich „von dem reinen Kadavergehorsam“ hätte freimachen müssen und entweder von seiner „gehobenen“ Dienststelle als Ministerialbeamter zurücktreten oder alle möglichen Formen des Widerstands ausschöpfen müssen.1286 Die Gefängnisstrafe sollte in einem „angemessenen Verhältnis“ zur „Aktion“ und zur „Zahl der Opfer in Württemberg“ stehen.1287 Für Alfons Stegmann betrachtete das Gericht als strafmildernd, dass er nur gering an der „Euthanasie“ beteiligt und zum Zeitpunkt der „Aktion“ noch relativ jung gewesen sei. Einen großen Teil der Schuld trage seine vorgesetzte Dienststelle, so das Gericht.1288 Die Richter bezweifelten, dass Stegmann die richtige Berufswahl getroffen habe, das hätten nicht nur seine Gleichgültigkeit gegenüber der Deportation von Patienten, sondern auch seine Vorstrafe gezeigt.1289 Dennoch schien dem Gericht eine Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren für angemessen. Bei den Tötungsdelikten von Fauser erkannte das Gericht mildernde Umstände im Sinne des § 213 StGB an.1290 Die Taten seien aus Mitleid erfolgt und bei zwei der Patienten konnte nicht ausgeschlossen werden, dass sie in kurzer Zeit auch ohne die Medikamente Fausers gestorben wären.1291 Da Fauser bereits seit Herbst 1945 in Haft saß, galt ihre Strafe von einem Jahr und sechs Monaten mit dem Urteil der Tübinger Richter als verbüßt.1292 War das Tübinger Urteil gerecht? Max Eyrich und Martha Fauser konnten nach der Urteilsverkündung den Tübinger Rittersaal als freie Menschen verlassen. Sie begannen ihr Leben nach dem Prozess, fühlten sich schuldlos an den Massenmorden und durch das Gericht darin bestätigt. Für Mauthe und Stegmann ging der Kampf allerdings weiter. Mauthe fühlte sich zu Unrecht verurteilt und seine Rebellion gegen das Urteil und die Verbüßung der Strafe nahm ihren Anfang.1293 Der Jurist Jörg Kinzig versuchte in seinem Beitrag zum Grafeneck-Prozess das Tübinger-Urteil einzuordnen. Kinzig machte deutlich, dass es für Gerichte schwierig war, staatliche Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen, vor allem dann, wenn es um positives, aber ungerechtes Recht ging.1294 Zwar war die „Euthanasie“ nicht positives

1284 1285 1286 1287 1288 1289 1290 1291 1292 1293 1294

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. hierzu Kapitel 6. S. Kinzig (2011), S. 47.

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Recht – auch das Gericht erklärte immer wieder, dass Hitlers Erlass keine Gesetzesform erfüllte – dennoch mussten sich die Richter mit einer „rückwirkenden“ Bestrafung auseinandersetzen, weil das KRG Nr.  10 zur Anwendung kam. Kinzig machte auch deutlich, dass die Tübinger Richter mit ihrer milden Verurteilung der „Euthanasie“-Verbrechen den Weg voranschritten, den später auch andere Gerichte in der Bundesrepublik gehen würden, nämlich, mit einer „weichen Linie“ gegen NS-Verbrechen vorzugehen.1295 So sei es heute schwer, das Urteil der Richter zu bewerten. Für Kinzig erfüllte es dann aber doch noch eine wichtige Funktion – es machte die Geschichte der „Euthanasie“ öffentlich und legte eine Opferzahl fest.1296 Für Otto Mauthe bedeutete es eine neue Ungerechtigkeit, ein zweites Mal „Opfer“ sein. Max Eyrich stilisierte sich zum Widerstandskämpfer und erwähnte nie mehr, dass er lediglich aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden war. Dem Jugendpsychiater gefielen vor allem die Worte, die der Staatsanwalt in seinem Plädoyer für ihn gefunden hatte – „Widerstandskämpfer im Dienst“. Martha Fauser wurde zur zufriedenen, integrierten Pensionärin mit einer leicht „verschrobenen“ Persönlichkeit. Und Alfons Stegmann wollte vor allem nicht ins Gefängnis.1297

1295 1296 1297

Ebd. Ebd. S. hierzu das folgende Kapitel 6.

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Das Leben der vier Ärzte in der jungen Republik

Die Leben der vier Angeklagten entwickelten sich nach dem Prozess diametral auseinander. Während Stegmann und Mauthe von ihren Anwälten gegen das Urteil Revision einlegen ließen, versuchten der ehemalige Landesjugendarzt Max Eyrich und die Ärztin Martha Fauser, ihr Leben in der jungen Demokratie zu beginnen. Als äußerst wichtig für beide zeigte sich nach dem Urteil vom Juli 1949 die Hoffnung auf ein zügiges Spruchkammerverfahren. Es ging dabei weniger um eine politische Reinwaschung durch die Entnazifizierung, sondern vielmehr darum, endlich mit dem Nachkriegsleben Schritt zu halten, Pensionsansprüche klären zu können oder wieder arbeiten zu dürfen. Die Spruchkammerverfahren der Angeklagten, von denen einige bereits vor dem Prozess begonnen worden waren, ruhten bis nach Ende des strafrechtlichen Urteils. Es sei eine „beschleunigte Entscheidung sehr am Platz“, schrieb Dr.  Linser bezüglich Fausers Spruchkammerverfahren im April 1950 an das Staatskommissariat für politische Säuberung, „damit die über 60 J. alte Frau endlich über ihre einfachsten Lebensrechte verfügen kann.“1298 Für Eyrichs schnelle Entnazifizierung setzte sich Professor Kretschmer im November 1949 ein, damit dieser wieder als Landesjugendarzt arbeiten konnte.1299 Eyrich hatte seit 1945 seine Tätigkeit nicht mehr ausgeübt, sondern seinem Vater in dessen Praxis ausgeholfen. Ein Parteibeitritt vor 1937 oder ein höherer Posten machte einen Menschen für die Spruchkammern direkt verdächtig, mehr als nur „Mitläufer“ zu sein – da fiel Eyrich mit seiner späten Beförderung zum Oberregierungsmedizinalrat natürlich auf. Und alle, die formal als „Hauptschuldiger“ oder „Belasteter“ galten, konnten bis zum Urteil der Spruchkammer nur eine „gewöhnliche Arbeit“ ausüben.1300 Obwohl nicht erst mit der Gründung der Republik die Entnazifizierung immer stärker kritisiert worden war und ab 1950 heftige Debatten über eine völlige „Liquidation“ der politischen Säuberungen im Bundestag stattfanden1301, muss-

Schreiben Dr. Linser, 16.4.1950, Spruchkammerakten Dr. Fauser StAS Wü 13 T 2 Nr. 1425/011. Schreiben von Professor Kretschmer an die Zentralspruchkammer, 16.11.1949, Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315. 1300 S. Henke (1991), S. 39. 1301 S. Frei (1996), S. 14 u. 54–69. 1298 1299

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Das Leben der vier Ärzte in der jungen Republik

ten sich alle vier angeklagten Ärzte einem Spruchkammerverfahren stellen. Der ehemalige Landesjugendarzt Eyrich wurde bereits einige Monate nach dem Urteil im Grafeneck-Prozess, im Dezember 1949, in die Gruppe der „Entlasteten“ eingestuft.1302 Die Kammer bezog sich dabei in ihrem Spruch explizit auf das Urteil der Tübinger Richter und kam zu dem Schluss, dass Eyrich „in seiner Eigenschaft als Landesjugendarzt von Anfang an bewusst diese Aktion bekämpft und nichts unversucht gelassen [habe] möglichst viele Kranke zu retten“1303. Der Mediziner konnte darlegen, dass er bereits vor der Machtergreifung sein Amt als ‚Leiter der nervenärztlichen Beratungsstelle für das Fürsorgeerziehungswesen‘ erhalten habe, dass er also kein Nutznießer des Nationalsozialismus gewesen war. Zahlreiche Zeugnisse bescheinigten ihm ein stets korrektes Verhalten und belegten auch, dass er sich nicht besonders in der Partei engagiert hatte. Besonders hilfreich zeigten sich in Säuberungsverfahren Zeugnisse von jüdischen Freunden oder Kollegen, aus denen hervorging, dass der oder die Betroffene fern der nationalsozialistischen Ideologie stand. Auch Eyrich bediente sich solcher Schreiben. Eine Bekannte berichtete, dass ihre jüdische Mutter bis zu ihrer Emigration in die USA immer wieder bei den Eyrichs zu Gast gewesen sei und Eyrichs Sohn Klaus trotz eines Berufsverbotes Geigenunterricht gegeben habe.1304 Auch der ehemalige jüdische Kollege Eyrichs aus der Nervenklinik Tübingen, Alfred Storch, konnte nur Gutes über den Jugendpsychiater berichten: Über die gemeinsame Arbeit an der Tübinger Univ. Nervenklinik hinaus blieb die freundschaftliche Verbundenheit mit ihm und seiner Familie bestehen, als ich Oberarzt und Dozent an der Giessener UniNervenklinik geworden war. Ich kenne Dr. Eyrich als einen gütigen, freiheitlich gerichteten Menschen, dem jeder enge partei-politische Fanatismus und jede Betonung rassemässiger Unterschiede fremd war.1305

Mit weiteren durchweg positiven Charakterisierungen von seinem Lehrer Gaupp, dem bekannten Professor Kretschmer und Anstaltsleitern von Heimen, die Eyrich im Zuge seiner Tätigkeit als Landesjugendarzt besucht hatte, war das Ergebnis seiner Entnazifizierung schon vorgezeichnet. So folgte der Spruch Mitte Dezember 1949 wohl auch für den Arzt nicht überraschend. Der Betroffene hat sich nach Ansicht der Kammer nur deshalb und ausschließlich als Gutachter an dieser Aktion beteiligt, um den Widerstand gegen den verbrecherischen Staat aufzunehmen. Dieses Motiv hat der Betroffene auch ständig und während der ganzen Zeit seiner Betätigung in die Tat umgesetzt, und es liegt nach Ansicht der Kammer kein einziger Fall vor, wo der Betroffene auch nur eine Gelegenheit ungenützt gelassen und nicht gehol1302 Spruch im Säuberungsverfahren gegen Eyrich, 14.12.1949, Spruchkammerakten Dr. Eyrich, StAS Wü 13 T 2 Nr. 2638/301. 1303 Ebd. 1304 Zeugnis von Elfriede Weisshaar, Spruchkammerakten Dr. Eyrich, ebd. 1305 Zeugnis von Dr. Alfred Storch, 2.8.1946, Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315.

Das Leben der vier Ärzte in der jungen Republik

fen hat. Durch sein Verhalten hat er nicht unerhebliche Nachteile erlitten. Der Betroffene setzte seine Beamtenstellung aufs Spiel und lief ohne weiteres Gefahr, bei Entdeckung seines Verhaltens zumindest in ein KZ eingesperrt, wenn nicht getötet zu werden.1306

Wäre Eyrichs politische Säuberung auch ohne den Grafeneck-Prozess so glimpflich für ihn ausgefallen? Es bleibt zu bezweifeln. In einem begonnenen Verfahren der Spruchkammer Vaihingen-Rohr von 1947 wurde tatsächlich eine Einstufung des Mediziners in die Gruppe der Hauptschuldigen diskutiert.1307 Der Freispruch im „Euthanasie“Prozess und die Entlastung im politischen Säuberungsverfahren förderten die schnelle Integration und Rehabilitation Max Eyrichs. Im April 1950 schrieb er an das württembergische Innenministerium und bat um seine Wiedereinsetzung in den Staatsdienst: „Durch das Schwurgericht in Tübingen wurde ich von dieser Anklage in I. Instanz rechtsgültig als einziger der ärztlichen Angeklagten freigesprochen, nachdem schon der die Anklage vertretende Oberstaatsanwalt mich als ‚Widerstandskämpfer im Dienst‘ gekennzeichnet hatte.“1308 Im November 1950 erfolgte die Wiedereinstellung durch das württembergische Innenministerium,1309 im Dezember desselben Jahres ernannte der württembergische Ministerpräsident den Mediziner zum Oberregierungsmedizinalrat und Landesjugendarzt.1310 Auch in Württemberg-Hohenzollern sollte Eyrich wieder als Landesjugendarzt tätig werden.1311 Bis zu seiner offiziellen Berufung ins Beamtenverhältnis auf Widerruf im April 19511312 arbeitete der Landesjugendarzt mit einem Werkvertrag.1313 Eyrich, der zum Zeitpunkt seiner Wiederverwendung als Beamter noch in Ebingen wohnte, suchte in der Folge eine Wohnung in Stuttgart. Das Haus, das die Eyrichs in Stuttgart-Sonnenberg besaßen, war noch von den Amerikanern beschlagnahmt. Ab April 1951 erhielt der Landesjugendarzt eine Trennungsentschädigung.1314 Seine Familie blieb vorerst in Ebingen bis der Mediziner eine geeignete Wohnung zur Miete in Stuttgart gefunden hatte. Der Umgang mit seinen Reisekosten zeigt, wie wenig die Vergangenheit des Landesjugendarztes bei sei-

1306 Spruch im Säuberungsverfahren gegen Eyrich, 14.12.1949, Spruchkammerakten Dr. Eyrich StAS Wü 13 T 2 Nr. 2638/301. 1307 Schreiben der Spruchkammer Vaihingen-Rohr, 1.6.1947, Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315. 1308 Schreiben Eyrich an das württembergische Innenministerium, 26.4.1950, Personalakte Dr. Eyrich, ebd. 1309 Schreiben des Innenministeriums Baden-Württemberg, 20.11.1950, Personalakte Dr. Eyrich, ebd. 1310 Schreiben des Innenministeriums Württemberg-Baden, 8.12.1950, StAS Wü 42 T 60 Nr. 115. 1311 Ebd. 1312 Eyrich wurde am 26.4.1951 wieder als Beamter eingestellt. Am 1.4.1951 war das sog. „131er Gesetz“ in Kraft getreten, das die Wiedereinstellung der Beamten regeln sollte, die sich am 8.5.1945 im Staatsdienst befunden hatten, dann allerdings von der Militärregierung entlassen worden waren. Zur „Rehabilitierung und Versorgung der ‚131er‘ s. Frei (1996), S. 69–100. 1313 Lebenslauf Eyrichs in der Personalakte, HStAS EA 2/150 Bü 315. S. auch Personalakte Eyrich, StAS Wü 42 T 60 Nr. 115. 1314 Schreiben vom 2.12.1952, Personalakte Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315.

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nen Arbeitgebern beachtet wurde. Eyrich hatte in einer Besprechung im württembergischen Innenministerium erklärt, dass in Württemberg vor der Besatzung im Jahre 1945 alle Reisekosten des Landesjugendarztes, d. h. auch die Kosten für Dienstreisen, die der Landesjugendarzt in jugendfürsorgerischen Angelegenheiten auf Veranlassung des Landesfürsorgeverbandes (als Fürsorgeerziehungsbehörde) oder eines Jugendamtes ausgeführt habe, ausnahmslos vom Land getragen worden seien, weil auch diese Inanspruchnahme des Landesjugendarztes überwiegend staatlichen Interessen gedient habe1315.

Eyrichs Reisen vor der Besatzung hatten u. a. der menschenverachtenden Umsetzung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik gedient. Im Juli 1953 erhielt Eyrich den Beamtenstatus auf Lebenszeit.1316 Neben seiner Tätigkeit als Landesjugendarzt  – er begutachtete wieder Anstaltszöglinge, beaufsichtigte Anstalten in hygienischer und pflegerischer Hinsicht und kümmerte sich um die Frage, welche Kinder in Hilfsschulen, „Schwachsinnigenschulen“ oder Schulheimen unterrichtet werden sollten – arbeitete der Jugendpsychiater als Gutachter für Gerichte und später als Jugendsachverständiger der Freiwilligen Filmselbstkontrolle in Wiesbaden.1317 1953 fand Eyrich eine Mietwohnung in Stuttgart-Degerloch, 1956 erhielt die Familie ihr eigenes Haus in Stuttgart-Sonnenberg von den Amerikanern zurück.1318 Im April 1958 erlitt der Landesjugendarzt einen Myokardinfarkt, von dem er sich nicht mehr ganz erholen würde.1319 Nach einem einmonatigen Aufenthalt im Stuttgarter Bethesda-Krankenhaus und einer längeren Krankschreibung nahm er seinen Dienst wieder auf. Ab Januar 1959 erhielt er Unterstützung für seine Tätigkeit durch den Arzt Dr. Gernot Marcinowski aus Weissenau. Nach einem Kuraufenthalt in Bad Orb folgten zahlreiche Erholungsurlaube, die den Gesundheitszustand des Mediziners aber nicht wesentlich besserten, sondern immer wieder zu Episoden von Dienstunfähigkeit führten.1320 Im April 1961 bat Eyrich um seine Versetzung in den Ruhestand1321, welche im Juni 1961 durch Ministerpräsident Kiesinger erfolgte: „Ich versetze den Oberregierungsmedizinalrat Dr. med. Max Eyrich auf seinen Antrag in den Ruhestand. Für die dem Land geleisteten treuen Dienste spreche ich ihm Dank und Anerkennung aus.“1322

1315 Schreiben der Abteilung IX des Innenministeriums an die Kanzleidirektion, 18.5.1951, StAS Wü 42 T 60 Nr. 115. 1316 Lebenslauf Eyrich, Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315. 1317 Vgl. Akten zum Landesjugendarzt, StAS Wü 40 T 29 Nr. 363 und Personalakte Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315. 1318 Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315. 1319 Schreiben Abteilung IX Innenministerium an die Abteilung I Innenministerium, 8.4.1958, Personalakte Dr. Eyrich, ebd. 1320 Personalakte Dr. Eyrich, HStAS EA 2/150 Bü 315. 1321 Eyrich an das Innenministerium, 24.4.1961, Personalakte Dr. Eyrich, ebd. 1322 Ministerpräsident Kiesinger, 2.6.1961, Personalakte Dr. Eyrich, ebd.

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Der ehemalige Landesjugendarzt Max Eyrich starb nur etwas über ein Jahr später, am 5. November 1962 im Alter von 65 Jahren in Stuttgart.1323 Martha Fauser kehrte im Juli 1949, nach fast vier Jahren im Gefängnis, mittellos nach Zwiefalten zurück. Auch das Haus, das Fauser als Teil der Erbengemeinschaft mit ihren beiden Schwestern besaß, verbesserte ihre Lage nicht. Der Mietzinsanteil war gesperrt.1324 Ein Jahr nach ihrem Freispruch im Grafeneck-Prozess folgte Fausers politisches Säuberungsverfahren. Der Untersuchungsausschuss beantragte eine Einstufung der Medizinerin in die Gruppe der „Hauptschuldigen“.1325 Er berief sich dabei auf eine Bestimmung des Interalliierten Kontrollrats, dass als Hauptschuldiger zu gelten habe, wer an der „Euthanasie“ beteiligt gewesen sei. Die Spruchkammer schloss sich diesem Vorschlag allerdings nicht an. Martha Fauser galt als „minderbelastet“.1326 Dabei bezog sich die Kammer auf das Urteil im Grafeneck-Prozess, in dem Fauser eine geringe Beteiligung an den Patientenmorden, gleichzeitig aber Rettungsversuche von Kranken, nachgewiesen worden waren.1327 Auf die Verurteilung zu einer Geldbuße verzichtete die Spruchkammer, da Fausers finanzielle Notlage bekannt war. Auch die Ärztin hatte sich von Bekannten und Freunden entlastende Zeugnisse ausstellen lassen. So berichtete die Jüdin Anna Donndorf: „Meine Rassenzugehörigkeit war ihr bekannt, aber sie hat sich stets mit echter Freundschaft meiner angenommen und mir angeboten, im Falle einer politischen Gefährdung mich zum Schutz in der Anstalt aufzunehmen.“1328 Auch sonst wurde Fauser als „charakterlich einwandfrei“ und „stets hilfsbereit“ beschrieben.1329 Die Parteizugehörigkeit der Medizinerin, die 1944 von Hitler noch das Kriegsverdienstkreuz Zweiter Klasse verliehen bekam,1330 und ihr politisches Engagement erschienen für die Spruchkammer nur von geringer Bedeutung. Schon im Oktober 1950 wurde Fauser vom Innenministerium in den Wartestand versetzt, im Januar 1951 beantragte sie ihre Versetzung in den Ruhestand.1331 Ihre Zurruhesetzung folgte im April 1951 durch den Staatspräsidenten.1332 Die Ärztin erhielt vier Monate Übergangsgehalt, ehe ihr ab August 1951 ein Ruhegehalt zugebilligt wurde.1333 Ein Dienststrafverfahren wegen möglichen „schuldhafte[n] Verletzungen der Beamtenpflicht“ wurde im

Todesanzeige aus der Stuttgarter Zeitung, 9.11.1962, Personalakte Dr. Eyrich, ebd. Schreiben von Ökonomieverwalter Metzger an das Innenministerium Tübingen, 23.7.1943, StAS Wü 42 T 60 Nr. 116. 1325 Staatskommissariat für politische Säuberung in Württemberg-Hohenzollern, 10.7.1950, Spruchkammerakten Dr. Fauser, StAS Wü 13 T 2 Nr. 1425/011. 1326 Spruch im Säuberungsverfahren, 25.7.1950, Spruchkammerakten Dr. Fauser, ebd. 1327 Ebd. 1328 Zeugnis von Anna Donndorf, 14.4.1950, Spruchkammerakten Dr. Fauser, ebd. 1329 Zeugnis von Dr. Halder, 25.7.1950, Spruchkammerakten Dr. Fauser, ebd. 1330 Vermerk aus der Personalakte, 1.9.1944, StAS Wü 42 T 60 Nr. 116. 1331 Schreiben des Innenministeriums vom 3.1.1951, Antrag Fausers auf Versetzung in den Ruhestand, 18.1.1951, Personalakte Dr. Fauser, ebd. 1332 Das Land Württemberg-Hohenzollern, 12.4.1951, ebd. 1333 Land Württemberg-Hohenzollern, 7.7.1952, ebd. 1323 1324

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August 1951 eingestellt.1334 Dorothee Breucker erforschte Fausers Leben als Pensionärin.1335 Fauser, die 1953 nach Ravensburg zog, führte ein aktives Leben. Sie kegelte, wanderte im Schwäbischen Albverein und spielte wöchentlich Rommé. Auch ihr Faible für Musik begleitete die Medizinerin im Ruhestand. Sie besuchte Cafés, in denen klassische Musik gespielt wurde.1336 Die Ärztin war dabei keine Einzelgängerin. Sie bekam Besuch von ihrer Schwester aus der Schweiz und ihren Nichten und pflegte auch den Kontakt zu anderen Bekannten. Empfand die Pensionärin Schuld oder Reue? Eher nicht, so das Urteil einer Zeitzeugin, die mit Dorothee Breucker sprach.1337 Fauser habe weiterhin in dem Glauben gelebt, dass sie Patienten gerettet habe. Ihr schon im Prozess häufig beschriebener Charakter blieb auch in Ravensburg nicht unentdeckt – Sie galt als eigen und seltsam. Außerdem wussten auch ihre Bekannten, dass sie etwas mit den Krankentötungen zu tun hatte und schon einmal im Gefängnis gewesen war. Man sprach allerdings nicht mit ihr darüber.1338 Die Medizinerin selbst wurde in den 1960er Jahren noch mehrmals zum Patientenmord befragt. So sagte sie vor einer Sonderkommission des Landeskriminalamts Baden-Württemberg zum Tötungsarzt Dr. Schumann1339, dem Chemiker Dr. Becker und zu Dr. Gerhard Bohne aus.1340 1962 machte sie Angaben im Verfahren gegen den Tötungsarzt Georg Renno.1341 Auch im Verfahren gegen Dr. Bohne, Reinhold Vorberg und Dietrich Allers sollte die Ärztin auf Bitten des Landgerichts Frankfurt eine Aussage machen.1342 Martha Fauser erkrankte spät im Leben noch an einer Knochenkrankheit und starb am 7. September 1975 in Ravensburg an einem Schlaganfall.1343 Otto Mauthe und Alfons Stegmann ließen gegen das Urteil durch ihre Verteidiger Revision einlegen. In einer erneuten Verhandlung im März 1950 verwarf das Gericht diese und bestätigte damit die im Juli 1949 gefallene Entscheidung.1344 Stegmanns Personalakte Dr. Fauser, ebd. Breucker (1998), S. 388. S. ebd. S. ebd. S. ebd. Zum Leben von Horst Schumann sei auf seine Verfahrensakte verwiesen. S. BArch B 162/4466. Dem ehemaligen Grafenecker Tötungsarzt Schumann wurde 1969 der Prozess gemacht. Er hatte es geschafft, 1951 aus Deutschland zu fliehen, als er erfahren hatte, dass in Tübingen Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war. Nach einer dreijährigen Tätigkeit als Schiffsarzt versuchte er über Ägypten in den Sudan zu gelangen, wo er dann bis Mitte 1959 als Leiter eines Instituts zur Bekämpfung der Schlafkrankheit und als Leiter eines allgemeinen Krankenhauses tätig war. Es folgte eine Tätigkeit in Ghana, wo er das Vertrauen des ghanaischen Staatschefs Nkrumah genoss. Nach dem Umsturz 1966 und dem Machtverlust von Nkrumah wurde Schumann an Deutschland ausgeliefert. Fauser sagte im Prozess gegen den Tötungsarzt aus. Als Zeugen im Prozess waren auch Stegmann und Mauthe geladen. 1340 Martha Fauser vor dem Landeskriminalamt, 7.7.1960, BArch B 162/487. 1341 Martha Fauser, 6.4.1962, ebd. 1342 Personalakte Dr. Fauser, HStAS EA 2/150 Bü 324. 1343 Der Abschnitt über Fausers Leben in Ravensburg entstammt Breucker (1998), S. 388. Zum genauen Todesdatum s. Karteikarte Martha Fauser, BArch B 162/30372/ZStL 449 AR 128/83. 1344 Revision, 22.3.1950, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1752/03/03. 1334 1335 1336 1337 1338 1339

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finanzielle und familiäre Lage war nicht erst nach dem Urteil prekär. Seine Frau war noch vor der Hauptverhandlung an Tuberkulose erkrankt, verbrachte längere Zeit als Patientin in der medizinischen Klinik in Tübingen.1345 Die Betreuung der vier schulpflichtigen Kinder bereitete dem Arzt Sorgen, vor allem weil sein Strafantritt näher rückte.1346 Dieser war für den 20. April 1950 geplant.1347 Stegmann, den selbst ein Augenleiden plagte, ließ durch seinen Rechtsanwalt einen Haftaufschub beantragen.1348 Dieser wurde von der Staatsanwaltschaft gewährt. Der Mediziner trat in der Folge seine Haftstrafe nie an. Er konnte zahlreiche ärztliche Zeugnisse vorlegen, die ihm eine Haftunfähigkeit bescheinigten. 1950 versuchte Stegmann erstmals, eine Aussetzung der Strafe über den Gnadenweg zu erreichen. Seine Frau setzte sich, ebenso wie der ehemalige Bürgermeister Zwiefaltens und das Zwiefaltener Bürgeramt, für den Mediziner ein. In einem Brief an den Staatspräsidenten von Württemberg-Hohenzollern schrieb Gisela Stegmann, wie unglaublich die Beschreibungen ihres Mannes im Revisionsverfahren gewesen seien. Dort sei er „kaltblütig“ und „gefühlsarm“ genannt worden. Diese Charakterisierung habe bei Menschen, die Stegmann kannten, „Entrüstung“ hervorgerufen.1349 „Überall, wo er als Arzt tätig war, war er sehr beliebt und hat sich in jeder Weise für seine Kranken aufgeopfert“1350, so seine Frau. Sehr gelitten habe ihr Mann damals, der „immer mit Leib und Seele Arzt“ gewesen sei, als er „tatenlos“ bei der Deportation der Patienten zusehen musste.1351 Seinen Fortgang als Direktor der Anstalt Zwiefalten deutete seine Frau dann als glückliche Fügung: „Wir waren darum beide sehr froh, als er in die freie Praxis hinüberwechseln konnte.“1352 Den wahren Grund für Stegmanns Weggang als Direktor in Zwiefalten verschwieg seine Ehefrau. Im Prozess habe der Mediziner einen gleichgültigen Eindruck hinterlassen, weil er in Gedanken immer bei ihr, seiner erkrankten Frau, gewesen sei.1353 Der Gemeinderat in Zwiefalten zeigte sich ebenfalls überrascht über die Darstellung des Arztes im Prozess, denn in Zwiefalten sei er auf Grund seiner „Menschenfreundlichkeit und Arbeitswilligkeit“ bekannt.1354 In einer Stellungnahme zum Gnadengesuch des Arztes äußerte sich auch Oberamtsrichter Dieterich. Stegmann sei, im Gegensatz zu anderen Anstaltsleitern, verurteilt worden, weil das Gericht bei ihm keine Schuldausschließungsgründe anerkennen konnte. „Bei der verhältnismässigen Milde der Strafe sind die guten Seiten

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Schreiben Gisela Stegmann an den Staatspräsidenten, 5.4.1950, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/11. S. ebd. S. Schreiben Staatsanwaltschaft Tübingen, 24.4.1950, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/11. Schreiben des Rechtsanwalts Dr. Völker, 8.4.1950, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/10. Schreiben Gisela Stegmann an Gebhard Müller, 5.4.1950, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/11. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Franz Schneider an Gilsdorf, 29.3.1950, ebd.

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seiner Persönlichkeit, die er zweifellos hat, berücksichtigt“1355, so der Richter. Dieterich trat Stegmanns Gnadengesuch entgegen. Auch der Oberstaatsanwalt lehnte das Gesuch ab.1356 Stegmann wollte sich mit dem ablehnenden Bescheid nicht zu Frieden geben. Er ließ durch seinen Anwalt Beschwerde einlegen, welche dann vom Oberstaatsanwalt gemeinsam mit den Gnadenakten und Akten zum Grafeneck-Prozess an den Staatspräsidenten zur Entscheidung verwiesen wurde. Im November 1950 lehnte Gebhard Müller die Bitte des Psychiaters um einen Erlass der Strafe ab.1357 Durch den Einsatz des Bischofs von Rottenburg, Dr. Leiprecht, konnte ein vorübergehender Strafaufschub für den Arzt bewirkt werden.1358 Ein erneutes Gnadengesuch vom April 1951 zeigte Erfolg. Zwar lehnte der Oberstaatsanwalt das Gesuch immer noch ab, doch hatte sich Dieterichs Meinung geändert. Der Oberamtsrichter griff damit die allgemeine Stimmung in Politik und Bevölkerung auf, die nicht nur ein Ende der Entnazifizierungen gefordert hatte, sondern auch die Begnadigungen einiger Landsberger Häftlinge durch den Hohen Kommissar McCloy beeinflusste.1359 Dazu schrieb Dieterich: „Wegen weit schwererer Taten mit politischem Gewicht sind inzwischen Begnadigungen erfolgt u. bedeutendere Täter aus der Haft entlassen worden.“1360 1951 begnadigte Ministerpräsident Gebhard Müller den Mediziner unter Bewilligung einer Bewährungsfrist.1361 Im Juli 1950 fand eine Revision von Stegmanns Spruchkammerverfahren statt. Die Spruchkammer stufte den Arzt als „Minderbelasteten“ ein und verhängte eine Bewährungsfrist von vier Jahren. Die Kammer verzichtete auf die Auferlegung eines Berufsverbots für diese Zeit.1362 Die Familie Stegmann zog im Januar 1954 nach Bad Waldsee, wo die finanzielle Not bald überwunden wurde. Stegmann eröffnete eine Praxis und war „durch seine leutselige Art […] bei der Bevölkerung beliebt“1363. Er lebte keineswegs zurückgezogen, sondern frequentierte Cafés und Veranstaltungen. Bad Waldsee als Kurort bot für den Arzt die Möglichkeit mit Kurgästen Kontakte zu knüpfen.1364 Die Ehe der Stegmanns zerbrach und wurde im Oktober 1967 geschieden. Gisela Stegmann zog nach Münster.1365 Was wussten die Bewohner von Bad Waldsee über Stegmanns Vergangenheit? Zwei Zeitzeuginnen konnten sich nicht

Oberamtsrichter Dieterich, 31.8.1950, ebd. Oberstaatsanwalt, Verfügung vom 4.9.1950, ebd. Der Staatspräsident an das Justizministerium Tübingen, 20.11.1950, ebd. Schreiben des Oberstaatsanwalts an Dr. Leiprecht, 4.1.1951, ebd. Zu den Diskussionen um die verurteilten Kriegsverbrecher s. Frei (1996), S. 163–195. Oberamtsrichter Dieterich, 15.5.1951, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/11. Schreiben des Landes Württemberg-Hohenzollern an die Staatsanwaltschaft Tübingen, 5.10.1951, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/10. 1362 Spruch im Entnazifizierungsverfahren, 25.7.1950, Spruchkammerakten Dr. Stegmann, StAS Wü 13 T 2 Nr. 2679/154 1363 Landespolizeiposten Waldsee, 11.10.1955, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/11. 1364 Ebd. 1365 Karteikarte Alfons Stegmann der Einwohnermeldekartei, StdABW. Mit Dank an Michael Barczyk, Stadtarchivar. 1355 1356 1357 1358 1359 1360 1361

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daran erinnern, dass der Arzt im Kurort besonders beliebt oder integriert gewesen sei. Möglicherweise wurde im Laufe der Zeit seine Beteiligung an der „Euthanasie“ publik. Eine Zeitzeugin erinnerte sich, dass Stegmann mit „Behinderten“ zu tun gehabt und diese „entsprechender Behandlung zugeführt“ habe.1366 Einer weiteren Bewohnerin war Stegmann ebenfalls noch präsent. Ihr Vater hatte dem Mediziner in den 1960er Jahren sein Haus vermietet. Sie sagte im Gespräch: Ich habe kaum mit Alfons Stegmann gesprochen, man grüßte sich halt  – er war nicht geachtet. Man wusste, dass er aktiv im 3. Reich gewesen war. Ich glaub‘, er hat als Arzt in Zwiefalten Schlimmes getan, ich weiß nicht, ob er aktiv Menschen vergast hat oder nur an der Organisation beteiligt war. Er hatte vier Kinder, ließ sich von seiner Frau scheiden, die dann im Kurgebiet beruflich tätig war. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Man sagte immer, er sei weit weggezogen!1367

1968 verließ der Mediziner Bad Waldsee. Er starb am 27. Februar 1984 im Alter von 75 Jahren in Riedlingen. Alfons Stegmann wurde in Zwiefalten beerdigt. Otto Mauthe hatte schon während der Voruntersuchung in zahlreichen Stellungnahmen seine eigene Beteiligung an den NS-Verbrechen zu legitimieren versucht. Das Werk von Hans Windisch, Führer und Verführte, von 1946, diente dem Mediziner als Hilfe, seine Gedanken in Worte zu fassen, denn er teilte die Auffassungen des Autors vom „3. Reich damals & heute“1368. Windisch beschäftigte sich nicht nur mit der Situation der deutschen Bevölkerung nach der „totalen Kapitulation“, sondern versuchte auch der Frage nachzugehen, ob sich die Deutschen schuldig gemacht hatten. Und so zitierte Otto Mauthe aus Führer und Verführte, um die Frage nach seiner Schuld zu erörtern: „Der Begriff der Schuld hat keine mathematische Grenzlinie und zuletzt entscheidet – das Gewissen. Nur das Gewissen, kein irdischer Richter mehr.“1369 Erfolgreich habe er gegen das „Wüten der Parteimaschine“ und gegen die „Grausamkeit von Grafeneck“ aufbegehrt und dabei nicht nur sein Leben, sondern auch seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt.1370 „Ist das nicht die grösste Tragik, mein Schicksal heute?!“1371, fragte er dann. Nach dem Urteil im Prozess 1949 verbüßte Otto Mauthe knapp zwei Wochen seiner Strafe in der Justizvollzugsanstalt Rottenburg, ehe er wegen Haftunfähigkeit entlassen wurde. Es folgte die Revision des Verfahrens, die scheiterte. Schon im Mai 1950 bereitete der ehemalige Senatspräsident Dr. Coste ein Gnadengesuch für

1366 Zeitzeugengespräch mit einer 95-jährigen Archivnutzerin durch den Stadtarchivar Michael Barczyk, 19.3.2015, Bad Waldsee. 1367 Zeitzeugengespräch durch Michael Barczyk, Stadtarchivar Bad Waldsee. 1368 Stellungnahme Otto Mauthe, 15.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/09. 1369 Windisch (1946), S. 92, s. auch Stellungnahme Otto Mauthe, 15.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/09. 1370 Stellungnahme Otto Mauthe, 15.1.1948, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/09. 1371 Ebd.

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Mauthe vor.1372 Seine Bitte, dass Mauthe bis zur Stellungnahme des Bischofs von Rottenburg zum Gnadengesuch Haftaufschub erhalte und nicht auf seine Haftfähigkeit untersucht werden müsse, lehnte der Oberstaatsanwalt ab. Mauthe litt unter der drohenden Haft. Er machte für seinen schlechten Gesundheitszustand seine Verwicklung in die „Euthanasie“ verantwortlich. Der Arzt stellte dabei zwischen seiner Krankheit und seiner Beteiligung an den Krankentötungen einen auf den ersten Blick unerwarteten kausalen Zusammenhang her. Er wurde nicht etwa krank, weil er an der Grausamkeit des Verbrechens litt, an dem er auch Verantwortung trug, sondern weil er die ganze Zeit dem Druck seines Vorgesetzten ausgesetzt gewesen war und heimlich Widerstand leisten musste.1373 Krank hatte ihn also seine „Opferung“ für die Patienten gemacht. Eine Selbst-Viktimisierung wie die von Mauthe war dabei keineswegs untypisch für Menschen, die im „Dritten Reich“ mit Gewalt und Grausamkeiten in Berührung gekommen waren. Vielmehr versuchten die Deutschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs durch die Darstellung der eigenen Opferrolle die im „Dritten Reich“ begangenen Verbrechen zu relativieren und in den Hintergrund zu drängen.1374 So machte sich Mauthe selbst zum „Opfer“ Stähles und stellte sein eigenes Leid dem Tod der zehntausend in Grafeneck ermordeten Patienten gegenüber. Der Arzt bezog sein Leid allerdings nicht nur auf die Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch auf alles, was danach geschah. Es war für den Mediziner schwer nachvollziehbar, dass er als einer der wenigen mit den Krankentötungen konfrontierten Ärzte zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, während seine Kollegen in anderen „Euthanasie“-Prozessen freigesprochen worden waren.1375 Geprägt wohl von der aus Bonn betriebenen „Vergangenheitspolitik“, die sich auch mit der Kriegsverbrecherfrage beschäftigte, fühlte sich der Arzt in der Nachkriegszeit ungerecht behandelt  – er war ein zweites Mal „Opfer“ geworden.1376 Vor allem das Urteil im Prozess empfand der Beamte als große Misere: „Das Urteil stellt ein schweres Unrecht gegen mich und meine Familie dar, denn ich bin wirklich niemals ‚schuldig‘ geworden, im Gegenteil ich habe unter Einsatz meines Lebens und Opferung meiner Gesundheit dem Verbrechen von Grafeneck soweit wie möglich entgegengearbeitet.“1377 Mauthe brüskierte sich auch über die Darstellung Eyrichs im Prozess als „Widerstandskämpfer“.1378 Sowieso habe die Verhandlung Propagandazwecken gedient, „dafür sprach ja auch der Ort der Verhandlung, der Rittersaal des Tübinger Schlosses […]“1379, so Mauthe. Er war der Überzeugung, dass die

1372 Schreiben Dr. Coste an den Oberstaatsanwalt beim Landgericht Tübingen, 26.7.1950, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/03. 1373 Stellungnahme Dr. Mauthe, 15.5.1951, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/01/03. 1374 S. Goltermann (2011), S. 14 f. 1375 Stellungnahme Dr. Otto Mauthe, 15.11.1951, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/01/04. 1376 Ebd. 1377 Stellungnahme Dr. Otto Mauthe, 15.5.1951, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/01/03. 1378 Ebd. 1379 Ebd.

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Justiz einen „Schuldigen“ benötigt habe. Mauthes Eingaben zeigten keinen Erfolg. Zwar befürwortete der Bischof von Rottenburg einen Erlass der Strafe im Gnadenweg,1380 es blieb jedoch bei der Ablehnung. Zu einem Strafantritt Mauthes kam es dennoch nicht. Durch ärztliche Bescheinigung wurde dem Mediziner weiter Haftunfähigkeit attestiert. Im April 1951 sollte er sich einer erneuten Untersuchung durch den Gefängnisarzt in Hohenasperg unterziehen. Dort bestünde die Möglichkeit, Mauthe im Krankenhaus des Gefängnisses unterzubringen. Mauthe wehrte sich vehement gegen eine erneute Untersuchung, obwohl auch der Hohenasperger Arzt eine Unterbringung im Gefängnis für durchaus sinnvoll betrachtete: „Gerade bei Herrn Dr. Mauthe, der lt. Gutachten unter diesen seelischen Erregungen leidet, wäre es günstiger, seine Prozess- u. Strafsache einmal abzuschliessen, als in der Freiheit unter dauernder Bedrohung, einmal doch inhaftiert zu werden, zu leiden.“1381 Mauthe bat den Staatsanwalt, ihn nicht zu einer Untersuchung nach Hohenasperg zu schicken, denn „zweifellos stellt die Erregung, die die angeordnete Untersuchung in einer Strafanstalt im Gegensatz zur Untersuchung in der Klinik mit sich bringen würde, eine schwere Gefahr für mich dar“1382. Der Mediziner entging der Untersuchung nicht, zweifelte aber an den Fähigkeiten des Arztes und konnte dessen „diesbezügliches Urteil nicht anerkennen“.1383 Lange blieb das Gnadengesuch, das der ehemalige Senatspräsident Coste im Oktober 1950 eingereicht hatte, in der Schwebe. Mauthe machte immer wieder schriftliche Ergänzungen zum Gnadenverfahren, in denen er sich zum Justizopfer deklarierte. Oberamtsrichter Dieterich äußerte sich im Oktober 1951 zur Frage, ob er einen Erlass der Strafe befürworten könne. Der Richter gab in einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft an, er wolle eigentlich Costes Gesuch nicht entgegentreten, weil Mauthe wenigstens eine Zeit lang im Gefängnis gesessen habe. Doch habe sich der Arzt durch seine Stellungnahmen zum Gnadengesuch „so uneinsichtig“ gezeigt, „dass ein Gnadenerweis die Gefahr in sich birgt, dass Dr. Mauthe einen Straferlass als Beweis für die Richtigkeit seiner abwegigen Ausführungen ansieht und ausschlachtet“.1384 Doch hatte Dieterich vom Mediziner den Eindruck, „dass er irgendwie fühlt, dass er nicht richtig gehandelt hat, und dieses Minderwertigkeitsgefühl durch solche Überlegungen, wie sie die Eingaben enthalten, auch sich selbst gegenüber gewaltsam unterdrücken will und seiner Natur nach geradezu muss“.1385 Der Richter konnte dem Gedanken, „einen Schlussstrich zu ziehen“, zustimmen. Er befürwortete, unter Voraussetzung einer langen Bewährungsstrafe, einen Strafaufschub für die Reststrafe.1386 Der 1380 Befürwortung des Gnadengesuchs durch den Bischof von Rottenburg, 14.11.1950, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/01/01. 1381 Schreiben Dr. Mauch, 25.4.1951, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/05. 1382 Schreiben Mauthe an den Oberstaatsanwalt, 30.4.1950, ebd. 1383 Schreiben Dr. Mauthe, 28.5.1951, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/01/03. 1384 Oberamtsrichter Dieterich, 6.10.1951, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/06. 1385 Ebd. 1386 Ebd.

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Oberstaatsanwalt stimmte Dieterich „trotz ernster Bedenken wegen der völligen Einsichtslosigkeit des Verurteilten“ zu, fügte aber hinzu, dass seine Überlegung von dem Gedanken getragen worden sei, dass auch in Zukunft ein Strafantritt Mauthes „problematisch“ bleiben werde.1387 Im Dezember 1951 bewilligte Staatspräsident Gebhard Müller die Aussetzung der Reststrafe unter Bewilligung einer Bewährungsfrist bis Dezember 1956.1388 Der Mediziner hatte seinen Kampf gewonnen. Finanziell ging es ihm und seiner Familie schlecht. Die Bitte an das Innenministerium, ihm eine Pension zu gewähren, scheiterte, obwohl er darauf hingewiesen hatte, dass Martha Fauser bereits eine Pension erhalte.1389 Das Innenministerium legte ihm nahe, sein Spruchkammerverfahren voranzutreiben. Es dauerte allerdings noch bis September 1953, ehe Mauthes politische Säuberung zu einem Abschluss fand. Der Arzt profitierte dabei von der „Vergangenheitspolitik“ der Bundesregierung und fiel unter das Gesetz Nr. 1078 zum Abschluss der politischen Befreiung vom 3.  April 1950. Dieses Gesetz bestimmte eine Einstellung des Spruchkammerverfahrens, wenn „auf Grund des Ergebnisses der Ermittlungen des öffentlichen Klägers kein hinreichender Verdacht [bestehe], daß ein Betroffener Hauptschuldiger oder Belasteter ist“1390. Zwar hatte die Klageschrift noch eine Einordnung Mauthes in die Gruppe der „Belasteten“ gefordert, jedoch hielt die Kammer nach eigenen Ermittlungen und zahlreichen Zeugnissen, die Mauthe vorweisen konnte, eine Einordnung in Kategorie I oder II für nicht sehr wahrscheinlich.1391 Das Verfahren wurde eingestellt. Die finanziellen Probleme Otto Mauthes ließen sich 1954 lösen. In einem Gesuch an das Innenministerium bat Mauthe um „gnadenweise Aufhebung der beamtenrechtlichen Folgen des Urteils“ im Grafeneck-Prozess.1392 Das Innenministerium leitete das Schreiben Mauthes an Oberamtsrichter Dieterich mit der Bitte um eine Stellungnahme weiter. Dieser stellte sich dem Gesuch nicht entgegen, denn schon allein strafrechtlich hätte das Urteil keine Auswirkung auf eine gnadenweise Aufhebung der beamtenrechtlichen Folgen.1393 Für Dieterich habe dieser Punkt allein aber nicht seine Befürwortung ausgelöst. Er erklärte dazu: Dr. Mauthe ist jetzt ein 61 Jahre alter kranker Mann. Er ist der Sohn eines Forstmeisters, also eines Beamten. Er machte den 1. Weltkrieg mit. In der medizinischen Staatsprüfung hatte er „sehr gut“. Seit 1927 war er Oberamtsarzt. Man kann auf Grund seines Herkommens, seiner Prüfung und seiner Laufbahn annehmen, daß er sich vor 1933 als ein brauchbarer Beamter gezeigt hat. […] Ich glaube, daß man sagen kann, er hat als einer derjeni-

Staatsanwaltschaft Tübingen, 29.10.1951, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/02/06. Dr. Gebhard Müller, 21.12.1951, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/01/05. Schreiben Otto Mauthe, 15.11.1951, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/01/04. Gesetz Nr. 1078 zum Abschluss der politischen Befreiung, 3.4.1950, http://www.verfassungen.de/ bw/wuerttemberg-baden/befreiungsbeendigungssgesetz50.htm (letzter Zugriff am 28.3.2019) 1391 Spruchkammerakte Dr. Mauthe, Spruch vom 23.9.1953, StAL EL 902/12 Bü 8246. 1392 Schreiben des Innenministeriums Baden-Württemberg, 3.12.1953, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/04/05. 1393 Oberamtsrichter Dieterich, 21.1.1954, ebd. 1387 1388 1389 1390

Das Leben der vier Ärzte in der jungen Republik

gen, der bei der Aktion der Tötung von Geisteskranken keine führende Rolle gespielt hat und nur aus Schwäche mitgemacht hat, nun genügend gebüßt, so daß alles in allem ein Gnadenakt, durch den die beamtenrechtlichen Folgen seiner Verurteilung für die Zukunft aufgehoben werden, auch mit der Rücksicht auf seine Familie jetzt verstanden und weitgehend gebilligt werden würde.1394

Ab 1. Juli 1954 erhielt Otto Mauthe zwei Drittel seines verdienten Ruhegehalts.1395 Im September 1955 zog Mauthe mit seiner Familie nach Stuttgart, wo er ein Haus gekauft hatte. Die Familie lebte von der Pension Mauthes, mit deren Hilfe er auch seine jüngeren Kinder finanziell bei der universitären Ausbildung unterstützen konnte. Wie Mauthe sich in die Stuttgarter Gesellschaft integrieren konnte, bleibt unbekannt, er genoss allerdings einen guten Ruf.1396 Im August 1959 erließ die Staatsanwaltschaft Tübingen Otto Mauthe nach der schon 1956 abgelaufenen Bewährungsfrist endgültig die restliche Strafe.1397 Mauthe lebte bis zu seinem Tod im Mai 1974 in Stuttgart.1398

1394 1395 1396 1397 1398

Ebd. Innenministerium Baden-Württemberg, 6.8.1954, ebd. Polizeirevier Stuttgart-Degerloch, 23.7.1959, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/01/05. Verfügung der Staatsanwaltschaft Tübingen, 28.8.1959, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1753/01/05. Er starb am 22.5.1974. S. Klee (2011), S. 396.

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7

Résumé

7.1

Der typische „Euthanasie“-Arzt

Die eingangs formulierte Frage nach der Existenz eines bestimmten Typs des „Euthanasie“-Arztes scheint verneint werden zu müssen. Es ist bekannt, dass nicht nur Ärzte zu Tätern der Massentötungen wurden, sondern diese erst durch die Beteiligung von Menschen verschiedener Berufsgruppen möglich wurde. Darunter fallen Hebammen, Fürsorgeerzieherinnen, Anstaltsmitarbeiter, Beamte des Innenministeriums und in einigen Fällen auch Angehörige, die selbst auf Hinweis des Pflegepersonals ihre Patienten nicht aus den Anstalten holen wollten oder sogar aktiv deren Ermordung forderten. Und so wäre es vielleicht richtiger zu formulieren, ob es einen Typ Mensch gab, der sich besonders leicht zum Mitmachen am Krankenmord bewegen ließ. Wenn also nach dem Typus eines „Euthanasie“-Arztes gefragt wird, so aus dem Grund, dass gerade bei Medizinern die Beteiligung am Massenmord eklatant jeder Ethik zu widersprechen scheint. Die vier im Grafeneck-Prozess Angeklagten wirken auf den ersten Blick als eine recht heterogene Gruppe von Menschen. Die Angeschuldigten unterschieden sich nicht nur in Geschlecht, Alter und Spezialisierung, sondern auch in der Art ihrer Tatbeteiligung. Auf der Anklagebank fanden sich drei Ärzte und eine Ärztin. Otto Mauthe war als Frauenarzt der einzige Nicht-Psychiater der Gruppe. Wie die Mediziner am Massenmord mitarbeiteten und welche strafrechtlichen Konsequenzen sich daraus ergaben, versuchte das Gericht zu klären, wenngleich am Ende einige Verbrechen nicht einmal Erwähnung fanden. Die Richter verurteilten im Grafeneck-Prozess nur die „Beihilfe“ zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Laufe der historischen Forschung wurden für unterschiedliche Tätertypen Begriffe geschaffen, die diese näher beschreiben, Motive für die Tatbeteiligung leichter greifbar machen und die Möglichkeit einer leichteren Zuordnung anderer Täter liefern sollten. Obwohl einzelne Bezeichnungen oft nicht alle Nuancen einer Täterschaft treffen, so helfen sie doch, die Verbrechen besser einzuordnen und die Art der Tatbeteiligung festzumachen. Es scheint nahe zu liegen, Otto Mauthe simpel als „Schreibtischtäter“ zu bezeichnen, eine Charakterisierung, die mit Hannah Arendts Beschreibung von Adolf Eichmann populär wurde und die Beteiligung an Tötungen von Menschen

Ursachen der Tatbeteiligung

im Rahmen eines „Verwaltungsakts“ meint. Erleichtert habe der bürokratische Charakter vielen Tätern das Töten, konstatierte auch Christopher Browning im Zusammenhang mit Tätern des Holocaust.1399 Landesjugendarzt und Kinderpsychiater Max Eyrich, vom Staatsanwalt zum Widerstandskämpfer deklariert, zeigte sich in gewissem Maß als „Weltanschauungstäter“, der „Minderwertige“ asylieren wollte und schon vor der Vernichtungsaktion Analogien zwischen Patienten und „faulen Äpfeln“ herstellte, die es von den „gesunden“ zu trennen galt.1400 Die beiden Psychiater Martha Fauser und Alfons Stegmann stellen die Sorte der wohl am häufigsten in die „Euthanasie“ verwickelten Medizinergruppe dar, die Anstaltsärzte. „Kollaborateure“ beim Massenmord könnte man die beiden nennen. Diese meist von der Holocaust-Forschung entwickelten Täterprofile lassen sich als „heuristisches Instrument“ auch auf „Euthanasie“-Täter anwenden. Betrachtet man den größeren Zusammenhang, die personelle Kontinuität der Täter des Massenmords und der Shoa, so wird dies noch deutlicher. Jedoch reicht die Verwendung eines einzigen Modells zur Analyse der „Grafeneck-Täter“ bei weitem nicht aus, die simple Herunterbrechung der Täterschaft auf einen Begriff greift zu kurz und wird den Facetten der begangenen Verbrechen kaum gerecht. 7.2

Ursachen der Tatbeteiligung

Viele Faktoren spielten bei der Tatbeteiligung der vier Angeklagten eine Rolle. Die Tatsache, dass sie alle am Massenmord mitmachten, erlaubt die Frage nach Gemeinsamkeiten in Biographie, Erfahrungen und Weltanschauung, die diese Teilnahme bedingten. Zwar lässt die Untersuchung von lediglich vier Ärzten keine verallgemeinernden Schlüsse etwa auf das Gros dieser in die „Euthanasie“ verwickelten Berufsgruppe zu, doch lässt sie zumindest Similaritäten zwischen den dargestellten Protagonisten deutlich werden und bewegt sich damit weg von der Subsumierung der Täterschaft unter einen Überbegriff. Wenngleich Motive der Ärzte gefunden werden, so bleibt doch ihre Beteiligung am Massenmord schwer zu begreifen. Auch die über den Prozess berichtenden Journalisten taten sich schwer, das Bild eines eigentlich dem Hippokratischen Eid verpflichteten „Heilers“, mit dem eines „Mörders“ in Einklang zu bringen. Und so suchten sie in ihren Artikeln nach Erklärungen für das Handeln der Mediziner, das sich weit weg von jeglichem ärztlichen Ehrenkodex bewegt hatte: In Jahrhunderten war es das Bemühen der ärztlichen Wissenschaft, Leiden und Schmerzen der Menschheit zu lindern. Den kranken Menschen zu heilen, war nicht erst seit Hippokrates das hohe Ziel des Arztes. Es führt eine Brücke der Spekulation und Methodik von dem Kampf mit den Geburtswehen bis zu dem Bestreben, auch das Sterben des Men-

1399 1400

S. Kapitel 1. S. Eyrich (1939), S. 259.

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Résumé

schen zu erleichtern. Den Anhängern der Euthanasie vor 1933 kann man vielleicht das Mitleid mit der Kreatur und die Achtung vor dem Willen der Kranken und ihrer Angehörigen zubilligen. Jedenfalls ahnten die meisten es nicht, welch grauenvolle Verbrechen einmal im Namen der Euthanasie begangen werden könnten.1401

Anders als der Journalist Otto Färber in seinem Bericht vermutete, hatte die Sterbehilfe-Debatte in der Weimarer Republik wenig mit Mitleid gegenüber chronisch kranken Patienten zu tun, sondern entwickelte sich vor allem aus volkswirtschaftlichen Erwägungen, die von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs inspiriert waren und sich gegen „Ballastexistenzen“ wandten. Diese Kriegserfahrung stellt dann auch für die vier Angeklagten, neben ihrer Befürwortung der Eugenik, die frappierendste Gemeinsamkeit dar. Hinzu treten weitere Faktoren, die als Erklärungsversuch dienen, warum sie bei den Massentötungen mitmachten. Bei Otto Mauthe ist das neben seiner Verwurzelung in der württembergischen Beamtenschaft auch sein stark ausgeprägter ängstlicher Charakter. Für die drei Psychiater zeigte sich das schon seit dem Kaiserreich schwindende Ansehen der Psychiatrie als Antrieb für Reformen und Maßnahmen, die kontinuierlich zu einer ausgrenzenden Medizin führten. 7.2.1

Die Kriegserfahrung

Der Erste Weltkrieg kann für alle vier Ärzte als wichtige Zäsur betrachtet werden. Das Kriegserlebnis prägte die „Erfahrungen [der] zu dieser Zeit heranwachsenden Altersgruppe“ und unterschied sie „relativ scharf von den Erfahrungen anderer Altersgruppen.“1402 Diese unterschiedliche Beeinflussung der Generationen durch den Ersten Weltkrieg als Ereignisfaktor äußerte sich dann in einer gewissen „generationellen Homogenität“, die auch Michael Wildt bei den von ihm untersuchten Tätern des Reichssicherheitshauptamts feststellen konnte.1403 In seiner Radikalität und seiner Kälte gegenüber seinen Patienten unterschied sich der 1908 geborene Arzt Alfons Stegmann von den anderen Angeklagten. Er gehörte der sogenannten „Kriegsjugendgeneration“ an, einer Gruppe von jungen Männern, die ein paar Jahre zu spät geboren waren, um aktiv am Krieg teilzunehmen. Die Chance verpasst zu haben, sich im Kampf zu bewähren und das Vaterland zu verteidigen, sorgte später auch für den stark ausgeprägten Tatendrang der Altersgruppe.1404 Der Mediziner Stegmann entspricht dem Profil, das Michael Wildt von der „Generation des Unbedingten“, den Tätern des Reichssicherheitshauptamts, entwarf. Auch Stegmann war 1401 1402 1403 1404

Otto Färber für die Stuttgarter Nachrichten, 23.6.1949, Nr. 110. S. Herbert (1996), S. 42. S. Wildt (2002), S. 24. Ebd., S. 25.

Ursachen der Tatbeteiligung

Akademiker, begann sein Studium Ende der 1920er Jahre, auch er schloss sich früh der nationalsozialistischen Bewegung an. Dabei war er weniger radikal als die von Wildt beschriebenen Täter, vielleicht fehlte ihm aber auch nur das Ventil, sich auszuleben. Er suchte nach Betätigungsfeldern und spielte mit dem Gedanken, Tötungsarzt zu werden. Auch in dieses Profil hätte der Psychiater gut gepasst. Die Tötungsärzte, die den Gashahn in den Vernichtungszentren bedienten, zeigten biographische Ähnlichkeiten, auch sie gehörten fast ausschließlich zur „Kriegsjugendgeneration“. Im Ersten Weltkrieg arbeitete Martha Fauser als Mitte Zwanzigjährige für ein paar Jahre im Reservelazarett in Stuttgart und pflegte Verwundete. Wie sehr sie die Erlebnisse des Kriegs beeindruckten, beschrieb sie selbst in ihren Aussagen. Die Erfahrung, junge Soldaten sterben zu sehen, ließen die 1889 Geborene zu einer fatalen Einstellung gegenüber Kranken gelangen. Die Patienten, die in der Gaskammer Grafenecks ermordet wurden, betrachtete sie dann auch im Zweiten Weltkrieg als „Kriegsopfer“. Max Eyrich und Otto Mauthe gehörten zur „jungen Frontgeneration“, der Gruppe der zwischen 1890 und 1900 Geborenen.1405 Beide nahmen am Ersten Weltkrieg teil, Eyrich an der Front, Mauthe als Hilfsarzt im Lazarett. Für die Ärzte erschöpften sich die Kriegserfahrungen dann vor allem in der ernüchternden Niederlage ihres Vaterlands und machten ihnen bewusst, dass das Kollektiv mehr zählt als der Einzelne. Diese Einstellung erhielt auch Einzug in die Medizin, die das Wohl des „Volkskörpers“ über das des individuellen Patienten stellte. So kann zusammenfassend konstatiert werden, dass der Erste Weltkrieg alle vier Ärzte nachhaltig prägte. Sein Einfluss auf die jeweilige Generation zeigte dabei aber graduelle Unterschiede. Der junge Arzt Alfons Stegmann radikalisierte sich und entwickelte einen ausgeprägten Tatendrang. Sein Enthusiasmus erschöpfte sich nicht in moralischen Unzulänglichkeiten und zynischen Bemerkungen, sondern führte zu seinen Bestrebungen, selbst aktiv die NS-Ideologien umzusetzen. Fauser, Eyrich und Mauthe als Vertreter der „älteren Generation“, die in Schützengräben und Lazaretten junge Soldaten sterben sahen, beeinflusste die Kriegserfahrung vor allem im Hinblick auf ihre spätere Haltung zu ihren Patienten. Für sie rückte der „Volkskörper“ als hohes Gut in den Fokus ihrer Wertvorstellungen. 7.2.2

Die Eugenik

Die Erbgesundheitslehre gewann Anfang des 20. Jahrhunderts international zunehmend an Einfluss. In Deutschland wurde nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet. Für alle Angeklagten lassen sich Hinweise finden, dass sie eugenische Ideologien

1405

S. Ruck (1996), S. 216.

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befür worteten und auch umsetzten. Eine Unterstützung der Zwangssterilisierungen lässt sich zumindest für Fauser, Eyrich und Mauthe belegen.1406 Der Jugendpsychiater Max Eyrich praktizierte in Weimarer Republik, „Drittem Reich“ und Bundesrepublik. Sein Lebenslauf zeigt nicht nur, wie sich der Jugendarzt ab 1933 den veränderten politischen Rahmenbedingungen anpasste, sondern auch, wie er einige der dehumanisierenden Entwicklungen in der Medizin selbst initiierte. Nach seinem Studium in Tübingen und München legte er die ersten Grundsteine seiner späteren Karriere in den 1920er Jahren in der Tübinger Nervenklinik. Die Arbeit unter Mentor Robert Gaupp ebnete dem Karrieristen Eyrich den Weg hin zu einer Medizin, die nur zwei Möglichkeiten kannte: „Heilen oder Vernichten“1407. Eyrich war dabei in Tübingen nicht nur durch seinen Lehrer Gaupp beeinflusst, sondern war selbst treibende Kraft beim Vorantreiben einer immer mehr auf Selektion ausgerichteten Medizin. Auch nach seinem Weggang aus Tübingen blieb Eyrich der zeitgenössischen Psychiatrie treu, denn auch in Bonn, wo er in der Provinzialkinderanstalt arbeitete, wurde die Erblichkeit der psychiatrischen Erkrankungen zur wichtigsten These. Eyrichs Chef Otto Löwenstein hatte bereits 1923 mit der Anlage einer Erbkartei begonnen.1408 Und mit dem Dogma der Erblichkeit der Geisteskrankheiten begannen die eugenischen Konzepte, bei gleichzeitiger therapeutischer Unheilbarkeit einiger psychiatrischer Erkrankungen, zu greifen. Was Gesetze in der Weimarer Republik noch bremsten, wurde mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ungehemmt propagiert und umgesetzt. Vom „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, auf dessen Umsetzung der Landesjugendarzt stets akribisch pochte, bis zum radikaleren Schritt dieser negativen Eugenik, der Vernichtung der unheilbar Kranken, blieb Eyrich auf einer Linie mit den Nationalsozialisten. So stellte er selbst Anträge auf Zwangssterilisierungen, asylierte „Minderwertige“ und trat für den „vernünftigen Gedanken der Euthanasie“1409 ein. Auch Otto Mauthe und Martha Fauser predigten das Erblichkeits-Dogma, das die zeitgenössische Psychiatrie prägte. So hielt Mauthe Vorträge mit dem Motto „Die grösste Macht der Erde ist die Vererbung“ und beschäftigte sich mit der Erbpflege als „Förderung der guten Erblagen“.1410 Martha Fauser referierte im Rahmen ihrer Tätigkeit für die NS-Frauenschaft über die Mendelschen Gesetze und die Rassenpflege. Für Otto Mauthe musste der einzelne Mensch Opfer für das Volk bringen: „Wer körperlich und geistig nicht gesund und würdig ist, darf sein Leiden nicht im Körper seines Kindes fortsetzen.“1411 Auch der ärztliche Berichterstatter hatte eugenische Ideen S. Kapitel 4. Ebbinghaus, Dörner (2001). S. Waibel (1998), S. 103. Tätigkeitsbericht des Landesjugendarztes, 1.4.1944, HStAS E 151/09 Bü 382. Protokoll eines Vortrags von Otto Mauthe, 31.1.1942, im Heilbronner Tagblatt, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/02.a 1411 Ebd. 1406 1407 1408 1409 1410

Ursachen der Tatbeteiligung

bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten vertreten. „Nach dem Erscheinen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses war es mir möglich, mich weltanschaulich eher auf den Boden der NSDAP zu stellen, weil ich schon lange vor der Machtergreifung ein Anhänger der Sterilisierung gewesen war“1412, so der Arzt. Als Amtsarzt stellte er Anträge auf Unfruchtbarmachung und war Beisitzer in Erbgesundheitsgerichten. Die Psychiaterin Fauser zeigte schon durch die von ihr in den 1930er Jahren in der Anstalt Weissenau befürworteten Zwangssterilisierungen, dass sie die NS-Gesundheitspolitik unterstützte. Nach dem Stopp der „Aktion  T4“ bewies sie dann durch das von ihr in den Krankenakten verwendete Vokabular und durch die vielen Todesfälle in der von ihr geleiteten Anstalt, dass sie auch eine radikalere Variante der Eugenik, die Tötung von „minderwertigen“ Patienten, nicht ablehnte. Ihr Vorgänger als Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten, Alfons Stegmann, war nicht erst mit seiner Beteiligung an der „Euthanasie“ mit der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik konfrontiert. Schon in seiner Dissertation 1937 hatte der Arzt auf die erbbiologische Kartei der Anstalt Winnental zurückgegriffen. Später führte er in Winnental Arbeiten zur erbbiologischen Bestandsaufnahme durch. „Mit dem Engagement vieler Anstaltspsychiater bei der ‚erbbiologischen Bestandsaufnahme‘ verband sich die Hoffnung, die Psychiatrie – über ihre medizinische Dimension hinaus – zu einer eugenischen Leitwissenschaft zu erheben und zu einem die gesamte Gesellschaft umfassenden social engineering zu gelangen.“1413 Beide Anstaltspsychiater, Stegmann wie Fauser, begriffen die „Euthanasie-Aktion“ gleichzeitig als „Chance“ wie auch als „Risiko“.1414 Es ergab sich durch die Ermordung der „schweren Fälle“ die Möglichkeit, Kapazitäten neu zu nutzen und Reformpsychiatrie mit modernen Behandlungsmethoden zu betreiben. Dabei bestand aber gleichzeitig die Gefahr, dass durch Vernichtung des Patientenguts die eigene ärztliche Existenz in Frage gestellt werden könnte.1415 7.2.3

Der „Minderwertigkeitskomplex“ der Anstaltspsychiatrie

Diese Entwicklung innerhalb der Anstaltspsychiatrie, die in der „Euthanasie“ auch eine Chance auf einen Neuanfang sah, muss in ihren Wurzeln erklärt werden. Wenn heute konstatiert wird, dass sich die Gesundheitspolitik mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten radikalisierte und qualitativ veränderte – schlussendlich zur Ausmerzung des „lebensunwerten Lebens“ führte – so wird gleichzeitig auch immer wieder auf Entwicklungen innerhalb der Psychiatrie und Ärzteschaft verwiesen, die diese Verschärfung schon Jahre vor der Machtergreifung bedingt hatten. Heute geht man 1412 1413 1414 1415

Aussage Dr. Mauthe, StAS Wü 29/3 T 1 Nr. 1754/01/06. S. Schmuhl (1993), S. 128. Ebd. Ebd., S. 129.

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davon aus, dass „Zwangssterilisierung und […] Euthanasie vielleicht mehr ein Psychiatrieprogramm als ein Naziprogramm sein könnten“1416. Sozialdarwinistische Erklärungsansätze wurden schon in der Psychiatrie während des Ersten Weltkriegs angewandt und die Dominanz der Lehre von der Erblichkeit wurde auch auf psychiatrische Erkrankungen ausgedehnt, die sich nicht mit den Mendelschen Regeln vereinbaren ließen.1417 Obwohl alle vier im Prozess angeklagten Mediziner abstritten, die „Euthanasie“ befürwortet zu haben, so lassen sich doch Hinweise finden, dass auch sie von den Radikalisierungstendenzen der Psychiatrie- und Medizingeschichte nicht unbeeindruckt blieben. Kernproblem der Psychiatrie war ein sich über Jahrzehnte fortentwickelnder Minderwertigkeitskomplex. Dieser war durch die Unheilbarkeit vieler psychiatrischer Erkrankungen bedingt, der die Psychiater zu Ärzten von Pflegeanstalten mit chronisch Kranken machte und ihr Ansehen innerhalb der Bevölkerung und unter Kollegen schmälerte. Gleichzeitig vollzog sich nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs langsam, mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten dann schneller, ein Umdenken innerhalb der Ärzteschaft. Das Individuum trat hinter dem großen Ganzen zurück, der einzelne Patient konnte zum Wohle des Volkskörpers geopfert werden. Da auch diese Entwicklungen innerhalb der Psychiatrie mit zu einer Beteiligung der Ärzte beigetragen haben, sollen sie kurz erklärt werden. In der Psychiatrie des Kaiserreichs setzte sich ein neues Wissenschaftsverständnis durch, das den Psychiatern für kurze Zeit Selbstvertrauen lieferte. Sie konnten sich durch eine Hinwendung zur „klinisch-deskriptive[n] Betrachtungsweise“, die eng im Zusammenhang mit Emil Kraeplin stand, als „Teil der Wissenschaft“ sehen.1418 Die Anstaltspsychiater, obwohl nicht an einer Universitätsklinik arbeitend, konnten durch die genaue Beobachtung von Krankheitsverläufen „zumindest gedanklich am Prozeß der wissenschaftlichen Erkenntnis“1419 mitwirken. Zwar rückten sie damit noch weiter von jeglichen Ansprüchen ab, ihre Patienten zu heilen, doch gab ihnen die klinische Beobachtung ein gewisses ärztliches Selbstverständnis zurück. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs äußerten sich allerdings Kritiker, die eine Rückbesinnung auf den verwahrenden Charakter der psychiatrischen Anstalten forderten und diese dann zu reinen Pflegeanstalten deklassieren wollten.1420 Nachdem der Erste Weltkrieg verloren war, änderte sich in der Weimarer Republik mit den sozialen Problemen, mit denen die Gesellschaft konfrontiert wurde, auch der Charakter der psychiatrischen Anstalten wieder. Auch nach dem Krieg, in dem tausende Patienten durch Mangelernährung und Entkräftung gestorben waren, blieb die Situation für die Kranken in Anstalten verheerend. Es gab kaum Heizmöglichkeiten, die Ausstattung der Anstalten und die

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S. Dörner (2014), S. 136. Vgl. Hermes (2014), S. 18, Kersting (1996), S. 259. S. Walter (1993), S. 82. Ebd., S. 83. Ebd., S. 84–87.

Ursachen der Tatbeteiligung

Ernährungslage waren schlecht.1421 Ein neues Fürsorgegesetz (1924) sorgte einerseits dafür, dass mehr Patienten in die Anstalten eingewiesen wurden1422, andererseits auch für eine „enge Koppelung von Fürsorgeleistungen und Arbeitsfähigkeit“1423. Die Arbeitsfähigkeit wurde zum Faktor für die Teilnahme der Patienten in der Gesellschaft und entwickelte sich im „Dritten Reich“ zum wichtigsten Kriterium bei der Selektion der Kranken für den „Gnadentod“. In den 1920er Jahren musste die Verweildauer der Patienten in der Anstalt bei steigender Patientenzahl und gleichbleibender Bettenzahl gesenkt werden. Hier kamen nun die Reformpsychiater zum Zug. Gustav Kolb, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen und Hans Roemer, Referent im badischen Innenministerium, vertraten das Konzept der offenen Fürsorge, Hermann Simon, Anstaltsleiter in Gütersloh, forderte eine aktivere Heilbehandlung, eine Art Arbeitstherapie.1424 Die beiden Therapieformen sollten dafür sorgen, dass Patienten die Anstalten schneller verlassen konnten. Gerade diese Reformen verschärften allerdings die Situation der Patienten, immerhin richteten sie sich vor allem an arbeitsfähige oder heilbare Kranke, die außerhalb der Anstalten betreut werden konnten und klammerten die chronisch Kranken, die „schweren Fälle“, aus. Gleichzeitig bargen die neuen Therapien andere Probleme, die hinter Anstaltsmauern nicht wichtig gewesen waren. Immerhin verloren Psychiater an Einfluss auf die Patienten, die sie aus der Anstalt entließen. Dies sorgte dafür, dass gerade Reformpsychiater zu Befürwortern der Sterilisierungen avancierten. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 wurde es schwierig, psychisch Kranke in die offene Fürsorge zu entlassen, da kaum Arbeitsstellen oder Wohnraum für diese Patienten gefunden wurden. Außerdem sorgte die wieder schlechte Ernährungslage dafür, dass viele Kranke arbeitsunfähig wurden.1425 Die Reformpsychiatrie hatte zwar die „Ghettoexistenz“ der Psychiater beendet, jedoch schien sie nun durch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse bedroht. Wieder versuchten die Psychiater aktiv gegen diese neue Krise gegenzusteuern. Weitere Therapien wurden entwickelt, die allerdings nicht dem Wohl des Patienten, sondern mehr dem „beruflichen Eigeninteresse“ der Ärzte dienten.1426 Die Cardiazol- und Insulintherapien sorgten erneut für eine Differenzierung des Patientenguts und schlossen die Unheilbaren aus. Diese Entwicklungen in der Psychiatrie, die mit der Jahrhundertwende begonnen hatten und dann zur Zeit der Weimarer Republik besonders deutlich wurden, machten die Radikalisierung der Gesundheitspolitik im Nationalsozialismus erst möglich und müssen als Kontinuität betrachtet werden.1427 Für einige Psychiater bot der Nationalsozialismus die Möglichkeit 1421 1422 1423 1424 1425 1426 1427

S. Siemen (1993), S. 99 f. Ebd., S. 102. S. Walter (1993), S. 87. Zur Reformpsychiatrie in der Weimarer Republik s. Siemen (1993). S. Schmuhl (1993), S. 124. Ebd. S. Siemen (1993), S. 98 u. Schmuhl (1993), S. 112.

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auf sehr radikale Weise im Hier und Jetzt eine gesellschaftssanitäre Utopie nicht nur zu denken, sondern auch umzusetzen, in der die heilbaren psychisch kranken Menschen durch Einsatz modernster therapeutischer und sozialpsychiatrischer Methoden geheilt und in die Gesellschaft reintegriert, die Unheilbaren vernichtet und die unbotmäßig sich Verhaltenden, außerhalb von Anstalten lebenden Menschen über die Zwangssterilisation und andere repressive Maßnahmen befriedet würden1428.

Mit dieser Entwicklung einher ging eine Veränderung der ärztlichen Ethik, die schon um die Jahrhundertwende begonnen hatte, ab 1933 allerdings erneut einen Schub erhielt. Zu einer Medizin des Individuums gesellte sich eine zweite hinzu: Ärzte mussten auch an das Volk, die Rasse denken. Im Zweifel galt für den Einzelnen, ein Opfer für die Gemeinschaft zu bringen.1429 7.2.4

Weitere Faktoren

So bedingte am Ende auch das Unvermögen der Psychiatrie, Geisteskrankheiten zu heilen, dass die vier Ärzte dem Sog der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik unterlagen, sie sogar prägten. Dabei beeinflussten sich sicher die eugenische Bewegung und die Entwicklungen innerhalb der Anstaltspsychiatrie gegenseitig. Ob nun die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg oder das schlechte Ansehen der Anstaltspsychiatrie mit seinen Konsequenzen die stärkere Wirkung auf die Radikalisierungstendenzen dieser Gruppe von Medizinern ausübten, ist schwer auszumachen. Klar ist, dass zu diesen Erfahrungen weitere treten, die das Mitmachen erklären. Da sind zum einen Persönlichkeitsmerkmale, die vor allem von Otto Mauthe überliefert sind. Besonders ängstlich soll der ärztliche Berichterstatter gewesen sein und deswegen mitgemacht haben. Der Mediziner war als Beamter ein Kollaborateur mit den nationalsozialistischen Machthabern, denn auch er war auf das „Glaubensbekenntnis der administrativen Funktionseliten“ eingeschworen: „Staat – Pflicht – Treue.“1430 Wenn er auch kein überzeugter Nationalsozialist war, so konnte er sich durch diese „generationenlang internalisierte Haltung“ 1431 im neuen Machtgefüge integrieren. Martha Fauser musste sich als Frau in einer männlichen Medizin behaupten. Der mit dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Ärztemangel bot ihr berufliche Aufstiegsmöglichkeiten. Außerdem konnte sie sich in zahlreichen Parteigliederungen engagieren und damit ihre „nationale Zuverlässigkeit“ zeigen. Dadurch gelangte sie beruflich an Positionen, die sie sonst nicht erreicht hätte. 1428 1429 1430 1431

S. Siemen (1993), S. 107 f. S. Winau (1993), S. 111. S. Ruck (1996), S. 260. Ebd., S. 261.

Schluss

Es kann davon ausgegangen werden, dass der berufliche Erfolg nicht nur für Fauser ein wichtiger Antrieb zum Mitmachen war, sondern auch für die anderen Mediziner. Bei Otto Mauthe mag es vor allem die Angst gewesen sein, seine Arbeitsstelle zu verlieren. Max Eyrich, der mehrere Jahre unter einem renommierten Psychiater und mit erfolgreichen Kollegen und späteren Lehrstuhlinhabern zusammengearbeitet hatte, wollte seine Position als einer der einflussreichsten Kinderpsychiater in Süddeutschland sicher nicht einfach aufgeben, sondern weiter ausbauen. Und auch Alfons Stegmann zeigte nicht zuletzt durch seine Bestrebungen, als Tötungsarzt verwendet zu werden, dass er sich nach einem „privilegierten“ Posten umsah. 7.3

Schluss

Viele Elemente trugen dazu bei, dass sich die vier Ärzte Alfons Stegmann, Martha Fauser, Max Eyrich und Otto Mauthe an der „Euthanasie“ beteiligten. Auch diese Arbeit konnte keinen „einfachen Königsweg zur Erklärung der NS-Verbrechen“1432 zeigen. Hinweise auf die Motivlage ließen sich dennoch durch eine Verknüpfung verschiedener Aspekte gewinnen. Zum einen zeigten die Ärzte eine Prägung durch den Ersten Weltkrieg. Die gemeinsame generationelle Erfahrung verwundeter Soldaten oder sterbender Kameraden führte dann v. a. mit dem Zweiten Weltkrieg zu einer radikaleren Haltung gegenüber Kranken, welche zu „nutzlosen Essern“ deklariert wurden. Alle vier Angeklagten zeigten sich zudem als Befürworter der Eugenik, welche international zunehmend an Einfluss gewann und sich zum Ziel setzte, gute Erbanlagen zu fördern und schlechte auszumerzen. Zudem hatten drei der vier Ärzte als Psychiater an einem mangelnden Ansehen ihres Berufes zu kämpfen, welches mitbedingt war durch das Unvermögen der Psychiatrie, einige Geisteskrankheiten zu heilen. So hatten sie selbst Interesse daran, sich des unheilbaren Patientenguts zu entledigen. Die ab 1933 veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sorgten dann dafür, dass die Mediziner, um beruflich weiterhin erfolgreich zu sein, die NS-Gesundheitspolitik umsetzten. Hinzu traten individuelle Motive, die im Charakter der Angeklagten zu suchen sind und die eine Beteiligung am Patientenmord wahrscheinlicher machten. Auch wenn die angeklagten Ärzte in Einzelfällen zur Rettung von Patienten beigetragen haben, so waren sie doch alle von einer neuen ärztlichen Ethik beseelt, die sich nicht erst mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten entwickelt hatte und die das Einzelschicksal eines Patienten hinter das Wohl des Volkes oder des eigenen Berufes zurücktreten ließ.

1432

Bajohr (2013)

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Résumé

Ein knappes Jahr rauchten in Grafeneck die Schornsteine, über 10 000  Patienten starben im Schloss. Nach Ende der „Aktion“ in Württemberg im Dezember 1940 sorgten die Organisatoren für die Deportation der Patienten in andere Tötungsanstalten. Kinder wurden bis 1945 in „Kinderfachabteilungen“ ermordet. Bis 1945 verhungerten Patienten oder starben mittels überdosierter Medikamente in den Heil- und Pflegeanstalten. Die vier angeklagten Mediziner zeigten keine Reue, stilisierten sich zu Widerstandskämpfern oder Opfern der Verhältnisse und konnten sich alle mehr oder weniger gut nach dem Prozess in die Gesellschaft der neu gegründeten Bundesrepublik integrieren. Ob sie die Bilder von Patienten, die in die grauen Omnibusse gezerrt wurden, und vom rauchenden Grafenecker Schornstein verdrängen konnten? Möglicherweise. Und doch bleiben diese Bilder auch bei den nachgeborenen Generationen. Als Mahnmal erinnern zwei aus Beton gegossene graue Omnibusse seit 2006 an die Transporte tausender Patienten in die Tötungszentren. Einer der beiden steht an der Pforte der früheren Anstalt Weissenau, der zweite wechselt seinen Standort. Im Juli 2013 befand dieser sich einen Tag an der Gedenkstätte in Grafeneck. Fotografien aus der Zeit der Krankentötungen, die die rauchenden Schornsteine der Tötungszentren oder die grauen Omnibusse zeigen und oft heimlich aufgenommen worden sind, erinnern auch heute noch an den Krankenmord, brennen sich als „Ikonen der Vernichtung“1433 in unser Gedächtnis, wo sie bleiben. Hoffentlich für immer.

1433

Brink (1998).

8

a. d. a. D. a. S. Abs. Abt. Art. Aufl. BArch Bde. BDM BE betr. bezw. bzw. ca. ccm d. h. d. J. DAI DBG DDR DENA dergl. Dir. Dr. Dr. med. Dr. phil. DRK ds. Js. e. V. ebd. einschl. et al. f.

Abkürzungsverzeichnis

an der außer Dienst an der Saale Absatz Abteilung Artikel Auflage Bundesarchiv Bände Bund Deutscher Mädel Berichterstatter betreffend/e beziehungsweise beziehungsweise circa Kubikzentimeter das heißt des Jahres Deutsches Auslandsinstitut Deutsches Beamtengesetz Deutsche Demokratische Republik Deutsche Nachrichtenagentur dergleichen Direktor Doktor Doktor der Medizin Doktor der Philosophie Deutsches Rotes Kreuz des Jahres eingetragener Verein ebenda einschließlich lateinisch und andere folgend/e/r

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Abkürzungsverzeichnis

feindl. ff. Fr. franz. Frl. g G.-Bund GEKRAT Gestapo Gez. GStA GStaA GT X Hg. HJ HPL HStAS IM JGG KKR KRG KZ landw. LG M. m. E.; ME; M. E. Med. Rat Med. Rät. Min. Dirigent Min. Rat; MinRat Nat. Soz. Nationalsoz. Nr. NS NSDAP NSDStB NSKK NSV Ob. Med. Rat Ob. Med. Rt. OGH Okt. Pg.; P. G.; PG Prof. RAG rd. RDB

feindlich fortfolgend/e/r Frau französisch/e/r Fräulein Gramm Geheim-Bund Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft Geheime Staatspolizei Gezeichnet Generalstaatsanwaltschaft Generalstaatsanwalt Gesundheitsabteilung des württembergischen Innenministeriums Herausgeber Hitler-Jugend Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn Hauptstaatsarchiv Stuttgart Innenministerium Jugendgerichtsgesetz Kinderkrankenhaus Rothenburgsort Kontrollratsgesetz Konzentrationslager landwirtschaftlich Landgericht Monsieur Meines Erachtens Medizinalrat Medizinalrätin Ministerialdirigent Ministerialrat Nationalsozialismus Nationalsozialist/en Nummer Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Obermedizinalrat Obermedizinalrat Oberster Gerichtshof für die britische Zone Oktober Parteigenosse Professor Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten rund Reichsbund der Deutschen Beamten

Abkürzungsverzeichnis

rev. RIM RJWG RMDI RStGB S. s. SA Scopol. Sept. sog. SPD SS St. städt. StAL StAS StdABW StdAS stellv. StGB Stgt. therapeut. „T4“ u. u. a. u. a. u. ä. UAH UAT u. W. UdSSR UK-Stellung Univ. Diss. Univ. usw. v. Chr. VDA vgl. VVN WehrG Wttbg. württ. z. B.

revidiert/e Reichsinnenministerium Reichsjugendwohlfahrtsgesetz Reichsministerium des Inneren Reichsstrafgesetzbuch Seite siehe Sturmabteilung der NSDAP Scopalamin September sogenannte/r Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel der NSDAP Sankt städtisch Staatsarchiv Ludwigsburg Staatsarchiv Sigmaringen Stadtarchiv Bad Waldsee Stadtarchiv Stuttgart stellvertretend Strafgesetzbuch Stuttgart therapeutisch Pseudonym für die „Euthanasie“-Zentrale in Berlin und und andere unter anderem und ähnliche/s Universitätsarchiv Heidelberg Universitätsarchiv Tübingen unseres Wissens Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Unabkömmlichstellung Universitäts-Dissertation Universität und so weiter vor Christus Volksbund für das Deutschtum im Ausland vergleiche Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Wehrgesetz Württemberg württembergisch/e/r/s zum Beispiel

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Schloss Grafeneck. Fotographie von Steffen Brenner. ............................................................ 22 Abb. 2: Martha Fauser. Passakte. StAL F 215 Bü 13. ............................................................................... 67 Abb. 3: Martha Fauser. Passakte. StAL F 215 Bü 168. ............................................................................. 78 Abb. 4: Max Eyrich. Personalakte. HStAS EA 2/150 Bü 315. ............................................................. 104 Abb. 5: Otto Mauthe. Passakte. StAL F 215 Bü 184. ..............................................................................145

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10.1

Archive

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contubernium Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte

Herausgegeben von Jörg Baten, Ewald Frie, Sigrid Hirbodian, Andreas Holzem, Ulrich Köpf, Anton Schindling, Jan Thiessen und Urban Wiesing.

Franz Steiner Verlag

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Stephan Fuchs „Vom Segen des Krieges“ Katholische Gebildete im Ersten Weltkrieg. Eine Studie zur Kriegsdeutung im akademischen Katholizismus 2004. XI, 372 S., geb. ISBN 978-3-515-08316-4 Wilhelm Kühlmann / Anton Schindling (Hg.) Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance 2004. XX, 295 S. mit 28 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08551-9 Sabine Holtz / Gerhard Betsch / Eberhard Zwink (Hg.) Mathesis, Naturphilosophie und Arkanwissenschaft im Umkreis Friedrich Christoph Oetingers (1702–1782) 2005. VIII, 314 S., geb. ISBN 978-3-515-08439-0 Márta Fata / Gyula Kurucz / Anton Schindling (Hg.) Peregrinatio Hungarica Studenten aus Ungarn an deutschen und österreichischen Hochschulen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert 2006. XII, 548 S. mit 29 Abb., 14 Digar. und 3 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-08908-1 Martin Priwitzer Ernst Kretschmer und das Wahnproblem 2007. XIV, 314 S. mit 15 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08562-5 Daniela Siebe (Hg.) „Orte der Gelahrtheit“ Personen, Prozesse und Reformen an protestantischen Universitäten des Alten Reiches 2008. XIV, 267 S. mit 15 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09108-4 Tilman Matthias Schröder Naturwissenschaften und Prote-

stantismus im Deutschen Kaiserreich Die Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und ihre Bedeutung für die Evangelische Theologie 2008. XII, 561 S., 2 Taf., geb. ISBN 978-3-515-09222-7 68. Simone Giese Studenten aus Mitternacht Bildungsideal und peregrinatio academica des schwedischen Adels im Zeichen von Humanismus und Konfessionalisierung 2009. XXVII, 826 S. mit 10 Abb., 25 Graf., 33 Tab. und 2 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-08545-8 69. Thorsten Doneith August Mayer Ein Klinikdirektor in Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Nachkriegszeit 2008. 287 S. mit 13 Abb. und 4 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09237-1 70. Matthias Asche Von der reichen hansischen Bürgeruniversität zur armen mecklenburgischen Landeshochschule Das regionale und soziale Besucherprofil der Universitäten Rostock und Bützow in der Frühen Neuzeit (1500–1800). Zweite, durchgesehene Auflage mit einer kommentierten Bibliographie über neuere Arbeiten zur Rostocker und Bützower Universitätsgeschichte seit dem 575. Gründungsjubiläum im Jahre 1994 2010. XX, 654 S. mit 26 Abb. und 3 Faltktn., geb. ISBN 978-3-515-09264-7 71. Mario Daniels Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert Institutionalisierungsprozesse und Entwicklung des Personenverbandes an der Universität Tübingen 1918–1964 2009. 393 S., geb. ISBN 978-3-515-09284-5

72. Ivo Cerman Habsburgischer Adel und Aufklärung Bildungsverhalten des Wiener Hofadels im 18. Jahrhundert 2010. XIV, 503 S. mit 72 s/w- und 3 Farbabb., geb. ISBN 978-3-515-09639-3 73. Urban Wiesing / Klaus-Rainer Brintzinger / Bernd Grün / Horst Junginger / Susanne Michl (Hg.) Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus 2010. 1136 S. mit 27 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09706-2 74. Christine Absmeier Das schlesische Schulwesen im Jahrhundert der Reformation Ständische Bildungsreformen im Geiste Philipp Melanchthons 2011. VIII, 371 S. mit 5 s/w- und 2 Farbabb., geb. ISBN 978-3-515-09814-4 75. Stefan Warthmann Die Katholische Tübinger Schule Zur Geschichte ihrer Wahrnehmung 2011. XI, 639 S., geb. ISBN 978-3-515-09856-4 76. Tobias Schmidt-Degenhard Vermessen und Vernichten Der NS-„Zigeunerforscher“ Robert Ritter 2012. IX, 246 S. mit 8 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09277-7 77. Julia Riedel Bildungsreform und geistliches Ordenswesen im Ungarn der Aufklärung Die Schulen der Piaristen unter Maria Theresia und Joseph II. 2012. XIV, 611 S. mit 35 s/w- und 8 Farbabb., geb. ISBN 978-3-515-09911-0 78. Thomas Töpfer Die „Freyheit“ der Kinder Territoriale Politik, Schule und Bildungsvermittlung in der vormodernen Stadtgesellschaft. Das Kurfürstentum und Königreich Sachsen 1600–1815 2012. XIV, 482 S. mit 12 Abb. und 9 Tab., geb. ISBN 978-3-515-10042-7 79. Matthias Blum / Rainer Kampling (Hg.) Zwischen katholischer Aufklärung und Ultramontanismus Neutestamentliche Exegeten der

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„Katholischen Tübinger Schule“ im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die katholische Bibelwissenschaft 2012. 271 S. mit 2 Abb. und 2 Tab., geb. ISBN 978-3-515-10199-8 Markus Thurau Paul von Schanz (1841–1905) Zur sozial- und theologiegeschichtlichen Verortung eines katholischen Theologen im langen 19. Jahrhundert 2013. XIV, 511 S. mit 21 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10335-0 Christian Handschuh Die wahre Aufklärung durch Jesum Christum Religiöse Welt- und Gegenwartskonstruktion in der Katholischen Spätaufklärung 2014. 262 S., geb. ISBN 978-3-515-10604-7 Ivo Cerman Aufklärung oder Illuminismus? Die Enzyklopädie des Grafen Franz Josef Thun 2015. 322 S., geb. ISBN 978-3-515-10672-6 Matthias Morgenstern / Reinhold Rieger (Hg.) Das Tübinger Institutum Judaicum Beiträge zu seiner Geschichte und Vorgeschichte seit Adolf Schlatter 2015. 264 S., geb. ISBN 978-3-515-11128-7 Jörg Wagenblast Die Tübinger Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg 2016. 103 S. mit 1 Abb. und 9 Tab., geb. ISBN 978-3-515-11217-8 Bernhard Homa Die Tübinger Philosophische Fakultät 1652–1752 Institution – Disziplinen – Lehrkräfte 2016. 428 S. mit 25 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11568-1 Michal Morawetz Romantik in Böhmen Die Grundlagen des philosophischen Denkens des Grafen Georg von Buquoy 2017. 142 S. mit 2 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11753-1 Norbert Kuhn / Eberhard Schweda Die Geschichte des Fachs Chemie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen 2018. 242 S. mit 62 Abb., geb. ISBN 978-3-515-12049-4

Die Planung und Durchführung der Krankenmorde zur Zeit des Nationalsozialismus ist ein seit Jahrzehnten intensiv erforschtes Thema. Weniger dezidiert hat sich die historische Forschung bisher jedoch mit den Tätern beschäftigt. Verena Christ stellt vier Ärzte in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung, die sich 1949 in Tübingen im sogenannten „Grafeneck-Prozess“ – benannt nach der gleichnamigen Vernichtungsanstalt in Württemberg – für den Mord an über 10.000 „Gemeinschaftsfremden“ verantworten mussten. Christ untersucht, ob sich anhand der verfügbaren Prozessunterlagen ein bestimmter Typus von „Euthanasie“-Arzt

ISBN 978-3-515-12516-1

9 783515 125161

identifizieren lässt. Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen den vier Ärzten, die den tausendfachen Mord an ihren Patienten aktiv unterstützten? In welchen Situationen zweifelten sie an ihren Handlungen? Wann retteten sie Patienten oder zeigten sich mitverantwortlich am Krankenmord? Die Autorin legt dar, mit welchen apologetischen Strategien die vier Angeklagten ihr Handeln später zu rechtfertigen versuchten und ordnet dies in den zeitgeschichtlichen Kontext ein. Zudem zeigt sie, welchen Einfluss das milde Urteil auf die Spruchkammerverfahren (Entnazifizierungen) der vier Ärzte hatte und gibt Einblicke in das Leben der Mediziner nach dem Prozess.

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