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German Pages 433 [436] Year 2013
Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen
Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen Im Auftrag des Sonderforschungsbereichs 804 herausgegeben von Hans Vorländer
Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ an der TU Dresden.
ISBN 978-3-11-030075-8 e-ISBN 978-3-11-030301-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Der im Sommer 2009 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Dresden eingerichtete Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ nimmt zwei jüngere Diskussionsstränge auf: Zum einen die Religionsthematik, der sich die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften wieder verstärkt zugewandt haben und bei der die Rolle der Religion als gesellschaftliche Ordnungsmacht intensiv diskutiert wird; zum anderen die neue Auseinandersetzung über die soziomoralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, die nicht nur innerhalb verschiedener humanwissenschaftlicher Disziplinen, sondern auch in vielen gesellschaftlichen und politischen Bereichen stattgefunden hat und die angesichts großen sozialen, strukturellen und kulturellen Wandels auch weiterhin geführt wird. Der SFB wendet diese Diskurslagen in der konzeptuellen Verknüpfung von „Transzendenz“ und „Gemeinsinn“ zu einer systematischen Fragestellung: Welche Voraussetzungen und Bedingungen sind notwendig für die Konstituierung und Stabilität von sozialen und politischen Ordnungen? Unter „Transzendenz“ werden dabei solche Diskurse und Praktiken gefasst, die soziale und politische Ordnungen im Rekurs auf die Konstruktion von Unverfügbarkeiten begründen. Auf diese Weise wird ein Begriff des Transzendenten etabliert, der weder auf das Christentum noch allein auf monotheistische Religionen oder Erfahrungsbereiche des Religiösen eingeschränkt ist. Der SFB 804 nimmt gerade solche Formen der „Transzendenz“ in den Blick wie die ‚Heiligung‘ von sozialen und politischen Ordnungen, die Rückbindung von politischen und sozialen Ordnungen an Ursprungs- und Herkunftslegenden, die Fortschrittsannahme in Szientismus und Technik, die Überhöhung der Künste im Medium der Ästhetik usw. Als „Gemeinsinn“ wird ein Prozess der Generierung und Behauptung von Sinn bezeichnet, der in seiner doppelten Gerichtetheit – als individueller Sinn für das Gemeinsame und als gemeinsamer Sinn der Individuen – einen für soziale und politische Ordnungen gemeinsamen Horizont des Handelns und Verhaltens schafft. Mit den analytischen Kategorien von Transzendenz und Gemeinsinn kann somit eine neue Perspektive zur Klärung der Grundfrage nach den Voraussetzungen, Bedingungen und Ressourcen für die Konstituierung und Stabilität von sozialen und politischen Ordnungen gewonnen werden: Welche Bedeutung haben Transzendenzen für die Mobilisierung von Handlungsressourcen der Gemeinschaft? Besitzen Gemeinsinnsbehauptungen selber einen transzendenten Status? Untersucht wird, ob und wie Diskurse und Praktiken der Transzendenz Gemeinsinn erzeugen, und ob und wie sich gemeinsame Horizonte des Handelns und Verhaltens auf einen Rahmen von Transzendenzen stützen. Die daraus entstehenden Wechselbezüge, Ambivalenzen und Konflikte sind Gegenstand der empi-
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Vorwort
rischen und systematischen Untersuchungen. In ihnen kann gezeigt werden, wie Transzendenzkonstruktionen und Transzendenzauslegungen mit gemeinsinnigen Bindungs- und Vergemeinschaftungsformen zusammenspielen. Die einzelnen Teilprojekte machen, exemplarisch und historisch-vergleichend, soziale und politische Ordnungsformationen von der Antike bis zur Gegenwart zu ihrem jeweiligen Untersuchungsgegenstand, etwa religiöse Gemeinschaften, städtische Lebenszusammenhänge, höfische Gesellschaften, nationale Staatsbildungen, demokratische und republikanische, auch totalitäre Ordnungen, bestimmte Berufs- und Sozialgruppen, Künstler, Ingenieure, Architekten, Adlige, Gelehrte, Pfarrer, Politiker. Ob und, wenn ja, welche Transzendenzen bei der Konstitution von Ordnungen eine Rolle spielen – das ist Thema des vorliegenden Bandes. In ihm werden Forschungsergebnisse der ersten Förderperiode aus den Teilprojekten versammelt. Diese gemeinsame Publikation von Leiterinnen und Leitern der Einzelprojekte ermöglicht nunmehr eine Zusammenschau der verschiedenen disziplinären Zugänge zur Analyse von Transzendierungsvorgängen und Transzendenzvorstellungen bei der Konstituierung sozialer und politischer Ordnungen. Zugleich können über den historischen Vergleich von Genese und Varianz von Transzendenzen erste systematische Folgerungen gezogen werden. Über „Transzendenzkonkurrenzen“ handelt ein zeitgleich erscheinender weiterer Band, der unter dem Titel „Jenseits der Geltung“ Beiträge der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Teilprojekte des SFB 804 versammelt. Ohne die großzügige Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft wäre das Erscheinen dieses Buches nicht möglich gewesen. Für die redaktionelle Fertigstellung schuldet der Sonderforschungsbereich Herrn Dr. Dietrich Herrmann großen Dank. Dresden, im November 2012
Hans Vorländer Sprecher des SFB 804
Inhaltsverzeichnis Hans Vorländer Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen: Eine Einführung in systematischer Absicht 1 I.
Ordnungen der Stadt – Transzendenzräume Hans-Georg Lippert „Eine Insel Utopia inmitten der kapitalistischen Welt“ Stadtzentrumsplanungen für Freital (Sachsen) in den 1920er Jahren Karl-Siegbert Rehberg Roma capitale delle arti Transzendenzraum und Kunstkonkurrenzen
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II. Ordnungen antiker und dynastischer Herrschaft – Transzendenzkaskaden Martin Jehne, Fritz-Heiner Mutschler Gemeinsinnsbehauptung, Gemeinsinnsmotivation und Transzendenzkonstruktion bei Cicero 97 Cristina Andenna Wer ist zur Herrschaft geeignet? Konstruktion und Dekonstruktion dynastischer Idoneität und Legitimation am Beispiel der späten Staufer 115 Gert Melville Die Bedeutung geschichtlicher Transzendenzräume und ihre Kritik Zum Problem der Plausibilisierung dynastischer Geltungsbehauptungen 142 III. Ordnungen der Bilder – Übergangsräume des Transzendenten Jürgen Müller Zur negativen Theologie des Bildes Jan van Amstels Flucht nach Ägypten und Erasmus von Rotterdam
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Inhaltsverzeichnis
Gerd Schwerhoff Bildersturm und Blasphemie Zum Spannungsfeld von Transzendenz und Gemeinsinn in der Reformationszeit 186 IV. Ordnungen des Sozialen – Transzendenzkonkurrenzen Winfried Müller Gärten der Aufklärung Soziabilität und Naturtranszendierung
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Werner J. Patzelt Transzendenz, Naturrecht und die Gründung stabiler Ordnung Politiktheorie in der Rede Papst Benedikts XVI. vor dem Bundestag Karl Lenz, Sylka Scholz Das idealisierte Kind Eltern-Kind-Beziehungen in populären Erziehungsratgebern V.
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Ordnungen der Technik – Fortschritt als Transzendenzformel Thomas Hänseroth Technischer Fortschritt als Heilsversprechen und seine selbstlosen Bürgen Zur Konstituierung einer Pathosformel der technokratischen Hochmoderne in Deutschland 267 Christian Schwarke The Gospel According to Fortune Technik und Transzendenz in der Mission für eine industrielle Kultur
VI. Ordnungen des Religiösen – Transzendenznarrative der Heiligung Maria Häusl Heiligung, Sinnstiftung und Transzendenz Jesaja 58 und Nehemia 9.10 im Vergleich 313 Matthias Klinghardt Inspiration und Fälschung Die Transzendenzkonstruktion der christlichen Bibel
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Inhaltsverzeichnis
Bruno Klein Göttliche Gotik? Modi der Transzendierung von Sakralarchitektur im hohen und späten Mittelalter 356 Marina Münkler Amicus Dei Konstruktionsformen des Heiligen am Beispiel der Franziskuslegenden 374 VII. Ordnungen der Reflexivität Thomas Rentsch Transzendenz – Konstitution und Reflexion Systematische Überlegungen 397 Über die Autorinnen und Autoren
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Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen: Eine Einführung in systematischer Absicht I. Das Problem der Konstituierung von Ordnungen Für Hannah Arendt ist es eine „uralte Denkgewohnheit des Abendlandes“: Jeder „Uranfang braucht ein Absolutes, aus dem er ‚rational‘ erklärt werden kann“.¹ Zumeist ist es die Figur des Schöpfers, eines höchsten Wesens, eines Urgesetzgebers, auf den der Anfang zurückgeführt wird. Auch sind es Ursprungslegenden oder „Anfangsspekulationen“, die den neuen Anfang ins Recht setzen und ihm eine fortdauernde Legitimität sichern sollen. Das folgt der „biblische[n] Geschichte von dem Auszug der Kinder Israels aus Ägypten oder Vergils Erzählung von den Wanderungen Äneas’, nachdem er aus dem brennenden Troja entkommen war. In beiden Legenden handelt es sich um Befreiung, um die Befreiung aus der Knechtschaft und dem Entrinnen aus sicherem Untergang, und im Mittelpunkt beider Geschichten steht die Prophezeiung künftiger Freiheit, das Versprechen eines gelobten Landes oder die Gründung einer neuen Stadt“.² Die großen Führer solcher Legenden tauchen in einem „legendären Zeitraum zwischen Ende und Anfang, zwischen einem Nicht-mehr und dem Noch-nicht“³ auf. Dieser Umbruch, der Hiatus, die Spekulation um die Zeit zwischen Knechtschaft und Freiheit, zwischen Untergang und Wiedererstehung, sind als Versuche zu
1 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1974, S. 265. Diese Problemexposition entnehme ich in ihrem ersten Teil und leicht verändert aus Hans Vorländer, „Gründung und Geltung. Die Konstitution der Ordnung und die Legitimation der Konstitution“, in: Gert Melville/ Hans Vorländer (Hg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln/Wien/Weimar 2002, S. 243–263. Dank sage ich den Kolleginnen und Kollegen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“, die bei vielen Gelegenheiten dazu beigetragen haben, die dem Forschungsprogramm zugrundeliegenden Ideen und Begriffe weiter entfalten zu können. Karl-Siegbert Rehberg und Gerd Schwerhoff gilt besonderer Dank. Sie haben eine sorgfältige Lektüre des Manuskriptes auf sich genommen; ihnen verdanke ich zahlreiche, sehr wertvolle Anregungen. 2 Arendt, Über die Revolution (wie Anm. 1), S. 263f. 3 Ebd.
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lesen, „die große, unlösbare Frage nach dem Beginn der Welt oder des Seins überhaupt“⁴ zu lösen. Gründungsmythen und Ursprungslegenden sind Erzählungen; Schöpfer, heldenhafte Führer und große Gesetzgeber die dazugehörigen Figuren, welche nicht nur die religiösen Geschichten über den Ursprung der Welt prägen, sondern auch die Entstehung und Krisen antiker Gemeinwesen überliefern. Moses, Solon und Lykurg sind paradigmatische Gründerfiguren, die von ihnen ins Werk gesetzten Ordnungen sind maßstabgebend für nachfolgende Versuche, eine gute Gemeinschaft zu errichten. Vergils Äneas landet in Latium, um hier das untergegangene Troja wiedererstehen zu lassen.⁵ Auch die Moderne kennt ihre Ursprungsgeschichten, ihre Gründungslegenden und Gründergestalten. So verbinden die Vereinigten Staaten von Amerika ihre revolutionäre Loslösung vom englischen Mutterland zuallererst mit den charismatischen Gründungsvätern John Adams und Thomas Jefferson, die an der Formulierung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung beteiligt waren, kaum weniger mit George Washington, aber auch mit den Founding Fathers von 1787, die die noch heute geltende amerikanische Verfassung schufen. Diese Texte wurden zu den kultisch verehrten „heiligen Schriften“ der amerikanischen Gründung und des darauf gestützten amerikanischen Selbstverständnisses.⁶ Auch die Rede vom New Jerusalem und der Topos von God’s Chosen People gehört zu der großen amerikanischen Erzählung von Einwanderern und Siedlern, welche die Länder ihrer Unterdrückung in Europa verlassen hatten, um das „gelobte“, Freiheit und Prosperität ermöglichende Land zu schaffen. Exodus und Zukunftsverheißung, samt eines Promise of American
4 Ebd. 5 Ebd. 6 Hannah Arendt weist in Über die Revolution immer wieder auf die amerikanische Gründungsgeschichte hin. Vgl. darüber hinaus zu diesen Zusammenhängen Robert N. Bellah, „Civil Religion in America“, in: Daedalus 96 (1967), S. 1–21; Sacvan Bercovich, „Konsens und Anarchie. Die Funktion der Rhetorik für die amerikanische Identität“, in: Frank Unger (Hg.), Amerikanische Mythen. Zur inneren Verfassung der Vereinigten Staaten, Frankfurt a.M./ New York 1988, S. 16–43; Klaus M. Kodalle (Hg.), Gott und Politik in USA. Über den Einfluss des Religiösen. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt a.M. 1988; Jürgen Gebhardt, Die Krise des Amerikanismus. Revolutionäre Ordnung und gesellschaftliches Selbstverständnis in der amerikanischen Republik, Stuttgart 1976; Hans Vorländer, „Politische Kultur“, in: Peter Lösche (Hg.), Länderbericht USA, 5. Aufl., Bonn 2008, S. 196–236; Hans Vorländer, Hegemonialer Liberalismus. Politisches Denken und Politische Kultur in den USA 1776–1920, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 27–70; Ulrike Fischer/Hans Vorländer, „Zivilreligion und politisches Selbstverständnis. Religiöse Metaphorik in den Antrittsreden der Präsidenten Ford, Carter, Reagan und Bush“, in: Paul Goetsch/Gerd Hurm (Hg.), Die Rhetorik amerikanischer Präsidenten seit F. D. Roosevelt, Tübingen 1993, S. 217–232.
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Life haben sich zu einer Narration verwoben, die den Moment der Gründung tradieren und die Gegenwart mit der Vergangenheit untrennbar verbinden soll. Hier wie dort, in der Moderne wie in der Antike, scheint die Paradoxie des Neubeginns in ähnlicher Weise aufgelöst zu werden. Die Neugründung als Anfang ex nihilo sollte unbezweifelbar werden durch ein Absolutes, das jenseits des geschaffenen politischen Raumes situiert erscheint. Und zugleich bedarf es, wie Hannah Arendt festhält, „einer transzendenten und absoluten Autorität“, weil nirgends sonst Recht und Gerechtigkeit lokalisiert werden könnten, „an denen sich doch die jeweiligen Gesetze orientieren müssen, wollen sie nicht einfach der Willkür und den jeweiligen, ewig wechselnden Bedürfnissen der Menschen anheimfallen“.⁷ Der Bruch mit jeder Kontinuität des Gewesenen bedarf mithin eines transzendenten Ankerpunktes, um der neuen Ordnung dauerhaft Geltung zu verschaffen. Hannah Arendts Problemexposition legt zweierlei nahe: Zum einen scheint es so zu sein, dass sich soziale und politische Ordnungen nicht aus sich selbst heraus erklären können. Gründungen bedürfen der Begründung, um über den Zeitpunkt ihres Anfangs hinaus Gründe für ihre fortdauernde Geltung anführen und behaupten zu können. Der Ursprung wird in eine Geschichte verwoben, die der Jetztzeit vorausliegt und die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet. Zweitens ist dafür nicht eine genaue historische Rekonstruktion notwendig, also die Beantwortung der Frage, „wie es denn nun eigentlich gewesen ist“⁸, sondern vornehmlich die Suggestionskraft eines jeweiligen geschichtlichen Selbstverständnisses.⁹ Es ist gerade die Aufgabe von Mythen und Legenden sowie die Funktion von rituellen und kultischen Formen der Erinnerung, Narrative und Praktiken zu entwickeln, welche die Vorgeschichte in einen Schleier des Ungefähren, des Magischen oder Charismatischen rücken, um aktuelle Ordnungen mit einer fortdauernden, stabilisierenden Geltung zu versehen. Selbst wenn der Anfang durch Diskurse und Memorialpraktiken präsent und damit auch partiell verfügbar gemacht werden kann, bleibt der Ursprung selbst in seiner Historizität
7 Arendt, Über die Revolution (wie Anm. 1), S. 239. 8 Vgl. Leopold von Ranke, Sämtliche Werke, Bd. 33/34, Leipzig 1885, S. VII sowie Helmut Berding, „Leopold von Ranke“, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Göttingen 1973, S. 7–24, hier S. 13 sowie Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte [1942], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I 2, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1974, S. 691–704, hier S. 695. 9 Arendt, Über die Revolution (wie Anm. 1), S. 263. Vgl. auch Reinhart Koselleck, „Über die Verfügbarkeit der Geschichte“, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 260–277; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.
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dem unmittelbaren Eingriff entzogen. Hieraus resultiert die These: Wie immer sich politische und soziale Ordnungen historisch auch konstituieren mögen, sie begründen und verstetigen sich im Rekurs auf Transzendenzen. Durch Erinnerungsgeschichten und Zukunftserwartungen, also in rückwärtiger wie prospektiver Perspektivierung gewonnene „Leitideen“¹⁰, überschreiten die jeweilige soziale und politische Ordnung in Raum und Zeit und erzeugen einen Sinn- und Handlungshorizont, der Stabilität und Dauer verleihen soll. Eine solche These ist in mehreren Hinsichten zu qualifizieren. Die legitimierende Evidenz von Gründungsgeschichten ist oft mit Erinnerungen an überwundene Formen der Gewalt, der Eroberung, Usurpation, Unterdrückung und Unrechtserfahrungen verknüpft. Deshalb ist danach zu fragen, ob und unter welchen Bedingungen Legenden, Mythen und andere Narrative einen gemeinsam geteilten Sinn erzeugen und damit zu einer Begründung geltender Ordnungen entscheidend beitragen. Scheinbare Übereinstimmungen können in den tatsächlichen historischen Konflikten und Kämpfen auch einen gewaltsam ausgetragenen Dissens bewirken, weil sie in historischen Konkurrenzen zueinander stehen und sehr divergierende Schlüsse für eine konkrete soziale und politische Ordnung zulassen. Das legt die Folgerung nahe, dass eine solche ordnungsüberschreitende Geltungsgenerierung qua narrativen, kultischen und anderen symbolischen Verweisungssystemen Ordnungen nicht nur zu stabilisieren, sondern auch zu gefährden, ja zu sprengen in der Lage ist. Schließlich ist der von Hannah Arendt verwendete Begriff des „absoluten Anfangs“ geeignet, Assoziationen aufzurufen, die auf religiöse Weltdeutungen verweisen. Ein Diskurs, der zum Begriff der Transzendenz geführt wird, ‚verstrickt‘ sich deshalb zwangsläufig in Debatten um Säkularisierung und Sakralisierung und um Politische Theologie sowie Zivil- bzw. Ersatzreligionen. Damit steht das Verhältnis von sozialen und politischen Ordnungen und Religionen zur Diskussion.¹¹ Für Analysen, in denen das Potenzial des Transzendenzbegriffs in
10 Vgl. hierzu Maurice Hauriou, Die Theorie der Institutionen und zwei andere Aufsätze, hg. v. Roman Schnur, Berlin 1965. 11 Eine lange Problemtradition, die durch neuere Entwicklungen und auch Umdeutungen wieder erhebliche Relevanz erlangt hat. Vgl. nur Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, 3. Aufl., München 2007; Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2000; ders., Cultus und Heilsversprechen – eine Theorie der Religionen, München 2007; Karsten Fischer, Die Zukunft einer Provokation. Religion im liberalen Staat, Berlin 2009; José Casanova, Public Religion in the Modern World, Chicago 1994; Detlef Pollack, Säkularisierung. Ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Tübingen 2003; Peter L. Berger (Hg.), The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics,
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historischer und systematischer Perspektive und anhand exemplarischer Studien entfaltet wird, ist deshalb das Verhältnis von religiösen und nicht-religiösen Transzendenzen genauso zu explizieren wie der Vorgang der Transzendierung selbst.
II. Transzendenz Bei „Transzendenz“ handelt es sich um einen Terminus mit komplexer Begriffsgeschichte.¹² Zurückverfolgen lässt er sich bis zur griechischen Philosophie, wenn etwa Platon sowohl die Transzendenz als das Feld des Unüberschreitbaren, Unbedingten als auch den Akt des Transzendierens, des Überschreitens, von einer Seinsstufe auf die nächste bestimmt hat. Über Augustinus, der die religiöse Dimension des Transzendenten zu erfassen suchte, indem er das Übersteigen des Körperlichen als den Weg zu Gott deutete, wurde das Begriffsfeld an das lateinische Mittelalter vererbt, wo neben der Transzendenz die Lehre von den Transzendentalien zum Schlüsselbegriff für die Metaphysik wurde.¹³ Für die moderne Philosophie steht der Begriff der Transzendenz bzw. des Transzendierens seit Kants Fundamentalunterscheidung zwischen „transzendental“ (als Begriffe und Prinzipien, die jeder Erfahrung a priori vorausgehen) und „transzendent“ (als Begriffe des Unbedingten) im Zentrum. Bei Kant profiliert sich auch die Opposition von Transzendenz und Immanenz, die zu einer Leitdifferenz der Moderne
Washington 1999; Gabriel A. Almond/R. Scott Appleby/Emmanuel Sivan, Strong Religion. The Rise of Fundamentalism Around the World, Chicago 2003. Bereits 1971 äußerte Wilhelm Hennis die Prognose, dass „die Religion das große philosophische Thema für den Rest dieses Jahrhunderts abgeben wird“ (Wilhelm Hennis, „Ende der Politik? Zur Krisis der Politik in der Neuzeit“, in: ders., Politikwissenschaft und politisches Denken. Politikwissenschaftliche Abhandlungen II, Tübingen 2000, S. 228–249, hier S. 247). 12 Vgl. begriffsgeschichtlich: Jens Halfwassen/Markus Enders, Artikel „Transzendenz, Transzendieren“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Darmstadt 1998, Sp. 1442–1455; außerdem: Ludger Honnefelder/Werner Schüßler (Hg.), Transzendenz. Zu einem Grundwort der klassischen Metaphysik, Paderborn u.a. 1992. Eberhard Simons, Art. „Transzendenz“, in: Michael Baumgartner/Hermann Krings/ Christoph Wild (Hg.), Handbuch der philosophischen Grundbegriffe, Bd. 6, München 1974, S. 1541–1556; Alan M. Olson/Leroy S. Rouner (Hg.), Transcendence and the Sacred, Notre Dame 1981. 13 So z.B. bei Duns Scotus und dem Skotismus. Vgl. Jan. A. Aertsen et al., Artikel „Transzendental; Transzendentalphilosophie“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Darmstadt 1998, Sp. 1358–1435, hier Sp. 1366ff.
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werden sollte. Davon und von der häufig unterstellten Identifikation von Transzendenz mit Religion wird die gegenwärtige Diskussion in den Geschichts- und Sozialwissenschaften und aktuellen Forschungszusammenhängen ebenso bestimmt, wie auch alltägliche Verwendungsweisen davon nach wie vor geprägt sind. Transzendenz bezeichnet hier ganz allgemein Außer- und Überweltlichkeit und ist insofern aufs Engste mit Kosmologien und religiösen Weltbildern verbunden. Eine Kommunikation, so Luhmann, ist „immer dann religiös“, „wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet“.¹⁴ Doch scheint diese Bestimmung dann problematisch zu werden, wenn von Gott prima facie nicht die Rede ist: „Der Blick wird nach oben gelenkt, als wollten die Berge uns zeigen, dass es etwas Höheres gibt, was gar nichts mit Gott zu tun haben muss“ – heißt es in einem Artikel zum Bergwandern im Feuilleton einer großen deutschen Tageszeitung, mit dem lakonischen Titel „Transzendenz mit Sonnenöl“¹⁵ – sozusagen eine nochmalige Säkularisierung des Petrarca-Erlebnisses am Mont Ventoux. Dieselbe Zeitung fragt den Künstler Friedrich Liechtenstein: „Was ist Kunst?“ Die Antwort lautet: „Bei mir hat das mit einer Art der Transzendenz zu tun. Mit einer Erfahrung, die über dem Stoff schwebt […]. Eine Erfahrung im besten Fall von Schönheit und Wahrheit, jenseits von Wissenschaft.“¹⁶ Ein Kolumnist beobachtet, dass in der Liebe „etwas von der Transzendenz, um nicht zu sagen: vom Heiligen“ begegnet.¹⁷ In Dresden wird im „Heiligthume der Kunst“ willkommen geheißen, in Luzern hingegen mit der Transzendenz in der Musik geworben.¹⁸ Und dass Produkte nicht nur zu Marken werden, weil sie gut verkauft werden, ist offensichtlich, wenn die kollektive Hysterie bei der Einführung eines neuen Smartphones als „Siegeszug der spirituellen Technologie“ eingefangen wird und dem journalistischen Beobachter Apple-Stores wie „gläserne Kathedralen“ erscheinen, die Angestellten wie „uniformierte Ministranten“, „das Wischen
14 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 77; vgl. darüber hinaus als religionssoziologischen Überblick: Hartmann Tyrell et al. (Hg.), Religion als Kommunikation, Würzburg 1998. 15 Melanie Mühl, „Transzendenz mit Sonnenöl. In die Berge sollt ihr fahren: Wer die Alpen nicht durchwandert, versäumt sich selbst“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.08.2012, Nr. 180, S. 36. – Die folgende schöne Petrarca-Assoziation verdanke ich Karl-Siegbert Rehberg. 16 Sibylle Anderl, „Die Zeit der Eiche ist endgültig vorbei“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.06.2012, Nr. 130, S. N1. 17 Lorenz Jäger, „Exerzitien: Glaube und Liebe“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 29.01.2012, Nr. 4, S. 11. 18 „Willkommen im Heiligthume der Kunst“ findet sich auf zwei Türbalken in der Tribuna des Semperbaus, im Oktogon des ersten Stocks der Dresdner Gemäldegalerie Alter Meister. Zur Musik: Wolfgang Schreiber, „Klangkörper am See. Das Lucerne Festival punktet mit Claudio Abbados Eröffungskonzert“, in: Süddeutsche Zeitung 11.08.2012, S. 14.
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über den iPhone-Touchscreen: ein halbes Kreuzzeichen; Steve Jobs: der iGod; Microsoft: der Satan“.¹⁹ Durchgängig finden sich Transzendenzformeln auch in der Politik, wenn das Amt des deutschen Bundespräsidenten als „eine transzendente Position“ beschrieben wird: „sie befindet sich im Jenseits der politischen Differenzen“.²⁰ Wenngleich diese Beobachtungen auch als quasi-religiöse Erfahrungen und Inszenierungen semantisch kodiert werden, handelt es sich offensichtlich nicht um originär religiöse Phänomene. Die Analogie indes von Transzendentem und Religiösem drängt sich auf, wenn hier Überhöhungen und Überschreitungen trivialisiert werden und Verweisungen auf Sinn- und Bedeutungswelten erfolgen, die – ähnlich der religiösen Erfahrung – „größer“ sind „als der Einzelne“,²¹ und zugleich der normalen Erkenntnis verschlossen scheinen. Die monotheistischen Religionen sprechen hier von Gott, die zitierten Stimmen lassen die adressierte Transzendenz zumeist namenlos.²² Transzendenzen mögen die Assoziation der Religion evozieren, doch sind offensichtlich nicht alle damit bezeichneten Überschreitungsvorgänge und Vorstellungen religiös. Die Semantik des Religiösen verweist auf etwas Außerweltliches, Jenseitiges, etwas, das nicht wirklich zugänglich, auch nicht rational zu verstehen, letztlich nur zu glauben oder spirituell zu erfahren ist.²³ Problematisch wird diese für religiöse Semantik konstitutive Unterscheidung von Inner- und Außerweltlichkeit, von Immanenz und Transzendenz, dann, wenn der Blick auf solche Formen von – innerweltlichen – Transzendenzen fällt, denen offensichtlich auch moderne Gesellschaften – vielfach unbemerkt – unterliegen. Die Rede von
19 Stefanie Schramm/Claudia Wüstenhagen, „Die tägliche Verführung“, in: ZEIT Wissen 10.04.2012, Nr. 3, S. 12. 20 Armin Nassehi, „Es lebe der König!“, in: DIE ZEIT 08.03.2012 Nr. 11, S. 48. 21 Tim Leberecht, „Produktion von Bedeutung. ‚No Logo‘ und die Folgen: Die Marken sind schon lange auf einem Weg aus der Sinnkrise“, in: Süddeutsche Zeitung 27.1.2012, S. 11. 22 Die namenlose Stimme der Transzendenz wird schön auf den Begriff gebracht von Martin Walser, „Umgang mit Unsäglichem. ‚Gott wäre natürlich prima‘ – einige Überlegungen zum Thema Glaube“, in: Neue Zürcher Zeitung 27.8.2012, S. 17. Walsers Begriff des „Unsäglichem“ ist eine doppelte Ambivalenz eingeschrieben, die sowohl auf das Unsagbare wie auch auf das Belastende des Nicht-Bezeichnen-Könnens verweist. Walsers Artikel ist ein Exerzitium im Umgang mit der Negativität der Transzendenz. Dazu in philosophischer Perspektive: Thomas Rentsch, Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin/New York 2011. 23 Vgl. hierzu v.a. schon William James, The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature [1902], London 1997.
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„politischen Religionen“²⁴, von „Zivilreligionen“²⁵ oder von der „Kunstreligion“²⁶ macht auf solche Phänomene wie politische Weltanschauungen, bürgerliche Glaubensbekenntnisse, die Liebe zum Schönen und Erhabenen aufmerksam, die alltagsweltliche Kontexte übersteigen, wenngleich für den Analytiker doch kein Zweifel an ihrer irdischen Genese bestehen kann. Auch gesellschaftlichen Selbstverständnissen und politischen Selbstgewissheiten haften Momente eines Transzendenzbezuges an, und zwar vor allem dort, wo sie den jeweiligen Aufmerksamkeits- und Erklärungshorizonten der Zeitgenossen entrückt sind. Die Ursprünge der jeweiligen Ordnung, ihre tragenden Prinzipien, die Strukturen des Zusammenhaltes liegen selten offen zutage, sie werden tradiert, für selbstverständlich gehalten, und doch, nicht zuletzt in Zeiten von Umbrüchen oder Krisen, als „höhere“, historische, natürliche oder vernünftige Gründe für Bewahrung oder Veränderung der Ordnung geltend gemacht. Die diesbezügliche, selbstwidersprüchlich erscheinende Rede von der „immanenten Transzendenz“²⁷, nämlich eine Ordnung auf die ihr vorausliegenden Ursprünge oder die sie übersteigenden
24 Eric Voegelin, Die politischen Religionen, hg. und mit einem Nachwort versehen von Peter J. Opitz, 3. Aufl., Paderborn u.a. 2007; Hans Maier, Politische Religionen, München 2007; ders. (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen, 3 Bde., Paderborn 1996–2003. 25 In der modernen Debatte wurde dieser Begriff eingeführt von Robert N. Bellah, „Civil Religion in America“, (wie Anm. 6). Er geht zurück auf das letzte Kapitel in Rousseaus Gesellschaftsvertrag; vgl. hierzu jetzt Hans Vorländer, „Brauchen Demokratien eine Zivilreligion? Über die prekären Grundlagen republikanischer Ordnung. Überlegungen im Anschluss an Jean-Jacques Rousseau“, in: Studia philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft 71 (2012), S. 119–138; vgl. auch Sonja Asal, Der politische Tod Gottes. Von Rousseaus Konzept der Zivilreligion zur Entstehung der Politischen Theologie, Dresden 2007. Ferner: Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz 1986; Heinz Kleger/ Alois Müller (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in den USA und Europa. Münster 2004; Rolf Schieder, Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur, Gütersloh 1987; Ronald Weed/John von Heyking (Hg.), Civil Religion in Political Thought. Its Perennial Questions and Enduring Relevance in North America, Washington 2010. 26 Am deutlichsten in der deutschen Romantik thematisiert in Wilhelm Heinrich Wackenroder/ Ludwig Tieck, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders [1796], hg. v. Martin Bollacher, Stuttgart 2005. Zum sakralen Aspekt von Literatur und Kunst in der deutschen Romantik vgl. Ernst Müller, Ästhetische Religiösität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004; Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006; umgekehrt sind solche romantischen Sakralisierungen der Kunst wiederum in den Begriff der Religion eingeflossen – am prominentesten in der Definition von Friedrich D. E. Schleiermacher (Über die Religion. Reden an die gebildeten unter ihren Verächtern [1799], Hamburg 2004, S. 30): „Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. 27 Vgl. Vorländer, „Gründung und Geltung“ (wie Anm. 1), S. 247.
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Geltungsgründe zu beziehen, zeigt zunächst die Verlegenheit an, eine Semantik für die scheinbar paradoxe Beobachtung transzendenter Phänomene in einem immanenten Wirkungskontext zu finden.²⁸ Dahinter verbirgt sich indes nicht nur ein semantisches, sondern auch ein konzeptuelles Problem, welches mit der durch die Leitdifferenz von Transzendenz und Immanenz bezeichneten spezifischen Form religiöser Kommunikation nicht gelöst, noch nicht einmal zureichend entfaltet ist. Die Semantik des Religiösen verstellt häufig den Blick auf die komplexen diskursiven und praktischen Mechanismen von Überschreitungsvorgängen, die sich dem Begriff der Transzendenz anlagern und die keineswegs religiös motiviert sein müssen und historisch, wie die empirischen Studien in diesem Band zeigen, keineswegs auch immer gewesen sind. Und diese Überschreitungsvorgänge in Ermangelung einer sachadäquaten Terminologie alle als ‚religiös‘ zu kennzeichnen, ist nur um den Preis einer starken anthropologischen oder normativen Grundannahme zu haben – oder es drückt sich darin eine Verlegenheit aus, wie sie in der Rede von der „Ersatz“- oder „Quasi-Religion“ aufscheint. Es geht also darum, einen historisch-vergleichenden und heuristisch fruchtbaren Transzendenzbegriff herauszuarbeiten, der nicht auf die christliche Religion, den Monotheismus bzw. das Religiöse zu verkürzen ist. Er muss sich auch gegenüber Hintergrundtheorien profilieren, die Phänomenen der religiösen Transzendenz einen spezifischen Rang zuweisen, wie es die Diskurse um die Säkularisierung und die Politische Theologie tun.
II.1 Kontextdiskurse: Säkularisierungstheorien, Politische Theologie und die Legitimität der Neuzeit Es wird davon ausgegangen, dass Analysen der Transzendenzphänomene dann unbefriedigend bleiben, wenn sie eine unilineare Entwicklung von der Dominanz transzendenter zu derjenigen immanenter Deutungsmuster beschreiben und erklären wollen und ihnen normative Setzungen zugrunde liegen. Das gilt einmal für Säkularisierungstheorien, soweit sie davon ausgehen, dass durch einen Rückzug der institutionellen, öffentlich in Erscheinung tretenden Formen religi-
28 Zuletzt hat jetzt Bernhard Waldenfels, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2012, einen interessanten Versuch unternommen, Transzendenzen als hyperbolische Erfahrungen zu beschreiben, als Phänomene, die „in Form von Überschritten und Überschüssen über sich selbst hinausweisen“ (S. 11).
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ösen Lebens²⁹ Religion zu einem ‚Schwundphänomen‘ geworden ist, indem sie sich privatisiert und verflüchtigt hat oder „unsichtbar“³⁰ geworden ist. Allenfalls taucht Religion dann in anderen Kontexten wieder auf, in kompensatorischen oder substituierten Formen (unter anderem in Gestalt der politischen Religion oder eines „gnostischen Immanentismus“³¹). Wo Religion ‚verschwindet‘, bleibt das ‚Religiöse‘ übrig.³² Wenn dann aber das Religiöse in vielen – herausgehobenen – Alltagssituationen, in unterschiedlichen Kontexten (im Fußballstadion, beim Rockkonzert etc.) als Ersatzreligion gefunden wird, verlieren die Begriffe von Religion und Religiosität Trennschärfe und empirische Erklärungskraft.
29 Vgl. die klassische Studie von Hermann Lübbe, Säkularisierung: Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, 3. Aufl., um ein Nachwort erw. Neuausgabe, Freiburg/München 2003. Entfaltet wird diese These von verschiedenen Studien auf den Gebieten von Recht, Staat, Gerechtigkeit oder auch Macht: Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1992, S. 92–114; Giacomo Marramao, Macht und Säkularisierung. Die Kategorie der Zeit, Frankfurt a.M. 1989; ders., Die Säkularisierung der westlichen Welt, Frankfurt a.M. 1999; Steve Bruce, God is Dead. Secularization in the West, Oxford 2002; Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge, Mass.u.a. 2007. – Zu diesen unilinearen Prozessbegriffen gehören auch „Entzauberung“, „Entsakralisierung“ oder „Entchristianisierung“. Zu letzterem: David Martin, A General Theory of Secularization, Oxford 1978. Vgl. jetzt auch die sehr differenzierte Auseinandersetzung mit Charles Taylors A Secular Age in Michael Kühnlein/Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne. Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Berlin 2011, bes. S. 547–729 (darin: Thomas Rentsch, „Wie ist Transzendenz zu denken? Kritische Thesen zu Charles Taylors Säkularisierungskonzept“, S. 573–598). Zum Problemkomplex von Entzauberung und Sakralisierung vgl. auch unten Abschnitt IV.6. 30 Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion. Mit einem Vorwort von Hubert Knoblauch, Frankfurt a.M. 1991. 31 Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik: Eine Einführung, München 2004, S. 132ff. 32 Vgl. Hubert Knoblauch, „Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse. Thomas Luckmanns Unsichtbare Religion“, in: Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991, S. 7–41, hier S. 7. Während Säkularisierungstheoretiker einen Schwund der Religion konstatieren, sieht Luckmann eher eine Schrumpfung in der Spannweite der Transzendenzen bzw. eine Verschiebung von Religiösem in die Alltagswelt; vgl. Thomas Luckmann, „Säkularisierung – ein moderner Mythos“, in: ders., Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Paderborn u.a. 1980, S. 161–172; ders., „Religion in der modernen Gesellschaft“, in: ders., Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Paderborn u.a. 1980, S. 173–189; ders., „Schrumpfende Transzendenzen, expandierende Religion“, in: ders., Wissen und Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze 1981–2002, Konstanz 2002, S. 139–154. Vgl. dazu auch Hubert Knoblauch, Religionssoziologie, Berlin/New York 1999; Bernt Schnettler, Thomas Luckmann, Konstanz 2006. Gesprochen wird auch von einer „Privatisierung“ bzw. „Subjektivierung“ der Religion.
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Tragend für viele säkularisierungs- und modernisierungstheoretische Ansätze ist zudem die konstitutive Unterscheidung von Vormoderne und Moderne, mit der das spezifisch Religiöse in der Moderne nur noch unter dem Gesichtspunkt einer Entleerung oder Entsubstantialisierung verstanden oder, wo überraschend ‚neue‘ Formen der Religiosität entdeckt werden, dies als Renaissance der Religion gedeutet wird. Der hier entwickelte und den Studien dieses Bandes zugrundeliegende Begriff der Transzendenz teilt diese Prämissen von religiöser Vormoderne und nicht-religiöser Moderne nicht. Eine Säkularisierungstheorie in anderem Gewande wird auch in dem von Marcel Gauchet angestoßenen französischen Theoriediskurs verhandelt.³³ Seiner Geschichte der Metamorphosen des Transzendenten liegt ebenfalls eine Entsubstantialisierungs- bzw. Entleerungsannahme zugrunde, die sich von der oben genannten Version der Säkularisierungstheorie nur in der Ersetzung des Religionsbegriffs durch den der Transzendenz unterscheidet. Die Linearität des Prozesses gibt sich in einem zunehmenden Substanzverlust von Transzendenzvorstellungen (von Gott über König bis zum Volk in der Demokratie) zu erkennen und gipfelt in der für (post-)moderne, plural-heterogene Gesellschaften charakteristischen Leerstelle des Transzendenten. Obwohl es dem hier entwickelten Ansatz fern liegt, in die Perspektive einer Verfallsgeschichte des Transzendenten einzustimmen, vermag dieses Argument, das neben Gauchet vor allem Claude Lefort vertritt,³⁴ doch zwei grundlegende Problemstellungen offen zu legen, die auch
33 Marcel Gauchet, Le désenchantement du monde. Une histoire politique de la religion, Paris 1985 (engl.: The Disenchantment of the World: A Political History of Religion, Princeton, New York 1999); ders., La religion dans la démocratie. Parcours de laïcité, Paris 1998; Pierre Colin (Hg.), Un monde désenchanté? Débat avec Marcel Gauchet sur ‚Le désenchantement du monde‘, Paris 1988; historisch entfaltet wird die These Gauchets jetzt in ders., L’avènement de la démocratie, Bd. 1: La révolution moderne, Bd. 2.: La crise du libéralisme, Paris 2007, Bd. 3.: À l’épreuve des totalitarismes 1914–1974, Paris 2010; ein vierter, abschließender Band (Le Nouveau Monde) ist angekündigt. 34 Claude Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen? Wien 1999; ders., L’invention démocratique. Les limites de la domination totalitaire, 2. Aufl., Paris 1994; ders., Les formes de l’histoire. Essais d’anthropologie politique, Paris 1978; ders., Essais sur le politique, Paris 1986. Zu Lefort und Gauchet vgl. in deutscher Sprache die Aufsatzsammlung von Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, sowie den Essay von dems./Günter Frankenberg/Helmut Dubiel, Die demokratische Frage, Frankfurt a.M. 1989. – Vgl. zur Begriffsbestimmung des Theologisch-Politischen auch Hent de Vries/ Lawrence E. Sullivan (Hg.), Political Theologies. Public Religions in a Post-Secular World, New York 2006; Creston Davies/John Milbank/Slavoj Žižek (Hg.), Theology and the Political. The New Debate, Durham 2005; und zu anderen Konzepten der Klärung des Verhältnisses von Politik und Religion jetzt: Jürgen Gebhardt, „Das religiös-kulturelle Dispositiv der modernen Politik“, in:
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für die historische und systematisch-vergleichende Analyse wegweisend sind: Zum einen verweist der Begriff der Transzendenz über die spezifische Transzendenzkonstruktion der Religion hinaus auf das eingangs skizzierte Grundproblem der Begründung von sozialen und politischen Ordnungen und die Legitimierung von Macht durch Figuren und Modi, Diskurse und Praktiken, welche die jeweilige Ordnung überschreiten oder ihr vorausliegen und dadurch für deren Sinnorientierung und Geltung konstitutiv sind. Zum anderen hat sich trotz der vermeintlichen Entleerung des Transzendenten auch in (post-)modernen Gesellschaften das Problem der sinnkonstitutiven Transzendenzbezüge keineswegs erledigt. Auch wenn moderne demokratische Gesellschaften kein – als Einheit symbolisch verkörpertes – Zentrum der Macht mehr haben sollten, vielmehr ihren Sinn wie auch ihre Stabilität aus sich selbst heraus, in vielfältigen Formen der „SelbstKonfrontierung“, generieren müssen,³⁵ bleibt, den Worten Leforts zufolge, das Problem der Fortdauer des Theologisch-Politischen bestehen. Hier wird dieser Begrifflichkeit Leforts gleichwohl nicht gefolgt, zum einen, weil die Suggestivkraft der Formel – mit ihrer unmittelbaren Konnotation zu Religion – zu groß ist, zum anderen, weil zuallererst Carl Schmitts Begriff der „Politischen Theologie“ assoziiert wird.³⁶ Dieser Diskurskontext, der von der These geleitet wird, dass prägnante moderne, säkulare Begriffe der politischen Ordnungstheorie Transformationen ursprünglich theologischer Begriffe darstellen – wobei die inverse These von Jan Assmann (mit Blick auf Ägypten und den Monotheismus) vorgetragen worden ist³⁷ –, stellt zwar ein aussagekräftiges Interpretament für die Genese und die Erklärungskraft zentraler Ordnungsbegriffe bereit, bleibt aber letztlich in einer historisch-polemischen Frontstellung gefangen, die sich auch in anderer Problemkonstellation, nämlich als Frage
Hans Vorländer (Hg.), Demokratie und Transzendenz. Die Begründung politischer Ordnungen, Bielefeld 2013 (i. E.). 35 So Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, 2. Aufl., Wien 2000; Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt a.M. 2007; Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988; ders., Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich 2007; ders., Singulär plural sein, Berlin 2004. 36 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 2. Aufl., Berlin 1934 [1922]; ders., Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1970; Jacob Taubes (Hg.), Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, 2. Aufl., München u.a. 1985; Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, Stuttgart/Weimar 1994. 37 Jan Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, Frankfurt a.M. 2002; ders. (Hg.), Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, München 1992.
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nach der Legitimität der Neuzeit, wiederfindet.³⁸ In dem zuletzt genannten Diskurskontext wurde im Grunde versucht, das Argument vom Epochenbruch zwischen Vormoderne und Moderne zu bestätigen bzw. zu widerlegen. Wo Blumenberg in der Kontroverse mit Schmitt die Eigenlegitimität der Moderne verteidigt, aber der modernen Gesellschaft auch die Last der Generierung eigener Legitimitätsgründe auferlegt, sieht Schmitt die moderne Gesellschaft in der Legitimitätsschuld der religiös geordneten Vormoderne stehen und von den Restbeständen theologischer Deutungsmuster, wenn auch mit abnehmender genealogischer Geltungskraft, zehren. Es bleibt der fundamentale Einwand, dass auch diese Kontroverse einmal mehr von der Insistenz bzw. der Bestreitung des Epochenbruchs lebt und damit im Grunde die vorherrschende Selbstbeschreibung der westlichen Moderne zum Ausdruck bringt, was zwar Ausgangspunkt, nicht indes Ziel, für ein historisch-empirisches Forschungsprogramm sein kann. Der Ansatz, die Konstituierung von Ordnungen mit den Mechanismen von Transzendenzkonstruktionen historisch und kulturell vergleichend zu untersuchen, untertunnelt hingegen die Epochenthese und unterwirft sich darüber hinaus keinen starken, normativ imprägnierten Thesen über die Rechtfertigung von Ordnungen der Vormoderne und Moderne.
II.2 Transzendierung Die Rekonzeptualisierung der Frage nach Formen und Funktionen der Transzendenz geht von der Annahme aus, dass sich Ordnungen über Medien der Symbolisierung konstituieren und sich dabei in Formen der Überschreitung des Gegebenen sinnhafte Bezüge ausbilden, die für die Gründung und Verstetigung von Ordnungen entscheidend sind. Soziale und politische Ordnungen, wie sie hier verstanden werden, sind keine feststehenden, überzeitlichen, den Kontingenzen der Zeitläufte enthobenen Ordnungen. Sie sind labil, dem historischen Wandel ausgesetzt, ihre (immer relative) Dauer versteht sich nicht von selbst. Ordnungen bedürfen insofern der Selbstsymbolisierung, als die ihnen zugrundeliegenden Handlungs- und Kommunikationsstrukturen erst durch spezifische Formen, Zeichen und Verkörperungen, also Repräsentationen ihrer Leitideen, ein Verständnis ihrer selbst zu entwickeln in der Lage sind und damit aus laten-
38 Carl Schmitt/Hans Blumenberg, Briefwechsel 1971–1978, hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Alexander Schmitz, Frankfurt a.M. 2007; Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, erneuerte Ausg., Frankfurt a.M. 1996.
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ten Strukturen institutionelle Ordnungen erwachsen, die fortwährende Geltung von Verhaltensnormen und lebenspraktischen Regulationen beanspruchen.³⁹ Wirklichkeit wird also durch Symbole erzeugt; sie „repräsentieren nicht nur eine Welt, sondern schaffen sie, sind insofern zugleich Voraussetzung ihrer Umschaffung“.⁴⁰ In Prozessen der sinnhaften Überschreitung des Gegebenen erschließt sich für den auf Symbolisierung angewiesenen Menschen die umgebende Welt, wird soziale Erfahrung⁴¹ und überpersönliche Geltung des eigenen Lebens möglich.⁴² Gleichermaßen konstituieren sich Ordnungen durch spezifische Mechanismen der Überschreitung von Situationen und Lebenslagen. Überschreitungen können sich in verschiedenen Formen und unterschiedlichen, sprachlichen, performativen, rituellen, narrativen, bild- und zeichenhaften,
39 Vgl. zu diesem Verständnis institutioneller Ordnung die aus dem Dresdner SFB 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“ hervorgegangenen Arbeiten zur Symbolizität (Gert Melville [Hg.], Institutionalität und Symbolisierung: Verstetigung kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001), zur Narrativität (ders./Vorländer [Hg.], Geltungsgeschichten [wie Anm. 1]) und zur Macht institutioneller Ordnungen (Gert Melville [Hg.], Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005); theoretisch grundlegend zudem KarlSiegbert Rehberg, „Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen“, in: Gerhard Göhler (Hg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, S. 47–84, sowie ders., „Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Einführung in systematischer Absicht“, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung, S. 33–49. Zuletzt: ders., „Institutionelle Analyse und historische Komparatistik. Zusammenfassung der theoretischen und methodischen Grundlagen und Hauptergebnisse des Sonderforschungsbereiches 537 ‚Institutionalität und Geschichtlichkeit‘“, in: Gert Melville/Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Dimensionen institutioneller Macht. Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 417–443. 40 Rehberg, „Institutionen als symbolische Ordnungen“ (wie Anm. 39). S. 58. 41 Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, S. 634ff. 42 „Das Symbolische“, so Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, Darmstadt 1994, S. 447, „gehört niemals dem ‚Diesseits‘ oder ‚Jenseits‘, dem Gebiet der ‚Immanenz‘ oder ‚Transzendenz‘ an: sondern sein Wert besteht eben darin, daß es diese Gegensätze, die einer metaphysischen Zweiweltentheorie entstammen, überwindet“. Ebd., S. 450: „Das Symbolische ist vielmehr Immanenz und Transzendenz in Einem“. – Zur überpersönlichen, transzendenten Geltung des Symbolischen vgl. auch John Michael Krois, „Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen“, in: Hans-Jürg Braun/Helmut Holzhey (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1988, S. 15–44, hier S. 28f. Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981, S. 37, formuliert: „In dem Maß, in dem das Individuum an der Gesellschaft teilnimmt, im Denken wie im Handeln, transzendiert es sich selbst.“
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ikonischen Medien vollziehen und dabei die sozialen Wirklichkeiten und sinnhaften Bezüge zur Welt herstellen, welche für die Konstituierung von Ordnungen wesentlich sind. Transzendierungen sind Ergebnisse von Transzendenzkonstruktionen und können sich auf Personen und Institutionen, Orte und Länder, Städte und Nationen, Räume und Zeiten, Gottheiten, Bilder und Dinge beziehen. Sie können auf den unterschiedlichen Modi von Heiligung, Auratisierung, Charismatisierung, Fetischisierung, Tabuisierung beruhen und sich in unterschiedlichen Formen, in Verkörperungen, Narrationen, Legenden, Mythen, Festinszenierungen usw. zum Ausdruck bringen.
II.3 Transzendenzkonstruktion In die unterschiedlichen Transzendierungsprozesse sind spezifische Transzendenzvorstellungen eingelagert, die in der Perspektive handelnder Akteure über alltägliche Situationen und Lebenslagen hinausweisen, ihnen entzogen sind, quasi entrückt erscheinen, die gleichwohl aber auf sie zurückwirken und ihnen Sinn und Geltung verleihen und damit konstitutive Bedeutung für soziale und politische Ordnungen haben. Eine jede soziale und politische Ordnung legt sie selbst überschreitende Deutungs- und Sinnhorizonte aus, verändert sie, konstruiert sie neu, eignet sie sich an oder verwirft sie. In diesen Prozessen kann, aber muss keineswegs ein gemeinsames Verständnis erzeugt werden, das einen gemeinsamen Horizont des Handelns und Verhaltens zum Ausdruck bringt. Insofern schafft nicht jede Transzendierung „Gemeinsinn“, verstanden als individueller Sinn für das Gemeinsame und als gemeinsamer Sinn der Individuen,⁴³ mithin als geteilter Hintergrundkonsens und als Mobilisierung von Handlungsmotiven, sich für das Gemeinsame einzusetzen. Umgekehrt bezieht sich auch nicht jede orientierende Verpflichtung auf ein Gemeinsames auf einen geteilten Rahmen von Transzendenzverständnissen. In analytischer Hinsicht erscheint es sinnvoll, nicht nur von unterschiedlichen Formen und Mechanismen des Transzendierens zu sprechen, sondern auch die Bildung und Auslegung von Transzendenzen als einen historisch wie kultu-
43 So auch die Formulierung bei Herfried Münkler/Harald Bluhm, „Einleitung: Gemeinwohl und Gemeinsinn zwischen Normativität und Faktizität“, in: dies. (Hg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Zwischen Normativität und Faktizität, Berlin 2002, S. 9–18, hier S. 12, im Anschluss an die Beiträge von Christoph Menke „Gleichheit, Reflexion und Gerechtigkeit“, S. 71–84 und Jean-Pierre Wils „Zur Produktion von Gemeinsinn. Ihre diffizilen Bedingungen und ihre problematischen Wirkungen“, S. 113–130.
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rell differenten Prozess zu verstehen. Im diskursiven und praktischen Vollzug der Konstruktion von Transzendenzen werden unterschiedliche Ideen sichtbar, auf die hin transzendiert wird und die in systematischer Perspektive als ein Repertoire von miteinander konkurrierenden Vorstellungen bezeichnet werden können: Gott, Tradition, Vernunft, Fortschritt, Natur, Landschaft, Geschichte, Nation, Staat, Volk, Ehre, Freundschaft, Liebe etc. sind historisch je unterschiedlich zu identifizierende und interferierende Vorstellungen von etwas Transzendentem, mittels derer sich Transzendierungen in unterschiedlichen Formen der Aneignung und Verwerfung, Behauptung und Bestreitung, Interpretation und Auslegung vollziehen. Geteilte Transzendenzvorstellungen erzeugen Transzendenzressourcen, man kann an ihnen geltungserhöhend partizipieren, in Begründungsdiskursen auf sie rekurrieren: Der Stifter hat Teil an der Sakralität der Kathedrale, der Mäzen profitiert von der Aura der Kunst, der Richter urteilt im Namen des Volkes und der Gerechtigkeit, der Politiker rechtfertigt sich mit Bezug auf die Durchsetzung der Würde des Menschen, der Ingenieur sieht sich als Diener des Fortschritts, der Architekt steht im Zeichen des Schöpfermythos, der Papst beruft sich auf die Nachfolge Petri.⁴⁴ Transzendenzvorstellungen können in Konkurrenz und Spannung zueinander stehen, eine Ordnung sprengen, sie können – bis zu einem Zustand der complexio oppositorum – amalgamiert werden und eine Ordnung auf Dauer stellen. In Transzendierungsvorgängen finden auch jene Umbesetzungen, Verlagerungen und Übernahmen statt, kann jenes Vagabundieren von Transzendenzvorstellungen beobachtet werden, welches zwischen religiösem, kulturellem und politischem System zu Irritationen führt und in den Diskurslagen von Politischer Religion, Politischer Theologie oder auch Zivilreligion – zumeist polemisch – diskutiert wird.⁴⁵ Das Gleiche gilt für die ikonischen Darstellungen und Imaginationen, von Gott, König, Volk, Nation, innerweltlichen Demiurgen etc., die, im „Getriebe der Verkörperungsmechanismen“,⁴⁶ auf genuin religiöse Zeichen- und Symbolsysteme, Semantiken und Rhetoriken ver-
44 Vgl. hierzu auch die Beiträge von Bruno Klein, Karl-Siegbert Rehberg, Thomas Hänseroth, Hans-Georg Lippert, Cristina Andenna, Gert Melville und Werner Patzelt in diesem Band. 45 Der Begriff der „vagabondage“ ist in diesem Zusammenhang von Henning Ottmann („Politische Theologie als Begriffsgeschichte“, in: Volker Gerhardt [Hg.], Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, S. 169–188, hier S. 178) gebraucht worden, der auf die – prima facie evident erscheinenden – Umbesetzungen von Begriffen und damit auf die vermeintlichen Analoga von bspw. Allmacht Gottes – Absolutismus des Herrschers – Souveränität des Staates; Trinitätslehre – Gewaltenteilungslehre; Unfehlbarkeit des Willens Gottes – Unfehlbarkeit der volonté générale; religiöses Gesetz und menschliches Gesetz; religiöses Heil und weltliches Heil usw. aufmerksam macht. 46 Claude Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, Wien 1999, S. 93.
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weisen und damit sowohl sozialen und politischen Ordnungen einen heiligen, Raum und Zeit transzendierenden Ort, Ursprung und Telos geben als auch eine Geltungserhöhung Einzelner, sozialer Gruppen und Formationen bewirken.
II.4 Religion als eine spezifische Form der Transzendenzkonstruktion Thomas Luckmann bezeichnet im Anschluss an Alfred Schütz die symbolische Konstruktion gesellschaftlicher Realität insgesamt als einen grundlegend religiösen Vorgang,⁴⁷ in dem drei Transzendierungen den Weltzugang prägen, eine „kleine“ Transzendenz lebensweltliche Erfahrung konstituiert, eine „mittlere“ Zugang zu den „politischen Religionen“ von Recht und Ordnung erschließt, und eine „große“, die sich auf das Leben als Ganzes, den Tod und die Erlösungsreligionen bezieht. Diese Aufstufungsmodellierung suggeriert, dass es unterschiedliche, hierarchische Vorgänge der Selbstüberschreitungen gibt, die erst, alle zusammen, den kompletten Weltzugang erschließen. Welche Transzendenzen nun aber konkret den Transzendierungsprozessen zugrundeliegen, kann damit indes nicht erklärt werden.⁴⁸ Auch verstellt die begriffliche Koppelung von Religion und Transzendenz den analytischen Blick für die Unterschiede religiöser und nicht-religiöser Transzendenzen und bleibt diesbezüglich unterkomplex. Religion stellt historisch gesehen nur eine Form der Transzendenzkonstruktion dar – die sich von anderen Transzendenzen in der Spezifik der – auch institutionell-deutungsmächtig untersetzten – Transzendenzauslegung (Gott, Offenbarung, Schrift etc.) und der historisch je unterschiedlichen und konkret zu bestimmenden Reichweite ihres Zugriffs auf die gesellschaftliche Symbolwelt unterscheidet. Der damit hier in Anschlag gebrachte Transzendenzbegriff reicht weiter als der Religionsbegriff, er macht religiöse Phänomene miteinander ver-
47 „The basic function of religion is to transform members of the natural species, of homo sapiens into actors in historical social order.“ (Thomas Luckmann, „The New and the Old in Religion“, in: Pierre Bourdieu/James S. Coleman [Hg.], Social Theory for a Changing Society, San Francisco/Oxford 1991, S. 167–188, hier S. 171). – Gemeinsam sind Schütz/Luckmann und dem hier entwickelten Ansatz, dass „Transzendenzen“ (Gemein-)Sinn, geteilte Wirklichkeiten erzeugen; zur Typologie von kleinen, mittleren und großen Transzendenzen siehe Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, Kap. VI; außerdem Thomas Luckmann, „Über die Funktion von Religion“, in: Peter Koslowski (Hg.), Die religiöse Dimension der Gesellschaft, Tübingen 1985, S. 26–41, hier S. 29ff. 48 Als heuristisch verstandenes Stufenmodell der Erschließung von Weltzugängen mittels vorgängiger Transzendenzen ist der analytische Gebrauchswert indes hoch.
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gleichbar, er geht aber nicht im Begriff der Religion auf. Eine Fixierung von Transzendierungsvorgängen auf religiöse Transzendenzen würde auch eine konzeptuell unfruchtbare Prämierung christlicher Denktraditionen bedeuten und wäre schon auf antike Kulturen nur mit großen Abstrichen applizierbar.⁴⁹ Der Vergleich unterschiedlicher Modi religiöser und nicht-religiöser Transzendierungen und ihrer Wirkmächtigkeiten vermag auch einen neuen Blick auf die verborgenen und verdeckten Transzendenzen moderner sozialer und politischer Ordnungen und ihrer konstitutiven und stabilisierenden – aber freilich auch destabilisierenden – Funktionen eröffnen. Zu denken sind hier beispielsweise an die – keineswegs spannungsfreie – Verbindung von bürgerlicher Welt und Nationalstaatsbildung, an die die demokratische Revolution transzendierende, erst bestärkende, dann gefährdende Tugendideologie Robespierres (eine Rousseausche Zivilreligion in praxi) mit der Feier des „Höchsten Wesens“, später die die Idee der République übersteigende Grande Nation-Mythisierung, an die amerikanischen Freiheitsund Glücksversprechen (Promised Land), an die bis in den Faschismus – Gentile – und die kommunistische Partei – Gramsci – wirkende Risorgimento-Ideologie Italiens, an die Reichsmythen und die Reichsgründungsemphase in Deutschland usw. Wie schon im Fall der Religion – vor allem in ihren fundamentalistischen Erscheinungsformen – lassen sich auch hier Transzendenzkonstruktionen identifizieren, die in ihrer gemeinsinnigen Wirkungsmächtigkeit ‚alte‘ Ordnungen sprengen bzw. ‚neue‘ Ordnungen etablieren. Mit der Unterscheidung von religiösen und nicht-religiösen Transzendenzen kann auch undifferenzierten Gleichsetzungen entgegengetreten werden, die durch Äquivokationen, Analogien und Strukturähnlichkeiten suggeriert werden – ganz im Stile einer „betreibenden“ Politischen Theologie im Stile Carl
49 So war die Religion in der heidnischen Antike weniger dogmatisch fixiert, als dass sie im korrekten Vollzug der Kulte und Rituale ihren Ausdruck fand. Diese „Orthopraxie“ (John Scheid) beförderte eine bemerkenswert gemeinsinnige Kohärenz antiker Gesellschaften. Ihre Stärken und Schwächen für die verschiedenen Formen der Ordnungsstabilisierung sind bisher in Ermangelung adäquater Begrifflichkeit und Konzeptualisierung noch wenig fassbar. Der Begriff der Transzendenz ermöglicht hier eine schärfere Fassung und zugleich einen Vergleich mit anderen Formen der Religiosität, haftet doch den korrekten Riten ebenso wie den göttlich verfügten Dogmen nach der Vorstellung der Zeitgenossen die Aura der Unverfügbarkeit an. Fruchtbar ist die Suche nach transzendenten Ressourcen, die jenseits der Sphäre der Religion angesiedelt waren. Sie verknüpften sich mit ständischen Lagen von Adeligkeit Vorstellungen von Ehre, Prestige und Dignität, die an Herkommen, Geschichte und Idoneität gebunden waren und als unverfügbare Ressourcen Geltung sichern sollte. Zur Orthopraxie: John Scheid, An Introduction to Roman Religion, Bloomington 2003; ders., Quand faire, c’est croire. Les rites sacrificiels des Romains, Paris 2005.
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Schmitts⁵⁰ oder aber in der Verwischung religiöser und vermeintlich „quasi“oder „ersatz“-religiöser Phänomenbestände, wie sie immer wieder aufscheinen, wenn genuin säkulare Transzendenzvorstellungen in religiösen Semantiken erklärt zu werden suchen. Die Differenz zwischen religiösen und nicht-religiösen Transzendenzen ermöglicht auch Unterscheidungen, von denen Émile Durkheim überzeugt war, dass sie recht eigentlich keine seien. Er bezeichnete die charismatischen, rituellen und sakralen Dimensionen sozialer Interaktion, die jeder Institutionalisierung gesellschaftlicher Ordnung zugrundelägen, als „religiös“. Wenn er Gesellschaft als „heilig“ versteht, stellt er eine nur noch formale Beziehung zu den Religionen und ihren frühesten Ausprägungen im Totemismus her. Zeremonien und Feiern dienten dazu, „Kollektivgefühle und die Kollektivideen in regelmäßigen Abständen zum Leben zu erwecken und zu festigen […]. Daher die Zeremonien, die sich durch ihren Zweck, durch die Ergebnisse, die sie erzielen, durch die Verfahren, die dort angewendet werden, ihrer Natur nach nicht von den eigentlich religiösen Zeremonien unterscheiden. Welchen wesentlichen Unterschied gibt es zwischen einer Versammlung von Christen, die die wesentlichen Stationen aus Christi Leben feiern, oder von Juden, die den Auszug aus Ägypten oder die Verkündigung der zehn Gebote zelebrieren, und einer Vereinigung von Bürgern, die sich der Errichtung einer neuen Moralcharta oder eines großen Ereignisses des nationalen Lebens erinnern?“⁵¹
Auf die Unterschiede kommt es schon an, sie sind indes nur durch die historisch angeleitete, systematische und vergleichende Forschung zu bestimmen.⁵²
50 Assmann, Herrschaft und Heil (wie Anm. 37), S. 20, spricht von einer „betreibenden“ und „beschreibenden“ Verwendungsweise des Begriffs „Politischer Theologie“. 51 Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (wie Anm. 42), S. 571. 52 Das kann eben an den historisch und kulturell differenten Formen sakraler Vergewisserungsrituale genauso gezeigt werden wie an dem keineswegs unproblematischen Begriff der Zivilreligion. Dieser Zwitterbegriff säkularer und religiöser Ordnung ist historisch als polemischer (Gegen-)Begriff entstanden, als Selbstbehauptungsstrategie moderner politischer Ordnungsbegründung, um die symbolische Reichweite des Zugriffs christlicher Glaubens- und Moralvorstellungen auf das soziale und politische Leben zu konterkarieren, zu balancieren oder zu funktionalisieren und ein davon separiertes bürgerschaftliches Glaubensbekenntnis zu instituieren. Vgl. jetzt Vorländer, „Brauchen Demokratien eine Zivilreligion?“ (wie Anm. 25).
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III. Transzendenz und Unverfügbarkeit Die Beiträge dieses Bandes unternehmen den Versuch der weitergehenden Bestimmung von Transzendenz, indem sie zeigen, dass es sich bei Transzendenzkonstruktionen um die Produktion oder Bewältigung von ‚Unverfügbarkeiten‘ handelt. Als ‚unverfügbar‘ sollen solche Sachverhalte angesehen werden, die in der Perspektive von Akteuren der unmittelbaren, alltäglichen Lebenswelt entzogen sind und deshalb quasi entrückt erscheinen, die gleichwohl aber auf sie zurückwirken und ihr Sinn und Geltung verleihen: Partner finden und trennen sich, über die Liebe können sie genauso wenig verfügen wie Duellanten über die Ehre, deren Verletzung sie Satisfaktion zu geben versuchen. Rechtstheoretiker unterscheiden zwischen Recht und Unrecht, indem sie auf das Naturrecht verweisen, dabei aber über diese, sich aus der ‚Natur‘ ergeben sollenden Grundnormen ebenfalls nicht verfügen können. Verfassungsordnungen stellen ihre Bürger unter den besonderen, unveräußerlichen Schutz der Menschenwürde und entziehen staatlichem Zuwiderhandeln Legitimation und Wirksamkeit. Politische Gesellschaften bemühen die Lektionen der Geschichte, um ihrem Handeln Grenzen aufzuerlegen. Solche ‚Unverfügbarkeiten‘, wie sie hier beispielhaft illustriert werden, sind keine überhistorischen oder metasozialen Phänomene. Sie werden, auch wenn sie hinter dem Rücken der Akteure wirken, konstruiert, beruhen also auf Prozessen der Unverfügbarstellung, die ihrerseits historischen, diskursiven wie auch praktischen Veränderungen unterliegen. Wo die Ehre an gesellschaftlicher Bedeutung verliert, gibt es keine Duellanten mehr.⁵³ Und wo die staatliche Gefahrenabwehr alle Mittel zu erfordern scheint – wie es im Kontext der Terrorismusbekämpfung oder der sogenannten „Rettungsfolter“ diskutiert worden ist –, kann auch die Menschenwürde disponibel gemacht werden. Mithin entspricht der Unverfügbarmachung spiegelbildlich die Verfügbarmachung des vordem unverfügbar Gestellten. Es geht deshalb nicht allein um die Analyse der Felder des Unverfügbaren und der Grenzziehungen zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem, sondern auch um die Untersuchung jener Prozesse und Strategien
53 Zur Ehre als Transzendenzressource in der Vormoderne allgemein Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff (Hg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln 1995; Sibylle Backmann et al. (Hg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, Berlin 1998. Zum Herkommen im städtischen Kontext zuletzt Birgit Studt (Hg.), Haus und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, Köln 2007. Zur Problematik von Ehre in der Moderne: Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991; Ludgera Vogt, Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft: Differenzierung, Macht, Integration, Frankfurt a.M. 1997; dies./ Arnold Zingerle (Hg.), Ehre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt a.M. 1994.
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der ‚Immanentisierung‘, der Verfügbarmachung des Unverfügbaren, wie auch der ‚Transzendierung‘, der Unverfügbarstellung des Verfügbaren. Transzendierungsvorgänge sind mithin Prozesse der Liminalität, sie konstruieren Grenzen, die bestimmen, was verfügbar ist und was nicht. Grenzen können verschoben oder gänzlich aufgehoben werden und damit zur Disposition stellen, was zuvor unverfügbar gestellt war. Mit dem Begriff der Unverfügbarkeit wird ein Akzent gesetzt, der sich auch vom traditionellen Verständnis von Transzendenz als Unbedingtem, Unvordenklichem und Unvorstellbarem unterscheidet.⁵⁴ Damit soll indes nicht bestritten werden, dass es in der Natur des Menschen liegende und insofern seiner Verfügung entzogene existenzielle Problemlagen gibt wie Natalität und Mortalität, Geburt und Tod, schwere Krankheiten, Verlusterfahrungen, materielle Unerreichbarkeiten oder auch die „Launen“ der Natur oder die des Wetters. Der Mensch sieht sich ihnen ausgesetzt und oft entziehen sie sich seiner Erklärung. Diese Unverfügbarkeiten markieren in der Perzeption der ihnen Unterworfenen oder der Handelnden absolute Grenzen. Als ‚harte‘, materiale Unverfügbarkeiten können auch soziale, politische und ökonomische „Verhältnisse“ und Machtstrukturen bezeichnet werden, denen gegenüber Menschen sich ebenfalls – „ohnmächtig“ – ausgesetzt fühlen wie einer Naturkatastrophe. Die Welt erscheint schicksalhaft. Und selbst wenn man sie verändern wollte oder könnte, so stellt sich, auch in der Moderne und ihrer komplex strukturierten Welt, die Erfahrung ein, dass „ich fast nichts ändern kann“.⁵⁵ Solche anthropologischen Unverfügbarkeiten können aus der Sicht der ihnen ausgesetzten Individuen, Gruppen und Gemeinschaften nicht überstiegen, indes sehr wohl symbolisch und sozial ‚bewältigt‘ werden. Riten, Kulte, Mythen und Legenden machen das Unvordenkliche und Unsagbare, das Faszinierende und Erschreckende durch performative und narrative Akte in menschliche Lebenswelten integrierbar und in diesem Sinne partiell auch verfügbar. Religionen stellen eines der umfassendsten symbolischen Unverfügbarkeitsbewältigungssysteme dar. Auch können diese unverfügbaren Transzendenzen einer ästhetischen Bearbeitung (in Kunst und Architektur), einer philosophischen Betrachtung und wissenschaftlichen Erklärung zugeführt werden, also in den Modi ihrer kulturellen
54 Vgl. Literaturhinweise in Anm. 12. 55 Niklas Luhmann, „Komplexität und Demokratie“, in: ders., Politische Planung, Opladen 1971, S. 35–45, hier S. 44.
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Bearbeitung reflexiv werden und damit sinnvolle und angemessene Formen des Verhaltens zu und des Umgangs mit dem Unverfügbaren erzeugen.⁵⁶ Demgegenüber laufen Begriffe radikaler oder absoluter Unverfügbarkeit, wenn sie metaphysisch, essentialistisch, naturalistisch, biologistisch oder materialistisch gesetzt werden, Gefahr, die entscheidende Pointe eines kulturell gefassten Begriffs von Unverfügbarkeit zu verfehlen. In einer konstruktivistischen Wendung, die vergleichender und historischer Forschung zugleich eine empirische Perspektive eröffnet, wird nach der „Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren“⁵⁷ gefragt. Diskurse und Praktiken werden daraufhin analysiert, wie in ihnen der Umgang mit dem für unverfügbar Gehaltenen bestimmt wird. Dabei zeigt sich, dass Einstellungen zu Geburt und Tod nicht nur historischen und kulturspezifischen Wandlungen unterliegen, auch werden die ‚absoluten‘ Grenzen durch technologische, biomedizinische und lebenswissenschaftliche Entwicklungen immer wieder neu verschoben und in gesellschaftlichen Diskursen zu justieren gesucht. In den existenziellen Feldern menschlicher Lebenswirklichkeit, in denen es um die Fragen von Geburt, Tod, Krankheit, Lebensverlängerung, soziale Notlagen geht, werden beständig Grenzen medizinischer und technischer Eingriffsmöglichkeiten verhandelt, das heißt behauptet und wieder verworfen. Dabei wird in den diesbezüglichen Diskursen auf Transzendenzvorstellungen rekurriert, die entweder ‚absolute‘ Grenzen – beispielsweise im Rekurs auf die göttliche Schöpfung oder den religiösen Glauben – markieren oder im Namen von Fortschritt und Lebensoptimierung solche Grenzen zur Disposition stellen. Im ersten Fall wirken in einem Raum potenziell unbegrenzter technologi-
56 Thomas Rentsch hat in seinem Beitrag systematische Überlegungen zu diesen Zusammenhängen vorgelegt und dabei einen fundamentalontologischen Transzendenzbegriff entfaltet, der weder auf objektivistische, verdinglichte und hypostasierte noch auf religiöse und ungeklärte metaphysische Transzendenzverständnisse rekurriert, indes über kritischhermeneutische Operationen den Prozess des Reflexivwerdens von Transzendenzdimensionen beschreibbar werden lässt. Vgl. Thomas Rentsch, „Transzendenz – Konstitution und Reflexion. Systematische Überlegungen“, in diesem Band S. 397–418. 57 Diese Friedrich Kambartel zugeschriebene Formulierung wird von Hermann Lübbe (Religion nach der Aufklärung, Neuausgabe, München 2004, S. 149) unter Verweis auf ein sog. „Merseburger Gespräch“ zitiert und seitdem immer wieder und von vielen Autoren angeführt. Ein Originalbeleg bei Kambartel selbst lässt sich indes nicht auffinden. In diesem Zusammenhang ließe sich auch Religion deskriptiv-analytisch als ein Modus der Reflexion über die Grenzziehung von Verfüg- und Unverfügbarem verstehen. Der Begriff der Unverfügbarkeit wird aufgegriffen von Thomas Rentsch, „Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik“, in: ders., Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, S. 207. Vgl. auch ders., Transzendenz und Negativität (wie Anm. 22).
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scher Möglichkeiten Konstruktionen der Unverfügbarkeit menschlichen Lebens quasi als Stoppschilder und Handlungsbegrenzungen, im zweiten Fall erwirkt der Rekurs auf den wissenschaftlichen Fortschritt eine Vorfahrtsregelung, eine Handlungsermächtigung für die – zumindest teilweise – Verfügbarmachung menschlichen Lebens. Die Grenzziehungen zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem sind Ausdruck je spezifischer historischer und kultureller Prägungen und Bestimmungen. Sie bestimmen sich von dem her, was sozial überhaupt als möglich, disponibel und machbar angesehen wird. In antiken Kulturen setzten ananke und tyche unüberschreitbare Grenzen, in der christlichen Tradition bestimmten der Wille Gottes und die providentia menschliches Handeln, in der Renaissance ließ fortuna nicht alles zu, wenngleich der geschickte Stratege, mit virtù ausgestattet, sich des Schicksals in einer geeigneten occasione bemächtigen konnte, um fortuna für sich und die Gemeinschaft nutzbar zu machen. Erst die Moderne hat ein umfassendes Kontingenzbewusstsein entwickelt, welches auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis und rationaler Aufklärung die Räume der Möglichkeiten und Gestaltung weit, manche würden sagen: ins Unbegrenzt-Unendliche hinein geöffnet hat.⁵⁸ Im Prinzip wird damit alles verfügbar, wenngleich sich empirisch zeigt, dass in der Moderne in nahezu paradoxaler Weise Unverfügbarstellungen erfolgen, weil scheinbar alles verfügbar geworden ist.⁵⁹
58 Vgl. zur tyche: Gregor Vogt-Spira, Dramaturgie des Zufalls. Tyche und Handeln in der Komödie Menanders, München 1992; fortuna: Niccolò Machiavelli, Il Principe/Der Fürst, ital.-dt., übers. und hg. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1986; Kontingenz: Gerhart v. Graevenitz/ Odo Marquard (Hg.), Kontingenz (Poetik und Hermeneutik, Bd. 17), München 1998; Peter Vogt, Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin 2011; Michael Th. Greven, Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie, 2., aktualisierte Auflage, Wiesbaden 2009. 59 Hier handelt es sich dann um das, was Hermann Lübbe in einem anderen Zusammenhang über die Religion gesagt hat, dass sie „Kontingenzbewältigungspraxis“ sei (Hermann Lübbe, „Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung“, in: v. Graevenitz/Marquard (Hg.), Kontingenz [wie Anm. 58], S. 35–47, hier S. 40). Eine solche Praxis setzt indes auch ein Kontingenzbewusstsein voraus, was für die Zeiten dominierender religiöser Weltdeutungen schwerlich behauptet werden kann. Unter den Bedingungen eines ausgeprägten Kontingenzbewusstseins kann indes mit Jürgen Gebhardt die „Kontingenzbewältigungspraxis“ auch in nicht-religiösen Kategorien, aber mit Blick auf die Konstitution sozialer und politischer Ordnungen wie folgt reformuliert werden: Im kommunikativen Charakter einer symbolischen Selbstverständigung sind individuelle Kontingenzbewältigung und kollektive Sinndeutung aufeinander bezogen. Diese Ordnungs- und Sinngehalte, die sich in den verschiedenen kulturellen Modi sinnhafter Symbolstrukturen zum Ausdruck bringen, sind als Kontingenzbewältigungspraxis zu verstehen: „Die Mitglieder der Gesellschaft erleben im Medium der symbolischen Formen gesellschaftlicher Sinndeutung diese Gesellschaft
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Das beginnt bei Theorien und revolutionären Begründungen moderner Ordnungen, die Recht und Vergesellschaftung aus den Prinzipien der Autonomie entfalten und dennoch die Dauerhaftigkeit dieser Ordnung durch Mechanismen der Heiligung unantastbarer Prinzipien oder durch zivilreligiöse Kulte aufgehoben sehen.⁶⁰ In diesem Sinne sind Verfassungen ihrerseits Arrangements der Selbstbindung durch Unverfügbarstellung der grundlegenden Prinzipien einer Ordnung. Das kann man auch für die Bildung von Nationalstaaten zeigen, deren unsicherer, oft über Kriege, Gewalt und Zwangshomogenisierung hergestellter, Zusammenhalt durch sakralisierende Bild-, Architektur- und Denkmalprogramme oder gemeinsinnstimulierende Diskurse gestärkt wird.⁶¹ Kultische Praktiken und mythische Narrationen können auch der Stabilisierung partizipativer und demokratisierender Formen des politischen Lebens dienen. Verbunden mit der Vergöttlichung politischer Gemeinschaft werden sie allerdings in den Dienst totalitärer Ordnungen gestellt – vom Tugendterror Robespierres in der Französischen Revolution bis zu den Aufzügen und Inszenierungen faschistischer und
als kontingenzresistent und als Teil ihres menschlichen Wesens. Erst die Mittlerfunktion ihrer gesellschaftlichen Symbolwelten bindet die Vielfalt individueller Psychen in das Ganze des Soziallebens ein, transformiert individuelle Ordnungserfahrungen in eine kollektive Erfahrungswelt und bedingt den Aufbau institutioneller Komplexe des politischen und ökonomischen Systems.“ (Jürgen Gebhardt, „‚Politik‘ und ‚Religion‘: Eine historischtheoretische Problemskizze. Peter Opitz zum 60. Geburtstag gewidmet“, in: Manfred Walther [Hg.], Religion und Politik, Baden-Baden 2004, S. 51–71, hier S. 68). 60 So bei Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, hg. v. Hans Brockard, Stuttgart 1977. 61 Vgl. etwa M. A. Perkins, Word and Nation, 1770–1850. Religious and Metaphysical Language in European National Consciousness, Ashgate, Aldershot 1999; Martin Geyer/ Hartmut Lehmann (Hg.), Religion und Nation. Nation und Religion. Beiträge zu einer unbewältigten Geschichte, Göttingen 2004; Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.), Nation und Religion in Europa, Frankfurt a.M. 2004. Dieter Langewiesche, „Unschuldige Mythen: Gründungsmythen und Nationsbildung in Europa im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Kerstin von Lingen (Hg.), Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis, Paderborn 2009, S. 27–41; Martin Schulze Wessel (Hg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, Stuttgart 2006; Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und die Nation. Bd. 1: Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt a.M. 1993; ders., Die Intellektuellen und die Nation. Bd. 2: Kollektive Identität, Frankfurt a.M. 1999; Alberto M. Banti, La nazione del Risorgimento. Parentela, santità e onore alle origini dell’Italia unita, Torino 2000; Alberto M. Banti/Roberto Bizzocchi, Immagini della nazione nell´Italia del Risorgimento, Roma 2002 sowie Marzia Ponso, „Die Sakralisierung der Nation in der Ikonographie des Risorgimento“, in: Stephan Dreischer et al. (Hg.), Jenseits der Geltung. Konkurrierende Transzendenzbehauptungen von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2013, S. 345–369.
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nationalsozialistischer Regime.⁶² In Sakralisierungen des Sozialen, etwa im Vergleich der Gesellschaft mit dem „Heiligen“ oder in der Insistenz auf dem Vorrang des moralisch Guten gegenüber dem Recht als Medium interessengeleiteter Nutzenkalküle, kommen transzendierende Aufladungen einer um politische Integration und sozialen Zusammenhalt besorgten Weltdeutung zum Ausdruck.⁶³ Und es endet dies keineswegs bei der Sakralität der Person im Begründungsdiskurs von Menschenrechten⁶⁴ und der Heiligung des Kindes bei der Entwicklung von Erziehungsratgebern.⁶⁵ Grenzziehungen von Verfügbarem und Unverfügbarem differieren auch gemäß der historisch distinkten Wirk- und Deutungsmacht sowie der sozialen Akzeptanz jeweiliger Transzendenzvorstellungen. Ein die Lebenswelt deutungsmächtig bestimmendes religiöses System zieht ganz andere Grenzen von Verfügbarkeiten und Unverfügbarkeiten als eine Ordnung, die sich als säkular und wissenschaftlich aufgeklärt beschreibt. In Offenbarungsreligionen wird das Ursprungsgeschehen, die Schöpfung, mit Gott als einer demiurgischen Figur verbunden, deren gestaltende Potenz die Handlungsfähigkeit des zugleich von ihr hervorgebrachten Menschen prinzipiell übersteigt.⁶⁶ Die moderne Naturwissenschaft bricht solche Transzendenzen geoffenbarter Schöpfung auf, sucht – nicht zuletzt in der Teilchenphysik – den Anfang und das Werden des Universums erklärbar und über die zugrundeliegenden Gesetzlichkeiten das immanente Wissen verfüg- und anwendbar zu machen – wobei der Objektivitätsanspruch angesichts der immer noch unzureichenden Erschließung der Zusammen-
62 Vgl. Eric Voegelin, Die politischen Religionen, Wien 1938. 63 Zum Heiligen: Rudolf Otto, Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Nachdr., München 2004; Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a.M. 1998; als Überblick auch Hans Joas, „Die Soziologie und das Heilige“, in: ders., Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg i. Br. 2006, S. 64–77; zur Diskussion des Heiligen in der französischen Debatte der dreißiger Jahre vgl. Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de sociologie (1937–1939), Konstanz 2006. Zum Vorrang des Guten vor dem Rechten: Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, erw. Neuaufl., Frankfurt a.M./New York 2006; Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt a.M. 1999; Charles Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, Frankfurt a.M. 2005. 64 Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011. 65 Vgl. Karl Lenz/Sylka Scholz, „Das idealisierte Kind. Eltern-Kind-Beziehungen in populären Erziehungsratgebern“, in diesem Band S. 245–264. 66 Diese präzise, illustrierende Formulierung verdanke ich Gert Melville.
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hänge des Universums selbst durchaus eine transzendente Begründungsfigur zu nennen wäre. Fortschrittsgläubigkeit auf der einen und Fortschrittsskepsis auf der anderen Seite (aus welchen Quellen sie auch immer gespeist sein mögen) machen beispielsweise verständlich, warum in der einen politischen Ordnung Schwangerschaftsabbrüche, Stammzellforschung oder pränatale Diagnostik erlaubt, in einem anderen sozialen und politischen Kontext aber verboten oder stark reglementiert sind.⁶⁷ Kultur- und geschichtsspezifische Unrechtserfahrungen lassen so zum Beispiel nachvollziehen, warum für Selbstverständigungsprozesse einer politischen Ordnung wie der Bundesrepublik Deutschland der Schutz der Menschenwürde einen zentralen Rang einnimmt. Die Menschenwürde, in Artikel 1 der Verfassung als höchste Schutz- und Achtungsnorm aller staatlichen Gewalten ausgewiesen, wird als letzter Geltungsgrund – mit Kelsen formuliert: als Grundnorm⁶⁸ – einer politischen Ordnung unverfügbar gestellt, sie wird der Dispositionsmacht von politischen Akteuren entzogen, wirkt zugleich aber auf die Ordnung zurück. Die politische Ordnung wird an eine Leitidee gebunden, diese stiftet Sinn und Geltung und zeigt zugleich die Grenzen dessen auf, was möglich und was nicht möglich ist. Damit wirkt sie zugleich als diskursive Sperre in Begründungsdiskursen. Sie in Frage oder zur Disposition zu stellen, erscheint kaum möglich. Ein solches Berührungs-, hier: Thematisierungsverbot errichtet eine diskursive wie praktische Grenze des politischen Handelns, die zugleich einen Bereich des Heiligen und Unantastbaren markiert. Das ist mit Verboten verbunden, deren Verletzung den Ausschluss aus der Gemeinschaft und des für legitim gehaltenen Diskurses nach sich ziehen kann.⁶⁹ Das Beispiel macht deutlich, dass Unverfügbarstellungen zwar historisch kontingent, aber keineswegs indifferent sind gegenüber Strukturen und Kontexten, die durch sie miterzeugt wurden. Erst die spezifische Aufarbeitung deutscher Geschichte, insbesondere der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus und des Scheiterns der Weimarer Republik, hat es erlaubt, im Rahmen der konstitu-
67 Vgl. nur Klaus Tanner, „Ethische Probleme der Stammzellforschung“, in: BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Berichte und Abhandlungen, Bd. 12: Akademievorlesungen Gentechnologie in Deutschland, Berlin 2006, S. 77–97. 68 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig 1934. 69 Vgl. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (wie Anm. 42), S. 60ff., 598ff.; Roger Caillois, Der Mensch und das Heilige, München/Wien 1988, Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Überlegungen zur Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt a.M. 2004; Bernhard Giesen, Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund der sozialen Wirklichkeit, Weilerswist 2010, bes. S. 187ff.
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ierenden Verfassungsdiskurse der Bundesrepublik Deutschland die Menschenwürde als unverfügbar zu behaupten und ihr einen normativen Rang zuzuweisen, der sie der Verfügungsmacht staatlicher Gewalten entzieht. Es bedarf also auch besonderer situativer und kontextueller Passungen, um Unverfügbarstellungen erfolgreich und Transzendenzvorstellungen für eine politische und soziale Ordnung so wirksam werden zu lassen, dass sie auf Dauer ihre Geltung bewahren können. So könnte, um im Bereich dieses Beispiels zu bleiben, eine historische Darstellung politischer Machtprozesse auch als eine Geschichte von Kämpfen um die (Un)Verfügbarkeiten, der Behauptung und der Grenzen von Machtdurchsetzung und Souveränitätsansprüchen oder der Geltung und Bestreitung von Rechten und Dispositionsräumen, geschrieben werden.⁷⁰
IV. Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen Wenn nunmehr der Beitrag von Transzendenzen bei der Konstitution von Ordnungen anhand der Beiträge dieses Bandes skizziert wird, so mündet dies nicht in eine Geschichte der Transzendenz von der Antike bis zur Gegenwart, die etwa im Gewande eines Verfallsnarrativs die Transformationen und Metamorphosen nachzeichnen wollte oder im Paradigma von Säkularisierungs- und Modernitätstheorien die Verflüchtigung oder Entleerung der einen großen, religiösen oder göttlichen Transzendenz konstatiert. Vielmehr erlauben die historischen und systematischen Beiträge dieses Bandes, in exemplarischer Weise die Rolle und Bedeutung zu bestimmen, die Transzendenzen und Transzendierungen im Prozess der Konstitution von Ordnungen, von kommunalen und dynastischen Herrschaftsformationen, von Ordnungen des Sozialen, der Politik, der Technik,
70 Hierzu im Überblick Pier Paolo Portinaro, „Macht und Autorität. Das Problem der (Un) Verfügbarkeit“, in: Hans Vorländer (Hg.), Demokratie und Transzendenz. Die Begründung politischer Ordnungen, Bielefeld 2013 (i. E.). Sie ließe sich schreiben in der Analyse von klassischen Machttheorien über Hannah Arendt (Macht und Gewalt, München, Zürich 1970) bis zu Michel Foucault (Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1994; Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a.M. 2004; Die Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a.M. 2004) und Giorgio Agamben (Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002; Ausnahmezustand, Frankfurt a.M. 2004); so ließe sich auch die modernen politischen Ordnungen innewohnende Paradoxie von Autonomiebehauptung und Unverfügbarkeitspraktiken entfalten.
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der Kunst, der Architektur, des Raumes und der Bilder, und schließlich des Religiösen spielen. Dabei werden, obwohl kein umfassendes, erst recht kein kohärentes historisches Panorama gezeichnet werden kann, epochenübergreifende und systematische Erkenntnisse vermittelt.
IV.1 Transzendenzraum Stadt Die Stadt ist seit der Antike Objekt transzendent fundierter Deutungsfiguren. Es waren die mythischen Städte Sodom und Gomorrha, berühmter noch Babylon, die aufgrund ihres sündigen (d. i. typisch städtischen) Lebens und ihres Hochmuts der göttlichen Rache anheimfielen, und es waren die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kommunen, die sich mit der drohenden Strafe aus dem Jenseits ständig auseinanderzusetzen hatten. Einige Städte wurden auch und gerade dort zu gesellschaftlichen Deutungs- und Projektionsflächen, wo sie auf größere territoriale oder sogar universale Zusammenhänge verwiesen. Etwa wurde Rom zum Topos retro- und prospektiver Transzendierungen: Sich selbst als das wiedergeborene Troja deutend, erzeugte es eine Gründungs- und Kontinuitätssuggestion, deren genealogische Fortsetzung noch die Rede von einem „anderen“ (Konstantinopel), „zweiten“ (Aachen) und „dritten Rom“ (Moskau) bestimmte und die antike und später päpstliche Stadt zur Quelle legitimer Herrschaftsansprüche machen sollte.⁷¹ Zugleich fungierte Rom, das zeigt der Beitrag von Karl-Siegbert Rehberg, als Projektionsfläche für die Autonomisierung der Künste, zuerst durch einen auf die Antike zurückgreifenden Klassizismus und eine das Mittelalter verlebendig wollende religiöse Malerei, sodann ex negativo durch eine vom romantischen Geniemythos geleitete Individualisierung, besonders der Landschaftsmalerei. Kunstkonkurrenzen, beispielsweise zwischen französischem Akademismus und deutschsprachigen Künstlern – unter ihnen auch die sog. Nazarener – ließen Rom zu einem Raum entgegengesetzter, sich wechselseitig aber auch verstärkender Beglaubigungsgeschichten des Transzendenten werden. Städte waren immer auch repräsentative Räume des kommunalen Selbstverständnisses, weshalb zentrale Bauprojekte bis heute nicht selten zu Brennpunkten kontroverser politischer, ästhetischer und architektonischer Erwartungen werden. Stadtplanung gleicht dort einer creatio ex nihilo, wo eine ganz neue bauliche Ordnung entworfen wird. Hans-Georg Lippert zeigt am Beispiel einer sozialdemokratisch inspirierten, radikalreformerischen Stadtzentrumspla-
71 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, „Roma capitale delle arti. Transzendenzraum und Kunstkonkurrenzen“, in diesem Band S. 66–93.
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nung der 1920er Jahre, wie einerseits die Schaffung eines neuen ‚Civic Center‘ am klassischen Entwurf der antiken Polis anknüpft. Andererseits war das gesamte, schon im Stadtnamen ausgedrückte Projekt „Freital“ mit der Verheißung einer besseren Welt, „einer Insel Utopia inmitten der kapitalistischen Welt“⁷², aufgeladen. In einem der in dieser Analyse einbezogenen „architekturtheoretischen Urtexte“ des 20. Jahrhunderts – „Die Stadtkrone“ – entwickelte Bruno Taut, ausgehend von den pazifistischen und großstadtkritischen Idealen der Lebensreformbewegung, die „Vision eines veredelten Gemeinsinns, der sich von Thron und Altar losgesagt hat und in der Kunst die Transzendenzressource einer neuen friedfertigen städtischen Gemeinschaft erblickt.“ Taut evoziert die Semantik des Religiösen, vor allem die Vorstellung einer Heilserwartung, wenn er sein Projekt eines höchsten Bauwerks als „kristallisiertes Abbild der Menschenschichtung“ und „Träger eines kosmischen Empfindens“, „einer Religiosität, die nur ehrfürchtig schweigen kann“ ausweist und in ihm den „Glanz, das Leuchten des Reinen, Transzendentalen“ wirken sieht, „zum Zeichen des Glücks im neuen Leben“. Der Architekt inszeniert sich als Schöpfer, als Rivale Gottes, er tritt an, eine neue Ordnung zu kreieren, zu deren Begründung die Semantiken und Bilder des Religiösen bemüht werden.
IV.2 Transzendenzkaskaden der Herrschaft Seit der Antike war die Kommune eine herausgehobene Arena des Politischen, in der die implizite oder explizite Verhandlung über die Generierung der – mittels transzendenter Bedeutungen aufgeladenen – Handlungsressource Gemeinsinn stets neu auf der Tagesordnung stand.⁷³ Wie Jerusalem in der Alten Welt einen
72 Vgl. Hans-Georg Lippert, „‚Eine Insel Utopia inmitten der kapitalistischen Welt‘. Stadtzentrumsplanungen für Freital (Sachsen) in den 1920er Jahren“, in diesem Band S. 45–65; dort auch nachfolgende Zitate. 73 Vgl. den Überblick zu den antiken Verhältnissen bei Frank Kolb, Die Stadt im Altertum, München 1984; zur Bezogenheit des Politischen auf die städtische Kommunikation Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, München 1980; Hinnerk Bruhns/ Wilfried Nippel (Hg.), Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, Göttingen 2000; Ulrich Meier, „Kommunen, Stadtstaaten, Republiken. Gedanken zu Erscheinungsbild, Selbstverständnis und Außensicht italienischer Städte“, in: Kurt-Ulrich Jäschke/Christhard Schrenk (Hg.), Was machte im Mittelalter zur Stadt? Selbstverständnis, Außensicht und Erscheinungsbilder mittelalterlicher Städte, Heilbronn 2007, S. 67–90; Peter Blickle, Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, 2 Bde., München 2000; Rudolf Schlögl (Hg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt,
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Fixpunkt von Identität und Gemeinsinn für die jüdische Diaspora und Athen das Modell der polisdemokratischen Bürgerschaft von Freien und Gleichen darstellte,⁷⁴ so gründete die Römische Republik ihren Bestand auf die utilitas communione, das Gemeinwohl, zu dessen Erlangung es gemeinsinniger Bürger und Amtsträger bedurfte. Vor allem Letztere mussten sich der Gefolgschaft ihrer Klientele versichern, um ihre auctoritas als Grundlage ihres Herrschaftsanspruchs zu behaupten. Ein römischer Senator hatte sich trotz steiler soziopolitischer Hierarchie stets als gemeinsinniger Akteur zu präsentieren und musste ständig in die Gemeinschaft investieren, wobei dieses Grundprinzip des antiken Stadtstaats, das ins Unverfügbare transzendiert war, auch dort noch wirkte, wo der so zu erreichende Statusgewinn in keinem günstigen Verhältnis zur Höhe des Einsatzes und des Risikos mehr stand.⁷⁵ In dem Beitrag von Martin Jehne und Fritz-Heiner Mutschler⁷⁶ gibt sich der ambige transzendente Charakter der Gemeinsinnsformel in besonders auffälliger, ja tragischer Weise zu erkennen. Einerseits ist Gemeinsinn nicht beliebig reproduzierbar und in diesem Sinne auch nicht verfügbar. Andererseits muss er verfügbar gemacht werden, um der Republik in der Krise noch eine Chance zu geben. Für den als Machtpolitiker gescheiterten Cicero wurde der Appell an den Gemeinsinn zur (vor)letzten Rekursmöglichkeit. Gleichzeitig war angesichts des von ihm konstatierten allseitigen Eigensinns der politischen Akteure, der das republikanische Rom zu zerstören drohte, der Gemeinsinnsappell mit weiteren Transzendenzen aufzuladen. So argumentierte er, dass die Tradition, der mos maiorum, gemeinsinniges Verhalten gebiete. Und wo die Tradition als Begründungsrekurs nicht ausreichte, kamen die Götter ins Spiel, von denen Cicero zu versichern wusste, dass sie die „geweihten Stätten“ Roms beschützten und „am
Konstanz 2004; Christian Hochmuth/Susanne Rau (Hg.), Machträume der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2006. 74 Auch im Kontext der Debatten um das Theologisch-Politische stehen Athen und Jerusalem paradigmatisch für unterschiedliche Vorstellungen, zum einen das selbstbestimmte philosophische und politische Leben ohne Autorität, zum anderen das philosophische und politische Leben im Sinne des Offenbarungsglaubens. Vgl. Leo Strauss, Spinoza’s Critique of Religion, New York 1965, und hierzu Heinrich Meier, Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauss, Stuttgart 2003; ders., Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog unter Abwesenden, Stuttgart 1988; Harald Bluhm, Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philosophieren von Leo Strauss, Berlin 2002; Clemens Kauffmann, Strauss und Rawls. Das philosophische Dilemma der Politik, Berlin 2000. 75 Vgl. zum Phänomen dieses sog. Euergetismus den Klassiker von Paul Veyne, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike, Frankfurt a.M. 1988. 76 Martin Jehne/Fritz-Heiner Mutschler, „Gemeinsinnsbehauptung, Gemeinsinnsmotivation und Transzendenzkonstruktion bei Cicero“, in diesem Band S. 97–114.
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besten die Gesinnung aller Sachwalter des Staates durchschauen“. Diese religiöse Aufladung, der man in den Catilinarischen Reden häufiger begegnet, versieht den Appell an den Gemeinsinn nicht nur mit zwingendem Nachdruck, sondern ermöglicht auch eine moralische Verurteilung der Gegner auf der einen und eine Erhöhung der eigenen Position auf der anderen Seite: „Catalinas Unterfangen erhält so den Charakter eines religiösen Frevels, Ciceros Verteidigung den einer religiösen Großtat, die Unterstützung des Consuls durch Volk und Senat den einer religiösen Pflicht.“ Aber damit ist es nicht getan. Im Stufenaufbau der Transzendenzrekurse wird nun auch noch der Ruhm bemüht. Dieser ist die entscheidende Gratifikation für im Handeln verwirklichten Gemeinsinn. Generell war er zwar für den Einzelnen unverfügbar, weil er auf der Zuschreibung der Gemeinschaft beruhte, aber ein gemeinsinnig handelnder Politiker konnte ihn sich verfügbar machen, indem er die Zuschreibung antizipierte. Dabei besteht hier die Pointe darin, dass die eigene Erhöhung als Transzendierungsvorgang selbst reflektiert wurde. Cicero war sich dieser Überschreitung wohl bewusst und setzte sie als diskursives Mittel ein, um seinen Appell an ein gemeinsinniges Verhalten mit der Verheißung ewigen Nachruhms aufzuladen, wodurch die eigene Anhängerschaft sozusagen zur gesamten Menschheit wurde. Ruhm, Götter, Tradition, das sind die Transzendenzgrößen, die eine diskursive Transzendenzkaskade ausbilden, deren Stufung sowohl eine Handlungsmobilisierung wie eine Erhöhung des Rhetors bewirken soll. Tragisch war, dass für Cicero die rhetorische Transzendenzaufrüstung vergeblich blieb und er und die Republik scheiterten. Nicht jede Transzendenzkonstruktion gelingt. Die Aufstufung von Transzendenzvorstellungen dient der Geltungserhöhung Einzelner oder Gruppen und ist ein Mittel der Herrschaftsbegründung und -bewahrung. Sie kann – wie bei Cicero – als rhetorisches Stilmittel eingesetzt werden und findet sich gleichermaßen auch in jenen genealogischen Vergangenheitskonstruktionen, die der Herrschaft eines Fürsten oder Königs eine besondere Würde verleihen sollen, wie die Abhandlungen von Cristina Andenna und Gert Melville aufzeigen.⁷⁷ Dabei ging es nicht nur um Steigerungsakte primordialer Qualitäten, um die Blutslinie der Vorfahrenschaft zu verlängern und dem gegenwärtigen Vertreter dadurch ein genealogisches Prestige zu verschaffen. Der legitimatorische Rekurs auf die Vergangenheit der eigenen Dynastie bediente sich
77 Vgl. Cristina Andenna, „Wer ist zur Herrschaft geeignet? Konstruktion und Dekonstruktion dynastischer Idoneität und Legitimation am Beispiel der späten Staufer“, in diesem Band S. 115–141 sowie Gert Melville, „Die Bedeutung geschichtlicher Transzendenzräume und ihre Kritik. Zum Problem der Plausibilisierung dynastischer Geltungsbehauptungen“, in diesem Band S. 142–160.
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zahlreicher Aufladungsakte, der Mittel der Heiligung und der religiösen Überhöhung, vor allem aber auch eines Rekurses auf biblische Figuren. So ließ sich beispielsweise Karl IV. in seiner Repräsentationsburg Karlstein südwestlich von Prag eine Freskenreihe angeblicher Vorfahren malen, die „nicht nur über die brabantische, karolingische und merowingische Linie bis zu den Trojanern zurückgeführt wurde, sondern daran auch noch euhemeristisch verstandene Gestalten der antiken Götterwelt zurück bis Noah“ hinzufügte. Die burgundischen Herzöge, die Wittelsbacher oder die Habsburger gingen sogar bis zum „denkbar weitesten Punkt“, bis Adam zurück.⁷⁸ Ursprungs- und Geltungsgeschichte finden sich in einer Transzendenzkonstruktion der Idoneität. Zugleich wird die Geschichte als Transzendenzraum mit einem Repertoire von – retrospektiven – Transzendenzvorstellungen verfügbar gemacht,⁷⁹ die sich in konkreten – auf die Gegenwart des Herrschaftsanspruchs gerichteten – Transzendenzbehauptungen zuschneiden und amalgamieren lassen und wie eine Kaskade von Herrschaftslegitimierungen wirken.
IV.3 Übergangsräume des Transzendenten: Bilder Im Prozess der Ausbildung moderner, sozialer und politischer Ordnungen treten neue Gruppen auf, die ihre Position in gesellschaftlichen Deutungs- und Handlungszusammenhängen in Rekurs auf spezifische Transzendenzvorstellungen zu begründen, das heißt zu erringen, zu legitimieren und zu sichern suchen. Dabei wurden überlieferte Transzendenzvorstellungen bestritten, kritisiert, umgedeutet oder verworfen. Das lässt sich beispielhaft an etablierten Bildordnungen des Religiösen zeigen, wo, wie bei den frühneuzeitlichen Genremalern, deren vorgeblich profane Sujets kundige Betrachter verlangten, um deren religiösen Bezüge, aber auch die Umcodierungen des Transzendenten zu entschlüsseln. Zeichen, die das Göttliche vergegenwärtigen sollen, verweisen weniger auf dessen An- als vielmehr dessen Abwesenheit, wie Jürgen Müller in seinem Beitrag argumentiert. Das kann verstanden werden als programmatische Verschiebung einer Theologie der zeichenhaften, visuellen Repräsentation des Göttlichen zu einer Theologie des Geistes, in dem das Wort dem Bild überlegen ist. Die Darstellung des niederländischen Malers Jan van Amstel „Die Flucht nach Ägypten“ wird so
78 Gert Melville, „Die Bedeutung geschichtlicher Transzendenzräume und ihre Kritik. Zum Problem der Plausibilisierung dynastischer Geltungsbehauptungen“ (wie Anm. 77). 79 So auch bei den Romkünstlern, vgl. Karl-Siegbert Rehberg, „Roma capitale delle arti. Transzendenzraum und Kunstkonkurrenzen“ (wie Anm. 71).
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zu einem Übergangsraum der göttlichen Transzendenz in die weltliche Immanenz (analog der Menschwerdung Christi), deren – durchaus protestantisch zu nennende – Pointe nun aber wiederum in der erlösenden Transzendierung mittels einer christlich-humilen Lebensführung liegt.⁸⁰ Ganz ähnlich zeigt Gerd Schwerhoff auf, dass in den Bilderstürmen des 16. Jahrhunderts eine Transformation der herkömmlichen Repräsentation des Heiligen, somit auch eine nachhaltige Purifizierung und Umcodierung des sakralen Raumes und die Produktion eines neuen, reformatorischen Gemeinsinns stattfindet. Der Ikonoklasmus erscheint dann keineswegs als die radikale Destruktion aller Transzendenzen des Göttlichen, vielmehr als Transzendenzmedium, in dem ein Kampf um die richtige Symbolisierung des Göttlichen und des Heiligen geführt wird.⁸¹
IV.4 Konkurrenz und Amalgamierung der Transzendenzen in der Ordnung des Sozialen In der Formierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft treten auch solche Transzendenzkonkurrenzen in Erscheinung, die der Religion als Symbolsystem den Rang streitig zu machen und sich zugleich deren Suggestionskraft anzueignen suchen: Natur, Vernunft, Fortschritt, Technik, Humanität, Ästhetisierung der Welt (bis hin zur Landschaftsgestaltung) werden unter säkularen Bedingungen zu Schlüsselbegriffen der (bürgerlich-rationalen) Weltdeutung. Vernunft und Autonomie werden zwar zu neuen Leitideen, die sowohl Gestaltungsoffenheit wie einen Progressionshorizont erzeugen. So kann beispielsweise „die Natur“ der Kontingenz des historischen Wandels entzogen, mithin zu einer als unverfügbar erscheinenden Quelle aller Normativität werden, die ihre symbolische Repräsentation im „Garten der Aufklärung“ findet.⁸² Naturtranszendierung wird, wie Winfried Müller analysiert, zum Medium der ästhetischen und sittlichen Veredelung des Menschen, der Ausbildung patriotischer Gesinnungen und einer gemeinsinnigen Belehrung über Formen der Wohltätigkeit. Das Transzendenzprogramm des Landschaftsgartens besaß zugleich politische Distinktionsintentionen: Es war der Gegenentwurf zum monarchisch-despotisch gedeuteten französischen
80 Vgl. Jürgen Müller, „Zur negativen Theologie des Bildes. Jan van Amstels Flucht nach Ägypten und Erasmus von Rotterdam“, in diesem Band S. 163–185. 81 Vgl. Gerd Schwerhoff, „Bildersturm und Blasphemie. Zum Spannungsfeld von Transzendenz und Gemeinsinn in der Reformationszeit“, in diesem Band S. 186–206. 82 Winfried Müller, „Gärten der Aufklärung. Soziabilität und Naturtranszendierung“, in diesem Band S. 209–224.
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Barockgarten und „Leitmedium“⁸³ einer politisch konnotierten Anglophilie, mit der sich eine Wertschätzung englischer Freiheit und britischen public spirit sowie des konstitutionellen Gedankens verband. Der Landschaftsgarten wird so zum symbolischen Programm einer bürgerlichen Selbstermächtigungsstrategie. In der Selbstbeschreibung bürgerlicher Lebensformen hat aber auch die stabile Eltern-Kind-Beziehung stets eine herausgehobene Stellung eingenommen, sie wurde für „natürlich“ gehalten. Dieses gemeinsinnige Verständnis wurde indes, so zeigen Karl Lenz und Sylka Scholz, von unverfügbar gestellten Hintergrundvorstellungen gestützt, die im Wandel der Lebensformen selbst ins Wanken gerieten.⁸⁴ Zunächst – im Westdeutschland der 1950er Jahre – hatten religiöse Transzendenzen die Institutionen von Ehe und Familie noch gestützt, verbunden mit einer starken Naturalisierung der Geschlechterrollen. Die unverfügbar gestellte Mutterliebe zum Kind leitete sich sowohl aus der göttlichen Schöpfungsordnung wie aus einer anthropologisch fundierten Naturkonzeption ab. Mit der Instabilität von Paarbeziehungen und der Pluralisierung familialer Lebensformen wird nun aber die Eltern-Kind-Beziehung kulturell anders, nämlich durch eine – aus der Romantik stammende – Idealisierung des Bildes vom Kinde, stärker noch: durch eine säkulare Sakralisierung des Kindes, gestützt. Das Kind wird als heiliges Subjekt idealisiert. Wenngleich der Kontraktualismus zu Beginn der Neuzeit sicherlich der deutungsmächtigste Kandidat war, der die Entstehung der politischen Ordnung auf vernunftrechtliche Operationen sozialer Vergemeinschaftung gründete, so war er beileibe nicht der einzige, wie die vielfältigen Formen des Rekurses auf die Natur und ihre vermeintlich versittlichenden, bürgerschaftliche Tugenden erzeugen sollenden Wirkungen zeigen.⁸⁵ Auch blieb das Phänomen der Naturtranszendierung keineswegs auf die Epoche des 17. und 18. Jahrhunderts beschränkt. Nach den großen Krisen, Kriegen und Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts war oftmals der Rekurs auf die Transzendenzformel „Natur“ beobachtbar, zuweilen in der Form eines Naturrechtes, welches als Geltungsgrund und Legitimitätsausweis des positiven Rechts angeführt wird,⁸⁶ zum anderen, wie Werner Patzelt aufzeigt, als „Würde der Erde“ und damit als – von Papst Benedikt formulierte –
83 Annette Dorgerloh, Strategien des Überdauerns. Das Grab- und Erinnerungsmal im frühen deutschen Landschaftsgarten, Düsseldorf 2012, S. 14. 84 Karl Lenz/Sylka Scholz, „Das idealisierte Kind. Eltern-Kind-Beziehungen in populären Erziehungsratgebern“, in diesem Band S. 245–264. 85 Pars pro toto sei hier nur auf Jean-Jacques Rousseau verwiesen. 86 Vgl. etwa der Rekurs auf das Naturrecht bei Gustav Radbruch, „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, in: Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946), S. 105–108.
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Mahnung, die vorgegebene Unverfügbarkeit der göttlichen Schöpfung zu achten und sie als Grenze, als Stoppschild menschlicher und technologisch-evolutionärer Verfügungsgewalt, anzuerkennen.⁸⁷
IV.5 Heilsversprechen des Fortschritts in der technologischen Moderne Damit ist auch die eine, aus Gott, Schöpfung und Natur amalgamierte Transzendenz in Stellung gebracht gegenüber einer die wissenschaftlich-technische Evolution ganz wesentlich befeuernden Transzendenzformel des Fortschritts, die mit der damit verbundenen Gemeinsinnssupposition, der ganzen Gesellschaft von Nutzen zu sein, nicht nur Technikern und Ingenieuren half, ihren eigenen beruflichen Status kulturell zu erhöhen. Das prägte auch ein Denken, welches mit utopischen Überschüssen – Zukunft, Machbarkeit, Planung – aufgeladen war, welches unterschiedlichen politischen und sozialen Ordnungen, den sozialistisch-kommunistischen Regimen wie den Ländern der kapitalistischen Moderne ein heilsgeschichtliches Telos, das Versprechen auf eine bessere Zukunft, zu geben vermochte – wie Thomas Hänseroth und Christian Schwarke in ihren Aufsätzen eindrücklich belegen.⁸⁸ „Jede neue Maschine predigt das Evangelium der sozialen Emanzipation“, so heißt es bei Liebknecht.⁸⁹ Ganz analog wurde der Hauptbahnhof Leipzig bei seiner Schlusssteinweihe 1915 zur „Kathedrale des Fortschritts“, Peter Behrens’ Turbinenhalle der AEG zum „Maschinendom“ erklärt. Und Werner Siemens war überzeugt davon, dass „unsere Forschungsund Erfindungstätigkeit die Menschheit höheren Kulturstufen zuführt, […] sie auf eine höhere Stufe des Daseins erheben muss“. Der Prozess einer missionarischen
87 Vgl. Werner J. Patzelt, „Transzendenz, Naturrecht und die Gründung stabiler Ordnung. Politiktheorie in der Rede Papst Benedikts XVI. vor dem Bundestag“, in diesem Band S. 225– 244. 88 Thomas Hänseroth, „Technischer Fortschritt als Heilsversprechen und seine selbstlosen Bürgen. Zur Konstituierung einer Pathosformel der technokratischen Hochmoderne in Deutschland“, und Christian Schwarke, „The Gospel According to Fortune. Technik und Transzendenz in der Mission für eine industrielle Kultur“, beide in diesem Band S. 267–288, 289–310. 89 Dieses Zitat und die nachfolgenden Zitate sind belegt bei Hänseroth, „Technischer Fortschritt“ (wie Anm. 88). Dort auch der schöne Verweis auf Lenin: „Kommunismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ (Wladimir Iljitsch Lenin, „Rede auf dem VIII. Gesamtrussischen Sowjetkongress im Dezember 1920“, in: ders., Werke, Bd. 31, Berlin 1959, S. 513).
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Überhöhung der Technik ist verbunden mit einer „Transzendenz ins Diesseits“⁹⁰, mittels der die Technik, ihre Errungenschaften und ihre Gestaltungsmacht, in die Lebenswelt integriert und dabei zugleich die Unbestreitbarkeit ihrer Geltung gesichert wird. Das, was zuvor unverfügbar erschien, weil es außerhalb jeder Machbarkeit lag, wird nun verfügbar gemacht bzw. als verfügbar in Aussicht gestellt. Zugleich werden Technik, Wirtschaft und Industrie in einer Art „Kultursynthese“ (Troeltsch) von Fortschritt und Schönheit zum Signum der technologischen Moderne und der „Industriekultur“.⁹¹ Damit partizipiert die Technik von der mit der Kunst und dem Künstlerischen eingeschriebenen Transzendenzvorstellung des Schönen und Erhabenen – und am Heiligen: „Das Neue ist das Heilige, und das Heilige ist das Neue.“⁹²
IV.6 Sakralisierungen und das Religiöse Die Transposition des Heiligen in die Bereiche von Technik, Wirtschaft⁹³ und Industrie könnte den – vorläufigen – Schlusspunkt einer Entwicklung markieren, die magische und religiöse Vorstellungen auf innerweltliche Zusammenhänge überträgt: Nicht nur das Göttliche, sondern auch Herrschaft, Kunst, Ingenieure, Unternehmer, Erfinder, ferner die Wissenschaft, auch der Staat, die Politik, Kriege, Arbeit, die Liebe, die Person, das Individuum und das Kind, können geheiligt und damit, als fascinosum et tremendum,⁹⁴ absolut und unangreifbar gesetzt werden. Das legt auch Nietzsches Aphorismus nahe, nach welchem „die Kunst […] ihr Haupt [erhebt], wo die Religionen nachlassen“ und sich das religiöse Gefühl, „durch die Aufklärung aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst; in einzelnen Fällen auch auf das politischen Leben, ja selbst direct
90 Arnold Gehlen hat mit dem Begriff einer „Transzendenz ins Diesseits“ die Verlagerung absoluter Orientierungspunkte und Normgehalte in die innerweltliche Versachlichung, etwa der Technik, beschrieben: Das Verhalten wird vom Gegenstand oder von durch Menschen gesetzten innerweltlichen Normierungen nicht weniger bestimmt, als das jenseitige Mächte vermögen. Vgl. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, 6., erw. Aufl., hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M. 2004, S. 16 u. ö. 91 Schwarke, „The Gospel according to Fortune“ (wie Anm. 88). 92 Karl Joël, „Weltanschauung und Zeitanschauung“, in: Max Frischeisen-Köhler (Hg.), Weltanschauung: Philosophie und Religion in Darstellungen, Berlin 1911, S. 128–138, hier S. 130f. 93 Vgl. Dirk Baecker (Hg.), Kapitalismus als Religion, 2. Aufl., Berlin 2004. 94 Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (wie Anm. 63). Vgl. auch Anm. 69.
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auf die Wissenschaft [wirft]“.⁹⁵ Auch Jürgen Habermas sieht in der Versprachlichung des Sakralen das Ende magischer und unmittelbar religiöser Vorstellungswelten beschlossen.⁹⁶ Hingegen haben Durkheim und in seiner Nachfolge viele andere zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Sakralisierungen auch in der Moderne nicht nur ein immer wieder zu beobachtendes soziales Phänomen sind, sondern auch für soziale und politische Ordnungen konstitutiv sind.⁹⁷ Und auch in historischer Perspektive können Sakralisierungen keinesfalls nur als Einbruch des Religiösen in den sozialen oder politischen Bereich gedeutet werden.
95 Friedrich Nietzsche, „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band“, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 2, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, S. 9–366, hier S. 144. 96 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987, S. 118ff.; ders., Versprachlichung des Sakralen. Anstelle eines Vorwortes, in: ders., Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012, S. 7-18. 97 Émile Durkheim, „Der Individualismus und die Intellektuellen“ [1898], in: Hans Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt a.M. 1986, S. 54–70. Bei Durkheim ebd., S. 56f. heißt es: „Diese heilige Person, deren Definition gleichsam der Prüfstein ist, an dem sich das Gute vom Schlechten unterscheiden muß, wird als heilig betrachtet, sozusagen in der rituellen Bedeutung des Wortes. Sie hat etwas von der transzendenten Majestät, welche die Kirchen zu allen Zeiten ihren Göttern verleihen; man betrachtet sie so, als wäre sie mit dieser mysteriösen Eigenschaft ausgestattet, die um die heiligen Dinge herum eine Leere schafft, die sie dem gewöhnlichen Kontakt und dem allgemeinen Umgang entzieht.“ (Hervorh. von mir, HV) Dazu jetzt, mit vielen weiteren Literaturhinweisen, vor allem Joas, Die Sakralität der Person (wie Anm. 64), S. 81ff. (dort auch das Durkheim-Zitat); schon früher ders., Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg i. Br. 2004; vgl. auch Bernhard Giesen, Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund der sozialen Wirklichkeit, (wie Anm. 69); zuvor bereits: ders., „Tales of transcendence: Imagining the sacred in politics“, in: ders./Daniel Suber (Hg.), Religion and Politics. Cultural Perspectives, Leiden/ Boston/Tokyo 2005, S. 93–137; ders., „Performing the sacred: A Durkheimian perspective on the performative turn in social sciences“, in: Jeffrey Alexander/ders./Jason L. Mast (Hg.), Social Performance. Symbolic Action, Cultural Pragmatics, and Ritual, Cambridge 2006, S. 325–367; ders., „Der Müll und das Heilige“, in: Michael C. Frank/Gabriele Rippl (Hg.), Arbeit am Gedächtnis, München 2007, S. 101–110. – Zu den gegenläufigen Prozessen von Säkularisierung und Sakralisierung vgl. schon Daniel Bell, „The Return of the Sacred? The Argument on the Furture of Religion“, in: British Journal of Sociology 28 (1977), Nr. 4, S. 419–450; Mathias Hildebrandt/Manfred Brocker/Hartmut Behr (Hg.), Säkularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften. Ideengeschichtliche und theoretische Perspektive, Wiesbaden 2001; Craig Calhoun/Mark Juergensmeier/Jonathan van Antwerpen (Hg.), Rethinking Secularism, Oxford 2011; Martin Treml/Daniel Weidner (Hg.), Nachleben der Religionen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dialektik der Säkularisierung, München 2007.
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So spiegelten etwa der bürgerschaftliche Eid oder die „Priesterherrschaft der Juristen“ weniger Transpositionen religiöser Vorstellungen als vielmehr grundlegende Transzendierungsvorgänge sozialer und politischer Ordnung wider, die keineswegs allein als Umsetzung religiöser Transzendenzen verstanden werden können.⁹⁸ So kann auch aus den empirischen Studien dieses Bandes der – vorläufige – Schluss gezogen werden, dass es sich bei Sakralisierungen keineswegs um einen unilinearen Prozess der Übersetzung aus der religiösen in die innerweltliche Sphäre handelt. Heiligungen sind keineswegs nur an die Transzendenz des Religiösen gebunden. Dass und wie Heiligungen konstruiert werden und funktionieren, wie eine Ordnung durch sie begründet, gesichert und erhalten werden kann und dabei keineswegs alleine ‚das Göttliche‘ den Transzendenzrekurs bestimmt, zeigt sich auch in vormodernen Ordnungen sehr deutlich. So wird beim mittelalterlichen Kathedralbau, den Bruno Klein untersucht, deutlich, dass die Annahme von der göttlichen Realpräsenz des Heiligen nicht mehr alleine ausreichte, um die notwendigen, gemeinsinnigen und finanziellen, Ressourcen zu mobilisieren. Es bedurfte, vor allem im späten Mittelalter, der Verbindung mit ästhetischen Vorstellungen des Künstlerischen und Schönen, die dem Kirchenbau den Status des Sakralen sicherten und damit die erforderlichen Mittel zuführten.⁹⁹ Jede sich neu konstituierende Gemeinschaft, so auch das nachexilische Israel, bedarf einer transzendenten Ordnungsstabilisierung, wie sie durch die Fixierung der Thora und der Kanonisierung biblischer Schriften ebenso wie durch den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem (das sich in Erhebung Zions zum Symbol des gesamten Judentums seinerseits transzendierte) erreicht werden sollte. Zugleich aber bildete sich auch, wie Maria Häusl zeigt, ein Verständnis von „Gemeinschaftstreue“ aus, welches das Handeln der Menschen auf die konkrete Ordnung ausrichtete und neben einer kultischen Operation ritueller Handlungen auch geheiligte Rechtssätze und Verbote inkludierte, die den Rahmen für
98 Paolo Prodi, Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents, Berlin 1997; Paolo Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit, München 2003; Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, Stuttgart 1992. Dass von der dem Recht zugeschriebenen Sakralität bis heute (Verfassungs-)Richter profitieren, zeigen die Beiträge in: Hans Vorländer (Hg.), Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, Wiesbaden 2006. Kritisch gegenüber den Tendenzen zur Sakralisierung von Verfassungen Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat, München (Carl Friedrich von Siemens Stiftung) o. J. (2008), S. 98ff. 99 Bruno Klein, „Göttliche Gotik? – Modi der Transzendierung von Sakralarchitektur im hohen und späten Mittelalter“, in diesem Band S. 356–373.
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das geordnete Zusammenleben der Menschen konstituierten. Damit war die Vorstellung der Heiligung nicht mehr ausschließlich an den Kult und seine rituellen Praktiken gebunden. Das Handeln für die Gemeinschaft wurde selbst geheiligt und damit die gemeinsinnorientierte Handlungsdisposition normativ ausgezeichnet.¹⁰⁰ Der Prozess, der die Kombination von Altem und Neuem Testament zu einer Einheit fügte und zur „Heiligen Schrift“ und damit zum Gründungsdokument der christlichen Kirche und Tradition werden ließ, beruhte auf der Ausbildung eines komplexen Transzendenznarrativs, welches die heiligen Attribute der Bibel (Unbedingtheit, Geltungsanspruch, Irrtumslosigkeit) mit der Vorstellung des verbindlichen Schriftenkanons zu einer Heilsgeschichte verbunden hatte.¹⁰¹ Die Pointe dieses Prozesses bestand darin, wie Matthias Klinghardt herausgearbeitet hat, dass dieses Narrativ auf einem bewussten editorischen Akt, einer einheitlichen Redaktion, beruhte, der den Transzendenzanspruch der Inspirationsaussage für das Alte Testament, nach dem die „ganze Schrift von Gott eingehaucht“¹⁰², vom „heiligen Geist getragen“¹⁰³ und von Petrus überliefert, mit den Texten des Neuen Testamentes verbindet und eine Einheit und Authentizität der Heiligen Schrift behauptet. Damit das Transzendenznarrativ wirkt, muss der Herausgeber und sein redaktioneller Eingriff¹⁰⁴ unsichtbar bleiben. Das redaktionelle Konzept aber „konstituiert nicht nur die Geschichte der Entstehung der frühesten Kirche im Zeitalter der Apostel, sondern bindet diese in das umfassende Narrativ der Heilsgeschichte ein“. Transzendenznarrative sind eine spezifische Form von Geltungsgeschichten, die Geltung einer sozialen und politischen Ordnung erzeugen. Sie stiften Kontinuität über Zeit, sie vergegenwärtigen Traditionen und entwerfen Zukünfte, sie rahmen die Selbstentwürfe und die Selbsthistorisierungen von Ordnungen. Sie verleihen auf diese Weise den Ordnungen Dauer, Legitimität und Identität.¹⁰⁵
100 Vgl. Maria Häusl, „Heiligung, Sinnstiftung und Transzendenz – Jesaja 58 und Nehemia 9.10 im Vergleich“, in diesem Band S. 313–330. 101 Vgl. Matthias Klinghardt, „Inspiration und Fälschung: Die Transzendenzkonstitution der christlichen Bibel“, in diesem Band S. 331–355. 102 2Tim 3,16. 103 2Pe 1,20. 104 Von dem Klinghardt glaubt zeigen zu können, dass sich der Herausgeber einer Täuschung, gar einer Fälschung zweier Briefe (2Tim; 2Pe), bediente. 105 Vgl. dazu Hans Vorländer/Gert Melville, „Geltungsgeschichten und Institutionengeltung. Einleitende Aspekte“, in: Melville/Vorländer (Hg.), Geltungsgeschichten (wie Anm. 1), S. IX–XV; Gert Melville/Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Gründungsmythen, Genealogie, Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, Köln 2004.
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Sie tun dies unter anderem dadurch, dass sie mittels Formen mythischen oder legendarischen Erzählens, von Ursprungsmythen oder Gründungslegenden, die Ordnung, ihren begründenden Anfang und ihre fortdauernde Entwicklung, als eine notwendige und dauerhafte, und eben nicht als eine kontingente und labile Ordnung erscheinen lassen. So kann Marina Münkler am Beispiel der Franziskuslegenden zeigen, wie der Hiatus vom Charisma der Gründerfigur zu einer Ordnung des Klosters gelingt, wobei es entscheidend darauf ankommt, die Heiligkeit der Person in eine Heiligung der von ihm bezeugten Institution zu überführen.¹⁰⁶ Erst die Legende ist in der Lage, die Spannung zwischen Charisma und Institution zu bewältigen, die Bildung einer Gemeinschaft von Mönchen zu ermöglichen und auf Dauer zu stellen: „Sie vergegenwärtigt das Heilige in Gestalt der viten- oder biographiemäßigen Erzählung von einem oder einer Heiligen.“¹⁰⁷ In diesen Prozessen sind narrative Rahmungen der Transzendierungen zugleich die Voraussetzungen ihrer institutionellen Verfügbarmachung. Der Gründer, Franziskus, ist Träger eines besonderen Charismas, als solcher steht er „außerhalb der Bande dieser Welt“.¹⁰⁸ Die Heiligsprechung schreibt die Wirkmächtigkeit seines Handelns über den Tod hinaus fort, bekräftigt seine schon zu Lebzeiten erfolgte Zuschreibung, eine besondere Nähe zu Gott zu besitzen und von diesem bereits im Wege der Gnadenerhebung geheiligt worden zu sein. Die Legende überträgt nunmehr das Charisma des Ordensgründers auf den Orden, bedient sich dabei aber zugleich einer weiteren Figur, mittels derer die Partizipation der Ordensmitglieder an der Heiligkeit des Gründers möglich wird. Im Medium einer plurivalenten Semantik der Freundschaft, der Gottesfreundschaft, der Freundschaft mit der Armut und den Armen und der Verbundenheit mit den Gefährten und Ordensbrüdern, wird der unmittelbare Zugang des Heiligen zur göttlichen Transzendenz markiert und zugleich eine Vermittlungsebene bezeichnet, die „allen anderen Gläubigen durch die Mittlerfunktion des Heiligen den Zugang zur Transzendenz ermöglicht“.
106 Marina Münkler, „Amicus Dei. Konstruktionsformen des Heiligen am Beispiel der Franziskuslegenden“, in diesem Band S. 374–394. 107 Peter Strohschneider, „Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ‚Alexius‘“, in: Melville/Vorländer (Hg.), Geltungsgeschichten (wie Anm. 1), S. 109–147. 108 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., rev. Aufl., Tübingen 1980, S. 656.
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Die Beiträge des Bandes zeigen, dass Transzendenzvorstellungen in historisch und kulturell distinkten Transzendierungsprozessen erzeugt, ausgelegt, angeeignet und verworfen werden und in ihren spezifischen sinnkonstitutiven Funktionen konkrete Ordnungen begründen, verstetigen oder bestreiten. Es lassen sich performative, narrative und ikonische Praktiken und geltungserhöhende Diskurse unterscheiden. In den sozialen und politischen Überschreitungsvorgängen wird auf die Transzendenzen von Gott, Natur, Nation, die Geschichte, das Schöne, Erhabene, die Freundschaft und das Heilige Bezug genommen, und nicht selten lässt sich als entscheidender Transzendierungsmodus eine Verbindung von Ästhetisierung und Sakralisierung beobachten. In solchen diskursiven und praktischen Prozessen der Transzendierung des situativ Gegebenen werden Sinnwelten erzeugt, die auf eine gemeinsame Orientierung des Verhaltens und Handelns als Grundlage einer stabilen Ordnung abzielen, wenngleich sie in Geltung und Wirkung kontingent bleiben. In Transzendierungsprozessen werden Unverfügbarkeiten produziert, indem Transzendenzvorstellungen als letzte Gründe in Begründungsdiskursen behauptet und damit Sperrzonen möglicher Handlungsräume markiert werden. Es werden aber auch Unverfügbarkeiten bewältigbar gemacht, wo Riten, Kulte, aber auch Mythen und Legenden das Unvordenkliche und Unsagbare, das Faszinierende und Erschreckende, durch performative oder narrative Akte präsent und insofern verfügbar werden lassen. Zugleich lassen sich paradigmatische Verkörperungen identifizieren, etwa in jenen Figuren des Gründers, Reformers, Aufklärers, Künstlers, des Architekten und Ingenieurs, des Stifters und Mäzens, in denen Transzendierungsformen und Transzendenzvorstellungen (Mildtätigkeit, Tapferkeit, Mut, Fürsorglichkeit, Ehre, Ruhm, Freundschaft, Fortschritt, auch Gemeinsinn) handelnd realisiert werden, sich in besonderer Weise verdichten und im wechselseitigen, konstitutiven Bezug auf Ordnungen mit starken Transzendenzgehalten noch verstärken. Nicht nur im späten Mittelalter verleihen Sakralbauten dem Stifter eine Geltungserhöhung durch religiöse Transzendenzzufuhr. Der Stifter wiederum weist sich selbst als Akteur gemeinsinnigen Handelns aus und den Kirchenbau als Medium der Erlangung des eigenen Heils und zugleich als Objekt stifterlichen Nachruhms – was, im Kontext kompetitiver Ruhmüberbietung, zur Nachahmung motivierte. Künstler, Ingenieur und Architekt, auch der Reformer und große Gesetzgeber (von Moses über Lykurg bis Rousseaus grand législateur) partizipieren vom göttlichen Schöpfermythos – auch im Anspruch, als Rivale Gottes etwas Neues zu schaffen –, und zugleich bezeugt die Ordnung des Neuen die Außerordentlichkeit des – gemeinsinnig, altruistisch geltenden – Handelns und bewahrt so den fortwährenden Deutungs- und Gestaltungsanspruch des Gegründeten wie des Demiurgen. Solche wechselseitigen Transzendenzverstärkungen zeigen sich
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jenseits der Epochengrenzen in den Konstituierungsprozessen von sozialen und politischen Ordnungsformationen.¹⁰⁹
109 Vgl. in diesem Band die Beiträge von Klein und Münkler (Stifter), Lippert (Architekt), Rehberg (Künstler), Hänseroth und Schwarke (Ingenieur). Zum Gesetzgeber vgl. Vorländer, „Gründung und Geltung“ (wie Anm. 1); Friedrich Wilhelm Graf, Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, München 2006.
I. Ordnungen der Stadt – Transzendenzräume
Hans-Georg Lippert
„Eine Insel Utopia inmitten der kapitalistischen Welt“ Stadtzentrumsplanungen für Freital (Sachsen) in den 1920er Jahren
I. Sehnsüchte und Utopien „Im wachen Traum […] sehen wir von fern das Land der Schönheit, wo die Menschen den Haß und die Qual überwunden haben, wo das Neben- und Gegeneinander sich zum Miteinander wandelt. […] Im Licht des kommenden Tages leuchten uns die Zinnen der ewigen Stadt. Sie zu bauen, sie schaffend zu erleben, ist höchste Lust.“1 Mit diesen hymnischen Worten begrüßte Erich Baron, Chefredakteur der als „Organ für die Interessen der arbeitenden Klassen“ firmierenden Brandenburger Zeitung und Mitglied der 1917 aus der Spaltung der deutschen Sozialdemokratie hervorgegangenen radikalsozialistischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), die neue Staatsordnung nach dem Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreichs. Das Zitat stammt aus einem Gastbeitrag Barons zu einem Buch, das der expressionistisch bewegte Berliner Architekt Bruno Taut während des Krieges konzipiert hatte, aber erst 1919 publizieren konnte. Es trägt den rasch zum Schlagwort avancierten Titel „Die Stadtkrone“ und ist aus heutiger Sicht einer der architekturtheoretischen Urtexte des 20. Jahrhunderts.2 Ausgehend von den pazifistischen und großstadtkritischen Idealen der Lebensreformbewegung entwickelt Taut darin die Vision eines veredelten Gemeinsinns, der sich von Thron und Altar losgesagt hat und in der Kunst die Transzendenzressource einer neuen, friedfertigen städtischen Gemeinschaft erblickt. Baulich symbolisiert wird diese Vorstellung durch eine funktional gegliederte Stadtanlage für 300 000 Einwohner, die als „kristallisiertes Abbild
1 Erich Baron, „Aufbau“, in: Bruno Taut, Die Stadtkrone. Mit Beiträgen von Paul Scheerbart, Erich Baron, Adolf Behne, Jena 1919, Reprint Berlin 2002, S. 101–109, hier S. 108. 2 Taut, Stadtkrone (wie Anm. 1). Zur umfangreichen Rezeption und Wirkungsgeschichte des Buches zuletzt Hilde Strobl, „‚Wir bauen, weil wir müssen‘. Bruno Tauts Architekturutopien für eine friedliche Gesellschaft“, in: Winfried Nerdinger (Hg.), L’architecture engagée. Manifeste zur Veränderung der Gesellschaft, München 2012, S. 154–169. Vgl. auch Winfried Nerdinger (Hg.), Bruno Taut 1880–1938. Architekt zwischen Tradition und Avantgarde, Stuttgart 2001; Kurt Junghans, Bruno Taut 1880–1938. Architektur und sozialer Gedanke, Leipzig 1998.
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der Menschenschichtung“3 verstanden werden soll und deren Zentrum durch ein terrassenartig erhöhtes Ensemble aus Bauten für Bildung, Kultur und Erholung gebildet wird (Abb. 1). In dessen Mitte wiederum erhebt sich ein höchstes Bauwerk, das, ganz vom Zweck losgelöst, als reine Architektur über dem Ganzen thront. Es ist das Kristallhaus, das […] als Zeichen der höchsten Heiterkeit, des reinsten Seelenfriedens in der Sonne funkelt. In seinem Raum findet ein einsamer Wanderer das reine Glück der Baukunst. […] Der Glanz, das Leuchten des Reinen, Transzendentalen schimmert über der Festlichkeit der ungebrochen strahlenden Farben. Und als ein Farbenmeer breitet sich der Stadtbezirk rings umher aus, zum Zeichen des Glückes im neuen Leben.4
Abb. 1: Bruno Taut, „Die Stadtkrone, Ansicht nach Osten“ (1919) [Abbildungsnachweis: Bruno Taut, Die Stadtkrone, Jena 1919, Abb. 42]
Das Kristallhaus ist in Tauts Vision der leere, sich selbst genügende „Träger eines kosmischen Empfindens […], einer Religiosität, die nur ehrfürchtig schweigen kann“.5 An die Stelle des Wortes tritt das metaphysische Erlebnis vielfarbigen Lichts, nicht anders als siebenhundert Jahre zuvor schon in den Kirchen der Gotik, die Bruno Taut zutiefst bewunderte und die ihm bewiesen, dass „die Spitze, das Höchste, die kristallisierte religiöse Anschauung Endziel und Ausgangspunkt zugleich für alle Architektur ist […] und die Lösung der simpelsten praktischen Bedürfnisse mit einem Schimmer ihres Glanzes verschönt“.6 Bruno Tauts Vision der „Stadtkrone“ war keine Einzelinitiave. Nach dem Ersten Weltkrieg präsentierte sich Deutschland regelrecht als Laboratorium künstlerisch-sozialer Utopien, die vordergründig allerdings durch starke welt-
3 Taut, Stadtkrone (wie Anm. 1), S. 66. 4 Taut, Stadtkrone (wie Anm. 1), S. 69. 5 Taut, Stadtkrone (wie Anm. 1), S. 69. 6 Taut, Stadtkrone (wie Anm. 1), S. 52.
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anschauliche Gegensätze und Frontstellungen geprägt erscheinen. Einerseits finden sich Strömungen, die den technischen und sozialen Fortschritt zum Ausgangspunkt neuer architektonischer Ideen von Gemeinsinn und Gemeinschaft sowie zum Fundament einer ahistorischen, säkularen Transzendenzerfahrung zu machen suchten. Ihr Leitbild war das Machbare, die praktische Verfügbarmachung des bisher Unverfügbaren zur Schaffung einer besseren Welt. Andererseits gab es Entwicklungen, die der Kontingenz und Immanentisierung der Gesellschaft mit Visionen entgegentraten, die das künstlerische Geschehen an traditionell Unhinterfragbares und Unverfügbares rückbinden wollten, um die als Bedrohung empfundenen Zumutungen der technokratischen Hochmoderne zu kompensieren. Sie suchten Halt im Geschichtlichen, im zeitlos Klassischen oder im Christlich-Religiösen. Hinter den oft kompromisslos und unvereinbar wirkenden Programmen stand jedoch in aller Regel die gemeinsame Sehnsucht nach kultureller Ganzheit und neuer Sinnstiftung sowie die Hoffnung auf einen gesellschaftlich harmonisierten, „im Grunde nachgeschichtlichen Zustand“7 auf der Basis eschatologischen Denkens. Übergreifende Wirksamkeit entfalteten darüber hinaus das Weltverständnis der Lebensreformbewegung und die mit ihr verbundenen, „auf dem Linkshegelianismus aufbauenden freireligiösen Positionen“, die vor allem eines besagten: „‚Erlösung‘ könne man heute nicht mehr von einem göttlichen Gnadenakt erwarten, sondern sie sei das Resultat innerweltlichen sozialen Fortschritts und persönlicher Vervollkommnung […], sei also Selbsterlösung des Menschen durch eine ‚Kulturreligion‘.“8 In diesem Zusammenhang erlangten die schon aus dem 19. Jahrhundert bekannte Hinwendung zur Kunst als Religion und der Begriff der Schönheit eine ganz besondere Bedeutung. ‚Schön‘ war um 1900 ein echtes Zauberwort, es war umweht vom Hauch des Erlösenden und Heilsbringenden. Das menschliche Leben zu verschönern und zu veredeln gehörte in Reformkreisen zu den zentralen Aufgaben. […] Schönheit einzufordern bedeutete, wissenschaftlich-technischen Fortschritt um den Faktor Kultur zu bereichern. […] Das Schöne war das Ersehnte, die Schönheit sollte das ganze Leben ‚umfangen‘, ‚durchziehen‘, ‚beherrschen‘ oder ‚verklären‘.9
7 Frank-Bertolt Raith, Der Heroische Stil. Studien zur Architektur am Ende der Weimarer Republik, Berlin 1997, v.a. S. 154. 8 Ulrich Linse, „Lebensreform und Reformreligionen“, in: Kai Buchholz et al. (Hg.), Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. I, Darmstadt 2001, S. 193–198, hier S. 193. 9 Kai Buchholz, „Begriffliche Leitmotive der Lebensreform“, in: Buchholz, Lebensreform (wie Anm. 8), S. 41–43, hier S. 42. Vgl. auch Sigrid Hofer, „Die Ästhetisierung des Alltags.
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Zunächst war dies eine unpolitische bildungsbürgerliche Vorstellung, doch in der sozialen Umbruchssituation nach 1918 wurde sie zunehmend in den Dienst politischer Zukunftsentwürfe gestellt. Die politische Linke konnte sich dabei unter anderem auf Nikolaj Tschernyschewskij berufen, der schon 1855 die These vertreten hatte, Schönheit sei immer dort, wo „wir das Leben so sehen, wie es nach unseren Begriffen sein soll. […] Oder noch genauer: ‚den Eindruck des Schönen erweckt alles, in dem wir die Offenbarung des Lebens sehen, das wir bejahen‘.“10 Für den marxistischen Philosophen Georg Lukács folgte daraus, dass Schönheit durch „die objektiven Eigenschaften jenes Gegenstandes bestimmt wird, der das Erlebnis des Schönen hervorruft, dass diese objektive Besonderheit des Gegenstandes jedoch nur unter gewissen, die menschliche Subjektivität durch […] gesellschaftliche Bedürfnisse bestimmenden Umständen zur Geltung kommen kann.“ Lukács zog daraus die Schlussfolgerung, dass es naturgegebene Gesetze der Schönheit gebe, dass aber nur der Sozialismus als harmonisierte, auf der Erkenntnis historischer Wahrheit basierte Gemeinschaft diese Gesetze erkennen und anwenden könne. Ungeachtet der Tatsache, dass die Lebensreform eine kulturorientierte soziale Bewegung war, der Sozialismus aber eine machtorientierte,11 erwuchs der politischen Linken daraus ein attraktives Ideensystem für Intellektuelle, Künstler und Architekten. Dabei war es gleichgültig, ob man den „Sozialismus im unpolitischen, überpolitischen Sinne, fern von jeder Herrschaftsform als die einfache schlichte Beziehung der Menschen zu einander“12 verstand, oder als Träger einer Erlösungslehre, als „Feind aller chaotischen Willkür, aller Häßlichkeit und Unordnung, […] als Erwecker zu einem neuen künftigen Leben in Freiheit und Schönheit“. Beide Vorstellungen hatten „die Gewalt und die sittliche Kraft eines religiösen Bekenntnisses“, wobei Religion engführend verstanden wurde als „Bewußtsein von der plan- und zielmäßigen Erziehung des einzelnen Menschen, der Völker und des menschlichen Geschlechts“.13 Der Kunsthistoriker Gustav Friedrich Hartlaub brachte es auf eine recht einfache Formel:
Architektur für die Reform des Lebens von Peter Behrens bis Paul Schultze-Naumburg“, in: Buchholz, Lebensreform (wie Anm. 8), S. 271– 277. 10 Georg Lukács, Vorwort zu N. G. Tschernyschewskij, Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit (1855), Berlin (DDR) 1954, S. 47. 11 Vgl. dazu Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriss, 2. Aufl., Frankfurt a.M./New York 1988. 12 Taut, Stadtkrone (wie Anm. 1), S. 59–60. 13 Walter Curt Behrendt, Der Kampf um den Stil im Kunstgewerbe und in der Architektur, Stuttgart/Berlin 1920, S. 30–32.
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Der Baumeister von heute fühlt sich verantwortlich für […] den freien lebendigen Menschen […], dessen Dasein nicht mehr unter den ungeheuren Lebenshemmungen des DogmatischMetaphysischen und des Dynastischen steht. Diesem Menschen würdigen Raum […] zu schaffen […], ist das Ziel einer Baugestaltung, […] die nicht einschüchtern, sondern einladen möchte. Solche Baukunst […] findet ihr Ethos in den Aufgaben menschlicher Gemeinschaft. […] Nicht Metaphysik, nicht Religion, nicht Feudalismus und Absolutismus im alten Sinne braucht die neue Form […]; wohl aber eine neue Ordnung, die […] das Ideal des Menschen und seine Gemeinschaft nicht länger in zweideutigem Licht erscheinen läßt.14
Der Wunsch, dies in reale bauliche Praxis zu überführen und eine architektonischkünstlerische Symbolwelt für diese neue Ordnung zu entwickeln, ließ nicht lange auf sich warten. Vor allem in den industriellen Zentren Deutschlands wurden zahlreiche aufwändige Gemeinschaftsbauten neu errichtet, aber interessanterweise gab es selbst in den rund 40 Großstädten mit sozialdemokratischen Mehrheiten fast keine Versuche, tatsächlich so etwas wie eine „Stadtkrone“ mit sakraler Aura zu schaffen.15 Bruno Taut hatte das vorausgeahnt; er schrieb schon 1916: „Vielleicht propagiert die Sozialdemokratie dafür, wenn nicht, dann versinkt es in meinen Mappen, auf eine spätere Auferstehung wartend.“16 Selbst in Städten, die sich dezidiert als „rot“, oder, wie Tauts erste Nachkriegs-Wirkungsstätte Magdeburg, als „Stadt des neuen Bauwillens“17 bezeichneten, wurden symbolisch wirksame Großbauten ganz pragmatisch mit Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung (wie z.B. Messe- und Ausstellungsgelände) zusammengedacht, zugunsten der Wohnraumbeschaffung vorerst zurückgestellt oder – wie beim so genannten Wohlfahrtsforum in Brandenburg an der Havel (Karl Erbs 1928–1930) – auf spezielle Funktionen zugeschnitten. Die, wie es scheint, einzige wenigstens beabsichtigte Ausnahme hiervon ist Gelsenkirchen, wo die SPD-Stadtregierung 1918 nicht nur den Anspruch der Einwohner „auf die edleren und feineren Genüsse des Lebens, die nur die Kunst ihnen zu geben vermag“18, anerkannte, sondern auch glaubte, „Männer, die sich bodenständig fühlen, die ihr und ihrer Kinder Geschick mit der Stätte der Arbeit verwachsen fühlen“, würden von nun an „den
14 Gustav Friedrich Hartlaub, „Ethos der neuen Baukunst“, in: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit 11 (1929), S. 273–277, hier S. 276–277. 15 Eine der wenigen Ausnahmen war Halle an der Saale, aber auch dort wurde das Projekt nicht verwirklicht. Vgl. dazu Christine Fuhrmann/Leonhard Helten (Hg.), Eine Stadtkrone für Halle Saale. Walter Gropius im Wettbewerb, Berlin/Halle a. d. Saale 2011. 16 Strobl, „Architekturutopien“ (wie Anm. 2), S. 154. 17 Dazu unter anderem Olaf Gisbertz, Bruno Taut und Johannes Göderitz in Magdeburg. Architektur und Städtebau in der Weimarer Republik, Berlin 2000, S. 87. 18 Stadtbaurat Max Arendt (Hg.): Deutschlands Städtebau – Gelsenkirchen, Berlin 1922 (www.gelsenkirchener-geschichten.de [Zugriff am 16.11.2012]).
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Heimat- und Gemeinsinn aufbringen, […] um aus ihrer Stadt auch eine angenehme und schöne Heimat zu machen“.19 Dementsprechend schrieb man 1919 „mit kühner Unternehmungslust“ einen Architektenwettbewerb für ein repräsentatives, als monumentale Geste inszeniertes städtisches Forum aus. „Hier sollten um einen großen Fest- und Marktplatz das Theater, das Haus der Kunst mit Theaterrestaurant und Stadtkaffee, daneben ein Gewerkschaftshaus als ‚Haus der Arbeit‘ […] und als drittes ein ‚Volkshaus‘ für die Volkshochschule, die Volksbücherei, Ausstellungen und Sammlungen entstehen. Das Programm spiegelt die sozial gerichteten Leitgedanken der Novemberrevolution wider.“20 Zwar wurde auch diese ambitionierte Planung letztlich nur in stark reduzierter Form realisiert21, aber auch so zeigt das Beispiel Gelsenkirchen deutlich, dass die führenden politischen Kräfte in der Weimarer Republik eine ungewohnt neue, die Alltagswelt dauerhaft prägende Rolle übernehmen mussten und wollten. Vor allem galt das für die Mehrheitssozialdemokratie (MSPD), die sich „unter dem Druck der politischen Umwälzung und, ungeachtet der aus ihr hervorgegangenen und jetzt in der Negation verharrenden linken Gruppierungen, von einer den Staat radikal ablehnenden zur größten der nun staatstragenden Parteien“22 wandelte. Auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt nach wie vor eine klassenstolze Partei der Arbeiterbewegung, keine Volkspartei war, eröffnete ihr das grundlegend neue Gestaltungsmöglichkeiten.
II. Die Stadt Freital 1921 schlossen sich die drei südwestlich von Dresden im Tal des Flusses Weißeritz gelegenen Gemeinden Döhlen, Potschappel und Deuben nach jahrzehntelanger Diskussion zu einer Stadt zusammen; bis 1924 kamen noch drei Nachbardörfer hinzu. Die Orte waren vorher schon unkoordiniert zusammengewachsen, die Stadtgründung also letztlich nur der politische Abschluss eines längeren faktischen Prozesses. Seit dem 19. Jahrhundert wurde die Gegend durch Bergbau, Stahlproduktion, Maschinenbau und Genussmittelindustrie geprägt; die früher
19 Arendt (wie Anm. 18). 20 Arendt (wie Anm. 18). 21 Anstelle des Forums entstand 1924–27 nach einem Entwurf des Essener Architekten Alfred Fischer das multifunktional geplante Hans-Sachs-Haus mit Konzertsaal, Gastronomie und Räumen für die Stadtverwaltung. 22 Jochen-Christoph Kaiser, Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik, Stuttgart 1981, S. 37.
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ländlichen Ansiedlungen waren zu großen Industriedörfern geworden, die nach städtischem Ausdruck strebten und schon vor 1914 repräsentative Rathausneubauten realisiert hatten. Deuben war dabei der Hauptort und vertrat „am stärksten den Stadtgründungsgedanken. Döhlen hielt sich weitgehend zurück, da es aufgrund seiner umfänglichen Industrieanlagen und den damit verbundenen hohen Steuereinnahmen an Selbständigkeit interessiert war. Potschappel als industrieller Geschäftssitz und Wohnort bürgerlich orientierter Kleinunternehmer, Beamter und Handwerksmeister lehnte die kommunale Vereinigung zur Stadt lange Zeit ab.“23 Erst das 1919/20 in Sachsen eingeführte freie und gleiche Wahlrecht schuf durch neue parlamentarische Mehrheiten die Voraussetzung dafür, dass man sich über die Notwendigkeit einer Stadtgründung einig wurde. Das topografisch von der Umgebung deutlich abgegrenzte, schon vor 1900 in den Medien als „Tal der Arbeit“ bezeichnete Weißeritztal war, wie etliche andere protestantisch und proletarisch dominierte Regionen in Deutschland, schon früh zu einer Hochburg der SPD geworden, und das nicht nur weil August Bebel, der wichtigste „Kirchenvater“ der deutschen Sozialdemokratie, von 1884 bis 1890 mit seiner Familie in Dresden-Plauen lebte, nur wenige Eisenbahnminuten von Potschappel, Deuben und Döhlen entfernt. Schon bei der Reichstagswahl von 1874 erhielt die SPD an der Weißeritz mehr als ein Drittel der Wählerstimmen, fünfmal so viel wie im Reichsdurchschnitt.24 Nach 1900 stimmten „rund 70 bis 80 Prozent der Wähler jeweils für den sozialdemokratischen Kandidaten. Fortan hieß das Tal in der Dresdner Umgebung, ja bald in ganz Sachsen ‚Roter Grund‘. Die Bürger nannten es so, eher verächtlich, aber auch ein bißchen ängstlich; und die Arbeiter bezeichneten es so, stolz und zukunftsgewiß.“25 Selbst die Weltwirtschaftskrise ab 1929 änderte daran nichts. Der Sozialismus war […] fest verankert, bis zum Ende der Republik. Er war politischer Ausdruck, Hoffnungsträger und Organisationsform von konstant Zweidrittel der […] Bevölkerung. Das ‚Tal der Arbeit‘ blieb auch dann noch der ‚Rote Grund‘, als in den alten Industrierevieren Sachsens dem Sozialismus die Leute in Scharen davonliefen. […] Bis 1933 [war hier] die sozialistische Welt in Ordnung.26
23 Joachim Voigtmann (Hg.), Städtische Sammlungen Freital (Sächsische Museen, Bd. 15), S. 89–90. 24 Angaben nach Franz Walter et al., Die SPD in Sachsen und Thüringen zwischen Hochburg und Diaspora. Untersuchungen auf lokaler Ebene vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Bonn 1993, S. 45. 25 Walter, SPD (wie Anm. 24), S. 46. 26 Walter, SPD (wie Anm. 24), S. 50.
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Entscheidend für diesen Erfolg war, dass es der SPD im Weißeritztal gelungen war, nicht nur Wählerpartei zu sein, sondern sich weit mehr und stabiler als in den anderen Industrieregionen Deutschlands lebensweltlich in der Bevölkerung zu verankern. Über eine Vielzahl von Freizeitvereinen und Solidargemeinschaften hatte sie ein komplexes sozialistisches Milieu geschaffen, das (gemein)sinnstiftend wirkte und zugleich ein umfassendes Ordnungs- und Deutungssystem vorgab. „Die Sozialdemokratie konnte hier […] ein Stück weit freidenkerischsozialistische Gegenkirche werden, mit eigenen Riten, einer eigenen Liturgie, einem eigenen Glaubensbekenntnis, einer eigenen Erlösungsvision und mit einem Gemeindeleben, das allen Mitgliedern auch in schwierigen Zeiten Zusammenhalt bot, Trost und Hoffnung spendete.“27 Die Stadtgründung war denn auch das Werk der beiden sozialdemokratischen Parteien (MSPD und USPD), und der hoch programmatische Name „Freital“, den die neue Stadt sich nach einer polemisch geführten Debatte gab, ging auf einen Vorschlag des USPD-Politikers Hermann Henker zurück, Bergmann und Veteran der örtlichen Arbeiterbewegung.28 Mit rund 35 000 Einwohnern war Freital Mitte der 1920er Jahre die neuntgrößte Stadt Sachsens und die einzige mit einem SPD-Oberbürgermeister an der Spitze (1921–1927 Carl Wedderkopf, 1927–1933 Gustav Klimpel). Das erste Stadtwappen (Abb. 2) zeigte das von Bergen flankierte Flusstal, abgeschlossen von einer Fabriksilhouette, hinter der die Sonne aufgeht, und darunter das Motto „Fleiss und Fortschritt“. Man kann das Selbstbewußtsein, das die Sozialdemokraten daraus zogen, daß sie eine selbständige Stadt gegründet hatten, daß sie dieser Stadt einen Namen aus dem Zielkatalog der Partei geben konnten, daß sie die Fäden der Kommunalpolitik von Beginn an straff in ihren Händen hielten, daß sie schließlich den obersten Repräsentanten der Stadt im Rathaus stellten […] überhaupt nicht überschätzen. […] Die Bedürfnisse der Partei und die Interessen der Stadt waren den Sozialdemokraten eins. […] So produzierte das kommunale Selbstbewußtsein der Freitaler Sozialdemokraten Omnipotenzgefühle.29
Das neue Selbstbewusstsein führte zu einem intensiven Bauprogramm (Stadtkrankenhaus, Poliklinik, Säuglingsheim, Schwimmbäder, Wohnsiedlungen), das sehr rasch den Wunsch nach einem baulich vorzeigbaren Stadtzentrum erzeugte. Wie anderen Städten mit vergleichbarem Entstehungsprozess fehlte Freital eine städtebauliche Mitte, ein wiedererkennbarer Identifikationsort, der den politischen und sozialen Werten der neuen Zeit symbolischen Ausdruck hätte verlei-
27 Walter, SPD (wie Anm. 24), S. 15–16. 28 Vgl. Voigtmann, Städtische Sammlungen (wie Anm. 23), S. 94 29 Walter, SPD (wie Anm. 24), S. 40–41, 42.
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Abb. 2: Stadt Freital, erstes Stadtwappen (1922) [Abbildungsnachweis: Wedderkopf (Hg.), Deutschlands Städtebau. Freital, Berlin 1924, S. 45]
hen können. Als planerisches Leitbild in einer säkularen Gesellschaft bot sich hierfür die aus dem angelsächsischen Raum stammende Idee des Civic Center an, d.h. Versammlungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Kulturbauten, die um eine zentrale Freifläche so angeordnet sind, dass sie sich in ihrer Wirkung gegenseitig steigern und die Stadtmitte zeichenhaft überhöhen. „Bereits wenige Monate nach Stadtgründung wurden deshalb Pläne für die Anlage eines solchen Mittelpunkts städtischen Lebens von den Stadtverordneten diskutiert“30 und ein Architektenwettbewerb ausgelobt, den der damals 50-jährige Dresdner Architekt Rudolf Bitzan gewann.
III. Der Architekt Rudolf Bitzan (1872–1938) war in Freital kein Unbekannter: 1914–15 hatte er das Rathaus von Döhlen entworfen und dabei bewiesen, dass er in der Lage war, „große Geschlossenheit [und] Kraft des Ausdrucks“31 hervorzubringen. Bitzan stammte aus Wartenberg am Rollberg/Stráž pod Ralskem in Nordböhmen, hatte eine Baumeister-Ausbildung an der Staatsgewerbeschule Reichenberg/Liberec absolviert und danach in München mehrere Jahre Praxiserfahrung in Architek-
30 Voigtmann, Städtische Sammlungen (wie Anm. 23), S. 104. 31 Textmanuskript von F. Kummer; Hauptstaatsarchiv Dresden, 12655 (Nachlass Bitzan), Nr. 2.
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turbüros gesammelt, unter anderem bei Martin Dülfer, der 1910 als Entwurfsprofessor an die TH Dresden berufen wurde. Weitere Zwischenstationen bei Hermann Billing in Freiburg und im Büro Lossow & Kühne in Dresden schlossen sich an, bevor Bitzan sich 1907 in Dresden selbstständig machte.32 Hier traf er auf eine sehr lebendige Architekturszene, deren Protagonisten mehrheitlich ungefähr gleichaltrig mit ihm waren: Paul Wallot (1841–1912), der Schöpfer des Reichstagsgebäudes in Berlin, lehrte an der Kunstakademie, der später in Hamburg tätige Fritz Schumacher (1869–1947) an der Technischen Hochschule, Hans Erlwein (1872–1914) war Stadtbaurat, Wilhelm Kreis (1873–1955) gestaltete die neue Augustusbrücke, und für die Gartenstadt Hellerau arbeiteten Richard Riemerschmid (1868–1957), Hermann Muthesius (1861–1927) und Heinrich Tessenow (1876– 1950). Bitzans eigenes Œuvre kann hier nicht ausführlich vorgestellt werden. Es konzentriert sich hauptsächlich auf das Sudetenland und die Oberlausitz33 und zeigt, dass Bitzan, der zunächst die österreichisch-ungarische Staatsbürgerschaft hatte, sich trotz mancher Reminiszenzen an Wiener Kollegen wie Josef Hoffmann, Otto Wagner und Joseph Maria Olbrich im Wesentlichen als Deutschböhme verstand und seine Zukunft als Architekt deshalb in Deutschland suchte. Seine Bauten sind typische Beispiele für eine meist unter dem Begriff „Reformarchitektur“ zusammengefasste Strömung, die ab etwa 1900 auftrat und versuchte, das wilhelminische Pathos mit den Idealen der Lebensreformbewegung zu vereinen. Ihr besonderes Kennzeichen ist eine gegenüber dem archäologisch exakten Stilhistorismus des 19. Jahrhunderts vereinfachte und gleichzeitig gesteigerte Monumentalität. Die Traditionslinien zum Historismus brachen dabei nicht völlig ab, vielmehr gab es eine Entwicklung „vom präzisen Stilverweis zur unbestimmten Assoziation, von den klassischen Ordnungen zur frei gegliederten Baumasse, von der gegenständlichen Repräsentationsform zum rein architektonischen Zeichen“, verbunden mit „formalem Reduktionismus.“34 Dresden ist dabei
32 Leben und Werk Rudolf Bitzans sind bislang kaum erforscht. Jüngster Beitrag hierzu ist Jürgen Paul, „Die evangelische Kreuzkirche in Görlitz und ihr Architekt Rudolf Bitzan“, in: Thomas Pöpper (Hg.), Kunst und Architektur in Mitteldeutschland. Thomas Topfstedt zum 65. Geburtstag, Leipzig 2012, S. 144–155. 33 Bitzan entwarf u.a. die evangelische Kreuzkirche in Görlitz (1913–16), das Krematorium in Reichenberg/Liberec (1915–17), das Stadttheater in Teplitz/Teplice (1921–26) und das Stadtkino in Haida/Nový Bor (1926), außerdem Firmenverwaltungen und Villen. 34 Jörg Stabenow (1997), zit. n. Ulrich Hübner et al., Symbol und Wahrhaftigkeit. Reformbaukunst in Dresden, Dresden 2005, S. 8. Sigrid Hofer, Reformarchitektur 1900–1918. Deutsche Baukünstler auf der Suche nach dem nationalen Stil, Stuttgart/London 2005, definiert den Begriff „Reformarchitektur“ leider nicht.
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im Unterschied zu anderen Zentren […] durch einen ausgesprochenen Hang zu monumentalen Gestaltungen hervorgetreten. […] Der Anspruch des klassischen Historismus – Architektur als monumentale Festlichkeit darzubieten – erfährt hier eine Fortsetzung, ja durch die Vereinfachung der Formensprache sogar eine Steigerung. […] Mit der ‚Harmonie der Massen‘ wurde Stabilität beschworen, auf Werte wie Kraft, Tat und Stärke gesetzt – Eigenschaften, die man zunehmend als dem deutschen Wesen eigen interpretierte.35
IV. Die Planung Dass auch die politisch Verantwortlichen der neuen Stadt Freital von solchen Vorstellungen beeinflusst waren, wird an der Tatsache deutlich, dass sie für das geplante Stadtzentrum eine Stelle auswählten, die gestalterisch besondere Anforderungen stellte: Eine große Freifläche im Stadtteil Deuben, ungefähr in der Mitte des langgestreckten Stadtkörpers von Freital, zwischen der Hauptverkehrsstraße und dem Fluss sowie unmittelbar am Fuß des Windbergs gelegen, der sich von Südosten her in das Talbecken hinein erstreckt und von einem Obelisken bekrönt wird, dem 1902 errichteten Denkmal für den sächsischen König Albert. Der Dresdner Baurat Hans Ludwig Sierks schrieb 1924: Jedes städtebauliche Werden fußt auf der Wechselwirkung zwischen Herrschen und Beherrschtwerden. In Freital liegen die Dinge nun insofern eigenartig und einfach, als das Moment des Herrschenden von Natur aus in einem solchen Riesenmaß vorhanden ist, daß eine Steigerung durch Menschenwerk nicht mehr denkbar ist. […] Nirgends stampft ein Bergmassiv derart herrisch und alles bezwingend […] bis ins Herz der Stadt hinein wie in Freital der Windberg. 200 m hoch reckt er seine bewaldeten, nach der Weißeritz steil abfallenden Hänge über die Stadt empor! Auch dem Nichttechniker wird es […] klar sein, daß einem solchen Titanen gegenüber sich jedes Menschenwerk unterordnen muss. Der Kontrast zwischen dem trotzig ragenden Berg und den lieblichen Tälern um ihn herum ist einfach keiner Steigerung mehr fähig.36
Rudolf Bitzan sah das weniger apodiktisch; er benutzte die topografische Situation im Gegenteil sogar, um die Wirkung der von ihm vorgeschlagenen Bauten zu dramatisch zu steigern. Die Planung durchlief offenbar zwei Phasen: Zunächst entwarf Bitzan eine annähernd quadratische Platzanlage, mit einem zentralen
35 Heidrun Laudel, „Dresdner Architektur vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Vorzeichen der Reformbewegung“, in: Dresdner Geschichtsverein (Hg.), Reformdruck und Reformgesinnung. Dresden vor dem 1. Weltkrieg (Dresdner Hefte 36), Dresden 1993, S. 41–52, hier S. 47. 36 Hans Ludwig Sierks, „Städtebauliches und Verkehr“, in: Oberbürgermeister Dr. Wedderkopf (Hg.), Deutschlands Städtebau. Freital, Berlin 1924, S. 62–65, hier S. 62.
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Abb. 3: Rudolf Bitzan, erster Entwurf zum Stadtzentrum Freital (1921) [Abbildungsnachweis: Wedderkopf (Hg.), Deutschlands Städtebau. Freital, Berlin 1924, S. 60]
Springbrunnen, die sich durch Pavillons von der Straße abgrenzt und an den übrigen drei Seiten von großen Verwaltungsgebäuden gesäumt wird (Abb. 3). Das Ensemble ähnelt einem barocken Residenzschloss mit Ehrenhof oder, wenn man einen Bezug zum Utopischen Sozialismus darin sehen möchte, einem Palais Social im Sinne von Charles Fourier. Bauliche Dominante wäre ein in der Symmetrieachse des Platzes positionierter Rathausneubau gewesen. Die Entscheidung der Stadt Freital, das Rathaus des Stadtteils Döhlen zum Zentralrathaus zu machen, veränderte dann aber die Rahmenbedingungen des Projekts. In einer zweiten Phase, wahrscheinlich 1923, überarbeitete Bitzan seinen Entwurf deshalb noch einmal grundlegend (Abb. 4). Nach dem Vorbild des Vatikans in Rom präsentierte er nun einen großen Platz mit halbkreisförmigen Kolonnaden als Umarmungsgeste und einem säkularen Petersdom in Form einer kubischen, blockhaft geschlossenen Versammlungs- und Feierhalle, der ein breiter Tempelportikus vorgelagert ist. Umgeben ist diese Dominante von öffentlichen Einrichtungen wie der Ortskrankenkasse, dem Finanzamt, der den Stadtvätern besonders wichtigen Gewerbe- und Handelsschule sowie einem „Stadthaus“ mit Sparkasse, Volksbuchhandlung und Café-Restaurant. Die Gebäude sollten offenbar, wie schon das Döhlener Rathaus, mit gelblichen Putz- und Natursteinfassaden versehen und mit Kupferdächern gedeckt werden.37
37 Archivalisch sind nach gegenwärtigem Kenntnisstand keine Unterlagen mehr vorhanden, die den konkreten Werdegang des Projektes erschließen würden. Bei Wedderkopf, Freital (wie
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Abb. 4: Rudolf Bitzan, zweiter Entwurf zum Stadtzentrum Freital (1923?), Modell [Abbildungsnachweis: Modell in den Städtischen Sammlungen Freital]
Angeregt durch die in Deutschland gleichzeitig sehr intensive Diskussion um Manifestationen „baulicher Ideen, welche über das Formale hinweg die Sammlung aller Volkskräfte im Sinnbild des Bauwerks einer besseren Zukunft anstreben“,38 schuf Bitzan damit ein anschauliches Beispiel für den Versuch einer architektonischen Stiftung von Identität und neuem Gemeinsinn. Zugleich verdeutlicht seine Planung den Anspruch der Freitaler SPD, eine quasi endgültige Gesellschaftsordnung hervorzubringen, ein Bestreben, das in der kommunalpolitischen Praxis Freitals generell zu spüren war. 1922 tat sich die Mehrheit der Unabhängigen [USPD] wieder mit den Mehrheitssozialdemokraten zusammen. Und die meisten der früheren Unabhängigen vergaßen rasch ihre radikalen Glaubenssätze aus den Kaiserreichsjahren und der Revolutionszeit. […] Nun hatten
Anm. 36) werden die Entwürfe aber erwähnt und teilweise abgebildet, zudem hat sich das Entwurfsmodell der zweiten Planungsphase erhalten. Es befindet sich heute in den Städtischen Sammlungen Freital auf Schloss Burgk. 38 Bruno Taut, „Ein Architektur-Programm“ (1918), in: Ulrich Conrads, Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts (Bauwelt-Fundamente 1), 2. Aufl., Braunschweig/Wiesbaden 1981, S. 38.
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sie ihre Stadt, […] nun trugen sie Verantwortung. […] Sachverstand war gefragt, Kompetenz, Pragmatismus; mit revolutionärem Wortgeklingel war eine hochindustrialisierte Mittelstadt nun einmal nicht zu leiten. Das formte den politischen Habitus der Sozialdemokraten. […] Die Freitaler SPD [legte] den Ehrgeiz an den Tag, […] das Modell einer sozialstaatlichen Wohlfahrtskommune zu kreieren. […] Sie wollte in ihrer Stadt […] den Gemeindesozialismus durchsetzen, von dem ihre Partei als ganze im Deutschen Reich seit Jahrzehnten programmatisch nur träumte.39
Freital stellte sich damit der im Titel dieses Beitrags benannten Aufgabe, „eine Insel Utopia inmitten der kapitalistischen Welt“40 zu schaffen. Das Ergebnis war Paternalismus unter sozialdemokratischen Vorzeichen. Der Parteifunktionär wurde zur Verkörperung des Gemeinsinns und zum Herrn des Diskurses. Er „hatte mehr zu wissen als der Rest der Mitglieder, […] er sollte die Massen lenken und leiten, […] die solcherlei Repräsentanz, Fürsorge und Betreuung brauchten, um nicht fehl zu gehen oder desorientiert dazustehen.“41 Hinzu kam, dass in Freital mit Kurt Heilbut, Arno Hennig und Karl Wenk drei eher ungewöhnliche Charaktere die wichtigsten Ämter der Parteiorganisation, nämlich das des Zeitungsredakteurs, des Sekretärs und des Fraktionsvorsitzenden im Stadtrat bekleideten. „Der eine: ein im Grunde bürgerlicher Lebensreformer, der andere: ein im Grunde bildungsbürgerlicher Kunstliebhaber und dilettierender Philosoph“, der dritte ein leidenschaftlicher Aufklärer und Bildungsvermittler. „Diese Leute waren so, wie viele sozialdemokratische Arbeiter sein wollten und was spätestens die Kinder schaffen sollten: Sie waren kultiviert, selbstsicher und gewandt im Auftreten, flüssige Redner, belesen, kunstverständig. Die sozialdemokratischen Bildungsbürger verkörperten so den Zukunftsmenschen im Aufstiegstraum des sozialdemokratischen Facharbeiters“42 und gleichzeitig das, was Jürgen Kocka als „Brückenkopf der Bürgerlichkeit im Unterschichtenbereich“43 bezeichnet hat. Das politische Ziel der Freitaler SPD lag nicht in einer Umwertung der Werte, sondern in der gesellschaftlichen Egalisierung durch die Verbürgerlichung des Proletariers, in der Betonung von Kultur, Bildung und Gesundheit als Spezifika des Neuen Menschen und in der symbolischen Materialisierung dieser Vision durch eine Architektur, die das etablierte bildungsbürgerliche Ausdrucksvokabular selbstbewusst vereinnahmte. Das schlicht als „Neumarkt“ bezeichnete
39 Walter, SPD (wie Anm. 24), S. 48, 77. 40 Alexander Schwab, „Ist die Genossenschaftsstadt möglich?“, in: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit 11 (1929), S. 297. 41 Walter, SPD (wie Anm. 24), S. 53. 42 Walter, SPD (wie Anm. 24), S. 75. 43 Jürgen Kocka, „Arbeiterbewegung in der Bürgergesellschaft. Überlegungen zum deutschen Fall“, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1994), S. 487–496.
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geplante Stadtzentrum mit der großen Stadthalle, der parkähnlichen Grünanlage und den sie flankierenden Fürsorgeeinrichtungen bildete diese Vorstellung exakt ab und transzendierte sie gleichzeitig durch die Benutzung kunsthistorisch kanonisierter Formen aus dem Bereich von Sakralität und Macht. Das erklärt zudem, weshalb man in Freital einen gestalterisch konservativen Architekten wie Rudolf Bitzan beauftragte und das ästhetische Heil der Stadt nicht in der aufkommenden, häufig politisch links konnotierten Architekturmoderne suchte. Ziel war ein bürgerlich repräsentativer öffentlicher Stadtraum. Der sozialistische Festkalender hätte dessen kultivierte zeremonielle Besetzung ermöglicht und die zweifellos als „Volkshaus“ mit vielfältigen Nutzungen gedachte Veranstaltungshalle gemeinsinnig und transzendierend überhöht, so wie es der brandenburgische SPD-Politiker Heinrich Pëus (1862–1937) schon 1913 imaginiert hatte: Das Volkshaus der Zukunft muß das schönste Haus der Stadt oder des Ortes sein. Es muß schöner sein als die Kirche der Vergangenheit. […] Das Volkshaus wird ja auch die Kirche der Zukunft sein. In seinem Äußeren sei es so prachtvoll, wie seine hohe Bestimmung es verlangt. Seine Säle seien ein Muster von Solidität und Eleganz! […] Das Volkshaus soll auf Schritt und Tritt die Seele seiner Besucher den Idealen zuwenden, die das menschliche Gemeinschaftsleben adeln. […] Im Volkshaus sollen wir Genossen und Staatsbürger sein.44
Das Freitaler Stadtzentrumsprojekt ist für Deutschland damit einzigartig; es überführt die von Bruno Taut in „Die Stadtkrone“ beschworene Verheißung von Städten, „in denen wir nach Aristoteles nicht bloß sicher und gesund, sondern auch glücklich wohnen können“45 in konkrete Planung. Vorhaben mit ähnlich umfassendem ideologisch-symbolischem Programm gab es in anderen sozialdemokratisch regierten Städten nicht, und andere, äußerlich vergleichbare neue Stadtzentren wie z.B. in Mülheim an der Ruhr (Pfeifer & Großmann 1913–1926) oder Delmenhorst (Heinz Stoffregen 1909–1925) waren nicht sozialistisch inspiriert, sondern verdanken sich einer großbürgerlichen Allianz aus Privatkapital und Industrie. Auch der für Freital häufig bemühte Vergleich mit dem „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit trifft nur insofern zu, als es in beiden Fällen um planbares gesellschaftliches Glück und um die Verwirklichung des „Sozialismus in einer Stadt“46 ging. Da in Wien der Bedarf an repräsentativen Versammlungs-
44 Heinrich Pëus, „Das Volkshaus, wie es sein sollte“ (1913), zit. n. Simone Hain et al., Die Salons der Sozialisten, Kulturhäuser in der DDR, Berlin 1996, S. 94. 45 Taut, Stadtkrone (wie Anm. 1), S. 56. 46 Bejamin Opratko/Stefan Probst, „Sozialismus in einer Stadt?“, in: Perspektiven. Magazin für linke Theorie und Praxis 11 (2010), http://www.perspektiven-online.at/2010/05/04/ sozialismus-in-einer-stadt/(Zugriff am 20.08.2012). Die Autoren vertreten zudem die These,
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stätten und anderen öffentlichen Bauten schon längst gedeckt war, konzentrierte sich das umfangreiche kommunale Bauprogramm der Sozialdemokratie dort fast ausschließlich auf den Wohnungsbau – allerdings mit einem gestalterischen Anspruch, dem man die Konkurrenz zum imperialen Gestus vorangegangener Zeiten sofort ansieht.
Abb. 5: Rudolf Bitzan, Zentralfriedhof Freital mit Krematorium und Windberg, Entwurf (1923?) [Abbildungsnachweis: Wedderkopf (Hg.), Deutschlands Städtebau. Freital, Berlin 1924, S. 54]
In Freital dagegen war sogar noch ein weiteres Element vorgesehen: Nur durch die Weißeritz vom Neumarkt getrennt, sollte am Fuß des Windbergs ein moderner städtischer Zentralfriedhof mit Krematorium entstehen. Diese Anlage hätte das neue Stadtzentrum weithin sichtbar überragt und zugleich die Bergkulisse in das Bild eingebunden, sodass eine tatsächliche, aus baulichen und natürlichen Versatzstücken bestehende „Stadtkrone“ entstanden wäre (Abb. 4, 5). Auch in dieser Hinsicht hatte Rudolf Bitzan sein Talent zu Monumentalität und theatralischer Inszenierung bereits erproben können, denn sowohl die Kreuzkirche in Görlitz (die wegen ihrer Strenge von Zeitgenossen bezeichnenderweise als
der Wiener Gemeindesozialismus sei ein Ersatz für den fehlenden Mut der Sozialdemokratie zu einer gesamtstaatlichen Revolution gewesen.
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„Krematoriumsarchitektur“ verunglimpft wurde)47 als auch das Krematorium in Reichenberg/Liberec sind ähnlich effektvoll in die Landschaft komponiert, und der Entwurf für Freital wirkt deshalb wohl auch nicht zufällig wie eine Wiederholung der Anlage in Reichenberg. Letztere war zudem der erste Krematoriumsbau überhaupt auf dem Gebiet Österreich-Ungarns gewesen, sodass der Architekt hier eine Vorreiterrolle in Anspruch nehmen konnte, die ihn für Freital zusätzlich empfahl. Krematorien waren Anfang des 20. Jahrhunderts eine innovative Bauaufgabe, die der zeittypischen Sehnsucht nach pathetischem Ernst entgegenkam und den jeweiligen Gestalter darüber hinaus in der ersehnten Rolle eines „geistigen Schöpfers“ bestätigte, der „das Bewußtsein und die Kenntnis aller tieferen Empfindungen und Anschauungen, die die Gesamtheit beherrschen, für die er bauen will“48, verkörperte. Fritz Schumacher hatte das 1911 in Dresden-Tolkewitz vorgemacht, und Rudolf Bitzan in Freital zog nun nach. Die neu gegründete Stadt war eine Hochburg der Freidenker. Sie entfachten dort „eine Kirchenaustrittsbewegung, die zumindest in Sachsen beispiellos blieb. Zwischen August 1918 und Dezember 1926 hatten 6.486 Freitaler infolge der […] sozialistisch-freidenkerischen Agitation die Evangelische Landeskirche verlassen, das waren 21,3 % aller Freitaler Protestanten überhaupt.“49 Aus diesem Umfeld kam zweifellos auch die Anregung, das neue Stadtzentrum mit Krematorium und Friedhof, also den Gemeindesozialismus und die Letzten Dinge symbolisch zusammenzuführen. Freital hatte als erste deutsche Mittelstadt die kostenfreie kommunale Totenbestattung eingeführt, und mit der Propagierung der Feuerbestattung schloss die Stadt sich einer Strömung an, die Mitte des 19. Jahrhunderts im liberalen Bildungsbürgertum begonnen hatte, ab dem Ersten Weltkrieg aber besonders in der Arbeiterbewegung enormen Anklang fand. Auslöser hierfür war nicht zuletzt die Einäscherung von August Bebel im Jahr 1913. Seine Bestattung ist ein geradezu mustergültiges Lehrstück über die Wechselwirkungen zwischen politischem Anspruch und gesellschaftlicher Praxis. […] Da August Bebel Fortschritt als einen wesentlichen historischen Faktor betrachtete, erscheint es folgerichtig, daß er sich mit kulturellen Innovationen wie der Feuerbestattung identifizierte. […] [Zudem] beruhte Bebels unverbrüchlicher Glaube an Naturwissenschaft und historischen Fortschritt auf einer explizit antikirchlichen Auffassung: ‚Die moderne Kultur ist eine antichristliche Kultur‘, schrieb er 1884.50
47 Paul, „Kreuzkirche Görlitz“ (wie Anm. 32), S. 153. 48 Taut, Stadtkrone (wie Anm. 1), S. 50. Vgl. auch Strobl, „Architekturutopien“ (wie Anm. 2), S. 157. 49 Walter, SPD (wie Anm. 24), S. 58. 50 Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 113, S. 115.
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Diese Einstellung sorgte in einem kulturellen Umfeld, in dem die Sozialdemokratie sich faktisch als Gegenkirche etablierte, für eine enorme Popularisierung der Feuerbestattung innerhalb der Arbeiterschaft – nicht nur in Freital: Der Anteil der Arbeiter an den Eingeäscherten, der um 1920 kaum mehr als ein Achtel ausmachte, stieg bis 1926 auf rund 45 %. […] In einer Mitte der zwanziger Jahre veröffentlichten programmatischen Schrift wurde die Förderung der Feuerbestattung durch die Arbeiterorganisationen mit der speziellen Lebensweise des Proletariats begründet. Familiengrabstätten machten keinen Sinn, so hieß es, wenn es vom Vater zum Sohn nichts zu vererben gäbe. Und weiter: ‚Deshalb entspricht es unserer Klassenlage und der modernen Lebensweise überhaupt, die Toten zu verbrennen‘.51
Abgesehen von der Ablehnung traditioneller Kirchlichkeit hat die in Freital geplante Verbindung von neuem Stadtzentrum und Friedhof mit Krematorium aber auch noch zwei weitere wichtige Aspekte: Zum einen steht sie für den „bereits in der Zeit des Kaiserreichs zu erkennende[n] Versuch, Friedhöfe in ein technokratisch-kommunales Herrschaftskonzept zu integrieren. Dieses hatte innerhalb der städtischen Bürokratie mittlerweile eine neue Gruppe von ‚Sozialingenieuren‘ heranwachsen lassen und fand seinen Ausdruck in den Prinzipien […] der sozialtechnischen Bürokratisierung und Normierung von Leistungen.“52 Zum anderen übertrug sie die Sehnsucht der Freitaler Sozialdemokraten nach einer egalitären Gesellschaft auch auf den Tod, denn Bitzans Entwurf lässt erkennen, dass die Anordnung und Gestaltung der Grabstätten selbstverständlich dem Prinzip der Gleichartigkeit unterworfen werden sollte. Zusammen mit der vorgesehenen Lage des Friedhofs bekommt das Stadtzentrumsprojekt dadurch Ähnlichkeit mit einem 100 km von Freital entfernten und 200 Jahre älteren Versuch der Realisierung einer sozialen Utopie, der Stadt Herrnhut in der Oberlausitz. 1722 gewährte Nikolaus Graf von Zinzendorf, der Grundherr der Gegend, protestantischen Glaubensflüchtlingen aus Mähren Aufnahme auf seinem Gut Berthelsdorf. Der rasche Zuzug weiterer „Böhmischer Brüder“ führte zur Gründung einer eigenständigen Ansiedlung in interessanter topografischer Situation: „Herrnhut liegt im südöstlichen Teil der östlichen Oberlausitz, in welcher hügelig-wellige Plateauflächen von eingeschnittenen Muldentälern durchzogen und von Einzelbergen durchsetzt werden. Dazu gehört der Hutberg […] nördlich der Ortslage, welcher die […] Umgebung um 30 m überragt.“53 Am Fuß dieses Berges, programmatisch unter
51 Fischer, Gottesacker (wie Anm. 50), S. 117. 52 Fischer, Gottesacker (wie Anm. 50), S. 87. 53 Wilfried Ehbrecht et al. (Hg.), Deutscher historischer Städteatlas. Nr. 3: Herrnhut & Herrnhuter Siedlungen, Münster 2009, Textheft, S. 3.
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der „Hut des Herrn“, legte man eine Planstadt an, die der strikt formierten, in „Chöre“ gegliederten Sozialstruktur der Brüdergemeine entsprach. Ihr Zentrum ist ein annähernd quadratischer Platz seitlich der Landstraße, flankiert von großen, der Reformarchitektur des frühen 20. Jahrhunderts nicht unähnlichen Wohn- und Werkstattgebäuden und akzentuiert durch den axial angeordneten Gemeinsaal, der in diesem Kontext die Kirche ersetzt. 1730 wurde zusätzlich „ein Gottesacker nach eigenen Vorstellungen angelegt. Am südwestlichen Abhang des Hutbergs wurde dafür ein Gelände eingemessen […]. Ein gerader Hauptweg trennte die Fläche in zwei Hälften, die eine für die Grabstätten der männlichen, die andere für die der weiblichen Verstorbenen. Seit 1797 wurden die Felder nach der Chronologie belegt. Jedes Grab ist nur durch einen einfachen, horizontal auf den Boden gelegten und mit wenig Text beschrifteten Stein ausgewiesen.“54 Damit präsentiert sich Herrnhut nicht nur als Vorbild für egalitäre Bestattungskultur, auch die Gesamtsituation der Stadt erinnert, von Süden betrachtet, mit der Platzanlage, dem am Hang gelegenen Friedhof und dem Aussichtspunkt auf dem Hutberg verblüffend an die Entwürfe für Freital (Abb. 6). Nur die Industrie fehlt. Ob Rudolf Bitzan sich tatsächlich am Vorbild Herrnhut orientierte, muss offen bleiben; dass er den Ort aus eigener Anschauung kannte, darf angesichts seiner Biografie und seiner Tätigkeit in Görlitz aber als sicher gelten.
Abb. 6: Herrnhut von Süden, Zeichnung von Adrian Zingg (um 1795) [Abbildungsnachweis: Ehbrecht (Hg.), Deutscher Städteatlas 3, Münster 2009, Textheft]
54 Ehbrecht, Städteatlas (wie Anm. 53), S. 5.
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Franz Walter, Tobias Dürr und Klaus Schmidtke kommen in ihrer Untersuchung über die SPD in Sachsen und Thüringen zu der Ansicht, in der Freitaler Stadtzentrumsplanung spiegele sich nicht nur „der gütige, alles regelnde kollektive Übervater, der niemanden fallenließ“, sondern auch „auf düstere Weise […] die Anspruchshybris, das vermessene Verantwortungsanliegen für das Ganze eines Jeden in der gesamten Kommune, kurz: die Elemente des Absoluten in der Kultur des Sozialismus vor 1933.“55 Damit betrachten sie die Entwürfe von Rudolf Bitzan (der 1927 noch einmal eine ähnliche, in den Formen aber modernere Planung für Hohen Neuendorf bei Berlin vorlegte) aber letztlich eher unter dem Schatten nachfolgender Entwicklungen, nicht von den Voraussetzungen her. Gewiss verleitet Bitzans konservative Gestaltfindung zu einer solchen Deutung, aber im Kontext des Diskurses der 1920er Jahre war die Stadtzentrumsplanung für Freital vor allem der Versuch, Transzendenz und Gemeinsinn in Form einer architecture engagée56 zu konkretisieren. Eine fortschrittliche Gesellschaftsordnung sollte durch Architektur symbolisiert werden, und dieser Ordnung war ein wiedererkennbarer Ort zu stiften, um sie auf diese Weise zu stabilisieren. Der Neumarkt in Freital wäre baulicher Ausdruck einer realisierten Utopie geworden. Dass Unternehmungen dieser Art immer dazu neigen, in eine „Diktatur der Philanthropen“57 umzuschlagen, ist allerdings unbestritten. Letztlich ist dieses nur mit einigen wenigen, ebenfalls munizipalsozialistisch inspirierten Beispielen aus Frankreich (wie Villeurbanne bei Lyon oder Boulogne-Billancourt bei Paris) vergleichbare Projekt nicht zustande gekommen. Schuld daran waren nacheinander die Hyperinflation von 1923–24, die Weltwirtschaftskrise 1929–30 und der Nationalsozialismus ab 1933. Schon 1927 gab Freital 75 % seines Stadthaushalts für Soziales aus,58 zwischen 1928 und 1933 sank die Zahl der Erwerbstätigen um die Hälfte. „Im Sommer des Jahres 1933 war jeder dritte erwerbsfähige Freitaler arbeitslos gemeldet. […] All diese Menschen beantragten Erwerbslosenunterstützung bzw. Fürsorge-Leistungen. Das Freitaler Wohlfahrtssystem kollabierte.“59 Von dem ambitionierten Bauprogramm konnten deshalb nur einige Bruchstücke realisiert werden: das Finanzamt, die Handelsund Gewerbeschule, das „Stadthaus“ und (an anderer Stelle in der Stadt) das Gebäude des Konsumvereins „Vorwärts“. Das „kristallene Sinnbild eines neuen
55 Walter, SPD (wie Anm. 24), S. 79 56 Nerdinger, L’architecture engagée (wie Anm. 2). 57 Gerd de Bruyn, Die Diktatur der Philanthropen. Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken, (Bauwelt-Fundamente 110), Braunschweig/Wiesbaden, 1996. 58 Voigtmann, Städtische Sammlungen (wie Anm. 23), S. 103. 59 Voigtmann, Städtische Sammlungen (wie Anm. 23), S. 107.
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Glaubens“,60 nämlich die große Halle mit ihren Kolonnaden und das Krematorium, wurden nie gebaut; an ihrer Stelle befinden sich heute ein Parkplatz und Kleingärten. Aber auch das Wenige, das verwirklicht werden konnte, besticht in dem nach wie vor extrem heterogenen Stadtbild Freitals durch architektonische Qualität und bestätigt einen Befund von Gottfried Benn aus dem Jahr 1940: „Was objektiv bleibt, ist nicht die Prophetie von Zukünften, sondern es sind die abgeschlossenen hinterlassungsfähigen Gebilde. Was bleibt, ist das zu Bildern verarbeitete Sein. Der Erfolg der Dynamik: Klassik!“61 Sowohl das NS-Regime als auch die DDR in ihrer stalinistischen Phase hätten diese Erkenntnis mühelos zum Anlass nehmen können, in leicht modifizierter Form doch noch an die Planungen Rudolf Bitzans anzuknüpfen. Warum es dazu nicht kam, ist eine spannende Frage.
60 Walter Gropius, „Bauhaus-Manifest“ (1919), zit. n. Magdalena Droste, Bauhaus 1919–1933, Köln 1991, S. 18. 61 Gottfried Benn, Züchtung II (1940), zit. n. Raith, Der Heroische Stil (wie Anm. 7), S. 165. Vgl. auch Friedrich Wilhelm Wodtke, „Die Antike im Werk Gottfried Benns“, in: Orbis Litterarum 3–4 (2007), S. 129–238, bes. S. 215–216.
Karl-Siegbert Rehberg
Roma capitale delle arti Transzendenzraum und Kunstkonkurrenzen „Eine aus Fremden zusammengeflickte Stadt, wo ein jeder lebt wie bei sich zuhause“ (Michel de Montaigne)1
I. Rom-Mythen und ambivalente Bilder der città eterna Rom bot als symbolisches Zentrum des Abendlandes mit seinem Geschichtsund Mythenmaterial seit mehr als einem Jahrtausend unterschiedlichste Transzendierungsangebote, die auch die Attraktion der „ewigen Stadt“ für die Künste mitbestimmt haben, ja sogar in vielfacher Weise im Medium des Ästhetischen formuliert worden sind. Den Hintergrund bildet das ganze Panorama der verschiedene Realitätsüberschreitungen ermöglichenden Rückprojektionen auf die antik-römische res publica, das Machtzentrum der Imperatoren, den Ort des Leidens und Sieges der frühen Christenheit und einer durch die Sukzession des päpstlichen Amtes geschaffenen Kontinuität. Rom wurde aber auch zum Modellfall des Niedergangs einer Hochkultur. Dagegen suggerierte das durch die Geschichte wandernde Phantasma eines „zweiten Rom“ und sogar Moskaus, schließlich der Hauptstadt des italienischen Staates seit 1871 als einem „dritten Rom“ eine Jahrhunderte verbindende Sonderstellung der Stadt. Es war dies in der Synthese von „urbs et orbis“ auch der Ort nicht nur besonderer christlicher Heiligkeit, etwa der Märtyrergräber von Petrus und Paulus, sondern seit dem 15. Jahrhundert verstärkt auch Ort der archäologischen Bergung von ‚authentischen‘ antiken Kunstwerken und deren Normierungskraft. Schließlich wurde Rom in der institutionellen Spannung zwischen Papstautokratie,
1 Herzlichen Dank für die Unterstützung beim Verfassen dieses Aufsatzes, sage ich Manuela Vergoossen, Nicole Gräfe, Michel Kusche, Sabine Barthold, Sonja Sikora, Jan Wetzel und RoseMarie Schulz-Rehberg. – Zum Motto: Michel de Montaigne, Tagebuch einer Reise durch Italien, die Schweiz und Deutschland in den Jahren 1580 und 1581, hg. v. Otto Flake, Frankfurt a.M./ Leipzig 1988, S. 165 u. ders., Journal de voyage en Italie par l’Allemagne et la Suisse en 1580 et 1581, Paris 1957, S. 157.
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städtischen Resten von Feudalrechten und Zügen einer alltäglichen ‚Anarchie‘ zum Freiheitsort im Verhältnis zu den restriktiven Herkunftsbedingungen vieler Künstler und insofern zu einem Refugium für deren Schaffen. Deshalb hielt Ferdinand Gregorovius es für unmöglich, sich Rom als Hauptstadt Italiens vorzustellen, denn dann würde die Stadt alles verlieren, „ihre republikanische Luft, ihren kosmopolitischen Zug und ihre tragische Ruhe“.2 Rom war aber in besonderer Weise auch gerade wegen dieser Idealisierungen ein Ort merkwürdiger Widersprüche. Für Jahrhunderte spärlich nur bevölkert (1789 etwa hatte es 163.000 Einwohner),3 mit dem zum Campo Vaccino gewordenen Forum Romanum und den die Stadt beherrschenden Ruinenfeldern, aus denen Baumaterialien für Wohnhäuser und Paläste (bereits seit der Romanik aber auch die zu Prestigezeichen gewordenen Spolien) gewonnen wurden. Es war eine versunkene Stadt mit merkwürdig anachronistisch-universalhistorischem Anspruch. Armut und heruntergekommene Zustände wurden häufig beschrieben (die selbstverständlich auch das Künstlerleben bestimmten4), so 1802 durch Caroline von Humboldt: „Rom ist sehr groß und nichts weniger als schön, die Straßen sind winkligt und schmuzzig und voller Gerüche. Alles sieht leer und oede aus – und die Armuth auf den Gaßen!! von disem empörenden Anblick kannst du dir keinen Begriff machen.“5 1833 beklagte auch Ralph W. Emerson das dort herrschende Elend, Schmutz, Aberglauben und Ignoranz der Bevölkerung, und der Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon sah die ganze Stadt als eine „wahre Nekropole“, als unbedeutendste Stadt „sogar des gesamten Erdballs“.6 Als Gegenentwurf zur geordneten Welt des Nordens verglich Johann Wilhelm von Archenholtz in einem mehrbändigen Vergleich zwischen dem von ihm bewunderten England und Italien, letzteres als ein Land, in dem Wollust und
2 Zit. n. Giuseppe Monsagrati, „La maestà di Roma alla fine del potere temporale“, in: Maestà di Roma da Napoleone all’unità d’Italia. Universale ed Eterna Capitale delle arti (Progetto: Stefano Susinno, Ausst.-Katalog Scuderie del Quirinale 7.3.–29.6.2003), Milano 2003, S. 45. 3 Vgl. zu dieser Bevölkerungsstatistik aus dem Jahre 1789 (in welchem die Juden im Ghetto nicht mitgezählt waren): Carl Ludwig Fernow, Sitten- und Kulturgemälde von Rom, Gotha 1802, S. 191, zit. n. Dieter Richter, Von Hof nach Rom. Johann Christian Reinhart – Ein deutscher Maler in Italien. Eine Biographie, Berlin 2010, S. 57. 4 Dies eine Beobachtung des französischen Botschafters Chateaubriand nach: Monsagrati, „La maestà“ (wie Anm. 2), S. 39. 5 Brief Caroline von Humboldts an Charlotte von Schiller v. 9.12.1802, zit. n. Dorothea Kuhn, Auch ich in Arkadien. Kunstreisen nach Italien 1600–1900, Marbach 1966, S. 146. 6 Pierre-Joseph Proudhon, zit. n. Ernesto Ragionieri, Italia giudicata 1861–1945 ovvero la storia degli italiani scritta dagli altri, Bari 1969, S. 31f., sowie zu demselben Urteil Chateaubriands: Monsagrati, „La maestà“ (wie Anm. 2), S. 41.
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Rache herrschten, Trägheit und Irrationalität, in dem die Italiener „zufriedene Sklaverey anstatt der enthusiastischen Freiheitsliebe“ (der Engländer) zeigten, worüber Goethe in der Begeisterung seiner endlichen Ankunft in Rom urteilte: „Wie so ein Geschreibe am Ort selbst zusammenschrumpft“.7 Jedoch berichtete auch Georg Niebuhr immer wieder über das „traurige Leben“ in einem Land „ohne Nationalität, ohne Geschichte“, voll des sittlichen Verfalls in diesem – wie Dorothea Schlegel schrieb – Land des „Aberglaubens“, der „Unwissenheit, Geldgier, Trägheit und Sittenlosigkeit bei Geistlichen wie bei Weltlichen“.8 Da es keine Kontinuität zwischen Antike und Neuzeit mehr gebe, schlug er – sozusagen auf eine neuere, entheiligende Transzendierungsleistung zurückgreifend – sogar vor, die Stadt entsprechend New York in „Neu-Rom“ umzubenennen.9 Solche Zeugnisse scheinen unvereinbar zu sein mit den hymnischen Erlebnisschilderungen, etwa Stendhals in seinen „Römischen Wanderungen“, wenn er von dem leidenschaftlichen, energiegeladenen und vom Glück begünstigten römischen Volk spricht.10 In der Genremalerei des italienischen Lebens wurde es sogar zu einem Topos, von einer „‚naturale‘ nobiltà e bellezza del popolo romano“ zu sprechen.11 Wilhelm Müller, genannt „Maler-Müller“, konfrontierte die „verhüllten Nordländer“ mit Protestantismus und Arbeitsethik mit dem südländischen „sorglosen In-Den-Tag-Leben“12, darin vor allem eine Quelle der Widerständigkeit gegen das Regiment des Kirchenstaates sehend.13 Wollte man die weit auseinanderliegenden Urteile vereinigen, musste man die schlechten Zustände, wie Hum-
7 Johann Wilhelm von Archenholtz, England und Italien, 2. erw. Aufl., Karlsruhe 1787, S. 207f. und Johann Wolfgang von Goethe, „Italienische Reise“ [zuerst 1816/17], in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 11: Autobiographische Schriften III, hg. v. Erich Trunz/ Herbert von Einem, 12., durchg. Aufl., München 1989, S. 7–349, hier S. 145. 8 Barthold Georg Niebuhr in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi v. 11.1.1817, zit. n. Hildegard Eilert, „Wilhelm Müllers Römer und Römerinnen und das deutsche Italien-Bild“, in: Frank-Rutger Hausmann (Hg.), „Italien in Germanien“. Deutsche Italien-Rezeption von 1750– 1850. Akten des Symposiums der Stiftung Weimarer Klassik vom 24. bis 26.3.1994, Tübingen 1996, S. 64–83, hier S. 71f. 9 Niebuhr in einem Brief an Savigny, zit. n. Rosario Assunto, Specchio vivento del mondo. Artisti stranieri in Roma 1600–1800, Roma 1978, S. 115; vgl. auch Eilert, „Müller“ (wie Anm. 8), S. 71f. 10 [Henri Beyle] Stendhal, Wanderungen in Rom, zit. n. Monsagrati, „La maestà“ (wie Anm. 2), S. 40. 11 Liliana Barroero, „La ‚naturale‘ nobiltà e belezza del popolo romano“, in: Monsagrati, „La maestà“ (wie Anm. 2), S. 207–221. 12 Wilhelm Müller, Rom, Römer und Römerinnen. Eine Sammlung vertrauter Briefe aus Rom und Albano mit einigen späteren Zusätzen und Belegen, 2 Bde., Berlin 1820, zit. n. Eilert, „Müller (wie Anm. 8), S. 80. 13 Müller, Rom (wie Anm. 12), S. 81.
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boldt es tat, als „göttliche Anarchie“ und „himmlische Wüstenei“14 umdeuten und möglicherweise geradezu zur Bedingung künstlerischer Kreativität machen. Trotz aller dieser Ambivalenzen gab es für Künstler doch Motive genug, um nach Rom zu gehen, zumal sich dort auch Auftragschancen durch die in das Zentrum der Christenheit pilgernden Gläubigen und an die Quellen der okzidentalen Kultur fahrenden Reisenden (etwa im Rahmen der Grand Tour15) fanden. (Abb. 1.)
Abb. 1: Julius Schnorr von Carolsfeld: Ludwig I. beruft die in Rom weilenden deutschen Künstler nach München, 1850 [Abbildungsnachweis: Zeichnung. Repro aus: Julius Schnorr von Carolsfeld 1794 bis 1872. Katalog Museum der bildenden Künste Leipzig und Kunsthalle Bremen 1994, S. 180.]
14 Vgl. Goethe, „Italienische Reise“ (wie Anm. 7) und Humboldt in einem Brief an Goethe v. 23.8.1804, zit. n. Otto Harnack, Deutsches Kunstleben in Rom im Zeitalter der Klassik. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, Weimar 1896, S. 162. 15 Vgl. Silvia Visino, I pittori del Grand Tour. Viaggio a Roma alla ricerca delle aure, Latina 1994; Andrew Wilton/Ilaria Bignamini (Hg.), Grand Tour. The Lure of Italy in the Eightheenth Century (Ausst.-Katalog Tate Gallery, London, 10.10.1996–5.1.1997), London 1996, sowie Joseph Imorde (Hg.), Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne, Tübingen 2008.
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II. Transzendierungen und Kunstkonkurrenzen II.1 Transzendierungsdimensionen Im Rahmen einer historisch angeleiteten, systematisch vergleichenden Forschung16 lassen sich unterschiedlichste Transzendierungstypen, d.h. Überschreitungen gegebener Situationen und Lebenslagen, analytisch unterscheiden: Es gibt Stilisierungen bis hin zur Heiligung von spirituellen Kräften und deren Personifikationen (etwa Geistern oder Gottheiten), dadurch bewirkt auch von Dingen, Raumzusammenhängen oder Zeitordnungen, schließlich sogar von Menschen mit einem persönlichen oder institutionell bedingten Charisma.17 Anthropologisch beruht das auf der notwendig mit sinnhaften Überschreitungen des Gegebenen verbundenen Existenzbedingung des Menschen als eines auf Symbolisierung angewiesenen Wesens.18 Nie war Transzendenz allein auf „das Religiöse“ beschränkt, wenngleich viele Transzendierungsformen Elemente des „Heiligen“ als radikalster Differenz zur Profanität und Immanenz durchaus aufweisen können. Auch Thomas Rentschs religionsunabhängiges Transzendenzverständnis, mit dem alles, was uns entzogen ist, umschrieben werden soll, sieht die Lebenswirklichkeit des Menschen im Horizont radikaler Unverfügbarkeiten, weil alle Momente existenzieller Schwäche, am radikalsten die Infragestellung durch Krankheit und Tod, auf Zusammenhänge jenseits der erkennbaren oder gar beeinflussbaren Realität verweisen.19
16 Vgl. Hans Vorländer (Hg.), Transzendenz und Gemeinsinn. Themen und Perspektiven des Dresdner Sonderforschungsbereichs 804, 2. Aufl. Dresden 2011. 17 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, „Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Einführung in systematischer Absicht“, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 3–49. 18 Vgl. Helmut Plessners „anthropologisches Grundgesetz des utopischen Standorts“ über die Nichtigkeit des menschlichen Daseins und den Zwang zur Transzendenz: ders., „Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie“ [zuerst 1928], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1981, S. 419–425, bes. S. 423, sowie Karl-Siegbert Rehberg, „Eine merkwürdig ‚alte‘ Antwort auf eine noch ältere Frage“, in: Detlev Ganten/Volker Gerhardt et al. (Hg.), Was ist der Mensch (Humanprojekt. Interdisziplinäre Anthropologie. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), Berlin/New York 2008, S. 212–216. 19 Vgl. vor allem Thomas Rentsch, Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin/New York 2011, sowie seinen Beitrag in diesem Band.
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Für Ernst Cassirer war alles Symbolische eine „Transzendierung des Lebens als einer überpersönlichen Geltung“.20 Von da ausgehend, erweist sich die von Thomas Luckmann rekonstruierte, etwas schematisch formulierte, Unterscheidung von Alfred Schütz von „großen“, „mittleren“ und „kleinen“ Transzendenzen für die empirische Forschung als hilfreich.21 Allerdings hat er diese Verweisungsdimension prinzipiell nur auf Grenzzustände des „Zusammenbruchs gewohnter Ordnungen“22 (in Rausch, Traum oder in mystischer Vereinigung) festgelegt.23 Arnold Gehlen hat (wie vor ihm Émile Durkheim) solche rituelle Selbsttranszendierungen zur Quelle zuerst unbestimmter, dann institutionell gesicherter Verpflichtungen gemacht,24 ohne allerdings die Dimension der Überschreitung auf fundamentale Erlebnisse einzugrenzen. Deshalb erweist sich seine Formulierung einer „Transzendenz ins Diesseits“25 im Rahmen einer historischen Vergleichshermeneutik26 als besonders brauchbar. Damit ist die Überführung magischer und religiöser Vorstellungen und Praktiken in innerweltliche Zusammenhänge gemeint: Nicht nur das Göttliche, sondern auch Kunst, Technik, Liebe, der Staat, der Krieg und sogar Arbeit können „geheiligt“, d.h. zum absoluten Selbstzweck werden.
II.2 Antike als Transzendenzraum Heilige Räume gab es seit den frühesten Kulturen, verbunden mit Transzendenzen, die auf magische und religiöse Formen der Weltbewältigung verweisen und die radikale Differenz zwischen diesen höheren Wirkungssphären und der den
20 Zit. n. Michael Krois, „Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen“, in: Hans-Jürg Braun et al., Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1988, S. 15–44, hier S. 29. 21 Vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1984, bes. S. 139–177, sowie Karl-Siegbert Rehberg, „Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen (TAIM)“, in: Gerhard Göhler (Hg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, S. 47–84, bes. S. 60–62. 22 Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt (wie Anm. 21), S. 142. 23 Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt (wie Anm. 21), S. 196f. 24 Vgl. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur [zuerst 1956], 6. Aufl., hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M. 2004, bes. S. 156–296. 25 Vgl. Gehlen, Urmensch und Spätkultur (wie Anm. 24), S. 16. 26 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, „Institutionelle Analyse und historische Komparatistik“, in: Gert Melville/ders., Dimensionen institutioneller Macht. Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 417–443.
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Menschen gegebenen Welt markieren. Die zentrale Dimension einer Transzendierung Roms bezieht sich auf den räumlichen Rückbezug, nämlich auf die – auch für die christlichen Zusammenhänge bedeutsame – materiale Präsenz des antiken Weltreiches in dessen ruinenhaften Zeugnissen. Diese Vorbildhaftigkeit führte in der Renaissance – das für Nietzsche „Goldene Zeitalter dieses Jahrtausends“27 – zu einer das Modell selbst noch einmal überbieten wollenden Aneignung der Vergangenheit. Die Antike wurde zum Fluchtpunkt aller Attribute, durch die dieser als transzendent erfahrene Raum sowohl durch die römischen Herrschaftstraditionen als auch durch das in eben dieser Zeit entstandene Christentum konstituiert wurde. In den Künsten führte das zu einem – sogar Griechenland ersetzen könnenden – Neoklassizismus28, am ausgeprägtesten in der Bildhauerei, aber auch in der Historienmalerei und den „heroischen“ oder „idealen“ Landschaften. All dies wiederum führte zu einem kanonisierenden Akademismus. Sowohl in der klassizistischen Nachahmung des maßstabbildenden Formenkanons, als auch in der Tradierung der mythischen Erzählungen gründete die Transzendierungsleistung einer Kontinuitätssuggestion. Deshalb auch ist die in der künstlerischen Ausbildung eingeübte Haltung durch Kopieren und die Orientierung an den damals so beliebten Abgüssen von den gebildeten Kunstfreunden so gefeiert worden, denn in ihnen wird – wie die dem Reglement unterworfenen Kunsteleven in den Akademien schmerzlich erfahren mussten – die Differenz zwischen dem Unerreichbaren in der Bemühung der Annäherung daran immer neu reproduziert. Auch zwingt es zur Demut, wenn man auf diesem ‚heiligen Boden‘ arbeiten darf und muss. Wenn auch die Zentren jenes hochgestimmten Rückgriffs auf (zuweilen vermeintliche) antike Vorbilder, der später „Renaissance“29 genannt wurde, besonders in den Fürstentümern und republikanisch regierten Städten Mittelitaliens, also außerhalb des Kirchenstaates lagen, wurde der päpstliche Hof in Rom dann doch zu dem auf Herrschaft gestützten Vollstrecker aller dieser Neuerungen, indem viele künstlerische Potenzen ersten Ranges dorthin gezogen wurden.
27 Friedrich Nietzsche, „Menschliches, Allzumenschliches I. Fünftes Hauptstück: Anzeichen höherer und niederer Cultur“ [zuerst 1886], in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 2, hg. v. Giorgo Colli/Mazzino Montinari, New York/München 1980, S. 199f., Aph. 237. 28 Vgl. z.B. Giulia Cantarutti/Stefano Ferrari (Hg.), Paesaggi europei del Neoclassicismo, Bologna 2007. 29 Vgl. Jules Michelet, Histoire de France. Vol. 9: La Renaissance, Paris 1850, sowie Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien [zuerst 1860], Stuttgart 2009.
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Es war dies die Geburtsstunde Roms als universale capitale delle arti, die seit dem 16. Jahrhundert ein Anziehungspunkt für ausländische Künstler geworden war. Schon die fiamminghi wanderten als ‚Lehrlinge‘ der Künste dorthin und bildeten Bruderschaften.30 Die Tiberstadt blieb ein „ginnasio perenne ed imutabile“31, während Ennio Quirino Visconti 1785 diese „madre comune“ den Ort mit dem am meisten aufgeklärten Publikum in ganz Europa nannte. Franzosen und Deutsche waren seit der Mitte des 18. Jahrhunderts dominant, dabei letztere in der Überzahl: für die Zeit zwischen dem Wiener Kongress 1814/1815 und dem Revolutionsjahr 1848 waren insgesamt 1200 deutsche Künstler in Rom.32
II.3 Kunstkonkurrenzen in Rom Innerhalb der ausländischen Künstler im Rom des 18. und 19. Jahrhunderts können die Konkurrenzspannungen zwischen Deutschen und Franzosen (selbstverständlich immer auch mit Bezug auf in Rom arbeitende italienische und weitere ausländische Kollegen) paradigmatisch ins Zentrum gerückt werden, weil sie auf zwei unterschiedlichen institutionellen Leitideen33 der Künste beruhen: Auf französischer Seite wurde eine Kunstidee institutionell gesichert, welche im Dienste der aus dem königlichen Machtanspruch entwickelten Transzendenzformel der Staatsraison stand. Für die deutschen, d.h. deutschsprachigen, auch baltischen, skandinavischen und teilweise niederländischen Künstler, war es nicht die Überhöhung der eigenen Staatlichkeit, die Rom zu einem begehrten Bezugspunkt machtpolitischer Selbstdarstellung machen sollte, vielmehr wollten sie – in der klassischen ebenso wie auch in der (allen Entgegensetzungen zum Trotz) romantischen Ideenwelt – in Rom den authentischen Ort finden, der auch noch die Geschichte zu transzendieren vermochte; es war dies die – motivierende,
30 Vgl. Elisja Schulte van Kessel, „Samenscholen in het licht van de dood“, in: Fiamminghi a Roma 1508–1608. Kunstenaars uit de Nederlanden en aet prinsbisdom loik te Rome tejdens de Renaissance (Ausst.-Katalog Paleis van het Schone Kunsten Brussel 24.2.–21.5.1995), Brussel 1995, S. 53–60; vgl. auch dies., „Le istitutioni fiamminghe e olandesi durante il Rinascimento“, in: Fiamminghi a Roma 1508–1608 (Ausst.-Katalog Palazzo delle Esposizioni Roma 7.6.– 4.9.1995) Milano 1995, S. 61–66. 31 Vgl. Liliana Barroero, „La centralità di Roma“, in: Monsagrati, „La maestà“ (wie Anm. 2), S. 17–21, hier S. 20 u. 22, sowie Carlo Sisi, „L’educazione accademica“, in: Monsagrati, „La maestà“ (wie Anm. 2), S. 279–293, hier S. 279. 32 Friedrich Noack, Das Deutschtum in Rom seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 1, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1927, S. 461. 33 Vgl. Rehberg, „Institutionen als symbolische Ordnungen“ (wie Anm. 21), bes. S. 65–70.
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aber zu oft als alles schon erklärender Grund für einen Romaufenthalt herangezogene34 – „Sehnsucht nach Italien“. Für die Lukasbrüder waren solche Motive explizit auch gegen „unsere Kunstgegner, sowohl [die] Anhänger der Accademien als auch der neuen französischen Schule“35 gerichtet. Hier drückt sich deutlich die Konkurrenz zwischen Deutschen und Franzosen aus, die geradezu zu einem Stereotyp über nationale Unterschiede wurde, wie Madame de Staël sie in ihrem Buch „Über Deutschland“ zum Bestandteil des Bildungswissens gemacht hat.36 So entstanden fixierte Zuschreibungen nationaler Eigenschaften: Franzosen, schrieb Humboldt, hätten den Deutschen gegenüber „mehr Verstand als Geist, mehr außer sich aufs Leben gerichtete als eigentlich in sich gekehrte und künstlerisch bestimmte Einbildungskraft, mehr Heftigkeit und Leidenschaft als Empfindung“.37 Die höchste Ausprägung des klassizistisch orientierten Akademismus fand sich im absolutistischen Frankreich, d.h. für Rom in der auf Betreiben des königlichen Staatssekretärs Jean-Baptiste Colbert 1666 gegründeten Académie de France à Rome, die zur zentralen Institution einer Künstlerausbildung wurde, durch welche die Verlagerung des Zentrums der Künste aus dem caput mundi in den Umkreis des französischen Hofes sichergestellt werden sollte. Neben der Errichtung dieser einflussreichsten Auslandsakademie38 in Rom wurden interne Prestigekämpfe zwischen den Nationen mit universalen Ansprüchen der französischen Monarchie des Sonnenkönigs verbunden. Das belegt auch eine Episode der französisch-römischen Akademiebeziehungen, nämlich die Einbeziehung der (allerdings nach der florentinischen Accademia del Disegno gegründeten) ‚Urinstitution‘ aller Kunstakademien, der Accademia di San Luca, in das französische Kunstsystem. Diese war 1577 vom Papst erlaubt, 1593 unter Frederico Zuccari gegründet und 1607 mit ersten Statuten ausgestattet
34 Vgl. Michael Thimann, „Kunst und Künstler. Die Erinnerungsgeschichte des ‚deutschen Rom‘ in kunsthistorischer Perspektive“, in: Martin Wallraff/Michael Matheus et al. (Hg.), Rombilder im deutschsprachigen Protestantismus, Tübingen 2011, S. 223–247, bes. S. 224f. 35 Brief von Franz Overbeck an Ludwig Vogel vom 24.5.1814, zit. n. Peter Springer, „Die ‚Società Amatori e Culturi de Belle Arti‘“, in: Peter Gerlach (Hg.), Vom realen Nutzen idealer Bilder. Kunstmarkt und Kunstvereine, Aachen 1994, S. 75–90, hier S. 81. 36 Vgl. Anne Louise Germaine de Staël-Holstein, Über Deutschland [frz. zuerst 1813], Frankfurt a.M. 2000. 37 Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe von Anfang April 1798, zit. n. Ernst Osterkamp, „Wilhelm und Caroline von Humboldt und die deutschen Künstler in Rom“, in: Margret Stuffmann/Werner Busch (Hg.), Zeichnen in Rom 1790–1830, Köln 2001, S. 247–274, hier S. 253. 38 Vgl. Angela Windholz, Et in academia ego. Ausländische Akademien in Rom zwischen künstlerischer Standortbestimmung und nationaler Repräsentation, Regensburg 2008.
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worden; ihr ging die bereits 1487 gegründete Malergilde „Universitas picturae [ac] miniaturae“ voraus. Obwohl ein geregelter Ausbildungsbetrieb nicht stattfand, sondern die römische Akademie bis in das 19. Jahrhundert vor allem der Ehrung der accademici und premiati gewidmet war, hatte sie doch ein derartiges Prestige, dass man sie – auf die Bitte ihres Sekretärs Giovanni Pietro Bellori hin – 1676 satzungsmäßig mit der Pariser Kunstakademie verband. Faktisch gab diese jonction allerdings eher Anlass zu Spott und einer Vielzahl von Konflikten und blieb auf der Ebene praktischer Arbeit folgenlos.39 Zwar wurden mehrere Franzosen, etwa Simon Vouet und Charles Le Brun, zu Leitern der römischen Akademie gewählt, aber auch der antifranzösisch eingestellte Anton Raphael Mengs war 1771/72 ihr principe gewesen. Schließlich wurden sogar zwei Schlüsselgestalten der Nazarenergruppe, 1812 Peter Cornelius und 1831 Friedrich Johann Overbeck, deren Ehrenmitglieder. Das war umso erstaunlicher, als im Zusammenhang mit der napoleonischen Neuordnung der Akademien zwar einige Anhänger der nazareni wie Pietro Tenerani, Giuseppe Mancinelli oder Domenico Morelli d. J. sich dieser „strana società“ angenähert hatten, obschon es in der Akademie wohl die Mehrheitsmeinung war, die deutsch-religiösen Künstler hätten kein Werk hervorgebracht, das der Nennung wert sei und ihren Erfolg vor allem ihrem „Hass auf die Franzosen“ zu verdanken.40 Allerdings bildeten sich auch Schlangen von Besuchern, als im Palazzo Zuccari die Bartholdy-Fresken von Peter Cornelius, Friedrich Overbeck, Wilhelm Schadow und Philip Veit erstmals zu besichtigen waren. Gleichwohl sind den klassizistischen Normvorstellungen auch viele deutsche Künstler gefolgt. Das belegt das eineinhalb Jahrhunderte währende Scheitern der Errichtung einer deutschen Akademie, die der französischen gleichzustellen gewesen wäre.41 Spürbar war der Neid auf diese einflussreiche Institution42, auch weil der aus den Antiken-Sehnsüchten gespeiste Akademismus (schon wegen der Bedeutung der Theorien Winckelmanns und der hervorgehobenen Stellung von Anton Raphael Mengs) keineswegs auf die französische Kunst begrenzt war. Noch deutlicher als in der Malerei wird das bei den Bildhauern, etwa in der gesamten Produktion Antonio Canovas oder Bertel Thorvaldsens.
39 Vgl. Dietrich Erben, Paris und Rom. Die staatlich gelenkten Kunstbeziehungen unter Ludwig XIV, Berlin 2004, S. 159–165. 40 Renato Pacini, „L’arte in Roma nell’Ottocento“, in: Capitolium. Rassegna mensile del Governatoto VIII (MCMXXXII X [gennaio-febbraio 1932]), Nr. 1–2, S. 67–84, hier S. 72f. 41 Vgl. Windholz, Akademien (wie Anm. 38), S. 255–335, sowie Steffi Roettgen, „Hofkunst – Akademie – Kunstschule – Werkstatt“, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 36 (1985), S. 131–181, bes. S. 145–156. 42 Vgl. Claudia List, „Römischer Kunstbetrieb. Künstlerleben in Rom“, in: Weltkunst (Februar 1996), S. 198–201, hier S. 198f.
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Gleichwohl gaben sich die deutschen Künstler zumeist antiakademisch, sprach Joseph Anton Koch etwa von „Kunsttreibhäusern“.43 Nach der Ankunft Johann Joachim Winckelmanns 1755 und der Zeit des Aufenthaltes von Goethe (1786/88) gab es neue, selbstbewusste Begründungen der Künstlerexistenz in Rom. Der symbolische Fall dafür ist (der selbst klassizistisch arbeitende) Asmus Jacob Carstens, der mit einem neuartigen Transzendenzbehauptung gegen die Berliner Akademie und den preußischen Minister von Heinitz aufwartete. Seit 1792 hatte sich der Künstler geweigert, Arbeiten als Beleg für die Produktivität seines Aufenthaltes nach Berlin zu senden oder dorthin zurückzukehren, weil ihm sein Genie „von Gott anvertraut wurde“ und er einst nicht sagen dürfe „Herr, ich habe das Pfund so du mir anvertrauet, in Berlin vergraben“.44 Auch Koch, wie Friedrich Schiller von der „Sklavenplantage“ der Stuttgarter Hohen Karlsschule geflohen,45 fand in Rom einen Freiraum für seine idealisierende Landschaftsmalerei. Und ganz eindeutig entsprang einer Akademiekritik das Wirken der dem Neoklassizismus der Wiener Akademie entflohenen später allerdings selbst akademisch werdenden46 Lukasbrüder. Beat Wyss hat deren paradoxe Existenz in einer „politisch geschwächten Ruinenlandschaft, deren fast rechtsfreie Räume den Tummelplatz für kunstsinnige Ausländer“ abgegeben habe, treffend beschrieben: „Sie genießen eine Autonomie, gegen die sie sich auflehnen“, indem nun ein längst zum Phantom gewordenes mittelalterliches Mäzenatentum (samt dem dazugehörigen Sinnhorizont) imaginiert wurde.47 Jedenfalls wurden
43 Vgl. Joseph Anton Koch, Moderne Kunstchronik. Briefe zweier Freunde in Rom und der Tartarei über das moderne Kunstleben und -treiben; oder die Rumfordische Suppe, gekocht und geschrieben … in Rom [zuerst 1834], Leipzig/Weimar 1984, S. 130. 44 Brief Carstens an Staatsminister Frhr. von Heinitz vom 20.02.1796, zit. n. Werner Busch/Wolfgang Beyrodt (Hg.), Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Bd. 1: Kunsttheorie und Malerei. Kunstwissenschaft, Stuttgart 1982, S. 17. 45 Vgl. Andrea Domesle, „‚… denn über das erhabenste klingt jedes Wort gemein‘. Die deutschen Künstler in Rom in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Unter italienischem Himmel wächst wahre Kunst hervor. Peter Ferdinand Deurer (1777–1844) und Ludwig Deurer (1806–1847). Landschaftszeichnungen der Romantik (Ausst.-Kat. Mannheim, Essen, Augsburg, Lübeck), Frankfurt a.M. 1997, S. 7–14, hier S. 8. 46 Die Nazarener als strikt anti-akademische Maler wurden zu den Akademikern, nachdem Cornelius in Düsseldorf, Schadow in München, Schnorr von Carolsfeld in Dresden, Joseph von Führich in Wien und Philipp Veit im Frankfurter Städel Direktoren geworden waren; vgl. Werner Hager, Die Deutschrömer. Italien in der Malerei der Romantik, Sonderdruck der Jahresschrift 1963 der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster, S. 34. 47 Vgl. Beat Wyss, „Die ersten Modernen“, in: Max Hollein/Christa Steinle (Hg.), Religion, Macht, Kunst. Die Nazarener (Ausst.-Katalog Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M. 15.4.–24.7.2005), Köln 2005, S. 155–165, hier S. 156.
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die römischen Auftragswerke der Nazarener in Deutschland als „Triumph über den Rationalismus der Akademien“ gepriesen.48 Die vielfach bezeugte Abneigung gegenüber der Akademieausbildung kommt auch in einer zum Wiener Kongress an den Fürsten Metternich, den bayrischen Kronprinzen und den preußischen Kunstminister von Hardenberg gerichtete Denkschrift über die Nachteile des akademischen Kunststudiums zum Ausdruck, die von einer allgemeinen deutschen Künstlerversammlung im August 1814 in Rom beschlossen worden war, jedoch ohne Resonanz blieb.49
III. Romantische Kunst als Säkularreligion III.1 Ein romantisches Transzendierungs-Konzept 1799 hatte Friedrich Schleiermacher erstmals den Begriff der „Kunstreligion“50 verwendet und knüpfte damit an die großen Transzendenzen einer übermenschlichen Sphäre des ‚Heiligen‘ an.51 Diese Suche nach Religiosität ist mit Säkularisierungsprozessen dialektisch verbunden, aber auch mit einer aus dem protestantischen Denken erwachsenen Innerlichkeit bis hin zum Pietismus.52 Schon Nietzsche konstatierte: „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen […], weshalb die Emotionen in die Kunst drängten oder in die Politik“.53
48 Hager, Deutschrömer (wie Anm. 46), S. 32. 49 Vgl. Stefan Oswald, „Deutsche Künstler in Rom. Künstlerrepublik und christlicher Kunstverein“, in: Conrad Wiedemann (Hg.), Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen, Stuttgart 1988, S. 260–273, hier S. 265. 50 Vgl. zur heutigen Debatte um das Verhältnis von Kunst und Religion: Christian Albrecht, „Kunst und Religion. Ein Forschungsüberblick“, in: International Journal of Practical Theology 8 (2004), S. 251–287. 51 Vgl. Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006; vgl. auch Ernst Müller, Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus, Berlin 2004. 52 Auerochs, Entstehung der Kunstreligion (wie Anm. 51), S. 14, S. 20 und S. 30. 53 Nietzsche, „Menschliches“ (wie Anm. 27), S. 144 [Aph. 150]; vgl. auch Gerhard Lauer, „Das bittre Leiden an der Kunst. Über die Sinnbildlichkeit in Clemens Brentanos ‚Das bittre Leiden unsers Herrn Jesus Christi‘“, in: Albert Meier/Alessandro Costazza et al. (Hg.), Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Bd. 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800, Berlin/New York 2012, S. 231–252, hier S. 235f.
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Weil die Kunstreligion eine zwar ins Innerweltliche transponierte, jedoch durch ihre Vermittlungsstellung zum Jenseitigen oder – wie philosophisch bei Schelling, malerisch bei Philipp Otto Runge54 oder Caspar David Friedrich55 – zu einem pantheistisch gedachten Unendlichen mit den tradierten Formen des Religiösen eng verknüpft blieb, ist die Bezeichnung „Phantasiereligion“ wenig aufschlussreich, denn das wurde etwa in der Religionskritik Ludwig Feuerbachs für alle Glaubensüberzeugungen behauptet.56 Da auch „Ersatzreligion“57 zu schlagwortartig bleibt, würde ich für diese Erhöhung der Künste von einer Säkularreligion sprechen. Das meint eine durchaus noch auf das Göttliche gerichtete, und auf rituelle Praktiken gegründete Weltdeutung, die sich jedoch unter den Bedingungen der weitgehend säkularisierten, d.h. nicht: religionslosen, wohl aber von einem Metaphysik- und Jenseitigkeitsverlust geprägten Moderne herausgebildet hat. Dieser Begriffsvorschlag folgt nicht Thomas Luckmanns These, wonach alle möglichen Formen der Situationstranszendierung als „unsichtbare Religionen“ anzusehen seien, so dass selbst Sportbegeisterung, die Überhöhung des „autonomen“ Individuums, Konkurrenz- und Mobilitätsmythologien oder ein ideologischer Familialismus als „religiös“ erschienen58 – wie immer diese auch trivialisiert sein mögen. Die enge Beziehung der romantischen Kunstidee zu jenseitigen Mächten wird demgegenüber sogar noch in Richard Wagners Diktum sichtbar, wonach Musik „den Kern der Religion ästhetisch“ retten müsse.59 Eine derart religiöse Aufladung steht im Zusammenhang mit der schon in den frühesten uns bekannten Kulturen nachzuweisenden Sakralfunktion der ästhetischen Auszeichnung von Trägern einer mit Magie verbundenen Deutungs- oder Verfügungsmacht. Daraus wiederum entwickelte sich eine, bis zum Geniemythos steigerbare Sonderstellung der Künstler60, von denen sich mancher bis heute in den Dienst der Verfügbarmachung des Unverfügbaren stellt. Noch Joseph Anton
54 Vgl. Frank Büttner, Philipp Otto Runge, München 2010, S. 16, sowie Nicole Heinkel, Religiöse Kunst, Kunstreligion und die Überwindung der Säkularisierung. Frühromantik als Sehnsucht und Suche nach der verlorenen Religion. Dargestellt anhand der Aussagen der literarischen Frühromantik, Frankfurt a.M. 2004. 55 Vgl. Werner Busch, Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003. 56 Vgl. Müller, Religiosität (wie Anm. 51), S. 23. 57 Vgl. Auerochs, Entstehung der Kunstreligion (wie Anm. 51). 58 Vgl. Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991. 59 Richard Wagner, „Religion und Kunstwerk“ [zuerst 1888], in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 10, 2. Aufl., Leipzig 1888, S. 211. 60 Vgl. auch Christoph Deupmann, „Apostel und Genie? Zu Johann Georg Hamanns eigensinniger Behauptung der Einheit von Kunst und Religion“, in: Meier/Costazza et al. (Hg.), Kunstreligion (wie Anm. 53), S. 63–72.
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Koch hatte programmatisch formuliert: „Alle Künste […] sind durch die Religion erzeugt“ und alle „wahrhaftige Kunst wurde von dem Lobe des Ewigen ergriffen“.61 „Kunst“ als ein besonderer gesellschaftlicher Handlungsbereich ist allerdings erst in den herrschaftsüberformten Hochkulturen und dann noch einmal im Entwicklungsprozess der Moderne weiter ausdifferenziert worden. Von einer besonderen (oft handwerklich organisierten) Kunstsphäre ist zumindest immer dann auszugehen, wenn Künstlernamen oder sogar Künstlerlegenden entstehen, wie es für die griechische Antike schon für das sechste vorchristliche Jahrhundert nachzuweisen ist. In der kunstfreudigen Metaphorik der Renaissance konnte man das sogar soweit steigern, dass der Künstler als diesseitiger Schöpfergott erschien und in damit korrespondierender Verkehrung Gott als ‚Weltenmaler‘ oder ‚Mechaniker des Weltuhrwerkes‘.62 Auch Schelling sah im schöpferischen Menschen einen Alter Deus.63 Eine neue Intensitätssteigerung der institutionellen Selbsterhöhung, gerade auch eines anti-institutionellen Künstlertums, bildete sich in der deutschen Romantik heraus, indem der Künstler nun zu einem Garanten der „Wahrheit“ ebenso wie zum Mittler zwischen der menschlichen, gefühlsgeleiteten Erfahrung und dem „Göttlichen“ oder „Unendlichen“ wurde. Die damit oft verbundene „saturnische“ Melancholie64 drückte sich auch im äußeren Habitus der Nazarener aus, der sie schwermütig erscheinen ließ, „mit langen herabhängenden Haaren, wodurch die Gesichter hagerer und blasser wurden, sittlich und intolerant und einen Fanatismus für ihr System im Busen verschließend“.65 Das hatte ihnen die in Italien seit dem 17. Jahrhundert nachweisbare Bezeichnung i Nazareni eingetragen, ein Spottname, der zu ihrem Mar-
61 Koch, Kunstchronik (wie Anm. 43), S. 110. 62 Vgl. Alessandro Costazza, „Die Vergöttlichung der ästhetischen Erkenntnis: Von Baumgarten bis zum Frühidealismus“, in: Meier/Costazza et al. (Hg.), Kunstreligion (wie Anm. 53), S. 73–88, bes. S. 77–82, sowie Karl-Siegbert Rehberg, „Kunst“, in: Eike Bohlken/ Christian Thies (Hg.), Handbuch Anthropologie, Stuttgart/Weimar 2009, S. 359–363, sowie ders., „‚Ausnahmezustand‘ und ‚Außeralltäglichkeit‘ und die Prätentionen der Regellosigkeit. Soziologische Anmerkungen zu einem Scheinwiderspruch“, in: Heinz Herbert Mann/Peter Gerlach (Hg.), Regel und Ausnahme. Festschrift für Hans Holländer, Aachen/Leipzig/Paris 1995, S. 11–38. 63 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Das System des transzendentalen Idealismus, Tübingen 1800; und ders., Philosophie der Kunst (Vorlesung 1802/3), Darmstadt 1966. 64 Vgl. Margot Wittkower/Rudolf Wittkower, Künstler. Außenseiter der Gesellschaft, 2. Aufl., Stuttgart 1989. 65 Jakob Ludwig Salomon Bartholdy, „Ueber die Kunstausstellung im Palaste Caffarelli zu Rom im April 1819“, in: Allgemeine Zeitung v. 23.7.1819, zit. n. Busch/Beyrodt (Hg.), Kunsttheorie (wie Anm. 44), S. 135–140.
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kenzeichen wurde: oder von Seiten der französischen Romkünstler „les tragédies allemandes“.66 Die Idee einer Kunstreligion wurde nicht in Rom geboren, jedoch wirkte die „ewige Stadt“ als Raum der ästhetischen Normierung und Geschmacksbildung und des künstlerischen Arbeitens verstärkend auf ein Denken, das bei Friedrich Overbeck sogar zu einer „Bildtheologie“ entwickelt werden konnte.67 Bei diesem meint das jedoch nicht eine Erhebung der Künste in die göttliche Sphäre, sondern den ästhetischen Dienst an der Religion, wie ihn sein Programmbild „Triumph der Religion in den Künsten“ (1841) versinnbildlicht, denn auch das in Frankfurt neugestiftete Städelsche Kunstinstitut als dessen Auftraggeber habe sich „vor Augen zu halten, dass alle Kunst auf die Verherrlichung Gottes zielen und zur Erbauung des Nächsten dienen muss“.68
66 Bartholdy, „Kunstausstellung“ (wie Anm. 65), S. 136. 67 Vgl. Michael Thimann, „Der Bildtheologe Friedrich Overbeck“, in: Hollein/Steimle (Hg.), Religion (wie Anm. 47), S. 169–177; seine Basler Habilitationsschrift über Overbeck ist noch nicht erschienen. 68 Zit. n. Wyss, „Modernen“ (wie Anm. 47), S. 158.
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Abb. 2: Josef Wintergerst: Apotheose Albrecht Dürers, 1828 [Abbildungsnachweis: Aquarell. Stadtgeschichtliche Museen Nürnberg, Inv. Nr. St. N. 10579. Repro aus: Die Nazarener in Rom. Ein deutscher Künstlerbund der Romantik. [Dt. Ausgabe d. Ausstellungs-Kataloges „I Nazareni a Roma“, hg. v. Klaus Gallwitz], München 1981, S. 278.]
Italien nun konnte zu einem „neuzeitlichen Kanaan“ werden, „in dem Milch und Honig fließen“ und die Toskana und Umbrien, wo der Heilige Franziskus seine imitatio Christi verwirklicht hatte,69 wie ein neuzeitliches Bethlehem erscheinen. In dieses Traumland wanderten auch die Lukasbrüder auf den Spuren der wirkungsmächtigen, als Textsammlung arrangierten „Herzensergießungen“ von Wackenroder und Tieck,70 in denen die Lebensläufe der Künstler nach dem Modell von Heiligenviten erzählt wurden. Parallel dazu wurden Raffael, Michelangelo und Dürer zu „Kunstheiligen“ stilisiert. (Abb. 2) Es war dies wohl ein Grund, warum der „Heide“71 Goethe diese „neukatholische Sentimentalität“ ablehnte,
69 Vgl. Helmut Feld, Franz von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994. 70 Vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder/Ludwig Tieck, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders [anonym zuerst 1796/1797], Stuttgart 1997. 71 Zit. n. Osterkamp, „Humboldt“ (wie Anm. 37), S. 263, S. 266 u. 267.
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dieses ganze „klosterbrudisiernde, sternbaldisierende Unwesen, von denen der bildenden Kunst mehr Gefahr bevorsteht als von […] Kalibanen“.72
Abb. 3: Joseph Anton Koch, Blick vom Garten des Klosters S. Isidoro auf Rom, o. D. (links die Villa Malta) [Abbildungsnachweis: 1810. Staatsgalerie Stuttgart, Inv. Nr. 4172. Repro aus: Die Nazarener in Rom. Ein deutscher Künstlerbund der Romantik. [Dt. Ausgabe d. Ausstellungs-Kataloges „I Nazareni a Roma“, hg. v. Klaus Gallwitz], München 1981, S. 132.]
Seit 1810 lebten sie für zwei Jahre in quasi mönchischer Gemeinschaft im römischen, zuvor säkularisierten und ihnen vom Direktor der Französischen Akademie überlassenen Franziskanerkloster S. Isidoro. Die täglichen Exerzitien des Zeichnens, die gemeinsam eingenommen Mahlzeiten und die religiösen Diskurse
72 Vgl. Ernst Osterkamp, „Goethe als Leser Johann Joachim Winckelmanns“, in: Victoria Flemming/Sebastian Schütze (Hg.), Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias Wimmer, Mainz 1996, S. 572–582, sowie Ernst Trunz, [Anmerkungen zu „Winckelmann“], in: Goethe, Werke (wie Anm. 7), Bd. 12: Kunst und Literatur, 11. durchg. Aufl., München 1989, S. 608–621, hier S. 611; vgl. auch ders., [Anmerkungen zur „Italienischen Reise“], in: Goethe, Werke (wie Anm. 7), Bd. 11, 12., durchg. Aufl., München 1989, S. 627f.
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sollten die Herzensbildung ebenso anregen wie auch die malerischen Techniken fördern. „Wahre Kunst“ könne nur gedeihen in der „Süßigkeit der Einsamkeit und der Abgeschiedenheit von der Welt“.73 (Abb. 3) Trotz solcher Selbstbezüglichkeit der Gruppe war deren Konzept einer Gedankenkunst, vergleichbar der durch Mönche besorgten Mission, mit dem Anspruch auf didaktische Wirkung verbunden. Auch von Johann Heinrich Pestalozzi angeregt, wurden Bibelillustrationen von Friedrich Olivier und Friedrich Overbeck, besonders aber die „Bibel in Bildern“ von Julius Schnorr von Carolsfeld zum Medium der Volkserziehung.74 (Abb. 4)
Abb. 4: Johann Friedrich Overbeck, Selbstbildnis mit Bibel, 1809 [Abbildungsnachweis: Radierung. Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck. Repro aus: Max Hollein, Christa Steinle (Hg.), Religion Macht Kunst. Die Nazarener [Ausstellung Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M. 2005], S. 102.]
73 Overbeck zit. n. Oswald, „Deutsche Künstler in Rom“ (wie Anm. 49), S. 264. 74 Cordula Grewe, Painting the Sacred in the Age of Romanticism, Ashgate 2009, S. 205–252.
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III.2 Christliche Kunst in Europa Zehn Jahre lang hatten die Lukasbrüder in Rom gewirkt, dann gingen viele von ihnen zurück nach Deutschland. Einige blieben in Rom, so auch die Initiatoren einer „Römischen Künstler Zunft“, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschen Nationalkirche S. Maria dell’Anima gegründet worden war und wahrscheinlich durch die Neubelebung einer auch volkstümlichen religiösen Kunst den Kampf gegen Laizismus und Säkularisierung stärken sollte. Allerdings stand der deutsche Klerus in Rom diesen Malern, vielleicht auch Ludwig Seitz als einem Cornelius-Schüler, der die Chorwölbung dieser Kirche ausgemalt hatte, skeptisch gegenüber, weil man die sie inspiriert habenden Nazarener als „Brutstätte des Liberalismus und weltlicher Gesinnung“ verdammte.75 Es war dies aber nicht die einzige Wirkung der Nazarener außerhalb Deutschlands. Vielmehr wurden sie zunehmend auch in anderen europäischen Ländern wahrgenommen. Michel Caffort hat Einflüsse auf belgische, dänische, spanische, englische und italienische Künstler nachgewiesen.76 Jedoch führte der Kampf um die 1794 beschlossene (formell jedoch erst 1905 vollzogene) Trennung von Kirche und Staat in Frankreich zu einer katholischen Gegenbewegung, die ihren Ausdruck in vielen künstlerischen Werken und am dramatischsten in den jeweils die ganze Stadt überragenden Basiliken Sacré-Cœur77 in Paris, Notre-Dame de la Garde in Marseille und Notre-Dame de Fourvière in Lyon fand. Daraus folgte ein Revival der „christlichen Kunst“. Zudem ging es in Frankreich nicht nur um die Wiedereroberung einstmaliger Bastionen der katholischen Kirche, sondern auch aus einem entgegengesetzten Transzendierungsbedürfnis um die Heiligung der Wissenschaften, wie in Auguste Comtes „positivistischer Religion“.78 Auf der Seite der Laizisten sollte die Kunst der Erneuerung der Menschheit dienen, indem sie zum Kult und der Künstler zu dessen Priester würden, ein Konzept, das sehr ähnlich im Umkreis Durkheims durch die Kunstsoziologie Jean-Marie Guyaus empfohlen wurde.79 Nicht sei die Kunst um ihrer selbst willen da oder moder-
75 Vgl. auch Grewe, Painting (wie Anm. 74), S. 163 und S. 150ff. 76 Vgl. Michel Caffort, Les Nazaréens français. Théorie et pratique de la peinture religieuse au XIXe siècle, Rennes 2009, S. 13. 77 Vgl. zur Programmatik der Pariser Sacré-Cœur: Markus Dauss, Identitäts-Architekturen. Öffentliche Bauten des Historismus in Paris und Berlin (1871–1918), Dresden 2007. 78 Vgl. Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985, bes. S. 25–35. 79 Vgl. Jean-Marie Guyau, Die Kunst als soziologisches Phänomen [frz. zuerst 1889], Leipzig 1911.
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ner ausgedrückt: als selbstreferenzielles System,80 vielmehr müsse sie sich – wie es auch die Weimarer Klassiker forderten – mit den Überschreitungsformen des Schönen, Wahren und Guten vereinigen. Auch hier entstehen Bruderschaften wie 1839 und 1840 in Paris und Rom die Confrérie de Saint-Jean l’Évangéliste, die ihre Statuten in einem dominikanischen Konvent im italienischen Quercia verabschiedete.81 Und auch visuelle Typologien und Verkörperungen von Dualismen, wie die Nazarener sie entwarfen, wurden etwa von Victor Orsel übernommen, der als Vertreter der ‚Schule von Lyon‘ 1828 mit seiner Allegorie „Das Gute und das Böse“ an das von Pforr und Overbeck verwandte Schema einer Gegenüberstellung von Tugenden anknüpfte; letzterer schuf wiederum mit Bezug darauf sein Bild „Pietas und Vanitas“.82 Weitere Wirkungszusammenhänge zeigen sich auch bei Jean-Auguste-Dominique Ingres, Théodore Chassériau, Pierre Puvis de Chavannes und anderen, schließlich sogar ein Einfluss auf die Revolutionierung der Malerei durch die Schule von Barbizon oder die italienischen Macchiaioli. Auch die englischen (und französischen) Präraffaeliten knüpften in mancher Hinsicht an die religiöse Erneuerung der Künste in Rom an.83 Etwa stellten Dante Gabriel Rossetti, dessen kurzzeitiger Lehrer Ford Madox Brown mit dem Nazarenerkreis in Rom verkehrt hatte, und Edward Burne-Jones in dem von Nino Costa 1886 gegründeten Zirkel „In Arte Libertas“ (der die späterer venezianische Biennale vorwegnahm) gemeinsam mit deutschsprachigen und italienischen Künstlern, so auch mit Arnold Böcklin aus.84
80 Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995. 81 Vgl. Caffort, Nazaréens (wie Anm. 76), S. 21. 82 Vgl. Grewe, Painting (wie Anm. 74), S. 13. 83 Vgl. Maria Teresa Benedetti, „Il mito dell’Italia da Turner a Rosetti a Burne-Jones“, in: dies./ Stefania Frezzotti et al. (Hg.), Dante Gabriel Rossetti, Edward Burne-Jones e il mito dell’Italia nell’Inghilterra vittoriana (Ausst.-Katalog Galleria nazionale d’arte moderna 24.2.–12.6.2011), S. 8–37, bes. S. 13–16. 84 Vgl. Assunto, Specchio (wie Anm. 9), S. 110f.
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IV. Römische „Parallelaktionen“ IV.1 Einflussbeziehungen Die vielfach bestätigte These einer bis zur Gegnerschaft steigerbaren Unterschiedlichkeit der Kunstkonzeptionen von Franzosen und Deutschen und der daraus sich ergebenden Abgrenzungen auch im Sozialkontakt (cameratismo85) wird relativiert durch die Tatsache zahlreicher (von den Künstlern selbst oft jedoch verschwiegener) Kontakte und gegenseitiger stilistischer Einflüsse oder „Parallelaktionen“86 zwischen unterschiedlichen Nationen.87 Jede Grenzziehung organisiert das Verhältnis von Inklusion und Exklusion, ist zugleich aber immer auch mit Formen der Durchlässigkeit und einer Verbindung schaffenden Nähe verknüpft. Das zeigt sich auch an den Konstellationen des römischen Künstlerlebens. Auf den ersten Blick scheint es oft so, als seien die klassizistischen und von antiken Motiven ausgehenden Maler denjenigen in allem entgegengesetzt gewesen, die gerade im 18. und 19. Jahrhundert in Rom eine neuartige Landschaftsmalerei entwickelten. Jedoch sind die Übergänge vielfältig, gibt es die auf Nicolas Poussin, Gaspard Dughet oder Claude Lorrain zurückgehende ‚heroische Landschaft‘, die auch von deutschen Künstlern wie Anton Koch oder Johann Christian Reinhart durch die Schaffung von „Ideallandschaften“ aufgenommen und schließlich sogar von Böcklin fortgeführt wurde. Auch Winckelmanns „edle Einfalt und stille Größe“ findet durchaus eine anti-intellektualistische Entsprechung in Schlegels Bestreben nach einer „schlichten und naiven“, kindlich-gutmütigen „Einfalt und Beschränktheit“, die er „für den ursprünglichen Charakter der Menschen“ hält.88 Stellt man die romantisch-symbolische Malerei dagegen,
85 Stefano Susinno, zit. n. Barroero, „La Centralità di Roma“(wie Anm. 31), S. 19. 86 Allerdings bietet die von Thomas W. Gaehtgens begründete und von Andreas Beyer fortgesetzte Buchreihe des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris, „Passagen/ Passages“, einen systematischen Zugang zu den deutsch-französischen Kunstbeziehungen; vgl. vor allem France Nerlich (Hg.), La peinture française en Allemagne 1815–1870, Paris 2010; vgl. auch Isabelle Jansen (Hg.), Dialog und Differenzen. 1789–1870 deutsch-französische Kunstbeziehungen, Berlin 2010. 87 Insbesondere Stefano Susinno und seine Schüler haben die nationenüberschreitenden Kunstbeziehungen zu ihrem Thema gemacht; vgl. die von ihm geplante, dann aber durch seinen Tod von anderen realisierte Ausstellung „Maestà di Roma“ (wie Anm. 2). 88 Johann Joachim Winckelmann, Gedancken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, Friedrichstadt 1755, S. 24; vgl. auch Friedrich Schlegel,
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so zeigen sich durchaus auch dort Übergänge, insofern die Vergangenheit auch hier durch heilige (allerdings gotische) Ruinen andächtig vergegenwärtigt wird. Eine über die bloße Wiedergabe hinausgehende, unmittelbare Erfassung der Natur mittels eines autonomen künstlerischen Aktes wurde vor allem durch die (keineswegs auf die Deutschen beschränkte) Pleinair-Malerei gefördert, wie sie vor allem in den Sabinerbergen, etwa in Olevano Romano89, aber auch in Subiaco, entwickelt wurde. Dabei war die Natur mehr als bloße „Umwelt“, viel mehr Ergebnis eines Werdens, in dem sich das Geheimnis der Schöpfung offenbare. Am Ende solcher Transzendenzverschiebungen „ins Diesseits“ konnte es zur radikalen Autonomisierung der Künste kommen, die sich im Grenzfall visuell und institutionell nur noch auf sich selbst beziehen. Die Formel dafür heißt „l’art pour l’art“. Auch das hat noch eine heiligende Perspektive, insofern die provozierend wirkende Unverständlichkeit zum Zeichen einer Überschreitung der gegeben Welt, zumindest ihrer Schreib- und Sprachregelungen, bis hin zu einer selbstgeschaffenen Lebenssphäre wird. So war Rom nicht nur bedeutsam als exterritoriales Refugium90 und Ausbildungsort, vielmehr wurde es durch die Künstlerwanderung auch zum „unverzichtbaren Pol für die Verknüpfungen und Dialoge zwischen Paris, Wien, Sankt Petersburg und anderen Orten“, wie schon etwa Nikolai Wassiljewitsch Gogol dessen Ausstrahlung auf die gesamte europäische Kultur gepriesen hatte.91 Dieser europäische Wirkungszusammenhang wurde insbesondere durch die Ausbildung junger Künstler nicht nur in den Kunstakademien, sondern auch in den zahlreichen Privatakademien und Ateliers gefördert. Keineswegs nur die Stars der damaligen Kunstszene wie Jacques-Louis David, Horace Vernet (der in Rom während seines Direktorats in der Villa Medici überhaupt die wichtigste Vermittlungsperson zwischen den Nationen war) oder Thorvaldsen hatten zahlreiche Schüler aus den unterschiedlichsten europäischen Regionen. (Abb. 5) Das prägte die Übernahme inhaltlicher oder stilistischer Art und verbreitete Innovationen wie die malerische Übersetzung der im 18. Jahrhundert beginnenden
„Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst“, in: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. 4, hg. v. Ernst Behler et al., Paderborn/München/Wien 1959, S. 14. 89 Vgl. Domenico Riccardi, „Der Reiz der italienischen Landschaft. Deutsche romantische Künstler des frühen 19. Jahrhunderts in Olevano Romano und Umgebung“, in: ders. (Hg.), Gli artisti romantici tedeschi del primo Ottocento a Olevano Romano, Milano 1997, S. 12–67 [ital.-dt.]. 90 Vgl. auch Thimann, „Kunst und Künstler“ (wie Anm. 34), der ebenfalls von Exterritorialität spricht. 91 Vgl. Barroero, „La Centralità di Roma“ (wie Anm. 31), S. 18, und Fernando Mazzocca, „Il sistema delle arti“, in: Maestà (wie Anm. 2), S. 22.
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Faszination für die „rohe Natur“, etwa durch Darstellung schauervoller Gebirge, aber auch die Statuarik religiöser Szenen, den bühnenhaften Historismus oder die ganz neuen Naturauffassungen.
Abb. 5: Horace Vernet, Bildnis Bertel Thorvaldsen (mit der von ihm geschaffenen Büste Vernets), 1833 [Abbildungsnachweis: Metropolitan Museum of Art, New York. Accession No. 62.254]
IV.2 Geselliges Leben Auffällig ist die Isolation vieler ausländischer Künstler in Rom, auch die Ignoranz politischen Ereignissen und oft umstürzenden Veränderungen gegenüber.92 Den eigenen Zusammenhalt in dem fremden Umfeld suchte man in unterschiedlichen Vergemeinschaftungsformen, von geselligen Zusammenkünften bis hin zu Vereinen zur Förderung der eigenen Kunstproduktion, besonders durch Ausstellungen, und Künstlerhilfskassen. Eine der intellektuell-artistischen Möglichkeiten, einerseits die Isolation zu überwinden, andererseits jedoch eine Sonderwelt aufrecht
92 Bernd Roeck hat das in gleicher Weise für die ausländischen Dauergäste und gehobenen Kulturtouristen in Florenz beobachtet; vgl. ders., Florenz 1900. Die Suche nach Arkadien, München 2001.
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zu erhalten, war die Idee einer Künstlerrepublik.93 Schon einunddreißig Jahre vor der Französischen Revolution hatte der Kardinal Alessandro Albani an Winckelmann, der ihm einen Katalog über ägyptische Plastiken zusammengestellt hatte, geschrieben, es sei dies ein „gran servizio per la Repubblica letteraria“.94 Auch Mengs stellte sich in einem Brief an Nicolas Guibal die von einem „wirklich tugendhaftem Herrscher“ zu gründende Akademie in der „Struktur einer Republik“ vor.95 Solche Institutionalisierungsmetaphern, gerade auch in anti-institutionellen Lebensentwürfen, fanden aber auch vielfältige Entspannungsformen in der – bohèmienhaft besonders stilisierten – Geselligkeit. Die meisten der ausländischen Künstler lebten in dem Quartier zwischen der Piazza del Popolo und der Piazza Barberini, das sich seit dem 18. Jahrhundert zum „Quartiere degli Infedeli“96 entwickelt hatte und durch von der spanischen Botschaft beim Heiligen Stuhl beanspruchte Sonderrechte gewisse Freiräume in einer lebenspraktisch relevanten Exterritorialität in dem ohnehin als exterritorial erlebten Kirchenstaat bot.97 Hier auch fanden sich vielfältige Angebote an Hotels, Trattorien und Kaffeehäusern, am bekanntesten das Caffè Inglese als Haupttreff der internationalen Gelehrtengesellschaft, später das Caffè Greco. Nahe dem Tiber lag die durch Ludwig Catels Bild des bayerischen Kronprinzen berühmt gewordene spanische Weinschenke am Ripa Grande oder die römische Osteria La Gensola in Trastevere, die man vom Gemälde Ditlev Bluncks mit „Thorvaldsen und seinen Freunden“ kennt.98 Große Resonanz fanden nicht nur die aus langer Handwerker- und Studententradition entlehnten Rituale einer karnevalesken Verkehrung der gesellschaftlichen Rollen, wie die Begrüßungs- und Abschiedsinszenierungen an dem nach
93 Vgl. Ulrich Raulff (Hg.), Vom Künstlerstaat. Ästhetische und politische Utopien, München/ Wien 2006. 94 Vgl. die Abschrift des Albani-Briefes vom 18.11.1758 an Winckelmann im Nachlass von Friedrich Noack in der Bibliotheca Hertziana (Schachtel 13/24). 95 Zit. n. Steffi Roettgen, „Einführung“, in: dies. (Hg.), Mengs. Die Erfindung des Klassizismus (Ausst.-Katalog Palazzo Zabarella Padova 3.3.–11.6.2001/Staatliche Kunstsammlungen Dresden 23.6.–3.9.2001), Venezia/München 2001, S. 17–33, hier S. 27; vgl. auch dies., „Hofkunst“ (wie Anm. 41), S. 149–156. 96 Noack, Deutschtum I (wie Anm. 32), S. 368. 97 Vgl. Alessandra Anselmi, Il Palazzo dell’Ambasciata di Spagna presso la Santa Sede, o. O., o. J., S. 171–189. 98 Vgl. Ursula Peters, „Das Ideal der Gemeinschaft“, in: Gehard Bott/Heinz Spielmann (Hg.), Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770–1840). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde (Ausst.-Katalog Germanisches Nationalmuseum Nürnberg 1.12.1991– 1.3.1992), Nürnberg 1991, S. 157–187, sowie Noack, Deutschtum I (wie Anm. 32), S. 368.
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Norden gehenden Ponte Molle (der antiken Milvischen Brücke) oder die Feste bei den Cervara-Höhlen. Mit Scherzgedichten und einer Fülle als lustig empfundener Inititiationsriten wurde nicht nur die Ordnung karikiert, sondern kompensatorisch auch eine Ersatzautonomie für ein Leben in vielfach drückenden Abhängigkeiten, durch sozusagen vom Alltag befreiende Trivial-Transzendierungen geschaffen. (Abb. 6)
Abb. 6: Hieronymus Hess, Deutsche Künstlergesellschaft in Rom, 1823 [Abbildungsnachweis: Feder, aquarelliert. München, Stadtmuseum, Inv. Nr. VII a/407. Repro aus: Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770–1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde. [Ausstellungskatalog hg. v. Gerhard Bott und Heinz Spielmann] Nürnberg 1991, S. 423.]
Dem folgte allerdings eine Transformation in nationale Begeisterung (die oft auch eine religiöse Komponente hatte). Schon vor der Reichsgründung wollte die preußische Regierung durch die Übernahme des Protektorats für den deutschen Künstler-Verein (der sich aus der kosmopolitischeren Società degli amatori e de’ cultori delle belle arti abgespalten hatte) durch die preußische Gesandtschaft in Rom dazu beitragen, dort einen „Sammelpunkt deutschen Lebens“ zu schaffen,
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um den „vaterländischen Geist“ aufrechtzuerhalten.99 Aber bis zu einem, selbst religiös überhöhten Nationalismus war doch noch ein weiter Weg, weil das betont „Patriotische“ zum einen mit dem Leben in der Fremde zusammenhing, zum anderen noch lange republikanisch motiviert war, wenn man daran denkt, dass der kunstsinnige Ludwig I., einstmals als Kronprinz in dem demokratische Neigungen symbolisierenden „altdeutschen Rock“ unter den Künstlern in Rom geweilt hatte.100 Auch die Nazarener übernahmen bald patriotisch-vaterländische Transzendierungsformen. Nach dem Tod Franz Pforrs im Jahre 1812 und dem Sturz Napoleons wird – besonders bei Peter Cornelius – auch die neudeutsche Kunst der Lukasbrüder zunehmend mit einem nationalen Pathos verbunden, zumal man sich den bayerischen König herbeiphantasierte als einen jener mittelalterlichen Fürsten, welche immun gegen „Schmeicheleien und höfische Armseligkeiten“ gewesen seien.101 Jedenfalls wird aus einem Brief von Cornelius an Josef Görres vom 3. November 1814 deutlich, dass das religiöse Malprogramm auch der ersehnten nationalen Einheit dienen sollte, aber „aus dem mittelalterlichen Geist […], wodurch auch Gott auf eine neue Weise in Verbindung gebracht werden solle mit seinem Volke“.102 Erst schrittweise kam es nach der Formierung des durch den deutsch-französischen Krieg zusammengeschweißten deutschen Nationalstaates zu einer durch die neue Gottesgnadentums-Ideologie des Kaisers vermittelten Transzendenz, welche es erlaubte, die in den Tod geschickten feldgrauen Soldaten des Ersten Weltkrieges mit einem „Gott mit uns“ auszurüsten.
V. Transzendenzen als Perspektivierungen der Immanenz Das Wirken der ausländischen Künstler in Rom und die institutionellen Beziehungen, in denen ihr Leben und Arbeiten sich vollzog, zeigen wie in einem Brennglas die weit darüber hinausgehenden ästhetischen und politischen Spannungsla-
99 Vgl. Noack, Deutschtum I (wie Anm. 32), S. 637–648. 100 Vgl. zu dieser Protesthaltung auch Oswald, Künstler (wie Anm. 49), S. 265f., sowie Michael Thimann, „‚Der glücklichste kleine Freystaat von der Welt‘? Friedrich Overbeck und die Nazarener in Rom“, in: Raulff, Künstlerstaat (wie Anm. 93), S. 61–103. 101 Vgl. Oswald, „Deutsche Künstler in Rom“ (wie Anm. 49), S. 268. 102 Zit. n. Frank Büttner, „Il ciglo della fesci romagni degli nazareni“, in: Gli Nazareni a Roma (Ausst.-Katalog der Ausstellung in der Galeria Nationala d’Arte Moderna in Rom v. 22.01.– 22.03.1989), Roma 1981, S. 59–73, hier S. 59.
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gen, die paradoxerweise gerade dadurch, dass viele von ihnen sich diesen zu entziehen suchten, sichtbar werden. Rom bot als Rückzugsort (sogar während der vom revolutionären Frankreich diktierten Repubblica Italiana oder als ‚zweiter Hauptstadt‘ des napoleonischen Kaiserreiches) einen Raum für nationale Selbstabgrenzungen ebenso wie für ein Fülle von Kontakten und Einflussbeziehungen. Im Rahmen der Forschungen, die von der Frage nach der Herausbildung unterschiedlicher institutioneller Ordnungsformen durch die Schaffung von Transzendenzbezügen geleitet sind, bietet das Beispiel der Romkünstler deshalb reiches Material, insbesondere auch für die unterschiedlichen Dimensionierungen von Akten der Überschreitung – bis hin in die Sphäre des Göttlichen. Immer spielen Spannungen und Konkurrenzen um reale Durchsetzungschancen ebenso wie um Deutungen (und deren gegenseitige Verknüpfung) eine Rolle bei der Etablierung oder der Stabilisierung von Ordnungszusammenhängen. Aber die auf mehreren Ebenen sich realisierenden Bindungen und Entgegensetzungen sind aus der Perspektive einer herausgehobenen Minderheitengruppe, wie es die ausländischen Künstler am Tiber waren, besonders aufschlussreich für ein Verstehen damaliger gesellschaftlicher und künstlerischer Prozesse. Insbesondere auch zeigt sich durch das Zusammen- und Gegenspiel von historischen Rückgriffen, Reaktionen auf aktuellen Veränderungsdruck und dem merkwürdigen Distanzraum gegenüber dem alltäglichen Leben eine ambivalente Verknüpfung von Ordnungseinpassung und Autonomiegewinn – hier dargestellt am Verhältnis von Akademismus und freiem, oft bohèmienhaften Künstlertum. Zugleich spiegeln sich darin auch politische und mentale Differenzen zwischen unterschiedlichen europäischen Nationen, gerade weil die in Rom lebenden Ausländer sich von ihrem je eigenen Land in gewisser Weise dispensiert hatten. Das alleine schon bewirkte – trotz aller Schwierigkeiten für die Mehrheit von ihnen – ein Freiheitsund Glücksmoment, das zur Transzendierung der Künste als eigenmächtigem Handlungsbereich ebenso wie zu deren Bindung an höhere Mächte beizutragen vermochte. Was die religiöse, „große Transzendenz“ betrifft, war diese eng verbunden mit den Versuchen einer neuen Gemeinschaftsbildung. Max Weber hat in seiner Religionssoziologie, die in der Moderne zur Privatsache werdenden Glaubenssysteme deutlich unterschieden von einer ursprünglichen Brüderlichkeitsethik, wie sie auch für die Romantiker erstrebenswert gewesen war.103 Diese schuf auch die Verbindung mit den Jugendbewegungen in der neueren europäischen Geschichte, etwa zu in den nationalen Einigungsprozessen entstandenen
103 Vgl. Max Weber, „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung“, in: ders., Gesammelte Ausätze zur Religionssoziologie Bd. I, 5. Aufl., Tübingen 1963, S. 536–573, bes. S. 551–554.
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Gruppen wie „Giovane Italia“ oder „Junges Deutschland“ (beide 1835 gegründet) oder zur Jugendbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts. Das fand – nicht zu vergessen die faschistischen und kommunistischen Varianten104 – bis hin zur 1968er Revolte unterschiedlichste Fortsetzungen. Aber auch für die Kunstentwicklung im engeren Sinne ist die in ambivalenten sozialen und politischen Verhältnissen entwickelte Konstellation der Romkünstler von Bedeutung, denn programmatische Gegensatzspannungen sind immer wieder begleitet von gegenseitigen Übernahmen bis dahin noch unentdeckter oder abgelehnter Stilprinzipien oder Arbeitsweisen. Auch trug die selbst im Hohlraum mittelalterlicher Rückwärtsphantasien entwickelte neu-religiöse Malerei zur Autonomisierung der Künste Entscheidendes bei.
104 Vgl. Helmuth Plessner, „Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus“ [zuerst 1924], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, hg. v. Günther Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker, Frankfurt a.M. 1981, S. 7–133.
II. Ordnungen antiker und dynastischer Herrschaft – Transzendenzkaskaden
Martin Jehne, Fritz-Heiner Mutschler
Gemeinsinnsbehauptung, Gemeinsinnsmotivation und Transzendenzkonstruktion bei Cicero An den Iden des März 44 v. Chr. streckte Brutus nach der Ermordung Caesars seinen blutigen Dolch gegen den Himmel, rief laut: „Cicero“ und beglückwünschte den Kollegen zur Wiederherstellung der Freiheit.1 Dies ist insofern verwunderlich, als die Verschwörer Cicero in ihr Vorhaben nicht eingeweiht hatten. Plutarch schreibt dazu: „… die Männer waren besorgt sowohl wegen seines Charakters, dem der Wagemut fehlte, als auch wegen seines Alters, in dem auch bei den kräftigsten Naturen die Tatkraft nachläßt.“2 Das schloss nun aber offensichtlich nicht aus, dass Cicero dem bedeutendsten unter den Attentätern als die Verkörperung dessen gelten konnte, weswegen man den Dictator ermordet hatte: die Verkörperung der freien res publica, der Republik. Cicero selbst dürfte die symbolische Geste des Brutus problemlos nachvollzogen haben: Sie entsprach seinem Selbstverständnis. Bereits in der Dankesrede, die er 57 v. Chr. nach seiner Rückberufung aus dem Exil vor dem Senat hielt, hatte er davon gesprochen, dass mit ihm zusammen die res publica im Exil gewesen und nun zurückgekehrt sei,3 und in der Folgezeit wurde ihm die Identifikation seiner selbst mit der res publica zunehmend wichtig4. Dass ein Einzelner in dieser Weise mit dem Gemeinwesen zusammenzuwachsen glaubt und wenigstens einige diesen Anspruch akzeptieren, ist zweifellos ein bemerkenswerter Vorgang, dessen soziopolitischer Einbettung wir im Folgenden nachspüren werden. Hintergrund des Identifikationsakts ist die strikte Orientierung auf das Gemeinwesen und dessen Prosperität. Zunächst wollen wir daher zeigen, dass Cicero tatsächlich sein politisches Wirken durchgehend unter das Signum der Sorge um das Gemeinwohl stellte, und kurz diskutieren, welche Konflikte damit verbunden waren (I). Sodann wollen wir der Frage nachgehen, wie er andere zu gemeinsinnigem Handeln – und so meist dazu, ihm zu folgen – zu
1 Ciceros Anwesenheit ist nicht klar überliefert, vgl. immerhin Cicero, epistulae ad Atticum 14,14,4; Philippica 2,88f.; de divinatione 2,23. Brutus’ Geste: Cicero, Philippica 2,28; 30. 2 Plutarch, Cicero 42 (Übersetzung von Konrat Ziegler, Plutarch, Große Griechen und Römer, Bd. 4 (dtv 2071), München 1980, S. 298); vgl. Plutarch, Brutus 11. 3 Cicero, post reditum in senatu 34 und 36. 4 S. u. 114.
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bewegen suchte (II). Und schließlich wollen wir untersuchen, was als Motiv für seine eigene Gemeinwohlorientierung erschlossen werden kann (III). Die entscheidende Rolle spielt dabei der Ruhm, gerade auch in der Form des Nachruhms, und dabei handelt es sich zweifellos um eine Transzendenzgröße besonderer Art, bei der Eigenwohl und Gemeinschaftsbezug auf komplexe Weise miteinander verknüpft sind. Unser Material werden vor allem Ciceros Reden sein, wobei uns seine Rede Über den Oberbefehl des Pompeius als eine Art Leittext dienen wird, an dem sich vieles Wesentliche beobachten lässt. Zusätzlich werden wir vor allem Reden aus seinem Konsulatsjahr heranziehen sowie am Ende Reden aus seinen letzten Lebensjahren, als er noch einmal zum Sprachrohr der Republik wurde.
I. Cicero sprach Über den Oberbefehl des Pompeius im Jahr seiner Praetur 66 v. Chr.5 Es war Ciceros erste politische Rede im engeren Sinne, jedenfalls die erste Rede vor der Volksversammlung,6 und dass er erst als Praetor vor das Volk trat, war gemessen an den üblichen Karriereabläufen relativ spät. In der Sache ging es um ein weiteres außerordentliches Imperium für Pompeius, der, nachdem er in einer großangelegten und brillant durchgeführten Marineaktion im Jahr zuvor das Mittelmeer von Piraten gereinigt hatte,7 nun per Gesetz mit dem Oberbefehl im Krieg gegen Mithridates von Pontus am Schwarzen Meer betraut werden sollte. Die Gesamtlage war günstig für Ciceros Anliegen, den Antrag zu unterstützen: Pompeius war beim Volk bereits außerordentlich populär und die konservativen Gegner des Gesetzesantrags bei aller Dignität, die sie in die Wagschale zu werfen hatten, ohne wirkliche Aussicht, die Annahme des Gesetzes verhindern zu können. So konnte sich Cicero darauf beschränken, im ersten Teil der Rede in großer Klarheit und Übersichtlichkeit darzulegen, wieso es im Interesse des Gemeinwesens liege, Pompeius mit dem Oberbefehl zu betrauen, um danach im zweiten Teil den Vertretern der konservativen Gegenseite bei gleichzeitigem Aus-
5 Zur historischen Situation, in der die Rede gehalten wurde, vgl. etwa Robin Seager, Pompey. A Political Biography, Oxford 1979, S. 39–43. Zu Ciceros Rede z.B. Carl Joachim Classen, Recht – Rhetorik – Politik: Untersuchungen zu Ciceros rhetorischer Strategie, Darmstadt 1985, S. 268–303. 6 Cicero, de imperio Cn. Pompei 1f. 7 Vgl. zum großen Seeräuberimperium des Pompeius und zu dessen Bedeutung zuletzt Manuel Tröster, „Roman Hegemony and Non-State Violence: a Fresh Look at Pompey’s Campaign against the Pirates“, in: Greece & Rome 56 (2009), S. 14–33 (mit der früheren Literatur).
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druck hohen Respekts nachzuweisen, dass sie mit ihrem Bemühen, die Ablehnung des Antrags zu erwirken, auf einen Irrweg geraten seien. Interessant ist für uns, mit welchem Nachdruck Cicero am Ende seiner Rede die ausschließliche Orientierung auf das Gemeinwohl als Motiv seines Auftrittes reklamiert: Daher erkläre ich: wenn ich in dieser Angelegenheit etwas auf mich genommen habe, Quiriten, so habe ich es ausnahmslos für das Staatswohl (rei publicae causa) getan. Ich bin weit davon entfernt anzunehmen, dass ich mir irgendwelche Gunst und Freundschaft verschafft habe; im Gegenteil: ich bemerke, dass ich mir zahlreiche Feindschaften, teils versteckte, teils offene, zuzog, die für mich unnötig, für euch aber nicht ohne Nutzen sind. Doch ich, dem dieses hohe Amt, diese hohe Auszeichnung von eurer Seite zuteil wurde, ich habe es mir zur Pflicht gemacht, Quiriten, euren Willen und das Ansehen des Staates (rei publicae dignitatem) und die Wohlfahrt der Provinzen und Bundesgenossen (salutem provinciarum atque sociorum) für wichtiger zu halten als jeglichen eigenen Vorteil und alle Rücksicht auf mich selbst.8
Da sich solche Gemeinsinnsbehauptungen auch in anderen Ciceroreden finden,9 wird man wohl darauf schließen dürfen, dass sie zum Standardrepertoire Ciceros gehörten, und auch wenn uns vollständige Reden anderer Senatoren der späten römischen Republik nicht überliefert sind, so wird man doch weiter vermuten können, dass Cicero damit nicht alleine stand. Tatsächlich profiliert er ja die eigene Gemeinsinnigkeit gegen einen möglichen – und sicher begründeten – Verdacht, er könne bei seiner Rede an sein eigenes Wohl statt an das der res publica
8 Cicero, de imperio Cn. Pompei 71: „Quam ob rem, si quid in hac causa mihi susceptum est, Quirites, id ego omne me rei publicae causa suscepisse confirmo, tantumque abest ut aliquam mihi bonam gratiam quaesisse videar, ut multas me etiam simultates partim obscuras, partim apertas intellegam mihi non necessarias, vobis non inutiles suscepisse. Sed ego me hoc honore praeditum, tantis vestris beneficiis adfectum statui, Quirites, vestram voluntatem et rei publicae dignitatem et salutem provinciarum atque sociorum meis omnibus commodis et rationibus praeferre oportere.“ Die zitierte Übersetzung stammt von Manfred Fuhrmann, Cicero, Sämtliche Reden I–VII, Zürich/Stuttgart 1970–1982, hier: Reden I, S. 361. Vgl. dazu auch schon Martin Jehne, „Feeding the plebs with words. The significance of senatorial public oratory in the small world of Roman politics“, in: Catherine Steel/Henriette van der Blom/Catherine Steel (Hg.), Community and Communication. Oratory and Politics in Republican Rome, Oxford (im Druck), S. 61f. 9 Cicero, de lege agraria 2,20; 25; 103. Ciceros Gemeinsinnsbehauptungen sind aber keineswegs auf die Reden beschränkt. In den Proömien der philosophischen Schriften begegnen sie mit anderer Akzentuierung, nämlich der Betonung von Ciceros Beitrag zur intellektuellen Bildung seiner Mitbürger, insbesondere der römischen Jugend, aber in gleicher Häufigkeit. Vgl. hierzu Fritz-Heiner Mutschler, „Happiness, Life Models, and Social Order in Republican and Augustan Rome“, in: Symbolae Osloenses 86 (2011), S. 134–160, bes. S. 137f.; S. 140f.; S. 148–150.
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gedacht haben. Dass er seine Ausführungen gleich vorbeugend gegen den möglichen Vorwurf verteidigt, er könne hier seine Partikularinteressen verfolgen, zeigt sehr deutlich, dass das eine normale, sicherlich reichlich erfahrungsgesättigte Befürchtung der Zuhörer war, die von einem Redner einkalkuliert werden musste. Volksreden bewegten sich in Rom in einem Klima der potenziellen Konkurrenz, d.h. jeder Redner musste damit rechnen, dass ein anderer ihm widersprechen und dem Volk einen ganz anderen Vorschlag unterbreiten würde.10 Was konnte er also tun, um sich durchzusetzen? Und wie konnte sich das Volk entscheiden, wenn beide Redner gegensätzliche Empfehlungen gaben und gleichermaßen behaupteten, sie treibe nur die Sorge um das Gemeinwohl dazu, sich in dieser Frage in der geäußerten Weise zu engagieren? Die zitierte Ciceropassage zeigt schon ex negativo auf, dass eine der wesentlichen Durchsetzungsstrategien in der Desavouierung der Gemeinsinnsprätention des Gegners bestand, indem man ihm Eigensinn nachwies oder wenigstens unterstellte. Besser erkennbar ist diese Strategie in den Reden, die Cicero in seinem Consulatsjahr 63 v. Chr. gegen das Siedlungsgesetz hielt, das der Volkstribun P. Servilius Rullus vorgeschlagen hatte.11 Hier ging es Cicero darum, der römischen plebs, die Landverteilungen generell positiv gegenüberstand und auch davon zu profitieren hoffte, dieses Gesetz auszureden – alles andere als ein leichtes Unterfangen. Dass Cicero sein Ziel erreichte, verdankte er offenbar wesentlich seiner Argumentation, dass Rullus nicht das Wohl des Volkes, sondern die eigene Machterweiterung im Auge hatte, wollte er doch selbst in das Gremium eintreten, das die Landverteilung durchführen und dazu mit umfassenden Vollmachten ausgestattet werden sollte.12 Als sich Rullus gegen Ciceros Attacke offensiv zur Wehr setzte,
10 Vgl. zu den Volksreden in Rom die Listen der republikanischen contiones, also der Volksversammlungen, in denen Reden gehalten wurden, mit Hinweisen auf die jeweiligen Redner, soweit sie bekannt sind, von Francisco Pina Polo, Las contiones civiles y militares en Roma, Zaragoza 1989, S. 244–313 und Dominique Hiebel, Rôles institutionnel et politique de la contio sous la République romaine (287–49 av. J.-C.), Paris 2009, S. 395–453. 11 Vgl. zu Ciceros Reden de lege agraria und der historischen Lage etwa Andrew Drummond, „Tribunes and tribunician programs in 63 BC“, in: Athenaeum 87 (1999), S. 121–167; Francesca Fontanella, „La I orazione De lege agraria: Cicerone e il senato di fronte alla riforma di P. Servilio Rullo“, in: Athenaeum 93 (2005), S. 149–191; Keith Hopwood, „Smear and Spin: Ciceronian Tactics in De lege agraria II“, in: Joan Booth (Hg.), Cicero on Attack. Invective and subversion in the orations and beyond, Swansea 2007, S. 71–103; siehe auch Martin Jehne, „Blaming the people in front of the people: Restraint and outbursts of orators in Roman contiones“, in: Christopher Smith/Ralph Covino (Hg.), Praise and Blame in Roman Republican Rhetoric, Swansea 2011, S. 111–125, hier S. 113–116. 12 Rullus als Mitglied der Ansiedlungskommission: Cicero, de lege agraria 2,24. Wir können nicht überprüfen, ob Ciceros Anschuldigung zutreffend war, da wir für die Rekonstruktion
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indem er seinerseits Cicero bezichtigte, dieser wolle nur die Profiteure der sullanischen Konfiskationen schützen,13 schlug Cicero zurück: Er verkündete, Rullus sei in Wahrheit der perfide Beschützer der sullanischen Bürgerkriegsgewinnler, wie schon daraus zu ersehen sei, dass sein Schwiegervater, der unter Sulla auf anrüchige Weise sein Vermögen vervielfacht habe, unangetastet bleiben und mit weiteren großen Gewinnen versorgt werden solle.14 Am Ende gelang es Cicero offenbar, die Gemeinsinnigkeitsreputation des Rullus so gründlich in Zweifel zu ziehen, dass das Gesetz keine Chance mehr besaß.15 Aber der Erfolg war keineswegs ausgemacht. Wenn sich zwei Redner gegenseitig bezichtigten, der andere wolle gar nicht dem Gemeinwohl dienen sondern seinem eigenen Profit, wie sollte das Volk denn entscheiden, wem es glauben sollte? Das Vertrauen als die wichtige Ressource, mit der das eigene Nichtwissen überbrückt und zweifelnde Unsicherheit durch wohlige Gemeinschaftsbildung verdrängt werden kann, lässt sich ja nicht so einfach rhetorisch herbeizitieren, wenn zwei Konkurrenten gegen den jeweils anderen mit allen Mitteln Misstrauen zu säen suchen. Nun war Cicero dem Rullus wahrscheinlich rhetorisch überlegen und hatte als höherrangiger Senator schon eine gewisse Vertrauensstellung inne. Doch möglicherweise versetzte er Rullus mit seiner Behauptung, dieser habe sich selbst eine Machtposition im Organisationskomitee der Ansiedlungen sichern wollen, den entscheidenden Schlag, denn solch ein Vorwurf hatte die unangenehme Wirkung, dass er auch dann, wenn er unbewiesen blieb, durch heftiges
ganz auf die Reden Ciceros angewiesen sind – und Cicero hatte keinerlei Interesse, eine faire Darstellung der Absichten des Rullus zu geben. Für vage Anspielungen auf sinistre Hintermänner des Rullus vgl. Cicero, de lege agraria 1,11; 16; 22; 2,20; 23–5; 46; 65; 98. 13 Cicero, de lege agraria 3,3. Die Anspielungen und Unterstellungen Ciceros bezüglich der sullanischen possessores wurden kritisch analysiert von Andrew Drummond, „Rullus and Sullan Possessores“, in: Klio 82 (2000), S. 126–153. 14 Cicero, de lege agraria 1,14; 2,69; 3,3; 13f. Zu Valgus, dem Schwiegervater des Rullus, der wohl mit dem großen Spender in Pompeii, C. Quinctius Valgus, identifiziert warden kann, vgl. Paul B. Harvey, „Socer Valgus, Valgii, and C. Quinctius Valgus“, in: Eugene N. Borza/Robert W. Carrubba (Hg.), Classics and the Classical Tradition: Essays Presented to Robert E. Dengler on the Occasion of his Eightieth Birthday, Pennsylvania State University 1973, S. 79–94. 15 Die Vorlage des Rullus wurde nie zu seinem Gesetz. Woran das letztlich lag, ist uns nicht klar überliefert. Nach Cicero, Pro P. Sulla 65 drohte zu irgendeinem Zeitpunkt der Volkstribun Caecilius, ein Kollege des Rullus, seine Intercession gegen dessen Gesetzesvorschlag an, doch hören wir nichts über eine tatsächliche Intercession, also die Ausübung des tribunicischen Vetorechts. Henrik Mouritsen, Plebs and Politics in the Late Roman Republic, Cambridge 2001, S. 54f., 63, 69, vermutet, die Intercessionsdrohung des Caecilius sei der Grund gewesen, warum Rullus das Gesetz zurückzog, doch bleibt es letztlich ungewiss, woran es genau lag, dass Rullus das Gesetz nicht durchbrachte.
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Dementieren nicht mehr aus der Welt zu schaffen war. Für die Durchschlagskraft dieser perfiden Taktik Ciceros spricht immerhin, dass Caesar wenige Jahre später, als er ein neues Siedlungsgesetz auf den Weg bringen wollte, als erstes betonte, er selbst wolle als Antragsteller auf keinen Fall davon profitieren und werde daher nicht in der Verteilungskommission mitarbeiten.16 Doch grundsätzlich war es ausgesprochen schwierig, in der ständigen Konkurrenzsituation vor der römischen Volksversammlung den Gemeinsinnigkeitsstreit gegen den Gegner zu gewinnen. Und das Volk sah sich ständig der unangenehmen Notwendigkeit gegenüber, den von der Gegenseite attackierten Gemeinsinnsbehauptungen seiner Redner Glauben zu schenken oder auch nicht, ohne dass es ordentliche Kriterien dafür gab. In solchen Verhältnissen konnten Autoritätshierarchien einen Ausweg bieten. Als im Jahre 138 der Volkstribun C. Curatius bei bedrohlich steigenden Getreidepreisen in der Stadt eine Subventionierung aus der Staatskasse erreichen wollte, brachte er die beiden Consuln vor die Volksversammlung und wollte sie dazu veranlassen, einen Senatsbeschluss über Zusatzkäufe zu beantragen. Doch der Consul Scipio Nasica reagierte unerwartet und sagte dem fordernden Volk: „Schweigt, Bürger, ich weiß besser als ihr, was gut ist für die res publica.“ Tatsächlich wurde es daraufhin ruhig, und das Projekt wurde offenbar fallen gelassen.17 Die auctoritas des Scipio Nasica, so sagt ausdrücklich unsere Quelle, ging dem Volk über die eigene Versorgung.18 Hier setzte sich der Consul, ein selbstbewusster Patricier aus bester Familie, gegen einen Tribunen durch, offenbar weil das Volk dem Scipio Nasica so viel Vertrauen entgegenbrachte, dass es seine behauptete Gemeinsinnigkeit akzeptierte und gleichzeitig sein überlegenes Sachwissen anerkannte. Dagegen hatte der Tribun nichts zu bestellen. Der Wettbewerb war entschieden durch überlegene Autorität, akzeptierte Behauptung von Gemeinsinnigkeit und einen Schuss Arroganz, der offenbar Respekt einflößte.19
16 Cassius Dio 38,2,6f. 17 Valerius Maximus 3,7,3: „‚tacete, quaeso, Quirites‘, inquit: ‚plus ego enim quam vos quid rei publicae expediat intellego.‘ qua voce audita omnes pleno venerationis silentio maiorem auctoritatis eius quam suorum alimentorum respectum egerunt.“ Vgl. zu der Episode etwa Karl-Joachim Hölkeskamp, „Oratoris maxima scaena: Reden vor dem Volk in der politischen Kultur der Republik“ (1995), in: ders., Senatus populusque Romanus. Die politische Kultur der Republik – Dimensionen und Deutungen, Stuttgart 2004, S. 219–256, hier S. 246f.; Jehne, „Blaming the people“ (wie Anm. 11), S. 111f. 18 Siehe oben Anm. 17. 19 Bezeichnend ist, dass Valerius Maximus die Episode um Scipio Nasica in seiner exemplaSammlung unter der Rubrik De fiducia, also: Über Selbstbewusstsein, verzeichnet.
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Auch wenn Cicero als Newcomer nicht den Prestigehintergrund eines Scipio Nasica aufzuweisen hatte, so war er dennoch darauf aus, sich vor dem Volk ebenso wie vor den anderen Adressaten römischer Redner, vor allem dem Senat, als Vertreter der salus rei publicae zu profilieren. Dazu musste er sich meistens gegen Konkurrenz behaupten, und folglich war die Diskreditierung der Gemeinsinnigkeit der Gegner ebenso fester Bestandteil seines Rednerrepertoires.
II. Im zweiten Schritt ist nun zu fragen, wie es denn auf der Seite der Adressaten solcher Empfehlungen aussah. Warum reagierten sie auf Gemeinsinnsbehauptungen positiv, inwieweit ließen sie sich selbst davon leiten, wie wurde ihnen eigentlich begründet, dass Partikularinteressen, also vor allem ihre eigenen, zurückzustehen hatten? War das Gemeinwohl auch für sie – wie Cicero es für sich selbst vorgibt – ein oberster Wert, dem sie ihre persönlichen Interessen ohne weiteres unterzuordnen bereit waren, oder mussten sie zum gemeinsinnigen Verhalten erst motiviert werden? Unsere Antwort läuft auf ein „Sowohl als auch“ hinaus. Einerseits scheint das Gemeinwohl in Rom einen erstaunlich hohen Eigenwert besessen zu haben – es war gewissermaßen eine unhinterfragte Transzendenzgröße –, andererseits nützt der Redner Cicero gleichwohl mehrere Möglichkeiten, Appelle an den Gemeinsinn seiner Adressaten durch Bezugnahme auf andere Instanzen ergänzend zu unterstützen. Dass dem Gemeinwohl in Rom ein hoher Eigenwert zuerkannt wurde, lässt sich nicht nur aus Ciceros ständiger Betonung seines eigenen Gemeinsinns erschließen, sondern geht auch aus den zahlreichen Stellen hervor, an denen er ohne weitere Begründung an die Verantwortung der Angesprochenen für das große Ganze appelliert und sie auffordert, ihre Entscheidung am Gemeinwohl zu orientieren. So spricht er zu Beginn des Hauptteils der Rede Über den Oberbefehl des Pompeius davon, dass der Krieg im Osten von der Art sei, dass er bei den Bürgern die unbedingte Entschlossenheit, ihn durchzuführen, entflammen müsse: es gehe um den „Ruhm des römischen Volkes“; es gehe um „das Heil der Bundesgenossen und Freunde“; es gehe um „Steuereinkünfte des römischen Volkes“, die als Rückhalt des Friedens und Hilfsmittel des Krieges wichtig seien; es gehe um das „Hab und Gut vieler Bürger“, denen um ihret- und des Staates willen geholfen werden müsse.20 Das Volk, an das sich diese Rede ja richtet, wird
20 Cicero, de imperio Cn. Pompei 6: „Genus est eius belli quod maxime vestros animos excitare atque inflammare ad persequendi studium debeat. In quo agitur populi Romani gloria
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hier durchaus schmeichelhaft in die Verantwortung für Staat und Reich einbezogen und darauf eingeschworen, sich bei seiner Entscheidung das Wohl der res publica als ganzer vor Augen zu halten und seine Entscheidung an diesem auszurichten. Diese Art von Appell erfolgt auch in anderen Reden vor dem Volk und natürlich auch in Reden im Senat, dem als dem entscheidenden Leitungsgremium des Staates mit gutem Recht Gemeinsinn unterstellt und zugemutet werden kann. Der Behauptung des eigenen Gemeinsinns durch Cicero entspricht also immer wieder die an die Adressaten gerichtete Aufforderung zu gemeinsinnigem Verhalten. Der erfahrene Redner Cicero muss an eine gewisse Wirksamkeit solcher Appelle geglaubt haben, sonst hätte er sich ihrer nicht in dieser Regelmäßigkeit bedient. Wir können also in Rom eine quer durch die Schichten verbreitete, nicht begründungsbedürftige Anerkennung des Gemeinwohls als einer zentralen handlungsorientierenden Größe diagnostizieren. Wie lässt sich dies erklären? Zumindest ein Grund dafür dürfte der außerordentliche Erfolg der römischen res publica gewesen sein. Sie setzte sich immer wieder in unzähligen Kriegen durch, so dass sich der römische Machtbereich in kontinuierlicher Ausdehnung zum Weltreich entwickelte. Dieser kaum bestreitbare äußere Erfolg der res publica musste der Identifikation mit ihr und der Bereitschaft, sich im Sinne einer Fortsetzung ihres Erfolgs zu engagieren, förderlich sein. Gleichwohl – und dies wollen wir nun etwas genauer zu verfolgen – begnügt sich Cicero nicht ausschließlich mit der schlichten Evokation des Gemeinwohls und dem einfachen Appell an den Gemeinsinn. Vielmehr versucht er des Öfteren, diesen Appell durch zusätzliche Argumente zu intensivieren.
quae vobis a maioribus cum magna in omnibus rebus tum summa in re militari tradita est; agitur salus sociorum atque amicorum pro qua multa maiores vestri magna et gravia bella gesserunt; aguntur certissima populi Romani vectigalia et maxima quibus amissis et pacis ornamenta et subsidia belli requiretis; aguntur bona multorum civium quibus est a vobis et ipsorum causa et rei publicae consulendum.“ Übersetzung Fuhrmann, Cicero, Reden I (wie Anm. 8), S. 331: „Der Krieg ist so beschaffen, dass er in höchstem Grade eure Entschlossenheit, ihn durchzufechten, erwecken und entflammen muß. Es geht dabei um den Ruhm des römischen Volkes, der euch, in allem bedeutend, doch am bedeutendsten im Kriegswesen, von den Vorfahren hinterlassen wurde; es geht um das Heil der Bundesgenossen und Freunde, für das eure Vorfahren zahlreiche große und schwere Kriege geführt haben; es geht um die sichersten und größten Steuereinkünfte des römischen Volkes, deren Verlust euch den Rückhalt des Friedens und die Hilfsmittel des Krieges vermissen ließe; es geht um das Hab und Gut vieler Bürger, denen ihr um ihret- und des Staates willen helfen müßt.“
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Eines davon ist die relativ banale Identifizierung des Gemeinwohls mit den Partikularinteressen von Einzelnen oder Gruppen. Als realistischer Psychagoge verzichtet Cicero nicht darauf, da, wo dies mit Überzeugungskraft möglich ist, klarzustellen, dass die Verfolgung des Gemeinwohls auch dem Eigenwohl der Angesprochenen dient, sei es dass dieses jenes voraussetzt, sei es dass es mit ihm Hand in Hand geht. Die Verbindung von Eigenwohl und Gemeinwohl ist besonders in einer die Existenz des Staates bedrohenden Krise gegeben. So ist es nur natürlich, dass Cicero in der zumindest aus seiner Sicht potenziell fatalen Krise der Catilinarischen Verschwörung etwa zu Beginn seiner Rede vom 5. Dezember 63 den Senatoren ans Herz legt, „für das Vaterland zu sorgen“, ihre „Frauen, Kinder und Vermögen zu schützen“, „Ansehen und Heil des römischen Volkes zu verteidigen“.21 Die Rede schließt mit einem ganz ähnlich lautenden Appell: Entscheidet daher mit Umsicht und Tatkraft, wie ihr begonnen habt, über euer und des römischen Volkes gesamtes Wohl (de summa salute vestra populique Romani), über eure Frauen und Kinder, über Herd und Altar, über Tempel und Heiligtümer, über die Häuser und Zinnen der ganzen Stadt, über Herrschaftsmacht und Freiheit, über das Heil Italiens, über das gesamte Staatswesen (de universa republica).22
Aufs Ganze gesehen findet sich das Argument der Koinzidenz von Gemeinwohl und Partikularwohl in Ciceros Reden allerdings seltener, als man erwarten würde. Wichtiger sind zwei andere Bezugnahmen: auf Tradition und auf Religion abstrakt, auf die Ahnen, maiores, und auf die Götter konkret gesagt. Dabei werden sowohl die Ahnen als auch die Götter in engster Beziehung zur res publica gesehen, so dass die Bezugnahme auf sie den Gemeinsinnsappell nicht wirklich neu fundiert. Vielmehr bemüht sich der Redner, seine Deutung, wie das Gemeinwohl zu fördern sei, durch den Rekurs auf die transzendenten Hintergrundsinstanzen gegen die Kritik der Konkurrenten zu immunisieren. Typisch ist eine Stelle, die bereits angesprochen wurde, der Beginn des Hauptteils der Rede Über den Oberbefehl des Pompeius, an dem es um die Art des Krieges geht und die daraus erwachsende Verpflichtung, ihn zu führen. Mehrfach spricht Cicero hier von den Vorfahren. Sie haben den Kriegsruhm hinterlassen, den es zu bewahren und zu mehren gilt; Sie haben schwere Kriege für das
21 Cicero, in Catilinam 4,3: „Qua re, patres conscripti, consulite vobis, prospicite patriae, conservate vos, coniuges, liberos fortunasque vestras, populi Romani nomen salutemque defendite.“ Übersetzung Fuhrmann, Cicero, Reden II (wie Anm. 8), S. 277. 22 Cicero, in Catilinam 4,24: „Quapropter de summa salute vestra populique Romani, de vestris coniugibus ac liberis, de aris ac focis, de fanis atque templis, de totius urbis tectis ac sedibus, de imperio ac libertate, de salute Italiae, de universa re publica decernite diligenter, ut instituistis, ac fortiter.“ Übersetzung Fuhrmann, Cicero, Reden II (wie Anm. 8), S. 289.
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Heil der Bundesgenossen und Freunde geführt, die auch jetzt verteidigt werden müssen,23 usw. Das heißt, die Vorfahren haben die Orientierung auf das Wohl der res publica und – in diesem Fall auch – des imperium in einer bestimmten Weise vorgegeben, die es nun nachzuahmen gilt. Der Appell zum Gemeinsinn erhält durch die Bezugnahme auf die maiores besonderen Nachdruck. Die maiores sind diejenigen, die Rom zu dem gemacht haben, was es ist. Ihnen ist die Größe und Macht der res publica zu verdanken. Ihnen zu folgen, ist Verpflichtung und bedeutet, dem Heil des Gemeinwesens in vorbildlicher Weise zu dienen. Eine vergleichbare Rolle wie die Bezugnahme auf die maiores spielt die Bezugnahme auf die Götter, die immer wieder in enger Verbindung mit der res publica erscheinen und die Verpflichtung, das eigene Verhalten auf deren Wohl auszurichten, nun auch noch religiös aufladen. Die Frequenz dieser Bezugnahme ist in den verschiedenen Reden und in den verschiedenen Partien einzelner Reden unterschiedlich. So bleiben die Götter in der Rede Über den Oberbefehl des Pompeius über weite Strecken außer Betracht. Doch in dem Augenblick, in dem Cicero seine zu Beginn des Vortrags zitierte Gemeinsinnserklärung abgibt, bringt er sie dezidiert ins Spiel, und zwar als beschworene Garanten seiner Gemeinsinnigkeit: Und ich versichere bei allen Göttern, bei denen zumal, die diese geweihte Stätte beschützen, die am besten die Gesinnung aller Sachwalter des Staates durchschauen: ich tue dies nicht, um jemandem zu willfahren, noch weil ich glaube, ich könne aus diesem Anlaß die Gunst des Cn. Pompeius gewinnen, noch weil ich darauf bedacht wäre, mir durch den Einfluß einer angesehenen Persönlichkeit Schutz gegen Bedrängnisse und Unterstützung für Ämter zu verschaffen. […] Daher erkläre ich: wenn ich in dieser Angelegenheit etwas auf mich genommen habe, Quiriten, so habe ich es ausnahmslos für das Staatswohl getan.24
Cicero beansprucht, Gemeinsinn in vorbildlicher Weise zu verkörpern. Zur Beglaubigung der Rechtmäßigkeit dieses Anspruchs sind die Götter die geeignete Instanz, weil sie den Lügner durchschauen würden und für die Lauterkeit von Ciceros Gemeinsinnsbehauptung bürgen können.
23 Cicero, de imperio Cn. Pompei 6 (s.o. Anm. 20). 24 Cicero, de imperio Cn. Pompei 70f.: „[…] testorque omnis deos, et eos maxime qui huic loco temploque praesident, qui omnium mentis eorum qui ad rem publicam adeunt maxime perspiciunt, me hoc neque rogatu facere cuiusquam, neque quo Cn. Pompei gratiam mihi per hanc causam conciliari putem, neque quo mihi ex cuiusquam amplitudine aut praesidia periculis aut adiumenta honoribus quaeram, […] Quam ob rem, si quid in hac causa mihi susceptum est, Quirites, id ego omne me rei publicae causa suscepisse confirmo,[ …].“ Übersetzung von Fuhrmann, Cicero, Reden II (wie Anm. 8), S. 360f.
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In den in einer viel angespannteren Lage gehaltenen Catilinarischen Reden ist der Rekurs auf die Götter deutlich häufiger. Sie begegnen als diejenigen, die die Stadt und den Staat geschützt haben und jetzt – zusammen mit Cicero – schützen, aber auch als diejenigen, deren Tempel im Herzen der Stadt stehen und jetzt zusammen mit den Häusern der Bürger vor den Angriffen der Verschwörer geschützt werden müssen. Catilinas Unterfangen erhält so den Charakter eines religiösen Frevels, Ciceros Verteidigung den einer religiösen Großtat, die Unterstützung des Consuls durch Volk und Senat den einer religiösen Pflicht.25 Die meisten Passagen, in denen Cicero die Götter ins Spiel bringt, funktionieren so oder ähnlich. Die Transzendenz, um die es geht, ist keine sehr weit abgehobene, man könnte auch sagen: keine sehr transzendente. Wie die maiores sind auch die Götter dem Gemeinwesen eng verbunden, fast ein Teil von ihm. Allerdings sind sie mit besonderer Macht ausgestattet und deswegen mit besonderem Respekt zu behandeln. Ihre Evokation ist geeignet, den Anspruch auf gemeinsinniges Verhalten, den die res publica an die Bürger stellt und den die Bezugnahme auf die maiores unterstreicht, noch einmal zu intensivieren. Fassen wir das bisher Dargelegte knapp zusammen. 1. Cicero präsentiert sich in seinen Reden durchgehend als der inkarnierte Gemeinsinn, d.h. als jemand, dessen Tun und Trachten ohne Rücksichtnahme auf das eigene Wohl ausschließlich auf das Gemeinwohl, die salus publica, ausgerichtet ist. 2. Da seine Gegner vergleichbare Strategien verfolgten, ist er in jedem konkreten Einzelfall darauf angewiesen – und nach dem, was wir wissen, häufig auch in der Lage –, sich gegen sie durch die Diskreditierung ihrer Gemeinsinnsbehauptungen und die erfolgreiche Reklamierung überlegener Kompetenz und Autorität durchzusetzen. 3. Dass das Gemeinwohl in Rom einen hohen Eigenwert besaß, zeigt sich des weiteren daran, dass sich Cicero, um seine Adressaten – ob in Volksversammlung oder Senat – zu der von ihm gewünschten Entscheidung zu bewegen, häufig darum bemüht, ihren Gemeinsinn zu mobilisieren. Die potenzielle Wirksamkeit eines solchen Aufrufs ist ihm nicht zweifelhaft. An Gemeinsinn kann appelliert, seine Notwendigkeit muss prinzipiell nicht begründet werden. 4. Nichtsdestoweniger verweist Cicero des Öfteren auf die Verbindung von Partikularwohl und Gemeinwohl, und in entscheidenden Partien seiner Reden nimmt er auf die maiores und die Götter, und damit auf eng mit der res publica verknüpfte Transzendenzen, Bezug und verleiht seinen Gemeinsinnsappellen dadurch besondere Intensität.
25 Cicero, in Catilinam 1,12; 2,19; 29; 3,1f.; 18; 21; 4,3; 18; 20.
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III. Allerdings ist damit das Bild des ciceronianischen Gemeinsinnsdiskurses noch nicht vollständig. Es fehlt ein wichtiges Element der Gemeinsinnsmotivation sowohl anderer als auch Ciceros selbst, der Verweis auf den Ruhm.26 Die letzte uns erhaltene öffentliche Äußerung Ciceros, die 14. Philippische Rede, kann verdeutlichen, worum es geht. Zielpunkt der Rede ist der Antrag Ciceros auf die Abhaltung eines fünfzigtägigen Dankfestes durch die erfolgreichen Feldherrn, die im April 43 v. Chr. in der ersten Schlacht in der Nähe von Mutina gegen Antonius und seine Anhänger einen Sieg errungen haben,27 und auf die Errichtung eines großen Denkmals für die Soldaten, die beim Kampf gegen die Truppen des Antonius gefallen sind.28 Auch wenn das Dankfest für den Sieg, das besonders mit den Feldherrn verknüpft ist, eine bisher erst einmal erlebte Länge haben sollte,29 ist es doch eine vorübergehende Ehrung, während das Denkmal von Dauer ist.30 Dementsprechend feiert Cicero die Soldaten als „heilige Krieger“31 und preist ihre „Verdienste um das Vaterland“32, will „allen denen, die für das Leben, die Freiheit, das Hab und Gut des römischen Volkes sowie für diese Stadt
26 Zum lateinischen Wortfeld ‚Ruhm‘ vgl. jetzt Jean-François Thomas, Gloria et laus: étude sémantique, Louvain 2002, wo das gesamte Belegmaterial einer – allerdings im engen Sinn linguistischen – Analyse unterzogen wird. Von der früheren Literatur immer noch lesenswert Ulrich Knoche, „Der römische Ruhmesgedanke“, in: Philologus 89 (1934), S. 102–124, dann auch in ders., Vom Selbstverständnis der Römer, Heidelberg 1962, S. 13–30 (wonach wir zitieren). 27 Also die Consuln A. Hirtus und C. Vibius Pansa und der Caesarerbe Octavian, der pro praetore kommandierte. Zu den Ereignissen und ihren Konsequenzen vgl. z.B. Ulrich Gotter, Der Diktator ist tot! Politik in Rom zwischen den Iden des März und der Begründung des Zweiten Triumvirats, (Historia Einzelschriften 110), Stuttgart 1996, S. 173–192. 28 Zu dem Denkmal: Cicero, Philippica 14,31; 33–35; 38. 29 Die 50 Tage waren zuvor nur Caesar 45 nach seinem Sieg in Spanien vom Senat gewährt worden (Cassius Dio 43,42,2), vgl. zu der inflationären Entwicklung bei der Länge der supplicationes der Republik Léon Halkin, La supplication d’action de grâce chez les Romains, Paris 1953, bes. S. 105–107. Cicero betont allerdings im Rahmen der von ihm vorgeschlagenen Erhöhung der Tageszahl des Dankfests, es sei ja schließlich auch für drei Kommandeure und nicht nur, wie üblich, für einen (Cicero, Philippica 14,11; vgl. 29). 30 Betont von Cicero, Philippica 14,33: „[…] nunc vero sanctissimi milites, quod vestra virtus neque oblivione eorum qui nunc sunt nec reticentia posterorum sepulta esse poterit, cum vobis immortale monumentum suis paene manibus senatus populusque Romanus exstruerit.“ 31 Cicero, Philippica 14,33: „sanctissimi milites“ (zum Kontext s.o. Anm. 30). 32 Cicero, Philippica 14,31: „in rem publicam huius merita legionis.“ Dies ist hier auf die stets besonders hervorgehobene legio Martia bezogen, doch wird kurz danach der legio quarta ein „gleichwertiger Ruhm der Tapferkeit wegen“ zugeschrieben (14,31: „parem virtutis gloriam“).
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und die Tempel der unsterblichen Götter ihr Blut vergossen“ haben, ein großes Monument errichten lassen33 und ihnen so zu „ewigem Ruhm“34 verhelfen. Der Einsatz für das Gemeinwesen kann im äußersten Fall das eigene Leben kosten, doch hält er dafür den Ruhm, die ehrende Erinnerung durch die res publica, und damit eine Form der Unsterblichkeit bereit. Die Vorstellung vom Ruhm als der entscheidenden Gratifikation für im Handeln verwirklichten Gemeinsinn begegnet bei Cicero aber nicht erst in der dramatischen Situation des April 43 mit Bezug auf gefallene Soldaten, sie ist vielmehr schon früh und insbesondere seit seinem Konsulat 63 von zentraler Bedeutung für ihn selbst. Ihren pathetischsten Ausdruck hat sie in einer Rede gefunden, in der Cicero – nach Exil und Rückkehr aus dem Exil – im Jahre 56 sein politisches Credo artikuliert. Gegen Ende der Rede für Sestius heißt es da: Wir wollen unser Vaterland lieben, dem Senat gehorchen und den Rechtschaffenen helfen; wir wollen die Vorteile des Augenblicks geringschätzen und dem Ruhme bei der Nachwelt dienen; wir wollen das für das Beste halten, was von der Sache her das Richtigste ist; wir wollen auf das hoffen, was wir uns wünschen, jedoch ertragen, was immer eintreten mag; wir wollen schließlich bedenken, dass die leibliche Hülle der tapferen und großen Männer sterblich, das Streben ihres Geistes und der Ruhm ihrer Tüchtigkeit jedoch ewig sind. Und wenn wir sehen, dass diese Auffassung im Falle des verehrungswürdigen Herkules unumstößliche Geltung erlangt hat (von ihm heißt es ja, dass sein Leib verbrannt, sein Leben und sein Heldentum jedoch in die Unsterblichkeit eingegangen sei), dann wollen wir glauben, dass ebenso auch diejenigen, die diesen mächtigen Staat durch ihre Entschlüsse oder Anstrengungen vergrößert, verteidigt oder gerettet haben, unsterblichen Ruhm erlangen werden.35
33 Cicero, Philippica 14,38: „[…] eis qui sanguinem pro vita, libertate, fortunis populi Romani, pro urbe, templis deorum immortalium profudissent […].“ Übersetzung Fuhrmann, Cicero, Reden VII (wie Anm. 8), S. 451. Eine fast wörtlich identische Passage findet sich in § 37, dort aber bezogen auf die Feldherrn: „[…] rem publicam, urbem, templa deorum immortalium, bona fortunasque omnium liberosque conservarint dimicatione et periculo vitae suae, […].“ 34 Cicero, Philippica 14,31: „gloriam sempiternam“; 38: „ad memoriam posteritatis sempiternam.“ 35 Cicero, pro Sestio 143: „Amemus patriam, pareamus senatui, consulamus bonis; praesentis fructus neglegamus, posteritatis gloriae serviamus; id esse optimum putemus quod erit rectissimum; speremus quae volumus, sed quod acciderit feramus; cogitemus denique corpus virorum fortium magnorum hominum esse mortale, animi vero motus et virtutis gloriam sempiternam; neque hanc opinionem si in illo sanctissimo Hercule consecratam videmus, cuius corpore ambusto vitam eius et virtutem immortalitas excepisse dicatur, minus existimemus eos qui hanc tantam rem publicam suis consiliis aut laboribus aut auxerint aut defenderint aut servarint esse immortalem gloriam consecutos.“ Übersetzung Fuhrmann, Cicero, Reden V (wie Anm. 8), S. 374f.
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Der Nutznießer der Leistungen des guten Politikers und die Instanz für deren Anerkennung sind identisch: Für die res publica ist ein Cicero rastlos und ohne Rücksicht auf sich selbst tätig, und von der res publica erhoffte er seinen Lohn in Form von bleibender Anerkennung und Ruhm. Dieser doppelte res-publica-Bezug des Ruhms – als Belohnung von Leistungen für die res publica durch die res publica – ist auch der Schlüssel zu Ciceros bemerkenswertem Versuch, im Jahre 46 in einer Dankesrede für die Begnadigung des eingefleischten Republikaners Marcellus den Dictator Caesar auf die Wiederherstellung der republikanischen Ordnung festzulegen. Cicero setzt an bei einem Ausspruch Caesars, er habe sowohl für die Natur als auch für seinen Ruhm genug gelebt. Dies gesteht ihm Cicero zwar zu, verweist aber darauf, dass dies in keiner Weise für das Vaterland (patriae) gelte, das über allem anderen stehe (maximum).36 Sodann packt er Caesar mit dem Argument, für das dieser besonders empfänglich ist: „Doch wie, wenn du nicht einmal für deinen Ruhm lange genug gelebt hast? Denn dass du hierauf ganz versessen bist – bei all deiner Weisheit – kannst du nicht leugnen.“37 Cicero begründet diese These in bezeichnender Weise, indem er zwischen Bewunderung und wahrem Ruhm unterscheidet38 und letzteren allein für praktizierten Gemeinsinn verheißt. Caesar werde zwar mit allem bisher Geleisteten, insbesondere mit seinen militärischen Erfolgen, immer Bewunderung (admiratio) finden, aber Ruhm (gloria) erfordere Verdienste (merita) gegenüber Bürgern (cives) oder dem Vaterland (patria) oder sogar der gesamten Menschheit (omne genus hominum).39 Was als entscheidende Aufgabe bleibe, sei die Befestigung der Republik (ut rem publicam constituas).40 Und nur dadurch, dass Caesar diese
36 Cicero, pro Marcello 25: „Itaque illam tuam praeclarissimam et sapientissimam vocem invitus audivi: ‚Satis diu vel naturae vixi vel gloriae.‘ Satis, si ita vis, naturae, addam etiam, si placet, gloriae; at, quod maximum est, patriae certe parum.“ 37 Cicero, pro Marcello 25: „Quid, si istud ne gloriae quidem satis est? Cuius te esse avidissimum, quamvis sis sapiens, non negabis.“ Übersetzung Fuhrmann, Cicero, Reden VII (wie Anm. 8), S. 25. 38 Zu der ähnlichen Unterscheidung zwischen gloria bonorum und gloria multorum vgl. Knoche, „Ruhmesgedanke“ (wie Anm. 26), S. 25f. 39 Cicero, pro Marcello 26: „Quod si rerum tuarum immortalium, C. Caesar, hic exitus futurus fuit ut devictis adversariis rem publicam in eo statu relinqueres in quo nunc est, vide, quaeso, ne tua divina virtus admirationis plus sit habitura quam gloriae; si quidem gloria est inlustris et pervagata magnorum vel in suos civis vel in patriam vel in omne genus hominum fama meritorum.“ 40 Cicero, pro Marcello 27: „hic restat actus, in hoc elaborandum est, ut rem publicam constituas, eaque tu in primis summa tranquillitate et otio perfruare: tum te, si evoles, cum
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Aufgabe erfülle, könne er ein eindeutig positives Bild seiner selbst bei der Nachwelt sichern. Die Versuche Ciceros, sich selbst in der Orientierung seines politischen Wirkens zu bestärken sowie Caesar in seinen politischen Entscheidungen zu beeinflussen, verdienen eine kurze Analyse. Als erstes ist festzustellen, dass der bloße Appell an den Gemeinsinn, der Hinweis auf die enge Verbundenheit von Eigenwohl und Gemeinwohl, aber auch die Erhöhung gemeinsinnigen Handelns durch Verweis auf Tradition und Religion, d.h. auf maiores und Götter, anscheinend nicht in jeder Situation als hinreichende Stimulanz zu gemeinsinnigem Verhalten empfunden wurden. Wo die Grundorientierung des eigenen politischen Wirkens zur Diskussion stand, wo auf die Entscheidungen des mächtigsten Mannes Roms Einfluss genommen werden sollte, da schien es Cicero zur Stärkung des Gemeinsinns eines besonderen argumentativen Mittels, nämlich des InAussicht-Stellens von Ruhm zu bedürfen. Damit bewegte sich die Argumentation durchaus im Rahmen des traditionellen Wertesystems, griff aus diesem aber dasjenige Element heraus, das zum einen mit den anderen Werten am Unverfügbarkeitsstatus des mos maioum insgesamt partizipierte, zugleich aber einen zusätzlichen Transzendenzaspekt besaß: Ruhm ist eine Komponente des Eigenwohls, die sich vor anderen Komponenten dadurch auszeichnet, dass sie die Grenze der eigenen Lebenszeit transzendiert, ja erst jenseits dieser Grenze besonderen Wert gewinnt. So kann das In-Aussicht-Stellen von Ruhm dazu animieren, andere, ausschließlich „diesseitige“ Komponenten des Eigenwohls zurückzustellen. Dies gilt umso mehr, als eine zweite Besonderheit des Ruhms darin liegt, dass er auf Zuschreibungen von außen beruht41 und damit für den Einzelnen auch in diesem Sinn unverfügbar ist: In Hinblick auf den Ruhm ist der Einzelne von Mit- und Nachwelt abhängig. Cicero macht sich diesen Umstand für seine Argumentation dahingehend zunutze, dass er die Zuerkennung von Ruhm durch die menschliche Gemeinschaft an die Voraussetzung von Verdiensten um die Gemeinschaft, in seinem und Caesars Fall konkret die römische res publica, bindet. Wie stellt sich vor diesem Hintergrund der weitere Gang der Dinge dar? Zunächst: Der Versuch, Caesar durch das Argument, wahrer Ruhm müsse sich auf Verdienste um die Konstituierung der res publica gründen, in der Ausrichtung seines politischen Wirkens zu beeinflussen, basierte wohl von vornherein auf einem Missverständnis. Was Cicero als res publica verstand, die kollegiale
et patriae quod debes solveris et naturam ipsam expleveris satietate vivendi, satis diu vixisse dicito.“ 41 Zu Recht betont von Knoche, „Ruhmesgedanke“ (wie Anm. 26), S. 13–16.
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senatorische Lenkung der Politik in den vertrauten Formen, das war für Caesar nur noch ein bloßer Name ohne Inhalt.42 Das heißt nicht, dass Caesar sich nicht als gemeinsinnig verstand.43 Doch für seine Förderung des Gemeinwohls durch herausragende persönliche Leistung stellten die alten republikanischen Formen von einem bestimmten Punkt an nur noch ein lästiges Hindernis dar. Bekanntlich nahm sein Ruhm dadurch keinen Schaden: Friedrich Gundolf schrieb dessen Geschichte trotz Caesars Missachtung der republikanischen Avancen Ciceros.44 Allerdings nahm ohne Zweifel Caesars Leben Schaden. Anderthalb Jahre später kamen die Iden des März, an denen Brutus nach der Ermordung Caesars seinen Dolch gen Himmel reckte und „Cicero“ rief. Die Weigerung, Ciceros Auffassung vom Zusammenhang von Ruhm und Gemeinsinn zu teilen, führte im Falle Caesars zwar nicht zu Ruhmlosigkeit, aber zum Tod. Cicero dagegen, die Verkörperung des Gemeinsinns, triumphierte. Doch damit war die Geschichte noch nicht zu Ende. Weitere anderthalb Jahre später ragte nicht mehr der Dolch des Brutus gen Himmel, dafür aber der Kopf
42 Das berühmte Diktum Caesars überliefert Sueton, Caesar 77: „nihil esse rem publicam, appellationem modo sine corpore ac specie“ (nichts sei die res publica, nur ein Name ohne Körper und Gestalt). Unmittelbar danach zitiert Sueton einen weiteren Ausspruch Caesars: Sullam nescisse litteras, qui dictaturam deposuerit (Sulla, der die Dictatur niedergelegt habe, sei ein [politischer] Analphabet gewesen). Diese beiden Sentenzen Caesars nimmt Llewelyn Morgan, „‚Levi quidem de re …‘: Julius Caesar as Tyrant and Pedant“, in: Journal of Roman Studies 87 (1997), S. 23–40, v.a. S. 35–39 zusammen und schlägt vor, Sullas Nichtwissen habe in seiner ungenügenden grammatischen Bildung bestanden, so dass er nicht erkannt habe, dass der Begriff res publica keine klare inhaltliche Bestimmung enthielt (kritisch dazu Martin Jehne, „Der Dictator und die Republik. Wurzeln, Formen und Perspektiven von Caesars Monarchie“, in: Bernhard Linke/Mischa Meier/Meret Strothmann (Hg.), Zwischen Monarchie und Republik. Gesellschaftliche Stabilisierungsleistungen und politische Transformationspotentiale in den antiken Stadtstaaten (Historia Einzelschriften 217), Stuttgart 2010, S. 187–211, hier S. 204 m. Anm. 81). Wie dem auch sei, das Wesentliche des hier interessierenden Spruchs ist unstrittig: Caesar hielt den Terminus res publica offenbar für inhaltlich unterdeterminiert. 43 So zielte seine Selbstdarstellung im Bellum Gallicum eben darauf ab, seine Leistungen für die res publica, und damit seine Gemeinsinnigkeit, ins rechte Licht zu rücken (vgl. Fritz-Heiner Mutschler, „Caesars Kommentarien im Spannungsfeld von sozialer Norm und individuellem Geltungsanspruch“, in: Andreas Haltenhoff/Andreas Heil/Fritz-Heiner Mutschler (Hg.), O tempora,o mores. Römische Werte und römische Literatur in den letzten Jahrzehnten der Republik (Beiträge zur Altertumskunde 171), München/Leipzig 2003, S. 93–117, bes. S. 99–106). 44 Friedrich Gundolf, Caesar. Geschichte seines Ruhms, Berlin 1924; ders., Caesar im neunzehnten Jahrhundert, Berlin 1926. Für Caesars Nachleben vgl. auch Karl Christ, Caesar. Annäherungen an einen Diktator, München 1994; Maria Wyke (Hg.), Julius Caesar in Western Culture, Oxford 2006.
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und die Hände Ciceros, die Antonius auf der Rednertribüne ausstellen ließ.45 Ciceros Triumph war also nicht von Dauer. Doch wichtiger als dieser äußere Misserfolg des Machtpolitikers Cicero ist in unserem Kontext das ihm vorausgehende Scheitern Ciceros als Republikaner. In den Monaten nach Caesars Tod spielte Cicero – fast zwanzig Jahre nach seinem Konsulat – noch einmal eine führende Rolle in der römischen Politik. Ohne Amt übernahm der elder statesman mit den überragenden rhetorischen Fähigkeiten nach einer Zeit des Zögerns anstelle der Caesarmörder Brutus und Cassius, die Rom verlassen hatten, die Führung der Republikaner in der Hauptstadt.46 In den Monaten von September bzw. Dezember 44 bis April 43 bestimmte Cicero wesentlich die Politik des Senats. Zu seinem Hauptgegner erkor er sich Antonius, den amtierenden Consul, ab Januar 43 Proconsul, während er zugleich eine – von vornherein unnatürliche – Koalition zwischen dem Senat und Caesars Adoptivsohn Octavian arrangierte.47 Bei all seinen Überlegungen, Reden und Handlungen fühlte sich Cicero erneut von dem Gefühl getragen, dass er und die res publica eins seien. In den vorhergehenden zwanzig Jahren, so heißt es zu Beginn der 2. Philippischen Rede gegen Antonius, habe es keinen Feind der res publica gegeben, der nicht auch ihm den Krieg erklärt habe.48 Das Fatale an dieser Selbsteinschätzung war, dass sich Cicero, da ja res publica und er eins waren, mehrfach legitimiert glaubte, gegen die Legalität verstoßen zu dürfen. Ein Amtsinhaber, der nicht im Interesse der res publica handelte, enthob sich dadurch seines Amtes, ein Gesetz, das die Volksversammlung gegen das Interesse der res publica verabschiedet hatte, war kein Gesetz.49 Und ob dies der Fall war, bestimmte die res publica, also Cicero, der sie ja verkörperte. Mit einer ganzen Reihe von „Anträgen“ – wie zum Beispiel mit dem auf Anerkennung der usurpierten Kommandogewalt des Caesarmörders Cassius über 11 Legionen und die Provinz Syrien50 – verstieß Cicero bedenkenlos gegen die Regeln, die er selbst immer wieder verteidigt und deren Beachtung
45 Plutarch, Cicero 49,1–2. 46 Vgl. dazu vor allem Gotter, Der Diktator ist tot (wie Anm. 27), S. 130–172. 47 Vgl. Gotter, Der Diktator ist tot (wie Anm. 27), S. 92–105: Gotter nennt die Verbindung Ciceros und seiner Anhänger mit dem Caesarsohn Octavian treffend eine „unheilige Allianz“. 48 Cicero, Philippica 2,1: „Quonam meo fato, patres conscripti, fieri dicam ut nemo his annis viginti rei publicae fuerit hostis qui non bellum eodem tempore mihi quoque indixerit?“ 49 Darauf läuft schon die Fundierung des Gesetzes in der Natur und Vernunft in Ciceros Schrift de legibus hinaus (vgl. etwa 1,40–45). Wie Cicero in den letzten Monaten das positive Recht beiseiteschob, hat Jochen Bleicken, Lex Publica. Gesetz und Recht in der römischen Republik, Berlin/New York 1975, S. 500–505 klar analysiert. 50 Vgl. die Argumentation in Cicero, Philippica 11,27f.
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er stets eingefordert hatte.51 Wenn ein Einzelner die res publica mit sich in eins setzte, lief diese Gefahr, die gemeinsame Sache nicht mehr zu sein, auch wenn dieser Einzelne Cicero war. Gemeinsinn zu verkörpern war gut. Zu glauben, die res publica selbst zu verkörpern, war dagegen eine fatale Selbstüberhöhung. In den letzten Monaten seines Lebens ließ Cicero das argumentativ angelegte Ringen um Inhalte und Wege der Gemeinsinnigkeit der in der res publica konkurrierenden Akteure hinter sich und forcierte die Unverfügbarkeit der eigenen Einschätzungen, stellte sozusagen diese selbst transzendent. Nun waren Überschreitungsvorgänge, wie wir gezeigt zu haben hoffen, mit den etablierten Formen der Motivation und Belohnung für Gemeinsinn und der damit anvisierten Förderung des Gemeinwohls untrennbar verbunden. Denn die Angehörigen der Führungsschicht wurden besonders durch die Aussicht auf Ansehen, ja Ruhm angetrieben, und dabei handelt es sich um Steigerungen von Ehre, die ihrer Natur nach nur durch Zuschreibungen von außen erreichbar waren. Ruhm benötigte die menschlichen Gemeinschaften als Resonanzraum, und da er in die Zeit nach dem eigenen Tod hineinreichen sollte, spielten Überschreitungsvorgänge eine Rolle, die auch reflektiert wurden – etwa die Überschreitung der Lebenszeit bis zur potenziellen Ewigkeit des Nachruhms und die Überschreitung der eigenen Anhängerschaft bis zur gesamten Menschheit. Insofern wird der Ruhm zu einer Transzendenzgröße ganz eigener Art. Cicero stellte nun dem Dictator Caesar ausdrücklich vor Augen, dass der persönliche, also letztlich partikulare Ruhm nur über gemeinsinnige Leistungen für das Vaterland aufs höchste zu steigern sei. Doch diese Argumentation richtet sich letztlich gegen ihn selbst. Am Ende, als Cicero sich an die Verwirklichung seines politischen Konzeptes machte und für die res publica gegen den Staatsfeind Antonius stritt, hatte er seine eigenen Ansichten gegen jede potenzielle Kritik immunisiert. Die Verschmelzung seiner Person mit der res publica erlaubte es ihm auch, alle eingeführten Verfahren, die er doch als heilige Bestände der Tradition einst verteidigt hatte, bei Bedarf ohne Zögern beiseite zu schieben. Die eigene Sicht der Dinge transzendierte als störend empfundene Regeln und entschied über die Wahrheit. Dass Cicero in dem Moment, als er von den Triumvirn auf die Proskriptionsliste gesetzt worden war, so planlos agierte, hängt sicher auch damit zusammen, dass der Sturz aus der selbstkonstruierten Unantastbarkeit in die eines Geächteten auf der Todesliste so ungeheuer tief war.
51 Zu Recht betont von Gotter, Der Diktator ist tot (wie Anm. 27), S. 282–284.
Cristina Andenna
Wer ist zur Herrschaft geeignet? Konstruktion und Dekonstruktion dynastischer Idoneität und Legitimation am Beispiel der späten Staufer Obgleich der Kaiser mehrere Söhne gezeugt hatte, kluge und prächtige Söhne, von denen jeder für sich (nur ein Teil) den Tugenden des Vaters nacheiferte, war jener Fürst Manfred dennoch der Erbe und universelle Nachfolger der väterlichen Begnadung und Tugenden, sodass das Erstgeburtsrecht, welches dem Fleische nach bei seinen anderen Brüdern lag, aus einer gewissen Ähnlichkeit mit den Söhnen von Isaak und David heraus nach dem Ratschluss der göttlichen Vorsehung auf ihn übertragen wurde.1
Mit diesen Worten versuchte der anonyme Autor der sogenannten Historia de rebus gestis Friderici II Imperatoris ejusque filiorum Conradi et Manfredi Apuliae et Siciliae regum einige Jahre nach dem Tod Kaiser Friedrichs II. die Idoneität, d.h. die Eignung von dessen Sohn Manfred zur Herrschaft über Sizilien, zu behaupten und gleichzeitig die Frage seiner problematischen Legitimation zu lösen. Zwei Aspekte, die die Anerkennung Manfreds als fähige und würdige Herrscherpersönlichkeit erlauben sollten, zieht der Verfasser dabei in Betracht: die direkte genealogische Abstammung Manfreds von Friedrich II. und seine besonderen, ebenfalls von Friedrich hergeleiteten Qualitäten. In den Augen des Chronisten genügten beide Argumente, um seinen Rezipientenkreis davon zu überzeugen, dass die persönliche Eignung Manfreds als universeller Nachfolger seines Vaters
Bei der Fertigstellung dieses Artikels profitierte ich sowohl von den zahlreichen Diskussionen mit meinen Kollegen am SFB 804 als auch vom umfangreichen wissenschaftlichen Austausch mit den Angehörigen des Internationalen Kollegs für geisteswissenschaftliche Forschung (IKGF) der Friedrich-Alexander Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg. Am IKGF gebührt mein besonderer Dank dabei Herrn Prof. Dr. Klaus Herbers für seine freundliche Einladung, von Juli bis September 2011 am Kolleg zu forschen. Für die sprachliche Überarbeitung dieses Beitrags danke ich Herrn Kai Hering, M.A. und Herrn Jens Christof Ruppin, M.A. 1 „Nicolai de Jamsilla Historia de rebus gestis Friderici II Imperatoris ejusque filiorum Conradi et Manfredi Apuliae et Siciliae regum: ab anno MCCX usque ad MCCLVIII, adnectitur anonymi supplementum de rebus gestis ejusdem Manfredi, Caroli Andegavensis et Conradini regum ab anno MCCLVIII usque ad MCCLXV“, in: Rerum Italicarum Scriptores, ed. Ludovicus Antonius Muratori, 25 Bde., Milano 1723–1751, Bd. 8, S. 489–616, hier S. 495 und wiederediert in: Cronisti e scrittori sincroni Napoletani. Storia della monarchia, ed. Giuseppe del Re, 2 Bde., Napoli 1845–1868, hier Bd. 2, S. 108. Nach dieser Ausgabe (im Folgenden Historia) wird hier zitiert.
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feststand. Aus welchen Gründen aber durften die in der Historia zugunsten des Kaisersohnes vorgebrachten Argumente überhaupt damit rechnen, auf Akzeptanz zu stoßen?
I. Einführende Bemerkungen Diese Überlegungen stehen im größeren Kontext der Untersuchung von Diskursen und narrativen Strategien zur Legitimation insbesondere dynastischer Herrschaftsansprüche der jeweils aktuellen Machtakteure und zur Begründung ihrer Eignung zum Herrschen.2 Das monarchische Prinzip und die Herrschaftsansprüche des Adels waren im Mittelalter transzendent begründet. Die Machtausübung der Könige und Fürsten wurde als unbezweifelbarer Bestandteil einer von Gott geschaffenen und damit menschlicher Verfügungsmacht und Veränderungsmöglichkeit entzogenen Sozial- und Weltordnung angesehen. In diesem Sinne war die exklusive Ausübung von Herrschaft durch den Adel als solche legitimiert und musste in der politischen Praxis nicht mehr immer wieder aufs Neue begründet werden.3 Ab dem 11. Jahrhundert organisierte sich der Adel des mittelalterlichen Europas zunehmend in dynastischen Strukturen, wobei die entstehenden Adelsdynastien sowie ihre jeweils zeitgenössischen Vertreter zur Begründung ihrer Machtansprüche zusätzliche Legitimationsressourcen benötigten. Gerade diese Lücke versuchten historiografische Werke, wie die eingangs schon erwähnte Historia, aber auch die aus der herrscherlichen Kanzlei stammenden Traktate, die dann
2 Siehe dazu im Einzelnen Cristina Andenna/Gert Melville, „Dynastie, Idoneität und Transzendenz. Vergleichende Untersuchungen zum hohen und späten Mittelalter“, in: Hans Vorländer (Hg.), Transzendenz und Gemeinsinn. Themen und Perspektiven des Dresdner Sonderforschungsbereichs 804, 2. Aufl. Dresden 2011, S. 40–45. 3 Zwei Dimensionen begründen diesen Anspruch: einerseits wird die Macht des Adels als Korrektiv für die Sündhaftigkeit der Menschen verstanden, siehe dazu: Wolfgang Stürner, Peccatum und potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken, Sigmaringen 1987. Andererseits wird der Adel durch die ihm zugewiesene Aufgabe des Schutzes aller Waffenlosen selbst zu einem Element einer funktional dreiteiligen Gesellschaft erklärt, vgl. Otto Gerhard Oexle, „Die funktionale Dreiteilung der ‚Gesellschaft‘ bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter“, in: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 1–65; ders., „Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters“, in: Winfried Schulze (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988, S. 19–52.
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im weiteren Verlauf dieses Beitrags in den Blick genommen werden, mit spezifischen Argumentationen zu füllen. Diese Begründungsmuster basierten auf von ihrem Rezipientenkreis geteilten Vorstellungen, generierten einen gemeinsamen Sinn und verfolgten das Ziel, Akzeptanz zu erzeugen. Eine erste Argumentationslinie bildete seit dem hohen Mittelalter der Rekurs auf die genealogische Denkweise. Genealogien, hier freilich nicht im heutigen Sinne als durch Ahnenforschung gewonnene Stammbäume, sondern zunächst als Ausdrucksform einer zentralen Denkfigur der Welt- und Geschichtsdeutung und eben auch der Erschließung der Vergangenheit verstanden,4 waren ein besonders für den Adel akzeptabel gewordener Rahmen für die qualifizierende Positionierung des Einzelnen in den situativen Kontexten von Herrschaft. Die Begründung der Dynastie erfolgte über die Rückbindung an einen Ursprungsmoment, dessen Anfänge in einer fernen – und daher eigentlich ‚unverfügbaren‘ – Vergangenheit verortet waren. Die im historischen oder mythischen Ausgangspunkt bereits angelegte Geltung konnte eine Dynastie nur dann für sich beanspruchen, wenn es gelang, eine die Zeiten überspannende Kontinuität herzustellen, welche die normative Kraft des in weit entfernter Vergangenheit liegenden Anfangs in die Gegenwart transportierte. Die Einbindung des Einzelnen in eine Dynastie5 basierte auf der plausibel vermittelten Darstellung des Ablaufs von einer Generation zur nächsten, also einer kontinuierenden Verknüpfung, welche die Qualitäten der jeweils amtierenden Person entscheidend bestimmte.6 Gerade die Zugehörigkeit zu einer weit in die Vergangenheit zurückreichenden Generationenkette garan-
4 Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, S. 13–127. 5 Zu Verwandtschaft und Ehepolitik siehe exemplarisch Karl-Heinz Spiess, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters. 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1993; Tobias Weller, Die Heiratspolitik des deutschen Hochadels im 12. Jahrhundert, Köln 2004. 6 Grundlegend dazu Gert Melville, „Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft“, in: Peter-Johannes Schuler (Hg.), Die Familie als historischer und sozialer Verband. Untersuchungen zum Spätmittelalter und zur frühen Neuzeit, Sigmaringen 1987, S. 203–309; ders., „Troja – Die integrative Wiege europäischer Mächte im ausgehenden Mittelalter“, in: Winfried Eberhard/Ferdinand Seibt (Hg.), Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit, Stuttgart 1987, S. 415–432; ders., „Geschichte in graphischer Gestalt. Beobachtungen zu einer spätmittelalterlichen Darstellungsweise“, in: Hans Patze (Hg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, Sigmaringen 1987, S. 57–154. Über Blut und Blutsverwandtschaft vgl. noch immer Karl Schmid, Geblüt, Herrschaft, Geschlechterbewußtsein. Grundfragen zum Verständnis des mittelalterlichen Adels. Aus dem Nachlaß hg. v. Dieter Mertens/Thomas Zotz, Sigmaringen 1988.
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tierte die Weitergabe des mit den Verdiensten und Tugenden heldenhafter oder mythischer Ahnen angereicherten Geblüts. Die Idoneität des Individuums zeigte sich also durch Transzendierung auf seine Vorfahren, von deren Gesamtheit – als einer historischen Gemeinschaftskonstruktion – sich eine bereits erwiesene Idoneität für eine bestimmte Herrschaftsausübung ableiten und dann auch auf den gegenwärtigen Vertreter einer Herrscherdynastie übertragen ließ. Genealogische Entwürfe sind hier im Hinblick auf die analytischen Kategorien des SFB als eine spezifische Transzendenzkonstruktion, die primär innerweltlich angelegt ist, zu verstehen.7 Eine sich tief in die Vergangenheit erstreckende Linie der Ahnen, die sonst als Gemeinschaftskonstruktion den Akteuren ‚unverfügbar‘ geblieben wäre, bietet dank ihrer Gestaltung und der spezifischen Qualifizierung ihrer Glieder ein höheres Legitimationspotenzial.8 Wichtig dabei ist, dass ihre Darstellung plausibel erscheint, d.h. ihre spezifische Geltung sich in einen allgemein anerkannten Sinn- und Wertehorizont integriert. Diese aus der Perspektive der Machtakteure ihrer unmittelbaren Lebenswelt entzogenen Konstruktionen verleihen dem Herrschergeschlecht und seinem aktuellen Vertreter Geltung und bereiten der Dynastie und ihrem jeweiligen Repräsentant einen akzeptierbaren Rahmen, in dem ihre Machtansprüche anerkannt und begründet wurden. Insbesondere in krisenhaften und konfliktträchtigen politischen Situationen wurden solche Konstruktionen dynastischer Herausgehobenheit einer amtierenden Familie zu einem der entscheidenden Kriterien für die Begründung und Plausibilisierung ihrer Idoneität.
7 Zur begrifflichen Klärung sei darauf hingewiesen, dass eine solche Transzendenz nicht primär als religiös zu verstehen ist. Vielmehr wird hier auf die von Thomas Rentsch beschriebene „Unverfügbarkeit der Transzendenzdimensionen“ Aufmerksamkeit gelegt, deren konstitutives Element in der Negativität, d.h. in ihrer Entzogenheit und Entrückung von der alltäglichen und unmittelbaren Lebenswelt der Akteure besteht. Diese stellt die Voraussetzung für jede übergeordnete Bestimmung von Sinn dar. In dem diskursiven und relationalen Prozess zwischen der Behauptung von Unverfügbarkeit und deren Erkenntnis eröffnet die Transzendenz einen Sinnhorizont, welcher die Begründung und Geltung von Ordnungsformationen unhinterfragbar machen sollte; vgl. Thomas Rentsch, Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin/New York 2010, insbesondere S. 269–288; ders., „Transzendenz – Konstitution und Reflexion. Systematische Überlegungen“, in diesem Band, S. 397–418. 8 Gert Melville definiert die Tiefe der Vergangenheit als einen ‚Transzendenzraum‘. Zur Plausibilisierung genealogischer Konstruktionen vgl. Gert Melville, „Die Bedeutung geschichtlicher Transzendenzräume und ihre Kritik. Zum Problem der Plausibilisierung dynastischer Geltungsbehauptungen“, in diesem Band, S. 142–160 und Kai Hering/ Tobias Tanneberger, „Unglaubliche Geschichten? Zur Plausibilisierung von Transzendenzbehauptungen“, in: Stephan Dreischer et al. (Hg.), Jenseits der Geltung. Konkurrierende Transzendenzbehauptungen von der Antike bis zur Gegenwart, S. 212–232 (i. E.).
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Dennoch reichte diese Geblütskontinuität allein nicht aus, um die persönliche Eignung und Würdigkeit des einzelnen Prätendenten bzw. seiner Dynastie zu demonstrieren. Er musste darüberhinaus den Nachweis führen, dass er selbst und auch das Geschlecht, welchem er entstammte, hierfür am besten geeignet war. Die legitimatorischen Diskurse rekurrierten auf ein sowohl religiös fundiertes wie auch laikal-adelig geprägtes Tugendsystem, das auf einer ideellen – und daher ebenfalls ‚unverfügbaren‘ – vorchristlich-antiken (prudentia, fortitudo, iustitia, temperantia) und christlichen (fides, caritas, spes) Tradition basierte. Es hatte sich ein Set an generellen Erwartungen an den Herrscher herausgebildet, das in zunehmendem Maße sowohl durch Herrschaftslehren – wie beispielsweise Fürstenspiegel – eine gelehrte Reflexivität erfahren als auch durch fiktionale Texte modellhafte Exemplifizierungen erhalten hatte: Gerechtigkeitssinn, Klugheit, Tapferkeit, Gelehrtheit usw.9 Die Zuordnung solcher Werte zu einer Einzelperson geschah indes nicht ohne weiteres direkt anhand von jeweils persönlichen Qualitäten, sondern über die Befähigung des Individuums, mit seinen Eigenschaften auf die konkreten Bedürfnisse der situativen politischen Kontexte zu antworten. Genau wie im Falle der genealogischen Entwürfe werden auch Tugenddiskurse als innerweltliche Transzendenzkonstruktionen verstanden. Der Rekurs auf eine ‚unverfügbare‘ ideelle Tradition bildet die Voraussetzung zur Erzeugung einer von der adligen Elite geteilten Anerkennung. Diesem Aspekt kommt insbesondere dann eine große Bedeutung zu, wenn der übliche Herrschaftsantritt durch freie Wahl des grundsätzlich Besten und nicht aufgrund von Erbschaftsansprüchen der Nachfahren eines Herrschers erfolgt, oder in besonderen, krisenhaften Situationen, in denen das Erbkriterium keine ausreichende Garantie für die Machtübernahme bietet.10 Genealogische Argumentationen galten als kaum zu überschätzender Faktor in der Rhetorik der legitimatorischen Diskurse. Gleichwohl war die Befähigung der Herrscherpersönlichkeit in einem allgemein anerkannten Tugendsystem
9 Vgl. Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (Schriften des Rechtsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde, Monumenta Germaniae Historica 2), Leipzig 1938 und Hans Hubert Anton, Fürstenspiegel des frühen und hohen Mittelalters (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom SteinGedächtnisausgabe 45), Darmstadt 2006. 10 Vgl. Ernst Schubert, „Königswahl und Königtum im spätmittelalterlichen Reich“, in: Zeitschrift für historische Forschung 4 (1977), S. 257–338, hier S. 260–264; Jürgen Miethke, Politiktheorie im Mittelalter: Von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tübingen 2008 und Elsa Marmursztejn, „Élections et légitimité politique dans la pensée scolastique au tournant du XIIIe et du XIVe siècle“, in: Corinne Péneau (Hg.), Élections et pouvoirs politiques du VIIe au XVIIe siècle, Paris 2008, S. 143–162.
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verankert und wurde durch die Besonderheit der Verdienste und Handlungen der jeweiligen Vertreter einer Dynastie bewiesen. Beide Argumentationsstränge wurden in den hier zu untersuchenden Werken der späten Stauferzeit verwendet und lassen sich oft nur schwer voneinander trennen. Wie bereits aus dem Eingangszitat zu entnehmen ist, begegnen sie häufig in wechselseitiger Verschränkung und Verzahnung. Oft erfolgte diese Rückbindung in Traktaten, in historiografischen und chronikalischen Werken, in Gedichten und Urkundenarengen durch eine ‚virtuelle‘ Ansippung an modellhafte biblische, mythologische und historische Gestalten der Vergangenheit oder einer fiktiven, aus der Literatur stammenden heroischen Welt, die nur allegorisch durch ein Zeitsprung des direkten Bezugs erreicht wurde. Bei solchen parallelisierenden Figurationen wurde versucht, überzeugend darzulegen, dass der individuelle Prätendent einer Herrschaft eine Art Reinkarnation bzw. zumindest eine symbolische Verkörperung eines einstigen vorbildhaften Herrschers darstellte – also ein zweiter David bzw. ein zweiter Salomon sei, wenn es um gottgewollte, heilsgeschichtliche Bezüge gehen sollte, oder aber ein zweiter Alexander, ein zweiter Augustus sei, wenn es ‚nur‘ auf die Vergegenwärtigung von irdischen, gleichwohl herausragenden Werten ankommen sollte.11 Durch solche genealogischen Konstruktionen und Tugenddiskurse versuchten die mittelalterlichen Chronisten die Idoneität der prädestinierten oder der amtierenden Person zu beweisen, indem sie die Befähigung des jeweiligen Vertreters als plausibel erscheinen lassen und damit die Voraussetzungen zur Akzeptanz seiner Herrschaft schaffen. Mit ähnlichen Strategien operierte in spätstaufischer Zeit jedoch auch die Gegenseite. Mit dem Rekurs auf negativ konnotierte Leitfiguren aus der Geschichte versuchte man den jeweiligen Herrschervertreter oder Prätendenten zu diskreditieren und seine persönlichen Eigenschaften in ein schlechtes Licht zu rücken. Die instrumentalisierte Umkehrung des traditionellen Tugenddiskurses setzte sich zum Ziel, die Idoneität des Herrschers und seines Geschlechts in Zweifel zu ziehen. Als Antwort auf diese von den politischen Konkurrenten der Staufer getragene scharfe Gegenpropaganda versuchte die kaiserliche Publizistik nicht nur ihre genealogisch-dynastischen Diskurse zu festigen, sondern zudem die verwendeten Konstruktionen des Gegners zu demontieren, um deren Legitimationspotenzial stark zu reduzieren. Im Zentrum des vorliegenden Beitrags stehen Texte sowohl einer dezidiert stauferfreundlichen Geschichtsschreibung und Publizistik als auch der päpstlichen
11 Vgl. Anm. 2.
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Gegenpropaganda aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts: Das erste Zeugnis ist historiografischer Art und entstammt dem Umkreis Manfreds von Sizilien. Zur nachträglichen Rechtfertigung der Herrschaft Karls von Anjou in Süditalien und Sizilien schrieb in den 1280er Jahren ein der römischen Kurie nahestehender Chronist die Rerum Sicularum Historia mit antistaufischer Tendenz. Ein dritter Text entstand schließlich als Brieftraktat in einer neuen, sich zugunsten des mit Kaiser Friedrich II. verwandten Landgrafen von Thüringen und Pfalzgrafen von Sachsen entwickelnden politischen Lage. Exemplarisch sollen in diesen drei Texten anhand der Konstruktion und Dekonstruktion von Idoneität die Mechanismen der Legitimierung und Delegitimierung von Herrschaft näher analysiert werden.
II. Der historische Hintergrund: Die Lage im Regnum Siciliae nach dem Tode Friedrichs II. Manfreds Griff nach der sizilischen Krone war besonders umstritten, denn als jüngerer Sohn Kaiser Friedrichs II. war er zugunsten seiner älteren Halbbrüder von der direkten Erbfolge ausgeschlossen worden. Die komplexe politische Ausgangslage in Süditalien und Manfreds Stellung im staufischen Verwandtschaftsgefüge gilt es zunächst zu skizzieren. Manfred war der 1232 geborene Sohn von Friedrich II. und Bianca Lancia, der Tochter einer ursprünglich aus dem Piemont stammenden Adelsfamilie,12 die Kaiser Friedrich kurz vor ihrem Tod um 1233/1234 mit großer Wahrscheinlichkeit geheiratet hatte,13 um damit ihre gemeinsamen Kinder zu legitimieren.14 Diese Anerkennung eröffnete Manfred den Weg zu einer
12 Die Markgrafenfamilie der Lancia kam in den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts aus Piemont nach Ostsizilien. Ernst Voltmer, „Mobilität von Personengruppen und der Raum der italienischen Geschichte: Das Beispiel der Süditaliener in Reichsitalien und der ‚Lombarden‘ im Regno (12.–13. Jahrhundert)“, in: Arnold Esch/Norbert Kamp (Hg.), Friedrich II. Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Rom im Gedenkjahr 1994, Tübingen 1996, S. 439–464, insbesondere S. 460–462 und Bianca Lancia di Agliano tra il Piemonte e il Regno di Sicilia (Atti del Convegno internazionale di Agliano, 28–29 aprile 1990), Alessandria 1992. 13 Diese Information befindet sich in: Salimbene de Adam da Parma, Cronica. Testo latino, ed.Giuseppe Scalia u. übers. v. Berardo Rossi, 2 Bde., Parma 2007, Bd. 2, S. 978–979. Saba Malaspina, Vertreter der papstnahen Gegenpropaganda, benutzt das Argument der illegitimen Geburt (ex dampnato coitu derivatus): Die Chronik des Saba Malaspina, ed. Walter Koller/ August Nitschke (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 35), Hannover 1999, Liber I, S. 91. 14 Enrico Pispisa, Il regno di Manfredi. Proposte di interpretazione, Messina 1991, S. 13–15. Für die Diskussion über die Legitimierung Manfreds siehe ders., Nicolò di Jamsilla. Un intellettuale
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künftigen politischen Rolle im süditalienischen Raum, die ihm sonst wegen seines defectus natalis, d.h. seiner unehelichen Geburt, verwehrt gewesen wäre. Manfreds ältere Halbbrüder Heinrich und Konrad stammten aus den vorangegangenen Eheschließungen seines Vaters mit den Königstöchtern Konstanze von Aragón und Isabella von Brienne.15 Der staufische Kaiser starb im Dezember 1250, als Manfred etwa 18 Jahre alt war. In der Erbfolgeregelung, die aus dem Testament Friedrichs II. hervorgeht, wurde Manfred nur an späterer Stelle erwähnt – hinter dem von Isabella von Brienne geborenen Sohn Konrad († 1254), der seit dem Tod des ältesten Kaisersohnes Heinrich (VII.) († 1242) der primogenitus war, dem aus der Ehe mit Isabella von England stammenden Sohn Heinrich-Carlotus († 1253) und sogar hinter deren entsprechenden Nachkommen.16 In seinem letzen Willen erkannte der Kaiser aber seinem Sohn Manfred immerhin das Fürstentum von Tarent, eines der wichtigsten des Regnum Siciliae, sowie den honor Montis Sancti Angeli zu, auch wenn dies bedeutete, dass er damit faktisch in ein Lehensverhältnis zu seinem Bruder Konrad IV. eintrat.17 Zusätzlich wurde ihm von seinem Vater auch eine nicht unbedeutende Rolle zugeteilt: Während der Abwesenheit Konrads wurde Manfred zum Regenten für Italien und Sizilien bestellt und hätte in dieser Funktion insbesondere für das Regnum handeln sollen.18
alla corte di Manfredi, Soveria Mannelli 1984, S. 82–87. Neben Manfred gebar Bianca dem Kaiser zum einen Konstanze, die später als Gemahlin des byzantinischen Kaisers Johannes von Vatatzes nach Nikaia ging, zum anderen Violante, die mit Richard von Caserta vermählt wurde. Wolfgang Stürner, Friedrich II., Teil I: Die Königsherrschaft in Sizilien und Deutschland 1194–1220, Darmstadt 1992 und Teil II: Der Kaiser 1220–1250, Darmstadt 2000; hier Teil II, S. 310–311, insbesondere Anm. 89. 15 Armin Wolf, „Die Frauen Kaiser Friedrichs II. und ihre Nachkommenschaft“, in: Karl-Heinz Rueß (Hg.), Frauen der Staufer, Göppingen 2006, S. 113–150; Uwe A. Oster, Die Frauen Kaiser Friedrichs II., München u.a. 2008. 16 Wolfgang Stürner, „Die Söhne Friedrich II. und das Ende der Staufer, in: Werner Hechberger/Florian Schuller (Hg.), Staufer und Welfen. Zwei rivalisierende Dynastien im Hochmittelalter, Regensburg 2009, S. 202–215; ders., Friedrich II. (wie Anm. 14), Teil II, S. 311. 17 Stürner, Friedrich II. (wie Anm. 14), Teil II, S. 311; siehe auch Historia diplomatica Friderici secundi, ed. Jean Louis Alphonse Huillard-Bréholles, 6 Bde., Paris 1852–1861, hier Bd. 6, S. 805–810. 18 Testament Friedrichs II., in: Wolfgang Stürner (Hg.), Breve chronicon de rebus Siculis (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores Rerum Germanicarum in usum scholarum 77), Hannover 2004, S. 118–122, hier insbesondere S. 119.
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Trotz seines ursprünglichen defectus natalis, trotz seiner nachrangigen Einreihung in der Liste der Nachfolgerschaft und der erheblichen Hindernisse, die das Papsttum ihm in den Weg legte,19 ließ sich Manfred, vier Jahre nach dem Tod seines (Halb-)Bruders Konrad, am 10. August 1258 in Palermo mit der traditionellen Akklamation und der Zustimmung der Barone, der Grafen und der Markgrafen des Regnum Siciliae zum König von Sizilien krönen. Die Königserhebung basierte auf dem Gerücht vom Tod seines Neffen Konradin in Deutschland und verschärfte das ohnehin schon komplizierte Verhältnis zum Papsttum noch weiter.20 Wie konnte Manfred für sich dieses königliche Amt beanspruchen, trotz der fehlenden Makellosigkeit seines Blutes und trotz der legitimen Erbansprüche
19 Die vier Päpste (Innozenz IV., Alexander IV., Urban IV. und Clemens IV.) in den knapp zwanzig Jahren zwischen dem Tod Kaiser Friedrichs II. und Manfreds Tod in der Schlacht bei Benevent versuchten sich von der gefährlichen, von den Staufern verfolgten Politik der Umklammerung des Patrimonium Sancti Petri zu befreien und die fortlaufende Inkorporierung in den Besitz des imperium zu verhindern. Sie stützten sich auf die Exkommunikation Friedrichs II. und versuchten die Kontinuität der staufischen Herrschaft zu unterbrechen. Vgl. dazu: Pispisa, Il regno di Manfredi (wie Anm. 14), S. 275–294; Cosimo Damiano Fonseca, „Chiesa e Regno meridionale (1250–1258)“, in: Pasquale Cordasco/Marco Antonio Siciliani (Hg.), Eclisse di un regno. L‘ultima età sveva (1251–1268) (Atti delle giornate normanno-sveve 19), Bari 2012, S. 75–100 und von der deutschen Seite: August Karst, Geschichte Manfreds vom Tode Friedrichs II. bis zu seiner Krönung (1250–1258), Berlin 1897, S. 1–22 und S. 99–110; Karl Hampe, Urban IV. und Manfred (1261–1264), Heidelberg 1905; Arnold Bergmann, König Manfred von Sizilien. Seine Geschichte vom Tode Urbans IV. bis zur Schlacht von Benevent 1264–1266, Heidelberg 1909. Alexander IV. versuchte 1255 das Königreich Sizilien zuerst an Richard von Cornwall zu übertragen, der seine Abstammung aus der normannischen Dynastie nachweisen konnte und sowohl Bruder Königs Heinrich III. von England als auch der dritten Gemahlin Friedrichs II. war. Richard lehnte die Aufforderung des Papstes ab, der dann seine Aufmerksamkeit auf Prinz Edmund von Lancaster richtete, dessen Vater, König Heinrich, großes Interesse an einer Belehnung mit der Krone des sizilischen Königreichs hatte. Auch dieser Versuch blieb allerdings ohne Erfolg. Martin Kaufhold, „Die Könige des Interregnum: Richard (1257–1272)“, in: Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter (Hg.), Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I. (919–1519), München 2003, S. 335–338; Alois Wachtel, „Die sizilische Thronkandidatur des Prinzen Edmund von England“, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 4 (1940/41), S. 98–178. Erst im Jahr 1263 gelang es Urban IV. einen landfremden Herren, Karl von Anjou, mit Sizilien zu belehnen. Vgl. Peter Herde, Karl von Anjou, Stuttgart u.a. 1979 und Jean Dunbabin, Charles I. of Anjou. Power, Kingship and State – Making in Thirteenth Century Europe, London/New York 1998. 20 Pispisa, Il regno di Manfredi (wie Anm. 14), S. 20–26, insbesondere S. 23; vgl. dazu auch Karl Hampe, Geschichte Konradins von Hohenstaufen, Innsbruck 1892/93, Nachdruck Leipzig 1940; Hans Martin Schaller, „Konradin“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 12, Berlin 1980, S. 557–559; Peter Herde, „Corradino di Svevia“, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 29, Rom 1983, S. 364–378.
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seines Neffen Konradin auf Sizilien? Auf eine übergeordnete Legitimationsinstanz wie das Papsttum konnte er sich nicht berufen. Damit fehlte ihm einer der wichtigen und traditionellen Transzendenzbezüge von Herrschaft. Mit welchen Argumenten und Strategien wurde in den prostaufischen Quellen seine Eignung dennoch konsensfähig und plausibel dargestellt?
III. Ein ‚illegitimer‘ Herrscher? Die Historia de rebus gestis Friderici II Imperatoris ejusque filiorum und die Idoneität Manfreds Nehmen wir hier Bezug auf die am Beginn zitierte Textpassage, die sich in einem historiografischen Werk befindet. Die Historia de rebus gestis Friderici II Imperatoris ejusque filiorum […] hat, wie jüngst von Fulvio Delle Donne erläutert wurde, eine sehr komplizierte Entstehungsgeschichte. Das gesamte Werk ist mit großer Wahrscheinlichkeit das Ergebnis einer Kompilation von unabhängigen, schon existierenden Texten, die an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert durch die Tätigkeit eines anonymen Chronisten realisiert wurde. Der damit neu entstandene Gesamttext hatte den Zweck, eine ganz neue Geschichte darzustellen, die nach dem Tod Friedrichs II. die Ereignisse im Regnum Siciliae und Taten der letzten staufischen Protagonisten zurückverfolgen sollte, um die Legitimität der gegenwärtigen Ansprüche der Königsdynastie der Aragonesen – Peter III. von Aragon († 1285) hatte noch zu Lebzeiten Manfreds dessen Tochter Konstanze geheiratet – auf das Regnum nach der Sizilianischen Vesper zu untermauern.21 Wie oben schon dargelegt wurde, konnte Manfred den idealen Kriterien zur Nachfolge nicht vollständig entsprechen. Er konnte sich nicht auf die Rechte des Erstgeborenen und seiner direkten Nachkommen berufen, die die Kondition für eine unmittelbare legitime Nachfolge erfüllt hätten. Ihm fehlte das ius primogeniturae, das per se eine wichtige Voraussetzung darstellte und dessen Fehlen den Ausschluss aus dem Nachfolgerecht begründete. Die eingangs zitierte Textpassage befindet sich im ersten Teil der Historia, in dem der Autor – wahrscheinlich ein Literat, der in der Rhetorik und der Publizistik des Hofes und der Kanzlei
21 Über die Entstehung und die Funktion dieses komplexen Textes siehe jüngst Fulvio Delle Donne, „Gli usi e i riusi della storia. Funzioni, struttura, parti, fasi compositive e datazione dell’Historia del cosiddetto Iamsilla“, in: Bullettino dell’Istituto storico italiano per il medioevo 113 (2011), S. 31–122.
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von König Manfred erfahren war22 – das Interesse vorwiegend auf die direkte genealogische Abstammung Manfreds von Friedrich II. und auf seine persönliche Befähigung als tugendhafter Herrscher legte. Die laut der Nachfolgeregelung fehlende Voraussetzung wird vom Verfasser der Historia mit einer geschickten Parallele zu biblischen Vorbildern kaschiert, die als Vorankündigungen (praefigurationes) von Manfreds Situation galten und gleichzeitig als Begründung seiner Befähigung zur Krönung gesehen wurden. Als seine ‚Vorgänger‘ galten in diesem Sinne Jakob, zweitgeborener Sohn von Isaak, der sich des Erstgeburtsrechts seines Bruders Esau bemächtigte,23 und Salomon, der junge Sprössling des Königs David, der anstelle des erstgeborenen Adonija bevorzugt und zum Herrscher gesalbt wurde.24 Durch diese Parallelisierung schaffte der Autor in diesem narrativen Rahmen eine implizite genealogische Rückbindung, die ein legitimatorisches Potenzial beinhaltete und die es Manfred erlaubte, durch den Rekurs auf eine innerweltliche Transzendenz seinem Machtanspruch Legitimation zu sichern. In einem zweiten Schritt wird das Herrscherbild Manfreds vom Verfasser strikt an dem Vorbild Friedrichs II. ausgerichtet. Seine Tugenden sind direkt vom Vater abgeleitet, und gerade in ihm wird der höchste Grad an Nachahmung der väterlichen Überlegenheit erreicht. Auch die anderen Söhne des Kaisers sind prudentes […] atque magnificos und haben die paternasque virtutes nachgeahmt, doch nur Manfred entspricht vollständig dem Erbe der paternae gratiae atque virtutes. Er ist deshalb als geeigneter und universeller Nachfolger (universalisque successor) seines Vaters prädestiniert. In der Vorstellung des Chronisten war durch die Parallelisierung mit den biblischen Gestalten und durch die unmittelbare genealogische Ableitung von Kaiser Friedrich II. für Manfred eine auf zwei Ebenen konstruierte, innerweltlich transzendente Legitimation entworfen. Nicht zufällig fängt der erste Teil der Historia mit einer Beschreibung der Taten und der Tugenden Kaiser Friedrichs II. an.25 Auch hier wird die Legitimation des Kaisers mit denselben Argumenten in den Vordergrund gestellt: das Kriterium der dynastischen Herausgehobenheit seines Herrschergeschlechts und der Beweis seiner hervorragenden Qualitäten. Zuerst wird Friedrich II. als Mitglied einer imperialis prosapia, als väterlicherseits aus einer ruhmvollen Kaiserdynas-
22 Über die langjährige Questio der Autorschaft dieses Werkes, vgl. Delle Donne, Gli usi e i riusi della storia (wie Anm. 21), S. 107–121; dazu auch das Stichwort von ders., „Nicolò Jamsilla“, in: Dizionario Biografico degli Italiani (im Druck). 23 Genesis, XXV, 24–26 und Hosea, XII, 4. 24 I Könige, I, 32–52. 25 Dieser an Friedrich II. gewidmete Teil befindet sich in: Historia (wie Anm. 1), S. 105–107.
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tie herstammend (ex patre […] imperatore clarissimam […] originem) gepriesen, deren Ursprünge weit entfernt in der Vergangenheit lagen und von denen es der Autor nicht mehr für notwendig hält, sie zu überprüfen;26 in einem zweiten Schritt konzentriert sich der Autor auf die besondere persönliche Eignung des Kaisers, der mit der Würde seiner Weisheit (sapientia) und mit seiner Großmütigkeit (generositas) mehr als alle anderen seiner Vorgänger das imperium geehrt habe.27 Der Autor fügt einen dritten legitimatorischen Aspekt hinzu: die Unterstützung des göttlichen Wohlwollens, die ihm die zustehenden Ämter und Territorien durch die Wahl der Fürsten und durch das Erbe der Ahnen, insbesondere seiner sizilischen Mutter Konstanze († 1198), gewährte.28 Nach einer sehr knappen Beschreibung der wichtigsten Ereignisse und der Taten Friedrichs II. sowie den mühsamen und blutigen Auseinandersetzungen mit den norditalienischen Kommunen folgt eine kurze Aufzählung von Städten, die der Kaiser gegründet und solchen, die er aufgrund von Rebellion dem Erdboden gleichgemacht hatte – Fundation und Destruktion begegnen hier als Handlungen, die eine sehr hohe symbolische Kraft für das legitimatorische Ansehen eines Herrschers besaßen.29 Die Besonderheit, die Friedrichs Herrscherbild bestimmt, wird in der Beschreibung von dem anonymen Autor in einem knappen Einschub erläutert. In dieser Beschreibung ist Kaiser Friedrich II., wie es sich für einen guten Herrscher gehört, mit den Tugenden des Großmutes (magnanimitas), der Weisheit (sapientia), der Gerechtigkeit (iustitia) und der Gnade (clementia) ausgestattet. In seiner
26 Historia (wie Anm. 1), S. 105. Dieses Argument wird in einem anderen publizistischen Text angesprochen, dem sogenannten Manifest an den Senat und das Volk von Rom, datiert auf den 24. Mai 1265. In der neuen zugunsten Karls von Anjou sich entwickelnden politischen Lage untermauerte Manfred seinen Anspruch zum Erwerb der kaiserlichen Krone durch einen genealogischen Verweis: Er, König Manfred, stehe in einer bereits zwölf Generationen zurückreichenden Tradition; Arsenio Frugoni, Scritti su Manfredi, Roma 2006, S. 62 und 66. Dazu vgl. auch Christian Friedl, „Herrschaftskonzeption bei König Manfred. Staufisches Ideal und Scheitern der realpolitischen Ansätze“, in: David Engels (Hg.), Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Herrschaft auf Sizilien von der Antike bis zum Spätmittelalter, Stuttgart 2010, S. 325–336. 27 Historia (wie Anm. 1), S. 106. 28 Historia (wie Anm. 1), S. 105. 29 Dazu siehe Cristina Andenna, „Federico II e le ‚civitates novae‘. Il successo della quotidianità e il fallimento della celebrazione“, in: Annette Kehnel/dies. (Hg.), Paradoxien der Legitimation. Ergebnisse einer deutsch-italienisch-französischen Villa Vigoni-Konferenz zur Macht im Mittelalter, in wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit Cécile Caby/Gert Melville, Florenz 2010, S. 513–533 und jüngst Fulvio Delle Donne, Federico II: la condanna della memoria. Metamorfosi di un mito, Roma 2012, S. 138–141.
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Persönlichkeit weiß die Weisheit die magnanimitas zu mildern: sein Handeln ist durch den Verstand gelenkt, sodass er die Dinge nicht mit einem unkontrollierten impetus, sondern stets überlegt angeht. Die Vehemenz seiner Seele wird durch die philosophia gemäßigt, die er nicht nur für sich als ein privates Anliegen pflegt.30 Ihm wird überdies in der Historia die Gründung von Schulen zugeschrieben, durch die er die artes liberales im Königreich Sizilien etabliert und Gelehrte aus der ganzen Welt mit Vergünstigungen an die Schulen gezogen hat. Friedrich wird hier als Protektor und Förderer von Gelehrten und Studenten dargestellt, die er mit Gehältern und Stipendien ausgestattet habe.31 Es ist kein Wunder, dass gerade die Kardinaltugend der Gerechtigkeit (iustitia) in der Herrscherdarstellung von Friedrich II. eine sehr wichtige Stellung einnimmt. Die von ihm erlassenen Konstitutionen von Melfi (1231) stellen ein zentrales rechtliches Werk dar, das zur Reorganisation des gesamten Regnum Siciliae geführt hatte.32 In den Augen des Autors manifestiert sich seine Liebe zur Gerechtigkeit in der Überzeugung, dass das Recht für alle gleich zu sein habe – was darin gipfelt, dass sogar der Kaiser selbst auch immer iustitia […] aequalis sein wollte.33 Einerseits habe niemand sich
30 Über das Werk Friedrichs II. und seine besonderen Kenntnisse in der Scientia naturalis, siehe: Stürner, Friedrich II. (wie Anm. 14), Teil II, S. 429–457 und Fulvio Delle Donne, „La cultura di Federico II: genesi di un mito. Il valore della memoria e della philosophia nell’Historia dello pseudo Iamsilla“, in: ders., Politica e letteratura nel Mezzogiorno Medievale, Salerno 2001, S. 75–109. 31 Historia (wie Anm. 1), S. 106. Die Idee, dass die Studenten genug Geld zur Verfügung haben sollten, um das Studium ohne Armutsgefahr bestreiten zu können, findet sich auch in der Gründungsurkunde (datiert 1224) der Universität Neapel. Vgl. Augusto Gaudenzi, Ignoti monachi Cisterciensis S. Mariae de Ferraria Chronica et Ryccardi de Sancto Germano Chronica priora (Monumenti storici. Ser. 1: Cronache 3), Napoli 1888, S. 112–115; jetzt auch Fulvio Delle Donne, „‚Per scientiarum haustum et seminarium doctrinarum‘. Edizione e studio dei documenti relativo allo ‚Studium‘ di Napoli in età sveva“, in: Bullettino dell’Istituto storico italiano per il medioevo 111 (2009), S. 101–225, hier insbesondere doc. 1 und 2, S. 164–171. 32 Zur Herrschaftskonzeption in den Konstitutionen von Melfi siehe Wolfgang Stürner, „‚Rerum necessitas und divina provisio‘. Zur Interpretation des Prooemiums der Konstitutionen von Melfi (1231)“, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 39 (1983), S. 467–554; zum Beitrag in der Organisation des Regnum, siehe ders., „Süditalien. Herrschaftsorganisation nach zentralistischem Muster“, in: Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter/Alfried Wieczorek (Hg.), Verwandlungen des Stauferreichs – Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa (Mannheim, 30. Oktober–01. November 2008), Darmstadt 2010, S. 86–93. 33 Die gleiche Idee ist in den Konstitutionen von Melfi vorhanden, wenn der Kaiser sich als pater et filius der iustitia bezeichnet: Wolfgang Stürner (Hg.), Die Konstitutionen Friedrichs II. für das Königreich Sizilien (Monumenta Germaniae Historica, Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 2, Suppl.), Hannover 1996, I, 31, S. 185–186. Die Idee vom König als imago aequitatis findet sich bei Johannes Sarisberiensis, Policraticus sive de nugis
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scheuen müssen, einen Rechtsstreit mit dem Kaiser anzufangen, während andererseits niemand erhoffen durfte, sich mittels kaiserlicher Gnade Rechtsvorteile zu verschaffen.34 Der Verfasser des Textes betont im Falle Friedrichs II., dass der rigor, welchen die Ausübung der iustitia voraussetzt, in seiner Ausführung jedoch nicht selten durch die clementia gemildert wird.35 An dieser Stelle werden die Auseinandersetzungen mit den Päpsten – insbesondere mit Gregor IX. und Innozenz IV. – ganz verschwiegen, nur kurz findet die Episode der Gefangennahme von Prälaten und Kardinälen vor einem geplanten Konzil in Rom 1241 Erwähnung. Der Akzent wird auf die besondere Milde des Kaisers gesetzt, die er angewendet habe, um die Freilassung der kirchlichen Würdenträger zu ermöglichen. Diese kurze Skizze mit dem historischen Porträt des tugendreichen Kaisers Friedrich II. eröffnet die Geschichte des eigentlichen Protagonisten des Werkes: Manfred, angeblich der vom Kaiser am meisten geliebte Sohn. An dieser Stelle werden die hervorragenden physischen Qualitäten Manfreds angeführt und es wird gezeigt, wie die außerordentlichen Tugenden Friedrichs II. unmittelbar in dessen Sohn weiterleben. Die väterliche Vorliebe für das Studium der Philosophie rief in ihm eine besondere prudentia hervor und deutete schon auf seine Eigenschaften hin, durch die „das kaiserliche Haus beherrscht und in einem rühmlichen Zustand bewahrt werden könnte“.36 Der Verfasser bedient sich hier – um Manfred als direkte Emanation Friedrichs darzustellen – einer spezifischen, in der mittelalterlichen Wahrnehmung besonders überzeugenden Methode: der etymologischen Auslegung von Manfreds Namen, die mit Variationen des ersten
curialium et vestigiis philosophorum, ed. Katharine Stephanie Benedicta Keats-Rohan (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 118), Turnhout 1993, Liber IV, Kap. 2, S. 234–235. 34 Historia (wie Anm. 1), S. 106–107. 35 Ein ganz anderes Bild des Kaisers präsentiert Theo Broeckmann in seiner Einleitung: Theo Broeckmann, Rigor iustitiae. Herrschaft, Recht und Terror im normannisch-staufischen Süden (1050–1250), Darmstadt 2005, S. 8–10. Die Fähigkeit, sich bei Vergehen von Delinquenten unnachgiebig zu zeigen, schilderte Otto von Freising in den Gesta als besondere Qualität des Kaisers Friedrich Barbarossa, als dieser sich weigerte, Gnade an einem gefallenen Dienstmannen zu üben, weil es der herrscherlichen Gerechtigkeit entspräche. Siehe Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. imperatoris, ed. Georg Waitz (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum 46), 3. Aufl. Hannover 1912, Liber II, Kap. 3, S. 104; Karl Kroeschell, „Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert“, in: Theodor Mayer (Hg.), Probleme des 12. Jahrhunderts. Reichenau-Vorträge 1965–1967, Konstanz/Stuttgart 1968, S. 309–335, dazu auch Stefan Weinfurter, „Investitur und Gnade. Überlegungen zur gratialen Herrschaftsordnung im Mittelalter“, in: Marion Steinicke/ders. (Hg.), Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 105–123. 36 Historia (wie Anm. 1), S. 108.
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Vokals „herrschaftsrechtsstiftende Zusammenhänge“ zwischen Vater und Sohn als Sinnhorizont aufbaut.37 Manfredus wird als quasi manens Fridericus bezeichnet, weil in ihm der Vater und seine Tugenden fortleben, und als manus Friderici, die des Zepters seines Vaters würdig ist. Manfred ist mens und memoria Friderici, aber auch minus Fridericus und mons, sive munitio Friderici, in dem der Namen und der Ruhm des Vaters bewahrt und für die Nachkommen befestigt sind.38 Das etymologische Argumentieren wird zusätzlich fortgeführt: Die Inklusion des Wesens wie auch des Namens des Vaters in der Person Manfreds wird als besonderer Beweis seiner Berechtigung, allein das universale regimen anzutreten, verstanden.39 Dies berechtigte ihn nach dem Tod des Kaisers, gemäß dem im Testament niedergelegten Willen Friedrichs, als Regent die Kontrolle des Regnum zu übernehmen. Auch seine Regierung bewies eine unerwartete Kontinuität der Friedlichkeit und des Gleichgewichtszustandes, die schon die Herrschaft des Vaters charakterisiert hätten. Wie der Verfasser der Historia deutlich zu machen versucht, lässt diese Kontinuität sich auch in vielen anderen Aspekten zeigen: Manfred habe das Personal seines Vaters nicht ersetzt und die Pflege der iustitia sowie die Ausübung der iurisdictio nicht vernachlässigt, damit konnte er auch das Ideal des rex iustus ausfüllen. In dieser Hinsicht wird auch vom Verfasser an einer späteren Stelle bezüglich der Einnahme der rebellierenden Stadt Foggia durch Manfred das besondere Ideal der iustitia wieder aufgegriffen, welches im Unterschied zu Friedrich II. mit der Ausübung der misericordia kombiniert ist. In Anbetracht der um Erbarmen bittenden Einwohner der Stadt lässt Manfred Gnade walten, ohne dass die Straftat ungesühnt blieb.40 Als Zeichen seiner Stärke legte Manfred nicht die Stadt komplett nieder, wie es der Vater in früheren Fällen getan hatte,41 sondern zerstörte mit den sie umgebenden Erdwällen nur die Teile, die symbolisch ein Hindernis für die Durchsetzung der königlichen Macht darstellten.42 Hinsichtlich
37 Wolfgang Giese, „Kaiser Friedrich II. in der lateinischen Chronistik des sizilischen Reiches aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts“, in: Franz-Albrecht Bornschlegel/Theo Kölzer/ Christian Friedl/Georg Vogeler (Hg.), De litteris, manuscriptis, inscriptionibus … Festschrift zum 65. Geburtstag von Walter Koch, Wien u.a. 2007, S. 633–654, hier S. 644. 38 Historia (wie Anm. 1), S. 108; vgl. Delle Donne, „Gli usi e riusi“ (wie Anm. 21), S. 48. 39 Historia (wie Anm. 1), S. 108. 40 Historia (wie Anm. 1), S. 111. 41 Andenna, „Federico II e le ‚civitates novae‘“ (wie Anm. 29), S. 515. 42 Historia (wie Anm. 1), S. 111. Über das Verhältnis Manfreds zu den Städten siehe auch Matthias Thumser, „Der König und sein Chronist. Manfred von Sizilien in der Chronik des sogenannten Nikolaus von Jamsilla“, in: Gesellschaft für staufische Geschichte (Hg.), Die Reichskleinodien. Herrschaftszeichen des Heiligen Römischen Reiches, Göppingen 1997,
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der körperlichen Bestrafung, die mit dem Tod normalerweise korrespondierte, wird hier vom Verfasser, wie Fulvio Delle Donne richtigerweise bemerkt hat, eine überraschend innovative und theoretisch reflektierte Auslegung der iustitia eingefügt. Es wird hier die Idee vertreten, dass durch die Anwendung der notwendigen sapientia zu einer verbessernden Zielsetzung von Strafe („finalità emendativa della pena“) gelangt werden könne.43 Die Aufgabe des princeps bestand in der Besserung und Regierung seines Volkes, nicht in dessen Vernachlässigung.44 In der Bestrafungspraxis und in der Ermittlung der Strafen ist in diesem Text die Überzeugung deutlich präsent, dass das Leben der Menschen zu korrigieren sei, anstatt es durch eine Strafe zu vernichten.45 Seine Hinwendung zur sapientia hatte die jugendliche Zügellosigkeit gemildert und ihn mit der notwendigen innata prudentia versehen, worauf auch die Wahl der väterlichen Ratgeber als eigene Berater hinweist. Manfred wird als sapientissimus bezeichnet, anders als das biblische Gegenbeispiel des unwissenden und hochmutigen Sohnes von Salomon, Rehabeam, der die Ratschläge der jüngeren denen der älteren Beistände vorgezogen habe und damit die Teilung des väterlichen Königreichs in die beiden Territorien Juda, welches Jerobeam anvertraut wurde, und Israel verursachte.46 Der Autor greift dieses Mal auf eine Kontrastierung mit der biblischen Gestalt zurück, um zu beweisen, dass Manfred, anders als Rehabeam würdig ist, durch seine demütige Bereitschaft den Rat von anderen anzuhören und damit seinen Ruhm zu schmälern, um die plenitudo gratie zu erreichen. Wie deutlich zu sehen ist, spiegeln sich in Manfred die guten Eigenschaften seines Vaters, die teilweise sogar von ihm übertroffen werden. Damit werden dem staufischen Fürsten in der Historia alle notwendigen Aspekte des legitimatorischen Bedarfs zugeschrieben: die genealogische Konditionierung, ein tadelloses und tugendhaftes Verhalten sowie die Gnade des göttlichen Wohlwollens. Der gesamte erste Teil des Textes ist unverkennbar „zur Bewältigung der politischen Probleme Manfreds“ konzipiert worden, die sich ihm in Unteritalien stellten.47 Der Rekurs auf vorbildhafte Leitfiguren innerhalb der Erzählung zielt durch
S. 222–242, hier insbesondere S. 229–232 und Delle Donne, Federico II: la condanna della memoria (wie Anm. 29), S. 65–131. 43 Delle Donne, „Gli usi e riusi“ (wie Anm. 21), S. 55–56. 44 Historia (wie Anm. 1), S. 111. Es handelte sich hier um einen Verweis auf das Prooemium der Konstitutionen Friedrichs II.; Stürner, Die Konstitutionen Friedrichs II. (wie Anm. 33), S. 147 und Stürner, „Rerum necessitas und divina provisio“ (wie Anm. 31), S. 467–554. 45 Historia (wie Anm. 1), S. 111. 46 I Könige, XI, 29–35. 47 Giese, „Kaiser Friedrich II. in der lateinischen Chronistik“ (wie Anm. 37), S. 644.
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Transzendenzbehauptungen auf die Erzeugung eines gemeinsinnskonstituierenden Konsenses seitens der Rezipienten.
IV. Das Gegenbild: Manfred von Sizilien aus der Perspektive der päpstlichen Quellen Mit ähnlichen Strategien operierten diejenigen Autoren aus einer stark stauferkritischen Perspektive, die die neue, maßgeblich von der römischen Kirche beeinflusste politische Lage in Italien zu rechtfertigen versuchten. Sie rekurrierten in Gegnerschaft zu den bekannten legitimatorischen Diskursen im Umfeld der staufischen Kaiserdynastie auf modellhafte Figuren, die als negativ besetzte Transzendenzverkörperungen in der allgemeinen Vorstellung der Rezipienten präsent waren und als Träger einer abwertenden Bedeutung in Erscheinung traten. Solche Rückbindungen versuchten Argumente zu liefern, um die letzten Vertreter der Dynastie zu delegitimieren. Auch um die Argumentation des göttlichen Wohlwollens, welche die prostaufische Historia als zusätzliche Legitimationsressource eingeführt hatte, zu kontrastieren, bauten die papstnahen Chronisten in ihren Argumentationen Bilder und Beispiele eines eschatologischen Erwartungshorizonts aus, die schon die harte polemische Auseinandersetzung zwischen Friedrich II. und den Päpsten seiner Zeit gekennzeichnet hatten.48 Diese Elemente werfen ein negatives Licht auf die späten Staufer und führen dezidierte Gründe für den Niedergang ihrer Herrschaft an. Als Vertreter dieser papstfreundlichpropagandistischen Geschichtsschreibung wird hier exemplarisch auf den an der römischen Kurie tätigen Skriptor und papstnahen Chronisten Saba Malaspina und sein Rerum Sicularum Historia betiteltes Werk49, das er zwischen 1283 und 1285 in der Erwartung der Bestätigung seiner Wahl zum Bischof der kalabrischen Diözese Mileto schrieb, eingegangen.50
48 Hans Martin Schaller, „Endzeit-Erwartungen und Antichrist-Vorstellungen in der Politik des 13. Jahrhunderts“, in: ders., Stauferzeit. Ausgewählte Aufsätze (Monumenta Germaniae Historica, Schriften 38), Hannover 1993, S. 25–52. 49 Die Chronik des Saba Malaspina, ed. Walter Koller/August Nitschke (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores in Folio 35), München 1999. 50 Vgl. Ingeborg Braisch, Eigenbild und Fremdverständnis im Duecento: Saba Malaspina und Salimbene da Parma, 2 Bde., Frankfurt a.M. 2010, hier Bd. 1, S. 49–56 und Carl Brückner, Die Auffassung des Staufers Manfred und seiner Gegner im Lichte der augustinischen und eschatologischen Geschichtsanschauung bei den Zeitgenossen, Breslau 1914, S. 12–24.
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Schon zu Beginn des Werkes wird die Erzählung von einer als (Vor-)Zeichen gedeuteten Naturerscheinung vorausgeschickt, welche die Geburt Manfreds begleitete und die seine Untauglichkeit als Herrscher ebenso ankündigte wie die Konsequenzen seiner fehlenden politischen Befähigung: Am Tag von Manfreds Geburt seien am Himmel über der Toskana riesige Wolken in Form zweier kämpfender Frauen aufgetaucht. Die Menschen glaubten in dem Donnergrollen, das vom Himmel kam, die Namen der beiden Gestalten vernehmen zu können: Gebellia und Guelfa. Unermüdlich und erbittert versuchten die zwei Frauen, sich gegenseitig zu vernichten, ohne dass eine über die andere siegen konnte, solange bis eine dritte, gerade erschienene Figur den Kampf zu Ende brachte. Die beiden Streiterinnen waren die Personifizierungen der Kämpfe zwischen den Parteien der papsttreuen Guelfen und der prokaiserlichen Ghibellinen; die dritte Figur war nach dieser Deutung der aus Frankreich stammende, sizilische König Karl von Anjou, der das Papsttum in dem schwierigen Konflikt mit den Staufern unterstützte und dem kurialen Lager zum Sieg verhalf.51 Abgesehen von seiner politischen Positionierung scheint das von Saba Malaspina gezeichnete Bild des Kaisersohnes Manfred – trotz der wiederholten Betonung seiner illegitimen Geburt (ex dampnato coitu derivatus)52 – auf den ersten Blick ziemlich neutral.53 Manfred ist mit körperlichen und geistigen Vorzügen ausgestattet. Er war von besonders gutem Aussehen, bemühte sich um ein tugendhaftes Verhalten und wies ein ausgeprägtes Interesse für die Wissenschaft auf, sodass er von einer legitimen Gemahlin Friedrichs II. zu stammen schien. Wie ein ehelicher Nachkomme erzogen, erhielt Manfred die Möglichkeit, in den artes liberales unterwiesen zu werden und sich ein würdiges Verhalten anzueignen (benignus, graciosus, magnanimus und virtuosus). Als bevorzugter und geliebter Sohn des Kaisers, vor der letzten und definitiven Exkommunikation, erhielt er das Fürstentum Tarent.54 Nachdem Friedrich II. sich mit der Kirche überworfen hatte, begann der Papst das Staufergeschlecht zu verfolgen mit dem Ziel, es politisch zu vernichten. Nach dem Eintreffen Konrads IV. im Königreich Sizilien blieb auch Manfred diese Verdammung nicht erspart. Das Argument der unehelichen Geburt wurde aufgegriffen und gegen Manfreds Ansprüche auf den sizilischen Thron instrumentalisiert. Er war nicht nur aus einer illegitimen Verbindung hervorgegangen, sondern
51 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 1, S. 90–91. 52 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 1, S. 91. 53 Braisch, Eigenbild und Fremdverständnis (wie Anm. 50), S. 213–214. 54 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 7, S. 110.
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schien seinen Gegnern auch praescitus oder praedestinatus ad malum.55 In ihm floss das vergiftete Blut des staufischen Kaisergeschlechtes. Auf alle Mitglieder der Stauferdynastie war nach dieser Vorstellung das Gift der väterlichen Boshaftigkeit übertragen worden. So fängt in Manfred ein innerer Kampf an: die mäßigenden virtutes müssen nach und nach der atrocitas sanguinis weichen,56 und die Laster gewinnen in ihm die Oberhand über die ursprünglichen gelehrten Tugenden. Das böse Erbe der cesarea posteritas determiniert seine Verwandlung zum boshaften Menschen, und aufgrund seiner politischen Verführungskünste wird Manfred mit Luzifer identifiziert,57 dem von Gott aus dem Himmel vertriebenen Engel, der im Mittelalter als Synonym für Satan verwendet wurde. Genau diese Parallelisierung bietet dem Chronisten die Gelegenheit, das schwierig zu beurteilende Ende Manfreds im Benevento zu rechtfertigen: Die kriegerische Auseinandersetzung Karls von Anjou mit dem staufischen König sei ein Kreuzzug gewesen, den die Gallici in der Erwartung angetreten hätten, durch den Kampf gegen die im Namen Satans kämpfenden Feinde das ewigen Leben zu verdienen.58 Das Auftreten wie auch die Eigenschaften Manfreds stellen in vielfacher Hinsicht die Umkehrung des positiven Idealbildes des rex iustus aus dem PseudoCyprianus dar.59 Machtgier und Ruhmsucht treiben sein Handeln an, und die superbia – kombiniert mit einem Mangel an Selbstbeherrschung – lenkt sein Benehmen.60 Aufgrund seines ‚kaiserlichen Geblüts‘ war es ihm fremd, sich zu bescheiden, und deshalb strebte er nach dem Tode des Vaters danach, die herrscherliche Kontrolle über das Regnum Siciliae zu übernehmen.61 Um Manfreds Gier nach Herrschaft überzeugend darzustellen, bedient sich der Chronist an dieser Stelle einer Anspielung auf den bekannten römischen Mythos des Bruder-
55 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, S. 160 und 172. 56 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 8, S. 112. 57 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 3, S. 97 und S. 209. Vgl. auch Claude Carozzi, „Saba Malaspina et la legitimité de Charles Ier“, in: American Academy in Rome (Hg.), L’État Angevin. Pouvoir, culture et société entre XIIIe et XIVe siècle. Actes du colloque international organisé par l’American Academy in Rome (Rome – Naples, 7–11 novembre 1995), Rome 1998, S. 81–97. 58 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber III, 6, S. 165; vgl. hier auch Braisch, Eigenbild und Fremdverständnis (wie Anm. 50), S. 215. 59 Pseudo-Cyprianus, De duodecim abusivis saeculi, ed. Siegmund Hellmann (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 34), Leipzig 1909, S. 1–61, abusio 9, S. 51–53. Für die Einflüsse dieses Textes auf den Okzident vgl. Hans Hubert Anton, „Pseudo-Cyprian. ‚De duodecim abusivis‘ und sein Einfluß auf den Kontinent, insbesondere auf die karolingischen Fürstenspiegel“, in: Heinz Löwe (Hg.), Die Iren und Europa im früheren Mittelalter, Bd. 2, Stuttgart 1982, S. 568–617. 60 Vgl. Einleitung, in: Die Chronik (wie Anm. 49), insbesondere S. 30–33. 61 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 8, S. 111 und S. 115.
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mordes an Remus in Rom. Diese gelehrte Anspielung verweist gleichzeitig auf die biblische Episode der Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain.62 Unterstützt vom Adel des sizilischen Königreiches – wie Saba in seiner Erzählung fortfährt –, der ihn wegen seiner höheren Würdigkeit (longe dignior) lieber als König gesehen hätte, gewann Manfred die Hilfe eines Arztes aus Salerno und vergiftete seinen schon kranken (Halb-)Bruder Konrad.63 Die Erzählung des Chronisten geht dann zur Schilderung der Annäherungsund Versöhnungsversuche seitens der römischen Kirche über. In den Augen Sabas hatte der Papst gegenüber Manfred eine große Freigiebigkeit gezeigt, er hatte ihn von der Exkommunikation befreit und ihm Ämter im Königreich verliehen.64 Aus Sicht des Papstes hätte Manfred ein Helfer werden sollen, die Pläne der Herrschaft des Apostolischen Stuhls zu verwirklichen. Statt jedoch Dankbarkeit zu zeigen, leistete er aufgrund seiner inobedientia Widerstand gegen die Kirche – an dieser Stelle verweist Saba implizit auf das Verhalten des Judas gegenüber Jesus.65 Unterstützt noch vom Adel des Königreichs begnügte er sich nicht mit den ihm von der Kirche übertragenen Ämtern; er versuchte weiterhin zwischen den Untertanen Konsens zu erzeugen und gewann sogar seinerseits nicht nur die Apulier, sondern auch die Sarazenen.66 Nach dem Tod des Papstes Innozenz IV. erreichte er schließlich 1258 mittels Lüge und Betrug die Krone des Regnum, indem er die Nachricht vom Tod seines Neffens Konradin mittels eines verfälschten Briefes verbreitete.67 Seine Herrschaft erweist sich als Tyrannei,68 und Manfred wird mit dem Pharao, der das auserwählte Volk Israel verfolgte,69 gleichgesetzt – eine dezidiert negativ konnotierte Transzendenzkonstruktion, die es dem Autor der Res siculae erlaubt, ihn nicht nur mit dem Typus des Teufelsfürsten zu vergleichen, sondern Manfred direkt in seinem teuflischen Charakter zu bezeichnen.70 Als er das Königtum per se gewonnen hatte, mangelte es ihm an der notwendigen prudentia. Indem Manfred sich nicht um die Bewahrung eines geordneten Zustands sorgte, brachen über das Regnum Siciliae neue Wirren herein.71 Im Ein-
62 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 4, S. 98. 63 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 4, S. 99. 64 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 5, S. 102–103. 65 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 6, S. 106. 66 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 5–6, S. 104. 67 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 8, S. 111 und S. 113. 68 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 8, S. 112 und S. 114. 69 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber II, 12, S. 142–143. 70 Brückner, Die Auffassung des Staufers Manfred (wie Anm. 50), S. 14–15. 71 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber II, 6, S. 131–133.
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klang mit dem Herrschaftsstil seiner Vorfahren72 verhielt er sich rücksichts- und skrupellos wie ein frevelhafter und blutrünstiger König. Noch problematischer wird das Bild Manfreds in den letzten Monaten seiner Herrschaft. Sein Verhalten scheint nicht mehr von vernünftigem, strategisch durchdachtem Handeln geprägt, sondern von Emotionen, Angst, Verwirrungen und Planlosigkeit gelenkt zu sein.73 Sein leichtsinniges Vertrauen in eine unzuverlässige fortuna, von der er sich in seinem Tun sehr stark bestimmen ließ, verweist auf das Fehlen einer anderen grundlegenden Herrschertugend, der sapientia, die für Manfred deutlich in Abrede gestellt wird. Er vertraute Sehern, Astrologen und Wahrsagern, die ihm eine vermeintlich sichere Hoffnung für die Zukunft versprachen. In diesem Sinne wandelte er auf den Spuren seines Vaters Friedrich, der sich in dem Wunsch, unsterblich zu werden, auf die Suche nach den Geheimnissen der Natur und des Himmels gemacht hatte.74 Nach der von der römischen Kirche begünstigten Ankunft Karls von Anjou in Italien war Manfred gar unfähig, den Ernst seiner bedrohten politischen Lage zu verstehen, und es fehlte ihm die Fähigkeit zu erkennen, dass die regnicoli und seine Anhänger ihn schon längst verraten hatten. Sogar das unheilverkündende Erscheinen eines Kometen, das traditionell als Zeichen eines bevorstehenden Thronwechsels galt, vermochte er nicht einzuordnen und ließ sich stattdessen von der ebenso schmeichlerischen wie betrügerischen Deutung seiner Hofastrologen überzeugen, dass er noch lange regieren würde.75 Der Glaube an Prognosen durch divinatorische und astrologische Methoden wurde in den papstnahen historiografischen Quellen – wie schon auch in der Vorlage des Pseudo-Cyprian – als negative Eigenschaft eines Herrschers kritisiert.76 Diese an den Höfen der mittelalterlichen Herrscher wohlbekannten Praktiken der Zukunftsdeutung stellten die teleologische und heilsgeschichtliche Konzeption der Geschichte, die diesen Werken zugrunde liegt, in Frage und waren mit der vom rex iustus geforderten Gottesfurcht nicht zu vereinbaren. In dem sehr konfliktreichen Kontext des süditalienischen Raumes, in welchem die Nachfolge Friedrichs II. geregelt werden musste, rekurrieren die stauferfeindlichen Werke auf die hier vorgestellten negativen Konstruktionen. Die direkte genealogische Abstammung Manfreds von Friedrich II. konditioniert
72 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber IV, 2, S. 179. 73 Dazu dienen hier verschiedene Stellen: Die Chronik (wie Anm. 49), Liber II, 19, S. 154; ebd., 20, S. 155 und 21, S. 157; ebd., Liber III, 3, S. 160; ebd., 8, S. 167 und 10, S. 172; vgl. auch Braisch, Eigenbild und Fremdverständnis (wie Anm. 50), S. 223–224. 74 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber I, 2, S. 95. 75 Die Chronik (wie Anm. 49), Liber II, 20, S. 155. 76 Pseudo-Cyprianus, De duodecim abusivis saeculi (wie Anm. 59), abusio 9, S. 51.
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ex negativo seine persönlichen Eigenschaften und wird als Vorherbestimmung seines späteren Auftretens als rex iniquus instrumentalisiert. Genau hier fließen die apokalyptischen und eschatologischen Motive, die den heftigen Konflikt zwischen Papst und Kaiser charakterisiert hatten,77 in die historiografischen Texte ein und stärken mit überzeugenden und plakativen Argumenten im Kreis der Rezipienten einerseits die Gründe für das Ablehnen des Konsenses und andererseits die Motive der Legitimation für die Wende, die die Kirche durch die Einsetzung Karls von Anjou in Sizilien vorgegeben hatte.
V. Legitimation durch Konstruktion und Dekonstruktion Nach Manfreds Tod in der Schlacht bei Benevent (1266) und der Niederlage seines Neffen Konradin bei Tagliacozzo (1268) wurde in den noch stauferfreundlich gesinnten Kreisen mit gleichen Argumentationsmustern einerseits versucht, die Krone für das staufische Kaisergeschlecht zu bewahren, und andererseits den vom Papst zum neuen sizilischen König erhobenen Grafen Karl von Anjou zu delegitimieren.78 Mit dieser doppelten Intention schrieb 1269 der ehemalige Vizekanzler Konradins, Petrus von Prece,79 zugunsten der Stauferpartei einen Traktat in Form eines an Heinrich III. († 1288), Landgraf von Thüringen und Markgraf von Meißen,80 adressierten Briefes mit dem Titel Adhortatio ad Heinricum illustrem Landgravium Thuringiae de casus regis Conradini nepotis Friderici.81 Der kaisertreue Publizist, der nach der Niederlage der Staufer in Italien am Hof des Landgrafen einen sicheren Hafen gefunden und dort seine prostaufische Propaganda fortgeführt hatte, verfasste sein Werk mit der Absicht, Heinrich III. zu ermuntern,
77 Vgl. oben Anm. 48. 78 Zu dieser Zeit, vgl. Schaller, „Zur Verurteilung Konradins“, in: ders., Stauferzeit (wie Anm. 48), S. 557–576 und Karl Hampe, Geschichte Konradins von Hohenstaufen, Leipzig 1942. 79 Rudolf M. Kloos, „Petrus de Prece und Konradin“, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 34 (1954), S. 88–93 und Eugen Müller, Peter von Prezza, ein Publizist der Zeit des Interregnums, Heidelberg 1913. Vgl. auch Rudolf M. Kloos, „Ein Brief des Petrus de Prece zum Tode Friedrichs II.“, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 13 (1957), S. 151–170. 80 Karlheinz Blaschke, „Heinrich der Erlauchte, Markgrafen von Meißen, Landgrafen von Thüringen“, in: Lexikon des Mittelalters, 10 Bde., Stuttgart 1977–1999, Bd. 4, Sp. 2072–2073. 81 „Adhortatio ad Heinricum illustrem Landgravium Thuringiae de casus regis Conradini nepotis Friderici“, in: Cronisti e scrittori sincroni Napoletani (wie Anm. 1), S. 683–700.
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sein zwölfjähriges Enkelkind Friedrich82 als letzten Vertreter der kaiserlichen prosapia zu unterstützen und damit die Hoffnungen der Ghibellinen des Regnum Siciliae auf eine Wiederaufrichtung der staufischen Herrschaft in Italien zu erfüllen. Der junge Friedrich stammte aus der ehelichen Verbindung Albrechts († 1314),83 Sohn des von Petrus adressierten Markgrafen von Meißen und thüringischen Landgrafen Heinrich III., mit Margarete,84 einer Tochter Kaiser Friedrichs II. Als letzter männlicher Vertreter des Kaisergeschlechts wird er in dem aus der Feder Petrus’ von Prece stammenden Brieftraktat als Racheengel dargestellt, der den ungerechten Tod seines Vetters Konradin rächen sollte. Zugleich erscheint Friedrich als von Gott vorgesehener Retter (destinatus a Domino), der seiner dynastischen Herkunft wegen auserkoren war, Karl von Anjou und seine bösartige stirps auszulöschen und Vergeltung für die gnadenlose Ermordung der letzten Staufer zu üben.85 Drei Argumente führt der Publizist als Begründungen der Idoneität Friedrichs ins Feld, die Voraussetzung für die Erfüllung dieser Würde waren und zur Bestimmung seiner Wahl als bevorzugter Thronkandidat geführt hatten: Zusammen mit dem Beweis eines tadellosen tugendhaften Verhaltens und einer hervorragenden genealogisch-dynastischen Stellung wird vom Autor der Adhortatio an einen anderen Diskurs angeknüpft und das Motiv der rechtmäßigen Erbfolge ins Feld geführt.86 Gerade dieses legitime Nachfolgerecht wird
82 Karlheinz Blaschke, „Friedrich I. der Freidige, Markgraf von Meißen, Landgraf von Thüringen“, in: Lexikon des Mittelalters (wie Anm. 80), Bd. 4, Sp. 949. Über das Projekt, Friedrich auf die Kaiserwürde zu erhöhen, vgl. Arnold Busson, „Friedrich der Freidige als Prätendent der sicilischen Krone und Johann von Procida“, in: Historische Aufsätze, dem Andenken an Georg Waitz gewidmet, Hannover 1886, S. 324–336; Otto Dobenecker, „Ein Kaisertraum des Hauses Wettin“, in: ders. et al. (Hg.), Festschrift Armin Tille zum 60. Geburtstag, Weimar 1930, S. 17–38 und Otto Heinrich Becker, Kaisertum, deutsche Königswahl und Legitimitätsprinzip in der Auffassung der späten Staufer und ihres Umkreises (Mit einem Exkurs über das Weiterwirken der Arengentradition Friedrichs II. unter seinen Nachkommen und den Angiovinen), Bern/Frankfurt a.M. 1975, hier S. 67–76. 83 Winfried Leist, „Albrecht d. Entartete, Lgf. v. Thüringen und Pfgf. v. Sachsen“, in: Lexikon des Mittelalters (wie Anm. 80), Bd. 1, Sp. 323–324. 84 Margarete stammte aus der vierten Ehe Kaiser Friedrichs II. mit Isabella von England; Wolf, Die Frauen Kaiser Friedrichs II. (wie Anm. 15), S. 113–150. 85 Adhortatio (wie Anm. 81), cap. 18,S. 695. 86 Über verschiedene Formen der Nachfolgeregelungen im spätmittelalterlichen Europa vgl. Frédérique Lachaud/Michael Penman (Hg.), Making and breaking the rules: succession in medieval Europe, c. 1000–c. 1600/Établir et abolir les normes: la succession dans l’Europe médiévale, vers 1000–vers 1600, Proceedings of the colloquium (6–7–8 April 2006)/Actes de la conference (6, 7 et 8 avril 2006) Institut of Historical Research (University of London), Turnhout 2008.
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von Petrus mit vier Argumenten untermauert. Das erste Argument zur Bekräftigung des ambitionierten politischen Projekts ist Konradins öffentliche Verkündigung (publice testaretur) bezüglich seiner testamentarischen Bestimmungen auf dem Hinrichtungsplatz in Neapel: Friedrich wäre der universelle Erbe seiner Königreiche und seines schwäbischen Herzogtums.87 Eine zweite Motivation, die Friedrichs angebliche Erbeinsetzung untermauerte, wird unmittelbar danach eingefügt: Seine Mutter Margarete war im Testament ihres Bruders Konrad IV. für den Fall des Fehlens von direkten legitimen Nachkommen als dessen Eventualerbin benannt worden.88 Der dritte, aus Petrus’ Sicht unwiderrufliche Grund war die Evidenz, dass der einzige überlebende direkte Nachkomme des verstorbenen Kaisers Friedrich II. dessen Tochter Margarete war. Sie entstammte somit seinem Blut.89 Nach der Erklärung der Rechtskonformität der Ansprüche Friedrichs als Thronkandidat zeigt Petrus von Prece dessen Würdigkeit auf, diese Aufgabe zu übernehmen. Mit einer übermenschlichen Natur begnadet, die ihn in der Schönheit seiner Erscheinung fast engelsgleich wirken lässt, bewies er die nobilitas seines Verhaltens. Gerüstet mit Weisheit (sapientia), rhetorischem Geschick und Achtbarkeit (honestas animi), befreit von Lastern und ausgestattet nur mit Tugenden, geschmückt mit Ehre und Würde (honor und decor), wurde er überall mehr als ein Engel denn als ein Mensch bewundert. Dieser persönliche Ruhm verstärkte sich noch mehr durch seine Herkunft von mütterlicher Seite: dank ihr hatte er kaiserliches Fleisch und ruhmvolles Blut. Auch der etymologische Diskurs wird in die Argumentation eingebunden: Friedrichs Name rührt von seinem kaiserlichen staufischen Großvater her, weshalb der Wettiner ein „dritter Friedrich“ sei. Schrift, Prophezeiungen und Vernunft stimmen dergestalt seiner Mission zur Erlangung der Königs- und Kaiserwürde zu.90 Als dritter Argumentationsstrang zum Beweis der Idoneität Friedrichs wird dann ein knapper und essentieller genealogischer Exkurs eingeschoben, welcher die weit in die Vergangenheit zurückgreifende Herkunft seiner prosapia andeutet. Als Spitzenahn ist hier Eneas positioniert, der Vater des römischen Volkes. Von ihm führt die genealogische Linie auf Julius Caesar, der gleichsam mit dem Privileg des Adels durch Antonomasie ausgestattet war, und sich getraut hatte, das Bündel des römischen Imperiums auf seine Person zu übertragen. Friedrich I. von Meißen stammte direkt aus dieser ununterbrochenen altehrwürdigen
87 Adhortatio (wie Anm. 81), cap. 20, S. 696. 88 Adhortatio (wie Anm. 81), cap. 20, S. 696. 89 Adhortatio (wie Anm. 81), cap. 21, S. 696–697. 90 Adhortatio (wie Anm. 81), cap. 22, S. 697.
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Herrscherreihe, die schon seit langer Zeit von göttlichem Wohlwollen begünstigt wurde, sodass das Haus der Augusti wie ein Himmel voll von Sternen beständig leuchten könnte. Ein Argument gegen die Wahl eines dynastiefremden Herrschers zum römisch-deutschen König wird hier angefügt: Die heilige Erhabenheit des Imperiums (sancta majestas imperii) verschmähe es, von solchen Herrschern, die nicht de sacra domo stammen, geführt zu werden.91 Zwei andere große dynastische Abstammungslinien bereichern Friedrichs Seelengröße und Vollkommenheit. Dank der kaiserlichen Großmutter Isabella fließt in ihm auch das vornehme Blut der Könige Englands, und durch seinen Vater, den Landgrafen von Thüringen und Pfalzgrafen von Sachsen, gehört er dem Geschlecht der gewaltigen und reichen Markgrafen von Meißen und der Ostmark an.92 Die fortuna hat Friedrich nicht nur die Herrscherwürde im Norden, die er von seinem Vater und Großvater geerbt hat, sondern auch die hervorragende Herrschaft über ganz Deutschland gewährt. Zu seiner Verfügung stand auch die Kontrolle über Italien als die „Provinz der Provinzen“, das wertvolle Sizilien und das ehrwürdige Königreich Jerusalems, in partibus Orientis.93 Eine andere herausgehobene Verbindung bereicherte seine Sonderstellung, nämlich die 1267 geschlossene Verlobung mit Kunigunde, einer Tochter König Ottokars II. von Böhmen († 1278), der seinerseits ein legitimer Nachfahre aus dem römischen und dem byzantinischen Kaiserhaus war. Alle diese genealogischen Verbindungen würden Friedrich dazu bestimmen, Fürst unter den Fürsten, König unter den Königen und Kaiser unter den Kaisern zu sein. Gestützt auf die Kraft dieser vier Säulen könne er nicht mehr dulden, dass seine Ländereien, seine Besitztümer und sein Erbe der Herrschaft eines Tyrannen unterworfen seien. Der ganze Brieftraktat ist ein Appell zur Durchführung jener politischen Mission, zu der Friedrich durch seine erbrechtliche Bestimmung gleichsam als moralische Verpflichtung aufgerufen sei, nämlich die Kontinuität des Kaisertums sicherzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, bediente sich Petrus von Prece im ersten Teil seiner Schrift eines sehr originellen Argumentationsmusters. Die Untermauerung der wettinisch-thüringischen Mission geschah mit der Schilderung des schlechten Charakterbilds Karls von Anjou und mit dem vernichtenden Urteil über seine Dynastie. Durch Rekurs auf traditionell negativ konnotierte Gestalten der Antike – Kaiser Nero als Verfolger der Christenheit, den Emporkömmling
91 Adhortatio (wie Anm. 81), cap. 23, S. 697. 92 Adhortatio (wie Anm. 81), cap. 24, S. 698. 93 Adhortatio (wie Anm. 81), cap. 24, S. 698.
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Ruffinus94 und den Verschwörer Catilina – rückte der Text die Herrschaft Karls von Anjou in ein schlechtes Licht.95 Auch die Abstammung von Karl dem Großen, auf die sich der Bruder des französischen Königs berief und die etwa Andreas von Ungarn in seiner papstfreundlichen Descriptio victoriae Karoli besonders herausstellt,96 wird in der prostaufischen Publizistik dementiert und Karls herausragende genealogische Herkunft damit dekonstruiert. Nicht Karl der Große, sondern der Verräter und ‚Usurpator‘ Hugo Capet gilt hier als Spitzenahn, und die von ihm abgeleitete Dynastie der Kapetinger wird als ununterbrochene Folge von Thronräubern bezeichnet, die das Leben ihrer Nachbarn erschwerte und verunsicherte.97 Die blutige Absetzung, die Hugo Capet verbrecherisch beging, determinierte, wie Petrus bemerkt, die negative Aura der Dynastie: Solche schlechten Wurzeln könnten nur verdorbene Zweige hervorbringen. Karls Verhalten sei von der Grausamkeit seiner Vorfahren bestimmt: Er pflege die Laster und verfolge die Tugenden. Seine Herrschaft gründe auf Hochmut, Geiz, Wut und Unbarmherzigkeit. Gewaltsame Enteignungen seien an der Tagesordnung. Nichts gelte ihm sein Wort, nichts sein Eid. Viele Menschen tötete er mit seinem Schwert, zahllose andere tüchtige Männer schickte er aus nicht berechtigten Gründen in die Verbannung, um sich ihrer Güter zu bemächtigen.98 Genau wie seine räuberischen Vorfahren bemächtigte er sich des Königreichs Sizilien, die schlimmste Tat aber war sicher die Hinrichtung Konradins, der wider alle Gerechtigkeit, gegen jedes Kriegsrecht und gegen die Gewohnheiten alter Zeiten, das Leben eines in der Schlacht gefangenen Königs zu schonen, niedergemacht worden sei.99 Die hier untersuchten Strategien und Begründungsmuster, basierend auf genealogischen Konstruktionen und Tugendsystemen, erweisen sich in dem konfliktreichen politischen Kontext Süditaliens der spätstaufischen Zeit und in dem nicht
94 Müller, Peter von Prezza (wie Anm. 79), S. 66–67, Anm. 14: „Diesem [Rufinus] wurde mit Unrecht die Verantwortung für den Einfall Alarichs in Thrakien zur Last gelegt.“ 95 Adhortatio (wie Anm. 81), cap. 8, S. 690. 96 Karl von Anjou wird in der Descriptio victoriae a Karolo als secundus Carolus bezeichnet, Andreae Ungari Descriptio victoriae a Karolo Provinciae comite reportatae, ed. Georg Waitz (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 26) Hannover 1882, S. 559–580, cap. 4, S. 561 und cap. 8, S. 562–563. Die Dynastie der Staufer hingegen erscheint als korrumpiertes Geschlecht (cap. 3–6, S. 561–562). 97 Adhortatio (wie Anm. 81), cap. 10, S. 690–691. 98 Adhortatio (wie Anm. 81), cap. 11, S. 691–692. 99 Adhortatio (wie Anm. 81), cap. 12, S. 692; über die Hinrichtung Konradins und die Diskussion eines Majestätverbrechens, vgl. Hans Schlosser, „Der Tod des letzten Staufers. Prozess und Hinrichtung Konradins im Jahre 1268“, in: Oberbayerisches Archiv 127 (2003), S. 41–59.
Wer ist zur Herrschaft geeignet?
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weniger problematischen Kampf um das imperiale Erbe Kaiser Friedrichs II. als Teil eines breiteren legitimatorischen respektive delegitimatorischen Diskurses. Die zwei wesentlichen Diskursströme, die mit der analytischen Kategorie der innerweltlichen Transzendenz erfasst und beschrieben werden können, lassen sich in den historiografischen Erzählungen der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf argumentativer Ebene nur schwer voneinander trennen. Die hier zitierten Gelehrten operierten, wie aus den betrachteten Zeugnissen hervorgeht, vielfach durch Rekurs auf vorbildhafte oder aber auf negativ konnotierte Leitfiguren, die einen genealogischen Bezug herstellten und als Verkörperungen von übergeordneten Werten und Normen galten. Damit versuchten die Autoren, plausible Argumente und Strategien zu präsentieren, welche die Diskurse über die Eignung zur Herrschaftsübernahme im Königreich Sizilien und für die Kaiserwürde im Interesse der einen oder der anderen Partei beeinflussen sollten. Mit solchen Begründungsmustern rekurrierten sie auf einen gemeinsamen Werte- und Sinnhorizont und leisteten zugleich einen wichtigen Beitrag für die Akzeptanz oder für die Ablehnung der jeweiligen politischen Akteure und der von ihnen beanspruchten Herrschaft.
Gert Melville
Die Bedeutung geschichtlicher Transzendenzräume und ihre Kritik Zum Problem der Plausibilisierung dynastischer Geltungsbehauptungen Die Kultur des Mittelalters brachte meisterliche Einsätze von Geschichte als Instrument der Legitimierung, des begründenden Beleges von rechtlichen und politischen Ansprüchen, der argumentativen Rechtfertigung von Plänen und Taten sowie der Stiftung von Memoria hervor.*1 Das hierbei fundierende und einen gemeinsamen Horizont von Interpretation und Handeln stiftende Paradigma lautete „Historia magistra vitae“2 und erlaubte noch bis in die Frühe Neuzeit hinein3 nahezu unwidersprochen, aus der Vergangenheit grundsätzlich direkte Schlüsse auf Strukturen der Gegenwart zu ziehen. Bereits jene Enzyklopädie, die das mittelalterliche Bildungsspektrum erstmals im Wesentlichen absteckte – die Etymologiae des Isidor von Sevilla (um 560–636) –, hatte unterstrichen: „Viele Weise nämlich haben die vergangenen Taten der Menschen zur Unterweisung der gegenwärtigen [Lebenden] in Geschichtswerken niedergelegt.“4 Spätere Denker griffen diesen grundlegenden Aspekt in unzähligen Äußerungen immer wieder auf und trugen dazu bei, das Erfordernis, aus ganz pragmatischen Gründen in die Vergangenheit zurückzublicken, zu einem wesentlichen Bestandteil des kul-
* Gewidmet meinen amerikanischen und europäischen Freunden der „Court Culture Group“, bei deren Tagung in Sedona (Arizona) im Juni 2011 ich diese Thematik erstmals vorgetragen habe. 1 Siehe im Überblick Bernard Guenée, Histoire et culture historique dans l’occident médiéval, 2. Aufl., Paris 1991, Nachdruck Paris 2011; Gert Melville, „Der Zugriff auf Geschichte in der Gelehrtenkultur des Mittelalters: Vorgaben und Leistungen“, in: Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. XI/1, Heidelberg 1986, S. 157–228; Hans-Werner Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter, 2. Aufl., Berlin 2008. 2 Siehe Reinhart Koselleck, „Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte“, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, S. 38–66. 3 Vgl. Rüdiger Landfester, Historia magistra vitae. Untersuchungen zur humanistischen Geschichtstheorie des 14. bis 16. Jahrhundert, Genf 1972. 4 „Multi enim sapientes praeterita hominum gesta ad institutionem praesentium historiis indiderunt“; Isidor v. Sevilla, Etymologiae I, 41. Zu den bereits antiken Wurzeln dieser Perspektive vgl. Hermann Strasburger, Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung, 3. Aufl., Wiesbaden 1975.
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turellen Gemeinsinns zu machen. Man war sich einig ebenso über den Nutzen der Geschichtsdarstellungen selbst wie über die praktische Verwendbarkeit dessen, was durch diese vermittelt wurde. Dazu nur zwei exemplarische Zitate: „Die Historie also, da sie Zeugnis der Zeiten, Erinnerungen an das Leben sowie Vermittlerin des Althergebrachten ist, besitzt hervorragende Gaben; sie hat dem, der sie betreibt, außerordentlich viel zu bieten. Historie nämlich stellt wieder her, was am Vergehen ist, ruft zurück, was sich verflüchtigen will, verewigt gewissermaßen und bewahrt das Sterbliche.“5 – „Denn im historischen Zusammenhang, wie ihn die Sorgfalt der Chronisten uns hinterließ, leuchten deutlicher die Norm der Sitten, die rechte Form zum Leben, der Tüchtigkeit Entflammung, das Dreigestirn auch der theologischen Tugenden und das Viergespann der Kardinaltugenden auf […].“6 Solchen Aussagen wurde in allen Epochen des Mittelalters Geltung beigemessen, und sie ließen sich zudem auf sämtliche Lebensfelder, auf Individuen ebenso wie auf gesellschaftliche und institutionelle Formationen, auf heilsgeschichtliche gleichermaßen wie auf innerweltliche Bereiche beziehen. Die mittelalterliche Kultur war in ihren Grundzügen traditional bestimmt, sie orientierte sich an der Vergangenheit, an dem möglichst Alten, an dem Hergebrachten – allerdings (vor allem ab dem 12. Jahrhundert) nicht in einem statischen, sich dem Neuen verschließenden Sinne, sondern in einer Weise, die in der Wechselhaftigkeit des einstigen Geschehens eine „Laterne der Wahrheit“ (lucerna veritatis)7 gerade zur Bewältigung von Gegenwart und Zukunft hatte erkennen lassen.8 Der wohl tiefsinnigste Geschichtsschreiber des Mittelalters, der Zisterzienser und Bischof Otto von Freising, erschloss sich daraus sogar die Zuversicht des Fort-
5 Heinrich von Huntingdon, „Historia Anglorum“, ed. Thomas Arnold, Rerum Britannicarum medii aevi scriptores, Bd. 74, London 1879, S. 1. 6 Ranulph Higden, „Polychronicon“, ed. Churchill Babington, Rerum Britannicarum medii aevi scriptores, Bd. 41/1, London 1865, S. 4. 7 Johannes von Fordun, „Chronica gentis Scotorum“, ed. William F. Skene, Historians of Scotland, Bd. 1, Edinburgh 1871, S. 1. 8 Grundlegend dazu schon Johannes Spörl, „Das Alte und das Neue im Mittelalter“, in: Historisches Jahrbuch 50 (1930), S. 297–341, S. 498–524. Vgl. auch Albert Zimmermann (Hg.), Antiqui und Moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter, Berlin/New York 1974; Klaus Schreiner, „‚Diversitas temporum‘. Zeiterfahrung und Epochengliederung im späten Mittelalter“, in: Reinhart Herzog (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik 12), München 1987, S. 381–428; Otto Gerhard Oexle, „‚Die Statik ist ein Grundzug des mittelalterlichen Bewußtseins‘. Die Wahrnehmung sozialen Wandels im Denken des Mittelalters und das Problem ihrer Deutung“, in: Jürgen Miethke/Klaus Schreiner (Hg.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, S. 45–70.
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schrittes auf dem Fundament eines Wissens, das in einer sich immer weiter verlängernden Vergangenheit anwuchs: „[…] wir werden durch die Schriften und Vorlagen der Früheren, die vor uns sich um die Weisheit bemüht haben, belehrt und können – umso reifer, in je fortgeschrittenerem Zeitalter der Erde befindlich wir unterrichtet werden – durch uns selbst unter Zusammenfassung alles dessen, was vor uns gefunden worden ist, mit der gleichen geistigen Kraft wie jene Neues aufdecken.“9 Die einfachste Form des Rückgriffs auf Geschichte war die Verdeutlichung historischer Analogien zwischen gegenwärtigen Personen oder Strukturen und solchen, die in der Vergangenheit lagen. Dazu bedurfte es in der Vergangenheit liegender Modelle oder Muster, von denen eine metahistorische Qualität behauptet werden konnte. So bestand im Mittelalter die gängige Meinung, dass etwa Augustus als Prototyp des guten Herrschers, Nero hingegen als der des schändlichen, Salomon als der des gerechten, David als der des geheiligten und so weiter zu gelten habe. Die sogenannten „Neun Helden“ beispielsweise verkörperten wahre Ritterlichkeit in den drei möglichen Kulturkreisen – im alttestamentlichen, im heidnisch-vorchristlichen und im christlichen.10 Troja etwa stand für den Geburtsstätte des Adels und die Wiege europäischer Dynastien,11 Babylon und das pharaonische Ägypten galten antithetisch zu Jerusalem als Verkörperungen des heidnisch Lasterhafte, Indien mit seinem angeblichen Priesterkönig für den unermesslich reichen Friedensraum.12 Das Mittelalter fand in solchen Topoi kategoriale Orientierungen und suchte dort nicht nur normative Rahmungen für das praktische Handeln, sondern auch persönliche Identifizierungen. Insbesondere zeitgenössische Herrscher setzte man gleich mit modellhaften Figuren der Ver-
9 Otto von Freising, „Chronica sive Historia de duabus civitatibus“, ed. Adolf Hofmeister, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum 45, Hannover 1912, S. 226. – Zu dem hier ebenfalls einschlägigen, erstmals bei Bernhard von Chartres 1120 belegbaren Bild von den Zwergen, die auf den Schultern von Riesen stehen und deshalb weiter als diese zu sehen vermögen, siehe Johannes von Salisbury, Metalogicon, ed. John B. Hall (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis 98), Turnhout 1991, S. 116. 10 Vgl. Georg Scheibelreiter, „Höfisches Geschichtsverständnis. Neuf Preux und Neuf Preuses als Sinnbilder adeliger Weltsicht“, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 114 (2006), S. 251–288. 11 Vgl. František Graus, „Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter“, in: Willi Erzgräber (Hg.), Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes, Sigmaringen 1989, S. 25–43. 12 Siehe István Pieter Bejczy, La lettre du prêtre Jean. Une utopie médiévale, Paris 2001.
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gangenheit, behauptete, in ihnen einen zweiten Alexander, einen zweiten Scipio, Salomon oder David zu sehen.13 Gleichwohl bedurfte ein solcher Rückgriff auch der (Re-)Konstruktion einer lückenlosen Geschichtskontinuität, mit deren Hilfe Muster der Vergangenheit überhaupt erst verfügbar waren. Die Darstellung von Geschichtskontinuitäten hatte allerdings eine weitere, ganz genuine Qualität: Neben materialreichen Universalchroniken, die den Heilsprozess der Menschheit aufzeigen sollten,14 die aber konkret auch als Sammlungen von Handlungsmustern, als belehrende Steinbrüche für Predigtzwecke15 oder als Legitimationen von weltgeschichtlichen Herrschaftsstrukturen16 verwendet werden konnten, waren es vor allem „institutionelle Geltungsgeschichten“17, anhand derer in jeweils ganz spezifischer Weise Vergangenheit und Gegenwart verknüpft werden konnte. Der Leitgedanke war dabei, durch Nachweis und Präsentation eines kontinuierlichen Geschichtsablaufes möglichst von einem unvordenklichen Anfang an – zum Beispiel beginnend bei einem sog. „Spitzenahn“ oder eines faktischen, gleichwohl zum Mythos erhobenen Ursprungsgeschehens oder Gründungsaktes – eine Gewordenheit der Gegenwart darzustellen, in die die gesamte Vergangenheit in gleichsam entzeitlichter Gesamtheit eingeflossen ist. Solche „Geltungsgeschichten“ – und das beschränkt sich nicht nur auf das Mittelalter, welches hierin aber durchaus protagonistisch gewirkt hatte – „stiften Kontinuität über Zeit, sie vergegenwärtigen Traditionen und entwerfen Zukünfte, sie rahmen die Selbstentwürfe und die
13 Siehe jetzt zu Philipp dem Guten, den man posthum mit allen neuen Helden dergestalt identifizierte, dass er durch die Aufnahme der Kraft all dieser wiederum mehr war als sie und in einer Art Apotheose aufstieg in das Empyrium des höchsten Heldentums, Gert Melville, „Death and Apotheosis at the Burgundian Court. Some observations on Philip the Good and Molinet’s ‚Trosne d’honneur‘“, in: Karl-Heinz Spiess/Immo Warntjes (Hg.), Death at Court, Wiesbaden 2012, S. 21–32. 14 Vgl. in Zusammenfassung Gert Melville, „Wege zum Heil in der christlichen Kultur des Mittelalters“, in: Johannes Fried/Ernst-Dieter Hehl (Hg.), WBG Weltgeschichte, Bd. III: Weltdeutungen und Weltreligionen 600 bis 1500, Darmstadt 2010, S. 388–409, hier S. 390– 393. Siehe ausführlich schon Amos Funkenstein, Heilsplan und natürliche Entwicklung. Formen der Gegenwartsbestimmung im Geschichtsdenken des hohen Mittelalters, München 1965. 15 Siehe Michael Menzel, Predigt und Geschichte. Historische Exempel in der geistlichen Rhetorik des Mittelalters, Köln 1998. 16 Siehe Gert Melville, „Weltgeschichte als Legitimation“, in: David E. Wellbery/Judith Ryan/ Hans Ulrich Gumbrecht et al. (Hg.), Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 2007, S. 177–182. 17 Vgl. zu dieser Form des geltungssichernden Umgangs mit Geschichte Gert Melville/ Hans Vorländer (Hg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln/Weimar/Wien 2002.
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Selbsthistorisierungen institutioneller Ordnungen. Geltungsgeschichten verleihen auf diese Weise den Institutionen Dauer, Legitimation und Identität.“18 Die älteste, im Mittelalter hoch erfolgreiche Geschichtsaufzeichnung dieser Art, nämlich der sog „Liber Pontificalis“19, wurde schon in der ausgehenden Antike begonnen und mittels eines zusammenhängenden Leittextes bis in die Karolingerzeit fortgesetzt, dann im Hoch- und Spätmittelalter kompilatorisch mit Hilfe anderer Texte20 kontinuiert. Das Gestaltungsprinzip war die abschnittsweise Darlegung der Taten (gesta) eines jeden Papstes mit jeweils analogen thematischen Bauelementen (Personendaten wie Herkunft, Wahl- und Sterbedatum, legislative Akte, Bischofsordinationen, Bautätigkeiten, herausragende politische Aktivitäten), so dass ein Bild der Gleichförmigkeit entstand und somit bei fortschreitendem Bestandsausbau eine institutionelle Stabilität symbolisiert werden konnte.21 Ab etwa dem 12. Jahrhundert vermehrten sich vergleichbare Geschichtswerke beträchtlich und nahmen dann ab dem 14. Jahrhundert exponenziell zu. Thematische Schwerpunkte waren zunächst (aufgrund des dortigen intensiveren Schriftgebrauchs) kirchliche Institutionen („Gesta episcoporum“ oder „Gesta abbatum“22 sowie Fundationsberichte23), dann aber ab etwa dem Hochmittelalter
18 Hans Vorländer/Gert Melville, „Geltungsgeschichten und Institutionengeltung. Einleitende Aspekte“, in: Melville/Vorländer, Geltungsgeschichten (wie Anm. 17), S. IX–XV, hier S. IX. 19 Vgl. Ottorino Bertolini, „Il ‚Liber Pontificalis‘“, in: La storiografia altomedievale (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 17), Spoleto 1970, S. 387–456; Patrizia Carmassi, „La prima redazione del Liber pontificalis nel quadro delle fonti contemporanee. Osservazioni in margine alla vita di Simmaco“, in: Herman Geertman (Hg.), Atti del Colloquio Internazionale Il Liber Pontificalis e la Storia Materiale. Roma, 21–22 febbraio 2002, Assen 2003, S. 235–266. 20 Vgl. Gert Melville, „Le problème des connaissances historiques au Moyen Age. Compilation et transmission des textes“, in: Jean-Philippe Genêt (Hg.), L’historiographie médiévale en Europe, Paris 1991, S. 21–41. 21 Dazu Gert Melville, „‚ …de gestis sive statutis Romanorum pontificum …‘. Rechtssätze in Papstgeschichtswerken“, in: Archivum Historiae Pontificiae 9 (1971), S. 377–400. 22 Siehe Michel Sot, Gesta episcoporum, gesta abbatum, Turnhout 1981–1985. 23 Siehe Jörg Kastner, Historiae fundationum monasteriorum. Frühformen monastischer Institutionsgeschichtsschreibung im Mittelalter, München 1974; zu klösterlichen Geltungsgeschichten vgl. jetzt auch Gert Melville, „Knowledge of the Origins. Constructing Identity and Ordering Monastic Life in the Middle Ages“, in: Joseph P. Canning/Edmund J. King/ Martial Staub (Hg.), Knowledge, Discipline and Power in the Middle Ages. Essays in honor of David Luscombe, Leiden/Boston 2011, S. 41–62.
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auch die Geschichte der städtischen Kommunen24, der Dynastien25 und damit verbunden der Landesherrschaften26. Insbesondere die großen Dynastien vollbrachten hierbei herausragende Leistungen, denn deren Argumentation um Vorrechte, Rang und Würde konnte kaum etwas anderes sein als eine historisch geführte. Nur im Verbund mit den Vorfahren war es möglich, Idoneität zum Herrschen wie auch Herrschaftsrechte zu reklamieren und Forderungen zu stellen, die den Augenblick überschritten und auf eine Fortsetzung bislang bewiesener Größe zielten.27 Eine entsprechende Ahnenkette, die gewöhnlich von einem herausragenden Spitzenahn ausging, bedurfte des nachgewiesenen Kontinuums der Qualitätsweitergabe von Generationenglied zu Generationenglied bis zum gegenwärtigen Vertreter. Die Zeitspanne zwischen Beginn und Gegenwart musste vorgeführt werden als eine ungebrochene Abfolge konkreter Einlösungs- und im besten Falle auch Steigerungsakte primordialer Qualitäten, so dass sich die Blutslinie der Vorfahrenschaft nach und nach anreicherte, um dann das gesamte Ergebnis dieses Verlaufs in
24 Vgl. z.B. Jörg W. Busch, Die Mailänder Geschichtsschreibung zwischen Arnulf und Galvaneus Flamma. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit im Umfeld einer oberitalienischen Kommune vom späten 11. bis zum frühen 14. Jahrhundert, München 1997. 25 Vgl. in Auswahl: Georges Duby, „Remarques sur la littérature généalogique en France au XIe et XIIe siècles“, in: ders., Hommes et structures du Moyen Âge, Paris 1973, S. 267–185; Bernard Guenée, „Les généalogies entre l’histoire et la politique. La fierté d’être Capétien, en France, au Moyen Age“, in: ders., Politique et histoire au Moyen Âge. Recueil d’articles sur l’histoire politique et l’historiographie médiévale (1956–1981), Paris 1981, S. 341–368; Jean-Marie Moeglin, Les ancêtres du prince. Propagande politique et naissance d’une histoire nationale en Bavière au Moyen Âge, Genf 1985; G. Melville, „Vorfahren und Vorgänger. Die Genealogie als Legitimation dynastischer Herrschaft im Spätmittelalter“, in: Peter J. Schuler (Hg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband, Sigmaringen 1987, S. 203–309; Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität: Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004; Julian Führer, „Gegenwart der Vorgänger und genealogisches Bewusstsein bei den Kapetingern (987– 1223)“, in: Hartwin Brandt/Katrin Köhler/Ulrike Siewert (Hg.), Genealogisches Bewusstsein als Legitimation: Inter-und intragenerationelle Auseinandersetzungen sowie die Bedeutung von Verwandtschaft bei Amtswechseln, Bamberg 2010, S. 145–166. 26 Vgl. Hans Patze, „Adel und Stifterchronik. Frühformen territorialer Geschichtsschreibung im hochmittelalterlichen Reich“, in: ders., Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Peter Johanek/ Ernst Schubert/Matthias Werner, Stuttgart 2002, S. 109–250. Siehe auch die musterhafte Untersuchung von Yvon Lacaze, „Le rôle des traditions dans la genèse d’un sentiment national au XVe siècle. La Bourgogne de Philippe le Bon“, in: Bibliothèque de l’Ecole des Chartes 129 (1971), S. 303–385. 27 Grundlegend dazu Karl Schmid, Geblüt, Herrschaft, Geschlechterbewußtsein. Grundfragen zum Verständnis des mittelalterlichen Adels, aus dem Nachlass hg. v. Dieter Mertens/Thomas Zotz, Sigmaringen 1998.
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den gegenwärtigen Vertreter einfließen zu lassen. Dabei konnte zudem von der Fiktion ausgegangen werden, die Qualität jedes einzelnen Generationenglieds wirke sich durch die bestehende Blutskontinuität unmittelbar auf die Gegenwart aus, so dass die Genealogien gewissermaßen auch eine ‚Vergleichzeitigung‘ des Ungleichzeitigen lieferten, die sich im zeitgenössischen Vertreter der Dynastie bündelte und ihn besonders geeignet für Herrschaftsaufgaben erscheinen ließ. Die dynastisch begründete Fähigkeit zum Herrschen war allerdings prinzipiell an ein bestimmtes, sich derzeit im Besitz des Geschlechts befindliches oder aber auch nur beanspruchtes Herrschaftsobjekt – ein Königtum, ein Herzogtum usw. – gebunden. Folglich musste es gleichfalls darauf ankommen, eine möglichst vollständige Deckung von Vorfahren und Vorgängern in der betreffenden Herrschaftsausübung aufzuzeigen, wie es beispielsweise den französischen Kapetingern gelungen war, sich über Ansippungen an die Karolinger und Merovinger direkt auf einen gewissen Francion zurückzuführen, den ersten Anführer der trojanischen Flüchtlinge, die sich dann „Franken“ nennen sollten.28 Die argumentativ stärkste Vorgehensweise war, sogar die Identität zwischen dem Spitzenahn und dem Begründer jener Herrschaft bzw. dem Urheber der betreffenden Ethnogenese zu behaupten, denn gerade die Verbindung zum „staatstragenden“ Volk (vertreten durch die Stände) wurde im späteren Mittelalter ein immer wichtigerer Faktor der dynastischen Herrschaftsfestigung. Die poietische Ausgestaltung dieser Struktur war die Genealogie, die sich auf diejenige Vorfahrenlinie (mit der Narrationsformel „x“ genuit „y“, „y“ genuit „z“, die oftmals mit grafischen Mitteln eine visuelle Veranschaulichung fand29) konzentrierte, welche möglichst weitgespannt oder im besten Fall vollständig mit der institutionellen Sukzessionslinie der Herrschaft übereinstimmte.30 So waren jene Genealogien auch als Geschichten von Institutionen, von Körperschaften – oder
28 Siehe zu den Anfängen dieser Geschichtskonstruktion Hans Hubert Anton, „Troja-Herkunft, origo gentis und frühe Verfaßtheit der Franken in der gallisch-fränkischen Tradition des 5. bis 8. Jahrhunderts“, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 108 (2000), S. 1–30; zu entsprechenden Ansippungstechniken vgl. Karl Ferdinand Werner, „Die Legitimität der Kapetinger und die Entstehung des Reditus regni Francorum ad stirpem Karoli“, in: Die Welt als Geschichte 12 (1952), S. 203–225; dazu auch Gabrielle M. Spiegel, „The Reditus Regni ad Stirpem Karoli Magni: a new look“, in: French Historical Studies 7 (1971), S. 145–174. 29 Siehe Gert Melville, „Geschichte in graphischer Gestalt. Untersuchungen zu einem spätmittelalterlichen Darstellungsprinzip“, in: Hans Patze (Hg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen, Bd. XXXI), Sigmaringen 1987, S. 57–154. 30 Zu dieser Technik schon ausführlich Melville, „Vorfahren und Vorgänger“ (wie Anm. 25), insbesondere S. 246–254.
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in mittelalterlicher Terminologie – von universitates zu verstehen, von denen galt, was Ernst Kantorowicz treffend auf den Punkt brachte: „[…] der wesentliche Zug aller Körperschaften war nicht, daß sie ‚eine Vielzahl von Personen, in einem Leib versammelt‘ waren im gegenwärtigen Augenblick, sondern daß sie diese Pluralität sukzessive bildeten, kraft der Zeit und in der Zeit. […] Daher war die Pluralität in der Nachfolge oder die Pluralität in der Zeit der wesentliche Faktor, der die universitas in die Kontinuität hob und sie unsterblich machte.“31 Die genealogische Angleichung einer einlinig gestalteten Vorfahrenreihung an die ebenfalls einlinige Kontinuitätsform einer solchen universitas schuf eine strukturelle Analogie von dynastischer Blutsfolge und institutioneller Amtssukzession, so dass ein hoch symbolischer Geltungsanspruch erzielt werden konnte, den Kantorowicz ebenfalls pointiert formulierte: „Die Dynastie, das ‚Haus‘, ähnelte einer überindividuellen Wesenheit, vergleichbar einer universitas, die ‚nie starb‘.“32 Der zeitgenössische Vertreter der Dynastie ließ sich hiermit nicht nur allgemein für Herrschaftsaufgaben als geeignet zeigen, sondern gerade auch für die Herrschaftsausübung über diejenige Einrichtung, bei der jene strukturelle Analogie von Dynastie und Amtssukzession noch überformt wurde durch tatsächliche (oder als tatsächlich glaubhaft gemachte) Identität der – in mittelalterlicher Terminologie gesagt – „devolutio dominorum“ mit der „surrogatio in dominio“.33 Über die Berechtigung eines solchen dynastischen Geltungsanspruches dürfte im Mittelalter (und wohl auch noch weit in die Neuzeit hinein, solange das monarchische Prinzip funktionierte) gemeinhin kein Zweifel bestanden haben.34 Es waren vornehmlich Juristen oder juristisch geschulte Theoretiker der Politik, die sowohl die ursprünglich recht numinosen Vorstellungen von dynastischer Wirkungskraft rationalisierten und sie in die schon angesprochene Korporationslehre einfügten als auch das biologische Fundament juristisch analysierten und
31 Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theorie des Mittelalters, München 1989, S. 314 (nach der englischen Ausgabe: The King’s Two Bodies, 2. Aufl., Princeton 1966, S. 310) 32 Kantorowicz, Körper (wie Anm. 31), S. 338. 33 Dazu Melville, „Vorfahren und Vorgänger“ (wie Anm. 25), S. 251–254. 34 Wenn auch kontinuierlich Kritik an solchen konkreten Verhaltensweisen geübt wurde, mit denen die Dynastien oftmals ihre politischen Ambitionen durchzusetzen suchten. Siehe noch zu Beginn der Neuzeit die einschlägigen Abmahnungen eines Erasmus von Rotterdam in seinem Werk „Querela pacis“ vom Jahre 1521 (zit. nach der Übersetzung von Rudolf Liechtenhan, Erasmus von Rotterdams Klage des Friedens, Bern/Leipzig 1934, S. 35f.): „Jetzt schämt man sich, daran zu denken, aus was für schäbigen und schändlichen Ursachen christliche Fürsten den Erdkreis mit Krieg überziehen. Da ist einer, der irgendeinen fadenscheinigen oder anrüchigen Rechtstitel bald erfunden oder konstruiert hat […]. Da hat einer mit dem anderen einen Privatzwist, weil er ihm die Braut weggeschnappt hat […].“
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ihm überzeugend eine konkrete rechtliche Relevanz zuwiesen. So schrieb – um nur ein Beispiel anzuführen – der Legist Jean de Terrevermeille (al. Terrerouge) zu Beginn des 15. Jahrhunderts in einem Traktat über die legitime Nachfolge in Erbreichen: „Im Samen des Menschen liegt eine gewisse eindrückliche und aktive Kraft, hergeleitet von der Seele des Zeugenden und seiner fernen Vorfahren. Und somit besteht eine besondere Identität in der Natur des Vaters und des Sohnes.“35 Eine der politischen Lehren, die aus solcherart Feststellungen abgeleitet wurde, lautete, dass das Volk auch den Söhnen und Sohnessöhnen bereitwillig gehorchen werde, wie es dies auch gegenüber deren Vätern in langer Gewohnheit getan habe.36 Gemeinsinn wurde folglich darin gesehen, dass dem jeweiligen zeitgenössischen Herrscher gewissermaßen ein „Transzendenzraum“ angeboren worden ist, der ihm Idoneität für das jeweilige Herrscheramt verlieh. Dieser „Transzendenzraum“ war die Tiefe der Vergangenheit seiner Dynastie. Er schien damit auf dem ersten Blick ein innerweltlicher zu sein, doch taten die meisten Dynastien alles, um ihn metaphysisch aufzuladen, ihn also gleichsam zu sakralisieren37 oder ihn durch Verweis auf tatsächlich heilige Vorfahren38 bzw. durch eine Anbindung an biblische Gestalten39 religiös zu überhöhen. Im Wesen der Person des Herr-
35 „[…] in semine hominis est quaedam vis impressiva, activa, derivata ab anima generantis et a suis remotis parentibus. Et sic est identitas particularis naturae partis et filii […]“; Tractatus de iure futuri successoris legitimi in regiis hereditatibus, ed. in: François Hotman, Consilia, Arras 1586, S. 35. 36 So z.B. im späten 13. Jahrhundert Aegidius Romanus, De regimine principum libri III, Rom 1607 (Nachdr. Aalen 1967), S. 461. 37 Vor allem durch einen entsprechenden Totenkult anhand der dynastischen Grablege. Zu einer der eindrücklichsten Ausformungen solcher Sakralisierungen vgl. Eva Leistenschneider, Die französische Königsgrablege Saint-Denis. Strategien monarchischer Repräsentation 1223–1461, Weimar 2008. 38 So schon beispielsweise zu Beginn des 10. Jahrhunderts der Geschichtsschreiber Regino von Prüm („Reginonis abbatis Prumiensis Chronicon cum continuatione Treverensi“, ed. Friedrich Kurze, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum Bd. 50, Hannover 1890, S. 116) zur Vorfahrenlinie Kaiser Arnulfs von Kärnten: „ob recordationem reverentissimi Arnolfi, Metensis ecclesiae episcopi, de cuius sancto germine sua aliorumque regum Francorum prosapia pullulaverat.“ Vgl. Matthias Becher, „Arnulf von Kärnten – Name und Abstammung eines (illegitimen?) Karolingers“, in: Uwe Ludwig (Hg.), Nomen et fraternitas: Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag, Berlin 2008, S. 665– 682. Zu einem einschlägigen Großprojekt des ausgehenden Mittelalters vgl. Tanja Reinhardt, Die habsburgischen Heiligen des Jakob Mennel Diss. Freiburg 2002, http://www.freidok.unifreiburg.de/volltexte/2438/pdf/Dissertation_Tanja_Reinhardt.pdf (Zugriff am 07.10.2012). 39 So etwa hinsichtlich der Staufer durchgeführt von Gotfried von Viterbo oder Rudolf von Ems; siehe dazu demnächst die Dresdner Dissertation von Kai Hering, Studien zur
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schers – so nahm man generell an – lag es, dass diese auf einen solchen Raum, sich selbst übersteigend, verwies und ihn damit zugleich sich einverleibte. Die Person des Herrschers verkörperte – so ließ sich folglich behaupten – in sich alle Leistungen, Ränge, Würden und Ansprüche, die diesem Raum zu entnehmen waren, und sprengte dadurch die ihm individuell zugemessenen Grenzen politischen Vermögens auf. Die reale Kurzlebigkeit vieler mittelalterlicher Dynastien stand allerdings einem einfachen Nachzeichnen großer Vergangenheiten entgegen.40 Zum einen ließen sich, von einigen königlichen Linien und seltenen Ausnahmen wie beispielsweise dem Grafengeschlecht der Flandrer abgesehen, keine männlichen Vorfahrenketten über das 12. Jahrhundert hinaus zurückverfolgen, da sich in diesem Zeitraum erst agnatisch geordnete, einem festen und namengebenden Ort (zumeist eine Burg wie Hohenzollern, Wettin, Wittelsbach usw.) sich zuschreibende Dynastien herausgebildet hatten. Zum anderen starben Geschlechter aufgrund von kriegerischen Aktivitäten oder ganz simpel wegen Mangels an männlichen Erben oftmals nach wenigen Generationen wieder aus (das Haus Andechs-Meranien oder die Grafen von Bogen sind signifikante Beispiele). Manche Dynastien bildeten sich entweder durch abrupten Aufstieg oder durch Abspaltung von anderen Adelshäusern mehrfach erst im späten Mittelalter heraus (die Valois-Herzöge von Burgund etwa). Vor allem aber war es oftmals recht schwer, die längerfristige Bindung eines Geschlechts an ein Herrscheramt oder ein Territorium aufweisen zu können (man denke etwa an die wechselnden Bezüge der Welfen, an den großen Transfer der Luxemburger nach Böhmen usw.). Unvermeidlich also war es, genealogische Konstruktionen anzufertigen, die Überlieferungslücken überbrückten, auf weibliche Verbindungsglieder zurückgriffen oder schlichtweg ganze Generationenketten hinzufügten, welche tatsächlich nie existiert haben.41 Vielfach schien dabei der Fantasie kaum Grenzen gesetzt zu sein. So ließ sich beispielsweise Karl IV. in seiner Repräsentationsburg Karlstein südwestlich von Prag eine Freskenreihe seiner angeblichen Vorfahren malen, die nicht nur über die brabantische, karolingische und merovingische Linie bis zu den Trojanern zurückgeführt wurde, sondern daran noch euhemeris-
Konstruktion von Idoneität und Herrschaftslegitimation in der staufischen Historiographie des 12./13. Jahrhunderts. 40 Zu Folgendem schon im Überblick Melville, „Vorfahren und Vorgänger“ (wie Anm. 25), S. 220–224. 41 Vgl. dazu ausführlich Melville, „Vorfahren und Vorgänger“ (wie Anm. 25), S. 260–276. Siehe auch Gerd Althoff, „Genealogische und andere Fiktionen in der mittelalterlichen Historiographie“, in: Fälschungen im Mittelalter. Teil I: Kongreßdaten und Festvorträge. Literatur und Fälschung, Hannover 1988, S. 416–441.
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tisch verstandene Gestalten der antiken Götterwelt zurück bis Noah anschloss.42 Damit stand er nicht allein; andere43 – wie die burgundischen Herzöge44, die Wittelsbacher45 oder die Habsburger46 – übertrafen ihn dabei sogar noch an elaborierten Finessen oder durch ein Zurückgehen bis zum denkbar weitesten Punkt, bis Adam47. Die Technik solcher Formen des Rückgriffs auf die Vergangenheit, die man heute als irrelevante Fälschung und lügnerische Fiktion beiseiteschieben mag, stellte damals keine ungewöhnliche Vorgehensweise dar, hatte es doch vielfach ‚nur‘ gegolten, eine ungenügende, falsche Wirklichkeit durch die eigentliche Wahrheit zu ersetzen.48 Das Mittelalter war bemerkenswert unkritisch gegenüber Feststellungen, die aus heutiger Sicht als völlig abwegig erscheinen. So hatte man beispielsweise keine Probleme, die Existenz eines christlichen Priesterkönigs in Indien oder Mohammed als verhinderten Papst zu akzeptieren. Solche Behauptungen erschienen glaubwürdig, weil sie sich bestens in den allgemeinen Erwartungs- und Deutungshorizont hatten einfügen lassen.49 Entscheidend nämlich war, dass sie in einer Form vorgetragen worden sind, die sie als plausibel erscheinen ließ.50 Plausibilität dynastischer Konstruktionen erreichte man erstens dadurch, dass man das konstruierende Verfahren völlig verborgen hielt, indem man sich
42 Siehe die Graphik ebd., S. 262; vgl. Josef Neuwirth, Der Bildercyklus des Luxemburger Stammbaumes aus Karlstein, Prag 1897. 43 Vgl. Evemarie Clemens, Luxemburg-Böhmen, Wittelsbach-Bayern, Habsburg-Österreich und ihre genealogischen Mythen im Vergleich, Trier 2001. 44 Siehe Melville, „Vorfahren und Vorgänger“ (wie Anm. 25), S. 276–296. 45 Siehe Jean-Marie Moeglin, „Die Genealogie der Wittelsbacher. Politische Propaganda und Entstehung der territorialen Geschichtsschreibung in Bayern im Mittelalter“, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 96 (1988), S. 33–54. 46 Beate Kellner, „Genealogische Entwürfe am Hof Kaiser Maximilians I. (am Beispiel von Jakob Mennels Fürstlicher Chronik)“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 37 (2007), S. 122–150. 47 Siehe Tobias Tanneberger, Vom Paradies über Troja nach Brabant, Berlin 2012. 48 Siehe Horst Fuhrmann, „Die Fälschungen im Mittelalter“, in: Historische Zeitschrift 197 (1963), S. 529–554. 49 Siehe dazu Gert Melville, „Durch Fiktionen von der Wirklichkeit zur Wahrheit. Zum mittelalterlichen Umgang mit Widersprüchen zwischen Empirie und kultureller Axiomatik“, in: Ursula Peters/Rainer Warning (Hg.), Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag, München 2009, S. 83–104. 50 Zu dem hohen Aufwand, der für solche Plausibilisierungen betrieben wurde, siehe Gert Melville, „Kompilation, Fiktion und Diskurs. Aspekte zur heuristischen Methode der mittelalterlichen Geschichtsschreiber“, in: Christian Meier/Jörn Rüsen (Hg.), Historische Methode (Beiträge zur Historik, Bd. 5), München 1988, S. 133–153.
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z.B. auf authentische Quellenbelege (die man oftmals gleichzeitig erfand) berief; zweitens, indem man sich an vorhandene und bereits akzeptierte Muster und Topoi (wie etwa die trojanische Abstammung) anschloss; drittens, indem man vertraute gegenwärtige Verhältnisse in die Beschreibung vergangener Strukturen einfließen ließ. Der Aufwand, denn man dabei betrieb, war nicht gering und konnte im späteren Mittelalter sogar den Charakter eines investigativen Vorgehens annehmen. So etwa unternahm es der Chronist Jacques de Guise (†1399), der die Geschichte des Prinzipats Hennegau auf das Volk der alten Belger zurückführen wollte, nach aufwändig scholastischer Methode nachzuweisen, dass die einstig vom Eponym Bavo gegründete Stadt Belgis identisch sei mit der noch bestehenden Stadt Bavai und dadurch eine tatsächliche Herrschaftskontinuität bis heute bestehe. Sein Vorgehen war dasjenige eines seitenlangen Ausschlusses aller anderen Möglichkeiten mit Hilfe quellengestützter Abwägung positiver wie negativer Argumente.51 Äußerst problematisch konnte ein solcher Umgang mit der Vergangenheit allerdings dann werden, wenn diese Konstruktionen von geschichtlichen Zusammenhängen in Einzelfällen eben nicht plausibel erschienen. Dann konnte der geschichtliche Transzendenzraum schlagartig zusammenbrechen und daraus gewonnene Argumente gegenstandslos werden, konnte eine Delegitimierung der aus der Geschichte behaupteten Ansprüche, ja gleichsam eine ‚Enttranszendierung‘ erfolgen und somit die Gegenwart gleichsam wieder auf sich selbst zurückwerfen. Angesichts der vielfach äußerst kühnen Entwürfe, deren Akzeptanz man eigentlich nur von jenen erwarten konnte, die sie angefertigt hatten oder denen sie gewidmet worden waren, ist zu vermuten, dass genealogische Geschichtskonstruktionen recht häufig durch von außen kommende Kritik in sich zusammenfielen. Das Erstaunliche aber ist, dass dies höchst selten geschah. Dies wiederum wirft die Frage auf, ob die Geschichtskonstruktionen wohl so hervorragend angelegt waren, dass kein Zweifel an ihrer Richtigkeit aufgekommen war, oder ob sie eine solch unverfügbare Sakralität ausstrahlten, dass niemand wagte, Zweifel daran zu äußern. Eine dritte Möglichkeit – nämlich die Nichtbeachtung der Geschichtskonstruktionen jenseits ihres Entstehungs- und damit auch Interessensbereichs – dürfte unwahrscheinlich sein, denn jene Genealogien wurden grundsätzlich propagandistisch in einer Konkurrenzsituation unter allseitiger
51 „Annales historiae illustrium principum principum Hanoniae“, ed. Ernst Sackur, Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 30, Hannover 1896, S. 78–92. Vgl. dazu schon ausführlich Melville, Kompilation (wie Anm. 50), S. 145–153.
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Außenbeobachtung geschrieben,52 die dem allgemeinen kompetitiven Charakter der mittelalterlichen Adelskultur entsprach. Gleichwohl gab es ein gewisses Spektrum an Zweifel, Beanstandungen und Ablehnungen, das durchaus die strukturellen Schwachpunkte der Geschichtskonstruktionen deutlich macht und sich dabei sogar typologisch ordnen lässt, da es sich auf unterschiedliche Elemente bezog. Hierzu nun einige Beispiele. Kein geringerer als der Humanist (und spätere Papst Pius II.) Aeneas Silvius Piccolomini, übte in seiner um 1475 erstmals gedruckten „Historia Bohemica“ – einem „Meilenstein für die Entwicklung der Historiographie“53 – heftige Kritik an den fabulösen Herleitungen der Böhmen:54 Die Böhmer behaupten wie die übrigen Menschen, die einen möglichst alten Ursprung vorzuzeigen wünschen, Nachkommen der Slawen zu sein. Die Slawen aber seien unter denen gewesen, die nach der allgemeinen Sintflut als die Urheber des berühmten Turmbaus zu Babel gelten und die dort, als die Sprachen verwirrt waren, Sclovani, d.h. Wortreiche, genannt, diesen Eigennamen angenommen hätten. Als sie dann das Land Senaar verlassen hatten, seien sie von Asien nach Europa gewandert und hätten die Landstriche in Besitz genommen, die nun die Bulgaren, Serben, Dalmater, Kroaten und Bosnier bewohnen. Ich habe noch keinen Autor gesehen, dem man Glauben schenken dürfte, der den Anfang seines Volkes so weit vorn angesetzt hat [Nondum ego quempiam legi autorem, cui fides adhibenda sit, qui tam alte sue gentis initium redderet]. Die Hebräer als die ersten von allen Menschen nehme ich aus. Ziemlich viele von den Germanen halten sich für adlig, weil von den Römern abstammend. Die Römer sehen es für den größten Ruhm an, ihren Ursprung von den Trojanern abzuleiten. Die Franken, die auch Germanen waren, haben behauptet, trojanischen Blutes zu sein. Diesen selben Ruhm haben die Britannier zur Genüge, die fest behaupten, ein gewisser Brutus, angereist als Verbannter, habe den Grund zu ihrem Volk gelegt. Aber die Böhmer sind weit früheren Ursprungs und prahlen damit, unmittelbar nach der Verwirrung des Turmes eingewandert zu sein. Im übrigen konnten sie weder angeben, wer sie damals waren, noch welchen König sie hatten, noch welches Landes Bewohner da waren, noch unter welchem Führer, noch unter welchen Gefahren sie nach Europa gekommen sind, noch zu welcher Zeit. Gewesen seien dort die Sclovani, sagen sie, seit die Sprache auf der ganzen Erde verwirrt ist. Eitler und lächerlicher Ruhm [Vana laus ac ridenda]! Wenn aber welche die Böhmer nachahmen wollen und ihre vornehme Abstammung im Altertum selbst suchen, nahmen sie für sich ihre Anfänge leichtfertig an nicht mehr beim Turm von
52 Gert Melville, „Troja – Die integrative Wiege europäischer Mächte im ausgehenden Mittelalter“, in: Winfried Eberhard/Ferdinand Seibt (Hg.), Europa – 1500, Stuttgart 1987, S. 415–432. 53 So Claudia Märtl, „Rezension von: Aeneas Silvius Piccolomini: Historia Bohemica. Gesamtwerk. Hg. von Joseph Hejnic und Hans Rothe, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2005“, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3, http://www.sehepunkte.de/2006/03/8853.html (Zugriff am 07.10.2012). 54 Aeneas Silvius Piccolomini: Historia Bohemica, Bd. 1, hg. von Joseph Hejnic, mit einer deutschen Übersetzung von Eugen Udolph, Weimar/Wien 2005, hier zitiert S. 31, 33, 35.
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Babylon, sondern bei der Arche Noa und beim üppigen Paradies selbst und bei den Stammeltern und dem Schoße Evas, woher alle kommen. Wir lassen diese sozusagen altweiberhaften Spinnereien [anilia deliramenta] außer acht.
Es ging hier nicht nur um die Herkunft eines Volkes, sondern implizit auch um jene Adelsgeschlechter, die über dieses Volk herrschten und die zur Zeit Piccolominis sich nach einer längeren Epoche der Přemysliden und nachfolgend der Luxemburger rasch abwechselten und daher Anbindungen an die Vorgänger gesucht haben. Piccolomini mochte Recht gehabt haben mit der Feststellung, dass ihm noch kein Volk mit einer solch hohen Altersbehauptung untergekommen sei, der gegenüber die übliche Abstammung von den Trojanern ja regelrecht jung sei. Ungewöhnlich aber war das nicht in seiner Zeit hinsichtlich der Dynastien selbst. Schon Karl IV. hatte sich, wie gezeigt, bis auf Noah zurückgeführt, Philipp der Gute von Burgund tat es ihm gleich; die Habsburger und andere führten sich – wie Piccolomini bemerkte – wirklich bis Adam und Eva zurück. Dass der Autor zu dem herben Wort von „Spinnereien“ (deliramenta) griff, lag aber wohl eher an der schlechten Beweisführung der Böhmen, die – wie er hervorhob – noch nicht einmal vermochten, ihre einstigen Könige und Ländereien anzugeben. Piccolomini selbst nämlich hatte etliche Jahre zuvor an seinen ehemaligen Kollegen in der Wiener Kanzlei, Johannes Hinderbach, einen von ihm verfassten Traktat gesandt, in dem er die Herkunft der Herolde in einer vergleichbar kühnen Weise darlegte:55 In einem uralten Londoner Manuskript habe er einen Text des Thukydides gefunden, wo berichtet werde, Dionysos, der Sohn des Zeus, habe einst Indien erobert und dort alten verdienten Rittern Land zugewiesen, das wiederum von Herkules erobert und dann unter dem König Porus von Alexander dem Großen übernommen worden sei. In Römischer Zeit wurden seinen ritterlichen Bewohnern neue Aufgaben – nämlich die von Herolden – zugeteilt und die entsprechenden Privilegien verliehen, welche dann bis Karl dem Großen erneuert und vermehrt wurden. Das alles klang bei den zeitgenössischen Lesern des Traktates durchaus plausibel, da die dazu erforderlichen, oben genannten Kriterien recht gut erfüllt waren: Es wurde zum einen eine hoch angesehene Autorität
55 Siehe Frank Fürbeth, „‚Vom ursprung der herolde‘. Ein humanistischer Brief als heraldischer Lehrtext“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 117 (1995), S. 437– 488; vgl. auch Gert Melville, „Das Herkommen der deutschen und französischen Herolde. Zwei Fiktionen der Vergangenheit zur Begründung einer Gegenwart“, in: Ingrid Kasten/Werner Paravicini/René Pérennec (Hg.), Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter (Beihefte der Francia, Bd. 43), Sigmaringen 1998, S. 47–59.
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angeführt, zum anderen gab es seit langem ähnliche Herkunftsberichte,56 so dass die Geschichte keineswegs neu war, und letztlich setzten sich die narrativen Einzelelemente auch vollständig aus geläufigen Wissensbeständen zusammen. Die aufgeführten Protagonisten gehörten zu den vertrautesten Gestalten der älteren Geschichte. So kann nicht erstaunen, dass dieses Werk Piccolominis noch im 15. Jahrhundert sogar zwei deutsche Übersetzungen erhielt. Wesentlich treffsicherer erschien Kritik, die nicht am Grundprinzip der Geschichtskonstruktionen ansetzte und damit sich nicht gegen Inhalte des kulturellen Gemeinsinns wandte, sondern die einer konkreten genealogischen Linienführung ablehnend gegenüberstand. Diese konnte auf einzelne, aber nichtsdestoweniger wichtige Details zielen, wie es zum Beispiel im 1269 abgefassten Werk des Pietro di Pretio der Fall war.57 Der Autor, ein glühender Anhänger der eben von Karl von Anjou geschlagenen staufischen Partei, wies insistierend darauf hin, dass der siegreiche Karl keineswegs – obgleich dieser aus Frankreich kommend es immer wieder behauptete – ein Nachfahre Karls des Großen sei, denn auch ein Kuckuck stamme nicht vom Adler ab wie ebenso wenig eine Maus vom Löwen. Vielmehr sei er ein Abkömmling des Usurpators Hugo Capet, der eine Dynastie von Thronräubern begründet habe. Aus schlechten Wurzeln erwüchsen nur schlechte Zweige, wie man an Karl von Anjou jetzt sehen könne. Diese Polemik zielte auf Ausschaltung von Konkurrenz um das gleiche Territorium durch Enthüllung unrichtig behaupteten Erbes von Ruhm. Sie stellte dazu ganz einfach die Weichen genealogischer Linienführung an einem neuralgischen Punkt anders und bediente sich dabei einer realen und unschwer durch die einschlägige Historiografie belegbaren Vergangenheit, die den Prätendenten als unwürdig offenbaren ließ. Ähnlich verhielt es sich bei einer fiktiven Debatte eines französischen Herolds mit seinem englischen Kollegen, wobei es dort allerdings um sukzessionelle Weichenstellungen von nahezu kontinentalem Ausmaß handelte. In dem anonym um
56 Vgl. Gert Melville, „Der Brief des Wappenkönigs Calabre. Sieben Auskünfte über Amt, Aufgaben und Selbstverständnis spätmittelalterlicher Herolde (mit Text-Edition)“, in: Majestas 3 (1995), S. 69–116; siehe den Überblick bei Torsten Hiltmann, Spätmittelalterliche Heroldskompendien. Referenzen adeliger Wissenskultur in Zeiten gesellschaftlichen Wandels, München 2011, S. 441–444. 57 „Adhortatio ad Heinricum illustrem Landgravium Thuringiae de casus regis Conradini nepotis Friderici“, in: Cronisti e scrittori sincroni Napoletani. Storia della monarchia, ed. Giuseppe del Re, 2 Bde., Napoli 1845–1868, hier Bd. 2, S. 683–700, hier, cap. 8-9, S. 690. Vgl. dazu auch Cristina Andenna, „Wer ist zur Herrschaft geeignet? Konstruktion und Dekonstruktion dynastischer Idoneität und Legitimation am Beispiel der späten Staufer“, in diesem Band.
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1456/61 abgefassten Werk58 ging es darum, dass die beiden genannten Herolde vor der Dame Prudence beweisen mussten, welchem ihrer Reiche mehr Ehre zukäme. Die vorgebrachten Kriterien bezogen sich auf Kampfestüchtigkeit, auf wirtschaftliche Bereiche, auf die Lebensart, vor allem aber auf die jeweilige ruhmreiche Geschichte. Dazu führte der englische Herold zunächst aus – selbstbewusst auf die in seinem Lande gängige Geschichtsvorstellung59 zurückgreifend: Madame Prudence, Ihr wisst, dass aus diesem edlen Königreich England der Kaiser Constantin entsprungen ist, der in großer Ehre über das ganze Imperium herrschte. Auch Maximinianus, der ein edler Ritter war und die Gallier sowie die Lombarden besiegte, kam aus England. Und war es dann auch der König Artus, der persönlich so tapfer und ein so großer Eroberer war, dass er zu den Neun Helden gehört. Er gründete die Tafelrunde, die ein Ding der großen Ehre war und an dem so tapfere Ritter saßen, dass noch heute die Romane in der ganzen Welt von ihren Taten erzählen und sie auf immer im Gedächtnis erhalten. Und so ist offensichtlich, dass die Tapferen der alten Zeiten aus England kamen und dass somit diesem Königreich die höchste Ehre zukommt.
Der französische Herold – der eigenen trojanischen Wurzel seiner Nation sehr wohl bewusst – antwortete daraufhin: Ihr sagt, dass der Kaiser Constantin, der tapfere Ritter Maximinianus und der mächtige König Artus dem Königreich England entsprangen und dass deshalb diesem Königreich ewige Ehre zukommt. Darauf antworte ich, dass man zuerst erfahren muss, woher die edlen Ritter, die ihr genannt habt, tatsächlich ursprünglich kamen. Glaubt mir bitte, Madame Prudence, dass jene aus dem Adel von Troja hervorgegangen sind, und dass nach der Eroberung von Troja ein tapferer Ritter namens Eneas der Trojaner in Begleitung von zahlreichen Adeligen nach Rom kam, und dass von ihm ein Ritter abstammte, der sich Brutus nannte und der sich in großer Begleitung nach der Insel von Albion begab, die sich heute England nennt, wo er mehrere Kriege focht mit den dort lebenden Riesen und sie besiegte. Dieser Brutus ordnete an, dass die Insel nicht mehr Albion, sondern Britannien genannt werde. Von diesem Brutus und seinen Nachkommen stammen die von dem englischen Herold genannten Ritter ab. Nun lasst uns aber auch sehen, woher die Engländer kommen und warum die genannte Insel, die einst als Britannien bezeichnet wurde, sich jetzt England nennt. Ihr werdet
58 Léopold Pannier/Paul Meyer (Hg.), Le Débat des Hérauts de France et d’Angleterre, Paris 1872; vgl. dazu Gert Melville, „Geschichte im Diskurs. Zur Auseinandersetzung zwischen Herolden über die Frage: Qui est le royaume chrstien qui plus est digne d’estre approuché d’Onneur?“, in: Chantal Grell/Werner Paravicini/Jürgen Voss (Hg.), Les princes et l’histoire du XIVe au XVIIIe siècle, Bonn 1998, S. 243–262. 59 Vgl. Peter Johanek, „König Arthur und die Plantagenets. Über den Zusammenhang von Historiographie und höfischer Epik in mittelalterlicher Propaganda“, in: Frühmittelalterliche Studien 21 (1987), S. 346–389; Wilhelm G. Busse, „Brutus in Albion: Englands Gründungssage“, in: Peter Wunderli (Hg.), Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation, Sigmaringen 1994, S. 207–223.
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sehen, dass sie aus Sachsen gekommen sind, das ein Land in Deutschland. Wahr ist, dass die Sachsen wegen eines Bruderkrieges unter den Nachfahren des Brutus nach Britannien geholt worden sind, das sie dann zu ihrem Königreich machen wollten. Sie besiegten die Nachfahren von Brutus unter Führung eines gewissen Inglus und kamen überein, dass die Insel, die sich bislang Britannien nannte, nun als England zu bezeichnen sei. Ihr seht, Madame Prudence, wie der englische Herold gelogen hat und sich mit fremden Feder schmückte, indem er die Ehre jener Ritter, die zur Nation von Britannien gehörten, der Nation der Sachsen, die sich heute die von England nennt, zurechnete.
Die Parade des Franzosen war äußerst geschickt, denn sie hob eine vermeintlich plausible Geschichtsdarstellung, die sich auf die scheinbar selbstverständliche Überzeugungskraft eines historisch identischen Herrschaftsraumes stützte, zugunsten der Behauptung auf, dass dort ein Wechsel des herrschenden Personals stattgefunden hatte. Und diese Behauptung besaß eine wesentlich höhere Plausibilität, obgleich sie noch weiter als die Version des englischen Herolds zurück in die Geschichte ausgriff, denn eben die dabei aufscheinende Vergangenheit Britanniens gehörte mit ihrem Anfang und mit ihrem Ende ebenfalls zum Gemeingut des geschichtlichen Kenntnisstandes. Man wusste um Brutus, aber man wusste auch um Arthus sowie seinem Kampf gegen die Sachsen und konnte daraus seine Schlüsse für die nachfolgenden Geschichtsstränge ziehen. Somit schien es ein Leichtes, den dynastischen Identitätsbruch plausibler zu machen als die Kontinuität eines identischen Herrschaftsraumes. Fürstlicher Hochmut konnte durchaus auch zu einer unvorsichtigen Überbewertung der dynastischen Vergangenheitslinien führen, wie zum Beispiel Herzog Philipp der Gute von Burgund es sich im Jahre 1434 von Kaiser Sigismund mit den Worten hatte sagen lassen müssen: „O lieber Sohn, wolle nicht zu hoch fliegen. Wenn du zu hoch fliegst, kannst du dir die Federn verbrennen.“60 Vorausgegangen war ein Kampf um die Symbolik der an den Sitzplätzen abzulesenden Rangordnung auf dem Konzil von Basel. Hierbei hatte jener Herzog eine Bevorzugung vor den Kurfürsten beansprucht und dies in einer Rede des Bischofs von Nevers, wie folgt, begründen lassen:61 Die Erhabenheit der Fürsten wird wahrgenommen anhand der Abstammungen [lineages], der Macht und dem Ansehen seiner Länder. – Wenn ich also den berühmten Fürsten [sc. Philipp den Guten] mit Hilfe seiner Herkunft preisen will, so nehme ich mir eine gewaltige Arbeit vor. Denn bereits von Seiten des Vaters gibt es einen dreifachen Ursprung: Erstens
60 „Vorstellungen von Kaiser Sigmund an das Baseler Konzil“, ed. Deutsche Reichstagsakten, Bd. 11, Gotha 1898, Nr. 181, S. 335–338, hier S. 337. 61 Ed. Mansi, Sacrorum conciliorum, nova et amplissima collectio, Bd. 30, Sp. 205–211, hier 207f. Vgl. zu Folgendem Melville, „Vorfahren und Vorgänger“ (wie Anm. 25), S. 204–209.
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aus dem christlichsten, ruhmreichsten und mächtigsten Haus Frankreich […]. Damit verweise ich auf den Weg, durch welchen er [sc. Philipp] über jenen trojanischen Fürsten Francus einen dardanischen Anfang hat. Zweitens folgte seine Linie über den ruhmreichen Fürsten und König der Burgunder, Gondulfus, der seinen Ursprung bei Evandrus, den König der Sieben Berge, und von dort weiter zurück bei Janus, dem Sohn des Sohnes von Noah, Japhet, hatte. Und drittens – weil er das ererbte, durch Geburt erworbene Recht am allerältesten Hause Lothringen hatte – gehört er dem Geschlecht der mächtigsten, berühmtesten und ruhmreichsten Fürsten Karl Martel, Pippin, Karl des Großen, Ludwig des Frommen und Karl des Kahlen an, aus dem die meisten Kaiser entwachsen sind. […] Und ich schweige nicht über den Anteil seiner Mutter, durch welche er seinen Ursprung aus dem alten Haus der deutschen Bayern bezog, das nicht wenige Cäsaren, Könige und Fürsten hervorgebracht hatte. So groß nämlich ist die Strahlkraft seiner Genealogie, dass er auch die Könige Frankreich, Englands, Kastiliens, Portugals, Aragons, Navarras, Cyperns und Siziliens zu seinen engsten Verwandten zählt. […]
Nur kurz streifte der Redner dann die persönlich errungene Machtstellung, wobei er die Reihe von Philipps Herzogtümern und Grafschaften aufzählte. Wichtiger erschien das spezifische Ansehen seiner Länder zu sein. Für Burgund war sie in den Augen des Redners evident, denn Alter und Treue zum christlichen Glauben zeichneten es aus. Ausführlich wurde aufgezeigt, dass Burgund seit uralten Zeiten eine glorreiche Geschichte und tatkräftigen Herrscher vorweisen konnte, dass viele Heilige und Märtyrer dort ihren Ursprung hatten, und dass das Fürstentum sich immer der Verteidigung des Glaubens gewidmet habe. Mit einer grundsätzlichen Gegenüberstellung von Herrschaft und Amt brechen die Darlegungen ab: Die persönliche, dynastisch ererbte Herrschaft sei die überragende Kategorie, da es im Naturrecht seine Verankerung habe. Ein Amt aber sei nur willkürlich verliehen worden, ein Amtsträger [officiarius] sei nichts anderes als ein Söldner [mercenarius]. Folglich käme den Gesandten des burgundischen Fürsten Vorrang vor den Gesandten der Kurfürsten zu. Es folgte alsbald die an das Konzil von Basel gerichtete Erwiderung des Kaisers, bei der er hervorhob, dass der König von Frankreich sehr wohl über seine Sitzplätze, wie es ihm gefalle, bestimmen könne. Es stehe aber fest, „dass der Herzog von Burgund hingegen im Hause von Frankreich nicht an erster Stelle stehe, sondern nur an fünfter oder sechster“. 62 – Mit einem Schlag war die große genealogische Konstruktion entzaubert. Dem Herzog wurde sein behaupteter dynastischer Eigenwert durchaus belassen, doch er fand sich an der Stelle wieder, wo er wirklich stand: nämlich in aussichtloser Konkurrenz mit einem noch höher Gestellten, der tatsächlich volle Souveränität besaß.
62 Wie Anm. 60.
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Diese wenigen Beispiele eines kritischen Umgangs mit Vergangenheitskonstruktionen belegen, dass grundsätzlich an der Argumentationskraft, die aus dynastischen Transzendenzräumen bezogen werden konnte, nicht gezweifelt wurde. Auf die Geschichte der Vorfahren und Vorgänger zu transzendieren, war die wichtigste und allgemein anerkannte Form des dynastischen Adels, sich zu legitimieren sowie Rang, Ruhm und Rechtstitel nachzuweisen. Wurden die oftmals überaus kühnen Vergangenheitskonstruktionen mit Hilfe von bestimmten Techniken, die sich vor allem vertrautem historischem Standardwissen wie auch eingespielten Mustern und Topoi bedienten, hinreichend plausibel dargestellt, so zeigten sie sich als die brauchbarsten Instrumente, um solche Transzendenzräume zu realisieren und dann auch zu präsentieren. Kritik konnte nur dort angesetzt werden, wo sich die Plausibilität bezweifeln ließ und glaubhafte Gegenpositionen zu beziehen waren – mit anderen Worten: nicht der Transzendenzraum als solcher stand dann zur Debatte, sondern seine jeweilige, ganz spezielle Ausgestaltung. Dementsprechend war es möglich, dass ein Silvio Piccolomini, der selbst meisterlich kühne Vergangenheitskonstruktionen durchzuführen verstand, Kritik übte an der Herkunftsdarstellung der Böhmen, denn diese erschien ihm berechtigt als zu schlecht belegt und damit als pure „Spinnerei“. Erfolgreiche Kritik bot sich ebenfalls dort an, wo man den Transzendenzraum einer Genealogie aufgrund nachweislich falscher Behauptung umzupolen vermochte, so dass er nicht zum Nutzen, sondern zum Schaden dessen wirkte, der ihn errichtet hatte. Dies war der Fall bei den Invektiven gegenüber Karl von Anjou durch Pietro di Pretio. Eine Steigerung dieses Vorgehen fand sich bei der zitierten Heroldsdebatte. Dort wurde einem behaupteten Transzendenzraum ein anderer gegenübergestellt. Die besondere Kunst dieses Vorgehens lag darin, dass es nicht von dem geografisch identischen Herrschaftsraum ausging, sondern nach der Kontinuität des Herrschaftspersonals fragte und damit eine Diskrepanz von – wie oben formuliert63 – devolutio dominorum und surrogatio in dominio nachzuweisen vermochte, die eben gerade nicht hatte bestehen dürfen. Beim letzten Beispiel wurde die von Philipp dem Guten aufgebaute Konkurrenzsituation durch den Kaiser einfach umgepolt. Nicht das Fehlen eines dynastischen Transzendenzraumes bei den „söldnerischen“ Kurfürsten wurde mit einem existierenden beim burgundischen Herzog konfrontiert, sondern das Bestehen eines wesentlichen höheren – dem des französischen Königs. Dynastische Transzendenzräume konnten auch aneinander gemessen und gegeneinander ausgespielt werden, ohne dass an ihnen inhaltliche Kritik geübt werden musste.
63 Siehe bei Anm. 33.
III. Ordnungen der Bilder – Übergangsräume des Transzendenten
Jürgen Müller
Zur negativen Theologie des Bildes Jan van Amstels Flucht nach Ägypten und Erasmus von Rotterdam
I. Theologie und Idolatrie: Das Problem der Wörtlichkeit Nur wenige Theologen der Reformationszeit haben sich als Kritiker religiöser Bildlichkeit vergleichbar profiliert wie Erasmus von Rotterdam. Schon in seiner frühen Schrift Handbüchlein eines christlichen Streiters aus dem Jahre 1503 und im Lob der Torheit von 1509 sticht seine Skepsis gegenüber den Möglichkeiten bildlicher Gottesdarstellung ins Auge. In Bezug auf die Erkenntnis des Göttlichen misstraut der Theologe den Möglichkeiten des Sehens und betont, dass Christus als „Beredsamkeit Gottes“ (R. Bainton) für den Menschen nur als Geist zugänglich sei und dem äußeren Auge verborgen bleibe.1 Diese typisch platonische Abwertung sichtbarer Erscheinung bleibt für den Theologen Zeit seines Lebens konstitutiv. Sie darf allerdings nicht als Apologie platonischen Denkens missverstanden werden, sondern setzt die Trennung von innerem und äußerem Menschen im Sinne paulinischer Theologie voraus. Dabei sieht der Rotterdamer den griechischen Philosophen durchaus als Vorläufer des Christentums und verweist mehrfach auf dessen Seelenlehre. Schon im Handbüchlein beruft sich Erasmus auf Platons Phaidros als Autorität für die Vorstellung des Aufstiegs der Seele zu Gott. Wie auf den Stufen der Jakobsleiter solle der Christ vom Körper zum Geist, von der sichtbaren zur unsichtbaren Welt an jenen transzendenten Ort emporsteigen, wo die „Bilder alles Erkennbaren“
1 Vgl. hierzu Roland H. Bainton, Erasmus. Reformer zwischen den Fronten. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Langerbeck, Göttingen 1972 (1969), S. 136–37. Zu den Porträts des Humanisten, seiner eigenen „Bildnispolitik“, vgl. Jürgen Müller, „Von der Odyssee eines christlichen Gelehrten – Eine neue Interpretation von Hans Holbeins Erasmusbildnis in Longford Castle“, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 49/50 (1995/96), S. 179–211. Der Verf. knüpft hier an frühere Überlegungen an. Vgl. Jürgen Müller, Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d. Ä., München 1999.
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verstummen.2 Im Lob der Torheit führt der Theologe gar das „Höhlengleichnis“ als Topos vom Körper als Kerker der Seele an und spricht am Ende seines Textes vom Aufstieg der Seele, die sich notwendig vom Körper zu lösen habe, um Gott zumindest augenblickshaft erfahren zu können.3 Die explizite Bezugnahme auf Platon ändert jedoch nichts daran, dass die erasmische Sicht der Philosophie durch die Kirchenväter geprägt ist. Es geht ihm weniger um systematische Fragen als vielmehr um eine Philosophia perennis.4 Weisheit im Sinne angemessener Gotteserkenntnis stellt für ihn kein Privileg der Schulphilosophie dar. Im Gegenteil ist Gott allen Epochen, allen Menschen und allen Sprachen gleich unmittelbar. Wen Hochmut nicht davon abhält, der kann göttliche Weisheit ebenso gut in einer lateinischen Sentenz wie im volkssprachlichen Sprichwort entdecken. Die von Erasmus so geliebten Sprichwörter erachtet er als Gemeingut, das tiefe Wahrheiten enthält, obwohl es in einfacher Sprache verfasst und nicht mit dem Namen eines berühmten Autors verbunden ist. In Bezug auf die Erkenntnis Jesu sind die Volkssprache und ihre einfache Ausdrucksweise sogar „weiser“ als die Sprache der Gelehrten. Im Adagium Sie seihen die Mücke spricht der niederländische Theologe die Analogie der Humilitas Christi zur Einfachheit der Volkssprachen deutlich aus, wenn es heißt: Vieles steht in den Evangelien, was der Alltagssprache entnommen ist. Und es ist für Christus nicht entwürdigend, es entspricht vielmehr ganz seinem Wesen, dass er, der unseren Leib angenommen hat, und einer von uns werden wollte, sich auch der Sprache bedient, die uns vertraut ist, um so auf jede erdenkliche Weise unsere Armseligkeit zu seiner Höhe emporzuziehen.5
Deutlich wird im zitierten Passus das Ideal des biblischen Sermo humilis.6 Christus bedarf keiner äußerlichen Aufwertung. Im Gegenteil ist seine Humilitas, wie
2 Erasmus von Rotterdam, Handbüchlein eines christlichen Streiters, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Werner Welzig, in: ders., Ausgewählte Schriften. Lateinisch/ Deutsch, hg. von Werner Welzig, 8 Bde., 2. Aufl., Darmstadt 1990, Bd. 1, S. 197–205. 3 Erasmus von Rotterdam, Sive Laus Stultitiae/Lob der Torheit, deutsche Übersetzung von Alfred Hartmann, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Wendelin Schmidt-Dengler, in: ders., Schriften (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 201 u. 203, S. 207 u. 209. 4 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a.M. 1998. 5 Erasmus von Rotterdam, Mehrere Tausend Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten (Auswahl), übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Theresia Payr, in: ders., Schriften (wie Anm. 2), Bd. 7, S. 358–633, hier S. 590. 6 Erich Auerbach hat in zahlreichen Studien darauf hingewiesen, dass die Konzeptualisierung der Humilitas, die gleichermaßen die Christusgestalt wie auch die Sprache der Bibel betrifft, das theoretische Anliegen christlicher Rhetorik bildet. Die Inkarnation Christi stellt das zentrale
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sie uns in seiner Gestalt, aber auch in der einfachen Sprache der Bibel und ihren Gleichnissen vor Augen gestellt wird, die Bedingung unserer Erlösung. Während in antik-paganer Rhetorik der Redner dafür Sorge tragen muss, dass zwischen der Würde des Redegegenstands und dem Einsatz sprachlicher Mittel eine Entsprechung besteht, erscheint die Forderung nach rednerischem Schmuck in Bezug auf die Christusgestalt absurd, hat er sich doch erniedrigt, indem er unseren „Leib“ wie auch unsere „Armseligkeit“ angenommen hat, wie es im zitierten Passus heißt. Die Humilitas Christi ist der Grund, warum sich die Konzeption der Transzendenz in der Theologie des Rotterdamers prinzipiell von der Philosophie Platons unterscheiden muss. In systematischer Hinsicht bedeutet sie göttliche Wesenstransformation im Sinne seiner Menschwerdung, wörtlich hängt sie mit Humus, Erdboden zusammen, wie Erich Auerbach schreibt, meint aber auch das Geringe und Niedrige in sozialer wie auch ästhetischer Hinsicht.7 Platonischer Philosophie fehlt das Mysterium der Inkarnation, durch die Berührung und Aufstieg zum Göttlichen möglich werden und der Leib-Seele-Dualismus überwunden wird. Pointiert formuliert stellt die platonische Welt aus christlicher Perspektive lediglich einen defizienten Modus transzendenter Ideen dar. Nichts ist in ihr, was nicht von dieser a priori-Struktur erfasst wäre. Für Erasmus hingegen wird durch die Menschwerdung Christi Transzendenz zur Immanenz, um schließlich Immanenz zu transzendieren und die Menschheit zu erlösen. Wenn mit wenigen Worten Elemente der Theologie des Rotterdamers skizziert wurden, so um den theoretischen Horizont der folgenden Überlegungen anzudeuten. Es geht um die Interpretation eines Bildes von Jan van Amstel aus den 1540er Jahren, auf dem eine Flucht nach Ägypten dargestellt ist. Zwar wissen wir wenig über Bildung und konfessionelle Identität des Künstlers, doch seine ungewöhnliche Darstellung des genannten Themas lädt dazu ein, Parallelen zu erasmischen Gedanken zu ziehen.8 Überblickt man van Amstels Œuvre im Ganzen,
Mysterium christlicher Lehre dar. Vgl. Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 8. Aufl., Stuttgart/Bern 1988, S. 65–77. In diesem Zusammenhang muss vor allem sein Aufsatz zum Sermo humilis genannt werden. Erich Auerbach, „Sermo humilis“, in: ders., Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, S. 25–64, bes. S. 33–35. 7 Auerbach, „Sermo“ (wie Anm. 6), S. 34. 8 Vermutlich ist der aus Amsterdam stammende Jan van Amstel um 1500 geboren. Als Sterbejahr wird 1542 angenommen, da seine Witwe am 24.01.1544 bereits in zweiter Ehe mit Gilles van Coninxloo I. einen Sohn zur Welt bringt. Insgesamt ist über den Künstler jedoch nur sehr wenig bekannt, vgl. Dietrich Schubert, Die Gemälde des Braunschweiger Monogrammisten, Köln 1970, S. 57.
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so stellt man fest, dass unter seinen Arbeiten keine Altarbilder zu finden sind, er also keine Aufträge für das altgläubige System ausführte. Im Gegenteil fällt die Vielzahl profaner Themen auf, in denen er neue Ikonographien entwickelt oder aus dem Medium des Kupferstichs in die Tafelmalerei überführt, wie dies für seine Bordellbilder gelten kann.9 Außerdem kritisiert er in bildlich-polemischer Form katholisches Wallfahrtswesen.10 So kann es als wahrscheinlich gelten, dass er reformatorischen Ideen gegenüber aufgeschlossen war, ohne ihn mit diesem Befund konfessionell festlegen zu wollen. Unsere Hypothese für van Amstels Flucht nach Ägypten lautet, dass in der Tafel eine skeptische Haltung in Bezug auf die Darstellbarkeit des Göttlichen eingenommen wird und die realistische Schilderung des Alltags im Sinne der Humilitas zu verstehen ist.11 Der Künstler entwickelt also in zweifacher Hinsicht eine Ästhetik bildlicher Selbstbescheidung. Um dieser Hypothese Plausibilität zu verleihen, soll zunächst die Theologie des Erasmus genauer vorgestellt werden.12 Wie konzipiert der Niederländer eine spezifisch christlich-humile Transzendenz? Welche Grenzen sind dem Christen in der Erkenntnis Gottes gesetzt? Wie ist die ontologische Differenz von Gott und Mensch darstellbar? Und ab wann liefe man Gefahr, das Göttliche in der Reflexion zu verendlichen und dessen Wesen zu verfehlen? Jede Konzeption von Transzendenz enthält eine implizite Vorstellung über deren zeichentheoretischen Status, die Möglichkeit von deren Darstellung.13 Wer das Phänomen der Transzendenz reflektiert, denkt über Räume, Grenzen und
9 Allgemein zu Bordellbildern vgl. Konrad Renger, Lockere Gesellschaft. Zur Ikonographie des verlorenen Sohnes und von Wirtshausszenen in der niederländischen Malerei, Berlin 1970. 10 Vgl. hierzu Jochen Becker, „Puff, Passion und Pilgerfahrt – Zu Bildthemen des Braunschweiger Monogrammisten“, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 55 (1994), S. 21–41. 11 Die Bedeutung der Auerbachschen Forschungen für die Kunstgeschichte der Genremalerei hat zunächst Hans Sedlmayr herausgestellt. Vgl. Hans Sedlmayr, „Ars humilis“, in: ders., Epochen und Werke. Gesammelte Schriften zur Kunstgeschichte, 3 Bde., Mittenwald 1983, Bd. 3, S. 7–24. Wichtig sind zudem die Forschungen von Jochen Becker. Unter den zahlreichen Aufsätzen sei lediglich exemplarisch auf seine Überlegungen zur Betrachteransprache verwiesen. Vgl. Jochen Becker, „Der Blick auf den Betrachter: Mehrdeutigkeit als Gestaltungsprinzip niederländischer Kunst des 17. Jahrhunderts“, in: L’Art et les révolutions. XXVIIe congrès international d’histoire de l’Art et les révolutions, Strasbourg 1989, 8 Bde., Bd. 7, Strasbourg 1992, S. 77–92. 12 Vgl. Christine Christ-von Wedel, Das Nichtwissen bei Erasmus von Rotterdam. Zum philosophischen und theologischen Erkennen in der geistigen Entwicklung eines christlichen Humanisten (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 142), Frankfurt a.M. 1981, S. 129–133. Den in der Forschung zum Teil behaupteten Einfluss von Nicolaus Cusanus weist sie zurück. 13 Vgl. Thomas Rentsch, Transzendenz und Negativität, Göttingen 2011, S. 3–13.
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deren Beschaffenheit nach: Was bedeutet es, diesseits oder jenseits einer Grenze zu sein? Solche abstrakten Überlegungen werden im Rahmen christlich-theologischer Fragen konkret, wenn man über die in der Bibel berichteten Ereignisse auf das Wesen Gottes zu schließen versucht.14 Wir werden zu zeigen haben, dass, auch wenn sich Erasmus in seinen Schriften bewusst von systematischen Fragen ferngehalten hat, er dennoch in der Tradition negativer Theologie steht. Dabei ist Christus als Zentrum des Glaubens insofern von größter Bedeutung, als sich seine Humilitas umgekehrt proportional zu seiner Bedeutung als Messias verhält. Extrem formuliert ist Christus für den Rotterdamer die ‚maximale Allegorie‘. Er stellt die einzig mögliche Begegnung mit der Transzendenz aus der Perspektive der Immanenz dar. Für den Rotterdamer berühren wir mit der Christusgestalt ein Rätsel und eine unüberschreitbare Grenze zugleich. In Erasmus’ Theologie des Geistes ist das abstrakte Wort grundsätzlich dem konkreten Bild überlegen. Entsprechend erscheint Christus in den Evangelien gegenwärtiger als in einem bloß gemalten Bild. Geradezu polemisch kommt der niederländische Autor im Handbüchlein eines christlichen Streiters darauf zu sprechen, wenn es heißt, dass man nicht den in Stein gehauenen oder gemalten Bildern Christi Ehre erweisen soll, sondern dem Bild seines Geistes, wie es uns aus dem Neuen Testament entgegenkommt.15 Ausdrücklich stellt der niederländische Theologe im Handbüchlein die Wort-Verkündigung der Evangelien den „jämmerlichen Bildchen“ gegenüber und denunziert das Bild als Möglichkeit adäquater Gotteserkenntnis. Dass dieses Urteil systematischer Natur ist, wird deutlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass auch im Lob der Torheit die bildende Kunst mehrfach als negatives Exemplum angeführt wird.16 So kommt der niederländische Reformator auf die Gefahren der Malerei für den einfachen Christen
14 Mit christlicher Theologie ging von Anfang an die Frage einher, wie man Gott denken könne, ohne ihn zu verendlichen. Am berühmtesten sind ohne Zweifel Augustinus’ Bücher zehn und elf der Confessiones, die der Zeit und der Erinnerung gewidmet sind und den Weg zum Göttlichen als einen ‚Aufstieg nach Innen‘ beschreiben. Dieser Aufstieg führt zum Bild-, Ort- und Zeitlosen der Präsenz Gottes. Der Weg zum Göttlichen stellt also notwendig eine Überwindung der dinglichen Welt und ihrer Bilder dar. Augustinus entgeht dem Problem der Verendlichung des Göttlichen, indem er mit der Erinnerung einen Ort der Gottesbegegnung findet, der nicht der intellektuellen Verfügungsgewalt des Menschen anheimgestellt ist. Vgl. Aurelius Augustinus, Bekenntnisse. Aus dem Lateinischen von Joseph Bernhart, mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück, Frankfurt a.M. 1987 (1955), S. 486–599. 15 Erasmus, Handbüchlein (wie Anm. 2), S. 197–205. 16 Erasmus, Lob (wie Anm. 3), S. 111.
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zu sprechen, wenn einfältige Gläubige „die Bilder statt der Götter anbeten.“17 Es sei der Heiligen- und Reliquienkult, der Christen dazu führe, einem „angenehmen Aberglauben anzuhängen.“18 Für Erasmus haben Bilder die Tendenz, sich bei und mit der Repräsentation des Göttlichen zu verselbstständigen. Sie bergen die Gefahr materieller Auslegung, wo es doch darum ginge, Gott als das schlechthin Andere zu denken, dessen Erkennen durch den Menschen der Offenbarung bedarf. Diese Verkennung christlicher Religion im Sinne materieller Zeichen findet unter unterschiedlichen Vorzeichen statt. Grundsätzlich ist Erasmus der Auffassung, dass kein materielles Zeichen das Göttliche repräsentieren könne. Selbst das Abendmahl wird durch den Niederländer im Lob der Torheit ausdrücklich als symbolische Handlung beschrieben, die nicht durch Transsubstantiation bestimmt wird.19 Das Sakrament der Eucharistie ist für Erasmus lediglich ein spiritueller Akt. Grundsätzlich weist jedes religiöse Zeichen über sich hinaus, ist in seiner geistigen Identität zwar an einen materiellen Träger gebunden, aber nicht mit diesem identisch. So gesehen nimmt alle Idolatrie in dieser Verkennung materiellen Substrats als spiritueller Identität ihren Anfang. Bilder stellen missverstandene, wörtliche Zeichen dar, die im Sinne des Apostels Paulus geistig verstanden werden müssten.20 In dieser Hinsicht sind gemalte Bilder und unverstandene Metaphern gleichermaßen Idolen vergleichbar. Auch die Heilige Schrift kann zum Götzen werden. In einer weit ausgreifenden Polemik über falsche Gottesverehrung schreibt Erasmus im Lob der Torheit, nicht wenige Frauen würden sinnloserweise der Gottesmutter am helllichten Tage eine Kerze anzünden, wo es doch darauf ankäme, ihr in Keuschheit, Demut und Freude an himmlischen Gütern nachzustreben.21 In diesem Zusammenhang kommt er auf die Anbetung von Bildern zu sprechen, wenn es heißt: „Schließlich bin ich auch nicht so töricht, nach steinernen und farbig aufgeputzten Abbildern Verlangen zu tragen: die schaden nicht selten der Andacht, wenn ein einfältiger Dickschädel die Bilder statt der Gottheit anbetet; es geht dann uns Göttern wie dem, den sein Stellvertreter verdrängt.“22 Bekanntlich stellt das Lob der Torheit eine Meisterleistung spöttisch-subversiver Rede dar. Die ironisch argumentierende Torheit wendet sich gegen die herrschende Meinung. Der Theologe inszeniert absichtsvoll die Unverschämtheit der
17 Erasmus, Lob (wie Anm. 3), S. 82. 18 Erasmus, Lob (wie Anm. 3), S. 69. 19 Erasmus, Lob (wie Anm. 3), S. 151. 20 Erasmus, Handbüchlein (wie Anm. 2), S. 89 u. S. 91. 21 Erasmus, Lob (wie Anm. 3), S. 111. 22 Erasmus, Lob (wie Anm. 3), S. 113.
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Torheit, die sich dem ersten Anschein nach allem und jedem überlegen weiß. Auf diese Weise wird das Kritisierte zunächst indirekt immunisiert. Niemand muss sich verletzt fühlen, wenn er zum Opfer der Torheit wird. Auf den zweiten Blick entsteht jedoch eine gewisse Ambivalenz, die der Leser entdeckt, wenn er wahre und törichte Kritik auseinanderhält. Wenn sich die Torheit auf den ersten Blick vieler Laster rühmt, so könnte Erasmus eine Tugend in die Aufzählung geschmuggelt haben, die wir entdecken sollen. Auf diese Weise gelingt es ihm, die anmaßende Rede der Stultitia en passant mit einem ernsthaften Anliegen zu verbinden. Mag sich die Torheit auch durch krasse Fehlurteile desavouieren, gelingt es ihr immer wieder, echtes Fehlverhalten zu benennen. Für den oben zitierten Passus bedeutet dies, dass die Kritik des Marienkults ebenso ernst gemeint ist wie die Charakterisierung der Idolatrie. Dergestalt kann Erasmus Missstände der Kirche ansprechen, ohne dies „wirklich“ gesagt zu haben. Er insinuiert en permanence. Dass seine Kritik trotz aller ironischen Volten verstanden und ernst genommen wurde, belegen nicht nur die zahlreichen Kritiker jener Zeit, sondern auch die Tatsache, dass das Lob der Torheit und zahlreiche seiner Schriften schon im Laufe des 16. Jahrhunderts auf dem Index gelandet sind.23
II. Ironische Gottesrede: Das Vorbild Paulus Doch trotz aller Kritik an der katholischen Kirche darf nicht vergessen werden, wie sehr mit der ironischen Rede das Problem angemessener Gottesrede verbunden ist. Im Sinne negativer Theologie verweist uns das ironische Spiel der Torheit im letzten Drittel des Textes auf den Apostel Paulus und dessen Korintherbriefe.24 Mehr noch, Paulus als Weisheitslehrer stellt den eigentlichen Fluchtpunkt von Erasmus’ Büchlein dar. Gerade dessen Korintherbriefe machen deutlich, dass Ironie kein Privileg des Sokrates ist und mehr als eine rhetorische Stilübung darstellt.25 So erwähnt der niederländische Theologe an zentraler Stelle im Lob der
23 Vgl. Silvana Seidel Menchi, Erasmus als Ketzer. Reformation und Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts (Studies in Medieval and Reformation Thought 49), Leiden 1993. 24 Vgl. Günter Bader, Assertio. Drei fortlaufende Lektüren zu Skepsis, Narrheit und Sünde bei Erasmus und Luther (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 20), Tübingen 1985. 25 Im Unterschied etwa zur Metapher, die zumeist auf eine Analogie zielt, bezeichnet im Fall der Ironie das Gesagte sein genaues Gegenteil. Die antike Rhetorik hat Ironie schlicht als eine Form der Rede mit übertragenem Sinn definiert. S. Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. und übersetzt von Helmut Rahn, Darmstadt 1995, 2 Bde., 2. Teil,
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Torheit den berühmten Chiasmus von der Weisheit der Menschen als Torheit vor Gott aus dem ersten Korintherbrief und redet von der Torheit des Kreuzes.26 Der Leser wird sich erinnern, dass im ersten Korintherbrief die Figur des Chiasmus von Paulus genutzt wird, um Weisheit und Torheit, Gott und Welt miteinander vertauschen zu können. Das Hohe wird erniedrigt, um dem Menschen seine Verkennung des wahren Sachverhalts im Sinne seiner Heilsbedürftigkeit zu vermitteln. In den ersten Kapiteln des ersten Korintherbriefes spricht Paulus mit humilem Gestus. Nicht mit überlegener Rede will er auftreten, auch Weisheit steht ihm nicht zur Verfügung, sondern nur Christus, den er als Gekreuzigten vorstellen möchte. Durch den Hinweis auf den genannten Passus aus dem 1. Korintherbrief wird auch die Rede der Stultitia aufgewertet. Ironischerweise ist sie dem Apostel sogar überlegen.27 Zumindest dann, wenn man das Eingeständnis eigenen Nichtwissens als Weisheit fasst. Während Paulus in Bezug auf Gott sein Nichtwissen eingesteht, ist Stultitia in der komfortablen Situation, ihr Nichtwissen noch nicht einmal zu erahnen. Sie weiß nicht, dass sie nichts weiß. Der erste Korintherbrief und die „Narrenpredigt“ im zweiten sind rhetorische Meisterleistungen, weil sie trotz einfachster Sprache ein immenses Pathos entwickeln. Diese Verbindung von alltäglicher Sprache und allerhöchstem Pathos stellt für Erasmus die Essenz christlicher Rhetorik dar, die Verbindung von humilis und sublimis. Chiasmus und Antithese als wiederkehrende rhetorische Figuren der Korintherbriefe verdienen dabei unsere besondere Aufmerksamkeit. Scheint es auch so, als verachtete Paulus den gebildeten Leser, werden gerade diesem die Kunstfertigkeit und Schönheit des Textes nicht verborgen geblieben sein, denn die Wahrheit des Kreuzes hat in der Form des Chiasmus eine formale Entsprechung. Durch den Kreuzestod Christi wird das Niedrige erhöht, die Menschheit erlöst. Der Chiasmus symbolisiert eine Umkehrung der Werte. Er stellt die christlichste aller rhetorischen Figuren dar. Christus selbst musste zum Toren werden, um die Torheit der Menschen aufzuheben.28 Diese Bezugnahme auf Paulus durch Erasmus ist freilich alles andere als originell. Schon Augustinus betont in seinen Schriften wieder und wieder die Selbsterniedrigung Christi, seine Humilitas, um die innere Wahrheit christlicher Lehre herauszustellen. Er attackiert den Hochmut des Wissens und beruft sich dabei
VIII, 6, S. 54–56. Vgl. Hans-Dieter Betz, Der Apostel Paulus und die sokratische Tradition, eine exegetische Untersuchung zu seiner ‚Apologie‘; 2 Korinther 10–13, Tübingen 1972. 26 1 Kor 3,19. 27 Zum Lob der Torheit als vollkommener Narrenrede, vgl. Bader, Assertio (wie Anm. 24), S. 88–90. 28 Erasmus, Lob (wie Anm. 3), S. 197.
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auf die Theologie des Paulus. Christus macht die Weisheit der Hochmütigen zu Schanden, er verkörpert das Geringe und vermeintlich Hässliche. Um den Unterschied biblischer Sprache gegenüber griechischer Philosophie und Rhetorik zu verdeutlichen, machen die Kirchenväter insgesamt geltend, dass die Evangelien selbst einfachen Menschen zugänglich seien. Sie seien „nieder für das Eingehen“, wie es in den Confessiones heißt.29 Immer wieder wurde in Bezug auf das Lob der Torheit auf die Tradition des paradoxen Enkomions aufmerksam gemacht, aber in Wirklichkeit stellt die kleine Schrift eine Apologie der paulinischen Narrenrede dar. Durch sie erhalten Ironie und Satire ein christliches Fundament.30 Als Denkmodus paulinischer Theologie verweist Ironie auf das systematische Problem der Nichtdarstellbarkeit Gottes und versucht der ontologischen Differenz von Gott und Mensch zu entsprechen. Ironie ist so gesehen ein Akt der Selbstbescheidung in Bezug auf die Forderung nach Repräsentation. Gott lässt sich nicht direkt aussagen, nur indirekt ist er zu erkennen, wie es Paulus in der Rede vom „unbekannten Gott“ und der Metapher vom „Rätselspiegel“ andeutet.31 So gesehen systematisiert die negative Theologie lediglich eine im Neuen Testament angelegte Tendenz paradoxer Gottesrede und nichtäquivalenter Gotteszeichen. Im Anschluss an Paulus hat Erasmus das Problem der Nichtdarstellbarkeit Gottes durch zwei Leitmetaphern zu kompensieren versucht. Zum einen greift er auf die Silenmetapher zurück, die Platon im Symposion nutzt, wenn Alkibiades im genannten Text die Diskrepanz von innerer Schönheit und äußerlicher Hässlichkeit des Sokrates zum Ausdruck bringen will und ihn als Silen bezeichnet.32 Wie schon die Figur des Sokrates so ist auch die Silen-Metapher im Werke des Niederländers ubiquitär.33 Dabei ist der Vergleich von Sokrates und Christus keineswegs neu, schon Marsilio Ficino hatte Jesus und den ironischen Philosophen miteinander verglichen. Erasmus geht jedoch einen Schritt weiter und betont
29 Augustinus, Bekenntnisse (wie Anm. 14), S. 109. 30 Vgl. Barbara Könneker, Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus, Wiesbaden 1966, S. 287. 31 1 Kor 13,12 („videmus nunc per speculum in aenigmate“). 32 Der Text wurde als derart programmatisch erachtet, dass schon früh Übersetzungen in die Volkssprachen erfolgten. Vgl. Wolfgang G. Müller, „Das Problem von Schein und Sein in Erasmus’ ‚Sileni Alcibiadis‘ und Shakespeares ‚Macbeth‘“, in: Wolfenbüttler Renaissance Mitteilungen 15 (1991), S. 1–18, hier S. 3. 33 Vgl. hierzu Müller, Das Paradox (wie Anm. 1), S. 90–125.
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den ironischen Charakter der Gleichnisse Christi.34 Schlichtheit, Einfachheit und Hässlichkeit sind für ihn notwendig ironische Masken, die das Göttliche nutzt, um sich selbst zu verbergen, was Sokrates und Christus gleichermaßen vor Augen führen. Das Göttliche betreibt Understatement.35 Zum anderen redet Erasmus vom proteischen Charakter des Göttlichen und der Bibel, die sich je und je anders entsprechend den Möglichkeiten des Rezipienten offenbaren, als sie selbst aber unentdeckt bleiben. Deshalb geht mit der Erscheinung des Göttlichen bei Erasmus immer zugleich eine Doppelbewegung einher. Dessen Offenbarung an den Menschen bedeutet zugleich seinen Entzug. So sei jenes Adagium in Erinnerung gerufen, das sich Veränderlichkeit und Mimikry widmet und dessen Titel Mach es wie der Polyp lautet. Seit der Antike stellen Polyp und Chamäleon bekanntlich Tiere dar, die zur Tarnung fähig sind, weil sie sich den Farben ihrer Umwelt anpassen können. Wenn es zunächst heißt, „Es [das Sprichwort „es wie der Polyp zu machen“, J. M.] erinnert uns daran, uns jeder Lebenslage anzupassen. Wir wollen es wie ein Proteus halten und je nach Sachlage uns in jede beliebige Gestalt verwandeln […]“, könnte man zunächst glauben, dass es sich im genannten Adagium lediglich um das Problem weltklugen Verhaltens handelt.36 Mit der Erwähnung der Proteusgestalt gibt der Theologe einen weiteren Hinweis, der die Natur des Göttlichen betrifft. So wird Proteus in der Odyssee als Hirte von Poseidons Robben und als Wahrsager beschrieben, der nur widerwillig den Menschen mit seinen Prophezeiungen zu Diensten ist. Seine besondere Eigenschaft besteht in unendlicher Wandlungsfähigkeit. Er kann jede nur denkbare Gestalt annehmen, um die Menschen über seine wahre Identität zu täuschen. Wilde Tiere ahmt er gleichermaßen nach wie die vier Elemente. Durch seine Verwandlungen versucht er, sich der Aufgabe des Vorhersagens zu entziehen. So müssen ihn die Griechen auf der Heimfahrt von Troja überlisten, damit er ihnen den Weg in die Heimat kundtut. Wandelbarkeit und göttliche Prophezeiung gehören in der Proteusfigur zusammen.
34 Erasmus von Rotterdam, In Novum Testamentum Praefationes. Vorreden zum Neuen Testament. Ratio. Theologische Methodenlehre, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Gerhard B. Winkler, in: ders., Schriften (wie Anm. 2), Bd. 3, S. 359. 35 Er spricht in diesem Zusammenhang von „umgekehrten Silenen“. Sowohl die Verstellungskunst Gottes, als auch die Silenmetapher werden im Lob der Torheit erwähnt. Die weltlich-institutionelle Macht verhält sich für den Theologen umgekehrt proportional zu ihrer eigentlichen Bedeutung. 36 Erasmus von Rotterdam, Adagia. Lateinisch/Deutsch. Auswahl, Übersetzung und Anmerkungen von Anton J. Gail, Stuttgart 1983, S. 32–41, hier S. 35.
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Nach der Definition und dem Lob proteischen Verhaltens werden im genannten Adagium aufschlussreiche Exempla gegeben. Mit Odysseus und Brutus nennt Erasmus nicht nur antike, sondern mit David und Paulus auch biblische Vertreter als Meister proteisch-ironischen Verhaltens.37 Sie alle seien Verstellungskünstler, die sich hinter ihrem schlichten oder harmlosen Äußeren, in Worten oder durch Listen zu verbergen wüssten. Und wenn Erasmus sogar seinen Lieblingsapostel den genannten Verstellungskünstlern zuordnet, so deshalb, weil Paulus seine eigene Wandlungsfähigkeit im 1. Korintherbrief selbst zum Thema macht.38 Er verändert sich für unterschiedliche Menschen, um ihnen zu entsprechen und alle zu Christus zu führen. Er selbst ist eine Art Proteus, weiß der Apostel doch die eingeschränkten Perspektiven der Menschen zu berücksichtigen. Wenn diese kurze Skizze zur Transzendenz und ihrer metaphorischen Darstellung in der Theologie des Erasmus an den Anfang meiner Überlegungen gestellt wurde, so deshalb, um für die Frage bildlicher Transzendenzdarstellung zu sensibilisieren. Mit seinen Texten hat der niederländische Theologe Standards gesetzt, denen Maler seit der Reformationszeit zu entsprechen versucht haben. Hebt man mit dem niederländischen Theologen die prinzipielle, geistige Andersartigkeit des Göttlichen hervor, wird man bezüglich seiner Darstellung die Defizienz aller Zeichen und die unüberbrückbare ontologische Differenz betonen müssen. Seine Theologie wird durch eine unvermeidliche Ambivalenz insofern bestimmt, als die Zeichen, die das Göttliche vergegenwärtigen sollen, weniger dessen An- als vielmehr dessen Abwesenheit aufzeigen. Dies ist die eigentliche Ironie seines Denkens.
III. Kirchenkritik in Jan van Amstels Flucht nach Ägypten Wie aber lässt sich dieses grundlegende Problem aller Theologie auf die Malerei van Amstels beziehen? Wie soll es einem Maler möglich sein, dieser fundamenta-
37 Erasmus, Adagia (wie Anm. 36), S. 37. 38 „Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen, denen unter dem Gesetz einer unter dem Gesetz – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, um die unter dem Gesetz zu gewinnen. Denen ohne Gesetz aber bin ich geworden wie einer ohne Gesetz – obwohl ich vor Gott nicht ohne Gesetz bin, vielmehr Christus für mich massgebend ist –, um die ohne Gesetz zu gewinnen. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, um die Schwachen zu gewinnen; allen bin ich alles geworden, um in jedem Fall einige zu retten. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um Anteil zu bekommen an ihm.“ 1 Kor 9,20–23 (Zürcher Bibel).
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len Kritik materieller Gotteszeichen zu folgen, ohne dass dies einer Selbstaufgabe gleichkäme? Van Amstels Bilder müssten zeigen, dass es in Bezug auf das Göttliche Grenzen des Darstellbaren gibt. Eine solche Konzeption führt jedoch geradewegs in den Selbstwiderspruch, muss die Malerei doch zeigen, was sie nicht mehr zeigen kann.
Abb. 1: Jan van Amstel (Braunschweiger Monogrammist) (Kopie?), Flucht nach Ägypten, um 1540, Öl auf Holz, 41,8 x 51,8 cm, Thyssen-Bornemisza Collections (1996.2).
Van Amstels Tafel der Flucht nach Ägypten aus den 1540er Jahren (Abb. 1) stellt in mehrfacher Hinsicht ein merkwürdiges Bild dar, ist doch kein früheres Vergleichsbeispiel dieser Ikonographie bekannt, bei dem man als Betrachter derart in die Achse des Weges gestellt wird und dabei zugleich ein reisendes Paar von hinten beobachten kann.39 In übertragenem Sinn befindet man sich auf demsel-
39 Dietrich Schubert geht auf den Inhalt des Bildes in seiner monographischen Studie zum Braunschweiger Monogrammisten nicht ein, sondern klärt allein Zuschreibungsfragen. Vgl. Schubert, Gemälde (wie Anm. 8), S. 204–205. Dabei geht er davon aus, dass man wegen der außergewöhnlichen Komposition, aber der schwächeren Figurenausführung von einer Kopie nach van Amstel sprechen muss. Die Forschungsmeinungen zur Eigenhändigkeit sind bei
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ben Weg wie Maria und Joseph. Die Maße des Bildes von 42 x 59 cm machen es zu einem ausgesprochenen Kabinettformat und erzwingen vom Betrachter eine große Nahsicht. Das Bild gehört zur Sammlung Thyssen-Bornemisza. Bisher ist der Tafel keine eingehende Interpretation gewidmet worden. Sie wird zumeist im Kontext von Übersichtsdarstellungen zur Landschaftskunst besprochen, ohne dass dabei die Ikonographie näher zur Kenntnis genommen würde.40 Dies ist umso erstaunlicher, als man ja nicht nur die Miniaturisierung der heilsrelevanten Figuren realisieren kann, sondern sich viele Motive finden, die im Rahmen einer Flucht nach Ägypten unüblich sind. Van Amstel hat sein Bild deutlich in Vorder- und Hintergrund geteilt, um dadurch unsere Aufmerksamkeit zu steuern. Die starke Farbigkeit des Vordergrundes lässt uns mühelos alle hier dargestellten Details entdecken, während uns die Luft- und Farbperspektive des Hintergrundes eine deutliche Vorstellung von der Weite der Landschaft vermittelt, aber auch ganz konkret vom mühsamen Weg erzählt, den Maria und Joseph noch vor sich haben. Dem Bild eignet eine Woher-Wohin-Struktur insofern, als wir anschaulich über den weiteren Verlauf des Weges informiert werden. Die Ikonographie der Flucht nach Ägypten stellt alles andere als ein unkonventionelles Thema zu Beginn des 16. Jahrhunderts dar. Man kann an Darstellungen von Joachim Patinir (Abb. 2) erinnern, die schon vor van Amstel die Erzählung aus dem Matthäusevangelium mit einem Landschaftsbild zu kombinieren wussten. Allerdings geschieht dies in anderer Weise als bei Jan van Amstel. Dieser bricht mit der Tradition extremer Überschau- oder Weltlandschaft. Es ist fast so, als würde er die Landschaft zentralperspektivisch modifizieren, sodass unser Blick durch den Sog bestimmt wird, der den Weg vom vorderen Bildrand in die Ferne führt. Mächtig ragen die Wolken empor, wie ein weißes Gebirge hinterfangen sie den Horizont. Der Eindruck eines mächtigen Sogs wird zudem durch die Rahmung links und rechts des Weges unterstützt. Hecke und Bäume links und das Gehöft rechts führen unseren Blick immer wieder auf das vorbeiziehende Paar, das schon bald hinter dem Hügel verschwunden sein wird.
Klaus Ertz zusammengefasst, vgl. Klaus Ertz (Hg.), Die Flämische Landschaft, 1520–1700. Eine Ausstellung der Kulturstiftung Ruhr Essen und des Kunsthistorischen Museums Wien, Lingen 2003, S. 68. Eine Ausnahme im Bezug auf die Komposition bildet Lucas van Gassels wenig später entstandene Flucht nach Ägypten aus dem Jahre 1547. – Lucas van Gassel, Flucht nach Ägypten, 1547, Holz, o. O.; zur bisher spärlich erforschten Ikonographie der „Flucht nach Ägypten“ im Allgemeinen, vgl. Karl Vogler, Die Ikonographie der Flucht nach Ägypten, Arnstadt 1930. 40 Vgl. Ertz, Die Flämische Landschaft (wie Anm. 39), S. 68–69.
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Abb. 2: Joachim Patinir, Flucht nach Ägypten, um 1514, Öl auf Leinwand, 17 x 21 cm, Antwerpen, Musée des Beaux Arts (Inv. Nr. 64).
Doch auch wenn wir als Betrachter in die Achse des Weges gestellt werden, bedeutet dies nicht, dass wir den Reisenden zu folgen vermögen. Im Gegenteil werden wir von van Amstel zugleich ein- und ausgeschlossen: Wie auch die Kinder entdecken wir zwar das vorbeireitende Paar, müssen aber zurückbleiben, während die Heilige Familie weiterzieht. Diesen Eindruck gleichzeitigen Ein- und Ausgeschlossen-Seins des Betrachters erzielt der Künstler durch zwei formale Maßnahmen. Zum einen ist der Weg ins Bild optisch durch die quer liegenden Äste versperrt. Zum anderen fällt unser Standpunkt zu hoch aus, als dass wir einfach weitergehen könnten, befinden wir uns doch oberhalb des Weges. Im Rahmen der üblichen Ikonographie einer Flucht nach Ägypten sind die spielenden Kinder auf der rechten Seite ebenfalls untypisch, wie auch die Frau, die aus dem Haus kommt, um nachzuschauen, was draußen passiert. Sie trägt einen Korb in ihrer Linken, während ein Kind zu ihr aufschaut und sich an ihrem rechten Bein festhält. Der Korb verweist uns womöglich darauf, dass sie etwas holen wollte und nun zufällig zum selben Zeitpunkt aus dem Haus tritt, als Maria
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und Joseph mit dem Christuskind vorbeireiten. Vielleicht hat sie den Kindern aber auch etwas gebracht, weshalb ihr Korb nun leer ist. Auch dies wäre durchaus möglich, ohne dass man hier zu einer Entscheidung kommen könnte. Wie dem auch immer sei, mir ist kein Werk bekannt, bei dem sich der Maler der Mühe unterzogen hätte, das Unterwegssein so präzise zu schildern. Auf der linken Seite des ausgefahrenen Weges wurden Äste über ein Schlagloch gelegt, damit vorbeiziehende Wagen nicht einsinken und stecken bleiben. Oberhalb des Schlaglochs erkennt man den Holzblock, auf dem kurz zuvor die Äste eines herausgerissenen Baums abgeschlagen wurden, um das Hindernis in Form des Schlaglochs aufzufüllen. Auch die zentrale Szene, bei der sich Maria nach rechts beugt, um einem der Kinder Brot zu reichen, ist mehr als untypisch und findet weder eine Entsprechung im Matthäusevangelium, noch in apokryphen Texten. In der Regel sind Reisende auf Proviant angewiesen, den sie von den Menschen erhalten, deren Lebensbereich sie passieren. Hier aber ist es umgekehrt, ein Kind wird von den Reisenden mit Brot beschenkt. Dabei dreht sich Maria auf ihrem Reittier eigens um und muss sich weit vornüberbeugen, um ihm das Brot zu reichen. Umgekehrt macht das Kind einen deutlich erkennbaren Ausfallschritt nach vorn, um die Gabe annehmen zu können, wodurch jeweils eine extreme Augenblicklichkeit und Verzeitlichung zum Ausdruck kommt. In Bezug auf Maria ist dies gleichermaßen eine Geste der Caritas wie auch Symbol der Eucharistie, in welchem sich Christus auf seinem Weg durch die Welt verschenkt. Dazu bedarf es keines steinernen Gotteshauses, keiner ausgefeilten Liturgie, sondern lediglich der noch im Vorüberziehen liebevoll zugewandten Geste der Gottesmutter. So ist es kein Zufall, dass das Kind, dem Maria Brot zu reichen scheint, seine Hände durch das Gewand verdeckt hält, als würde es eine konsekrierte Hostie empfangen, und noch viel weniger ist es ein Zufall, dass der Tisch unterhalb des merkwürdigen Baumes rechts an einen Altar erinnert und der Baum eine Kreuzform bildet. Dabei bedient sich van Amstel der Ikonographie des belaubten und unbelaubten Baumes, der die „Kinderkirche“ des Vordergrunds dem gut sichtbaren, spätmittelalterlichen steinernen Kirchenbau auf der rechten Seite gegenüberstellt, auf dessen Chor wir schauen können. Es sind die Kinder, die Maria und Joseph erkannt haben. Die erwachsene Frau, die durch das Tor des Hauses hinausschaut, kommt zu spät. Sie steht unter dem Tor, das die Grenze des Grundstücks bezeichnet, sodass sich die Kinder wie die Heilige Familie auch außerhalb befinden. Wie aber dürfen wir das Bild von van Amstel verstehen? Meines Erachtens hat es zunächst einmal eine kritische Intention insofern, als es über die wahre und die falsche Kirche erzählt. Die wahre Kirche ist auf der Flucht. Sie wendet sich den Einfachsten zu und die spielenden Kinder erscheinen angesichts des
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anstehenden Bethlehemitischen Kindermords als potenzielle Märtyrer. Dies ist umso plausibler, als sich in der vorhergehenden Bildtradition eines Joachim Patinir Simultandarstellungen finden, bei denen wir im Vordergrund die Flucht nach Ägypten dargestellt sehen, während im Mittelgrund der Kindermord stattfindet. Die Kinder bei van Amstel sind künftige Märtyrer. Um die Deutung über die wahre und die falsche Kirche zu unterstützen, gilt es ein Detail genauer zur Kenntnis zu nehmen, das meines Erachtens einen Betrachter im frühen 16. Jahrhundert aufgefallen wäre. Gemeint ist der Bildstock, der am Baum links befestigt ist. Im Pseudo-Matthäusevangelium 22–23 wird berichtet, dass auf der Reise nach Ägypten die Götzen der Stadt Sotine herabstürzten, als Maria und Joseph dort keine Herberge fanden und in den Tempel ausweichen mussten.41 Diese Episode wurde als Sturz eines Götzenbildes beim Vorbeizug der Heiligen Familie in zahlreichen Bildern dargestellt. Joachim Patinir hat die Geschichte in seiner Flucht nach Ägypten (Abb. 2) wiedergegeben. Links am Wegrand sehen wir, wie das Idol von seiner Säule stürzt. Auf diese Episode spielt der Bildstock am Baum an, aus dem gerade eine Figur herabfällt. Wenn man die Darstellungen vergleicht, fällt auf, dass Patinir die Geschichte historisiert, wenn er den Götzen auf eine Säule stellt.42 Jan van Amstel hingegen wählt einen Bildstock, wie er jedem Christen des Spätmittelalters von Brücken und Wegen vertraut war, der den Schutz der Heiligen, der Gottesmutter oder des Heilands selbst suchte. Ziehen wir in diesem Zusammenhang eine Ankunft in Bethlehem von Cornelis Massys (Abb. 3) hinzu, so stellen wir fest, dass hier ein Bildstock in der Mitte der Brücke angebracht ist, um Schutz bei der Überquerung zu gewährleisten.43 Auch hier nutzt der Künstler ein aus seiner eigenen Gegenwart stammendes Motiv, die Vergangenheit darzustellen, das in letzter Konsequenz die Legitimität gegenwärtiger Religionspraxis in Frage stellt. Wenn wir letztere Möglichkeit in Betracht ziehen, so ist es kein Zufall, dass hier eine Figur aus einem christlichen Bildstock herunterfällt, womit die Bildrhetorik einer falschen Kirche eine Fortsetzung fände. Dies alles sind Metaphern,
41 Edgar Hennecke/Wilhelm Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 1, 4. Aufl., Tübingen 1968, S. 308. 42 Zu einer vergleichbaren Deutung des Bildstocks in der „Heuernte“ Pieter Bruegels d. Ä. vgl. Bertram Kaschek, Weltzeit und Endzeit. Die „Monatsbilder“ Pieter Bruegels d. Ä., München 2012, S. 161–169. Wichtige Anregungen zum Bildstock als Bildmotiv sowie zu dessen theologischen Konnotationen finden sich auch bei Christopher Wood, Albrecht Altdorfer and the Origins of Landscape, London 1993, S. 181–185. 43 Vgl. Cornelis Massys, Die Ankunft der Hl. Familie in Bethlehem, 1543, Eichenholz, 27 x 38 cm, Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie.
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Abb. 3: Cornelis Massys, Die Ankunft der Heiligen Familie in Bethlehem, 1543, Öl auf Eichenholz, 27 x 38 cm, Berlin, SMB, Gemäldegalerie (Inv. Nr. 675). © bpk/Jörg P. Anders
die das Wesen der Kirche und dessen Missverständnis betreffen. Die falsche, steinerne Kirche existiert nicht nur ein-, sondern gleich mehrmals, wenn man auf die Gebäude des Mittel- und Hintergrundes achtet. Welche Legitimität kommt ihnen zu, wenn sie schon vor dem Erlöser da waren? Wenn wir den Weg im Vordergrund genauer in Augenschein nehmen, stellen wir fest, dass man nicht damit gerechnet hat, jemand würde mit dem Esel vorbeikommen. Im Gegenteil hat man auf einen noblen Wagen gewartet, weshalb man den Weg wiederhergestellt und das Schlagloch mit Ästen aufgefüllt hat. Doch die Heilige Familie ist auf einem Esel unterwegs. Wenn Jan van Amstels Flucht nach Ägypten dem erasmischen Ideal einer spezifisch christlichen Poetik entspricht, so ist die Tafel im Sinne einer humilen Bildsprache zu bewerten. Alles geschieht mit größter Alltäglichkeit. Unterhalb des Altars sehen wir einen Abort und daneben entdecken wir ein Schwein. Die Alltäglichkeit des Geschehens wird zudem durch herumlaufende Hühner betont, die entlang des Weges nach Nahrung picken. Einfacher und schlichter lässt sich der Kontext für diesen improvisierten Altar wohl kaum denken. Das Göttliche hat sich zum Menschlichen erniedrigt. Es ereignet sich im Dreck. An den einfachsten Orten, bei den einfachsten Menschen ist es zu
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finden. In der Tafel erscheint die Heilsgeschichte als unabgeschlossen. Sie dauert bis auf den heutigen Tag an. Was wir die Entstehung profaner Gattungen in der Frühen Neuzeit nennen, ist so gesehen nichts anderes als die Untrennbarkeit profaner und sakraler Geschichte. Das vermeintlich Profane stellt sich als das Humile heraus. Es ist der unerlöste Ort, an dem sich das Sakrale ereignet, wie uns der Altar der Kinder und ihre Toilette deutlich machen. Diese extreme Verbindung des Hohen und Niederen dürfen wir mit Erich Auerbach als ein Charakteristikum des christlichen Sermo humilis erachten, wie er nicht nur mit den Schriften der Kirchenväter gegeben und reflektiert wird, sondern auch mit jenen der Reformatoren. Dies betrifft sowohl die Durchmischung der Stillagen, als auch die Verbindung unterschiedlicher Gattungen.44 Im Anschluss an die ikonographischen Beobachtungen gilt es nun, die formale Inszenierung der Erzählung genauer in den Blick zu nehmen.
IV. Die Zeitlichkeit des Bildes: Gott als Spur Grundsätzlich eignet der Landschaftsmalerei der Frühen Neuzeit ein formaler Konflikt. Ein Konflikt, der die Überschau eines großen Raumes und seiner zeitlichen Erschließung durch den Betrachter betrifft. Landschaftsmalerei definiert sich aus der Spannung von Blicken und Schauen. Modern gesprochen ist damit der Unterschied zwischen gegenstandsorientiertem Sehen und interesseloser Schau gemeint. Van Amstel favorisiert dabei eindeutig das Blicken. Er gestaltet seine Flucht nach Ägypten als diskontinuierlichen Raum. Schon bald wird die Heilige Familie hinter dem Hügelkamm verschwunden sein. Nicht alles ist gleichermaßen präsent, sondern durch unsere Perspektive verstellt und mit Abschattungen versehen. Damit geht allerdings keinesfalls der Verzicht auf die Darstellung immenser Raumtiefe einher. Zieht man Albrecht Dürers berühmten Holzschnitt der Flucht nach Ägypten (Abb. 4) aus dem Jahre 1503 zum Vergleich hinzu, so stellt man fest, dass Maria, Joseph und der Christusknabe gemessenen Schritts von links nach rechts vorbeiziehen. Mit der großen Nähe zum Dargestellten geht bei Dürer eine gewisse Monumentalisierung einher. Indem er uns lediglich einen kleinen Raumausschnitt vorführt, kommt die Bewegung fast zum Stillstand. Dieser Eindruck wird auch dadurch unterstützt, dass Joseph im Begriff ist zurückzublicken und der
44 Auerbach, Mimesis (wie Anm. 4), S. 65–66.
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Abb. 4: Albrecht Dürer, Die Flucht nach Ägypten, Blatt 13 der Folge Das Marienleben, um 1503, Holzschnitt, 30,2 x 21,3 cm, London, British Museum, Department: Prints & Drawings (AN37791001). © Trustees of the British Museum
Esel erst im nächsten Moment voranschreitet. Dürer scheint die Bewegung für einen Moment anzuhalten, was durch planimetrische Maßnahmen wie das ins Bild hineinragende gleichschenklige Dreieck zusätzlich unterstützt wird. Im Unterschied dazu gelingt es van Amstel den Eindruck zu erwecken, man befände sich hinter den Vorbeiziehenden, wodurch er die Wirkung des Geschehens extrem verzeitlicht. Der Vergleich mit Dürer macht überdies deutlich, dass wir bei dem niederländischen Maler weniger als Zeugen eines abgeschlossenen als vielmehr eines unabgeschlossenen Ereignisses angesprochen werden. Während der deutsche Künstler das Geschehen entschleunigt, betreibt van Amstel das genaue Gegenteil. Er lenkt den Blick des Betrachters durch den Verlauf des Weges, der bis an den Horizont führt. Hier befindet sich eine Stadt, deren Kathedrale selbst noch aus der Ferne bis in den Himmel ragt. Wir bekommen eine anschauliche Vorstellung von dem Zeitraum, der vergeht, bis die Heilige Familie die Stadt erreicht haben wird. Kein anderes Bild inszeniert so sehr die Metaphorik des Weges in dem
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Sinne, dass wir als Betrachter zurückbleiben, während Maria, Joseph und der Christusknabe weiterziehen. Für einen Moment werden wir Zeuge ihres Vorbeiziehens, wobei weniger ihre Präsenz als vielmehr ihr baldiger Entzug thematisch sind. Die drei Figuren werden schon bald den Kamm des Hügels erreicht haben, um dahinter zu verschwinden. Und mit größerem Abstand werden sie nicht mehr als Maria, Joseph und der Christusknabe zu erkennen sein. Van Amstel inszeniert die Kontingenz unserer Zeugenschaft. Er führt uns die Zufälligkeit der Gottesbegegnung im Sinne der Unerwartetheit und Plötzlichkeit vor Augen. Dabei ist die Idee des Bildes als Verlaufsform wesentlich. Mit einer solchen Zeitkonzeption geht für den Betrachter gleich in mehrfacher Hinsicht ein Akt intellektueller Selbstbescheidung einher. Zunächst einmal wird unsere Ohnmacht gegenüber dem extremen Ereignischarakter der Gottesbegegnung deutlich. Darüber hinaus wird hier aber auch der paradoxe Charakter der Zeit beschrieben, deren Identität gleichzeitig durch Beharren und Vergehen definiert wird, wie es Augustinus im 11. Buch seiner Confessiones eindringlich dargelegt hat, geht es dem Kirchenvater doch darum, die Vorstellung von der Gegenwart als Jetztpunkt zu destruieren. Er kritisiert jene Zeitkonzeption, die besagt, Zeit bestehe aus einer Abfolge von Jetztpunkten, deren Sukzession die Präsenz der äußeren Wirklichkeit garantiert.45 In diesem Sinne darf man Dürers Darstellung als solch einen still gestellten Moment verstehen, der das Göttliche anwesend sein lässt. Für van Amstel stellt Zeitlichkeit im Gegenteil die Möglichkeit zur Verknappung der Gegenwart dar, sie bedeutet Flüchtigkeit. Sie ereignet sich fortwährend, ohne dass wir sie anhalten könnten.46 Das Bild lässt uns nicht schauen, sondern erstaunt blicken. Eine solche Inszenierung zeitlicher Verlaufsform ist Teil einer christlichen Ästhetik, der es um die Zuspitzung von Bildlichkeit als scheinhaftem Moment zu tun ist.
45 Vgl. hierzu in Bezug auf Pieter Bruegel d. Ä.: Müller, Das Paradox, (wie Anm. 30); S. 136–142 u. S. 172–177. Außerdem: Jürgen Müller, „Bild und Zeit. Überlegungen zur Zeitgestalt von Pieter Bruegels ‚Bauernhochzeitsmahl‘“, in: Götz Pochat/Brigitte Werner (Hg.), Erzählte Zeit und Gedächtnis. Narrative Strukturen und das Problem der Sinnstiftung im Denkmal, Graz 2005, S. 72–81. 46 „Der Eindruck, der von den Erscheinungen bei ihrem Vorüberziehen in dir erzeugt wird und dir zurückbleibt, wenn die Erscheinungen vorüber sind, der ist es, den ich messe als etwas Gegenwärtiges, […].“Augustinus, Bekenntnisse (wie Anm. 14), S. 661.
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Abb. 5: Jan van Amstel (Braunschweiger Monogrammist), Landschaft mit Flucht nach Ägypten, um 1530, Öl auf Holz, 108 x 68,3 cm, County Durham, Barnard Castle, Bowes Museum (B.M.117).
Dass es dem Künstler dabei um eine spezifisch theologische Erkenntnis für den Betrachter geht, belegt eine zweite Darstellung (Abb. 5) desselben Themas, die van Amstel zugeschrieben wird.47 Die im Bowes Museum in Barnard Castle aufbewahrte Tafel ist deutlich größer und misst 67 x 107 cm. Der Abstand zur Heiligen Familie ist erheblich größer und man kann nicht guten Gewissens behaupten, man hätte Maria, Joseph und den Christusknaben in dieser Form auch im Alltag erkannt. Im Gegenteil bedient sich der Künstler eines klugen Schachzugs, um unsere Aufmerksamkeit für die Heilige Familie indirekt herzustellen. So fällt auf, wie am Horizont der regenverhangene Himmel aufreißt, als sollte uns ein Zeichen gegeben werden, dass etwas Wunderbares im Begriff ist zu geschehen. Einmal mehr haben wir es nicht nur mit einer immensen räumlichen, sondern auch zeitlichen Erstreckung zu tun. Schon im nächsten Moment werden Maria, Joseph und der Christusknabe den Bildraum nach rechts verlassen haben. Ihr Verschwinden steht unmittelbar bevor! Einmal mehr erhalten wir eine Vorstellung von der Länge des Weges, den die Heilige Familie schon zurückgelegt hat. Van Amstel nutzt eine raumschaffende Diagonale, die die linke obere und die rechte untere Bildecke verspannt. Einmal mehr ist das Bild in zwei farbliche
47 Zur Zuschreibung vgl. Schubert, Die Gemälde (wie Anm. 8), S. 195.
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Zonen geteilt. Die hellen Ocker- und lichten Grautöne des Vordergrunds bilden die Folie für alle Gegenstände und Personen, die man deutlich erkennen kann. Im Gegensatz dazu finden sich im Mittelgrund fließende Farbübergänge. Welchen Erkenntnisgewinn ermöglicht ein solches Bild? Soll uns hier des Menschen Leben als Peregrinatio vor Augen geführt werden, wie Reindert Falkenburg vermutet hat und wofür man einmal mehr Erasmus als Kronzeugen anführen könnte, der über des Menschen Leben als Pilgerreise bekanntlich ein kurzes Adagium verfasst hat?48 Oder war es dem Künstler um atmosphärische Schilderung zu tun? Ist hier die Frage der Landschaft und ihrer angemessenen Darstellung wichtiger als die christliche Ikonographie? – Weder das eine noch das andere. Meines Erachtens kann hier überhaupt nicht sinnvoll von Landschaftsmalerei die Rede sein. Im Gegenteil handelt es sich ein zweites Mal um eine Allegorie eingeschränkter Gotteserkenntnis. Van Amstel zielt wiederum auf das Verschwinden des Göttlichen. Er entrückt es, liefert eine skeptische Formulierung in Bezug auf die Möglichkeit des Menschen es zu erkennen. Indirekt, als Spur, als Etwas, das gerade noch da ist und schon bald wieder verschwunden sein wird, erscheint es in der Tafel der fliehenden Heiligen Familie.49 Noch nicht einmal den Christusknaben kann man entdecken, so weit ist alles entfernt. In Bezug auf die Zeitlichkeit verhält es sich in der Tafel aus dem Bowes Museum anders als bei dem Madrider Bild. Denn durch unsere Aufsicht erkennen wir zwar einen kontinuierlichen Weg, der von rechts unten nach links oben führt, aber eben diese Diagonalkomposition lässt das Auge nicht zur Ruhe kommen und ein ums andere Mal den Blick den Weg zum Horizont abschreiten. Das Bild liefert keine Landschaftsschau, sondern repräsentiert eine unaufhebbare zeitliche Wiederholungsstruktur. Die Botschaft beider Bilder van Amstels lautet: Die Reise dauert an. Maria, Joseph und der Christusknabe sind immer noch unterwegs, sogar dann noch, wenn sie hinter dem Hügel verschwunden sind und den sichtbaren Bildausschnitt verlassen haben. Es ist, als würden wir den letzten Moment der Anwesenheit der Heiligen Familie und den ersten ihrer Abwesenheit erleben. Das Göttliche ist nicht dauerhaft präsent und wird – metaphorisch gesprochen – der Verfügungsgewalt des Betrachters entzogen. Schon auf dieser anschaulichen Ebene spricht die extreme Verzeitlichung des Bildhergangs gegen die Repräsentation und die
48 Reindert L. Falkenburg, Joachim Patinir. Landscape as an Image of the Pilgrimage of Life, Amsterdam/Philadelphia 1988; Erasmus, Adagia (wie Anm. 36), S. 633. 49 Zur Spur (vestigium) als neoplatonisch-plotinischem Konzept, vgl. Rentsch, Transzendenz (wie Anm. 13), S. 148–160.
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Möglichkeit der Fixierung des Göttlichen. Entsprechend werden Geschehen oder Verlauf und weniger Dauer oder Konstanz durch den Maler inszeniert. Abschließend sei festgestellt, dass van Amstels Konzeption der zuerst behandelten Flucht nach Ägypten in mehreren Hinsichten aufschlussreich ausfällt. Auf anrührende Weise wird das Einbrechen der Transzendenz in die Immanenz gezeigt. Die Tafel stellt eine kuriose Mischung aus christlicher Ikonographie, Landschaftsdarstellung und Genremalerei dar. Es wurde behauptet, dass diese Gattungsdurchmischung im Sinne des Sermo humilis verstanden werden muss. Das Göttliche erscheint in alltäglicher Weise. Unbemerkt von den Erwachsenen zieht es vorbei. Der Künstler inszeniert die Niedrigkeit der Welt, was die spielenden und zum Teil nackten Kinder, der Toilettentopf, das Nahrung suchende Schwein, aber auch die herumlaufenden Hühner mehr als deutlich machen. Um diese Welt zu erlösen, bedarf es keiner Päpste oder anderer Geistlicher. Es bedarf eines Erlösers, der bereit ist, diese Niedrigkeit aufzusuchen, sich selbst in diese Niedrigkeit zu verwandeln. Im Unterschied zu dessen Unbehaustheit werden die steinernen Kirchen inszeniert und durch den unbelaubten Baum als wertlose Gotteshäuser denunziert. Dies alles sind kritische Metaphern, die das Wesen der Kirche und dessen Missverständnis betreffen. So fällt die implizite Konfessionskritik des Bildes ins Auge. Der Künstler weiß seine Bildaussage auf eine solche Weise zu formulieren, dass sich Gegenwart und Vergangenheit durchdringen. Das Sakrament der Messe findet unter freiem Himmel statt. Die Kinder werden uns als eigentliche Gläubige offenbart. Sie befinden sich im Besitz eines Altars, der jedoch alles andere als herrschaftlich erscheint. Ähnlich wie Erasmus im Lob der Torheit nutzt van Amstel das Stilmittel der Ironie im Sinne negativer Theologie. Zum einen setzt er sich kritisch mit der katholischen Kirche auseinander, zum anderen macht er den Bilddiskurs selbst zum Thema, wenn die Malerei und ihre Möglichkeiten bildlicher Repräsentation christlicher Heilswahrheit kritisch befragt werden. Es war mein Anspruch zu zeigen, dass mit der Theologie des Erasmus eine kritische Bildpoetik flämischer Kunst einhergehen kann, die nicht nur den Spott über katholische Riten oder klassizistisch-italienische Normen betrifft, sondern auch das systematische Anliegen negativer Theologie. In erasmisch motivierter Neukonzeption wird das Bild zum Übergangsraum. Das äußere Thema bildet nur den Anlass, das Einbrechen der Transzendenz in die Immanenz zu schildern und zu charakterisieren. Pointiert formuliert wird das Bild zur Schwelle oder Spur. In ihm wird ein ontologisch ambivalenter Status angelegt, redet es doch nicht nur über die An-, sondern auch über die Abwesenheit der dargestellten Personen und Ereignisse. Gerade dadurch versucht das Bild nichts weniger, als eine Aussage über das Wesen des Göttlichen zu machen. Dies geschieht allerdings in skeptischer Form sozusagen notwendig ex negativo.
Gerd Schwerhoff
Bildersturm und Blasphemie Zum Spannungsfeld von Transzendenz und Gemeinsinn in der Reformationszeit
I. Einleitung Der nachfolgende Beitrag besitzt einen doppelten Ausgangspunkt, einen konzeptuellen und einen sachbezogenen. Der konzeptuelle Rahmen ist durch die gemeinsame analytische Perspektive des Bandes und seinen Leitbegriff der „Transzendenz“ gesetzt. Dabei können wir von der ebenso fundamentalen wie banalen Feststellung ausgehen, dass die sozio-politischen Ordnungen des vormodernen Europa ohne die Berücksichtigung ihrer religiösen Grundierung, mithin ohne Rekurs auf das Transzendente, nicht angemessen analysiert werden können. Ebenso selbstverständlich erscheint die Diagnose, dass die Reformation als die „folgenreiche Hauptveränderung im Zustande der christlichen Religion“ (so Joh. Matth. Schröckh 1804)1 dramatische Konsequenzen für die Umgestaltung dieser Ordnungen zeitigte. Der folgende Beitrag nimmt mit dem Problem des Bildersturms einen kleinen Ausschnitt des Reformationsgeschehens in den Blick und fragt für dieses Feld nach den Einstellungen zum bzw. dem Umgang mit dem Transzendenten sowie den Konsequenzen, die sich für den Gemeinsinn daraus ergeben. Mit dem begrifflichen und konzeptuellen Gepäck des SFB 804 lassen sich, so mein Eindruck, einige Aspekte der mittlerweile vieldiskutierten Ikonoklasmus-Problematik schärfer in den Blick nehmen. Sachlich geht der Beitrag von der Beobachtung aus, dass die Akteure der Reformationszeit den Bildersturm2 in einen Zusammenhang mit Gottesläste-
1 Johann Matthias Schroeckh, Christliche Kirchengeschichte seit der Reformation. Erster Theil. Leipzig 1804, S. 9. 2 Zum Forschungsstand, insbesondere in historischer Perspektive Carlos M. N. Eire, War Against the Idols. The Reformation of Worship from Erasmus to Calvin, Cambridge 1989; Norbert Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1996; Lee Palmer Wandel, Voracious Idols and Violent Hands. Iconoclasm in Reformation Zurich, Strasbourg and Basel, Cambridge 1999. Weiterhin zentral die Beiträge in den Sammelbänden von Bob Scribner (Hg.), Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1990; Cécile Dupeux et al. (Hg.), Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Katalog zur Ausstellung, Bernisches Historisches Museum, Musée de l’Oeuvre Notre-Dame, Straßburg/Zürich 2000; Peter Blickle et
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rung3 brachten, allerdings in durchaus gegensätzlicher Form: Die einen betrachteten Bilder von Heiligen, aber auch von Christus selbst als Gotteslästerung und betrieben ihre Vernichtung, zumindest aber ihre Entfernung aus dem Kirchenraum; die anderen interpretierten gerade die Schmähung oder Zerstörung der Bilder als Blasphemie. So stand am Beginn der Zürcher Reformation u.a. das Todesurteil gegen einen radikalen Kritiker des Bilderkultes. Im Sommer 1520 wurde Uly Anders aus der Grafschaft Toggenburg hingerichtet, der schon früher durch lästerliche Schwüre und durch seine Schmähungen des Klerus aufgefallen war. Er hatte die Kreuzigungsdarstellung auf einer Glasscheibe mit der Bemerkung zerstört, die Götzen seien nutzlos.4 In Anders’ Angriff auf die bildliche Darstellung wird bereits implizit der Vorwurf der Blasphemie an die Adresse der Bilderverehrer bzw. an die Bilder selbst zurückgegeben. Ausdrücklich tat das einige Jahre später ein gewisser Fridlin Yberger, der im Juli 1526 aus Basel verwiesen wurde. Yberger hatte in einer Einzelaktion das Kruzifix aus einer Kapelle genommen, mit den Füssen zertreten und dazu geäußert, „es sig ein gotzlesterung“.5 Gotteslästerung oder nicht – das war in der Reformationszeit vor allem eine Frage der Perspektive: Der berühmte Zürcher Bilderstürmer Klaus Hottinger wurde in Luzern 1524 als Gotteslästerer hingerichtet, während er in reformierten Gebieten schnell zum ersten protestantischen Märtyrer der Schweiz stilisiert wurde.6 War der 1526 in Ensisheim, am Sitz der österreichischen Regierung als Ketzer hingerichtete Laienprediger Siegmund Steinschneider für den Basler Chronisten Fridolin Ryff ein Märtyrer, so vermerkte dagegen eine Karthäuserchronik, der Mann
al. (Hg.), Macht und Ohnmacht der Bilder, München 2002. Mein Dank für kritische Kommentare geht an Matthias Klinghardt, Ulrike Ludwig, Marina Münkler, Eric Piltz und Christian Schwarke, auch wenn ich nicht alle Hinweise angemessen berücksichtigen konnte. 3 Vgl. dazu mit weiterführenden Hinweisen Francisca Loetz, Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen, Göttingen 2002; Gerd Schwerhoff, Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften, Konstanz 2005. 4 Wandel, Voracious Idols (wie Anm. 2), S. 53: „Die götzen nützent nüdt da vnnd sy möchtind nüdt gehelffen.“ 5 Emil Dürr/Paul Roth (Hg.), Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, hier Bd. 2, Basel 1933, Nr. 439, S. 357. Auch im Zuge der Ermittlung gegen vier Handwerker wegen der Demontage von Bildern in zwei Kirchen heißt es u.a., die Aktion geschehe „zuor eer gotts unnd dem nechsten zuor besserung“ (ebd. Bd. 3, Basel 1937, Nr. 86, S. 66). 6 Wandel, Voracious Idols (wie Anm. 2), S. 72ff., 197f. u. ö.; Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 2), S. 131ff.
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sei wegen seiner Lästerungen des heiligen Sakraments und der Jungfrau Maria gevierteilt worden.7 Bildersturm und Blasphemie – beide Begriffe waren keine Eigenbezeichnungen der Akteure, sondern Fremdzuschreibungen, Etiketten, die stigmatisieren und kriminalisieren sollten. Die theologischen Programmatiker sprachen von der „Abtuhung“ der Bilder und nicht vom Bildersturm, und „Gott lästern“, das taten ohnehin nur die anderen. Dass beide Phänomene in der Reformationszeit oft in einen engen Zusammenhang gerückt wurden, hat bereits seit längerem die Aufmerksamkeit der Forschung geweckt. In Norbert Schnitzlers Analyse des Ikonoklasmus an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit wird die Frage aufgeworfen, ob der Bilderstürmer als „Märtyrer oder Blasphemiker“ zu behandeln sei. Theologen des 15. Jahrhunderts hätten im Bilderfrevel zunehmend eine gotteslästerliche Straftat gesehen: „Bilderfrevel und Blasphemie sind praktisch zu synonym verwendbaren Begriffen geworden.“8 Im Frankreich des frühen 16. Jahrhunderts, so hat auch Olivier Christin bestätigt, wurden Bildfrevel nicht nur als Sakrileg, sondern in manchen Fällen auch als Blasphemie und „lèze majesté divine“ geahndet.9 Palmer Wandel schließlich stellt dem hingerichteten Gotteslästerer Uly Anders in Zürich andere, spätere lästernde Bilderstürmer gegenüber, die weniger hart bestraft wurden, vor allem, weil sie ihr reformatorisches Anliegen klarer gemacht hätten.10 Das Deutungspotenzial, das in der Verknüpfung von Blasphemie und Bildersturm liegt, erscheint allerdings mit diesen Beschreibungen noch nicht ausgeschöpft und soll im Folgenden näher entfaltet werden. Dazu nimmt die Darstellung allerdings einen längeren Anlauf. Zunächst sollen kurz die reformatorische Bilderkritik und ihre Konsequenzen für das zeitgenössische Verständnis von Transzendenz rekonstruiert werden (I). Diese Engführung auf die Ebene des religiösen Diskurses wird ein einem nächsten Schritt durch den Blick auf die ikonoklastischen Praktiken aufgebrochen (II). Sodann gilt es, kurz
7 Wilhelm Vischer/Alfred Stern (Hg.), Basler Chroniken, Bd. 1, Leipzig 1872, S. 36f. u. S. 383f.: „[…] propter suas blasphemias in sacramenta ecclesiae et Mariam virginem […] quadratus est.“ Ein katholischer Anonymus berichtet zum Jahr 1524 über einen lutherischen Priester zu Ensisheim. „Diser priester ist lang gefangen gelegen umb seiner uberschwencklichen missenthat, so er dann übel zuogeredt hat und geschendt die gebererin Christi in solcher gestalt, das khein menschen, so den christen ist, sein mundt zympt zu beflecken mit solcher unrainigkeit“ (ebd. Bd. 7, hg. von August Bernoulli, Leipzig 1915, S. 273). 8 Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 2), S. 79; vgl. ebd. S. 131ff. und 140ff. 9 Olivier Christin: „L’ikonoclaste et le blasphémateur au début du XVIe siècle“, in: Jean Delumeau (Hg.), Injures et Blasphemes, Paris 1989, S. 35–47, hier S. 43ff. 10 Wandel, Voracious Idols (wie Anm. 2), S. 99f.; Lee Palmer Wandel, „Iconoclasts in Zurich“, in: Scribner, Bilder und Bildersturm (wie Anm. 2), S. 125–142, hier S. 125, S. 140f.
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das Verständnis von ‚Gotteslästerung‘ im reformatorischen Zeitalter zu erläutern (III), bevor dann Blasphemie und Bildersturm in ihrer Verschränkung diskutiert werden können (IV & V).
II. Bilderkritik als Entrückung des Transzendenten Eine der bekanntesten Invektiven gegen den Bilderkult der Papstkirche stammt aus der Feder von Andreas Bodenstein zu Karlstadt. Mit Berufung auf das göttliche Wort, insbesondere auf die mosaischen Bestimmungen des Alten Testamentes, forderte der Wittenberger Prediger 1522 schon im Titel seiner programmatischen Druckschrift energisch eine „Abtuhung der Bilder“. Die Anbetung von menschengemachten Bildern (‚Abgöttern‘, ‚Ölgötzen‘) in den Kirchen widerspreche dem ersten und zweiten Gebot des Dekalogs. Im Gegensatz zum lebendigen Wort Gottes, dem Evangelium, handele es sich bei den Heiligenbildern um totes Holz, allenfalls gut zum Anheizen des Ofens. 11 Allen Verteidigungs- und Vermittlungsbemühungen, nach denen die Bilder als ‚Bücher der Laien‘ (wie es einst Papst Gregor der Große formuliert hatte) nützlich oder doch wenigstens als „stab“ der Glaubensschwachen12 vorläufig unverzichtbar seien, erteilte er als ‚Papistenschlupfwinkel‘ eine Absage. Eine Verehrung Gottes und der Heiligen (deren Kult Karlstadt ohnehin ablehnt) im Bild münde zwangsläufig in einer Anbetung der Bilder selbst und führe zu magischem Aberglauben und Missbrauch, so erläutert Karstadt in immer neuen Wendungen. Die Gottlosen buhlten mit den Bildern wie die Huren mit den losen Buben.13 Ein Kult vor dem Bild ohne einen Kult des Bildes selbst sei undenkbar.14 „Alßo […] spricht Gott, Deu VII [5. Mose 7,5]: […] Ire bilder solt yr tzebrechen. Ire linden solt ir abhauwen, und ire geschnitzte bilder
11 Andreas Karlstadt, „Von Abtuhung der Bilder“, in: Adolf Laube et al. (Hg.), Flugschriften der Reformationszeit, Bd. 1, Berlin 1983, S. 105–127, hier S. 114; vgl. zu den kontroversen Positionen nur Jean Wirth: „Soll man Bilder anbeten? Theorien zum Bilderkult bis zum Konzil von Trient“, in: Dupeux, Bildersturm (wie Anm. 2), S. 28–37. Zur Problematik des mit Karlstadts Schrift in Verbindung stehenden ‚Wittenberger Bildersturms‘ Natalie Krenz, „Auf den Spuren der Erinnerung. Wie die ‚Wittenberger Bewegung‘ zu einem Ereignis wurde“, in: Zeitschrift für Historische Forschung 36 (2009), S. 563–595, hier S. 572f. 12 So der Vermittlungsversuch des Konrad Schmid, des vorsichtigen Gegenspielers der radikalen Bildgegner, während der Zweiten Disputation in Zürich (Emil Egli/Georg Finsler, Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke, Bd. 2, Leipzig 1908, S. 704). 13 Karlstadt, Von Abtuhung (wie Anm. 11), S. 118. 14 So resümiert Jean Wirth, „Theorien zum Bilderkult“ (wie Anm. 10), S. 35.
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solt yr verbronnen.“15 Während Luther bekanntermaßen die Bilderfrage zu den theologisch per se eher neutralen Gegenständen (Adiaphora) rechnete und die Möglichkeit eines legitimen Bildergebrauchs nicht ausschloss, beharrte ein altgläubiger Theologe wie Emser gegen Karlstadt auf der Differenz zwischen den heidnischen Götzenanbetern des Alten Testamentes und der katholischen Kirche, auf dem Unterschied zwischen der verbotenen Verehrung von Bildern und ihrem legitimen Verweischarakter auf die dadurch repräsentierten höheren Mächte und mithin auf der Legitimität eines richtigen Umgangs mit Bildern.16 Mag der Bilderstreit aus der Sicht mancher Kirchenhistoriker kein Kardinalproblem der Reformation gewesen sein, so kristallisiert sich hier doch in idealtypischer Klarheit die reformatorische Zäsur in der Beziehung zur Transzendenz.17 Nach altgläubigem Verständnis lassen sich die Bilder faktisch als eine Schnittstelle von Diesseits und Jenseits verstehen, sie markierten den Ort eines Einbruchs der Transzendenz in die alltägliche Immanenz. Wir können in diesem Zusammenhang auf Scribners Charakterisierung des vorreformatorischen Wahrnehmungsmodus zurückgreifen.18 Hinter den materiellen Bildobjekten seien für die Betrachter stets die heiligen Personen aufgeschienen, ja diese selbst seien im Bild real präsent19 gewesen. Dabei seien bestimmte bildliche Repräsentationen Gottes, Mariens oder der Heiligen keine abstrakten Verkörperungen der stets gleichen jenseitigen Person gewesen, sondern gleichsam sehr individuelle sakrale Persönlichkeiten. Man verehrte in einem bestimmten Kultbild z.B. nicht schlecht-
15 Karlstadt, Von Abtuhung (wie Anm. 11), S. 121. 16 Hieronymus Emser, „Antwort auf Karlstadts Buch von der Abtuung der Bilder“, in: Adolf Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation, Berlin 1997, S. 305–343, z.B. S. 324. 17 Und zwar unbeschadet der Tatsache, dass der Bilderstreit eine weit zurückreichende Tradition hatte und dass deshalb hier auch Kontinuitätslinien langer Dauer zu besichtigen sind, die in der Reformationsforschung insgesamt neuerdings sehr stark thematisiert werden, vgl. nur Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 2). 18 Bob Scribner, „Das Visuelle in der Volksfrömmigkeit“, in: Scribner, Bilder und Bildersturm (wie Anm. 2), S. 9–20; ders., „Vom Sakralbild zur sinnlichen Schau. Sinnliche Wahrnehmung und das Visuelle bei der Objektivierung des Frauenkörpers im 16. Jahrhundert“, in: Robert W. Scribner, Religion und Kultur in Deutschland 1400–1800, hg. v. L. Roper, Göttingen 2002, S. 147–176, hier S. 148ff. 19 Der aus der Eucharistielehre stammende Begriff der „Realpräsenz“ zur umfassenderen Charakterisierung mittelalterlicher Frömmigkeit findet sich z.B. bei Peter Dinzelbacher, „Die ‚Realpräsenz‘ der Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen“, in: Peter Dinzelbacher/Dieter R. Bauer (Hg.), Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, Ostfildern 1990, S. 115–174; vgl. zur kritischen Diskussion dieser Vorstellung André Holenstein/Heinrich R. Schmidt, „Bilder als Objekte – Bilder in Relationen. Auf dem Weg zu einer wahrnehmungs- und handlungsgeschichtlichen Deutung von Bilderverehrung und Bilderzerstörung“, in: Blickle, Macht und Ohnmacht (wie Anm. 2), S. 511–527, hier S. 514f.
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hin Maria, sondern eine bestimmte, raumzeitlich klar verortete Maria, etwa im Florenz der Renaissance die Santa Maria Impruneta.20 Bestimmte in ihren Bildern präsente Heilige wurden so zu Patronen klar umrissener menschlicher Gemeinschaften, seien es Bruderschaften oder Zünfte oder seien es ganze Städte oder Landschaften. Dabei steigerte die Intensität der Anerkennung das Maß an Heiligkeit, das ein bestimmtes Bild genoss; es „lebte aus der Gruppenidentität der Verehrer heraus“.21 Die Kehrseite der den Bildern zugeschriebenen Macht konnte aber sehr wohl ihre Ohnmacht und Erniedrigung sein; in seiner „Vergegenständlichung“ war das Heilige zugleich auch „verfügbar“ und „dem menschlichen Zugriff ausgeliefert“.22 Die Gemeinschaftspatrone wurden von ihren Anhängern nicht nur verehrt, sondern mit Drohungen um Hilfe erpresst und im Fall ihrer Verweigerung bzw. ihres Versagens sogar bestraft. Das konnte von der Beschimpfung über die Entfernung von Bildschmuck, die Erniedrigung vom Altar bis hin zu Schlägen reichen. Noch ein bayrisches Mandat von 1611/2 kritisierte den Brauch, bei Handwerkerumzügen die mitgeführten Heiligenfiguren bei schlechtem Wetter ins Wasser zu werfen bzw. Bürgen für die Heiligen zu bestimmen, um diese zur Intervention für gutes Wetter zu erpressen, wodurch die lieben Heiligen Gottes „höchlich geunehrt“ würden.23 Bilder stehen insofern nicht nur für das direkte Eingreifen jenseitiger Mächte ins Diesseits, sondern auch umgekehrt für den Anspruch, sich die kirchlichen Gnadenmittel aktiv verfügbar zu machen. Umgekehrt können nun Bilderkritik und Bildersturm als ein Meilenstein im Prozess der Entzauberung der Welt (Weber) verstanden werden. Dem Heiligen wie dem Göttlichen werden ihre körperliche Existenz in der gegenwärtigen Welt abgesprochen.24 Damit zeichnet sich, so Thomas Lentes, „ein nicht zu übersehender Zug zur Transzendierung des Göttlichen wie auch zu einer strengen Trennung zwischen Immanenz und Transzendenz ab“. Nachdrücklich wird mit der
20 Klassisch Richard C. Trexler, „Florentine Religious Experience: The Sacred Image“, in: Studies in the Renaissance 19 (1972), S. 7–41. 21 Guy P. Marchal, „Das vieldeutige Heiligenbild. Bildersturm im Mittelalter“, in: Blickle, Macht und Ohnmacht (wie Anm. 2), S. 307–332, hier S. 314. 22 Machal, „Das vieldeutige Heiligenbild“ (wie Anm. 21), S. 316. 23 Wolfgang Behringer, Mit dem Feuer vom Leben zum Tod. Hexengesetzgebung in Bayern, München 1988, S. 181. Klassisch für das Mittelalter Patrick Geary, „L’humiliation des saints“, in: Annales, E.S.C. 34 (1979), S. 27-42. 24 Systematisch erscheint hier eine Differenzierung zwischen dem „Heiligen“ und dem „Göttlichen“ zwingend. In den bilderstürmerischen Aktionen und Diskursen wird eine solche Unterscheidung m. W. allerdings erstaunlicherweise kaum vorgenommen. Die eigentlich erforderliche nähere Analyse dieses Tatbestandes muss ich an dieser Stelle schuldig bleiben.
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Vorstellung, „man könne durch die sichtbaren Dinge zur Welt des Unsichtbaren gelangen“ (per visibilia ad invisibilia) eines der „Grundaxiome mittelalterlichen Bilddenkens“ bestritten.25 Nur am Rande sei bemerkt, dass diese Veränderung als Teil einer Umwälzung im symbolischen Haushalt der alteuropäischen Gesellschaft verstanden werden kann, die das Reliquienwesen ebenso umgreift wie das Verhältnis zu den Toten oder eben das Verständnis des Abendmahls.26 Etwas abstrakter könnte man von einem Wandel sprechen, der weg von einer Dominanz der Präsenz-Symbole als Verkörperungen des (eigentlich) Abwesenden (bzw. Jenseitigen) – zu einer Vorherrschaft von Repräsentanz-Zeichen, die ‚nur‘ zeichenhaft auf das Abwesende verweisen.27 Bestanden zuvor in der Immanenz gleichsam Türen zur Transzendenz, so markierten diese Zeichen nur mehr – im Sinne einer „negativen Theologie“28 – die Unverfügbarkeit bzw. Abwesenheit des Transzendenten.29 Mit der Entrückung des Heiligen aus dem sinnlich wahrnehmbaren Raum war prima facie nun auch ein Verlust an Gemeinschafts-Bezügen verbunden. Bilder hatten die Möglichkeit geboten, das Heil räumlich zu portionieren und zu konkretisieren. Zuvor waren einzelne Bilder von Ordensgemeinschaften, Stiftskapiteln, Adelsdynastien oder Zünften gestiftet worden, wobei die Stifter z.T. selbst Teil des dargestellten Heilsgeschehens waren. Bestimmte Heiligenskulpturen oder Altarbilder waren wundertätiger als andere, hoben bestimmte Orte oder Kirchen heraus und wurden Anziehungspunkt von Wallfahrten. Derartige privilegierte Sonderbezüge sollte es nun nicht mehr geben. Mit den Bilderstürmen wurden daher gerade die Bilderstifter „von gestern“ getroffen, die keineswegs – wie es das berühmte Diktum von Hermann Heimpel will – die Bilderstürmer „von heute“ waren. In Zürich durften die Donatoren zunächst laut Ratsbeschluss „ihre“ gestifteten Bilder selbst entfernen, gleichsam reprivatisieren.30
25 Thomas Lentes, „Zwischen Adiaphora und Artefakt. Bildbestreitung in der Reformation“, in: Reinhard Hoeps et al. (Hg.), Bildbestreitung, Paderborn 2007, S. 213–240, hier S. 227. 26 Zur symbolischen Umwälzung Olivier Christin, Une révolution symbolique – L’iconoclasme hugenot et la reconstruction catholique, Paris 1991. 27 Nach Karl-Siegbert Rehberg, „Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Einführung in systematischer Absicht“, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung, Köln 2001, S. 3–49, S. 29ff. 28 Vgl. dazu den Beitrag von Jürgen Müller im vorliegenden Band sowie grundlegend Thomas Rentsch, Transzendenz und Negativität, Göttingen 2011. 29 Diese sehr idealtypische Zuspitzung lässt die deutlichen konfessionellen Unterschiede vor allem zwischen Lutheranern und Reformierten unbeachtet. 30 Peter Jetzler, „Etappen des Zürcher Bildersturms. Ein Beitrag zur soziologischen Differenzierung ikonoklastischer Vorgänge in der Reformation“, in: Scribner, Bilder und Bildersturm (wie Anm. 2), S. 143–174, hier S. 149.
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Dieser Verlust transzendenter Verortung in konkreten Gemeinschaften lässt sich einerseits als Verlustgeschichte erzählen, etwa als Entsinnlichung.31 Er erklärt die Hartnäckigkeit, mit der sich bestimmte katholische Relikte im Protestantismus halten konnten, und er macht den späteren Siegeszug des Barockkatholizismus verständlich, der genau an dieser Stelle eine Stärke des alten Glaubens zu formen versucht.32 Auf der anderen Seite entsprach diese Einebnung aller Sonderbeziehungen zwischen Menschen und Gruppen auf der einen, dem Heiligen bzw. Göttlichen in Gestalt der Bilder auf der anderen Seite genau dem Programm der Reformation, wie es z.B. in der Abendmahlsgemeinschaft aller Gläubigen zum Ausdruck kam. 33 Der Bildersturm machte insofern erst einen wirklichen christlichen Gemeinsinn, einen gruppen- und ständeübergreifenden Sinn für das Gemeinsame des eigenen Glaubens bzw. der eigenen Konfession sinnfällig. Insofern mochte hier also auf eine bestimmte Transzendenzbehauptung in Form der Unverfügbarstellung des Heiligen eine Stärkung des reformatorischen Gemeinsinns folgen.
III. Zwischenspiel: Vielfalt und Dynamik der Bilderstürme Eine idealtypische Rekonstruktion bilderkritischer Positionen, wie sie vorstehend unternommen wurde, taugt allerdings lediglich zu einer ersten Annäherung an das widersprüchliche Phänomen der Bilderstürme. Eine lediglich geisteswissenschaftliche Betrachtung würde dem widersprüchlichen Phänomen der Bilderstürme kaum gerecht und entspräche nicht dem avancierten Stand der Forschung. Auch wenn vielfach reformatorische Predigten die bilderfeindlichen Aktionen anstießen, lassen diese sich eben nicht einfach als praktische ‚Umsetzungen‘ gelehrter Auffassungen zum Bilderproblem verstehen, auch nicht wirk-
31 Kritisch dazu in anderer Perspektive Rudolf Schlögl, „Rationalisierung als Entsinnlichung religiöser Praxis? Zur sozialen und medialen Form von Religion in der Neuzeit“, in: Peter Blickle/Rudolf Schlögl (Hg.), Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas, Epfendorf 2005, S. 37–64. 32 Das ist einer der roten Fäden in den Forschungen von Robert W. Scribner, vgl. seine Arbeiten im Band Religion und Kultur in Deutschland (wie Anm. 18). 33 Heinrich R. Schmidt, „Das Abendmahl als soziales Sakrament“, in: Traverse 9 (2002), S. 79–93.
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lich als eine „théologie pratique“ (Olivier Christin). 34 Vielmehr sind die sozialen Aktionen selbst in ihrer Dynamik und in ihrer Vielfalt in den Blick zu nehmen. Diese Vielfalt hat als einer der ersten Sergius Michalski phänomenologisch aufzuschlüsseln versucht.35 Seine Studie macht den Terminus ‚Bildersturm‘ als eine verkürzende Chiffre für ein ganzes Bündel von heterogenen Erscheinungsformen sichtbar, wobei eine typologisierende Bändigung der Vielfalt allerdings nur in Ansätzen gelungen ist. Anregend ist sein Vorschlag einer terminologischen Differenzierung zwischen verschiedenen Modi von Ikonoklasmen: Ein eher neutraler Oberbegriff wäre ‚Bilderentfernung‘, ein Terminus, der vor allem auch für obrigkeitlich angeleitete und in geordneten Bahnen verlaufende bilderfeindliche Aktionen benutzt werden kann; davon abzusetzen wäre dann der tatsächliche ‚Bildersturm‘ als einer von größeren Menschenmengen vollzogenen, demonstrativ-gewaltsamen Zerstörung der Bilder und ihrer Verhöhnung. Eher eine Unterkategorie würde dann der ‚Bilderfrevel‘ darstellen, der Attacken auf konkrete Bildobjekte durch einzelne Personen oder Kleingruppen bezeichnen könnte. Natürlich gibt es Grenzfälle, Michalski selbst nennt als Beispiel den Angriff auf ein verbliebenes Kloster im ansonsten bereits reformierten Isny im Juli 1534.36 Konsequent aufgegriffen wurde dieser Vorschlag von der Forschung zwar bisher nicht, aber vom Ausgangspunkt einer typologischen Differenzierung aus konnten eine ganze Reihe von Fragen überhaupt erst einmal gestellt und einer Beantwortung nahe gebracht werden. Eine davon ist diejenige nach den Trägergruppen und den Hintermännern der Bildentfernung: Beide Gruppen müssen nicht identisch sein: So hat Norbert Schnitzler für Stralsund gefragt, ob nicht die Jugendlichen, die Armen und die Gesellen, die in Stralsund die St. Nikolai Kirche verwüsteten, als der verlängerte Arm einer bestimmten Fraktion der städtischen Oberschicht agierte.37 Eine weitere wichtige Frage ist diejenige nach ihrer zeitlichen Verortung
34 Sergius Michalski, „Das Phänomen Bildersturm. Versuch einer Übersicht“ in: Scribner, Bilder und Bildersturm (wie Anm. 2), S. 69–125, hier S. 82; vor allem aber Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 2), der einerseits zwar die theologische Bilderkompetenz der Laien aufwertet (S. 233ff.), abschließend aber doch die Grenzen theologischer Prädispositionen und die Vielfalt der Motive bei den Akteuren betont (S. 305ff.). 35 Michalski, „Phänomen Bildersturm“ (wie Anm. 34). Vgl. Sergius Michalski, The Reformation and the visual arts. The Protestant image question in Western and Eastern Europe, London 1993. 36 Michalski, „Phänomen Bildersturm“ (wie Anm. 34), S. 69f., S. 80f. 37 Norbert Schnitzler, „‚Kirchenbruch‘ und ‚lose Rotten‘. Gewalt, Recht und Reformation (Stralsund 1525)“, in: Bernhard Jussen/Craig Koslofsky (Hg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600, Göttingen 1999, S. 285–315, hier S. 306.
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in der Dynamik des reformatorischen Geschehens überhaupt.38 Bilderstürme konnten gleichsam als Auftakt und Vorhut das reformatorische Geschehen in Schwung bringen; die Bilderfrage konnte ein Hauptkampffeld sein, auf dem sich der Durchbruch der neuen Lehre vollzog; oder bilderfeindliche Elemente konnten als Nachhutgefechte der Reformation auftreten. Die ‚Abtuhung der Bilder‘ kann der Abschaffung anderer altkatholischer Elemente, etwa der lateinischen Messe, vorausgehen, sie begleiten oder auch später geschehen. Bilderstürme erscheinen oft als herrschaftsgefährdendes Eskalationsmittel radikaler Reformatoren, die die Herrschenden damit gleichsam vor sich hertrieben; sie können aber auch als herrschaftsstabilisierendes „Sicherheitsventil“ von oben instrumentalisiert werden.39 Je nach zeitlicher Verortung und Ausprägung des Bildersturms ergaben sich wohl ganz unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen für die Herstellung eines reformatorischen Gemeinsinns – ich komme darauf später zurück. Die Hinwendung zur Phänomenologie des Bildersturms führte aber vor allem anderen dazu, die ikonoklastische Praxis in ihren symbolischen und rituellen Aspekten zum thematisieren.40 Der Bildersturm rückte damit in den Fokus der historischen Anthropologie und der neueren Kulturgeschichte. Was früher als sinnlose Zerstörung gesehen worden war, wurde nun zu einem rationalen und bedeutungsvollen Akt demonstrativer Entmachtung der Bilder. Pionier dieser Forschungsrichtung war 1973 Martin Warnke, der akribisch die verschiedenen Sinnschichten der täuferischen Bilderstürme in Münster 1534 freilegte. Im besonderen Furor gegen die Darstellungen der Maria spiegelte sich nach seiner Meinung die spezielle Christologie des melchioritischen Täufertums, während sich die Bilderzerstörung im Dom und in der Domimmunität sich insbesondere gegen Patrone und Symbole der weltlichen Herrschaft gerichtet habe. Bei Warnke findet sich auch bereits der Hinweis auf die deutlichen Bezüge zur weltlichen Strafjustiz mit ihren peinlichen Körperstrafen und auf den Strafvollzug „in effigie“, der an Bildern vollzogen wurde, Hinweise, die später von der Forschung aufgegriffen und ausgebaut wurden.41 Festzuhalten bleibt, dass wir es mit einer Vielzahl von Erscheinungsformen und sozialen Kontexten zu tun haben, die sich nur mit Mühe auf einen gemein-
38 Michalski, „Phänomen Bildersturm“ (wie Anm. 34), S. 70f. und S. 83f. 39 Michalski, „Phänomen Bildersturm“ (wie Anm. 34), S. 78. 40 Michalski, „Phänomen Bildersturm“ (wie Anm. 34), S. 85ff. 41 Martin Warnke, „Durchbrochene Geschichte. Die Bilderstürme der Wiedertäufer in Münster 1534/1535“, in: ders., Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks, Frankfurt a.M. 1988, S. 65–98, hier S. 94. Für eine etwas andere Interpretation aus kunsthistorischer Sicht David Freedberg, The Power of images. Studies in the history and theory of response, Chicago 1989, bes. S. 378ff.; vgl. Michalski, „Phänomen Bildersturm“ (wie Anm. 34), S. 94ff.
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samen Nenner bringen lassen. Im Folgenden konzentrieren wir uns nun auf jene gewaltsamen Entehrungen und Profanierungen, die eine besondere Schnittmenge zum Problem der Gotteslästerung hatten. Für eine Analyse des Transzendenzbezuges liegt genau in diesen Ritualen ein Potenzial nachhaltiger Irritationen. Denn das gleichsam kühl-distanzierte Plädoyer der Bilderkritiker für eine entzauberte Welt entpuppt sich aus der Nahsicht als ein heißer, sehr persönlicher Kampf mit den „Götzen“ als falschen Repräsentanten des Heiligen – die Transzendenz rückt gleichsam wieder sehr dicht an das Diesseits heran.
IV. Blasphemie als Aggression gegen das Transzendente Mit der „Gotteslästerung“ verhält es sich ebenso wie mit dem „Bildersturm“, hinter dem Begriff verbergen sich ganz verschiedene Bedeutungen. Bisweilen wird es als bequemes Allzwecketikett benutzt, um jegliche Form abweichender Meinung oder devianten Verhaltens zu kennzeichnen. Die Basler Reformationsordnung von 1529 etwa, um ein Dokument aus dem Umfeld der Bilderstürme heranzuziehen, benutzt den Artikel „Von den laesterern gottes, des glaubens und der sacrament“42, um die Demarkationslinie zum radikalen Flügel der Reformation deutlich zu zementieren und gegen Glaubensabweichler und „Sektierer“ Front zu machen. Verleugner, Spötter und Schmäher Christi, die Verächter von Taufe und Abendmahl werden ebenso als Gotteslästerer gebrandmarkt wie Wiedertäufer oder spiritualistische Polemiker. Überraschend dezidiert und ausführlich warnt die Ordnung vor der Lästerung Mariens und der Heiligen, wobei sie die Jungfrauenschaft der Gottesmutter explizit verteidigt. Im letzten Abschnitt des Artikels greift die Ordnung dann aber das traditionelle Thema der Gottesschwüre auf, durch die Gottes Zorn erregt und das christliche Volk sehr verärgert würden. Hier geht es gewissermaßen um den harten Kern jener Äußerungen, die klassisch als Gotteslästerungen verstanden wurden. Die hier erwähnten Schwüre und Flüche wurden seit Jahrhunderten – z.T. in noch drastischeren Varianten – in den Statuten der Städte als gotteslästerliche Verbalakte gebrandmarkt und mit Strafen bedroht. So nennt der Basler Rat 1490 als Beispiele Schwüre und Lästerungen bei Gottes Fleisch, Haupt, Kraft, Macht, Wunden, Blut oder Schweiß,
42 Dürr/Roth, Aktensammlung Basler Reformation (wie Anm. 5), Bd. 3, Nr. 473, S. 383–410. Vgl. Gerd Schwerhoff, „Blasphemie vor den Schranken der städtischen Justiz. Basel, Köln und Nürnberg im Vergleich (14.–17. Jh.)“, in: Ius Commune 25 (1998), S. 39–120, hier S. 78f.
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„dadurch got, sin wirdige muoter oder sin heiligen oder eins ir gliedern genempt und geschmecht“ würden.43 Mit den Exempeln wurde zugleich eine Definition dessen angesprochen, was seit dem 13. Jahrhundert als Blasphemie galt, nämlich die Ehrverletzung des Schöpfers, die Schmähung und Verhöhnung Gottes. Nun liegt auf den ersten Blick eine große Kluft zwischen einem Verbaldelikt wie der Blasphemie und einem Akt physischer Gewalt gegenüber materiellen Objekten wie dem Bildersturm. Diese Kluft schließt sich bei näherer Betrachtung schnell, und zwar von beiden Seiten. Zum einen werden die Rituale der Ikonoklasten, wie gleich näher zu illustrieren, regelmäßig von verbalen Attacken begleitet, die zusammen mit den manifesten Taten als Handlungssequenz verstanden und interpretiert werden müssen. Zum anderen sind die lästerlichen Schwüre, Flüche und Schmähungen im Spätmittelalter und der Reformation im Sinne von Austin als performative Sprechakte zu begreifen, mit denen nicht bloß konstative Aussagen über die Wirklichkeit getroffen, sondern bedrohlich-aggressive sprachliche Handlungen gegenüber einem Anderen (entweder dem Heiligen selbst oder einem menschlichen „Dritten“, auch darauf komme ich noch zurück) vollzogen wurden.44 Nicht zuletzt kommt dieser Tatbestand dadurch zum Ausdruck, dass die Grenze zwischen Wort und Tat im Blasphemie-Diskurs häufig verschwimmt. Berichtet ein dominikanischer Prediger im 13. Jahrhundert von einem Mann, der wegen eines verlorenen Spieles zur Beleidigung Gottes einen Pfeil gen Himmel schoss, der blutbefleckt zurückkam und den Lästerer ins Verderben stürzte, so erzählen Flugblätter Mitte des 16. Jahrhunderts eine ganz ähnliche Geschichte aus dem schweizerischen Städtchen Willisau.45 Und gar nicht selten berichten Chroniken und Gerichtsakten aus diesen Jahrhunderten von bewaffneten Attacken auf Kruzifixe und Marienbilder, die sie ganz selbstverständlich als Gotteslästerung qualifizieren.46 Ikonographisch schließlich wird die Gotteslästerung ohnehin häufig als eine direkte körperliche Attacke auf den durch ein Bild repräsentierten Menschensohn dargestellt – wenig verwunderlich, konnte doch auch der moralische Gehalt dieser Tat besser versinnbildlicht werden. Auch als Metapher in Predigten und exemplarischen Moralisierungen werden körperliche Angriffe insbesondere auf den Gottessohn in vor- wie nachreformatorischer Zeit häufig benutzt. Die Blasphemiker, so der Vorwurf, inszenierten geradezu die
43 Schwerhoff, „Blasphemie“ (wie Anm. 42), S. 46. 44 Eike von Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache. Eine kritische Einführung in die „ordinary language philosophy“, veränderte Neuauflage, Frankfurt a.M. 1993, S. 125ff. Vgl. Schwerhoff, Zungen wie Schwerter (wie Anm. 3), S. 18. 45 Schwerhoff, Zungen wie Schwerter (wie Anm. 3), S. 51, S. 59f. 46 Schwerhoff, Zungen wie Schwerter (wie Anm. 3), S. 240ff.
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Kreuzigung Christi zum zweiten Mal.47 Allerdings führen die Perhorreszierung der Gotteslästerung in theologischen Schriften und die scharfen Strafandrohungen in den normativen Texten den heutigen Betrachter leicht in die Irre. Vielfach war die zeitgenössische Bewertung derartiger Sprechakte wesentlich undramatischer, und man war bereit, sie als gelegentlichen Fehltritt nachsichtig zu sanktionieren, wenn der Lästerer nicht besonders außergewöhnliche und hartnäckige Schmähungen ausgestoßen hatte.48 Im Spannungsfeld von Transzendenz und Gemeinsinn sind wiederum zwei Aspekte bedeutsam. Zum einen kann Blasphemie in mehrfacher Hinsicht als eine – natürlich illegitime – Verfügbarmachung des Unverfügbar-Transzendenten verstanden werden. Klassische Definitionen der Gotteslästerung thematisieren das ganz ausdrücklich, indem diese als Angriff auf die Unendlichkeit, Allmacht, Allwissenheit etc. Gottes bestimmt wird.49 Wichtiger noch erscheint mir jene Verfügbarmachung, die im Angriff auf die Ehre Gottes liegt: Gott zu schmähen (und überdies oft: ihn nach sehr menschlichen Spielregeln mit sexuellen oder skatologischen Injurien zu beleidigen oder gar „persönlich“ mit dem Messer zu attackieren) beinhaltet doch eine starke Vermenschlichung. Dabei wurde diese implizit anthropomorphe Gottesvorstellung ja nicht nur von den Lästerern transportiert, sondern von allen zeitgenössischen Beobachtern geteilt; wer harte Strafen für die Beleidigung Gottes forderte, bestätigte damit doch, dass Gott als Person beleidigt werden konnte – eine Position, die explizit erst in der Aufklärung zweifelhaft wurde.50 Zugleich aber machen die – hier nicht weiter zu entfaltenden – Analysen konkreter sozialer Konstellationen bei Gotteslästerungsfällen deutlich, dass vielfach, vermutlich sogar in den meisten Fällen, die Beleidigung Gottes lediglich ein Instrument zur theatralischen Selbstinszenierung in Konfliktsituation darstellte, eine verbale Drohhaltung, mit der virile Stärke und Überlegenheit zur Schau gestellt werden sollte. Die relative Akzeptanz oder jedenfalls Nachsicht gegenüber vielen Gotteslästerern erklärt sich nicht zuletzt aus dieser Tatsache. Allerdings gibt es auch jene anderen Blasphemiker, die mit ihren „grausamen“, d.h.
47 Schwerhoff, Zungen wie Schwerter (wie Anm. 3), S. 36ff. Vgl. auch (mit Abbildungen) Gerd Schwerhoff, „Christus zerstückeln. Das Schwören bei den Gliedern Gottes und die spätmittelalterlicher Passionsfrömmigkeit“, in: Klaus Schreiner (Hg.), Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 499–527. 48 Gerd Schwerhoff, „Fehltritt oder Provokation? Theologisch-rechtliche Deutung und soziale Praxis der Gotteslästerung im 15. und 16. Jahrhundert“, in: Peter von Moos (Hg.), Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne, Köln 2001, S. 403–418. 49 Schwerhoff, Zungen wie Schwerter (wie Anm. 3), S. 32ff. 50 Schwerhoff, Zungen wie Schwerter (wie Anm. 3), S. 313ff.
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ungewohnt scharfen und hartnäckigen Lästerungen, eine imaginäre rote Linie überschritten und sich mit der Demonstration ihres zugleich sozialen wie religiösen Eigensinns marginalisierten.51
V. Bildersturm als Angriff auf das Transzendente Kehren wir zu den Bilderstürmen zurück. Viele von ihnen bedienen sich einer Symbolik und einer Sprache, die als direkter Angriff auf das Heilige bzw. das Göttliche und damit tatsächlich vordergründig als Blasphemie verstanden werden kann. Kaum etwas anderes bringt diesen Tatbestand so drastisch zur Anschauung wie skatologische Verhaltensweisen. In Ulm 1531 schändete ein Mann, folgt man dem empörten Bericht eines Altgläubigen, das bereits auf dem Kirchhof entsorgte Kruzifix, indem er in sich in den Mund des Gekreuzigten entleerte.52 Drastische verbale und körperliche Angriffe auf das Göttliche beschränkten sich nicht nur auf individuelle Bilderfrevel, sondern waren gerade auch für gemeinschaftliche Bilderstürme charakteristisch. Bekannt sind jene Basler Bilderstürme zu Fastnacht 1529, bei denen nach dem Bericht eines Kartäusers die heiligen Bilder „mit vil lestrigen spottworten“ zerschlagen wurden. Junge Knaben hätten ein Kruzifix an ein Seil gebunden, zum Kornmarkt geschleift und dabei ‚Ach du armer Judas‘ gesungen. Danach hätten sie es mit den Worten verbrannt: „Bistu got, so wer dich, bistu aber mensch, so bluot.“53 Eine ganze Reihe ähnlich spöttischer Aufforderungen zum Wirken von Wundern, Demonstrationen der Machtlosigkeit der Bilder, sind aus dem 16. und 17. Jahrhundert überliefert, etwa das Beispiel jenes Fleischers in der Diözese Nimes, der 1566 mit Zweigen auf einen Christus-
51 Schwerhoff, Zungen wie Schwerter (wie Anm. 3), S. 255ff. 52 Gerhard Weilandt, „Wider Gotteslästerung und Götzerei. Der ‚Bildersturm‘ des Jahres 1531“, in: Meisterwerke massenhaft. Die Bildhauerwerkstatt des Niklaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500, Stuttgart 1993, S. 421–428, hier S. 424. 53 Vischer/Stern, Basler Chroniken (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 447; vgl. Bob Scribner, „Reformation, Karneval und die ‚verkehrte Welt‘“, in: Richard van Dülmen/Norbert Schindler (Hg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltages (16.–20. Jh.), Frankfurt a.M. 1984, S. 117–152, hier S. 121; Robert W. Scribner, „Volkskultur und Volksreligion: zur Rezeption evangelischer Ideen“, in: Peter Blickle (Hg.), Zwingli und Europa, Zürich 1985, S. 151–161, S. 158 zum ‚Judasjagen‘, dem brauchtümlichen Hintergrund des angesprochenen ‚Judasliedes‘. Zur skeptischen Einschätzung der zentralen Rolle der Fastnacht bei Scribner vgl. Michalski, „Phänomen Bildersturm“ (wie Anm. 34), S. 100.
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kopf einprügelte und schrie: „Wenn Du Gott bist, rede!“54 Auch die Stralsunder Bilderstürmer, die 1525 in einem Franziskanerkloster vor den Toren der Stadt ein hölzernes Marienbild zunächst seiner Röcke und Anhänge beraubten, ihm dann den Kopf abschlugen und schließlich den Rumpf unter Hohn- und Spottrufen vor einer Schenke verbrannten, forderten das Bild auf, „Mirakel“ zu thun.55 Überhaupt spielen Wirtshäuser in den Bilderstürmen häufiger eine hervorgehobene Rolle, wie in jenem bekannten Beispiel aus dem Schweizer Ort Winingen im Jahr 1524. Dort war die Reformation offenbar bereits in vollem Gange, der Pfarrer traute einige Geistliche mit ihren „mätzen“, er segnete kein Weihwasser mehr und führte auch andere altkirchliche Rituale nicht mehr durch, als sich die Leitung der Gemeinde entschloss, die kostbare Altartafel in einer Kammer über dem Beinhaus einzuschließen – wohl ein Akt obrigkeitlicher Bildentfernung, der die ‚Unruhigen‘ aber nicht zufriedenstellte. Diese hätten nämlich die Kammer aufgebrochen, die Altartafel in das Wirtshaus getragen „und die bild Sant Johannsen und Sant Katherinen uß der tafel genommen, uf den tisch Sant Katherinen gelegt und Sant Johannsen obe uf sie, uf meinung daß sie söllten junge machen; demnach einer uß inen geredt, ich han Sant Katherinen an die fud wellen gryfen, da konnd ich vor dem oberrack nit darzuo kon …“. Zuletzt, nach vielem Mutwillen, habe man die Tafel und alle Bilder verbrannt. Weiterhin habe man „die bildnuß unsers herrn am crüz genomen, wie man den am karfrytag zöigt, und in by dem bart fräfenlich erwüscht und gesprochen, o du eierdieb, wie hast uns so lang umb vil eyer beschissen, und damit zuckt und unserm herrn den kopf abgehowen.“56 Paradigmatisch werden hier die Bildnisse desakralisiert, indem sie zu Objekten sexueller Anzüglichkeiten und Übergriffe werden: Altartafelbilder der Katharina von Alexandria und Johannes des Täufers werden mit der Aufforderung zum Koitus übereinandergelegt, der versuchte Griff an die „Fud“ der Heiligen darf als Ansatz einer Vergewaltigungsphantasie verstanden werden. Nach den Heiligen wird mit einem Angriff auf ein Kruzifix Gottes Sohn selbst attackiert. Die Schmähung des Gekreuzigten als Dieb folgt der Logik weltlicher Injurien; gleichzeitig stellt sie die Verbindung zur vorösterlichen Fastenzeit her, wo das Eieressen verboten war, und sie spielt auf Abgaben an Kirchherrn und Klöster an, die in Form von Eiern zu Ostern zu leisten waren. Die Enthauptung schließlich lässt sich als eine offen-
54 Michalski, „Phänomen Bildersturm“ (wie Anm. 34), S. 95; vgl. für ein Beispiel aus der Taboritenzeit Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 2), S. 90. 55 Schnitzler, „Stralsund“ (wie Anm. 37), S. 293. 56 Die Eidgenössischen Abschiede aus dem Zeitraume von 1521 bis 1528, bearb. v. Johannes Strickler (Amtl. Sammlung d. älteren Eidgen. Abschiede, Bd. 4, Abtl. 1a), Brugg 1873, S. 359; vgl. zur Interpretation Jetzler, „Etappen“ (wie Anm. 30), S. 152.
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sichtliche Referenz an die bereits angesprochenen Strafrituale verstehen. Dass die Entehrung des Gottessohnes mit gleichem Nachdruck erfolgt wie der Angriff auf die Heiligen Johannes und Katharina, verdient im Übrigen nachdrücklich hervorgehoben zu werden. Gerade Darstellungen des leidenden Christus scheinen häufiger Gegenstand von ikonoklastischen Lästerungen gewesen zu sein, wie etwa in Hildesheim 1543, wo einige Schneidergesellen ein Passionsbildnis Christi in ihre Trinkstube verschleppten, ihm zutranken und es seinerseits aufforderten, ‚Bescheid zu tun‘, also zuzuprosten – eine parodistische Verkehrung der Szene am Kreuz, wo Christus dürstet und ihm ein Essigschwamm gereicht wird.57 Derartige Verhaltensweisen waren, worauf insbesondere Guy Marchal aufmerksam gemacht hat, keineswegs auf die Reformationszeit beschränkt, vielmehr besaßen sie mittelalterliche Pendants. Während des Alten Schweizerkrieges hätten Schweizer Landsknechte 1444 im Ort Horgen mit ihren Hellebarden Heiligenfiguren herabgeschlagen und das Kruzifix zerstochen. Weiterhin entfernten sie eine Marienstatue aus dem sakralen Bereich, stellten sie an die Türe und grüßten sie spöttisch als „frow metz“, als Türhüterin eines Hurenhauses. Gleichsam um diese Schmähworte zu rechtfertigen, hätten sie in derselben Kirche „ir unküscheit mit frouwen“ getrieben und schließlich sogar „an die stette, da die heiligen sacrament stuenden“, also auf den Altar, „geschissen“.58 Verbale Beleidigungen, sexueller Missbrauch, skatologische Verunreinigungen, schließlich gewaltsame Verstümmelungen – das Aggressionspotenzial solcher bilderstürmerischer Aktionen erscheint angesichts des herkömmlichen Bildes christlicher Frömmigkeit in vormoderner Zeit ebenso erstaunlich wie dasjenige vieler Gotteslästerer. Ebenso wie bei den Blasphemikern wäre es aber ebenso bei den Bilderstürmern vorschnell, ihr Tun als Ausdruck von Irreligiosität und Unglauben zu deuten. Im Gegenteil: Marchal bezieht sich bei seiner Interpretation auf die bereits skizzierte persönliche Verkörperungsqualität der Bilder im Rahmen des christlichen Glaubens. Für die Landsknechte in Horgen besaßen die attackierten Bilder demnach durchaus eine potenzielle virtus. Ihr Angriff habe sich deswegen nicht gegen den Gekreuzigten oder gegen Maria per se gerichtet, Ziele seien in diesem Fall vielmehr die Schutzbefohlenen eines bestimmten Kultbildes gewesen, die mit den feindlichen Zürchern verbündet waren. Nur die virtus
57 Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 2), S. 213f. 58 Zu den Vorgängen in Horgen die Quelle und ihre Interpretation von Guy P. Marchal in Dupeux, Bildersturm (wie Anm. 2), S. 108f. Vgl. auch Guy P. Marchal, „Bildersturm im Mittelalter“, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 255–282, hier S. 258. Guy P. Marchal, „Die ‚Metz zuo Neisidlen‘: Maria im politischen Kampf“, in: Claudia Opitz et al. (Hg.), Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte 10.–18. Jahrhundert, Zürich 1993, S. 309–321, bes. S. 311f.; Marchal, „Heiligenbild“ (wie Anm. 21), S. 320f.
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dieses konkreten Bildes sei mit den provozierenden Worten herausgefordert und falsifiziert worden. Auf dem Rückweg ihres Kriegszuges wären sie dann zu „ihrer“ lieben Frau von Einsiedeln gezogen, um für Schutz und Hilfe zu danken. Ein Widerspruch zwischen der Profanierung des Horgener Marienbildes und der späteren Anbetung einer anderen Maria hätte für die damaligen Akteure nicht bestanden. Wie schon bei vielen gotteslästerlichen Sprechakten zeigt sich auch hier wieder der Befund, dass das, was zunächst als ausschließlich gegen transzendente Adressaten gerichtet daherkommt, in erster Linie ein gewalttätiger Übergriff auf einen diesseitigen Feind darstellte. In diesem Sinn seien die vorreformatorischen Bilderstürmer, in Erweiterung des bekannten Heimpelschen Diktums, nicht nur die Bilderstifter von gestern, sondern zugleich die Bilderverehrer von heute. Oder noch zugespitzter: „Bildersturm ist nichts anderes als eine Ausdrucksform lebensweltlicher Frömmigkeitspraxis.“59
VI. Bilderstürme als ambivalente Rituale der Transzendierung und Gemeinsinnproduktion Ziehen wir eine Zwischenbilanz. Zunächst wurde eine reformatorische Bilderfeindlichkeit skizziert, deren Triebkraft eine entschlossene Entrückung des Heiligen in die Transzendenz zu sein schien. Jegliche Vergegenständlichung dieses Heiligen bzw. Göttlichen konnte von der Warte einer solchen negativen Theologie her als Blasphemie verurteilt werden. Selbstverständlich bekräftigten reformatorische Prediger aller Couleur die Verurteilung herkömmlicher Formen verbaler oder tätlicher Gotteslästerung. Die Bilderstürme nun scheinen ihren Sinn gerade aus der bildlichen Vergegenständlichung des Heiligen heraus zu beziehen, indem sie die geschmähten, geschändeten und bestraften Bilder als reale Personen traktierten und damit gleichsam ihren Ort in der Immanenz markierten. Ebenso wie viele Gotteslästerungen adressierten sie die körperliche Dimension Gottes bzw. des Gottessohnes, Mariens oder einzelner Heiliger; Blasphemie und Bildersturm nutzten diese Körperlichkeit, um deren sakrale Aura beiseite zu schieben sie und demonstrativ im Kontext der profanen Welt zu verorten, wo Leiblichkeit mit all ihren Gebrechen, Begierden und Ausscheidungen dominiert.60 Wie aber ist die
59 Marchal, „Bildersturm“ (wie Anm. 58), S. 281. 60 Die häufige Akzentuierung der Materialität der Holzskulpturen als bloßes Stück Holz, das gerade noch als Brennmaterial taugt, ist ein anderer Aspekt, vgl. Michalski, „Phänomen Bildersturm“ (wie Anm. 34), S. 104f.
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reformatorische Bilderfeindlichkeit mit den aggressiven rituellen Handlungen der Bilderstürmer zu vermitteln? Liegt hier nicht ein offenkundiger Widerspruch vor? Eine Vermittlung beider auf den ersten Blick kontradiktorischen Interpretationsebenen ist möglich, wenn man die Bilderstürme mit Bob Scribner als mehrstufige Entweihungs- bzw. Profanierungsrituale versteht, deren Phasen umgekehrt analog zu den bekannten Übergangsriten Arnold van Genneps konstruiert waren. Zunächst seien die Bilder aus ihrem sakralen Kontext entfernt worden, um sie dann – oft in direkter Anrede – aufzufordern, „sich als Person zu beweisen“ (‚Bist Du Christus, dann blute!‘). Dieser Test ihrer „sakralen Persönlichkeit“ habe regelmäßig die Machtlosigkeit der Bilder und damit ihre Zugehörigkeit zur profanen Sphäre erwiesen. Damit habe man die Bilder verwerfen und in einem letzten Akt bestrafen, d.h. verstümmeln, schänden oder zerstören können.61 Die Profanierung des Bildes, so könnte man übersetzen, habe letztlich nur dazu gedient, die Entrückung des Heiligen ins Transzendente zu besiegeln. Die damit behauptete Eigenheit der reformatorischen Bilderstürmer wird noch einmal klarer, wenn man sie idealtypisch mit traditionellen Formen der Gotteslästerung und besonders blasphemischer Attacken auf Bilder konfrontiert. Hinter einer auf der Phänomenebene oftmals vergleichbaren Semantik und Symbolik, etwa in Form von groben skatologischen oder sexuellen Schmähungen, Schlägen oder Messerattacken,62 würde eine stark differente, ja geradezu gegensätzliche Bedeutung sichtbar. Ein blasphemischer Ikonoklast richtete seine Attacken direkt gegen die sakralen Persönlichkeiten, gegen Gott, Maria und die Heiligen. Die Entehrung und Entmachtung einzelner Bilder erfolgte dabei aus dem Glauben an die prinzipielle Macht der Bilder heraus, gerade auch, wenn das konkrete Bild individuelle Erwartungen enttäuscht oder die falschen Leute beschützt haben mochte und deshalb bestraft zu werden verdiente. Nichts zeigt diese Macht der Bilder stärker als jene mittelalterlichen Blasphemie-Exempel, die erzählen, wie geschmähte und angegriffene Bilder die Lästerer ihrerseits bestrafen. Die Bilderstürmer der Reformation leugneten demgegenüber die Macht der Bilder. Für sie war Bilderkult gleichbedeutend mit Götzenverehrung, ein fundamentaler Bruch des ersten Gebotes und unvereinbar mit protestantischer Bibelund Wortzentrierung. Die Entehrung Gottes bestand also in der adoratio der Bilder, gerade nicht in ihrer Verhöhnung. Diese Verhöhnung sollte vielmehr den
61 Scribner, „Volkskultur“ (wie Anm. 53), S. 154ff., hier S. 156; vgl. Schnitzler, Ikonoklasmus (wie Anm. 2), S. 232ff. 62 Aufforderungen, Wunder zu wirken, begegnen wir hier allerdings nicht, ebenso wenig Formen der Beschädigung, die an weltliche Bestrafungsrituale erinnern.
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Unwert der jeweiligen Bilder öffentlich besiegeln, mithin die Ehre Gottes wiederherstellen. Dem Ziel der Zurschaustellung der Machtlosigkeit des Bildes bzw. der Bilder überhaupt dienen auch die Aufforderungen zum Wunderwirken oder das demonstrative Auf-die-Probe-Stellen. Während der Blasphemiker das Dargestellte verspottete, richteten sich die Worte, Gesten und Taten der Bilderstürmer gegen die Darstellung an sich. Nicht diese Äußerungen waren nach ihrer Meinung blasphemisch, sondern die Bilder. In Bezug auf die Transzendenz operieren die Ikonoklasten gleichsam paradox, insofern sie ihre Verfügungsgewalt über das Bild nutzten, um den ausschließlich immanenten Charakter der Bilder zu demonstrieren und damit zugleich die Unverfügbarkeit des Göttlichen zu unterstreichen. Die reformatorischen Bilderstürmer, so könnte man das Vorgesagte mit Guy Marchal zusammenfassen, hätten zwar die traditionellen ikonoklastischen Formen beibehalten, diese aber mit einem neuen Sinn gefüllt. Gestritten worden sei nun nicht mehr über die Kraft bestimmter Heiligenfiguren, sondern über die Macht bzw. die Ohnmacht der Bilder schlechthin. Eine sakramental-magische Auffassung vom Bild war durch eine antisakramentale Sichtweise abgelöst worden, die die bloße ‚sinnliche‘ Schau als einen unzulässigen Einbruch menschlicher Leidenschaften verurteilte und an diese Stelle die rein innerliche Herzensfrömmigkeit setzen wollte. Damit wären die wissenschaftlichen Claims gleichsam fein säuberlich abgesteckt: der Mediävist hat seine Bilderstürme sauber interpretiert, ohne die neue Epistemologie des Reformationszeitalters in Frage zu stellen und dem Reformationshistoriker ins Handwerk zu pfuschen. Diese Interpretation birgt allerdings, vergegenwärtigt man sich das heftige Aufeinanderprallen zweier gegensätzlicher Transzendenzkonzeptionen, Gefahren. Umstandslos drohen hier die ikonoklastischen Akteure zu Agenten einer neuen Epistemologie der Bilder gemacht zu werden, obwohl sie doch ausweislich ihrer Taten ganz überwiegend traditionellen Handlungsmustern verpflichtet scheinen, die lange in die christliche Geschichte zurückreichten. Pars pro toto stellt sich hier eine die für die gesamte Reformationsgeschichte brisante Frage: Wie kam es innerhalb von kürzester Zeit zu einem fundamentalen Wandel religiöser Einstellungen und Verhaltensweisen in vielen Bereichen?63 Konkret für den Bildersturm erhebt sich, auch wenn man schon länger existierende bildkritische Positionen berücksichtigt, die Frage, wie die Akteure in kurzer Zeit jene neue Epistemologie der Bilder lernen, verinnerlichen und ihren Handlungen zugrunde
63 Dieses Problem kann hier nicht weiter entfaltet werden. Vgl. zum Widerstreit von „Kontinuitätsmodell“ und „Zäsurmodell“ Olaf Mörke, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung, München 2005, S. 80ff.
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legen konnten, die ihnen – implizit oder explizit – in vielen Interpretationen unterstellt wird. An diesem Punkt gilt es m. E., die Interpretationen schärfer zu fassen, als es bislang häufig geschieht.64 Erstens wäre dann der transitorische Charakter der profanierenden Rituale zu betonen. Die performative Dimension von Ritualen als formal normierte und symbolisch aufgeladene Handlungssequenzen besteht ja nicht allein darin, dass sie etwas gleichsam „Vorgefertigtes“ zur Darstellung bringen. Forschungen zur symbolischen Kommunikation in der europäischen Vormoderne betonen vielmehr die Tatsache, dass Rituale eine Zustandsveränderung bewirken: Sie sagen nicht allein etwas aus, sondern sie tun etwas.65 Insofern wird im Verlauf eines ikonoklastischen Rituals eine neue Wirklichkeit der Bilder tatsächlich erzeugt und nicht lediglich symbolisiert. Der rituelle Prozess kann so mit Scribner als Medium begriffen werden, eigene Überzeugungen auszuprobieren und zu festigen.66 In einem sehr fundamentalen Sinn wäre das ikonoklastische Ritual damit ein Transzendenzmedium: nicht nur als Symbolisierung gegensätzlicher Transzendenzkonzeptionen, sondern im Wortsinn als Medium der Transzendierung hin zu einer anderen, bisher unverfügbaren Sinnebene. Diese Akzentsetzung hätte m. E. den Vorteil, die Ambivalenz, die in den gewaltsam-rituellen Ausprägungen des Bildersturms angelegt ist, nicht zum Verschwinden zu bringen. Ob die Transformation vom mächtigen Heiligenbild zum ohnmächtigen Götzen wirklich überall und nachhaltig gelang, bleibt offen. Auch die entzauberten Varianten des Christentums ließen schließlich über Jahrhunderte genügend Raum, das Transzendente nicht als wirklich unergründlich und unverfügbar zu behandeln, sondern in sehr anthropomorpher Gestalt zu modellieren, wie es etwa gerade die protestantische ‚Vergeltungstheologie‘ (Schmidt) tat.67 Nichts zeigt das plastischer als eine bis ins 18. Jahrhundert existierende
64 Damit soll keineswegs geleugnet werden, dass die hier vertretene Deutung nicht bereits anklingt, etwa bei Bob Scribner; vgl. für einschlägige Forschungsdiskussionen vor allem Mörke, Reformation (wie Anm. 63), S. 125ff. und Holenstein/Schmidt, „Bilder als Objekte“ (wie Anm. 19). 65 Barbara Stollberg-Rilinger, „Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven“, in: Zeitschrift für Historische Forschung (2005), S. 489– 527, hier S. 503. 66 Bob Scribner, „Volkskultur“ (wie Anm. 53), S. 160. 67 Heinrich R. Schmidt, „Die Ächtung des Fluchens durch reformierte Sittengerichte“, in: Peter Blickle (Hg.), Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft, Berlin 1993, S. 65–120, S. 73ff.; Schwerhoff, Zungen wie Schwerter (wie Anm. 3), S. 190ff.
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Kultur der Gotteslästerung, die an der Vorstellung eines sehr personalen und in seiner Ehre durchaus zu kränkenden Gottes festhielt. Mit einer solchen Interpretation müssen zweitens noch einmal Adressatenbezug und sozialer Kontext genauer in den Blick genommen und der Charakter des Ikonoklasmus als soziale Handlung ernst genommen werden. In dieser Hinsicht war die Semantik des Ikonoklasmus gleichsam anschlussfähig an ältere Bedeutungen; hier gab es keinen Bruch mit dem Mittelalter und die Akteure wussten, was sie taten. Wie die Gotteslästerung generell meist Teil einer verbalen Auseinandersetzung mit weltlichen Kontrahenten war, und wie der traditionelle Bildersturm sich zeichenhaft gegen eine feindliche Gruppe in Gestalt eines Schutzheiligen richten konnte, so kann auch der reformatorische Bildersturm als zentraler Baustein einer gruppenbezogenen Konfliktstrategie gesehen werden. Zum einen richtete sich diese Strategie gleichsam an die eigene Adresse, indem sie demonstrativ-öffentlich die alte Lehre angriff, ja buchstäblich demontierte und damit alle Brücken hinter sich abriss. Kaum eine andere Handlung mochte sich zur Produktion eines reformatorischen Gemeinsinns so gut eigenen wie die nachhaltige Purifizierung und damit Umcodierung des sakralen Raumes.68 Die komplementäre Seite der Medaille war eine eindeutige Frontstellung gegen die Anderen. Mit dem reformatorischen Bildersturm wurde die altgläubige Position in der Bilderfrage zugleich markiert und attackiert. In seiner Aggressivität und Dynamik war er aber nicht lediglich eine ex- und inkludierende Grenzmarkierung, sondern vor allem ein hegemonialer Akt, mit dem der öffentliche (Kirchen-)Raum okkupiert und die eigene Position zur Geltung gebracht werden sollte. Der gewaltsam-rituelle Umgang mit dem Transzendenten in der Reformationszeit war nicht nur das Operationsfeld konkurrierender Gemeinsinnproduktionen, sondern stellt den Versuch dar, einen neuen Gemeinsinn gleichsam zu oktroyieren.
68 Gerd Schwerhoff, „Sakralitätsmanagement. Zur Analyse religiöser Räume im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit“, in: Susanne Rau/Gerd Schwerhoff (Hg.), Topographie des Sakralen. Räumliche Dimensionen religiöser Kultur in der Vormoderne, Hamburg 2008, S. 38–69, hier S. 58f.
IV. Ordnungen des Sozialen – Transzendenzkonkurrenzen
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Gärten der Aufklärung Soziabilität und Naturtranszendierung Mit der Einsetzung des Menschen ins Paradies und dem Auftrag, dieses zu bewahren, zu bebauen und zu nutzen sowie sich am Anblick der Bäume zu erfreuen, steht in der Bibel ein Garten am Beginn der Menschheitsgeschichte. Und mit ihm Subsistenzsicherung durch Arbeit, Rekreation, Begegnung mit und Bewahrung der Schöpfung.1 Ihre paradigmatische irdische Fortsetzung fand diese Multifunktionalität in den Klostergärten des Mittelalters, die als Orte der Arbeit Nahrung und im Kräutergarten Heilung von Krankheit vorhielten, die aber zugleich von der Welt abgeschirmte Orte des Gebets und der Meditation waren.2 Neben profaner Nutzung, religiöser Sammlung und Symbolik gehört zur Gartenkultur aber auch die Vertreibung der Arbeit, wie sie für die höfische Variante des – auch erotisch konnotierten – Lustgartens bezeichnend war. Die Fortführung der höfischen Gartenkultur waren dann in der Frühen Neuzeit die more geometrico gestalteten Anlagen des Barock mit ihren Sicht- und Nebenachsen, in denen Sträucher und Bäume durch Formschnitt zugerichtet waren. Kulminationspunkte dieser Entwicklung waren die mit Residenzen verbundenen oder diesen vorgelagerten Schlossparks, die den königlichen bzw. fürstlichen Souveränitätsanspruch sowohl über die Natur als auch über die Menschen symbolisierten und in denen sich epochentypische politische Ordnungsvorstellungen abbildeten. In erster Linie ist hier natürlich an die französischen Vorbilder wie Versailles oder den
1 Als Einführung in die Gartengeschichte vgl. nach wie vor Marie Luise Gothein, Geschichte der Gartenkunst, Bd. 1: Von Ägypten bis zur Renaissance in Italien, Spanien und Portugal, Bd. 2: Von der Renaissance in Frankreich bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Jena 1926, München 2010; Clemens Alexander Wimmer, Geschichte der Gartentheorie, Darmstadt 1989; Virgilio und Matteo Vercelloni, Geschichte der Gartenkultur, Darmstadt 2010. Vgl. auch die essayistische Annäherung von Robert Harrison, Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen, München 2010. 2 Vgl. Dieter Hennebo, Die Gärten des Mittelalters, München/Zürich 1987; Peter Cornelius Mayer-Tasch/Bernd Mayerhofer (Hg.), Hinter Mauern ein Paradies. Der mittelalterliche Garten, 3. Aufl., Frankfurt a.M./Leipzig 1999; Inken Formann, „Von Gartenlandt so den Conventualinnen gehört“. Die Gartenkultur der evangelischen Frauenklöster und Damenstifte in Norddeutschland, Hannover 2005; Carl-Hans Hauptmeyer/Hermann Josef Roth et al. (Hg.), Klostergärten und klösterliche Kulturlandschaften. Historische Aspekte und aktuelle Fragen, München 2009.
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Park von Vaux-le-Vicomte zu denken,3 aber auch an die großzügigen Anlagen in deutschen Haupt- oder Nebenresidenzen4 wie Schwetzingen5, Schloss Nymphenburg bei München, Schloss Augustusburg im rheinländischen Brühl oder – um ein Beispiel aus dem im Folgenden besonders interessierenden Dresdner Umfeld zu nennen – an den seit 1723 im Besitz Augusts des Starken befindlichen Barockgarten Großsedlitz, in dem die im Zeichen der sächsisch-polnischen Personalunion stehenden Stiftungsfeste des polnischen Weißen-Adler-Ordens inszeniert wurden.6 Gärten sind also mehrdeutige Artefakte, in denen sich politische Ordnungsvorstellungen, aber – und darum wird es vor allem im zweiten Teil des vorliegenden Beitrags gehen – auch Transzendenzbezüge widerspiegeln. Der Blick auf die Gärten der Aufklärung scheint deshalb besonders fruchtbar, weil sich deren Zeichensystem im 18. Jahrhundert massiv veränderte: Es vollzog sich die Abkehr vom geometrisch angelegten Park, der – „durch hohe Mauern eingeschlossen, durch grade Heckenwände verunstaltet, durch verstümmelte Bäume entschattet, und durch trübes und stehendes Wasser ungesund gemacht“ 7 – , den Gartenkünstlern der Aufklärungsepoche als Ausweis eines denaturierten Lebens galt, das vorzugsweise der Welt der Höfe zugeordnet wurde. Umgekehrt entsprach dem die Hinwendung zum Natürlichkeit suggerierenden, faktisch freilich kaum weniger komponierten Landschaftsgarten mit seinem gewundenen Netz von Wegen, Bachläufen und künstlich angelegten Aussichtspunkten.8 Noch
3 Vgl. Gothein, Geschichte der Gartenkunst 2 (wie Anm. 1), S. 127–187; Vercelloni, Geschichte der Gartenkultur (wie Anm. 1), S. 81–97; Ian Thompson, The Sun King’s Garden. Louis XIV, André Le Nôtre and the creation of the Gardens of Versailles, New York 2006. 4 Vgl. das umfangreiche Kapitel zur Ausbreitung des französischen Gartens in Europa bei Gothein, Geschichte der Gartenkunst 2 (wie Anm. 1), S. 189–315. 5 Vgl. Lili Fehrle-Burger, Die Welt der Oper in den Schloßgärten von Heidelberg und Schwetzingen, Karlsruhe 1977. 6 Vgl. Hans-Günther Hartmann, Großsedlitz. Ein Königstraum als Denkmal barocker Gartenkunst, Weimar 1990. 7 Leopold von Reichenbach, Einige Bemerkungen über die Gärten der Mark Brandenburg, Berlin 1790, zitiert nach Marie-Louise Plesse (Hg.), Berlin durch die Blume oder Kraut und Rüben. Gartenkunst in Berlin-Brandenburg, Berlin 1985, S. 12. 8 Zur Landschaftstheorie des 18. Jahrhunderts vgl. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert Gesamthochschule Wuppertal (Hg.), Park und Garten im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1978; Heinke Wunderlich (Hg.), „Landschaft“ und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert, Heidelberg 1995; Hansjörg und Ulf Küster (Hg.), Garten Fund Wildnis. Landschaft im 18. Jahrhundert, München 1997; Berthold Heinecke/Michael Niedermeier (Hg.), Der Traum von Arkadien, Hundisberg 2007; Ana-Stanca Tabarasi, Der Landschaftsgarten als Lebensmodell. Zur Symbolik der „Gartenrevolution“ in Europa, Würzburg 2007. Gegenstimmen
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verkürzter ausgedrückt: Es geht um den Übergang vom Park im französischen Stil zum Englischen Garten, für den man gerade in Sachsen9 bzw. im mitteldeutschen Raum hervorragende Belege findet. Neben den bekannten und berühmten Beispielen wie dem Dessau-Wörlitzer Gartenreich10 oder dem Seifersdorfer Tal bei Dresden gilt es dabei eine Vielzahl kaum oder gar nicht bekannter Gartenanlagen und Schlossparks zu entdecken, die – als Relikte einer feudalen Vergangenheit – zu DDR-Zeiten umgenutzt oder vielfach auch dem Verfall preisgegeben worden waren und die in den zurückliegenden Jahren in vielen Fällen durch staatliche Schlösserverwaltungen, aber auch durch das Engagement von Kommunen und lokalen Vereinen wiederhergestellt wurden.11 Der angesprochene Paradigmenwechsel in der Gartenkultur des 18. Jahrhunderts sagt sehr viel über das Verhältnis von Natur, Kultur und Gesellschaft aus. In ihm spiegeln sich Lebensgefühl und Naturauffassung reformorientierter und aufklärungsaffiner Personenkreise. Gemeint sind damit all jene, die im rationalen wie emotionalen Sinn eine ‚bürgerliche‘ Existenz führten, zum einen also Tugenden wie Ordnung und Fleiß – kurzum: einen geordneten Umgang mit der Ressource Zeit – schätzten, zum anderen aber auch die Komplementärtugenden zum Geist der Rechenhaftigkeit kultivierten: Treue, Redlichkeit, Bescheidenheit, ‚Aufrichtigkeit des Herzens‘ im geselligen Umgang. „Er war fromm, bieder, treu, rechtschaffen und gesellig/Dem Menschen werth und seinem Gott gefällig“ – dieser zeitgenössische Grabspruch12 bringt diesen Anspruch recht gut
zu dem hegemonialen Natürlichkeitsdiskurs bei Horst Bredekamp, Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter, Berlin 2012. 9 Als nach wie vor unentbehrliche Bestandsaufnahme, der 2011 eine Ausstellung im Sächsischen Landesamt für Denkmalpflege, Dresden, gewidmet war, vgl. Hugo Koch, Sächsische Gartenkunst, Berlin 1910, Ndr. Beucha 1999. 10 Vgl. Erhard Hirsch, Dessau-Wörlitz. Aufklärung und Frühklassik, 2. Aufl., Leipzig 1987; ders., Die Dessau-Wörlitzer Reformbewegung im Zeitalter der Aufklärung. Personen – Strukturen – Wirkungen, Tübingen 2003, S. 405–501; Reinhard Alex/Peter Kühn, Schlösser und Gärten um Wörlitz, Leipzig 1995. 11 Als jüngstes Beispiel vgl. den im 18. Jahrhundert zu Kursachsen, heute zum Land Brandenburg gehörenden Schlosspark Altdöbern. Der von Carl Heinrich von Heineken (1707–1791) modernisierte Park verwilderte nach 1945, das Schloss wurde u.a. als Waisenhaus und Altersheim genutzt. Nach der Wende nahm die Brandenburgische Schlösser GmbH die Wiederherstellung in Angriff. Vgl. die Beiträge bei Martin Schuster/Horst Bernstein (Hg.), Carl Heinrich von Heineken (1707–1791) auf Schloss Altdöbern, Dresden 2012. 12 Der Spruch findet sich in der Rostocker Marienkirche auf einem Obelisken, mit dem an den mecklenburgischen Landrat und dänischen Kammerherrn Levin Frhr. von Merheimb (1742– 1802) erinnert wird.
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auf den Punkt. Für diese unter die Kategorie der „Bürgerlichkeit“13 subsumierte schmale „Schicht aufgeklärter und vermögender Adliger oder Kaufleute“14 war der Landschaftsgarten ein Zeichensystem, das keine Spuren von Herrschaft und Unterdrückung der Natur sichtbar werden ließ, also eine natürliche Ordnung der Dinge vorstellte, einen Naturzustand wiederherstellte, von dem aus der Weg zur Vergesellschaftung noch einmal neu angetreten werden konnte. Der Landschaftsgarten wurde damit zu einem Ort, wo Harmonie mit der Natur gesucht und Soziabilität eingeübt werden konnte – ein Anliegen, das zugleich durch ein belehrendes Verweissystem zu ergänzen war. So empfahl Johann Georg Sulzer in seiner erstmals 1771 erschienenen „Allgemeinen Theorie der schönen Künste“ die „Taten der verdientesten Bürger“ zu visualisieren: „Was wäre leichter als alle Spatziergänge durch Denkmäler, nicht bloß zu verschönern, sondern zu Schulen der Tugend und der großen patriotischen Gesinnungen zu machen?“15 Exakt in diesem Sinn ist beispielsweise das Bild- bzw. Statuenprogramm des seit 1781 vor allem auf Initiative von Christina von Brühl, der Schwiegertochter des 1763 verstorbenen sächsischen Premierministers Heinrich Graf von Brühl, angelegten Seifersdorfer Tales16 zu lesen, einem der frühesten Landschaftsgärten in Deutschland, der Herz und Verstand gleichermaßen anzusprechen beabsichtigte und der die Großen der Weimarer Klassik ebenso anzog wie den Maler Caspar David Friedrich. Wenn dort ein Aussichtspunkt mit der expliziten Inschrift „Ach wie schön“ integriert wurde, so verweist diese plakative Bezeichnung darauf, dass – ungeachtet der Tatsache, dass „im großen Ganzen der Natur“17 alles schön ist – das Ziel der ästhetischen und sittlichen Veredelung des Menschen im Land-
13 Vgl. Winfried Müller, Die Aufklärung, München 2002, S. 14f.; ausführlich Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1715), Göttingen 1996; zur Wirkungsgeschichte der in der Aufklärungsepoche geprägten Kulturmuster vgl. Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. 14 Annette Dorgerloh, Strategien des Überdauerns. Das Grab- und Erinnerungsmal im frühen deutschen Landschaftsgarten, Düsseldorf 2012, S. 17. 15 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, 1. Theil, 2. Aufl., Leipzig 1792, S. 597. 16 Vgl. als wichtige zeitgenössische Beschreibung: Wilhelm Gottlieb Becker, Das Seifersdorfer Thal, Leipzig/Dresden 1792, Ndr. Leipzig 1977; Digitalisat: http://digital.ub.uni-duesseldorf. de/ihd/content/titleinfo/1410389. Aktuelle Bilder auf der Homepage des Vereins Seifersdorfer Thal: http://www.tinathal.de (Zugriff am 23.9.2012). 17 Das Zitat stammt von Wilhelm Gottlieb Becker, der nicht nur durch die in der vorigen Anmerkung erwähnte Beschreibung des Seifersdorfer Tales, sondern auch durch ein Taschenbuch für Gartenfreunde (Leipzig 1795–99) hervorgetreten ist; zitiert nach Tabarasi, Der Landschaftsgarten als Lebensmodell (wie Anm. 8), S. 270. Zu Becker vgl. Zlatka Anastasova,
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schaftsgarten didaktisch abzustützen war. Im Seifersdorfer Tal wurde dies neben dem „Ach wie schön“-Aussichtspunkt u.a. noch mit Altären für die Tugend und für die Wahrheit geleistet. Auf die Weckung patriotischer Gesinnungen zielte dann die Errichtung von Denkmälern etwa für Johann Gottfried Herder oder Leopold von Braunschweig, der sich als Militär- und Bildungsreformer den Ruf eines aufgeklärten Offiziers erworben hatte, um den sich vor allem aber die Legende des Opfertodes beim Einsatz für die Geschädigten des großen Oder-Hochwassers von 1785 rankte. Leopold hatte sich damit im Sinne des 18. Jahrhunderts als wahrer Patriot erwiesen, als ein „Mann, der Land und Leuten treu und redlich vorstehet, und sich die allgemeine Wohlfahrt zu Herzen gehen lässt“.18
Abb. 1: Denkmal für Leopold von Braunschweig im Seifersdorfer Tal [Abbildungsnachweis: Wilhelm Gottlieb Becker, Das Seifersdorfer Thal, Dresden 1792; Bildarchiv des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Dresden]
„Becker, Wilhelm Gottlieb Ernst“, in: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (Hg.), Sächsische Biografie, http://www.isgv.de/saebi (Zugriff am 27.7.2012). 18 Johann Heinrich Zedlers Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 26, Halle/Leipzig 1740, S. 710.
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In Entsprechung hierzu fand sein als „Tugendopfer“ gedeuteter Tod im ausgehenden 18. Jahrhundert ein starkes Medienecho,19 und das „dem erhabenen Menschenfreunde geweihte Denkmal“20 im Seifersdorfer Tal reiht sich in diese Leopold-Verehrung ein und zeigt zugleich, wie der ästhetisch-sittlichen Bildungsfunktion des Landschaftsgartens gemeinsinnige Belehrungen angeschichtet wurden. In dieselbe Richtung verwies im Seifersdorfer Tal noch ein „Altar der Wohlthätigkeit“, und dass dieser Appell an karitative Aktivitäten in den Gärten der Aufklärung kein Einzelfall gewesen ist, belegt das Beispiel des gleichfalls nahe Dresden befindlichen Röhrsdorfer Grunds, wo die Familie Carlowitz in den 1770er Jahren eine Parkanlage schuf, an deren Eingang eine zur Spende aufrufende „Armenpromenadenkasse“ aufgestellt war; die versittlichende Wirkung des Gartens wurde hier ganz konkret in die Währung einer wohltätigen Gabe konvertiert.21 Der Landschaftsgarten hatte also eine sozialisierende Funktion, er sollte soziale Tugenden – den Umgang mit Menschen, gemeinsinnige Aktivitäten – fördern. Dieser inneren Einstellung hatte der äußere Habitus zu entsprechen, wie er mit dem Begriff der ‚Promenade‘ angedeutet wird. Hierunter verstand das 18. Jahrhundert den zur gängigen kulturellen Praxis werdenden Spaziergang unter freiem Himmel.22 Der Promenade im Naturpark war dabei – ganz im Sinne eines Distinktionskriteriums – eine ganz bestimmte Haltung zugeordnet, ein zum Ambiente passender äußerer Habitus der Natürlichkeit, der faktisch natürlich ein Resultat strenger Erziehung war. Daniel Chodowiecki hat das in seiner 1779/80 erschienenen Kupferstichserie „Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens“ anschaulich illustriert,23 wobei die ‚natürlichen Handlungen‘ aus-
19 Vgl. Anton Pumpe, Heldenhafter Opfertod des Herzogs Leopold von Braunschweig 1785 in der Oder – Wahrheit oder Legende? Presse im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Propaganda, Braunschweig 2008; Dorgerloh, Strategien des Überdauerns (wie Anm. 14), S. 75ff. 20 Becker, Seifersdorfer Thal (wie Anm. 16), S. 43. 21 Vgl. Anja Eppert, Der Röhrsdorfer Grund. Zukunftsperspektiven für eine der ältesten landschaftlichen Anlagen in Sachsen, Ms. Diplomarbeit, TU Dresden, 2008. 22 Zur Geschichte des Spaziergangs vgl. Gudrun M. König, Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780–1850, Köln/Weimar/Wien 1996; Ulrich Rosseaux, Freiräume. Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden (1694–1830), Köln/ Weimar/Wien 2007, S. 234ff. 23 Vgl. Werner Busch, „Chodowieckis Darstellung der Gefühle und der Wandel des Bildbegriffs nach der Mitte des 18. Jahrhunderts“, in: Wilfried Barner (Hg.), Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, München 1989, S. 315–343; Werner Busch, „Daniel Chodowieckis ‚Natürliche und
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Abb. 2: Tempel der Wohlthätigkeit im Seifersdorfer Tal [Abbildungsnachweis: Wilhelm Gottlieb Becker, Das Seifersdorfer Thal, Dresden 1792; Bildarchiv des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Dresden]
weislich der Kleidung jeweils Bürgerlichen, die Affektiertheiten hingegen adeligen Akteuren zugeschrieben wurden. Neben der abgebildeten Darstellung des korrekten Habitus beim Spaziergang lässt sich die Anleitung zu angemessener Haltung beim konzentrierten Naturund Kunstgenuss in einer ganzen Reihe weiterer Bildpaare festhalten. In einem Fall stehen zwei Höflinge parlierend und gestikulierend vor einer Statue, ihnen gegenübergestellt sind zwei Bürger, die sich schweigend in die Betrachtung des Kunstwerks vertiefen. Die Statue dankt es den beiden bürgerlichen Kennern mit feinem Lächeln. Dass es sich dabei um eine Verkörperung der Flora handelte, die vom Geäst eines Baumes überschattet wird, verweist zugleich auf den Landschaftsgarten als das zur habituellen Natürlichkeit passende Ambiente. In zwei anderen Komplementärbildern werden die richtige und die falsche Naturempfindung beim Anblick des Sonnenuntergangs ins Bild gesetzt: Auch hier haben wir auf der einen Seite offenkundig der Welt des Hofes zuzuordnende Akteure, die die
affectirte Handlungen des Lebens‘“, in: Ernst Hinrichs (Hg.), Daniel Chodowiecki (1726–1801). Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann, Tübingen 1997, S. 77–99.
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Abb. 3a: Daniel Chodowiecki, Der Spatziergang/ La Promenade [Abbildungsnachweis: Daniel Chodowiecki, Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, 1778; Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig]
Schönheit der Natur in fast schon frivoler, jedenfalls ausgelassener Weise ignorieren, während die Bürgerlichen still und in sich gekehrt das Naturschauspiel der untergehenden Sonne beobachten, deren Feuer mit den Worten von Chodowieckis Kommentator Georg Christoph Lichtenberg „die ganze Seele endlich füllt ohne in ihr zu stürmen“.24 Die Kontrastierung von Extra- und Introversion und die damit verbundene Forderung nach einer – bereits habituell sichtbar werdenden – ehrfürchtigen Annäherung an die Natur verweist darauf, dass diese nicht nur bloßer Aufenthalts- und Fortbewegungsraum ist, sondern dass Natur und Subjekt in einer
24 Georg Christoph Lichtenberg/Daniel Chodowiecki, Handlungen des Lebens, Stuttgart 1971, S. 48.
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Abb. 3b: Daniel Chodowiecki, Der Spatziergang/ La Promenade [Abbildungsnachweis: Daniel Chodowiecki, Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens, 1778; Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig]
inneren Beziehung stehen. Die Natur löst Gefühle aus, die die soziablen Fähigkeiten der Menschen steigern. In der Natur gilt es, etwas Höheres zu verehren und der Schöpfung zu huldigen. Und nicht zuletzt werden – hierauf wird am Ende dieses Beitrags der Begriff der Naturtranszendierung rekurrieren – in die Natur Deutungskonzepte vom Naturzustand und von Natürlichkeit hineinprojiziert. Bei der hiermit angedeuteten Amalgamierung verschiedener Transzendenzbezüge in der Natur ist zwischen offenkundigen Oberflächenphänomen und eher indirekten Transzendierungsmechanismen zu unterscheiden. Mit Oberflächenphänomenen sind dabei Bauten, Altäre und Statuen gemeint, die plakativ auf konfessionskirchliche oder privatreligiöse Praktiken verweisen und diese symbolisieren. Hinter ihrer Konzeption stand vielfach eine von pantheistischer Gottesverehrung grundierte Naturreligiosität; im Garten war man gleichsam Gott als dem „großen Gärtner“ auf der Spur. Der Garten wurde damit zum religiösen Gedenkort, und diese Qualität konnte deutlich gesteigert werden, indem er zum Ort des Totengedenkens wurde, wie das dann im späten 18. Jahrhundert
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durch die Praxis der Bestattung in Gartenanlagen der Fall war.25 Ein Beispiel aus dem Dresdner Umland ist der Klosterpark Altzelle. Das, was von dem im Zuge der Reformation aufgelösten Kloster übriggeblieben war, wurde von dem aus dem Ausland – wohl aus England – zurückgekehrten Kunstgärtner Johann Gottfried Hübler unter Einbeziehung der Ruinen um 1800 in eine Parklandschaft umgestaltet,26 wie man sie in idealtypischer Verdichtung von den Gemälden Caspar David Friedrichs mit ihren Kirchen- und Klosterruinen kennt.27 Gleichzeitig wurde das bereits im 17. Jahrhundert begonnene Mausoleum für Mitglieder des Hauses Wettin im Stil des Frühklassizismus vollendet. Neben dieser hochadeligen Grablege kann als ein weiteres Beispiel für den Garten als religiös konnotierten Begräbnisort aber auch auf den Friedhof im Garten der philanthropischen Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal verwiesen werden, der vom Aufklärungspädagogen Christian Gotthilf Salzmann initiiert worden war, der wiederholt auf die gleichermaßen religiöse wie tugendverbessernde Botschaft der Natur hingewiesen hatte: „Die Natur, die schöne Natur, ist im Grunde nichts anderes als ein großes Buch, welches Gott verfertigt und aufgeschlagen hat“, und in dem nachzulesen sei, was „ein vernünftiges Geschöpf zu thun habe, wenn’s ein zufriednes Leben führen will“.28 Neben den vom Christentum abgeleiteten religiösen Konnotationen und Symbolen fanden aufgrund einer unverkennbaren Affinität der gebildeten und vermögenden Trägerschicht der Aufklärung zur Freimaurerei aber auch neue Transzendenzbezüge freimaurerischer Provenienz Eingang in die Gärten. In religionsgeschichtlicher Hinsicht bedeutete die Freimaurerei bekanntlich die Neutralisierung des frühneuzeitlichen Konfessionalismus.29 In Abwendung vom
25 Vgl. Sascha Winter, „Grabmalkultur und Gartenkunst um 1800“, in: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal/Museum für Sepulkralkultur, Kassel (Hg.), Grabkultur in Deutschland. Geschichte der Grabmäler, Berlin 2009, S. 35–65; grundlegend zur Gartengrabbewegung und mit zahlreichen Beispielen Dorgerloh, Strategien des Überdauerns (wie Anm. 14). 26 Vgl. die Abbildungen bei Heinrich Magirius, Klosterpark Altzella, Leipzig 2000; Ingrid Welzig, „Zum Museums- und Nutzungskonzept des Klosterparks Altzella 1991–2000“, in: Martina Schattkowsky/André Thieme (Hg.), Altzelle. Zisterzienserabtei in Mitteldeutschland und Hauskloster der Wettiner, Leipzig 2002, S. 377–397. 27 Zum Einfluss des englischen Landschaftsgartens auf Caspar David Friedrich vgl. Günter Hartmann, Die Ruine im Landschaftsgarten. Ihre Bedeutung für den frühen Historismus und die Landschaftsmalerei der Romantik, Worms 1981, S. 39ff. 28 Zitiert nach Dorgerloh, Strategien des Überdauerns (wie Anm. 14), S. 282. 29 Zusammenfassend mit weiterführender Literatur Winfried Dotzauer, „Freimaurer“, in: Werner Schneiders (Hg.), Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995, S. 137ff.; Müller, Aufklärung (wie Anm. 13), S. 20ff. Zur Esoterik des 18. Jahrhunderts vgl. Monika Neugebauer-Wölk, „Arkanwelten im 18. Jahrhundert. Zur Struktur des Politischen im Kontext
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christlichen Offenbarungsglauben und seinen über die Kirchen vermittelten Dogmen und Ritualen waren die Logenmitglieder lediglich zum konfessionsneutralen Glauben an ein höchstes Wesen angehalten. Zugleich bekannten sie sich zu einer humanitären Praxis, die den Idealen der Brüderlichkeit und tätigen Nächstenliebe in Form von Wohltätigkeitsaktionen verpflichtet war. Primäre Instanzen einer aufklärerische Vernunftreligion und praktische Moralität – kurz: Transzendenz und Gemeinsinn – verbindenden Sozialisation waren natürlich die Freimaurerlogen, aber auch der Landschaftsgarten wurde ein bevorzugter Übungsplatz, der mit einer entsprechenden Symbolik ausgestattet wurde.30 Ein bekanntes Beispiel ist etwa der Freimaurerturm im Park des schleswig-holsteinischen Schlosses Louisenlund,31 aber auch in Sachsen findet sich insbesondere mit dem nahe Leipzig gelegenen und in den 1780er Jahren von Carl August von Lindenau angelegten Landschaftsgarten von Machern ein Beispiel.32 Das Ensemble besteht aus einer – ursprünglich als Grablege gedachten und als Versammlungsraum genutzten – Pyramide,33 unterirdischem Gang und einem Turm. Dies alles symbolisiert ziemlich eindeutig den freimaurerischen Weg aus dem Dunkel zum Licht: per aspera ad astrum. Zentraler als diese vordergründigen Zeichen religiöser Transzendenz sind freilich eher indirekt greifbare Aspekte der Transzendierung der Natur, die in die Tiefenschicht aufklärerischen Denkens führen. Hier ist noch einmal auf die oben getroffene Feststellung zurückzukommen, dass der Landschaftsgarten frei von Zeichen der Herrschaft und der Unterdrückung der Natur sein sollte. Mit ihm wurde also gewissermaßen der Naturzustand wiederhergestellt. Und an diesem Punkt lässt sich die Gartentheorie mit der politischen Theorie des 18. Jahrhunderts engführen, insofern ja auch diese auf einen Naturzustand rekurrierte, der im Zuge der Vergesellschaftung der Individuen durch einen Vertrag überwunden
von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit“, in: dies. (Hg.): Arkanwelten im politischen Kontext, Hamburg 2003, S. 7–65; weitere Literatur bei Winfried Müller, „Literaturbericht 1648–1806, Teil 2: Esoterik und Gegenaufklärung, Religion und Toleranz“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 57 (2006), S. 277–290. 30 Vgl. Helmut Reinhardt, „Der Einfluss der Freimaurer auf die Anlage und Gestaltung der Gärten“, in: ICOMOS-Nationalkomitee Deutschland (Hg.), Gartenkunst und Denkmalpflege, Hannover 1988, S. 109–118. 31 Vgl. Franz Wegener, Der Freimaurergarten. Die geheimen Gärten der Freimaurerei im 18. Jahrhundert, Gladbeck 2008. 32 Vgl. Ansichten der vorzüglichsten Parthien des Gartens zu Machern, Berlin 1799; Digitalisat unter http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/dms/werkansicht/?PPN=PPN675825717&PHYSI D=PHYS_0005 (Zugriff am 26.7.2012); Koch, Sächsische Gartenkunst (wie Anm. 9), S. 376ff. 33 Vgl. Dorgerloh, Strategien des Überdauerns (wie Anm. 14), S. 321ff.
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wurde. Herrschaft war damit das Resultat eines voluntaristischen Zusammenschlusses, der die Basisrechte der Menschen – das Eigentum an Leben, Freiheit und Besitz – unberührt ließ und schützte. Hier liegt bekanntlich der Ansatz für die Idee von Grundrechten, die zur natürlichen Ausstattung eines jeden Menschen zählten und staatlicher Willkür entzogen waren. So gesehen war der Landschaftsgarten die Inszenierung eines Zustands, aus dem heraus sich die in ihren natürlichen Rechten geschützten Individuen vergesellschafteten und im Einklang mit der Natur gesellschaftliche Tugenden einübten. In diesem Sinne wurde der Garten dort, wo bürgerliche Freiheit aus dem Naturrecht abgeleitet wurde, zum „Freiheitssymbol“.34 Sofern das als Überinterpretation der schönen Landschaft empfunden werden sollte, so sei ganz allgemein daran erinnert, dass politische Ideen ihren Erfolg nicht zuletzt der lebensweltlichen Konkretion, der symbolischen Visibilisierung, verdanken. Zugleich aber führt hier ein Blick in die englische Publizistik des 18. Jahrhunderts weiter, wo der Landschaftsgarten expressis verbis als das Gegenmodell zum Barockgarten französischen Stils apostrophiert wurde, in dem Natur über Künstlichkeit und Freiheit über Despotismus triumphiert.35 Ganz auf dieser Argumentationslinie wird der Landschaftsgarten, als er dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf dem Kontinent importiert wird und in Mode kommt, als Englischer Garten bezeichnet.36 Er wird zu einem „Leitmedium“37 einer politisch konnotierten Anglophilie, die die unter der englischen Monarchie vorhandenen Freiheitsrechte ebenso rühmt wie den englischen „public spirit“ als „das eifrige Bestreben einzelner Menschen, das allgemeine Beste zu bewirken“.38 So sehr der Englische Garten in seinen Anfängen als Antithese zu Frankreich aufgefasst wurde, so war es gegen Ende des Jahrhunderts dann allerdings die
34 Adrian von Buttlar, „Das ‚Nationale‘ als Thema der Gartenkunst“, in: Ulrich Herrmann (Hg.), Volk – Nation – Vaterland, Hamburg 1996, S. 185. 35 Vgl. Buttlar, „Das ‚Nationale‘ als Thema der Gartenkunst“ (wie Anm. 34), S. 186ff. 36 Vgl. Heinz-Joachim Müllenbrock, Der englische Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts und sein literarischer Kontext, Göttingen 1986; Adrian von Buttlar, Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik, Köln 1989. Von rezeptionsgeschichtlichem Interesse, da von nachweisbarem Einfluss auf das Dessau-Wörlitzer Gartenreich Johanna GeyerKordesch (Hg.), Die Englandreise der Fürstin Louise von Anhalt-Dessau im Jahr 1775, Berlin 2007. 37 Dorgerloh, Strategien des Überdauerns (wie Anm. 14), S. 14. 38 Das Diktum geht zurück auf Johann Wilhelm von Archenholtz, zitiert nach Michael Maurer, „Anglophilie“, http://www.ieg-ego.eu/de/threads/modelle-und-stereotypen (Zugriff am 26.7.2012); vgl. ders., Aufklärung und Anglophilie in Deutschland, Göttingen 1987; Jennifer Willenberg, Distribution und Übersetzung englischen Schrifttums im Deutschland des 18. Jahrhunderts, München 2008.
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Französische Revolution, die das in ihm angelegte Naturverständnis radikalisierte. Denn die Revolutionäre erfassten ja nicht nur systematisch die höfischen und adeligen Luxusgärten, die in Nationalgüter umgewandelt und vielfach umgepflügt und landwirtschaftlich genutzt wurden. Zugleich brachte die Revolution eine Zuspitzung der neuen Beziehung von Mensch und Natur hervor:39 Sie verstand sich als Wiederherstellung einer Naturordnung, in der die Menschen frei und gleich und brüderlich zusammenleben – die Gesetze der Natur ebenso anerkennend wie jene, die sie sich selbst unter Rekurs auf eine natürliche Ordnung gegeben haben, und das Füllhorn der Natur als Quelle des Wohlstands respektierend. In Entsprechung hierzu finden wir zahlreiche Pläne und Beispiele, die den Garten als Ort der Versöhnung von Mensch und Natur moralpädagogisch und politisch aufluden und die zu einem ausgeprägten Naturkult führten: Gärten und Haine, Freiheitsbäume und heilige Berge waren die im Tempel der Natur angelegten Orte, wo auf dem blumengeschmückten Altar das Buch mit den unverfügbaren, für alle Menschen gültigen Grundsätzen der Natur aufgeschlagen wurde: „Wollt ihr glücklich sein, dann hört auf die Natur“.40 In dieser radikalen Form haben sich Naturkult und symbolische Aufladung der Gärten in den Ländern des Deutschen Reiches nur selten durchgesetzt. Das Pflanzen von Freiheitsbäumen blieb auf Kreise der rheinhessischen Jakobiner beschränkt bzw. flammte im Vormärz mit dem Hambacher Fest wieder auf. Die politische Feier unter freiem Himmel, im Tempel der Natur, wurde von den Obrigkeiten beargwöhnt, weil sie als nur schwer kontrollierbare Veranstaltungsform galt. Und dennoch lohnt durchaus auch der Blick auf die deutschen Landschaftsgärten und Parks, wenn es um diese in der Französischen Revolution radikal zugespitzte Politisierung der Natur geht. Zum einen kann hier auf die Idee des Volksgartens41 rekurriert werden, die allerdings schon vor der Französischen Revolution bei Christian Cay Lorenz
39 Vgl. Hans-Christian Harten/Elke Harten, Die Versöhnung mit der Natur. Gärten, Freiheitsbäume, republikanische Wälder, heilige Berge und Tugendparks in der Französischen Revolution, Reinbek 1989. Vgl. in diesem Kontext auch Joachim Wolschke-Bulmahn (Hg.), Nature and Ideology. Natural Garden Design in die Twentieth Century, Washington 1995. 40 Zitiert nach Harten/Harten, Versöhnung mit der Natur (wie Anm. 39), S. 107. 41 Vgl. hierzu die vor allem auf Peter Joseph Lenné Bezug nehmenden Arbeiten u.a. von Harri Günther, Peter Joseph Lenné. Gärten – Parke – Landschaften, Berlin 1985; Florian von Buttlar (Hg.), Peter Joseph Lenné. Volkspark und Arkadien, Berlin 1989; Bernd Löhmann, Ein Garten für König und Volk. Peter Joseph Lenné und der Brühler Schloßgarten, Köln 2000. Vgl. allgemein Michael Gamper, „Garten als Institution. Subjektkonstitution und Bevölkerungspolitik im Volksgarten“, in: Natascha N. Hoefer/Anna Ananieva (Hg.), Der andere Garten. Erinnern und Erfinden in Gärten von Institutionen, Göttingen 2005, S. 35–53.
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Hirschfeld, dem führenden Gartentheoretiker des 18. Jahrhunderts in Deutschland, angelegt war. Im „Schooße der schönen Natur“ könne man dem Volk durch Denkmäler von wichtigen Vorfällen und Bildsäulen seiner Wohltäter „leicht […] eine gute Lehre hinstreuen“.42 Und zugleich ließ sich über diese patriotische Gartenkunst das Verhältnis von Fürst und Volk harmonisieren. Schon im 1775 eröffneten Wiener Prater stand der aufgeklärte Joseph II. „oft mitten unter seinem Volke, ohne Gefolge, blos von der Liebe seiner Unterthanen umgeben“.43 Anekdotisch zugespitzt wurde diese die Beziehungen zwischen Herrscher und Untertanen harmonisierende Funktion des Volksgartens dann in dem in der postrevolutionären Dekade angelegten Englischen Garten in München,44 wo Kurfürst Max III. Joseph als erster Diener seines Staates vom Parkwächter wegen unerlaubten Blumenpflückens zur Rede gestellt wurde.45 In Dresden wurde der Große Garten erst relativ spät, 1814, für die Bevölkerung freigegeben.46 Die bekannte Sottise eines preußischen Journalisten, bei bevorstehendem Weltuntergang werde er sich nach Dresden begeben, dort trete dieses Ereignis wie so vieles andere auch erst 30 Jahre später ein, scheint hier eine Bestätigung zu finden. Doch bei seriöser Betrachtungsweise lassen sich auch im Dresdner Umfeld, auf den gleich einem Satellitensystem um die Residenzstadt gruppierten Adelssitzen47 interessante Zeugnisse einer modernen und mehr oder minder offensiv politisch konnotierten Gartenkultur finden. Vom Röhrsdorfer Grund mit seiner Armenpromenadenkasse war ebenso bereits die Rede wie vom Seifersdorfer Tal als frühem Beispiel eines empfindsamen Landschaftsgartens. Zu erwähnen ist aber auch der zwischen Dresden und Meißen gelegene Schlosspark Siebeneichen, den der sächsische Adelige Dietrich von Miltitz und seine aus England stammende Ehefrau Sarah Anna Constable im neuen Stil umgestalte-
42 Zitiert nach Buttlar, „Das ‚Nationale‘ als Thema der Gartenkunst“ (wie Anm. 34), S. 197. 43 Zitiert nach Buttlar, „Das ‚Nationale‘ als Thema der Gartenkunst“ (wie Anm. 34), S. 197f. 44 Vgl. Pankraz von Freyberg (Hg.), Der Englische Garten in München, erweiterte und aktualisierte Neuauflage der Festschrift „200 Jahre Englischer Garten in München“, München 2000. 45 Vgl. Buttlar, „Das ‚Nationale‘ als Thema der Gartenkunst“ (wie Anm. 34), S. 197, S. 205 (Abb.). 46 Vgl. Sylvia Butenschön, „Der Große Garten als Stadtpark. Nutzung und Nutzungswandel der Anlage im 19. Jahrhundert“, in: Sächsische Schlösserverwaltung (Hg.), Der Große Garten zu Dresden. Gartenkunst in vier Jahrhunderten, Dresden 2000, S. 126–136; Sylvia Butenschön, Geschichte des Dresdner Stadtgrüns, Berlin 2007. 47 Vgl. Dresdner Hefte 20 (2002), Nr. 69: Refugium Schloß. Kulturelle Zirkel im Dresdner Umland um 1800; zum Kommunikationsnetz zwischen Adel und Dresdner Hof: Josef Matzerath, Adelsprobe an der Moderne – Sächsischer Adel 1763 bis 1866. Entkonkretisierung einer traditionellen Sozialformation, Stuttgart 2006, S. 131–152.
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ten.48 Und als ein spätes, aber besonders aussagekräftiges Beispiel ist schließlich auf den von dem Kunstkenner und -förderer Johann Gottlieb von Quandt in den 1830er Jahren bei seinem Rittergut Dittersbach angelegten Landschaftsgarten zu verweisen.49 In dieses sog. Lieblingstal50 wurde nämlich eine dezidiert politische Denkmalskultur integriert, die monarchisches Prinzip und Verfassungsgedanken harmonisierte:
Abb. 4: Rekonstruierte Konstitutionssäule im Lieblingstal [Bildnachweis: Fotografie von Daniel Fischer, Dresden]
Indem einem Denkmal für den sächsischen König Anton eine an die sächsische Verfassung von 1831 erinnernde Verfassungssäule zur Seite gestellt wurde, wurde offen für die von liberalem Adel und Bürgertum favorisierte konstitutionelle Einhegung der Monarchie geworben. Will man nun ein Resümee aus der vom Englischen Garten ausgehenden und in der Französischen Revolution kulminierenden Entwicklung des Landschafts-
48 Vgl. Koch, Sächsische Gartenkunst (wie Anm. 9), S. 399. 49 Zu Quandt vgl. Brunhilde Köhler, „Bildung, Geselligkeit, Kultur – Johann Gottlob von Quandt in Dittersbach“, in: Dresdner Hefte 20 (2002), Nr. 69: Refugium Schloß, S. 34–43; Rainer G. Richter, „Der Kunst- und Künstlerfreund Johann Gottlob von Quandt und der Maler Carl Christian Vogel von Vogelstein“, in: Sächsische Heimatblätter (2002), S. 343–355. 50 Vgl. Bildmaterial unter http://www.quandt-verein.de (Zugriff am 27.7.2012).
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und Naturverständnisses im 18. Jahrhundert ziehen, dessen zeitversetzte Ausläufer wir zuletzt im Lieblingstal kennenlernten, so könnte man von einer Politisierung der Natur bzw. der vom Menschen ‚natürlich‘ gestalteten Landschaft sprechen. Hinter dieser Politisierung steht wiederum eine für das Denken des 18. Jahrhunderts charakteristische Verlaufsform, die als Naturtranszendierung bezeichnet werden soll. Gemeint ist damit, dass – in Differenz zu geschichtlich gewordenen Traditionen und zu den von den Traditionsmächten von Thron und Altar gesetzten Normen – Natur zu einer der Kontingenz des historischen Wandels entzogenen, mithin unverfügbar gestellten Quelle aller Normativität wurde, zu einem „epochen- und kulturen-transzendenten Begriff“.51 In der Natur – symbolisiert im englischen Landschaftsgarten, greifbar aber auch im Naturkult der Französischen Revolution – wurzeln die für alle Menschen geltenden natürlichen Rechte. Die Englischen Gärten, die Feier des Höchsten Wesens im Tempel der Natur, Altäre und Denkmäler, sind Symbolisierungen dieser Naturtranszendierung. Im Landschaftsgarten konnten die Menschen zugleich gesellschaftliche Tugenden, gemeinsinnige Verhaltensweisen einüben. Diese Idee eines harmonischen Zusammenlebens der Menschen im Einklang mit der Natur und ihren Gesetzen wurde unter dem Begriff der ‚Natürlichkeit‘ als der habituellen Norm des aufgeklärten Menschen gefasst. Dass sich diese Konstruktion des naturwüchsigen Ambientes der Landschaftsgärten und der Vorgang der Naturtranszendierung in eben jenem historischen Augenblick abspielten, in dem die Ersetzung der Naturkräfte durch die künstliche Kraft dampfgetriebener Maschinen Konturen anzunehmen begann, mit denen die Fortschritts- und Wohlstandsversprechen einer auf technische Innovationen gestützten Ökonomisierung der Natur eingelöst werden sollten – das sei abschließend nur noch am Rande vermerkt. Umschrieben ist damit ein zwischen der Natur als Ressource für unverfügbar Gesetztes und der instrumentellen Rationalität der Naturbeherrschung liegendes Spannungsfeld, das eine allem Anschein nach unaufhebbare Antinomie der europäischen Aufklärung markiert. Der Landschaftsgarten war gewissermaßen ein künstliches Paradies, der diese im Prozess der Industrialisierung an Gewicht gewinnende Antinomie ein Stück weit invisibilisierte. In ihm wandelte man in einer imaginierten Natur, er symbolisierte die Idee eines harmonischen Zusammenlebens der Menschen im Einklang mit der Natur und ihren Gesetzen, die Idee der Hervorbringung von Freiheit.
51 Aleida Assmann, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 138.
Werner J. Patzelt
Transzendenz, Naturrecht und die Gründung stabiler Ordnung Politiktheorie in der Rede Papst Benedikts XVI. vor dem Bundestag
I. Parlamentsreden und die Grundlagen politischer Ordnung Das Parlament ist, nach einer Winfried Steffani zugeschriebenen Formulierung, ganz wesentlich ein „Resonanzboden des öffentlich Zumutbaren“. Was in dessen Plenum gesagt werden kann, ohne dass es zum Aufruhr unter den Abgeordneten oder zum Aufschrei in der Öffentlichkeit kommt, gehört (gerade) noch in den Bannkreis des – im Wortsinn – common sense eines body politic. Was – weit im Vorfeld ausgrenzender Reaktionen – im Parlament als Selbstverständlichkeit durchgeht, ja als nicht weiter beachtlicher Gemeinplatz gilt, macht den Kernbestand von politischem common sense aus. Und was mit besonders großem Beifall bedacht, von anderen Rednern aufgegriffen, ja noch lange Zeit als wegweisend, tiefsinnig, vorbildlich zitiert wird: Eben darin ist ausgedrückt, was die Elite, was viele Angehörige einer im Parlament vertretenen Bevölkerung als sinnstiftend, richtungsklärend, die gemeinsamen Ordnungsprinzipien und Geltungsansprüche markant auf den Punkt bringend empfinden. Auf diese Weise ist das Parlamentsplenum ein Forum, auf dem gehört und begriffen werden kann, worauf eine politische Ordnung gegründet ist und was sie selbst begründet. Ohne sich mit sonderlicher Emphase darüber zu verständigen, erwarten Parlamentarier dergleichen auch. Sie erwarten solche Reden zwar nicht täglich. Derlei Erwartungen grundieren aber so manche Aktuelle Stunde, in welcher ein Problem, das unmittelbares Handeln erfordert, in jene größeren Zusammenhänge eingebettet werden soll, von denen her überhaupt erst zu erkennen ist, in welche Richtung die zu treffenden Entscheidungen gehen müssten. Sie grundieren auch immer wieder die Debatten um jene Regierungserklärungen, mit denen ein Regierungschef zur aktuellen Lage Position bezieht. Noch mehr richten sich Erwartungen, vom größeren Ganzen her werde das hier und jetzt Anstehende bedacht werden, an Parlamentsreden zu hervorgehobenen Anlässen, wie dem Volkstrauertag, dem Auschwitz-Gedenktag, früher auch dem 17. Juni. Und solche
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Erwartungen steigen, wenn sich das Parlament einen Gast für eine Plenarrede einlädt. Der Deutsche Bundestag verfährt mit dieser Geste eher sparsam. Dass Gäste aufgrund ihrer eigenen Bedeutung um eine Rede im Bundestagsplenum gebeten werden, widerfuhr zwischen 1951 und 2012 ganzen 33 Persönlichkeiten. Also setzte es schon ein besonderes Zeichen, dass der Bundestagspräsident Papst Benedikt XVI. einlud, während seines Deutschlandbesuchs im September 2011 auch vor dem Bundestag zu sprechen. Diese Einladung war vielschichtig. Natürlich richtete sie sich an ein Staatsoberhaupt. Doch ginge es nur um den kleinen Staat der Vatikanstadt, bliebe deren Monarch gewiss unterhalb der institutionellen Wahrnehmungsschwelle des Deutschen Bundestags. Wichtiger war schon, dass ein Landsmann einzuladen war, der erste deutsche Papst seit über einem halben Jahrtausend. Doch die wichtigste Schicht im Erwartungsgefüge war, dass im Bundestag das Oberhaupt einer der größten Glaubensgemeinschaften der Erde sprechen werde. Also konnte man annehmen, dass der Papst auch aus seinem Glauben heraus über den Tag und den Anlass Hinausführendes sagen und der deutschen Tagespolitik eine Art „Transzendenzschub“ vermitteln wolle. War den einen unter Deutschlands Politikern und Bürgern die Papstrede im Bundestag eben deshalb willkommen, so nahmen andere den von ihnen befürchteten „Transzendenzüberschuss“ zum Anlass, einen Auftritt des Papstes im Parlament grundsätzlich abzulehnen und wenigstens die Einladung zu ihr auszuschlagen.1 Dabei gab es zwei zentrale Kritikbereiche. Erstens sollten die üblichen Topoi der Papst- und Kirchenschelte zeigen, wie unangemessen es sei, den Chef einer derart fehlerhaften Organisation im Bundestag sprechen zu lassen. Zweitens – so das wichtigere Argumente – sei das Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates verletzt, wenn der Papst „in der Herzkammer des Staates“2 ein Podium für die Verbreitung seiner religiösen Ansichten erhalte. Doch war vom Papst, angesichts inzwischen vieler Erfahrungen mit Reden vor ähnlichen Zuhörerschaften, wirklich eine Art Predigt zu erwarten? Würde man sich auf eine religiöse Würdigung deutscher Innen- und Außenpolitik einstellen müssen, wie sie einem ins Parlament eingeladenen Religionsführer durchaus nicht zukäme? Was auch immer zu erwarten war: Den Zuhörern und der Öffentlichkeit konnte die Rede nur dann etwas „bringen“, wenn sie den Bezirk des normalen Parlamentsdiskurses überschritte. Dass dies in eine „falsche Richtung“ erfolge,
1 Insgesamt hatten rund hundert Abgeordnete von Linken, SPD und Grünen erklärt, die Papstrede boykottieren zu wollen; gut 80 wurden es wohl. 2 So der SPD-Abgeordnete Rolf Schwanitz, zitiert aus Anja Maier, „Im Herzen des Staates“, http://www.taz.de/!78388/(Zugriff am 16.06.2012).
Transzendenz, Naturrecht und die Gründung stabiler Ordnung
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nämlich durch religiöse Provokation der Volksvertretung eines weltanschaulich neutralen Staates, das befürchteten – vielleicht auch nur in bloßer Pose – die einen. Die anderen aber hofften, dass tragende Elemente des teils vorhandenen, teils neu – oder wieder – anzustrebenden Grundkonsenses unseres pluralistischen Gemeinwesens vor Augen geführt würden. Und wozu kam es dann am 22. September 2011 wirklich? Zu „22 Minuten Philosophie und Theologie“, bilanzierte der SPIEGEL, und der Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck befand: „Diese Rede hätte sehr gut in die Humboldt-Universität gepasst“.3 Ebenfalls im SPIEGEL fand sich die folgende Einschätzung: Vor allem haben die Ferngebliebenen und der Saalflüchter eine sehr gute Rede des Papstes versäumt; intellektueller und rhetorisch geschickter hat im Bundestag wohl schon seit Jahren niemand mehr gesprochen. […] Man muss in keiner Weise katholisch sein, um seinen Grundgedanken zu unterstützen: Es reicht nicht aus und ist sogar gefährlich, politische Entscheidungen allein auf naturwissenschaftliche Vernunft zu gründen. Wahre Vernunft muss ihre Wurzeln in einer Ethik haben, die sich gerade nicht aus Messwerten und Gewinn-Verlust-Rechnungen begründen lässt. Das ist wahr und richtig, und es wäre schön, wenn diese Worte im Parlament nachwirken würden.4
Was war das also für eine Rede? Was hatte der Papst über – nicht nur – Deutschlands politische Ordnung zu sagen, über deren zu bedenkende Kontexte sowie über ihre zu schützenden Grundlagen?
II. Der Mehrwert einer Analyse von Transzendenzrekursen Weil die Papstrede vor dem Bundestag in einfache Worte gefasst ist,5 errichtet sie Hindernisse nicht einmal für intuitives oder naives Verstehen. Erst recht ist es nicht schwer, ihren Argumentationsgang nachzuzeichnen. Doch will man ihrem politiktheoretischen Gehalt auf den Grund und ihrer ordnungsbegründenden
3 Beides zitiert nach Annett Meiritz/Philipp Wittrock, „Der Überraschungsgast“, http://www. spiegel.de/politik/deutschland/papst-im-bundestag-der-ueberraschungsgast-a-787836.html (Zugriff am 16.06.2012). 4 Zitiert nach Stefan Kuzmany, „Der kleine Mann mit dem lustigen Hut“, http://www.spiegel. de/kultur/gesellschaft/spass-mit-dem-papst-der-kleine-mann-mit-dem-lustigen-hut-a-787990. html (Zugriff am 16.06.2012). 5 Auf der Website des Bundestages findet sie sich dokumentiert unter: http://www.bundestag. de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/benedict/rede.html (Zugriff am 16.06.2012).
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Kraft bis ans Ende nachgehen, braucht es schon differenzierteres Werkzeug. Es wurde im Teilprojekt I „Transzendenz und Gemeinsinn als Ressourcen politischer Ordnungskonstruktion“ des Sonderforschungsbereichs 804 entwickelt und wird in der nachstehend umrissenen Theorie wirklichkeitskonstruktiver Transzendenzrekurse präsentiert.6 Erstens hat „Transzendenz“ eine handlungsmotivierende Dimension.7 Es lockt einfach das Land jenseits einer zu überschreitenden Grenze – wo immer diese auch gezogen sei und welchen ontologischen Status auch immer das hinter ihr liegende Land habe, also: „das Transzendente“. Voller Lust auf Grenzüberschreitungen transzendiert man immer wieder die Möglichkeiten seines Leibes, die Grenzen seines Ich, seiner Kultur und auch der eigenen Geschichte, transzendiert man die Gegenwart durch Zukunftsentwürfe, ja transzendiert man sogar „die Welt“ durch Meditation, Gebet und Ritual. Mit solcher „Lust am Transzendieren“ beginnt immer wieder eine love story zwischen Politik und Transzendenz, auf eine treffliche Formel gebracht im Regierungsmotto Kaiser Karls V.: plus ultra! Und am Ende solchen Transzendierens mag man dann – wie viele Beispiele aus Geschichte und Gegenwart zeigen – die Grenzen dessen überschritten haben, was einer Institution, einem Staat, einer Kultur oder gar unserer Natur zuträglich ist. Zweitens hat Transzendenz eine hermeneutische Dimension. Was immer hier und jetzt vorliegt, empfängt nämlich seinen Sinn aus jenem Kontext, in dem es steht oder in den es vom Beobachter gestellt wird.8 Ein Kontext erhält seinen Sinn auch wieder nur aus jenem weiteren Kontext, in den man ihn rückt. Irgendwann bricht man dieses Verfahren der Aufschichtung von Kontext auf Kontext ab und behandelt den abschließend herangezogenen Kontext für alle praktischen Zwecke als den letzten Kontext. Während man aber auf die „ersten“ Grenzen, die hermeneutisch überschritten werden, je nach Wissen oder Kreativität recht kontingent treffen mag, verhält es sich mit dieser „letzten“ Grenze anders. Oft wird sie durch Rekurs auf professionsspezifische Wissensbestände
6 Im Einzelnen siehe hierzu Werner J. Patzelt, „Transzendenz, politische Ordnung und beider Konstruktion“, in: ders. (Hg.), Die Machbarkeit politischer Ordnung. Transzendenz und Konstruktion, Bielefeld 2013, S. 9–42. 7 Siehe hierzu auch Thomas Rentsch, „Aufklärung über Transzendenz – Anspruch der Philosophie“, in: Philosophisches Jahrbuch 117 (2010), Nr. 2, S. 287–298. 8 Hier findet sich die Schnittstelle zur ethnomethodologischen Theorie der Indexikalität und Reflexivität, die ihrerseits zu einem nennenswerten Teil auf dem semiotischen Werk von Charles Sanders Peirce beruht; siehe hierzu u.a. Kenneth Leiter, A Primer in Ethnomethodology, New York/ Oxford 1980, S. 106–157, sowie Werner J. Patzelt, „Ordnungskonstruktion und ihre ethnomethodologische Analyse“, in: ders. (Hg.), Die Machbarkeit politischer Ordnung. Transzendenz und Konstruktion, Bielefeld 2013, S. 43–98.
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gezogen, ja nachgerade befestigt: „Unter uns Juristen, Medizinern, Ingenieuren, Politikern […] versteht sich das doch von selbst!“ Doch noch öfter zieht man sie als Grenze zwischen den „mittleren“ und den „großen“ Transzendenzen,9 also dort, wo im Wesentlichen nur geglaubt werden kann, jenseits der Grenze existiere noch etwas – etwa „Gott“. Zwar hängt stark von kulturellen Vorlagen ab, was als „ontologisch gesichert“ im Unterschied zu „ontologisch fragwürdig“ gilt. Doch es ist typischerweise genau diese Grenze, an welcher man sein Transzendieren einstellt, falls einen nicht die Berufsrolle als Philosoph oder Priester zum Experten für gerade diese Grenzmark macht. Üblicherweise erkennt man eine solche Grenze daran, dass die Teilnehmer am Diskurs nun bei Kontexten wie „Gerechtigkeit“ oder „Frieden“, wie „Natur“ oder „Gott“ angekommen sind und es mit dem Verweis auf sie bewenden lassen. Dass man irgendwann eine solche Trennlinie zieht, ja vielleicht auch begründet, hat weitestreichende Auswirkungen. Glaubt man etwa, dass es jenseits der „letzten überschreitbaren Grenze“ Gott gibt, dann sieht alles im vom jenseits dieser Grenze her betrachteten „Land“ sehr anders aus, als wenn man fest davon ausgeht, dass es um das eigene Land herum gerade keinen Gott gibt. Das aber ist praktisch folgenreich aus folgendem Grund: Es hängt die „Richtigkeit“ der Erstdeutung eines zu verstehenden Sachverhalts von der „Richtigkeit“ des ersten herangezogenen Kontexts ab; diese kann ihrerseits nur im Lichte eines „richtigerweise“ anschließend herangezogenen Kontexts beurteilt werden; und dieser Prozess des „Nachweises“ der „Richtigkeit“ einer Deutung geht von Kontext zu Kontext solange fort, bis das ganze Aufschichtungsverfahren abgebrochen wird.10 Für einen solchen Abbruch des Verfahrens mag es bessere oder schlechtere Gründe geben, mag vielleicht auch gar keine Wahl bestehen: „Es ist in unserem Staat, in unserer Kultur, in unserer Religion eben so, wie es ist, und zwar ist es so, dass […].“ In der Regel ist diese Abbruchstelle „verfahrensmäßig kontingent“ und intellektuell gleichsam „schmutzig“. Gerade an ihr aber entfaltet sich eine besonders beeindruckende love story zwischen Politik und Transzendenz, nämlich in Form der sorgsamen, ja oft auch eifernden Pflege und Propagierung solcher Weltanschauungen oder Weltansichten, die den sinnstiftenden und emotional bindenden Kontext ganzer politischer Ordnungen abgeben sollen, ja wirklich abgeben können. Politik auf Religion zu
9 Zur Unterscheidung von kleinen, mittleren und großen Transzendenzen siehe u.a. Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt a.M. 1981, und Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 2010. 10 Nicht selten handelt es sich an dieser Stelle um eine Entscheidung zum Glauben an die Existenz oder Nichtexistenz Gottes.
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gründen, und gar beides so zu amalgamieren, dass eine anschließende Trennung des Religiösen vom Politischen als künstlich oder immerhin sehr komplexer Begründungen bedürfend wirkt, ist die eine Form jener Daueraffäre zwischen Politik und Transzendenz.11 Die andere Form der Verbindung von Politik und Transzendenz ist der Dezisionismus. Bei ihm weiß man nicht nur, dass viele sinndeutende Kontexte frei wählbar sind und man deren hermeneutische Stabilisierung durch Aufschichtungsprozesse willkürlich abbrechen kann, sondern bekennt sich auch noch dazu. In welcher Richtung und wo die „letzte“ Grenze liegt, findet der Dezisionist also nicht heraus, sondern legt das alles selbst fest, womöglich die beabsichtigten Folgen genau dieser Setzung klar im Blick. Und zwischen diesen beiden äußersten Möglichkeiten, den „letzten Kontext“ festzulegen, gibt es ein breites Spektrum weiterer Möglichkeiten, Trennlinien mit mehr oder minder großer Plausibilität zu ziehen. Staaten proklamieren etwa ihre Leitideen oder Grundwerte, Personen ihre – oft als dank Meinungsfreiheit als „unhinterfragbar“ hervorgekehrte – politische Überzeugung. Wo immer, und wie immer auch, jener letzte Kontext somit erreicht sein mag, den zu übersteigen man nicht mehr unternimmt: Der Sinn des Seins, der Welt, des Lebens, der eigenen Kultur, der Artefakte des Alltags erschließt sich aus genau jenen Sinnarchitekturen, die einen bestimmten – und eben keinen anderen – letzten Kontext plausibel machen. Wie einfach oder komplex solche Sinnarchitekturen auch sind: Ihren Schlussstein, oder die Schlusssteine ihrer einzelnen Gewölbeteile, bildet stets „Transzendentes“ oder – in nur anderer Wendung – „die Transzendenz“. Dieser Schlussstein hält wirklich ein Gewölbe aufrecht, kann aber nur als letzter Konstruktionsschritt eines in seinem Ablauf gerade nicht willkürlich gestaltbaren Prozesses eingefügt werden. Was letztlich die Stabilität des Gewölbes garantiert, ist also weniger der auswechselbare Stein als vielmehr der Prozess seines Setzens und Haltens am Platz. Damit ist die dritte, die wirklichkeitskonstruktive Dimension von Transzendenz erreicht: Es gilt, die Festigkeit und stabilitätsgarantierende Lage solcher „Schlusssteine“ zu sichern. Tatsächlich hängt ganz von derartigen, als selbstverständlich akzeptierten Kontexten jenseits der „letzten Grenze“ beim Verstehenwollen und Verstehensollen ab, welche Kontexte hier und jetzt als sinnvoll gelten können oder welche Handlungen im bislang entstandenen „größeren Ganzen“
11 Die Kultivierung von Zivilreligion als Versuch, der emotionalen Bindung an das eigene Gemeinwesen auch noch die Ressourcen religiöser Anhänglichkeit zu erschließen, indem Verfassungsurkunden an die Stelle heiliger Schriften, Verfassungskonventionen an die Stelle geheiligter Traditionen, staatliche Gebäude an die Stelle von Tempeln treten, ist nur eine Spielart dieser Liaison.
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einer Kultur, Gesellschaft oder politischen Ordnung sinnvoll, sinnwidrig oder sinnlos sind. Dass etwa Beten sinnvoll sein kann, glaubt vernünftigerweise nur, wer zunächst schon einmal glaubt, Göttliches existiere überhaupt und vergehe auch nicht durch Ignorieren oder Wegwünschen. Solcher Glaube aber bedarf, falls er denn bestehen bleiben soll, der sozialen, der wirklichkeitskonstruktiven Absicherung. Bei ihr geht es um die Sicherung bestimmter Wissensbestände, Deutungsweisen, Praxen und von alledem getragener Institutionen als „unverfügbar“. Unverfügbar meint: der Dispositionsfreiheit des Einzelnen, ja selbst gut organisierter Gruppen entzogen, zumindest hier und jetzt sowie für alle praktischen Zwecke. Anders gewendet: Indem festgelegt wird, was der letzte sinnvollerweise oder zulässigerweise heranzuziehende Kontext ist, wird auch jene Grenze festgelegt, die beim Transzendieren nicht mehr überschritten werden soll oder nicht mehr überschritten werden darf. Sofern nach dem geläufigen Sprachgebrauch das Land jenseits dieser Grenze als „das Transzendente“ bezeichnet wird, lässt sich die prägnante Formel verwenden, „das Transzendente“ sei „das Unverfügbare“.12 Allerdings darf man sich von dieser eingängigen Formel nicht irreführen lassen: Es lassen sich ja viele Grenzen so befestigen, dass unverfügbar wird, was jenseits ihrer liegt. Also ist auch mit Transzendenz im Sinn von „Unverfügbarkeit“ kein hervorgehobener ontologischer Status verbunden, sondern nur die Aussage, hier werde etwas – gleich wie – für alle praktischen Zwecke unverfügbar gemacht und als unverfügbar gesichert. Unverfügbar ist „das Transzendente“ also nicht notwendigerweise „aus eigener Kraft“ oder „aus eigenem Sein“, sondern vor allem als (Zwischen-)Ergebnis von Prozessen sozialer Wirklichkeitskonstruktion. Zugespitzt formuliert: (Vielerlei) Transzendenz liegt „der Wirklichkeit“ gerade nicht voraus, sondern mitten in ihr, nämlich als unverzichtbare Ressource ihrer eigenen Konstruktion. Es verhält sich mit dem Transzendenten also wirklich wie mit dem Schlussstein eines Gewölbes: Er befindet sich in der Mitte jener Dienste, die sowohl ihn tragen als auch ohne ihn einstürzten. In eben diesem Sinn kann – viertens – von Transzendenz als einer „Ressource der Wirklichkeitskonstruktion“ gesprochen werden, desgleichen von den – durchaus kulturspezifischen – „Transzendenzressourcen der Wirklichkeitskonstruktion“. Diese führt man in konkrete Prozesse der Wirklichkeits- und Ordnungskon-
12 Sie dient als gemeinsamer Nenner im Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“; siehe Hans Vorländer, „Einleitung: Wie sich soziale und politische Ordnungen begründen und stabilisieren“, in: ders. (Hg.), Transzendenz und Gemeinsinn. Themen und Perspektiven des Dresdner Sonderforschungsbereichs 804, 2. Aufl. Dresden 2011, S. 6–15, hier S. 10.
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struktion durch „Transzendenzrekurse“ ein, also dadurch, dass man sich beim handlungsleitenden und handlungserläuternden Diskurs verweisend oder argumentierend auf derlei „Unverfügbares“ bezieht. Solches geschieht aufs Offensichtlichste in liturgischen Formeln („Im Namen des Vaters […]“), ganz unverhüllt aber auch in alltagspraktisch gebräuchlichen Wendungen religiöser Provenienz: Auf Konferenzen im arabischen Raum können selbst ganz normale Diskussionsbeiträge beginnen mit „Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen“. Und derlei lässt sich, einmal als deutungsleitende Ressource vorhanden, auch noch recht vielschichtig ausgestalten sowie über Ableitungen nutzbar machen.13 Dass etwas durch akzeptierte Transzendenzrekurse unverfügbar „gestellt“ wird, heißt also in keiner Weise, dass es dann auch „wirklich“ unverfügbar wäre oder als unverfügbar gehandhabt würde. Vielmehr ziehen Transzendenzfeststellungen fast unweigerlich Versuche nach sich, das vorgeblich „Unverfügbare“ eben doch zum Gegenstand ganz praktischer Verfügungen, ja zur Machtressource konkreten Handelns zu machen. Am Unumstrittensten erkennt man dergleichen im Bereich der Religion: Wo immer das Göttliche vom „Immanenten“ geschieden ist, finden sich gewiss Versuche, auf dieses Transzendente durch Gebete, Rituale und Opfer Einfluss zu nehmen, also von ihm ganz praktisch zu profitieren und es gerade nicht, da unerreichbar jenseits einer „letzten Grenze“ liegend, als wirklich „unverfügbar“ zu behandeln. Ist dann wohl überhaupt nichts unverfügbar und alle Transzendenz nur eine soziale Konstruktion? Es dient – fünftens – einer differenzierten Antwort, Schichten von Unverfügbarkeit zu unterscheiden.14 Dass es die Welt gibt, ist uns gewiss unverfügbar und für alle praktischen Zwecke als äußerster Kontext sämtlicher Sinndeutungen heranzuziehen. Vielleicht gibt es hinter der Welt auch noch Gott. Über ihn können wir auch nicht verfügen, zumindest nicht abseits der erwähnten „magischen Mittel“. Ebenso unverfügbar ist uns, dass es Zeit gibt und somit Wandel und Endlichkeit.
13 Hierzu siehe im Einzelnen Patzelt, „Ordnungskonstruktion“ (wie Anm. 8). 14 Im Hintergrund dieser Ausführungen steht eine Theorie des „Schichtenbaus der Wirklichkeit“, wie sie philosophisch etwa von Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, Stuttgart 1949, soziologisch von Schütz, Der sinnhafte Aufbau (wie Anm. 9), und evolutionstheoretisch von Rupert Riedl, Die Spaltung des Weltbildes. Biologische Grundlagen des Erklärens und Verstehens, Berlin/ Hamburg 1985, S. 66–80, formuliert wurde. Zu ihrer politikwissenschaftlichen Relevanz siehe Werner J. Patzelt, „Perspektiven einer evolutionstheoretisch inspirierten Politikwissenschaft“, in: ders., (Hg.), Evolutorischer Institutionalismus. Theorie und empirische Studien zu Evolution, Institutionalität und Geschichtlichkeit, Würzburg 2007, S. 184–193.
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Unverfügbar ist uns ebenso die Beschaffenheit der Materie. Doch sie können wir uns immerhin, je nach Entwicklungsstand unserer Naturwissenschaft und Technik, zielgerichtet zunutze machen. Unverfügbar ist uns auch unsere Leiblichkeit, zu welcher neben unseren biologischen Aktions-, Emotions-, Kognitions- und Sozialfähigkeiten15 auch der – zwar hinausschiebbare, doch ganz unvermeidliche – Tod gehört. Aber wir können unseren Leib auf vielerlei Weise verändern und verbessern, etwa mit Medikamenten oder künstlichen Gelenken. Unverfügbar ist uns ferner die Prägung durch die je eigene Sprache und das von ihr geformte Denken. Aber wir können diese Prägung durch persönliches Dazulernen unterlaufen und abschleifen. Gleiches gilt auch für unsere Prägung durch jene Kultur, in der wir aufwuchsen. Diese Kultur besteht nie ohne uns, sondern wird von unseresgleichen hervorgebracht, bis zu einem gewissen Grad womöglich auch von uns selbst. Letztlich sind also wir es, die wir über unsere Kultur verfügen. Und unverfügbar sind uns zunächst einmal auch soziale und politische Strukturen, die von vielen anderen in aller Selbstverständlichkeit aufrechterhalten werden, etwa die Strukturen einer Diktatur. Doch jene Prozesse, in denen soziale Ordnung stabil gehalten und reproduziert wird, sind – wie in Hegels Beispiel von der Herr/Knecht-Dialektik – stets auch von uns selbst aufrechterhaltene Prozesse. Sie können deshalb von unseresgleichen immer wieder gestört werden, und zwar hin bis zu deren Zusammenbruch. Nach Revolutionen verfügen wir sogar – freilich nur in einem schmalen Zeitfenster – klar und bewusst über wichtige Züge der neu entstehenden Ordnung. Bei alledem reichen die von einem komplexen Transzendenzverständnis her zu bedenkenden Unverfügbarkeiten von solchen, die uns als uns Vorgegebenes prägen (etwa Materie, Zeit und Leiblichkeit), bis hin zu jenen uns prägenden Unverfügbarkeiten, die wir selbst hervorbringen und stabilisieren (etwa Sprache, Kultur und gesellschaftliche bzw. politische Ordnung). Die erstgenannten Unverfügbarkeiten sind das Baumaterial unserer Wirklichkeit und fallen uns genau deshalb als die letzten, allenfalls noch zum „Göttlichen“ hin zu überschreitenden Kontexte unserer Wirklichkeit auf. Die zweitgenannten Unverfügbarkeiten aber sind die Ergebnisse unserer eigenen Wirklichkeitskonstruktion anhand der uns vorgegebenen Baumaterialien. Sofern wir auch bei ihnen bis zum äußersten Rand unserer Wirklichkeit weiterfragen, gelangen wir genau dort zu jenen „Schlusssteinen unserer Wirklichkeitskonstruktion“, von deren soziokultureller
15 Zu dieser Domäne von Soziobiologie und Evolutionspsychologie siehe den Forschungsüberblick von Eckart Voland, Grundriss der Soziobiologie, Heidelberg 2000.
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Reproduktion das Weiterbestehen gerade dessen abhängt, was diese „Unverfügbarkeiten“ trägt. Das Erlebnis des jeweiligen „äußersten Kontexts“, der „letzten Grenze“, also „des Transzendenten“, mag jeweils gleich sein. Doch es sind eben zwei einander entgegengesetzte Enden des Baus der Wirklichkeit. Am einen Ende findet man den Grund, auf dem man steht – und am anderen jenen Grund, den man selber trägt. Zwar lässt sich beides zutreffend mit „Transzendenz“ bezeichnen: Sowohl beim Weg „nach oben“, in die Spitzen der Gewölbe unserer Sinnarchitekturen, als auch beim Weg „nach unten“, in deren Mutterboden, sind wir in eine von uns dann nicht mehr überschrittene „Zone der Wirklichkeit“ gelangt. Sobald man aber sprachlich zur Formel von der „Transzendenz als Unverfügbarkeit“ greift, gilt es unbedingt, jene zwei Arten von Unverfügbarkeit auseinanderhalten: die uns zunächst einmal vorgegebene Unverfügbarkeit von Materie und Natur – und die ganz und gar, wenn auch über Generationen hinweg, konstruierte Unverfügbarkeit einer je konkreten Kultur, Gesellschaft und politischen Ordnung. Also brauchen wir einen sozusagen „zweiwertigen“ Transzendenzbegriff. Ihn verwendete auch, ohne ihn beim Namen zu nennen, der Papst in seiner Rede vor dem Bundestag.
III. Gründungsstrukturen nachhaltig stabiler Ordnung III.1 Recht und Transzendenz Der Papst sprach weder von der Eurokrise noch von den Möglichkeiten der Friedenssicherung in einer Welt asymmetrischer Kriege. Er beschränkte sich innerhalb seiner Fachkompetenz, und zwar auf ein wichtiges Thema: auf die „Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates“ und somit auch des Rechts. Es für Deutschland zu setzen, ist eine der Aufgaben des Bundestages. Die Frage nach den Grundlagen einer Sache ist aber gerade die nach jenen äußersten Kontexten, von denen her sie zu verstehen und zu handhaben ist. Also redete der Papst genau von Transzendenz. Als den plausibelsten Kontext, von dem her politisches Handeln zu beurteilen sei, führte er das „Mühen um Gerechtigkeit“ an, desgleichen die Schaffung von Voraussetzungen für den Frieden. Materieller Gewinn als faktisches Motiv vieler Politik wurde vom Papst zwar erwähnt, politischer Erfolg als ihr zentrales Mittel sogar gewürdigt. Doch das alles sei sinnvoll erst im Dienst des Rechts. Zur Bekräftigung dieses Arguments griff Benedikt XVI. auf eine der
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berühmten Stellen bei Augustinus zurück: „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?“ Obendrein exemplifizierte er das Gemeinte durch einen Verweis auf Deutschlands jüngere Geschichte. In welchen Kontexten aber erkennt man, was „wirklich recht ist“, und welche Grenzen man deshalb bei allem politischen Gestaltungswillen gerade nicht überschreiten sollte? Als diesbezüglich ersten Kontext stellt der Papst klar, dass „in einem Großteil der rechtlich zu regelnden Materien“ zum Recht werden kann, was die Mehrheit will. Im nächsten Kontext zeigt sich allerdings, dass es keine Garantie dafür gibt, der Mehrheitswille werde stets auf das hinauslaufen, was man anschließend wirklich als Recht erlebt. Also gilt: „Jeder Verantwortliche muss sich bei der Rechtsbildung die Kriterien seiner Orientierung suchen.“ Nach einem Blick auf den widerstandsherausfordernden Unrechtscharakter vergangener Diktaturen, bei dem es für viele Menschen evident sein konnte, „dass geltendes Recht in Wirklichkeit Unrecht war“, kommt der Papst auf die Orientierungsprobleme im Normalfall pluralistischer Politik zu sprechen: Aber bei den Entscheidungen eines demokratischen Politikers ist die Frage, was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche, was wahrhaft recht sei und Gesetz werden könne, nicht ebenso evident. Was in Bezug auf die grundlegenden anthropologischen Fragen das Rechte ist und geltendes Recht werden kann, liegt heute keineswegs einfach zutage. Die Frage, wie man das wahrhaft Rechte erkennen und so der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung dienen kann, war nie einfach zu beantworten, und sie ist heute in der Fülle unseres Wissens und unseres Könnens noch sehr viel schwieriger geworden.
Wie erkennt man dann vielleicht trotzdem, was recht ist? Hier geht der Papst zu einem dritten Kontext über: Religion habe im Lauf der Geschichte meist angegeben, was „wirkliches Recht“ sei. Doch eben diesen Weg, allein auf den Glauben zu bauen und eine „Rechtsordnung aus Offenbarung“ abzuleiten, sei das Christentum nie gegangen. Also wird, nachdem „Religion pur“ als ein dritter Kontext versuchsweise herangezogen und dann gleich wieder abgetan wird, ein vierter Kontext entfaltet: Natur und Vernunft wären die verlässlichsten Rechtsquellen. Bereits die frühen christlichen Theologen hätten sich der Verbindung zwischen stoischer Naturrechtsphilosophie und römischer Rechtslehre angeschlossen. Und gleich schon ist der Papst beim fünften und für ihn äußersten Kontext: bei der schöpferischen Vernunft Gottes, in der ihrerseits Natur und Vernunft gründeten, weshalb gerade ein Gläubiger sich auf Natur und Vernunft als Lehrmeisterinnen verlassen könne. Für Benedikt XVI. kann genau hier der hermeneutische Transzendierungsprozess abgeschlossen werden: Gott garantiert, dass man in Natur und Vernunft – letztere, wie die Evolutionäre Erkenntnistheorie als wichtiger Zweig moderner
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Evolutionsforschung lehrt, ihrerseits eine Hervorbringung der Natur16 – die wirklich verlässlichen Quellen des Rechts finden kann. Wer, anders als der Papst, gerade nicht an die Existenz und Schöpferrolle Gottes glaubt, sehr wohl aber an die Existenz der Natur und an deren Evolution, nämlich von der Basis anorganischer Materie über das Reich des Lebens bis hin zur Welt der Kultur, der beendet sein Transzendieren des politischen Hier-und-Jetzt dann eben dort, wo im Kontext allein von Natur und Vernunft über Recht und Gerechtigkeit zu streiten ist. Deus sive natura – beides geht. Mit keiner Silbe stellt Benedikt das Erreichen dieses – in seiner Sicht: bloß vorletzten – Horizonts beim Nachdenken über die Grundlagen des Rechts als unzulänglich hin. Überhaupt vermeidet es der Papst umsichtig, zu seinem eigenen letzten Horizont – nämlich Gott – auch die Zuhörer zu ziehen. Das Christentum tritt vielmehr – so des Papstes geistesgeschichtliche Skizze – der von stoischer Philosophie und römischer Rechtslehre geprägten Entwicklung hin zur abendländischen Rechtskultur einfach bei, ihr aber gerade nicht in den Weg. Also erscheint die grundgesetzliche Formel von den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ nicht als späte Frucht der Christianisierung barbarischer Germanen, sondern als Abschluss eines längst vor dem Christentum einsetzenden Siegeszugs philosophischer und juristischer Vernunft. Wer es also mehr mit der Vernunft als mit dem Glauben halten will, der findet genau hier gute Gründe für seine Vermutung, die Durchsetzung materieller Rechtsstaatlichkeit sei bereits die nicht mehr übersteigbare Antwort auf die Frage nach den Quellen des Rechts. Wer es hingegen lieber mit dem Glauben hält als mit der Vernunft, der bekommt vom Papst den ausdrücklichen Hinweis, christliche Theologen hätten sich gerade gegen das ansonsten „vom Götterglauben geforderte religiöse Recht“ gestellt, nämlich auf die Seite der Philosophen, also der Wissenschaft. Und dass dies nicht nur eine historisch zwar folgenreiche, doch letztlich kontingente Theologenentscheidung war, sondern authentische apostolische Lehre sei, das belegt Benedikt gleich anschließend mit jener berühmten Paulus-Stelle, wonach auch den Nichtchristen „die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben“ sei, wovon ihr Gewissen Zeugnis ablege (Röm 2, 14f.).
16 Siehe hierzu Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie. Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2002.
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III.2 Naturrecht und Evolutionsbiologie Das kann man nun gewiss als eine nicht weiter bemerkenswerte Reverenz an die seit einigen Jahrzehnten als verstaubt geltende katholische Naturrechtslehre lesen, welche zu erwähnen – so der Papst – „man sich schon beinahe schämt“. Doch man kann hier auch eine Gelenkstelle zwischen moderner Evolutionsforschung, einer wirklich an die Fundamente gehenden Rechtsphilosophie sowie einer wissenschaftlich auf der Höhe ihrer Zeit argumentierenden Theologie erkennen. Unschwer ist auch zu sehen, dass Benedikt XVI. in diesem Zusammenhang die Dialektik zwischen uns vorgegebener und von uns aufrechterhaltener Unverfügbarkeit erörtert, also zwischen dem, worauf stabile Ordnung gegründet ist, und dem, was seinerseits auf stabile Ordnung gegründet werden kann. Der Bau dieser Gelenkstelle beginnt mit Benedikts Ablehnung der These, zwischen Sein und Sollen bestehe „ein unüberbrückbarer Graben“. Zwar würde der Papst der philosophisch bestens begründeten Position wohl nicht widersprechen, dass man mit keinerlei logischen Mitteln von Aussagen über das Sein zu Aussagen über das Sollen gelangen kann. Doch einen solchen Weg der Logik zu erkunden, ist gar nicht sein Anliegen. Er fragt vielmehr, ob denn nicht die Natur selbst uns Hinweise darauf geben könne, wie ein gelingendes Leben in ihr und mit ihr möglich wäre – und zwar nicht nur für einzelne Menschen, sondern für die gesamte Menschheit sowie auf Dauer. Die Luft für Diskussionen darüber habe uns allerdings ein positivistischer Naturbegriff entzogen, der die Natur rein objekthaft mit ihren funktionellen Zusammenhängen einem sie allein von außen beobachtenden Subjekt vor Augen stelle. Tatsächlich trennt diese Sichtweise die Natur scharf vom Forscher und von dessen Lebenssphäre. Erst in dieser aber geht es um Ethos und Recht, um die Grundlagen und Durchführungsmittel menschlichen Gemeinsinns. Diese eingebürgerte Entgegensetzung einer materiellen Welt der Natur und einer kulturellen Welt des Menschen lässt uns zwar die Natur als „Tatsachenwelt“ entlang der subjektivitätsbeschränkenden Methodik von Falsifikation und Verifikation erforschen. Doch die Kultur als „Wertewelt“ wirkt dann wie allein subjektiv erörterbar und fällt gleichsam aus dem Wirkungsbereich intersubjektiver wissenschaftlicher Vernunft heraus: Jeder solle innerhalb eines pragmatisch vorgegebenen Ordnungsrahmens eben nach eigener Fasson selig werden, weil sich mit wissenschaftlicher Vernunft ohnehin nichts über „richtige Regeln“ sagen lasse. Dann freilich geraten die Regeln des Zusammenlebens, wie aus anderen Reden des Papstes zu ergänzen wäre, in den Bannkreis von Subjektivismus, Dezisionismus und Relativismus, was die einen als Befreiung, die anderen als Problem empfinden. Jedenfalls sind, so der Papst, in diesem Fall sowohl die Natur als auch die
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Vernunft als die „klassischen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht außer Kraft gesetzt“. Nun meint Benedikt XVI. aber ausdrücklich nicht, man solle diese „positivistische Weltsicht“ aufgeben. Tatsächlich sei sie „ein großartiger Teil menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens“. Doch obwohl ganz unverzichtbar, wäre sie nur ein Teil jenes Ganzen, das es wiederzuerlangen gelte. Aber wie? Auch hier führt der Papst gerade nicht den Glauben als Korrektiv ins Feld, damit „die Vernunft wieder ihre Größe finden [kann], ohne ins Irrationale abzugleiten“. Erneut bleibt der Papst einen Schritt vor dem für ihn selbst letzten Kontext stehen und zieht niemanden weiter, als er auch ganz ohne Glauben gehen kann. Benedikt formuliert die Frage nach dem Zusammenhang von Sein und Sollen nämlich so: „Wie kann die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe, in ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung erscheinen?“ Er weist den Weg zu einer Antwort, indem er – sich umständlich gegen zweckvolle Missverständnisse wie anlässlich seiner Regensburger Rede absichernd – an das Aufkommen der Ökologiebewegung in den 1970er Jahren erinnert: an einen „Schrei nach frischer Luft“, getragen vom Empfinden, „dass irgend etwas in unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt. Dass Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern dass die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen“. Die Wendung von der „Würde der Erde“ ist offensichtlich eine Transzendenzformel von der Art der „Würde des Menschen“, die – so Art. 1,1 des Grundgesetzes – „zu achten und zu schützen“ Verpflichtung aller staatlichen Gewalt sei. Doch während mit der Würde des Menschen der äußerste Kontext einer materiellen Rechtsstaatlichkeit erreicht ist, die das Individuum in den Mittelpunkt ihres Denkens stellt, öffnet die Formel von der „Würde der Erde“ den nächsten Kontext, in dem das individualistische Rechtsdenken seinerseits den angemessenen Platz findet. Gemeint ist nämlich: Menschen sind nicht nur Beobachter und Gestalter, sondern eben auch ein Teil der Natur. Die aber hat ihre eigenen Regelkreisläufe, die nicht wir gemacht haben, sondern die uns vorgegeben, ja vielfach sogar im ganz technischen Wortsinn unverfügbar sind. Vorsichtig selbst dort Regelkreisläufe zu vermuten, wo wir sie noch nicht erkannt haben, mit unserer Vernunft erkannte Regelkreisläufe sorgfältig zu erklären, auch allein intuitiv verstandene Regelkreisläufe als den uns vorgegebenen Handlungsrahmen zu respektieren: Eben darin besteht die Achtung vor der „Würde der Erde“. Deren Würde zu beeinträchtigen, also die Natur zu schädigen, deren Teil wir doch sind: Das greift dann irgendwann auch die Würde des Menschen an, wie jeder Blick auf die Lebensverhältnisse in ökologisch ruinierten Regionen zeigt. Umgekehrt folgt man der „Weisung der Erde“ dort, wo man es unterlässt, erkannte Regelkreise zu stören, ja gar absichtlich gegen sie anzugehen. Stellt man sie hingegen unbeschädigt in den Dienst der eigenen Wohlfahrt, ja passt man vorab schon die eigenen Gestal-
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tungswünsche jenem Rahmen an, den die Natur zur Verfügung stellt, dann erfüllt man Benedikts Forderung: „Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten“. Das alles klingt zeitgeistig nach ökologischem Denken und nach einem Lob sanfter Technologie. Es ist auch zeitgeistig. Doch der Zeitgeist muss ja nicht immer irren. Ohnehin überholt Benedikt gleich im Folgesatz alle, die sich nur vom Zeitgeist tragen lassen wollen. Er besteht nämlich erneut darauf, dass die Natur nicht objekthaft vom Menschen getrennt sei, Ökologie also kein Thema allein des Umwelt- oder Naturschutzes ist. Vielmehr gilt: „Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann“ – zumindest dann nicht, wenn er für seine sozialen und politischen Ordnungsstrukturen Nachhaltigkeit, „sustainable development“, also wirklich aufrechterhaltbare Zustände anstrebt.
III.3 Ordnungsevolution und Evolutionstheologie Gerade beim Denken anhand des Begriffs der Nachhaltigkeit erkennt man nun die tatsächlich bestehende, nicht logisch, sondern allein empirisch nachweisbare Brücke vom Sein zum Sollen: nämlich durch den Nachvollzug von Regelkreisläufen, deren wiederholte Zyklen weder zum Systemzusammenbruch noch in evolutionäre Sackgassen führen. Wer als Teil solcher Regelkreisläufe jene Entwicklungen nicht ausrinnen lassen will, deren Zwischenglied er ist, oder wer jene Strukturen weitergeben will, die er während seiner Lebensspanne trägt, der kann also rein empirisch erkennen, was er wenigstens zu lassen, vielleicht aber auch zu tun hat, falls er sich ein solches Ziel setzt. Dass freilich eine Entscheidung nötig ist, Entwicklungen bzw. Zustände entweder aufrechtzuerhalten oder sich selbst zu überlassen, kennzeichnet gerade den Sonderfall des Menschen, vielleicht auch – gewiss abgestuft – die Lage der uns nahestehenden Primaten. Ausgestattet mit einem sehr leistungsfähigen Gehirn, haben wir nämlich zumindest die Empfindung eines freien Willens, und erst mit ihm – bzw. mit dessen Empfindung – entstand auch die Stresssituation des wissentlichen Anderskönnens, des lockenden Dürfens sowie eines Sollens, dessen Imperative je nach der Art von das Hier-und-Jetzt transzendierenden Kontexten variieren. Was von den konkurrierenden Sollensvorstellungen dann auf dem Weg staatlicher Gesetzgebung oder politischer Führung als allgemein verbindlich durchgesetzt wird, kann freilich ebenso in Rechtsnormen münden, die eine nachhaltige Ordnung auf Dauer stellen, wie in solche, die das gerade nicht leisten. Also hängt vieles davon ab, das „richtige Recht“ zu erkennen. Gleich zu Beginn seiner Rede war der Papst auf diese Herausforderung zu sprechen gekommen:
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In einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird diese Aufgabe besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen. Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht unterscheiden?
Leichter hat es da alles, was lebt, ohne menschlich oder menschenähnlich zu sein. Dort nämlich ist über das Zusammenwirken jener Variations- und Selektionsmechanismen, die den Genotyp und den – in Dawkins’ hilfreicher Wendung17 – „erweiterten Phänotyp“ von Lebewesen prägen, alles so eingerichtet, dass auch ganz ohne willentliches Zutun immer wieder beseitigt wird, was im Widerspruch zu seinen Grundlagen entsteht oder einer überlebenswichtigen Umwelt nicht länger angepasst ist. Hingegen kam mit der Entstehung reflektierender Selbstwahrnehmung die Möglichkeit des Sollens überhaupt erst in die Welt. In Gen 1, 3 fasst das die Bibel in die Geschichte, dass Eva und Adam – neugierig auf Wissen darum, was gut oder böse wäre – vom „Baum der Erkenntnis“ aßen und alsbald merkten, „dass sie nackt waren“. Im Wesentlichen empfanden sie wohl eine „Nacktheit der Vernunft“, nämlich jene Entscheidungsnot, die sich beim reflektierenden Wissen um Handlungsalternativen stets dann einstellt, wenn einem unklar ist, welches jener richtige, letzte, zum dauerhaft bestandsfähigen Ziel leitende Kontext wäre, in dem allein man das hier und jetzt zur Entscheidung Anstehende richtig begreifen kann. Am „Baum der Erkenntnis“ zum Wissen gelangt, dass sie nun selbst über ihre Handlungen entscheiden müssten und es keinerlei Garantie für die Richtigkeit ihrer Entscheidungen gäbe: Eben dadurch waren Adam und Eva „aus dem Paradies vertrieben“, nämlich dem verantwortungsfreien Zustand prä-reflektiver Existenz. Seither besitzt der Mensch das – in einer trefflichen Formulierung von Konrad Lorenz – so gern und so oft genutzte „Privileg, reinen Unsinn zu glauben oder zu tun“.18 Wie nun weiter, außer durch Versuch und riskanten Irrtum? Das Alte Testament erzählt ein Buch später, wie durch die Zehn Gebote das „richtige Recht“ in die Welt gekommen sei und einem „auserwählten Volk“ aus der Not des orientierungslosen Sollen-Könnens den Ausweg gewiesen habe. Evolutionstheoretisch würde man davon sprechen, dass – was auch die Textentstehung zeigt – bewährte Erfahrungsregeln reflexiv geworden sind und eine einprägsame sprachliche Form gefunden haben. Das Neue Testament bietet dann
17 Richard Dawkins, Der erweiterte Phänotyp: der lange Arm der Gene, Heidelberg 2010. 18 Zu dieser – später mehrfach wiederholten – Formulierung aus einer Wiener Vorlesung von Konrad Lorenz im Wintersemester 1976/1977 siehe Rupert Riedl, Biologie der Erkenntnis. Die stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft, Berlin/Hamburg 1979, S. 29f.
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die Fortsetzung und handelt vom Leben und der Lehre Jesu, der – nach eigenen Worten (Matthäus 5, 17) – jenes Recht („das Gesetz“) nicht aufgehoben, sondern vervollständigt („erfüllt“) habe, ja gar noch mit dem Auftrag, alle Völker dieses „richtige Recht“ zu lehren (Matthäus 28, 19–20). Evolutionstheoretisch würde man formulieren: Der auf „Gott“ als den „letzten Kontext“ abgestellten Leitidee der Gottesliebe, Kern des Alten Testaments (Deut 6, 5), wurde nicht nur – ein weiteres Kerngebot schon des Alten Testaments aufgreifend (Lev 19, 18) – die ungemein gemeinsinnsverstärkende Leitidee der Nächstenliebe unmittelbar zur Seite gestellt (Matthäus 22, 34–40), sondern obendrein noch, diese Leitidee radikalisierend, deren besondere Akzentuierung als Feindesliebe (Matthäus 5, 43–45). Gemeinsam geben beide Leitideen – Gottesliebe und Nächstenliebe – dann für alle Lebenslagen nachhaltig befolgbare Handlungsanleitungen und wurden, in dieser höchst plausiblen Kopplung, zur Grundlage der großen Attraktivität, raschen Ausbreitung und sozialkonstruktiven Verfestigung des Christentums. Bei einer theologischen Vorlesung würde der Papst wohl formuliert haben: Diese Gesamtlehre – konkretisiert zumal in der Bergpredigt (Matthäus 5–7) – gibt klare Hinweise darauf, wie sich in den Regelkreisläufen von Natur, Kultur und Politik aufrechterhaltbare Entwicklungen sowie dauerhaft bestandsfähige Strukturen schaffen lassen; und wer dieser Lehre wie einer technischen Betriebsanleitung folgt, der wird merken, dass sie funktioniert.19 Den aufrichtigen Wunsch nach Gelingen vorausgesetzt, ergibt sich gerade so aus dem richtig verstandenen Sein das Sollen. In dieser Weise zu argumentieren, der Vernunft also vom Glauben her aufzuhelfen, unterließ der Papst im Bundestag aus guten Gründen. Er führte sein Argument nur bis zu jener Grenze, an die ihm auch Atheisten folgen können: bis zur Beschaffenheit der Natur. Für deren Bereich zeigen tatsächlich die Disziplinen der Soziobiologie, der Evolutionspsychologie, der Evolutionären Ethik und der Evolutionären Spieltheorie immer plausibler, auf welche Weise das, was Menschen sogar ohne alle Anstrengung der Vernunft als gut empfinden, im Lauf der Evolution entstanden ist und sich von seinen nicht realisierten Alternativen gerade darin unterscheidet, dass es zu aufrechterhaltbaren Entwicklungen, zu
19 In Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Gott und die Welt. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Neuausgabe München 2005, S. 51f., nutzte der nachmalige Papst dafür die folgende Formulierung: „Die Wahrheit des Wortes Jesu ist nicht theoretisch abrufbar. Es ist wie bei einem technischen Lehrsatz: seine Richtigkeit zeigt sich erst im Ausprobieren. Die Wahrheit dessen, dass hier Gott spricht, bezieht den ganzen Menschen, das Experiment des Lebens mit ein. […] Und in diesem Experiment des Lebens wird tatsächlich erkennbar, wie das Leben richtig wird. Es wird nicht bequem, aber es wird richtig.“
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bestandsfähigen Strukturen führt.20 Sobald man sich nur konsequent den Menschen als Teil der Natur denkt, sich auf dessen Ökologie ebenso empirisch einlässt wie auf die Ökologie einer bedrohten Tierart oder des Regenwaldes, tritt genau diese rein empirische Brücke vom Sein zum Sollen vor Augen: Sein soll, was sich anschließend auch aufrechterhalten lässt. Wer also bei der Natur in die Schule geht und aus ihrer zu unserer Kultur führenden Geschichte lernt, was uns nachhaltig gut, was anderes uns aber schlecht tut, der begreift, auf welche Weise die Evolution wirklich – so die vom Papst zitierte Paulus-Stelle aus Röm 2, 14f. – jedem Menschen „die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben hat“. Bloß in anderer Sprache drückte dies der Papst so aus: Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich die wahre menschliche Freiheit.
Unschwer ließe sich von solchen Ansätzen her eine ganze „Theologie der Evolution“ entfalten, die das „verstaubte Naturrechtsdenken“ auf die Grundlage der avancierten „life sciences“ stellte.21
IV. Ausblick: Politiktheorie in der Papstrede Transzendenzdiskurse dienen, darauf laufen die Aussagen des Papstes hinaus, ganz wesentlich dazu, eine im konkreten Fall mit einiger Zuversicht beschreitbare Brücke zwischen dem Sein und dem Sollen anzuzeigen. Um nichts anderes
20 Siehe hierzu mit weiteren Verweisen Werner J. Patzelt, „Wissenschaft, die unsere Kultur verändert. Tiefenschichten des Streits um die Evolutionstheorie“, in: Dittmar Graf (Hg.), Evolutionstheorie – Akzeptanz und Vermittlung im europäischen Vergleich, Heidelberg u.a. 2011, S. 65–76. 21 Augenscheinlich geht es einer „Theologie der Evolution“ nicht um eine Verbindung der zwei biblischen Schöpfungsberichte mit naturgeschichtlichen Erkenntnissen, sondern darum, religiöse Aussagen und Theologumena im Licht der kultur- und sozialwissenschaftlich verallgemeinerten Evolutionstheorie (besser) zu verstehen. Zu letzterer siehe Jakob Lempp/ Werner J. Patzelt, „Allgemeine Evolutionstheorie. Quellen und bisherige Anwendungen“, in: Werner J. Patzelt (Hg.), Evolutorischer Institutionalismus. Theorie und empirische Studien zu Evolution, Institutionalität und Geschichtlichkeit, Würzburg 2007, S. 97–120, und Gerhard Schurz, Evolution in Natur und Kultur. Eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie, Heidelberg 2011.
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geht es ja beim Versuch, hier-und-jetzt Aufgegebenes möglichst richtig zu verstehen und sich jene Zusammenhänge vor Augen zu führen, die beim anstehenden Handeln unverfügbar sind oder wie unverfügbar behandelt werden sollten. Entscheidungswege zu bahnen und deren Richtungen zu rechtfertigen oder zu kritisieren: Das ist der ungemein praktische Wert von Diskursen um Transzendentes und um das Transzendieren. Tatsächlich birgt die Transzendenzformel von der „Würde der Erde“, und gar erst die von der „Ökologie des Menschen“, gewaltiges Kritikpotential und enorme politikprägende Potenz. Die letztere Formel steht obendrein quer zu den eingebürgerten weltanschaulichen, zumal parteipolitischen Fronten und weist auch insofern in die Zukunft, auf neue Politikallianzen voraus. Das zeigt schon ein kurzer Katalog der von solchem Denken angestoßenen Fragen. Wie nachhaltig kann wohl eine Gesellschaft sein, die wenig Lust auf Babies hat? Was alles kann beim Züchten von Menschen schiefgehen – und wie rückholbar wären unerwünschte Ergebnisse? Wie stark lassen sich Siedlungsstrukturen verdichten, wie schnell die Rhythmen unseres Lebens machen, wie komplex unsere Finanz- und Wirtschaftsstrukturen ausgestalten, ohne zu jener natürlichen emotionalen und kognitiven Ausstattung unserer Spezies in Widerspruch zu geraten, die im Lauf der Evolution unserer Natur entstanden ist, also angepasst ist an die Jahrhunderttausende vor des Menschen Übergang zur Sesshaftigkeit sowie zum Leben in komplexen Hochkulturen? Und einen wie großen „ökologischen Fußabdruck“ des Menschen, also einen wie großen individuellen Energie- und Ressourcenverbrauch, erträgt überhaupt unser Planet bei welcher Bevölkerungszahl? Antworten auf diese Fragen braucht, wer wissen will, welche für unser Leben und Überleben wichtige Politik gut, welche andere aber schlecht ist. Sie braucht erst recht, wer möglichst gute Politik mit möglichst wirksamen Gesetzen ausstatten will. Und erst recht zu wünschen sind tragfähige Antworten auf diese Fragen allen, die – gezogen von Utopie oder getrieben von Voluntarismus – eine Gesellschaft und ihre politische Ordnung über unvernünftige, ungerechte Grenzen hinausführen wollen und dabei im Blick haben sollten, welche Grenzen es zu achten gilt, wenn man nicht in Gefahr geraten will, vieles von dem zu verlieren, was vor einem waghalsigen Politikabenteuer schon einmal errungen war. Hat der Papst also eine unpolitische Rede gehalten, die eher in einen Hörsaal als in ein Parlament gehört? Seine Antwort: Wenn in unserem Umgang mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmt, dann müssen wir alle ernstlich über das Ganze nachdenken und sind alle auf die Frage nach den Grundlagen unserer Kultur überhaupt verwiesen.
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Kaum einer wird heute behaupten, unser Umgang mit der Wirklichkeit wäre rundum in Ordnung. Also haben wir fragend und antwortend zu übersteigen, was hier und jetzt ist oder wird. Wir brauchen deshalb wieder eine Kritische Theorie, gegründet auf Vernunft und bewegt von jenem auf die Natur „hörenden Herz“, das sich – dreimal in des Papstes Rede erwähnt – einst der junge König Salomon erbat (1 Kön 3,9). Dass unsere europäische Kultur, hierauf auch noch stolz, den Kompass für solch übersteigendes Suchen nach verlässlichen Erkenntnisquellen für Ethos und Recht verloren bzw. verloren gegeben habe, nennt Benedikt XVI. „eine dramatische Situation, die alle angeht und über die eine öffentliche Diskussion notwendig ist, zu der dringend einzuladen eine wesentliche Absicht dieser Rede ist“. Einladung angenommen.
Karl Lenz, Sylka Scholz
Das idealisierte Kind Eltern-Kind-Beziehungen in populären Erziehungsratgebern
I. Einleitung: Zur kulturellen Fundierung von privaten Lebensformen Die 1950er Jahre gelten als das ‚goldene Zeitalter‘ der Ehe und der Familie, denn das bürgerliche Familienmodell setzte sich erstmalig in seiner knapp zweihundertjährigen Geschichte in allen sozialen Milieus durch. Grundelemente dieses Modells bilden die klare Grenzziehung zur Außenwelt und die Festlegung der Gemeinschaft auf Vater, Mutter und (leibliche) Kinder als die ‚eigentliche‘ Familie, die Trennung von Produktion und Reproduktion und die Verweisung dieser Lebensbereiche in die alleinige Zuständigkeit eines Geschlechts, die strukturelle Koppelung von Ehe und Familie sowie die starke Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehung.1 Dieses ‚goldene Zeitalter‘ von Ehe und Familie war in Westdeutschland – Ostdeutschland ging einen anderen Weg – mit einem Wiedererstarken religiöser Legitimationsmuster verbunden. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und den politischen, ökonomischen und sozialen Verwerfungen der Nachkriegszeit wurde die Familie wieder in eine christliche Schöpferordnung, sei sie protestantischer oder katholischer Provenienz, eingebunden. So heißt es in dem zeitgenössischen populären Eheratgeber „Die gute Ehe“: „Die Ehe ist weit mehr als die Erfüllung gegenseitiger Liebe dieser beiden Menschen. Sie ist ein Amt, das Gott den Menschen gegeben hat, das sie würdig verwalten sollen […].“2 Kinder gelten als „hohes Glück, Freude und Segen“3 des Ehepaares. Die Eltern-Kind-Beziehung ist in den 1950er Jahren vor allem eine Mutter-Kind-Beziehung, die ihre besondere Gestalt und Stabilität durch die Mutterliebe gewinnt. Diese Mutterliebe gilt ähnlich wie die Ehe als eine Gabe Gottes, sie ist ein „Meisterwerk der Schöpfung“4 heißt es in dem Erziehungsratgeber
1 Vgl. Dieter Schwab, Artikel „Familie“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2., Stuttgart 1975, S. 253–301 und Reinhard Sieder, Geschichte der Familie, Frankfurt a.M. 1985. 2 Gertrud Oheim et al., Die gute Ehe. Ein Ratgeber für Mann und Frau, Gütersloh 1959, S. 106. 3 Oheim, Ehe (wie Anm. 2), S. 260. 4 Heinz Graupner, Der Elternratgeber. Ein Schlüssel zur Kinderwelt, Berlin/Darmstadt 1955, S. 21.
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„Das Elternbuch. Ein Schlüssel zur Kinderwelt“. Zugleich wird die Mutterliebe als ein Produkt der Natur aufgefasst, denn „schon vom Mutterleibe an“5 sei das kleine Mädchen biologisch entsprechend ausgestattet, wenn man es „in Bubenhosen stecken würde, so bleibt es in seinem Verhalten doch ein Mädchen und wird lieber auf die Dauer seine kleinen Muttergefühle an seine Puppen verschwenden, als Indianer spielen“.6 Diese Naturalisierung der Geschlechterrollen ist ein wiederkehrendes Element in den Ratgebern der 1950er Jahre.7 Die Mutter-Kind-Dyade wird darin als eine nicht weiter begründbare Gegebenheit und Selbstverständlichkeit konstruiert; sie ist damit – in unseren Worten – unverfügbar gestellt. Diese Unverfügbarkeitskonstruktion kann sich, wie diese Zitate verdeutlichen, auf die christliche Schöpfungsordnung ebenso stützen wie auf eine anthropologisch fundierte Naturkonzeption, die – wie von Thomas Laqueur8 und Claudia Honegger9 ausführlich beschrieben – im Zuge der Aufklärung und der anschließenden Verwissenschaftlichung entstand. Der ‚christliche Schöpfergott‘ und ‚die Natur‘, in aller Vielschichtigkeit der dahinter steckenden Konzepte,10 sind in den 1950er Jahren die zentralen Legitimationsmuster, welche die ElternKind-Beziehung auf Dauer stellen. Seit den 1950er Jahren sind Familien in vielfältiger Hinsicht einem Wandel unterworfen. Die Familiengröße hat abgenommen. In den meisten Familien leben ein oder zwei Kinder. In Ostdeutschland wird die große Mehrzahl der Kinder nicht ehelich geboren. Immer häufiger kommt es vor – im Osten öfter als im Westen –, dass Kinder nicht von Geburt an bis zum Zeitpunkt ihres Erwachsenwerdens im Haushalt ihrer beiden leiblichen Eltern leben. Überwiegend wird dies durch die wachsende Instabilität von Paarbeziehungen hervorgerufen. Daraus resultiert eine Pluralisierung familialer Lebensformen. Neben ehelichen
5 Graupner, Elternratgeber (wie Anm. 4), S. 105. 6 Graupner, Elternratgeber (wie Anm. 4), S. 105. 7 Vgl. Sylka Scholz, „‚Ich bekenne mich zu dieser Hommage an die gute alte Ehe‘. Die Liebessemantik in Ehe- und Beziehungsratgebern von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart“, in: Takemitsu Morikawa (Hg.), Die Welt der Liebe. Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität, Bielefeld 2013 (im Druck). 8 Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a.M./New York 1992. 9 Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850, Frankfurt a.M. 1991. 10 Vgl. zu den Naturkonzeptionen Katrin Pittius/Sylka Scholz, „Von Natur aus ungleich? – Der Diskurs um das Gleichberechtigungsgesetz in der Bundesrepublik Deutschland“, in: Stephan Dreischer et al. (Hg.), Jenseits der Geltung. Konkurrierende Transzendenzbehauptungen von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2013, S. 388–405.
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und nichtehelichen Familien existieren eine Reihe weiterer Familienformen: EinElter-Familien, deren Ausmaß aufgrund der Haushaltsfixierungen der Familienstatistik und Familienforschung bei Weitem überschätzt wird; binukleare Familien, die in ihren Wohn- und Besuchsregelungen der Kinder im anderen Haushalt eine große Vielfalt aufweisen, eheliche und nichteheliche Stieffamilien sowie sogenannte Patchwork-Familien, bei denen ein Paar mit eigenen und fremden Kindern zusammenlebt.11 Der Pluralisierung familialer Lebensformen wird inzwischen in der Familienforschung auch durch eine Ausweitung des Familienbegriffs Rechnung getragen. An die Stelle eines auf Ehe, Haushalt und biologische Abstammung basierenden Familienbegriffs ist mittlerweile ein Grundverständnis von Familie getreten, das das Vorhandensein einer Generationendifferenz und die Übernahme von einer oder zwei Elter(n)rollen12 und von Kind(er)rollen als konstitutiv auffasst.13 Stark verändert hat sich der Umgang der Eltern mit ihren Kindern. An die Stelle der in den 1950er Jahren dominanten Erwachsenenzentrierung in den familialen Interaktionen ist eine Kindzentrierung getreten. Damit eng verknüpft ist ein Wandel der Erziehungsleitbilder: Die Selbstverwirklichung des Kindes hat Anpassung und Gehorsam als Erziehungsideale abgelöst.14 Parallel dazu hat sich auch das Erziehungsverhalten verändert; körperliche Strafen haben gegenüber kommunikativen Praktiken deutlich an Bedeutung verloren. Gleichsam gebündelt werden diese Befunde in der These des Übergangs vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt dargestellt, die in länderübergreifenden Vergleichsstudien
11 Vgl. Rüdiger Peukert, Familienformen im sozialen Wandel, Wiesbaden 2008. 12 Unsere Sprache kennt nur die Pluralform ‚Eltern‘ ohne einen dazugehörigen Singular. Eine über den bürgerlichen Familienbegriff transportierte Vorstellung der Eltern als Einheit von zwei Personen scheint zu dieser Verengung geführt bzw. diese begünstigt zu haben. Die ältere Sprache kannte noch die Singularform Elter. Der Wandel familialer Lebensformen macht es aber notwendig, die Singularform Elter in die Familienforschung wieder einzuführen (vgl. auch Christine E. Clason, „Die Einelternfamilie oder die Einelterfamilie?“, in: Rosemarie Nave-Herz/ Manfred Markefka (Hg.), Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Neuwied/Frankfurt a.M. 1989, S. 413–422 ; Laszlo A. Vaskovics, „Segmentierung der Elternrolle“, in: Günter Burkart (Hg.), Zukunft der Familie. Prognosen und Szenarien. Sonderheft 6 der Zeitschrift für Familienforschung, Opladen/Farmington Hills 2009, S. 269–296). 13 Vgl. Karl Lenz/Martina Adler, Geschlechterbeziehungen. Einführung in die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung, Bd. 2, Weinheim 2011. 14 Vgl. Karl-Heinz Reuband, „Aushandeln statt Gehorsam. Erziehungsziele und Erziehungspraktiken in den alten und neuen Bundesländern im Wandel“, in: Lothar Böhnisch/ Karl Lenz (Hg.), Familien. Eine interdisziplinäre Einführung, Weinheim 1999, S. 129–154.
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empirisch überprüft und differenziert wurden.15 Beim Befehlshaushalt wird die Generationenbeziehung durch verbindlich vorgegebene Regeln geprägt, erwartet wird Unterordnung und Gehorsam, Verfehlungen werden mit Bestrafungen einschließlich physischer Gewalt, geahndet und die Eltern sind Respektpersonen. Im Verhandlungshaushalt ist die Machtbalance inzwischen zugunsten der Kinder verschoben. Sichtbar wird eine starke Informalisierung im Miteinander der Generationen; die starren Hierarchien zwischen Jung und Alt sind abgebaut, Möglichkeiten für Aushandlungsprozesse werden geschaffen und die Umgangsformen sind entkrampft. Damit wird Raum für eine alltagspraktische Verselbstständigung des Kindes und eine zunehmende Entflechtung von Familienzeit und Eigenzeit des Kindes hergestellt. Aus den Eltern als Respektpersonen werden – im positiven Falle – Vertrauenspersonen.16 Verschiebungen zugunsten der Kinder zeigen sich inzwischen auch im Recht. Das ‚Kindeswohl‘ ist in der Rechtssetzung mittlerweile zu einer zentralen Begründungskategorie aufgestiegen17 und tritt dabei durchaus in Konkurrenz zum Elternrecht. Das ‚Wohl des Kindes‘ gilt als Richtschnur für Eingriffe in die elterliche Sorge und für Familiengerichtsentscheidungen. Ebenso für die Einführung des gemeinsamen Sorgerechts im Falle einer Scheidung war das Kindeswohl ausschlaggebend,18 wodurch das Recht des Kindes auf Vater und Mutter gesichert werden sollte. Wie aber wird die Stabilität der Eltern-Kind-Beziehung in Zeiten pluralisierter Lebensformen kulturell abgesichert? Diese Frage stellt sich umso mehr, als dass die Familienordnung als Fundament der gesellschaftlichen Ordnung gilt, wie aktuelle Debatten um den ‚Verfall der Familie‘ belegen. Während der Wandel der Familien seit der frühen Nachkriegszeit demografisch und auch sozialstrukturell ausführlich beschrieben ist,19 hat die kulturelle Fundierung der Lebensformen in
15 Vgl. Manuela du Bois-Reymond et al., Kinderleben. Modernisierung von Kindheit im interkulturellen Vergleich, Opladen 1994 oder Peter Büchner et al., Teenie-Welten. Aufwachsen in drei europäischen Regionen, Opladen 1998. 16 Vgl. Jutta Ecarius, Artikel „Familienerziehung“, in: Jutta Ecarius (Hg.), Handbuch Familie, Opladen 2007, S. 137–156. 17 Vgl. Marlene Stein-Hilbers, Wem ‚gehört‘ das Kind? Neue Familienstrukturen und veränderte Eltern-Kind-Beziehungen, Frankfurt a.M./New York 1994 und Petra Bauer/Christine Wiezorek, „Zwischen Elternrecht und Kindeswohl“, in: Jutta Ecarius (Hg.), Handbuch Familie, Opladen 2007, S. 614–636. 18 Dagmar Kaiser, „Elternwille und Kindeswohl – für das gemeinsame Sorgerecht geschiedener Eltern“, in: Familie, Partnerschaft, Recht 9 (2003), S. 573–578. 19 Johannes Huinink/Dirk Konietzka, Familiensoziologie: eine Einführung, Frankfurt a.M. 2007.
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der Familienforschung kaum Aufmerksamkeit erfahren. Dieser Aufsatz möchte dazu beitragen, dieses Forschungsdesiderat abzubauen. Welche Legitimationsmuster finden sich in den aktuellen Diskursen über die Familie? Bestehen die Legitimantionsmuster der 1950er Jahre trotz aller Wandlungstendenzen fort? Gibt es neue Unverfügbarkeitskonstruktionen? Diesen Fragen möchten wir anhand einer Analyse von populären Erziehungsratgebern nachgehen, die ab der Jahrtausendwende erschienen sind.
II. Genre als Ratgeber und Anlage der Untersuchung Unter Erziehungsratgebern werden Sachbücher verstanden, „in denen Fragen der Kindererziehung und -pflege behandelt werden. Sie sind direkt an Eltern bzw. Mütter oder Väter gerichtet.“20 Erziehungsratgeber erfreuen sich einer starken Verbreitung. Auch wenn keine konkreten Verkaufszahlen vorliegen, wird das dadurch unterstrichen, dass der gesamte Ratgeberbereich seit Mitte der 1990er nach der Belletristik mit Anteilen zwischen 16 bis 20 Prozent das zweitgrößte Segment des Buchmarktes bildet.21 Erziehungsratgeber liefern keine Beschreibung der sozialen Praxis der Erziehung in den Familien; das können und wollen sie auch nicht. Reichhaltige Materialien liefern sie allerdings hinsichtlich der zeittypischen Verhaltensstandards und Normalitätsentwürfe. Erziehungsratgeber sind mit der Absicht geschrieben, die Eltern zu belehren oder zumindest in den alltäglichen Erziehungsaufgaben anzuregen und zu unterstützen. Ihre Absicht ist es, die Erziehung zu verbessern bzw. gar zu perfektionieren. Sie beruhen dabei immer auf einer Problemdefinition, in der sie aufzeigen, welche offenen Fragen und Schwierigkeiten die Eltern in der Gegenwart im Erziehungshandeln haben. Zugleich bietet jeder Ratgeber für die von ihm diagnostizierten Probleme auch Lösungen an. Dabei handelt es sich nicht um bloße ‚private Erfindungen‘ der Verfasser/innen, sondern das, was sie raten, ist vielfältig mit dem öffentlichen Diskurs über Elter(n)-Kind-Beziehungen rückgekoppelt. Die gegebenen Empfehlungen und Ratschläge werden durch das
20 Markus Höffer-Mehlmer, „Erziehungsratgeber“, in: Jutta Ecarius (Hg.), Handbuch Familie, Wiesbaden 2007, S. 669. 21 Timo Heimerdinger, „Der gelebte Konjunktiv. Zur Pragmatik von Ratgeberliteratur in alltagskultureller Perspektive“, in: Andy Hahnemann/David Oels (Hg.), Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2008, S. 97–108.
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Expertenwissen des Autors oder der Autorin gerechtfertigt, das sich wiederum aus unterschiedlichen Quellen speisen kann: aus Alltagserfahrungen, Berufswissen oder/und aus wissenschaftlichem Wissen.22 Nicht erst in der Gegenwart ist bei den in einem bestimmten Zeitraum publizierten Ratgebern von einer Bandbreite unterschiedlicher Positionen auszugehen. Weder die Ratgeber der 1950er Jahre noch die aktuellen Ratgeber stimmen darin überein, wie Kinder ‚richtig‘ zu erziehen sind. Unterschiedliche Konzepte stehen miteinander in Konkurrenz, dennoch ist es möglich zu bestimmen, was dominierende Positionen sind. Bei einem Vergleich über einen längeren Zeitraum hinweg kann nicht von unilinearen Entwicklungslinien ausgegangen werden; deren Fortkommen ist eher unwahrscheinlich. Wie schon Yvonne Schütze in ihrer Analyse zu Mutterliebe als normatives Muster aufgezeigt hat, lassen sich keine kontinuierlichen Verläufe finden, sondern eher paradigmatische Sprünge.23 Dies schließt nicht aus, dass gängige Argumentationsmuster aus den Erziehungsratgebern verschwinden und neue Muster auftauchen. Als ein Beispiel für ein Argumentationsmuster, das verschwunden ist, kann die Anwendung von körperlicher Gewalt als Erziehungsmittel dienen. Während in Erziehungsratgebern der 1950er Jahre dieser Topos durchaus noch vorgekommen ist, sind sich die Ratgeber heute darin einig, dass körperliche Strafen kein geeignetes Mittel sind, um Kinder zu erziehen. Im Rahmen unseres Teilprojekts wurde ein Korpus von knapp 250 Erziehungsratgebern von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart aus Ost- und Westdeutschland erfasst. Aus diesem Sample wurden mit Hilfe von Auflagenzahlen und verschiedenen Verkaufslisten Long- und Bestseller ausgewählt; der Publikumserfolg gilt als das entscheidende Auswahlkriterium. Aus der Fülle der vorliegender Ratgeberanalysen24 sollen in diesem Beitrag vor allem drei aktuelle Ratgeber herausgegriffen werden, die für die Fragestellung jeweils spezifische Elter(n)-Kind-
22 Markus Höffer-Mehlmer, Elternratgeber. Zur Geschichte des Genres, Baltmannsweiler 2003. 23 Yvonne Schütze, Die gute Mutter: zur Geschichte des normativen Musters „Mutterliebe“, Bielefeld 1986. 24 Ein Großteil der ausgesprochen umfangreichen Ratgeberanalysen wurde von Studentinnen im Rahmen eines einjährigen Forschungsprojektes im Wintersemester 2010/11 und Sommersemester 2011 durchgeführt. Insbesondere seien an dieser Stelle Elisa Hidasi, Franziska Jodeit, Helena Krawtschuk und Katharina Tampe genannt. Auch liegen, von Stefanie Bewilogua (2012) und Sabine Mallschützke (2012) verfasst, zwei Diplomarbeiten vor, deren Materialgrundlage weitere Ratgeberanalysen bilden. Ergebnisse und wichtige Anregungen aus den Diplom- und Forschungsberichten sind an verschiedenen Stellen in diesen Artikel eingeflossen; dafür möchten wir uns bei den genannten Studentinnen und Diplomandinnen ausdrücklich bedanken.
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Konstellationen repräsentieren: (1) Der Ratgeber des Erziehungswissenschaftlers und Familienberaters Jan-Uwe Rogge „Der große Erziehungsberater“ wendet sich vorrangig an die ‚normale‘, vollständige Familie. Das Buch erscheint seit 2003 in fortlaufenden Auflagen. (2) Der Ratgeber des Schweizer Professors für Kinderheilkunde Remo H. Largo und der Journalistin Monika Czernin „Glückliche Scheidungskinder. Trennung und wie Kinder damit fertig werden“ wendet sich an getrennt lebende Eltern und erscheint seit 2004. Largo ist vor allem durch seinen Longseller „Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren“ bekannt, der seit 1993 immer wieder aufgelegt wird. (3) Neben dieser Pluralisierung der Ratgeber im Hinblick auf verschiedene Lebensformen ist eine weitere Differenzierung zu konstatieren: Seit den 2000er Jahren erscheinen vermehrt Ratgeber, die sich an den Vater wenden, man kann von einem regelrechten Boom sprechen. Ausgewählt wurde von dem etablierten dänischen Ratgeberautor Jesper Juul das aktuelle Buch „Mann und Vater sein“, es erscheint seit 2011. Diese Ratgeber werden aus der Forschungsperspektive einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse untersucht. Als Vergleichsfolie dienen Analysen von Erziehungsratgebern aus den 1950er Jahren, über einen solchen ‚maximalen Fallvergleich‘ kann der Wandel besonders gut erfasst werden. Auf eine Wiedergabe der konkreten Analyseschritte soll an dieser Stelle verzichtet werden, da diese an anderer Stelle ausführlich beschrieben sind.25
III. Legitimationsmuster in Erziehungsratgebern Um ein zentrales Ergebnis gleich vorwegzunehmen, die aktuellen Ratgeber kommen ohne Rückgriffe auf die Religion als Stützkonstruktion aus. Nur noch als eine sinnentleerte Semantik tauchen religiös konnotierte Begriffe auf, wenn etwa Kinder als „Himmelsgeschenke“26 bezeichnet werden. Heißt dieser Verzicht auf religiöse Legitimationsmuster zugleich auch, dass Transzendenzkonstruktionen aus den Ratgebern verschwunden sind? Wir werden uns dieser Frage nähern, indem wir ausgehend von den Problemdefinitionen der Ratgeber die dargestellte Elter(n)-Kind-Beziehung aus der Perspektive der Erwachsenen und anschließend aus der der Kinder rekonstruieren. Dabei gilt unsere Aufmerksamkeit vor allem
25 Vgl. Scholz, „Hommage“ (wie Anm. 7) und Sylka Scholz/Karl Lenz/Sabine Dreßler (Hg.), In Liebe verbunden. Zweierbeziehung und Elternschaft in populären Ratgebern von den 1950ern bis heute, Bielefeld 2013 (im Druck). 26 Remo H. Largo/Monika Czernin, Glückliche Scheidungskinder. Trennungen und wie Kinder damit fertig werden, München 2011, S. 31.
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den der Diskursoffenheit und vielfach konstatierten Kontingenz entzogenen Setzungen, also dem, was im Kontext der Ratgeber als nicht hinterfragbare Gewissheiten und verbürgte Verbindlichkeiten aufgefasst wird.
III.1 Problemdefinitionen und Lösungsangebote der untersuchten Ratgeber Die aktuellen Erziehungsratgeber zeichnen sich durch eine hohe Pluralität aus; für die ‚richtige‘ Erziehung wird von den Autor/innen eine große Spannweite von Vorschlägen offeriert. Diese Pluralität bezieht sich jedoch nur auf die Lösungsvorschläge, nicht aber auf die zugrundeliegende Problemanalyse. Hier konvergieren die Erziehungsratgeber überraschend stark: Weitgehend übereinstimmend konstatieren sie eine hohe Verunsicherung der Eltern. Dies trifft für die drei hier im Zentrum der Analyse stehenden Ratgeber zu und verbindet diese mit der Mehrzahl aktueller Ratgeber.27 Die hohe Verunsicherung der Eltern kann dabei erstens als ein Grundphänomen der Gegenwart aufgefasst werden, bedingt durch einen Verlust an Verbindlichkeit oder/und Anstieg der Anforderungen im Umgang mit Kindern. Es können zweitens auch besondere Herausforderungen sein, wie zum Beispiel die Trennung eines Paares oder ein behindertes Kind, wodurch die Verunsicherung erzeugt wird. Eine dritte Gruppe von Verunsicherungen erwächst aus dem Wandel der Geschlechterordnung und dem Brüchigwerden einer traditionellen Arbeitsteilung, bei der die Erziehung als primäre Zuständigkeit der Mutter aufgefasst wurde. Die drei Ratgeber sind jeweils exemplarisch für eine dieser drei Quellen von Verunsicherungen. In „Der große Erziehungsberater“ führt Jan-Uwe Rogge die überwältigende Anzahl von Ratgebern als Beleg für die Verunsicherung der Eltern an: „Wer sich einmal den Berg an Ratgebern ansieht, die jedes Jahr erscheinen und die mit ihren Titeln den Vätern und Müttern alltägliches Glück und vollkommene Erziehung versprechen, der hat eine Ahnung davon, wie schwer man sich in der Erziehung tut.“28 Auch wenn äußere Zwänge nicht geleugnet werden, schaffen die Eltern diese Verunsicherung und die Erziehungsprobleme selbst durch das permanente Streben nach Perfektionismus. „Der Perfektionismus lässt die Illusion entstehen, jedes Erziehungsproblem sei sofort lösbar, wenn man nur genügend wisse. Die Eltern setzen sich selbst unter Erfolgszwang – und damit ihre Kinder.
27 Vgl. auch Michaela Schmid, Erziehungsratgeber und Erziehungswissenschaft. Zur TheoriePraxis-Problematik populärpädagogischer Schriften, Bad Heilbrunn 2010. 28 Jan-Uwe Rogge, Der große Erziehungsberater, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 9.
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Jeder, jede und jedes haben reibungslos zu funktionieren.“29 Entgegen der gängigen Praxis und dem, was Ratgeber vermitteln – um sich davon abzusetzen, nennt der Autor sein Buch „Erziehungsberater“ – plädiert Rogge für eine „Leichtigkeit in der Erziehung“ und den „Mut zur Unvollkommenheit“.30 Für Remo H. Largo und Monika Czernin ergibt sich die Verunsicherung der Eltern aus der Trennungsanfälligkeit der Paarbeziehung. Überhaupt nicht thematisiert wird in diesem Ratgeber die Frage, ob man eine Trennung dem Kind zumuten kann oder ob es nicht besser sei, trotz massiver Beziehungsprobleme in der Paarbeziehung ‚wegen des Kindes (der Kinder)‘ zusammenzubleiben. Dass Paarbeziehungen zerbrechen (können), wird als ein unabwendbares Ereignis vorausgesetzt, mit dem auch die Autor/innen selbst bereits konfrontiert waren. Trotz dieser starken Normalisierung einer Trennung stellt sich für die Eltern dennoch die Frage, „wie Kinder damit fertig werden“ – so der Untertitel des Buches. Mit ihrem Ratgeber wollen Largo und Czernin die betroffenen Eltern davon überzeugen, dass nicht nur eine Schadensbegrenzung möglich sei, sondern das Wohlergehen der Kinder durch eine Trennung überhaupt nicht beeinträchtigt werden müsse. Sie wollen „einen befreienden, gleichzeitig aber verantwortungsbewussten Weg beschreiben, wie mit den Auswirkungen von Trennung und Scheidung besser umgegangen werden kann.“31 Wenn die Eltern sich bei und nach einer Trennung ‚richtig‘ dem Kind gegenüber verhielten, dann stehe dem Glück der Kinder weiterhin nichts im Wege. Nicht die Lebensformen seien relevant für das Glück der Kinder, sondern ausschließlich die „Qualität“32 der Beziehung. Notwendig sei dafür, dass weiterhin die Grundbedürfnisse der Kinder erfüllt und sie vor negativen Gefühlen geschützt würden. Damit werden zwar hohe Anforderungen an sich trennende Eltern gestellt, zugleich aber werden sie von (drohenden) Schuldgefühlen entlastet, dass sie auf Kosten ihrer Kinder ihren eigenen Gefühlen und Wünschen folgen. Für Jesper Juul, dem aus Dänemark stammenden Bestsellerautor, ist es die Verunsicherung aufseiten der Väter, die sich anders als ihre eigenen Väter nicht mehr auf die bloße Ernährerrolle zurückziehen, sondern an der Erziehung ihres Kindes aktiv beteiligen wollen. Ihre große Verunsicherung ergebe sich dadurch, dass sie sich dabei nicht auf das Vorbild ihrer Väter stützen könnten, da diese an der „emotionalen Infrastruktur der Familie kaum beteiligt“33 gewesen seien.
29 Rogge, Erziehungsberater (wie Anm. 28), S. 233. 30 Rogge, Erziehungsberater (wie Anm. 28), S. 9. 31 Largo/Czernin, Scheidungskinder (wie Anm. 26), S. 11. 32 Largo/Czernin, Scheidungskinder (wie Anm. 26), S. 13. 33 Jesper Juul, Mann & Vater sein, Freiburg 2011, S. 7.
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Sie könnten die Erziehung ihres Kindes aber auch nicht von ihren Partnerinnen lernen, da Männer und Frauen „völlig verschieden sind: Männer und Frauen denken unterschiedlich, sprechen verschiedene Sprachen und haben unterschiedliche Werte.“34 Kinder bräuchten Väter und Mütter, die sich aufgrund ihrer Wesensunterschiede und daran geknüpften Fähigkeiten und Kompetenzen gegenseitig nicht ersetzen könnten. Gezeigt werden soll in diesem Ratgeber, wie Männer ohne väterliche Vorbilder und ohne dass sie Frauen „kopieren“,35 einen eigenen Part als Vater im Umgang mit ihren Kindern übernehmen können. Dieser Erziehungsratgeber entpuppt sich zugleich als Beziehungsratgeber, nicht nur wird von einer bipolaren Geschlechterordnung ausgegangen, stark akzentuiert wird auch die Konkurrenz zwischen den Geschlechtern. Die fortlaufenden Erziehungsfehler der Mütter werden kritisiert, die Männer als aktive Väter sind aufgefordert, permanente Dominanzversuche der Mütter in der Erziehung abzuwehren und ihre Position als Führungsperson in der Familie (wieder-)einzunehmen. Im Vergleich zu den Ratgebern der 1950er Jahre ist nicht die Problemorientierung das Neue, denn Erziehungsratgeber ‚brauchen‘ immer problembewusste Eltern. Nur dann, wenn Ratgeber auf Probleme bezogen sind und diese möglichst weitgehend mit ‚realen‘ Problemlagen korrespondieren, werden sie überhaupt gelesen. Ohne Probleme gibt es keinen Beratungsbedarf und auch keine Bereitschaft, einen Ratgeber zu kaufen und zu lesen. Was sich aber ereignet hat, ist eine Verschiebung der Problemlagen: In den Ratgebern der 1950er Jahre steht noch nicht die hohe Verunsicherung der Eltern im Vordergrund; stattdessen aber die Probleme in der Nachkriegszeit (Wohnungsnot, Sittenverfall etc.), wobei kaum eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erfolgt. Darüber hinaus erscheint eine Reihe von populären, nationalsozialistischen Ratgebern weiter, aus denen nur die stark ideologisierten Teile entfernt wurden. Alle Ratgeber setzen am den Müttern zugeschriebenen Unwissen bezüglich Säuglingspflege und Erziehung an und verstehen sich als Mütterschule.36
34 Juul, Mann (wie Anm. 33), S. 16. 35 Juul, Mann (wie Anm. 33), S. 39. 36 Vgl. Höffer-Mehlmer, „Erziehungsratgeber“ (wie Anm. 20) und Miriam Gebhardt, Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, München 2009.
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III.2 Elter(n)-Kind-Beziehung aus der Sicht der Erwachsenen Dass die Erziehung weiterhin eine primäre Aufgabe der Mütter ist, wird in allen drei Ratgebern deutlich, zumindest an den präsentierten Fallbeispielen. Allerdings finden sich keine Formulierungen, dass ein Kind vor allem die Mutter ‚brauche‘ oder nur eine Mutter diese Aufgabe erfüllen ‚könne‘ bzw. Garant für ein gutes Aufwachsen des Kindes sei. Der in den Fallbeispielen sichtbar werdende mütterliche Vorrang erweist sich als eine Wiedergabe der Zuständigkeitsregelungen in den heutigen Familien. Es fällt aber auf, dass diese Zuständigkeitsregelung keine normative Überhöhung mehr aufweist. Mit der weit in die Gegenwart reichenden Tradition, dass Erziehungsratgeber lange Zeit primär „Mütterratgeber“37 waren, wird gebrochen. Mehr noch, auch das in den Ratgebern der 1950er Jahre (und weit darüber hinaus) gängige Konstrukt der Mutterliebe als normatives Muster38 ist verschwunden. An die Stelle der Mutterliebe ist bei dem Ratgeber „Mann & Vater sein“ eine heftige Kritik am ‚Mutterchauvinismus‘ getreten. „Was ich Mutterchauvinismus nenne, rührt aus der tiefen Überzeugung einer Frau, dass sie als Mutter immer weiß, was am besten für ihr Kind ist.“39 Für Juul ist der Mutterchauvinismus „um keinen Deut besser […] als der männliche Chauvinismus“; er wird als „äußerst destruktiv eingestuft“.40 Kritisiert wird der Mutterchauvinismus, da dieser einem eigenständigen Zugang des Vaters zum Kind im Wege steht. Dass Mütter für Kinder wichtiger seien als Väter, wird als „alter Mythos“41 bezeichnet. Trotz der rigiden Geschlechterkonstruktion bei Juul wird die naturgegebene Nähe der Mutter zum Kind aufgelöst. Zwar habe die Mutter den „großen Vorteil“, ihr Kind „neun Monate in ihrem Körper zu beherbergen“, was sie mit einem „Radarsystem“42 für die Belange des Kindes ausstatte. Um dies zu kompensieren, müsse der Vater darauf bestehen, schon möglichst früh Zeit alleine mit dem Kind zu verbringen: „zum Beispiel nach dem Motto: ‚Pump and go!‘ Das heißt: Wenn dein Kind fünf oder sechs Monate alt ist, ermutige deine Frau, Muttermilch abzupumpen und dann mit ihren Freundinnen auszugehen […], während du mit dem Kind zu Hause bleibst.“43 Dieser Ratgeber möchte vor allem zeigen, dass Kinder für ihre Entwicklung einen Vater brauchen und die Väter durch die Erfahrung mit ihren Kindern
37 Schmid, Erziehungswissenschaft (wie Anm. 27), S. 383. 38 Schütze, Mutter (wie Anm. 23). 39 Juul, Mann (wie Anm. 33), S. 7. 40 Juul, Mann (wie Anm. 33), S. 7. 41 Juul, Mann (wie Anm. 33), S. 31. 42 Juul, Mann (wie Anm. 33), S. 39. 43 Juul, Mann (wie Anm. 33), S. 39.
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gewinnen können. Ein solches Begründungsmuster findet sich bezüglich der Mütter nicht, was auf den Legitimationsbedarf einer fürsorglichen Vater-KindBeziehung verweist. Juul geht in seinem Ratgeber implizit davon aus, dass es um die eigenen Kinder im Sinne einer biologischen Vater- oder Mutterschaft geht. Bei den „Glücklichen Scheidungskindern“ von Remo H. Largo und Monika Czernin wird nicht nur das Konstrukt der natürlichen Mutterliebe verworfen, sondern auch der bei Juul fortgeschriebene Biologismus in der Familiendefinition. Für Largo und Czernin brauchen Kinder keine leiblichen Eltern, sondern lediglich Bezugspersonen, die ihr Wohlergehen dauerhaft sichern: „‚Es tönt etwas hart für Eltern, wenn man es so direkt sagt, aber es ist wirklich so: Wenn die psychischen und körperlichen Bedürfnisse des Kindes ausreichend befriedigt werden und es die notwendige Zuneigung erhält, wird es selbst seine leiblichen Eltern nicht vermissen.“44 Sie argumentieren, dass viele Mütter unersetzbar sind für ihre Kinder, sie waren es aber nicht von vornherein, sondern sind es geworden. „Wenn aber ein Vater, eine Großmutter oder eine Adoptivmutter das Kind ebenso umfassend betreut, wird diese Person genauso unersetzlich wie eine ‚echte‘ Mutter. Sie alle können Hauptbezugsperson werden.“45 Überhaupt sei man Vater oder Mutter nicht von Natur aus, sondern nur dann, wenn eine lebendige Beziehung zum Kind hergestellt werde. Die Elter(n)-KindBeziehung sei nicht natürlich vorgegeben, sondern müsse erst durch die Aktivitäten der Erwachsenen hergestellt werden. Es gebe eine lebenslange Verantwortung der Eltern für ihre Kinder, sobald sie diese in die Welt gesetzt haben. Diese Verantwortung sei nicht aufkündbar. Die Sorge für die Kinder sei eine moralische Verpflichtung. Auffällig ist es, dass der Ratgeber an keiner Stelle auf die rechtliche Satzung hinweist. Deutlich wird im Ratgeber darüber hinaus, eine starke Kind-Zentrierung: Die Eltern haben sich an ihren Kindern auszurichten. Sie müssen ihre Befindlichkeiten nachordnen, sie müssen sich gegenüber dem Kind in ihrer Bedürftigkeit zurücknehmen. Nur so können sie für das Wohlergehen des Kindes sorgen. In diesem Ratgeber werden beide Eltern in die Pflicht genommen. Das Nichtvorhandensein eines Elter wird zudem nicht als Defizit aufgefasst. Stark betont wird vielmehr die reichhaltige Vielfalt möglicher Familienformen, die alle eine Grundlage für eine glückliche Kindheit bilden können. Nicht die Familienform wird als Garant für das Glück der Kinder aufgefasst, sondern ausschließlich die dauerhafte und verlässliche Verfügbarkeit der Bezugspersonen für Kinder. Deut-
44 Largo/Czernin, Scheidungskinder (wie Anm. 26), S. 54. 45 Largo/Czernin, Scheidungskinder (wie Anm. 26), S. 54.
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lich wird aber auch, dass die Elter(n)-Kind-Beziehung aus der Perspektive der Erwachsenen als keine Selbstverständlichkeit beschrieben ist. Sie sei ausgesprochen fragil und könne nur entstehen und fortdauern, wenn ein Erwachsener, egal ob Mutter oder Vater, eine Beziehung zum Kind aufbaue, er oder sie im alltagspraktischen Lebenszusammenhang verfügbar sei. Bezugsperson eines Kindes sei man nicht, sondern man müsse diesen Status immer erst gewinnen und unter Beweis stellen. Rogge hat in seinem Ratgeber vor allem Normalfamilien als Mutter-VaterKind(er)-Gruppen im Blick. Wie auch in den anderen beiden Ratgebern wird die Frage, ob das Paar verheiratet ist oder nicht, als unwesentlich aufgefasst und auch nicht eigens thematisiert. Das Paar könne verheiratet sein, müsse es aber nicht; für die Qualität der Elter(n)-Kind-Beziehung sei der Ehestand nicht von Belang. Damit ist die in den 1950er Jahren selbstverständlich vorausgesetzte Normalität weggebrochen. Der „Erziehungsberater“ richtet sich an Vater und Mutter. Deutlich wird, dass die Mutter darin nicht mehr auf Haushalt und Familie beschränkt, sondern auch berufstätig ist. Von den Vätern wird erwartet, dass sie sich an der Erziehung der Kinder beteiligen. Gleichwohl wird damit die primäre Zuständigkeit der Mütter nicht infrage gestellt; die Väter begleiten und unterstützen die Aktivitäten ihrer Partnerin. Rogge versteht dies vor allem als eine Beschreibung der in den Familien vorhandenen Erziehungszuständigkeiten. Damit verbunden ist keine normative Überhöhung dieser empirischen Faktizität in der Arbeitsteilung zwischen den beiden Partnern. Auch wenn dieser Ratgeber weder einen Mutterchauvinismus konstatiert noch die Eltern in das Konzept der verfügbaren Bezugspersonen überführt, wird dennoch deutlich, dass auf eine anthropologisch fundierte Zuständigkeitsregelung, wonach die Natur der Frau als Mutter diese besonders für Erziehungsaufgaben befähigt, nicht mehr zurückgegriffen wird.
III.3 Die Elter(n)-Kind-Beziehung aus der Sicht der Kinder Die Ratgeber entwerfen eine grundlegende Differenz zwischen der Paarliebe und der Liebe der Kinder zu ihren Eltern: „Es hat schon durchaus etwas erschreckendes, wenn du dich plötzlich der bedingungslosen Liebe eines Kindes gegenübersiehst“, schreibt Jesper Juul, „dich nun auf das Kind beziehen und dich ihm öffnen sollst, schließlich hattest du es bislang mit der Liebe einer Frau zu tun, einer Liebe, die immer mit Bedingungen einhergeht.“46 Das Kind liebt den
46 Juul, Mann (wie Anm. 33), S. 11.
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Vater ohne Grund nur um seiner selbst willen, der Vater wiederum muss sich zu dieser Liebe verhalten und soll sich aufschließen, was ihm schwer fällt. Das Zitat belegt erneut die Unsicherheit des Vaters, begründet wird sie damit, dass der Mann bisher nur die (heterosexuelle) Paarliebe erfahren habe. Diese Liebe unterscheide sich gravierend von der Liebe eines Kindes, denn sie sei an Konzessionen geknüpft. Das heißt, Männer seien gegenüber Frauen in der Situation, etwas tun/ leisten zu müssen, um Liebe zu bekommen. Während Juul die Liebe entlang des Geschlechterstatus und der Generationendifferenz unterscheidet, differenzieren die beiden anderen Ratgeber nur zwischen Eltern und Kindern. „Außerdem ist die Liebe des Kindes eine ganz andere als die der Erwachsenen“47 konstatieren Largo und Czernin. „Ein Kind liebt seine Eltern aus einer inneren Notwendigkeit heraus, weil es von ihnen psychisch und körperlich abhängig ist.“48 Die Liebe des Kindes sei „bedingungslos“49 und damit unabhängig von der Qualität der elterlichen Betreuung. Kinder würden ihre Eltern nicht verlassen, auch wenn sie von ihnen sehr schlecht behandelt werden würden. Diese Konstruktion einer bedingungslosen kindlichen Liebe zu den Eltern findet sich auch in weiteren Ratgebern des Samples.50 Aus der Abhängigkeit des Säuglings und Kleinkindes von der physischen und psychischen Versorgung resultiert jedoch nicht zwingend die (bedingungslose) Liebe eines Kindes – man kann deshalb von einem kulturellen Konstrukt sprechen, welches die Beziehung von Kindern zu ihren Eltern als starkes Gefühl, als eine emotionale Bindung entwirft. Diese Idee einer Kinderliebe findet sich in den Ratgebern der 1950er Jahre noch nicht. Die Angewiesenheit des Kindes auf die Pflege durch Erwachsene geht nicht mit der Vorstellung einher, dass das Kind seine Eltern liebt. Der hilflose Zustand des Säuglings setzt hingegen die „Liebe und zärtliche Zuneigung der Eltern“ frei, so Gertrud Altmann-Gädke und Karl Hansen in „Säugling und Kleinkind“ aus dem Jahr 1952. Diese Elternliebe gilt dem Kind sehr viel, es will sie keinesfalls „verscherzen“.51 „Die abweisende Miene, der Zorn und die Betrübnis der Eltern bedrücken das ungehorsame Kind. Ihr Tadel
47 Largo/Czernin, Scheidungskinder (wie Anm. 26), S. 35. 48 Largo/Czernin, Scheidungskinder (wie Anm. 26), S. 35. 49 Largo/Czernin, Scheidungskinder (wie Anm. 26), S. 35. 50 Vgl. Stefanie Bewilogua, Wandel der Erziehungsleitbilder in der Ratgeberliteratur von 1950 bis heute, Diplomarbeit an der Technischen Universität Dresden 2012 und Sabine Mallschützke, Vaterliebe? Eine Diskurstheoretische Analyse der Vater-Kind-Beziehung anhand aktueller Erziehungsratgeber für Väter, Diplomarbeit an der Technischen Universität Dresden 2012. 51 Gertrud Altmann-Gädke/Karl Hansen, Säugling und Kleinkind. Ein Buch für das junge Mädchen und die junge Mutter über Pflege, Erziehung und gesundheitliche Gefahren, Hamburg/Heilbronn 1952, S. 40.
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und ihre Strafe tun seinem Selbstgefühl weh. Das Verlangen nach Einklang mit den liebsten Menschen bewegt demnach dieses Alter zum Gehorsam.“52 Die Elternliebe gilt in diesem Ratgeber als Grundlage für die Erziehung des Kindes. Während in den untersuchten Ratgebern aus den 1950er Jahren das Erziehungsverhältnis als eine einseitige, hierarchische Relation konstruiert wurde, wonach Eltern ihre Kinder erziehen, gehen die aktuellen Ratgeber davon aus, dass Eltern und Kinder Partner sind, die voneinander lernen können. So konstatiert etwa Jan-Uwe Rogge: „Eltern sind nicht nur Lehrer, sie sind auch Schüler, und Kinder sind nicht nur Schüler, sie sind auch Lehrer.“53 Er argumentiert weiter, „Kinder ernst zu nehmen bedeutet auch, sie als Lehrer zu begreifen, von denen man viel erfahren kann: Mit Kindern zu leben, heißt nicht für sie zu leben, sondern gemeinsam mit ihnen zu lernen und zu leben.“54 Jesper Juul betont immer wieder, dass der Vater durch das Kind einen Zugang zu seinen Gefühlen gewinnen kann: „In nur einer Woche werden deine Kinder alle emotionalen Register ziehen und jedes Gefühl herausfordern, das du in deinem Körper trägst einschließlich der Emotionen, von deren Existenz du gar nichts geahnt hast.“55 Hinter dieser Zuschreibung von kindlichen Fähigkeiten steht eine veränderte Vorstellung vom Säugling und Kleinkind. So heißt es bei Gädke-Altmann und Hansen in den 1950er Jahren: „Je jünger ein Kind, desto mehr wird sein Verhalten durch stumpfe Gefühle und Triebe bestimmt und geleitet.“56 Das Kind gleicht noch mehr einem „Tier“ als einem Menschen, es ist „ein Boot ohne Steuer und Ruder in Wind und Wasserströmungen.“57 In den aktuellen Ratgebern wird hingehen von einem Säugling ausgegangen, der von Geburt an in der Lage ist, emotional zu reagieren, dessen individueller Eigensinn geschätzt wird und entfaltet werden soll. „Jedes Kind [ist] einmalig“ heißt es programmatisch bei Largo und Czernin, entsprechend muss „jede Lebenssituation nur aus sich heraus beurteilt werden“ und verallgemeinernde Ratschläge werden in allen aktuellen Ratgebern „möglichst“58 vermieden. Dies steht in massivem Kontrast zu den in den 1950ern, teilweise bis in die 1980er Jahre formulierten festen Regeln bezüglich Ernährung (Stillzeiten), Schlafenszeiten und der Sauberkeitserziehung.59 Kinder gelten nun als aktive Konstrukteure ihrer Welt, sie erwerben bereits früh eine „konstruk-
52 Altmann-Gädke/Hansen, Säugling (wie Anm. 51), S. 40. 53 Rogge, Erziehungsberater (wie Anm. 28), S. 40. 54 Rogge, Erziehungsberater (wie Anm. 28), S. 9. 55 Juul, Mann (wie Anm. 33), S. 40. 56 Altmann-Gädke/Hansen, Säugling (wie Anm. 51), S. 37. 57 Altmann-Gädke/Hansen, Säugling (wie Anm. 51), S. 30. 58 Largo/Czernin, Scheidungskinder (wie Anm. 26), S. 14. 59 Vgl. dazu auch Gebhardt, Angst (wie Anm. 36).
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tive Problemlösungskapazität“ und sie sind „ständig bestrebt, gut für sich und ihr Anliegen zu sorgen.“60 Neben der Individualisierung des Kindes lässt sich eine Idealisierung feststellen. Kinder gelten den Erwachsenen aufgrund ihrer hohen Fantasiebegabung als überlegen, die Erwachsenen sollen sich in dieser Hinsicht an den Kindern orientieren. Aus diesen Potenzialen der Kinder, etwa ihrer „magisch-mythischen Konfliktlösungen“,61 begründet sich die Idee, dass die Kinder Lehrer der Eltern sein können, die auch mit einer Abschwächung der Generationenhierarchie einhergeht.
IV. Zusammenfassung und Diskussion: Romantisches Kindheitsbild und Sakralisierung des Kindes als neue Legitimationsmuster Die drei Ratgeber lassen erhebliche Verschiebungen in den kulturellen Vorgaben für die Elter(n)-Kind-Beziehung erkennen. Das in anderen gesellschaftlichen Kontexten gern noch benutzte normative Muster der Mutterliebe62 ist in den untersuchten Büchern verschwunden. Dies gilt selbst für den Ratgeber (Juul), der von einer (vermeintlich) natürlich vorgegebenen Geschlechterpolarität ausgeht. Auch wenn die Ratgeber eine primäre Zuständigkeit der Mutter für das Kind fortschreiben, fehlt die normative Überhöhung der Mutter als der einzig wahre Garant für eine glückliche Kindheit. Vonseiten der Eltern gibt es für die Ratgeber, am deutlichsten bei Largo/Czernin ausgeprägt, keine Unverfügbarkeit der Elter(n)-KindBeziehung mehr. Es reicht nicht aus, Mutter bzw. Vater durch Geburt oder Zeugung zu sein, notwendig ist es vielmehr, zur Bezugsperson des Kindes zu werden. Die Natürlichkeit der Elter(n)-Kind-Beziehung wird zunehmend nicht mehr vorausgesetzt. Deutlich gemacht wird eher, dass diese erst hergestellt werden muss; eine Aufgabe und Herausforderung, an der (inzwischen) nicht nur Väter scheitern können. Zur Konstante und zum aktiven Part dieser Beziehung wird das Kind erhoben, Kinder bringen in diese Beziehung eine tätige und zugleich bedingungslose Liebe ein. Der Vergleich mit den 1950er Jahren zeigt, dass es sich dabei um
60 Rogge, Erziehungsberater (wie Anm. 28), S. 83 und 361. 61 Rogge, Erziehungsberater (wie Anm. 28), S. 324. 62 Vgl. dazu Barbara Vinken, Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos, Frankfurt a.M. 2011 oder Lena Correll, Anrufungen zur Mutterschaft, Münster 2010.
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ein neues Begründungsmuster der Elter(n)-Kind-Beziehung handelt, welches die Generationenbeziehung vonseiten der Kinder als unverfügbar konstruiert. Die Kinder bringen den Eltern eine ‚absolute‘ Liebe entgegen, die wiederum deren Liebe und Fürsorge einfordert. Kinder lieben ihre Eltern, selbst dann, wenn sie schlecht behandelt werden. Diese bedingungslose und absolut gesetzte Liebe der Kinder nimmt zugleich die Eltern in die Pflicht, sich um ihre Kinder zu kümmern. Überhaupt wird deutlich, dass sich die Elter(n)-Kind-Beziehung stark zugunsten der Kinder verschoben hat; für die Ratgeber steht die besondere Individualität des Kindes im Zentrum, die zu fördern die moralisch fundierte Verpflichtung der Eltern ist. Diese drei Ratgeber stehen stellvertretend für einen Paradigmenwechsel, der sich ab den 1970er Jahren in diesem Genre vollzogen hat. Die Erziehungsratgeber der 1950er Jahre stehen noch in einer starken Kontinuität der Erziehungsratschläge aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nur so war es möglich, dass Johanna Haarers „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (Erstauflage 1934) auch nach dem Zweiten Weltkrieg nur unter Weglassung von „deutsche“ im Titel und der nationalsozialistischen Bekenntnisse, inhaltlich aber unverändert, weiter in immer neuen Auflagen erschienen ist.63 Nach dieser weit in die Nachkriegszeit geltenden Erziehungsdoktrin hatte die schnelle Eingewöhnung des Kindes in feste Zeit- und Raummuster, vehement betriebene Sauberkeitserziehung sowie die Eindämmung des kindlichen Eigenwillens im Zentrum des elterlichen Erziehungshandelns zu stehen. Am Anfang des Paradigmenwechsels stand das Aufkommen der antiautoritären Erziehung, in Deutschland insbesondere eingeleitet durch die breite Aufmerksamkeit, die das Buch des Gründers von Summerhill Alexander S. Neill gewonnen hat. Dieser ganz andere Erziehungsentwurf war zunächst hoch umstritten und provozierte heftige Gegenreaktion. Nicht unwesentlich hat zur Verbreitung einer neuen Grundorientierung die 1966 erstmals erschienene Zeitschrift „Eltern“ beigetragen, die nach anfänglichen Widerstreit unterschiedlicher Positionen seit den 1970er Jahren eindeutig eine kindzentrierte Perspektive vertreten hat.64 Das Kernelement dieses Umbruchs ist die Wiederkehr des aus der Romantik stammenden Bildes des Kindes.65 Die romantische Idee knüpft an die christ-
63 Vgl. Höffer-Mehlmer, „Erziehungsratgeber“ (wie Anm. 20) und Gebhardt, Angst (wie Anm. 36) und Ute Benz, „Frühe Kindheit im Nationalsozialismus. Der Mythos Mutter im Hitlerreich und seine Folgen“, in: Psychosozial 47 (1991), S. 30–42. 64 Vgl. Gebhardt, Angst (wie Anm. 36). 65 Vgl. dazu Hans-Heino Ewers, Kindheit in poetischer Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert, München 1989 und Meike Sophia
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liche Kindesverehrung an (Matthäus 18,2–5: „Wahrlich ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“). Indem man die kindliche Unschuld betont, wird aber zudem die von Jean-Jacques Rousseau formulierte Freisprechung des Kindes von der Erbsünde aus „Emile“ (orig. 1762) rezipiert: „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht, alles entartet unter den Händen des Menschen.“66 Zugleich setzt sich die Romantik von der Aufklärung ab, in der das Kind als tabula rasa gesehen wurde, in die die Erwachsenen ihre Ideen einschreiben können und die Kindheit als bloße Übergangsphase zum eigentlichen Ziel des Erwachsenwerdens aufgefasst wurde. Für die Vertreter/innen der Romantik haben sich die Erwachsenen an den Kindern zu orientieren, da sie noch über alle Potenzialität verfügen. In „Lucinde“ (orig. 1799) porträtiert Friedrich Schlegel die zweijährige Wilhelmine, die sich den Erwachsenen überlegen fühlt. Beschrieben wird in diesem Roman die Rückkehr ins „goldene Zeitalter der kindlichen Menschheit“,67 das sich durch Unschuld auszeichnet. Das Kind wird in der Romantik als ein poetisches Wesen gesehen, das anders als die durch die Vernunft gebildeten Erwachsenen ein verzaubertes Verhältnis zur Welt hat. Das Kind besitze als natürliche Kompetenz, was den genialen Künstler auszeichne. „Ja, ein göttlich Wesen ist das Kind“, schreibt Friedrich Hölderlin in „Hyperion“ (orig. 1797), „solang es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist.“68 Die Idealisierung des Kindes in der Form, dass von der Göttlichkeit bzw. Heiligkeit des Kindes die Rede ist, ist der wiederkehrende Topos der Literatur der Romantik. Die in den Textstellen sichtbar werdende Idealisierung des Kindes ist auch ein dominanter und beständig wiederkehrender Topos in den gegenwärtigen Erziehungsratgebern, die bereits ihre Vorläufer hat. Schon in der Reformpädagogik anfangs des 20. Jahrhundert hatte diese Vorstellung vom Kind eine starke Konjunktur. In der Folgezeit wurde sie aber durch eine naturwissenschaftlichpsychologische Sicht verdrängt, die das kleine Kind vor allem als willenloses und triebgesteuertes Wesen begriffen hat, welches diszipliniert, normiert und in die gesellschaftliche Ordnung eingepasst werden muss. Auch wenn es in den 1950er Jahren einige wenige Ratgeber – wie etwa das bereits zitierte Buch „Das Elternbuch“ von Hans Graupner – gegeben hat, die Anleihen an dem romantischen
Baader, Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld, Neuwied 1996. 66 Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Paderborn 1993, S. 12. 67 Zit. in Baader, Idee (wie Anm. 65), S. 134. 68 Friedrich Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, Frankfurt a.M. 1979, S. 15.
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Kindheitsbild genommen haben, ist dieses erst wieder in den letzten Jahrzehnten dominant geworden. Die starke Aufwertung des Kindes ist durchaus noch stimmig mit den zentralen Elementen des romantischen Kindheitsbildes. Neu aber ist, dass das Kind nicht nur als geliebtes Objekt, sondern auch und vorrangig als liebendes Subjekt dargestellt wird. Daraus erwächst ein moralischer Appell an die Eltern, die ihnen entgegengebrachte Liebe anzunehmen und sich um das von ihnen psychisch und physisch abhängige Kind zu kümmern. Und es ist zugleich das Versprechen auf eine erhöhte Lebensqualität, auf den Zugang zu den eigenen Gefühlen und dem Erlernen neuer Kompetenzen. Wenn die kleine Tochter an manchem Morgen „einer Fee gleich in den Tag hüpfte, versonnen vor sich hin spielte, sich ohne Proteste anzog und dann in ihr Leben hinausschwebte“,69 wird auch das Leben der Erwachsenen verzaubert. Das liebende Kind ist eine neue Konstruktion, die auf dem romantischen Kindheitsmythos beruht; sie führt zu einer säkularisierten Idealisierung des Kindes. Diese Liebesfähigkeit wird wissenschaftlich begründet, jedoch wird die Wissenschaft in der Art und Weise ihrer Darstellung, fragmentarisch und als unhintergehbare Wahrheit, dem Diskurs entzogen und somit unverfügbar gestellt. Weder Religion noch die Natur der Frau als Mutter bilden die zentralen Legitimationsmuster für die bereitwillige Übernahme der Sorgearbeit. Dennoch werden die Eltern aus ihrer Verantwortung für die Kinder nicht entlassen. Zwar gelten Trennungen als legitim, auch wenn sie nicht erwünscht sind, dennoch sind die Eltern, egal ob die biologischen oder die sozialen, ein Leben lang für ihre Kinder verantwortlich. An die Stelle dieser alten Stützkonstruktionen ist die aus der Romantik stammende und fortgeschriebene Idealisierung des Kindes getreten. Schon Ende des 19. Jahrhunderts hat Emile Durkheim70 darauf hingewiesen, dass in modernen Gesellschaften die Person zu einem heiligen Objekt wird. Die von uns analysierten Erziehungsratgeber lassen eine säkulare Sakralisierung des Kindes erkennen, die als Basis für die freiwillige Übernahme von Sorgearbeit für das als liebendes Subjekt beschriebene Kind fungiert. Für die Eltern erwachsen daraus hohe Anforderungen an ihr Erziehungshandeln. Sie können nicht mehr auf die Selbstgewissheit der autoritären Eltern zurückgreifen, die von sich aus definieren, was für ihr Kind richtig ist. Elternschaft hat ihre vorgegebene Natürlichkeit eingebüßt; sie wird zu einem sozialen Lernprogramm, Vater und Mutter müssen sich die angemessenen, immer ver-
69 Largo/Czernin, Scheidungskinder (wie Anm. 26), S. 48. 70 Emile Durkheim, „Der Individualismus und die Intellektuellen“ (orig. 1898), in: Hans Bertram, Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt a.M. 1986, S. 54–70.
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änderbaren Kompetenzen aneignen und sich als Bezugsperson des Kindes erst ‚bewähren‘. Sie sind verpflichtet, das Wohlergehen ihres Kindes herzustellen. Dafür ist es notwendig, sensibel das Kind zu beobachten; genauso bedeutsam ist ein hohes Maß an Selbstreflexivität, um richtig handeln zu können. Die in den vorliegenden Ratgebern zum Ausdruck kommende hohe Verunsicherung resultiert aus dieser kulturellen Verschiebung, die das Kind als ‚heiliges‘ Subjekt idealisiert.
V. Ordnungen der Technik – Fortschritt als Transzendenzformel
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Technischer Fortschritt als Heilsversprechen und seine selbstlosen Bürgen Zur Konstituierung einer Pathosformel der technokratischen Hochmoderne in Deutschland
I. In jüngerer Zeit nimmt die historische Forschung den Zeitraum zwischen den 1880er und 1970er Jahren zunehmend als Einheit wahr und deutet ihn als Epoche der europäischen Hochmoderne.1 Konstitutiv für diese Periodisierung, die politische Zäsuren zwar mitführt, aber nicht absolut setzt, ist die unterstellte Existenz einer den Zeitabschnitt in spezifischer Weise prägenden Sinnordnung. Die Zäsursetzung gründet auf Dynamisierungsschüben sowohl sozialen Wandels als auch kultureller Neuorientierungen um 1900 und um 1970. Im Blick auf die deutsche Geschichte gerät so das Wilhelminische Kaiserreich zur formativen Phase der Hochmoderne. Als Charakterisierung der Hochmoderne wird meist zuerst der Terminus „Industriemoderne“ gebraucht, der auf die Bedeutung industrieller Expansion und rasanter technischer Möblierung der Lebenswelt mit dem Ergebnis des Aufzugs technikbestimmter und industriegeprägter Massengesellschaften verweist. Aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive lösten vornehmlich technisch induzierte Beschleunigungsschübe2 einen Wandel der Zeiterfahrung aus. Seine Essenz kann im Sinne Niklas Luhmanns als „Möglichkeitsüberschuss
1 Zu den geschichtswissenschaftlichen Analysekonzepten „Moderne“ und „Hochmoderne“ vgl. u.a. Christof Dipper, „Moderne, Version: 1.0“, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.8.2010, http://docupedia.de/zg/Moderne?oldid=75702 (Zugriff am 23.5.2012); Anselm DoeringManteuffel, „Konturen von ,Ordnung‘ in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts“, in: Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 41–64; Ulrich Herbert, „Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century“, in: Journal of Modern European History 5 (2007), Nr. 1, S. 5–21; Lutz Raphael, „Ordnungsmuster der ,Hochmoderne‘? Die Theorie der Hochmoderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften in 20. Jahrhundert“, in: Ute Schneider/Lutz Raphael (Hg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt a.M. 2008, S. 73–92. 2 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005, u.a. S. 161–175.
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an Handlungsoptionen“3 mit der Folge stark intensivierter Zukunftserwartungen gefasst werden, die Traditionsgeltungs- und Zukunftsgewissheitsschwund4 bewirkten. Dies nährte ein mit utopischen Überschüssen aufgeladenes Ordnungsdenken, dessen Leitideen sich durch Termini wie Fortschritt, Zukunft, Technokratie, Machbarkeit, Gestaltungswille und Planung beschreiben lassen. Als Reaktion auf permanenten Wandel stießen von Technokratieidealen geleitete Vorstellungen einer planenden und steuernden paternalistischen Gesellschaftsgestaltung auch jenseits technischer Expertenkulturen system- und ideologieübergreifend auf Einvernehmen.5 Während der Hochmoderne wurde die Technisierung in enge Beziehung gesetzt zum Projekt des „Fortschritts“, das sich seit dem 18. Jahrhundert als axiomatische Gewissheit sowohl möglicher als auch gebotener Verbesserung von Individuum und Gesellschaft mit dem Ergebnis linearen Fortschreitens zum Besseren in Erwartungshorizonte der westlichen Gesellschaften eingeschrieben hatte.6 Nachdem als Folge der Entdeckung einer offenen Zukunft im 17. Jahrhundert „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“7 auseinandergefallen waren, formte sich während der Aufklärung eine Geschichtsauffassung, die historisches Geschehen als lineares normatives Fortschreiten deutete. Für Max Weber trat mit der Aufklärung der Glaube an den Fortschritt an die Stelle des Gottglaubens, um dem „[…] religiös entleerten Ablauf des Menschheitsschicksals einen dies-
3 Hans-Ulrich Gumbrecht, „Modern, Modernität, Moderne“, in: Otto Brunner et al. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch zur politisch-sozialen Sprache, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93–131, hier S. 131. 4 Hermann Lübbe, „Technischer Wandel und die individuelle Lebenskultur“, in: ders. (Hg.), Fortschritt der Technik – gesellschaftliche und ökonomische Auswirkungen, Heidelberg 1987, S. 49–63, hier S. 54–56. 5 Dirk van Laak, „Technokratie im Europa des 20. Jahrhunderts – eine einflussreiche ,Hintergrundideologie“, in: Lutz Raphael (Hg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln 2012, S. 101–128. Vgl. auch Hermann Lübbe, „Technokratie. Politische und wirtschaftliche Schicksale einer philosophischen Idee“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 25 (2000), Nr. 1, S. 119–137. 6 Grundlegend: Reinhart Koselleck, „Fortschritt“, in: Brunner, Grundbegriffe (wie Anm. 3), Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 351–423. Aus der Fülle an Literatur vgl. Sabine A. Haring, Verheißung und Erlösung. Religion und ihre weltlichen Ersatzbildungen in Politik und Wissenschaft, Wien 2008, S. 377–403, S. 429–446; Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999; Bedrich Loewenstein, Der Fortschrittsglaube. Geschichte einer europäischen Idee, Osnabrück 2009; Friedrich Rapp, Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee, Darmstadt 1992. 7 Reinhart Koselleck, „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien“, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 349–375.
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seitigen und dennoch objektiven ‚Sinn‘ zu verleihen“.8 „Fortschritt“ als „zeitlich progressive Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung“9 wurde zur zentralen wahrnehmungs- und handlungsleitenden Geltungsgeschichte sowie Pathosformel10 der Ersten Moderne. Sie war einer Kritik im Grundsatz unverfügbar gestellt. Insofern kann „Fortschritt“ als Transzendenzkonstruktion gefasst werden, womit auch seine Apotheose plausibler wird: „Heute ist das Neue das Heilige, und das Heilige das Neue. […] Heute ist der ‚Fortschritt‘ das allein Selbstverständliche, der Wert an sich, auf den alles zurückgeführt wird, das erste und letzte Argument, der Ersatz aller Logik.“11 Die ins Immanente gewendete Heilserwartung der Ersten Moderne hieß „Fortschritt“. Der Glaube an ihn zählte zum Kernbestand ihres Transzendenzhaushalts. Gleichwohl artikulierte sich am Beginn der Hochmoderne ebenso Fortschrittsskepsis. Sie war Folge eines in Deutschland mit vergleichsweise hohem Tempo ablaufenden Industrialisierungs- und Modernisierungsschubs.12 Zu jenem Zeitpunkt aber, als die Fortschrittsgewissheit mit Ausnahme sozialistischer Zukunftsvorstellungen brüchig wurde, baute sich ein szientistisch befeuertes Fortschrittsversprechen von Technik auf. (Abb. 1) Es ließ technischen Wandel zum „empirischen Kern der Progressivität“13 werden mit der Folge einer Tech-
8 Max Weber, „Rocher und Knies und die logischen Probleme der Nationalökonomie“ (1903), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, S. 1–145, hier S. 33, Anm. 2. Auch für Reinhart Koselleck besaß der Fortschrittsglaube den Status einer „Ersatzreligion“. Koselleck, „Fortschritt“ (wie Anm. 6), S. 410. 9 Koselleck, „Fortschritt“ (wie Anm. 6), S. 410. 10 Der von Aby M. Warburg revitalisierte Terminus „Pathosformel“ bezeichnet kulturell aufgeladene formelhafte Vorstellungen über die Welt von großer Wirkmacht, die in Diskursen eine dominante Rolle spielen. Als Bezugspunkte individueller und sozialer Orientierung sind sie distanzierendem Infragestellen entzogen. Vgl. Sigrid Weigel, „Die Sprache des Unbewussten. Pathosformeln der Gedächtnisgeschichte“, in: Norbert Frei (Hg.), Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts?, Göttingen 2006, S. 58–66, S. 60–62; Martin Sabrow, „Pathosformeln des 20. Jahrhunderts“, in: Zeithistorische Forschungen 7 (2010), Nr. 1, S. 110–114, S 110. 11 Karl Joël, „Weltanschauung und Zeitanschauung“, in: Max Frischeisen-Köhler (Hg.), Weltanschauung: Philosophie und Religion in Darstellungen von Wilhelm Dilthey […], Berlin 1911, S. 128–138, hier S. 130f. 12 Vgl. u.a. Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007, S. 111–232; Anselm Doering-Manteuffel, „Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewusstsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004, S. 91–119 sowie zahlreiche Beiträge in Sabine Haupt/Stefan Bodo Würffel (Hg.), Handbuch Fin de Siècle, Stuttgart 2008. 13 Koselleck, „Fortschritt“ (wie Anm. 6), S. 422.
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Abb. 1: Technik und Wissenschaft als Garanten von „Fortschritt“: Saxonia wird gestützt von Technik (rechts) und der jungen Wissenschaft (links). Hauptportal Hauptbahnhof Dresden, Friedrich Rentsch, 1895. [Foto: Detlev Fritsche]
nisierung des Fortschrittsglaubens.14 Unter den Auspizien der gesellschaftsprägenden Industrialisierung schienen technische Neuerungen in hohem Maße auswertbar zu sein für die Umsetzung der Fortschrittsidee. Gewährleistung gesellschaftlicher Wohlfahrt und individuellem Glücksstrebens durch technisch ermöglichtes Wachstum war eine der Meistererzählungen der Ersten Moderne.15 Sie versprach, Menschheitsprobleme lediglich unter einem Zeitvorbehalt lösen zu können, damit gleichsam das Heute im Morgen aufhebend. Über die sinnweltliche Absicherung gegenwärtiger Entwicklungen aus Erwartungshorizonten
14 Vgl. Hartmut Berghoff, „‚Dem Ziele der Menschheit entgegen‘. Die Verheißungen der Technik an der Wende zum 20. Jahrhundert“, in: Ute Frevert (Hg.), Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 47–78; Hölscher, Zukunft (wie Anm. 6) S. 152–161; Joachim Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2008, S. 210–235; Michael Salewski, „Technik als Vision der Zukunft um die Jahrhundertwende“, in: ders./Ilona Stölken-Fitschen (Hg.), Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 77–91. 15 Ronald Clapham/Gerhard Schwarz (Hg.), Die Fortschrittsidee und die Marktwirtschaft, Zürich 2006; Jakob Tanner, „Multiplikationsprozesse in der Moderne – Plädoyer für eine Analysekonzept“, in: Historische Anthropologie 16 (2008), S. 2–7.
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künftiger Zustände empfing technisches Handeln zugleich Sinn von der Zukunft und wurde in seiner Bewertung unter Zeitvorbehalt gestellt. Gestützt wurde dies durch das Vertrauen in Wissenschaft, die als putativer Progressionstreibriemen Fundament des abendländischen Fortschrittsglaubens schlechthin war. Technik erhielt im kollektiven Erwartungshorizont die Zuschreibung, Materialisierung stetig vervollkommneten wissenschaftlichen Wissens mit einer Funktionsgarantie zu sein, womit zur Leistungsverheißung ein Wahrheitsversprechen trat.16 (Abb. 2)
Abb. 2: „Kathedralen der Technik“: „Imperator“ und Kölner Dom, ein Größenverhältnis. [Max Geitel (Hg.), Der Siegeslauf der Technik, Bd. 1, Stuttgart [u.a.] 3o. J. (1913), S. 3] 16 Als Überblick Ulrich Wengenroth, „Zur Einführung: Die reflexive Modernisierung des Wissens“, in: ders. (Hg.), Grenzen des Wissens – Wissen um Grenzen, Weilerswist 2012, S. 7–22.
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Tendenziell implizierten die an technischen Wandel, dessen prinzipielles „Gutsein“ zu den Seinsgewissheiten zählte, gehefteten Hoffnungsüberschüsse die Umdeutung des Kollektivsingulars „Technik“ von einer Ziel-Mittel-Relation zur Triebfeder der Menschheitsgeschichte. Insofern gibt es gute Gründe zu unterstellen, dass die Technisierung des Fortschrittsglaubens die Fortschrittsidee gerettet hat. Jedenfalls verdichtete sich das Vertrauen darauf, auch soziale und politische Problemlagen technisch lösen zu können, in dieser Zeit zum common sense. Im Zuge vermuteter unbegrenzter Steigerungsfähigkeit technischer Mittel lagerten sich an Technik Transzendenzen an, unter denen ein auf das Soziale Bezug nehmendes Zukunftspathos hervorsticht. Technischer Wandel barg fortan ein sozialutopisches Element, das Versprechen einer besseren Zukunft und erfuhr nachgerade eine „heilsgeschichtliche“17 Bedeutungszuweisung. Auf diese Weise wurden Technik und Zukunft als Ressourcen zur Erfahrung von Transzendenz erschlossen.
Abb. 3: Apotheose der Elektrizität und Stilisierung von Kommunikations- und Mobilitätstechnologien. [Jean Clairemont (Hg.), Das Buch der neuesten Erfindungen, Berlin 1905, Kunstbeilage 1]
17 Rapp, Fortschritt (wie Anm. 6), S. 116–119.
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Besonders neue Technologien, zunächst Elektrizität18 sowie Kommunikationsund Mobilitätstechniken, erlangten den Status materieller Symbolsysteme der Fortschrittsverheißung und wurden nicht selten zu „Kathedralen des Fortschritts“ überhöht.19 (Abb. 3) Zeitgenossen priesen sie mit enthusiasmierten Elogen, die sich oft religiöser Terminologie bedienten oder Bezüge zu Aufklärung und Französischer Revolution herstellten. Daniel Saul, Lyriker und Librettist, feierte 1891 die Elektrizität als eine den Weg „[a]ufwärts“, „[i]n das Göttliche“ weisende neue Energie.20 Der Sachbuchautor Artur Fürst sah in Peter Behrens’ Turbinenhalle der AEG einen „Maschinendom“ und bestand darauf, dass in der Welt der Technik „[…] ein jeder die Größe seines Gottes […]“ erkennen könne.21 Werner Siemens zeigte sich überzeugt, […] dass unsere Forschungs- und Erfindungstätigkeit die Menschheit höheren Kulturstufen zuführt, sie veredelt und idealen Bestrebungen zugänglicher macht, […], dass das hereinbrechende naturwissenschaftliche Zeitalter […] sie besser, glücklicher und mit ihrem Geschick zufriedener machen wird […], und dass die Machtfülle, die es der Menschheit zuführt, […] sie auf eine höhere Stufe des Daseins erheben muss!22
Für Alois Riedler, Professor an der TH Berlin, hatte moderne Technik alle „Kulturverhältnisse“ umgestaltet: „Damit überragt der Fortschritt alles Bisherige; es ist
18 Besonders instruktiv verbanden Bedeutungsaufladungen der Elektrizität Zukunftsverheißungen mit Angeboten zur Lösung sozialer Problemlagen. Vgl. Beate Binder, Elektrifizierung als Vision, Tübingen 1999; David Gugerli, Redeströme. Zur Elektrifizierung der Schweiz 1880–1914, Zürich 1996; Dieter Schott, „Das Zeitalter der Elektrizität: Visionen – Potentiale – Realitäten“, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (1999), S. 31–49; Ulrich Wengenroth, „Motoren für den Kleinbetrieb. Soziale Utopien, technische Entwicklung und Absatzstrategien bei der Motorisierung des Kleingewerbes im Kaiserreich“, in: ders. (Hg.), Prekäre Selbständigkeit, Stuttgart 1989, S. 177–205. 19 So wurde der Hauptbahnhof Leipzig bei seiner Schlusssteinweihe 1915 zur „Kathedrale des Fortschritts“ stilisiert. 2011 konzedierte ihm eine Jury, er erfülle diesen Anspruch noch mustergültig. http://www.welt.de/reise/article13571840/Das-sind-die-Bahnhoefe-desJahres-2011.html (Zugriff am 30.8.2011). 20 Daniel Saul in Kleine Presse, 17.5.1891, zit. nach: Jürgen Steen, „Eine neue Zeit …!“. Die internationale Elektrotechnische Ausstellung 1891, Frankfurt a.M. 1991, S. 349. 21 Artur Fürst, Die Wunder um uns. Neue Einblicke in die Natur und Technik, Berlin 1911, S. 8, 194. 22 Werner Siemens, „Das naturwissenschaftliche Zeitalter. Vortrag in der 59. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte am 18. September 1886“, in: ders., Wissenschaftliche und Technische Arbeiten, Bd. 2, Berlin 1891, S. 491–499, hier S. 499.
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die größte Umwälzung, welche die Menschheit je erlebte […].“23 Auch der technophile Kaiser Wilhelm II. geizte nicht mit Pathos. So war für ihn die Entwicklung des Luftschiffs einer der „größten Momente in der Entwicklung der menschlichen Kultur“24.
II. Ebenso setzte die in marxistischer Tradition stehende Arbeiterbewegung für ihre emanzipatorischen Ziele auf technischen Fortschritt.25 Wilhelm Liebknecht fasste dies in einem Satz zusammen: „Jede neue Maschine predigt das Evangelium der sozialen Emanzipation!“26 Für August Bebel stand an erster Stelle der Hoffnungslieferanten seiner technisch pointierten Sozialutopie die „revolutionirende [sic!] Wirkung“ der neuen elektrischen Energie. Diese würde „[…] die Bande der bürgerlichen Welt nur um so rascher sprengen und dem Sozialismus die Thüre [sic!] öffnen“27. Zudem setzte er schon auf die Solarenergie: Einige Quadratmeilen in Nordafrika würden genügen, um den Bedarf des Deutschen Reiches mit Sonnenelektrizität zu decken und zugleich dem afrikanischen Kontinent voran zu helfen.28 Lenin brachte die seinerzeit besonders von der elektrischen Energie gestützte technisierte Gesellschaftsutopie auf die simple Formel: „Kommunismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“.29
23 Alois Riedler, Über die geschichtliche und zukünftige Bedeutung der Technik. Rede zum Geburtstagsfeste Seiner Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II.[…] am 26. Januar 1900, Berlin 1900, S. 6f. 24 Zit. nach: Franz Maria Feldhaus, Deutsche Techniker und Ingenieure, Kempten u.a. 1912, S. 188. 25 Vgl. u.a. Dieter Langewiesche, „Fortschritt als sozialistische Hoffnung“, in: Klaus Schönhoven/Dieter Staritz (Hg.), Sozialismus und Kommunismus im Wandel, Köln 1993, S. 39–55; Denis Mäder, Fortschritt bei Marx, Berlin 2010. 26 Wilhelm Liebknecht, „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen. Vortrag, gehalten zum Stiftungsfest des Dresdener Arbeiterbildungsvereins am 5. Februar 1872 […]“, in: ders., Kleine Politische Schriften, hg. v. Wolfgang Schröder, Leipzig 1976, S. 133–173, hier S. 172. 27 August Bebel, Die Frau und der Sozialismus (1883), 25. Aufl., Berlin 1895, S. 253. 28 Bebel, Frau (wie Anm. 27), 50. Aufl., Berlin 1910, S. 577. Z.T. vergleichbare Bedeutungsaufladungen bis hin zu Prosperitätsversprechen für den afrikanischen Kontinent begleiten ein aktuelles Großprojekt, Solarstrom aus der Sahara nach Europa zu leiten. Vgl. http://www.desertec.org/de (Zugriff am 10.6.2012). 29 Wladimir Iljitsch Lenin, „Rede auf dem VIII. Gesamtrussischen Sowjetkongress im Dezember 1920“, in: ders., Werke, Bd. 31, Berlin 1959, S. 513. Der 1889 aus Deutschland in die USA emigrierte Marxist Charles Steinmetz, Pionier der Elektrotechnik und
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Hier nun stellt sich die Frage, wie das Heilsversprechen von Technik um 1900 zu einer Pathosformel werden konnte. Zunächst ist darauf zu verweisen, dass es sich spätestens seit dieser Zeit auf Evidenzen berufen konnte. Das allgemeine Wohlfahrtsniveau als im Industriezeitalter gängiges Kriterium gelingenden Lebens war im Horizont einer Generation deutlich gestiegen. Zudem brachte die durch industrielle Technik mögliche Überwindung von Grenzen materieller Produktion jetzt auch Luxusgüter insofern in Reichweite individuellen Konsums, als breite Massen nicht mehr prinzipiell davon ausgeschlossen waren.30 Ebenso speiste moderne Technik Hoffnungen auf Naturbeherrschung.31 Besonders folgenreich aber war die Ausweitung des menschlichen Universums um eine Vielzahl neuer Artefakte, Technologien und Wissensbestände. Diese formten Lebenswelten neu und gerieten zu positiv besetzten Symbolen heraufziehender wunderbarer Zeiten. Das Ausbrechen industrieller Technik aus den „Knochenmühlen“ der Fabriken bildete ein kollektives Faszinosum und offenbarte die vergnügliche Facette von Industrialisierung und Technisierung. Es schuf durch unmittelbares Bewusstseinserleben strukturierte emotionale Ereignisräume des Außergewöhnlichen, einschließlich technikermöglichter Überschreitungserlebnisse dem Menschen bislang gesetzter Grenzen.32 Verstärkt wurden positive Rezeption und normative Sinngebung technischen Wandels durch seine Medialisierung und Popularisierung. Beispielsweise lockten von Fortschritts- und Wohlstandsrhetorik getragene Wissensvermittlung mit Vergnügen verbindende Welt- und Gewerbeausstellungen Millionen Besucher an, besuchten Abertausende Fahrrad- und Autorennen, Flugschauen und Luftschifflandungen, ankernde Ozeanriesen oder Jahrmärkte. Zeitschriften und Jahrbücher wie das ab 1880 erscheinende „Neue Universum“ oder die ab 1897
exponierter Mitarbeiter von General Electric, führte mit Lenin einen Briefwechsel über die gesellschaftsumstürzende Kraft der neuen Energieform. Vgl. Sender Garlin, Charles P. Steinmetz, scientist and socialist (1865–1923), New York 1977, S. 13–21. 30 Vgl. z.B. Rainer Gömmel, Realeinkommen in Deutschland. Ein internationaler Vergleich (1810–1914), Nürnberg 1979; Tanner, „Multiplikationsprozesse“ (wie Anm. 15). 31 Als differenzierende Darstellung Hans-Liudger Dienel, Herrschaft über die Natur? Naturvorstellungen deutscher Ingenieure 1871–1914, 2. Aufl., Bassum 1997. 32 Vgl. Matthias Groß, „Georg Simmel und die ,laute Pracht des wissenschaftlich-technischen Zeitalters‘“, in: Historische Sozialforschung 33 (2008), S. 315–330; Mikael Hård, „Technik und Kultur“, in: Haupt/Würffel, Fin de Siècle (wie Anm. 12), S. 680–693; Bernhard Rieger, Technology and the Culture of Modernity in Britain and Germany, 1890–1945, Cambridge 2005, S. 20–50. Zur Deutung von Technik als Medium der Transzendenzerfahrung um 1900 vgl. Christian Simon, „Kaiser Wilhelm II. und die deutsche Wissenschaft“, in: John Charles Gerald Röhl (Hg.), Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte, München 1991, S. 91–110, hier S. 96.
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publizierte „Umschau“ informierten populär über technische „Errungenschaften“. Schließlich belegen auch die um 1900 auflebende Technikhistoriographie und die Gründung des „Museums von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik“ in München 1903 ein gewachsenes gesellschaftliches Interesse an Technik.33 Nicht selten wurden Artefakte dabei zu „Wundern der Technik“ überhöht.34 „Meisterwerke der Technik“, so Artur Fürst, seien ebenso als Wunder zu sehen wie die Venus von Milo.35 (Abb. 4) Das Wahrnehmungsmuster technischer Neuerungen als Erlebnis des Erhabenen und Chance zur Erfahrung von Transzendenz trug zur Formung eines Erfahrungsraums des Technischen bei, in dem sich utopische Dynamik zu entfalten vermochte. Diese strukturierte einen Erwartungshorizont, in dem sich Hoffnungen auf technikgestütztes stetes „Fortschreiten“ mit politischen Utopien verbanden. Unter der analytischen Prämisse, dass Technik auch als Möglichkeitsraum zur Wahrnehmung und Gestaltung von Welt zu fassen ist und auf diese Weise der Erwartungshorizont ebenso durch Imaginationsleistungen geformt wird,36 öffnet sich der Blick für den seinerzeit immens erweiterten Zukunftssinn. Auch insofern hefteten sich an Technik von einem produktiven Gefälle zwischen Utopie und Realität getragene Verheißungen.
33 Vgl. Elke Krasny, „Zukunft ohne Ende – das Unternehmen Weltausstellung“, in: Brigitte Felderer (Hg.), Wunschmaschine Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 18. Jahrhundert, Wien/New York 1997, S. 314–338; Alexander C. T. Geppert, Fleeting Cities. Imperial Expositions in Fin-de-Siècle Europe, Basingstoke 2010; Martin Hussong, Mythen der Technik im „Neuen Universum“. Fortschrittsideologie in einem Jugendjahrbuch von 1880 bis 1980, Frankfurt a.M. 1983; Arne Schirrmacher, „Kosmos, Koralle und Kultur-Milieu. Zur Bedeutung der populären Wissenschaftsvermittlung im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 31 (2008), Nr. 4, S. 353–371; Martin Wörner, Vergnügung und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900, Münster u.a. 1999. 34 Vgl. Alexander Gall, „Wunder der Technik, Wunder der Natur. Zur Vermittlungsleistung eines medialen Topos“, in: Alexander C. T. Geppert/Till Kössler (Hg.), Wunder. Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert, Berlin 2011, S. 270–303. 35 Fürst, Wunder (wie Anm. 21), S. 7–8. 36 Christoph Hubig, Die Kunst des Möglichen. Grundlinien einer dialektischen Philosophie der Technik. Bd. 1: Technikphilosophie als Reflexion der Medialität, Bielefeld 2006; Andreas Kaminski, Technik als Erwartung. Grundzüge einer allgemeinen Technikphilosophie, Bielefeld 2010; Anders Schinkel, „Imagination as a Category of History: An Essay concerning Koselleck’s Concepts of Erfahrungsraum and Erwartungshorizont“, in: History and Theory 44 (2005), S. 42–54.
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Abb. 4: Technik als „Wunder“. [Artur Fürst, Die Wunder um uns. Neue Einblicke in die Natur und Technik, Berlin 1911]
Kurzum: Technik und Wissenschaft, seit der Aufklärung als Entzauberungsagenturen37 begriffen, erfuhren am Beginn der Hochmoderne wirkungsmächtige Transzendierungen, die ihrerseits in der unterstellten Rationalität von Wissenschaft und Technik ihren Ursprung hatten. Diese woben sich tief in die vermeintlich wissenschaftlichen Kriterien verpflichtete neue Deutungskultur der Welt ein und wirkten in Richtung einer „Wiederverzauberung“38 des Alltäglichen durch Technik.
III. Gleichwohl blieb die positive Wahrnehmung technischen Wandels nicht ungebrochen. In zeitgenössischen Diskursen scheint vielmehr das für die Hochmoderne typische Amalgam aus Technikoptimismus und Technikkritik auf, wobei
37 Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1919), Berlin 1967, S. 17. 38 Früh zur Wiederverzauberung: Morris Berman, The Reenchantment of the World, Ithaca 1981.
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letztere auch auf die Konjunktur ihres alter ego, die Technikeuphorie, reagierte. Zum Teil bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende technikkritische Positionen hatten, meist als Speerspitze umfassenderer Kulturkritik, um 1900 Konjunktur.39 Allerdings hieße es, diese Diskurse fortzuschreiben, wenn sie als Spiegel gesamtgesellschaftlicher Wahrnehmung gedeutet würden. Vielmehr verblieben sie überwiegend in den Reservaten der Geisteswissenschaften sowie schönen Künste und folgten bildungsbürgerlichen Programmatiken zur Rettung gefährdeter kultureller Deutungsmacht. Breite Kreise der Gesellschaft, wie das Wirtschaftsbürgertum, die Industriearbeiterschaft, Teile des Handwerks und der Bauernschaft, teilten die Kritik keineswegs. 40 Daher ist zu fragen, ob der in kulturgeschichtlichen Studien verbreitete Topos einer „Krise der Moderne“ um 190041 zeitgenössische Wahrnehmungen und Einstellungen hinreichend zusammenfasst. Aufs Ganze gesehen dominierten eher optimistische Gegenwarts- und Zukunftsdiagnosen, die technischen Wandel als Fortschrittsbeleg in das Zeitbewusstsein integrierten: Jetzt aber war es doch nur eine Angelegenheit von Jahrzehnten, bis das letzte Böse und Gewalttätige endgültig überwunden sein würde, und dieser Glaube an den ununterbrochenen, unaufhaltsamen Fortschritt hatte für jenes Zeitalter wahrhaftig die Kraft einer Religion; man glaubte an diesen ‚Fortschritt‘ schon mehr als an die Bibel, und sein Evangelium schien unumstößlich bewiesen durch die täglich neuen Wunder der Wissenschaft und Technik.42
39 Clemens Albrecht, „Kultur und Zivilisation. Eine typisch deutsche Dichotomie?“, in: Wolfgang König/Marlene Landsch (Hg.), Kultur und Technik. Zu ihrer Theorie und Praxis in der modernen Lebenswelt, Frankfurt a.M. u.a. 1993, S. 11–29; Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn u.a. 1999; Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984, S. 11–192. 40 J. Kocka attestiert der Zeit um 1900 einen durch Fortschrittserwartung hervorgebrachten „positiv-optimistischen Grundton“. Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2001, S. 24f. Auch W. Plumpe hält die Kulturkritik nicht für repräsentativ, „die Masse“ habe die Segnungen der Zivilisation genossen. Werner Plumpe, „Carl Duisberg und der Erste Weltkrieg“, in: David Gilgen et al. (Hg.), Deutschland als Modell? Rheinischer Kapitalismus und Globalisierung seit dem 19. Jahrhundert, Bonn 2010; S. 171–193, hier S. 171. Vgl. auch John Carey, Der Haß auf die Massen. Intellektuelle 1880–1930, Göttingen 1996; Rohkrämer, Zivilisationskritik (wie Anm. 39), S. 50. 41 Vgl. z.B. Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914, München 2009; Rüdiger vom Bruch et al. (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Bd 1: Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989 sowie Literatur unter Anm. 12. 42 Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Stockholm 1944; hier nach der Auflage Berlin (O) 1985, S. 17.
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Über die Konjunkturen des Technikoptimismus wissen wir im Gegensatz zur häufig fokussierten Technikkritik erstaunlich wenig. Daher ist tiefer zu graben und nochmals nach stabilisierenden Bedingungen des Heilsversprechens von Technik zu fragen. Dies auch insofern, als dessen Perpetuierung über die Zeit um 1900 hinaus ebenso erklärungsbedürftig ist. Immerhin überdauerte es nach jeweils kurzen Irritationen selbst zwei technisierte Weltkriege. Zudem belegten Katastrophen, dass die Geschichte technischen „Fortschritts“ auch mit Blut und Tränen geschrieben wird und technisch induzierte Risiken in der auf Kontingenzreduktion bedachten Hochmoderne mit fortschreitender Technisierung noch zunahmen. Walter Benjamin deutete in diesem Zusammenhang die Katastrophe vom singulären Ereignis zum permanenten Zustand um. Der Begriff des Fortschritts sei in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es so weiter gehe, sei die Katastrophe. Sie wäre nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.43 Dennoch hatte sich um 1900 auf der Basis einer gelungenen Akkulturierung und Normalisierung technischer Risiken bereits ein robustes Niveau an Risikoakzeptanz etabliert.44 Riskante Technologien wurden weithin positiv wahrgenommen und notfalls als Spektakel eingehegt. Technische Katastrophen fanden Legitimation als unvermeidbare Begleiterscheinung wünschenswerten technischen Wandels im Sinne eines dem Fortschritt Tribut zollen durch Lernen aus Desastern. Ihre Bewältigung im Horizont von Fortschrittsoptimismus umfasste auch die Transzendierung von Opfern technischer Katastrophen zu Opfern für den technischen Fortschritt. Friedrich Nietzsche geißelte dies mit der Sentenz, die Größe eines Fortschritts bemesse sich nach der Masse dessen, was ihm alles geopfert werden müsste.45 Die These ist, dass sich das Heilsversprechen von Technik mit einer Altruismusbehauptung46 der Ingenieure verband. Beide Phänomene gingen gleichsam in einer Doppelhelix auf. (Abb. 5)
43 Walter Benjamin, „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. I, 2, Frankfurt a.M. 1974, S. 509–690, hier S. 683. 44 Rieger, Technology (wie Anm. 32), S. 70. 45 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887), Frankfurt a.M./Leipzig 1991, S. 70. 46 Altruismus als Manifestation von Gemeinsinn wird verstanden als willentliche Verfolgung der Interessen oder des Wohls anderer bzw. des Gemeinwohls. Er wurde bereits von Auguste Comte als säkularer Religionsersatz gefasst. Vgl. Ernst Fehr/Urs Fischbacher, „The nature of human altruism“, in: Nature 425 (2003), S. 785–791; Christoph Lumer, Rationaler Altruismus. Eine prudentielle Theorie der Rationalität und des Altruismus, Osnabrück 2000.
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Abb. 5: Der Ingenieur als Prometheus: Prometheus bringt das Feuer. Wandgemälde in der Aula des Hauptgebäudes des Polytechnikums Dresden am Bismarckplatz. Anton Dietrich, 1875. [Kustodie der TU Dresden]
Die Fokussierung der schließlich habitualisierten Altruismussupposition als Geltungsbehauptung der Berufsgruppe steht im Gegensatz zu einer verbreiteten Lesart, Ingenieure als „zielreflexionsabstinente“47 Akteure zu fassen und damit auch ihre engagierte Arbeit für beide deutsche Diktaturen48 zu deuten. Wir begreifen Ingenieure in der Hochmoderne als säkulare Missionare ideologisch grundierter Weltverbesserung durch Technik, die keineswegs sozialer und politischer Indifferenz frönten. Sie verstanden sich vielmehr als altruistische Wohltäter der Gesellschaft und Avantgarde einer allgemeinen Fortschrittsbewegung. In diesem Sinne entwickelten sie Selbstbildkonstrukte, die apolitische Gemeinwohlausrichtung und strikte Sachorientierung mit Aufgeschlossenheit gegen-
47 Lübbe, Technokratie (wie Anm. 5), S. 119. Zur Kritik dieser Perspektive vgl. ebd., S. 120. 48 Vgl. Thomas Hänseroth, „Fachleute für alle Fälle? Zum Neubeginn an der TH Dresden nach dem Zweiten Weltkrieg“, in: Johannes Abele et al. (Hg.), Innovationskulturen und Fortschrittserwartungen im geteilten Deutschland, Köln u.a. 2001, S. 301–329.
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über Neuem, Dynamik, Fantasie, Kreativität, Ausdauer sowie Gewissheits- und Exaktheitsanspruch zusammenführten. Dies verbanden sie mit der Entwicklung von Affinitätsbehauptungen und Abgrenzungsstrategien gegenüber anderen Berufsgruppen. Auf Distanz gingen sie zu „kalt rechnenden“ Kaufleuten, der humanistischen Bildungselite und Juristen. Gemeinsamkeiten reklamiert wurden mit Soldaten und Ärzten. Hinsichtlich des Anspruchs auf Fantasie und Kreativität geriet der Künstler zur Projektionsfolie, während Ingenieure mit Naturwissenschaftlern Gewissheits- und Exaktheitsansprüche zu teilen glaubten. 49
IV. Entstehungskontext des Altruismusnarrativs war die Emanzipationsbewegung der Ingenieure in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.50 Sie hatten sich als Nachzügler unter den klassischen bürgerlichen Berufen in Deutschland erst seit den 1870er Jahren zu einer Berufsgruppe formiert und sahen sich mit gravierenden Statusproblemen konfrontiert. Deutungs- und politische Eliten brachten ihnen Geringschätzung entgegen und nahmen sie als kulturlose Parvenüs wahr. So sah Jacob Burckhardt in Akteuren im „gewerblichen Bereich“ keine Repräsentanten des Geistes und hielt sie für austauschbar, da sie nicht wie Künstler, Dichter und Forscher mit dem Weltganzen zu tun hätten.51 Ingenieure litten unter dieser Stigmatisierung. Der Dresdner Professor für Technische Mechanik Otto
49 Zu Selbst- und Fremdbildern deutscher Ingenieure besteht Forschungsbedarf. Zu einzelnen Aspekten vgl. Burkhard Dietz et al. (Hg.), Technische Intelligenz und „Kulturfaktor Technik“. Kulturvorstellungen von Technikern und Ingenieuren zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik Deutschland, Münster u.a. 1996; Gerd Hortleder, Das Gesellschaftsbild des Ingenieurs, Frankfurt a.M. 1970; Konrad H. Jarausch, The Unfree Professions. German Lawyers, Teachers, and Engineers, 1800–1950, New York/Oxford 1990; Peter Lundgreen, „Das Bild des Ingenieurs im 19. Jahrhundert“, in: Salewski/Stölken-Fitschen, Moderne Zeiten (wie Anm. 14), S. 17–24; Hans-Luidger Dienel (Hg.), Der Optimismus der Ingenieure: Triumph der Technik in der Krise der Moderne um 1900, Stuttgart 1998. 50 Zusammenfassend: Lundgreen, „Das Bild des Ingenieurs“ (wie Anm. 49); Wolfgang König, „Vom Staatsdiener zum Industrieangestellten: Die Ingenieure in Frankreich und Deutschland 1750–1945“, in: Walter Kaiser/Wolfgang König. (Hg.), Geschichte des Ingenieurs. Ein Beruf in sechs Jahrtausenden, München 2006, S. 179–231, S. 198–211; Thomas Hänseroth, „,Vom Unglück, einen technischen Beruf zu erwählen‘: Zur Aufstiegsbewegung von Ingenieuren und Technischen Hochschulen im Kaiserreich“, in: Lehrstühle für Statik und Dynamik der Tragwerke der TU Dresden (Hg.), Festschrift Peter Ruge, Dresden 2003, S. 109–129. 51 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905), hg. v. Johannes Wenzel, Leipzig 1985, S. 202f.
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Mohr beklagte, dass unter hundert Familien der gebildeten Stände sich mindestens neunzig befänden, die es als Unglück betrachteten, wenn einer ihrer Söhne einen technischen Beruf wählen würde.52 Riedler monierte eine „[…] Kluft zwischen den wesentlich nur intellektuell Gebildeten und der schaffenden Welt […]“.53 (Abb. 6)
Abb. 6: Der Kopf des Erfinders. Poyet (nicht bekannt), La Nature, 1890, Bd. 1. [Leipzig, Universitätsbibliothek, Inv.-Nr.: Allg.N.W.191-g:18,1]
Die Aufstiegsstrategie der Ingenieure setzte auf die Instrumentalisierung des sich ausbreitenden Technikoptimismus und verknüpfte das Minderwertigkeitsbewusstsein gesellschaftlicher Nachzügler mit dem Anspruch, Hauptakteur des technischen Fortschritts zu sein. Sie fixierte und perpetuierte die Gemeinsinnsbehauptung durch Transzendenz bezogene Diskursivität: „Wir bahnen unseren „[…] Enkeln die größeren besseren Zeiten an, die Zukunft, welche dem Ingenieur gehört“54. Aus Sicht der Ingenieure war Technik sowohl für gesellschaftliche Wohlfahrt, sozialen Frieden und kulturelle Blüte zuständig als auch Grundlage von Einigung und Aufstieg des „Vaterlandes“.55 In diesem Kontext stilisierten sie
52 Otto Mohr, „Über die Studienfreiheit an den technischen Hochschulen“, in: Civilingenieur 32 (1886), Nr. 6, Sp. 473–478, hier Sp. 475. 53 Alois Riedler, Unsere Hochschulen und die Anforderungen des zwanzigsten Jahrhunderts, Berlin 1898, S. 17f. 54 Ludwig Brinkmann, Der Ingenieur, Frankfurt a.M. 1908, S. 82f. 55 Vgl. z.B. Alois Riedler, Rede zur Feier der Jahrhundertwende am 9. Januar 1900, Berlin 1900, S. 3–6. Die Hypostasierung der kulturprägenden Rolle von Technik veranlasste Max Weber zu der Replik, Techniker seien allen Ernstes zu dem Glauben gelangt, die Technik und ihre Evolution sei das „[…] ausschließlich führende Element in unserer Kulturentwickelung“.
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Ingenieurtätigkeit als Dienst am Nächsten. Rudolf Diesel beispielsweise imaginierte eine von moderner Technik heraufgeführte Gesellschaft, die den Menschen erlöst und ohne Konkurrenz auskommt.56 Für den Radiologen, Physiker und Technikphilosophen Friedrich Dessauer waren Techniker „[u]nbekannte Helden, in Verborgenheit Dienende, in Dunkelheit Opfernde, Vergessene, die […] nach göttlichem Plane die Menschheit beweg(en)“. Sie gewännen „[…] Freiheit durch Dienstbarkeit in einer Vollkommenheit der Erfüllung, wie sie sonst menschliche Tätigkeit auf Erden nicht kennt“.57 Ingenieure wiesen sich mithin nicht nur innovative, sondern ebenso karitative und kurative Funktionen zu. Fortan wurden in Selbstbildbeschreibungen von Ingenieuren häufig rhetorische Figuren wie „Diener des Fortschritts“, „Diener ihres Volkes“ oder auch „unbekannte Soldaten der Technik“ bemüht.58 Dies führte ein Berufsethos herauf, dessen Kernelemente auf Pflicht- und Akzeptanzwerte rekurrierten. Ingenieure gaben vor, ihr Ich zu suspendieren und sich im Kontext der jeweils obwaltenden Ordnung in den Dienst des Vaterlandes, des Volkes, der Nation, später der Volksgemeinschaft, der Rasse, der Klasse oder auch schlicht des technischen Fortschritts zu stellen. Zudem orientierten sie die Altruismusbehauptung entschieden auf Zukünftiges, womit die Bewertung technischen Handelns auch aus dieser Perspektive unter Zeitvorbehalt gestellt werden sollte. Im Ergebnis dessen formierte sich ein wechselseitiges Stabilisierungsverhältnis von Technikoptimismus und Altruismusbehauptung, die Legitimationsressourcen und Mobilisierungsstrategien füreinander waren. Ihr gemeinsamer Fluchtpunkt war die Erschließung von Zukunft als Transzendenzressource und die so vorgenommene sinnweltliche Absicherung gegenwärtiger Entwicklungen aus der Erwartung künftiger Zustände.
Max Weber, „Diskussionsrede zu Werner Sombarts Vortrag über Technik und Kultur auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910“, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, hg. v. Marianne Weber, 2. Aufl., Tübingen 1988, S. 449–456, hier S. 451f. 56 Rudolf Diesel, Solidarismus. Natürliche wirtschaftliche Erlösung des Menschen, München/ Berlin 1903. 57 Dessauer zum Altruismus erstmals in: Friedrich Dessauer, Technische Kultur? 6 Essays, Kempten/München 1908. Die instruktiveren Zitate aus: ders., Philosophie der Technik, Bonn 1927, S. V, 86. 58 Der Kraftwerksingenieur Friedrich Münzinger stellte altruistische Selbstbilder von Technikern zusammen. Vgl. Friedrich Münzinger, Ingenieure. Betrachtungen über Bedeutung, Beruf und Stellung von Ingenieuren, Berlin 1941; ders., Ingenieure. Gedanken über Technik und Ingenieure, 2. Aufl., Berlin 1942; ders., Ingenieure. Baumeister einer besseren Welt, 3. Aufl., Berlin/Göttingen 1947. Zitate: 2. Aufl., S. 25, 125; 3. Aufl., S 93.
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Befestigt wurde dies durch eine doppelte Gerichtetheit der Altruismuskonstruktion. Ingenieure insistierten nicht nur auf Arbeit für das Gemeinwohl, sondern reklamierten ungeachtet heterogener Interessenlagen auch gruppenbezogenen Altruismus. Sie kultivierten die Auffassung, Kompetenz und Kreativität würden nicht nur durch Konkurrenz, sondern ebenso durch Zusammenarbeit in einer sich verbunden fühlenden Gruppe gefördert.59 Vor allem dieser im Vergleich mit zahlreichen anderen Professionen in Deutschland spezifische zweifache Altruismus brachte weite Teile der Gesellschaft zu der Überzeugung, Ingenieure handelten im Interesse der Allgemeinheit. Insofern wurde das kollektive Selbstbild auch zum Fremdbild und damit gemeinsinnig.60 Der Sachbuchautor Georg Biedenkapp beispielsweise befand, dass die Technikgeschichte „[…] vorbildliche Charaktere und erhabene Meistergestalten bietet, deren ethischer Wert das von der Literatur Gebotene vielleicht beträchtlich überstrahlt“.61 Auch Kaiser Wilhelm II. zeigte sich anlässlich der Verleihung des Promotionsrechtes an die preußischen Technischen Hochschulen 1899 überzeugt, ihre Absolventen hätten „[…] große Aufgaben zu lösen, nicht blos [sic!] technische, sondern auch grosse [sic!] soziale“.62 In diesem Kontext gewann der zeittypische Rekurs auf „Wissenschaftlichkeit“63, der auch generell Modernitäts-, Fortschritts- und Zukunftsvorstellungen leitete, eminente Bedeutung. Obwohl technischer Wandel noch immer wesentlich Resultat rationalisierten Erfahrungswissens und gewachsenen Könnens war und die Wissenschaftsgläubigkeit der Ingenieure selbst in der eigenen Gruppe nicht ohne Kritik blieb,64 präsentierten sie neue Technik nunmehr bevorzugt als Frucht
59 Dieser gruppenfixierte Gemeinsinn gilt als deutsche Spezifik. Vgl. Kees Gispen, „Conflict and Cohesion in the German Engineering Profession, 1850–1950“, in: ICON. Journal of the International Committee for the History of Technology 1 (1995), S. 195–212; Radkau, Technik (wie Anm. 14), S. 390. 60 Zur Deutung des Ingenieurs als für die Verbesserung der Gesellschaft arbeitender Figur in den schönen Künsten vgl. Robert Leucht, „Die Figur des Ingenieurs im Kontext. Utopien und Utopiedebatten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), Nr. 2, S. 283–312. 61 Georg Biedenkapp, „Die soziale Wertung des Ingenieurs“, in: ders. et al., Der Ingenieur. Seine kulturelle, gesellschaftliche und soziale Bedeutung mit einem historischen Überblick über das Ingenieurwesen, Stuttgart 1910, S. 24–26, hier S. 25. 62 Zit. nach Riedler, Rede (wie Anm. 55), S. 8. 63 Vgl. u.a. Lorraine Daston/Peter Galison, Objectivity, New York 2007; Thomas Hänseroth, „Die Konstruktion ,verwissenschaftlichter‘ Praxis: Zum Aufstieg eines Paradigmas in den Technikwissenschaften des 19. Jahrhunderts“, in: ders. (Hg.), Studien zur Geschichte der TU Dresden, Köln u.a. 2003, S. 15–36; Wengenroth, „Einführung“ (wie Anm. 16). 64 Z.B. kritisierte Otto Mohr den unter Ingenieuren aufsteigenden Szientismus: „Diese auffallende Erscheinung kann nur mit dem Zauber erklärt werden, welcher das Wörtchen
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der Wissenschaft. Auf diese Weise stilisierten sie sich zu von der Unfehlbarkeit wissenschaftlich begründbarer Lösungsansätze gestützten und Objektivität verpflichteten Experten, die den „one best way“ im Interesse des Gemeinwohls zu finden vermochten.65 Wissenschaftsgeleitetem Handeln wurde insofern nicht nur eine legitimatorische Funktion zugewiesen, sondern ebenso die Aufgabe zugedacht, als „Konsensgenerator“ an der Erzeugung gruppenbezogenen Gemeinsinns mitzuwirken. Stand Wissenschaft doch im Ruf, „objektive“ Lösungen unabhängig von Akteursinteressen hervorzubringen Die Überhöhung des Ingenieurs zum wissenschaftsgeleiteten Diener und Motor der Fortschrittsidee stand offenkundig geraume Zeit gesellschaftlichem Hinterfragen nicht zur Disposition, da sie auf Konsens gegründet und gleichsam unverfügbar gestellt war. Auf diese Weise gelang es, partikulare Interessen der Gruppe zu einer statuserhöhenden und gegen Kritik immunisierenden Gemeinsinnssupposition zu transzendieren. In Verbindung mit den ebenso verbreiteten wie unzutreffenden Postulaten der Wertfreiheit von Technik und Wissenschaft, wodurch Ingenieure auch im Fremdbild zu unpolitischen Sachwaltern wertfreier Instanzen gerieten, vermochte das Narrativ für Aufbau und Verstetigung von robustem Vertrauen in die „Segnungen“ von Technik zu sorgen. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Normalisierung riskanter Technologien. Das Zusammenspiel von Szientismus und Altruismusbehauptung trug wesentlich zur Ausbildung von Regulierungsmustern bei, die ihre Akkulturation stabilisierten. Grundlage war ein für die westliche Moderne typisches Konzept von „Risiko“66, das Gefahren als das „Unverfügbare“67 versucht, über die Quantifizie-
‚Gesetz‘ auf deutsche Gemüther [sic!] auszuüben pflegt.“ Otto Mohr, „Über die Verwerthung der Wöhlerschen Versuche“, in: Civilingenieur 27 (1881), S. 3–12, hier S. 3f. 65 An dieser Stelle setzte auch ihr technokratisches Denken an, das technische Allmachtsvisionen zu Utopien der Plan- und Gestaltbarkeit von Gesellschaften ausweitete. Ingenieure waren überzeugt, dass alles in der Welt auf Gesetze zurückführbar sei. Da sie zudem glaubten, die in der natürlichen Welt geltenden Gesetze wie keine andere Gruppe zu kennen, sahen sie sich auch berufen, als Techniker einer guten Gesellschaft Soziales zu gestalten. Vgl. Gabriele Metzler/Dirk van Laak, „Die Konkretion der Utopie. Historische Quellen der Planungsutopien der 1920er Jahre“, in: Isabel Heinemann/Patrick Wagner (Hg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 23–43 sowie Literatur unter Anm. 5. 66 Vgl. u.a. Wolfgang. Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995; Herfried Münkler, „Strategien der Sicherung: Welten der Sicherheit und Kulturen des Risikos. Theoretische Perspektiven“, in: ders. et al. (Hg.), Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010, S. 11–34; Charles Perrow, Normale Katastrophen, 2. Aufl., Frankfurt a.M./New York 1992. 67 Münkler, „Strategien“ (wie Anm. 66), S. 11.
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rung von Risiken einer Kalkulation zu erschließen, insofern verfügbar zu machen und zugleich einzuhegen. Auf diesem Fundament etablierte sich in der formativen Phase der Regulierung zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg ein Paradigma, das auf einerseits Verrechtlichung, Bürokratisierung, Korporatisierung68 und auf der anderen Seite das Einrücken von Technik- und Naturwissenschaften in den Status konfliktregulierender Institutionen setzte. Technischer Expertise kam dabei eine Schlüsselstellung zu. In summa gelang es, über eine doppelte Transzendenzkonstruktion Vertrauen in Regulierungsmuster riskante Techniken zu generieren. Die Regelsetzung berief sich erstens in einer Zeit, die dem Gewissheitsversprechen von Wissenschaft glaubte, auf dem Hinterfragen unverfügbarer wissenschaftlicher Gesetze. Zweitens korreliert in sozialen Ordnungen Regelsetzung mit Sanktionen, die auf Normakzeptanz und Normdurchsetzung zielen.69 Diese sanktionsbezogene Perspektive verlieh den Regelwerken Gesetzescharakter. Auch die Befolgung geltenden Rechts war einem Hinterfragen unverfügbar gestellt. Riskante Technologien gerieten insofern zu einem durch die Autorität von Gesetzen doppelt abgesicherten Handlungsfeld,70 das ihr Gefahrenpotenzial invisibilisierte.
V. Die um 1900 vorgenommene Technisierung der Fortschrittsidee bewies Beharrungsvermögen. Setzen auf technischen „Fortschritt“ galt fortan als Königsweg in eine stabilere Zukunft. Dabei nahmen Zeitgenossen die Hochmoderne keineswegs als eine durch Technik sozial „befriedete“ Epoche wahr. Im Gegensatz zu anderen Zeitabschnitten erhielt sie gleichwohl ihre Signatur durch die robuste Zuversicht, mit Technik auch soziale und kulturelle Konflikte lediglich unter einem Zeitvorbehalt lösen zu können. Dies verweist auf eine beachtliche Karriere des Technischen als Transzendenzressource. Ebenso wurde das im Kontext einer Aufstiegsstrategie konstruierte Altruismusnarrativ einschließlich seiner Orientie-
68 Peter Lundgreen, Wissenschaftliche Forschung als Ausweg im politischen Konflikt?, Wiesbaden 1999; Miloš Vec, Recht und Normierung in der Industriellen Revolution, Frankfurt a.M. 2006, S. 165–291, S. 326–340. 69 Heinrich Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 21–63. 70 Zur wechselwirkenden Qualifizierung juristischer und Naturgesetze als „sicher“, „gewiss“ und „universal“ in der Frühen Neuzeit und der Perpetuierung dessen in der Moderne vgl. Lorraine Daston/Michael Stolleis (Hg.), Natural Law and Laws of Nature in Early Modern Europe: Jurisprudence, Theology, Moral and Natural Philosophy, Surrey/Burlington 2008.
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rung an der technisierten Fortschrittsverheißung auf Dauer gestellt.71 Als Folge dessen bildete der Drang der Gruppe nach Demonstration des Diensts am „Fortschritt“ ein dynamisierendes Element technischen Handelns, der auch zum Verschwimmen von Grenzen jener Aufgabenfelder anhielt, die Ingenieuren in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft zugewiesen sind. Nachdem Zukunftszuversicht und technisierte Fortschrittsemphase während der 1960er Jahre in beiden deutschen Staaten einen weiteren Höhepunkt erlebt hatten,72 erodierten diese schließlich während des folgenden Dezenniums in der Bundesrepublik. In der DDR unterlag der Fortschrittskult zwar auch semantischen Metamorphosen und verlor an Bindekraft, blieb aber diskursive Leitkategorie der Herrschaftslegitimation.73 Hier ist nicht der Ort, dies näher zu explizieren. Verwiesen sei nur darauf, dass die 1970er Jahre von der historischen Forschung als Umbruchsjahrzehnt zumindest der westlichen Welt gedeutet werden, in dem sich ein multipler Strukturbruch von revolutionärer Qualität ereignete. Im Dreieck von technisch-ökonomischem Strukturwandel, soziostrukturellen Veränderungen und Wertewandel interferierten längerfristige Wandlungsprozesse mit kurzfristigen Krisenschüben.74 Durch die Erosion der Fortschrittsidee verlor das hegemoniale Geschichtsbild der westlichen Moderne seinen Vektor. Gegenwärtige Entwicklungen ließen sich nicht mehr umstandslos aus kollektiven Erwartungshorizonten künftiger
71 Gerd Hortleder und Eugen Kogon belegen noch für die 1970er Jahre die Stabilität der um 1900 geformten Selbst- und Fremdbilder. Vgl. Hortleder, Ingenieure (wie Anm. 49), S. 139; Eugen Kogon, Die Stunde der Ingenieure. Technologische Intelligenz und Politik, Düsseldorf 1976. 72 Vgl. Heinz-Gerhard Haupt/Jörg Requate (Hg.), Aufbruch in die Zukunft. Die 1960erJahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, ČSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004; Hubert Laitko, „Wissenschaftlich-technische Revolution. Akzente des Konzepts in Wissenschaft und Ideologie der DDR“, in: Utopie kreativ 73/74 (1996), S. 33–50; Gabriele Metzler, „‚Geborgenheit im gesicherten Fortschritt‘. Das Jahrzehnt der Planbarkeit und Machbarkeit“, in: Matthias Frese et al. (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u.a. 2003, S. 777–797; Radkau, Technik (wie Anm. 14), S. 330–404. 73 Martin Sabrow, „Zukunftspathos als Legitimationsressource. Zu Charakter und Wandel des Fortschrittparadigmas in der DDR“, in: Haupt/Requate, Aufbruch (wie Anm. 72), S. 165–184. 74 Vgl. u.a. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Thomas Raithel et al. (Hg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009. Transnational vgl. Niall Ferguson et al. (Hg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge 2010.
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Zustände legitimieren, womit Zukunft ihren Status als Transzendenzressource einbüßte. Gleichermaßen geriet der Technikoptimismus zur Kippfigur.75 Ein westdeutscher Technikhistoriker konstatierte seinerzeit, der Einstellungswandel zur Technik gleiche einer Zeitenwende.76 Als bewusst wurde, dass die Bilanz von „Fortschritt“ nur im Horizont von Ambivalenz zu fassen ist, zerfiel jenseits des Refugiums der Ingenieurkultur und ihr zuarbeitender Wissenschaften der common sense möglichen Parallelisierens technischen und zivilisatorischen Fortschreitens. Für weite Teile der Gesellschaft endete die Entzauberung der Technik mit ihrer Verabschiedung als Transzendenzressource. Ihr Fortschrittsversprechen trat bestenfalls ins Glied konkurrierender Heilserwartungen zurück und verlor den Status einer epochalen Pathosformel. Dazu trug auch bei, dass die behauptete Gemeinwohlorientierung von Ingenieuren zugunsten jetzt eher vermuteten Eigensinns in Frage gestellt wurde. Ebenso sorgte das Aufkommen ingenieurtechnischer Gegenexpertise für Risse im einst monolithischen Fremdbild der Gruppe.77 In summa wuchs in weiten Teilen der Gesellschaft mit wachsender Distanz zu den Ideenhaushalten der Hochmoderne die Einsicht, dass Technik nicht über sich hinausweisen kann und Menschheitsfragen durch Technik keineswegs gelöst, allenfalls neu gestellt werden. Oder mit Bert Brecht: Von Technik ist nicht zu erwarten, dass das Brot billiger wird.78
75 Neben der unter Anm. 74 angeführten Literatur vgl. Radkau, Technik (wie Anm. 14), S. 375–380. Den Einstellungswandel spiegeln auch Meinungsumfragen. Vgl. z.B. Michael v. Klippstein, „Technikakzeptanz oder das Dilemma zwischen Sachzwang und Menschlichkeit“, in: ders./Burkhard Strümpel, Gewandelte Werte – erstarrte Strukturen, Bonn 1985, S. 45–86, hier S. 45–53; Dieter Jaufmann/Ernst Kistler (Hg.), Einstellungen zum technischen Fortschritt: Technikakzeptanz im nationalen und internationalen Vergleich, Frankfurt a.M. 1991. 76 Armin Herrmann, „Die Technik als Kulturfaktor. Die wissenschaftlichen Grundlagen des neuen Landesmuseums“, in: Schriften der Georg-Agricola-Gesellschaft 6 (1980), S. 22–27, hier S. 25. 77 Zu ersten Befunden vgl. Jens Ivo Engels/Peter Hertzog, „Die Macht der Ingenieure. Zum Wandel ihres politischen Selbstverständnisses in den 1970er Jahren“, in: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande 43 (2011), Nr. 1, S. 19–38. 78 Brecht formulierte 1930 als soziale Bilanz der Technik: „Das Brot wurde dadurch nicht billiger.“ Bertolt Brecht, „Das Badener Lehrstück vom Einverständnis“, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht et al., Bd. 3, Berlin u.a. 1988, S. 30.
Christian Schwarke
The Gospel According to Fortune Technik und Transzendenz in der Mission für eine industrielle Kultur
I. Technik und Kultur Wie führt man eine Elite in eine neue Zeit, die sie selbst wirtschaftlich heraufführt, deren kulturelle Konsequenzen sie aber nicht wahrhaben will? Wie bringt man einer Managerelite Ethik nahe? Wie erfüllt man Wirtschaft und Technik mit Sinn, wenn eine Depression langsam allen Sinn abzuziehen scheint? Wie kann man industrielle Technik als eine Brücke über die Gräben der Gesellschaft etablieren? Mit anderen Worten: Wie macht man Technik zu Kultur? Auf all diese Fragen gab es in den Vereinigten Staaten der 1930er Jahre eine monatlich erscheinende Antwort im Quartformat: Fortune. Henry R. Luce, Herausgeber des Time Magazine, hatte seit Ende der zwanziger Jahre daran gearbeitet, eine Zeitschrift herauszubringen, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen sollte. Fortune sollte Technik, Industrie und Wirtschaft präsentieren, aber dies nicht im Stile eines Fachjournals, sondern als Kulturzeitschrift. Daher sollte Kunst darin ebenso einen Platz finden wie die Analyse der wirtschaftlichen Situation. Fortune zielte auf eine Leserschaft aus der Elite von Wirtschaftsführern. Für sie sollte eine Synthese geschaffen werden zwischen der Welt der Industrie und einer Kultur, die diese Welt nicht mehr als Gegner der Natur, der überkommenen Werte und des gemeinschaftlichen Lebens überhaupt erscheinen ließ. Dass Technik, Industrie und Wirtschaft eine positive Bedeutung für die Kultur haben können, dass technisches und wirtschaftliches Handeln zugleich eine ethische Dimension haben müssen – dies wollte Fortune seinen Lesern und Leserinnen vor Augen führen und sie zur Nachfolge ermuntern. Über die sich in den Dreißigern verschärfenden politischen Gegensätze hinweg wurde die Technik als gemeinsame Basis des Lebens inszeniert. Dabei wurde sie mit unterschiedlichen Motiven und Ebenen der Transzendenz versehen. Diese Transzendenzdimensionen ermöglichten zum einen, Bezüge der Technik zur Tradition herzustellen und sie damit in die Geschichte einzubinden. Gleichzeitig hoben sie jene Aspekte der Technik hervor, die das Vorhandene überschritten, in die Zukunft wiesen und der Technik einen kulturellen Wert verliehen, indem sie die Technik als Ausdruck derjenigen, letztlich religiösen Ziele und Werte sichtbar werden ließen, die man ehedem in den Kirchen verkündigte.
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Fortune wollte predigen, und sein Evangelium verhieß seinen Lesern einen Platz an der Spitze der neuen Welt. Die Zeitschrift Fortune soll hier als exemplarischer Fall für die Repräsentation der Technik in den 1930er Jahren analysiert werden. An diesem Beispiel wird deutlich, wie insbesondere neue Technologien mit Motiven der Transzendenz versehen werden, um sie gesellschaftlich zu integrieren. Die systematischen Fragen, die sich mit der Analyse solcher Vorgänge verbinden, betreffen sowohl das Verhältnis von religiöser Transzendenz und anderen Motiven der Transzendierung als auch die Frage danach, ob man zwischen Bezügen zu „echten“ Transzendenzen und solchen Verweisen unterscheiden kann, die bloß gemacht, konstruiert und gezielt eingesetzt werden. Die Untersuchung legt hier Antworten nahe, die gängige Unterscheidungen unterlaufen.
II. Fortune als Programm An Fortune lässt sich zeigen, dass die Aufladung der industriellen Technik mit Motiven der Transzendenz nicht angemessen wahrgenommen wird, wenn man sie ideologiekritisch als bloßes Instrument betrachtet, das die Masse der Käufer in den sanften Traum des Konsums wiegen sollte. Fortune richtete sich an die Elite, nicht an die breite Bevölkerung. Fortune war aber auch kein Lehrgang darüber, wie man das Volk narkotisiert, sondern der Versuch einer Sinnstiftung. Indem die Leser erfuhren, dass das, was sie taten, eine transzendente Dimension hatte und sie gleichzeitig auf die Mitarbeit an einer besseren, sozialeren Welt verpflichtet wurden, wurde ihnen genau jene Kombination aus Evangelium und Gesetz angeboten, die ein viel älterer Kommunikator als Henry R. Luce bereits erfolgreich verwendet hatte. Der Pfarrerssohn Luce wusste, wie man ein Evangelium herausgibt. Bereits der Titel der Zeitschrift war Programm: „Fortune“ bezeichnet das „Vermögen“ ebenso wie das „Glück“. Einem Businessman um 1930 musste damit sofort jene Mischung aus Eigeninitiative und Fügung vor Augen stehen, die einen elementaren Bestandteil der calvinistischen Tradition der USA darstellt. Das Titelbild der ersten Ausgabe zeigte im Stile eines Kupferstiches des 17. Jahrhunderts eine Hafenansicht. Im Vordergrund saß die Personifikation des „Glücks“ vor ihrem übergroßen Attribut, dem Rad. Die golden-braune Farblichkeit verlieh dem Bild sowohl etwas „Altes“ als auch eine „edle“ Note.1 Das Rad aber ist nicht nur
1 Fortune 1 (1930), Nr. 1, Cover (Thomas M. Cleland). Zahlreiche Coverillustrationen des Magazins sind im Internet zu finden: http://www.fulltable.com/vts/f/fo.htm (Zugriff am
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Symbol der Unverfügbarkeit des Glücks, sondern auch das zentrale Symbol der Maschine in den dreißiger Jahren. Ohne es explizit zu machen, wird die Technik des „Machine Age“ in diesem Bild an das Transzendente angebunden. Und diese Bindung war nicht zufällig. In einem Entwurf des geplanten Magazins für die Direktoren der Time Inc. schrieb Luce: „We conceive that the failure of business magazines to realize the dignity and the beauty, the smartness and the excitement of modern industry, leaves a unique publishing opportunity […] Industry is a world in itself.“2 Fortune sollte die Welt ausmessen und zum Thema machen, was diese im Innersten zusammenhält. In einem kurzen Text, der beinahe versteckt in der ersten Ausgabe die Ziele des Magazins beschreibt, heißt es: „Business takes Fortune to the tip of the wing of the airplane and through the depths of the ocean along be-barnacled cables.“3 Zu diesem Zweck sollte Fortune das „unbestritten schönste“ Magazin der USA werden.4 Fortune wollte überwältigen.5 Dazu trug zunächst die Größe bei: 36 x 28 cm. Jede Ausgabe enthielt ca. 200 Seiten schweren Papiers. Jedes Titelbild war ein graphischer Einzelentwurf.6 Neben anderen zeichneten dafür so bekannte Namen wie Diego Rivera, Charles Sheeler, Ralston Crawford und Fernand Léger. Die Abfolge der Cover macht eine der Intentionen des Magazins besonders sinnfällig. Insbesondere in den ersten Jahren des Erscheinens wechseln sich jeden Monat ein traditionell gehaltenes Bild und ein moderner Bildentwurf ab. Fortune wollte seinen Lesern die Moderne nahebringen, ohne ihnen den Boden vertrauter Gegenständlichkeit zu entziehen.7
12.6.2012). http://www.gono.com/adart/fortune/fortune_magazine_covers.htm (Zugriff am 12.6.2012). – Einige prägnante Analysen zu den Covern unter: http://xroads.virginia.edu/ ~1930s/print/fortune/index.html (Zugriff am 12.6.2012). – Eine Darstellung sämtlicher Cover von 1930–1950 bietet: Daniel Okrent, Fortune. The Art of Covering Business, Salt Lake City 1999. 2 Henry R. Luce, zit. nach Terry Smith, Making the Modern. Industry, Art, and Design in America, Chicago/London 1993, S. 162. 3 Fortune 1 (1930), Nr. 1, S. 38. 4 Fortune 1 (1930), Nr. 1, S. 38. 5 Diesem Zweck diente auch der Preis von einem Dollar (andere Magazine kosteten ca. 10 Cent). Zudem konnte man Fortune nicht am Kiosk erwerben, sondern nur abonnieren. 6 Erst die Juliausgabe des Jahres 1939 zeigte erstmals ein Foto. 7 James Miller sieht in der Darstellung der Vergangenheit und der Moderne in Fortune zwei gleichgewichtige Stränge. Fortune wäre darin Teil des allgemeinen Trends der Zeit gewesen, die Gegenwart in der Vergangenheit zu sichern. M. E. gibt es jedoch einen eindeutigen Richtungssinn. Die Vergangenheit wird in Fortune nicht um ihrer selbst willen thematisiert, sondern um Anbindungen zu schaffen und eine „weiche“ Moderne zu inszenieren. Vgl. James
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Auch innen überwältigte Fortune mit einer bis dahin nicht gekannten Fülle von Abbildungen: Fotografien, Gemälde, Aquarelle gaben mindestens so viel zu sehen, wie zu lesen war. Fortune zeigte freilich nicht alles, was an Kunst zu haben war. Lässt sich die Vorliebe für den Precisionism noch zwanglos damit erklären, dass eben hier die Industrie zum Gegenstand der Kunst gemacht wurde, so war die Förderung des Regionalism mehr als eine kunstpolitische Aussage. Thomas Hart Benton, Grant Wood und mit Einschränkungen auch Reginald Marsh verfolgten dieselben Ziele wie Luce. Durch die künstlerische Darstellung der ländlichen oder industriellen Welt sollte der Betrachter unter Wahrung alter Werte in die Moderne geführt werden.8 Kunst sollte dabei zugleich dem Betrachter verständlich als auch „amerikanisch“ sein, was sich beides gegen die als europäisch wahrgenommene Tendenz zur Abstraktion richtete.9 Neben Gemälden und Aquarellen zeigte Fortune eine große Anzahl von Fotografien. Auch hier übertrumpfte Fortune andere Zeitschriften durch die schiere Opulenz und dadurch, dass das Bild neben der literarischen Qualität der Beiträge zum zweiten Brennpunkt und Informationsträger der Zeitschrift wurde. Dafür engagierte Luce zunächst Margaret Bourke-White als festangestellte Fotografin. Wie die Präzisionisten war auch Bourke-White von der Industrie fasziniert. Das passte präzise zu Luces eigener Begeisterung für die Technik und zu seinem Wunsch, sie als weltgestaltend zu verstehen und ihr so einen Ort in der Kultur der Moderne zu geben.10 Der Mission, die Fortune erfüllen sollte, diente eine in jeder Ausgabe wiederkehrende Mischung aus Geschichten über erfolgreiche Geschäftsmänner und ihre Familien, einer Darstellung eines Industriezweiges und Firmenportraits. Sich in Fortune wiederzufinden, signalisierte Bedeutung. Die Portraits einzelner Persönlichkeiten erzählten Werdegang und Tätigkeiten, sowie die sozialen Aktivitäten ihrer Helden. So kennzeichnete ein Portrait von Arthur Curtis James ihn als „Gentleman Funded Proprietor – this civilization’s best example“, nicht ohne seine Freundschaft mit Henry Sloane Coffin zu erwähnen, dem Präsidenten
S. Miller, „White-Collar Excavations: Fortune Magazine and the Invention of the Industrial Folk“, in: American Periodicals 13 (2003), S. 84–104. 8 Ein Beispiel hierfür ist das Werk „Baptism in Kansas“ von John Steuart Curry (1928, Whitney Museum of American Art, New York): Vor einem Ensemble traditioneller Farmgebäude findet eine traditionelle baptistische Tauffeier statt, die der Himmel traditionell mit der Sendung einer Taube quittiert. Wie eine traditionelle Wagenburg umfängt die Gemeindeglieder die Reihe der Fahrzeuge, mit denen sie gekommen sind: Fords gar nicht traditionelles Modell T. 9 Zur Kunst der Zwischenkriegszeit im Blick auf die Technik: Richard Guy Wilson et al., The Machine Age in America. 1918–1941, New York 1986. 10 Alan Brinkley, The Publisher. Henry Luce and His American Century, New York 2010, S. 155.
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des Union Theological Seminary.11 Als Ausweis der Weite des Familienhorizontes einer Industriellenfamilie wurde eigens betont, dass zwei ihrer Mitglieder presbyterianische Pfarrer geworden seien.12 Umgekehrt konnte Fortune 1931 auch fragen, welche Unternehmer untergegangen seien und präsentierte die „Gallery of Calamity“, ein Beispiel für Fortunes ethische Ambitionen: „Of the thousands who have fallen from fortune and power […] Fortune here presents eight of the most spectacular […] Some were reckless, some dishonest. […] All are exhibits of depression.“13 Die Gründe für wirtschaftliches Scheitern sah Fortune vor allem in moralischem Fehlverhalten.14 Neben diesen „Heiligenlegenden“ widmete Fortune in jeder Ausgabe einem Industriezweig eine Folge von Beiträgen. So wurden die Kohlen-, Aluminium-, Baumwollindustrie u.v.a. ausführlich dargestellt. Begonnen wurde der Reigen bezeichnenderweise mit einer Reportage über ein Schlachthaus, was man zunächst nicht mit der Spitze moderner Industrie in Verbindung bringen würde. Aber von der Fleischindustrie aus hatte das Fließband seinen Siegeszug in der Industrie begonnen. Zudem wird in Margaret Bourke-Whites Bildern der hängenden Tier(teil)e eine visuelle Strategie eingeführt, die noch zahlreiche weitere Beiträge bestimmen sollte: Etwas für den bürgerlichen Geschmack zunächst Hässliches (und weitgehend Verborgenes) wird durch eine künstlerische Darstellung zu einem Teil der (offensichtlichen) Lebenswelt und damit nicht nur in den Rang der Darstellungswürdigkeit erhoben, sondern auch in einigen Fällen zu etwas, das als schön wahrgenommen werden soll.15 So findet sich ebenfalls gleich im ersten Heft von Fortune ein Portfolio von M. Bourke-White, das von einem Bild einer Erzhalde eröffnet wird. Im Vordergrund sieht man die sich überschneidenden Linien der Erzhaufen wie eine Hügelkette in einem Landschaftsbild. Im Hintergrund dann zwei Schornsteine, die eine Fabrik mehr erahnen lassen, als dass man sie sähe. Bourke-White knüpft damit an zahlreiche Industriebilder des 19. Jahrhunderts an, in denen eine Fabrik ähnlich in die Landschaft eingebettet ist wie hier in die Deponie. Anders als man dies mit dem ökologisch verwandel-
11 „Portrait of A Gentleman Funded Proprietor“, in: Fortune 1 (1930), Nr. 1, S. 72–73. 12 „Presbyterian Copper“, in: Fortune 6 (1932), Nr. 1, S. 40–47. 13 „Gallery of Calamity“, in: Fortune 3 (1931), Nr. 4, S. 89–93. 14 Auch dies hatte Luce seinen Direktoren angekündigt: „I will attempt, subtly, to ‚take a position‘, particularly as regards what may be called the ethics of business“, zit. nach Smith, Making the Modern (wie Anm. 2), S. 163. 15 „Hogs“, in: Fortune 1 (1930), Nr. 1, S. 55ff. – Nach A. Brinkley kann man den Beitrag darüber hinaus als eine implizite „Gegengeschichte“ lesen, insofern die konkrete Firma, die Swift Meatpacking Co. der Schauplatz von Upton Sinclairs „The Jungle“ (1906) war. Vgl. Brinkley, The Publisher (wie Anm. 10), S. 155.
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ten Blick des 21. Jahrhunderts wahrnehmen würde, liegt die Pointe des Bildes aber gerade nicht in einer Schilderung der zerstörten Landschaft, sondern in der Wahrnehmung der Erzhalde als Landschaft. Auch die folgenden Bilder von einem Frachter in starker Untersicht, von einem Schweißer und von Entladekränen am Kai wollen Linien aus Eisen als ästhetische Struktur sichtbar machen. Bevor Motive und Strategien der Transzendierung näher beleuchtet werden, soll das Umfeld, in dem Fortune für die Technik warb, umrissen werden.
III. Kontexte Fortune erschien in der Zeit der Great Depression. Zunächst versuchte das Magazin, davon wenig Notiz zu nehmen. Erst als es unabweisbar wurde, dass die Wirtschaftskrise keine vorübergehende Erscheinung sein würde, widmete Fortune den Problemen seine Aufmerksamkeit. Nun erschienen Artikel zum Wohnungsproblem16 und zur Arbeitslosigkeit.17 Es ist oft bemerkt worden, dass Fortune eine für ein Businessmagazin untypisch „linke“ Autorenschaft hatte und entsprechend überraschende Tendenzen der Beiträge.18 Luce wollte zwar eine Wirtschaftszeitschrift für die wohlhabende Leserschaft in Führungspositionen herausgeben, aber es sollte dies mit einer sehr hohen Qualität geschehen. Diese schien ihm eher mit jungen engagierten Anfängern realisierbar zu sein als mit etablierten Journalisten,19 zumal Luce zum Zeitpunkt des Starts von Fortune selbst gerade 32 Jahre alt war. Luces Autoren verstanden sich als Schriftsteller, die sich, je weiter die dreißiger Jahre voranschritten, mit dem Zeitgeist nach links entwickelten. Wo die Positionierung des Artikels zu eindeutig wurde, wie im Falle der Reportage von James Agee zu den Baumwollpflückern im Süden, lehnte Fortune
16 „Housing: The Need“, in: Fortune 5 (1932), Nr. 2, S. 61ff. 17 „Unemployment“, in: Fortune 6 (1932), Nr. 3, S. 18–28, 80–88. Mit Aquarellen von Reginald Marsh. 18 U.a. Michael Augspurger, An Economy of Abundant Beauty. Fortune Magazine and Depression America, Ithaca/ London 2004, Introduction. 19 Robert Vanderlan, Intellectuals Incorporated. Politics, Art, and Ideas Inside Henry Luce’s Media Empire, Philadelphia/ Oxford 2010, widmet dieser Frage auch im Blick auf Luces andere Zeitschriften (Time und Life) eine eigene Studie und zeichnet die im Laufe der dreißiger Jahre zunehmenden Spannungen nach, denen sowohl der Herausgeber als auch die Autoren ausgesetzt waren. Zu Fortune besonders S. 91–123. Vgl. auch James C. Baughman, Henry R. Luce and the Rise of the American News Media, Boston 1987, S. 72.
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eine Veröffentlichung jedoch ab.20 Dennoch bleibt im Blick auf die Leserschaft die erstaunliche Tatsache, dass es Luce gelang, bis in die zweite Hälfte der dreißiger Jahre ein erfolgreiches Businessmagazin mit mehr oder minder offen kritischen Positionen herauszugeben. Der Schlüssel zu der Frage, wie Fortune im Kontext seiner Zeit zu verstehen ist als eine damals wie heute widersprüchlich erscheinende Mischung aus Business, Ethik, Verantwortung und Kunst, ist in der im Hintergrund liegenden Ebene der Technik zu finden. Vordergründig und in den Artikeln des Magazins ging es um Wirtschaft und Politik. Und auf dieser Ebene erscheinen die Widersprüche manifest. Hinter der Wirtschaft stand jedoch das, was diese überhaupt für die Wahrnehmung der damaligen Zeit ausmachte, was aber noch nicht zur Selbstverständlichkeit geworden war: Großindustrie, Massenproduktion und eine die Welt nunmehr auch ästhetisch dominierende Technik. „This Long Swing of Industrial Civilization is the Theme of Fortune.“21 Als Gewährsmann zitierte Fortune John Dewey: „The machine is the authentically embodied Logos of modern life.“22 Daher konnte Fortune seine Adressaten auch als diejenigen bezeichnen, „whose stakes in this industrial civilization are greatest.“23 Wie Technik und Industrie in das Leben der Menschen und in das Erscheinungsbild der Welt integriert werden könnten, war aber das gemeinsame Thema sowohl der Apologeten des „corporate capitalism“ als auch der eher nach sozialistischen Alternativen suchenden „liberals“. So gewiss in Fortune auch die Übergangsprobleme von einer traditionellen Eigentümerunternehmerschaft hin zu einer modernen professionalisierten Managerelite ausgetragen wurden,24 so geht es eben auch um die Technik, die dieser Wirtschaft zu Grunde lag, und die aus jeder Seite von Fortune dem Leser geradezu entgegensprang. Die Wirtschaft war das Mittel, um die durch die Technik ermöglichte Lebensverbesserung zu verbreiten.
20 Die Arbeit wurde später als umfangreiches Buch veröffentlicht, das heute als eines der wichtigsten Werke der dreißiger Jahre gilt: James Agee/ Walker Evans, Let Us Now Praise Famous Men (1941), Neuausgabe mit einer Einleitung von Blake Morrison, London 2006. 21 Fortune 11 (1935), Nr. 2, S. 18. 22 Fortune 1 (1930), Nr. 1, S. 25. Im Original geht der Satz freilich noch weiter: „[…] and the import of this fact is not diminished by any amount of dislike to it.“ Vgl. John Dewey, „Philosophy“, in: Ann Boydston (Hg.), Later Works of John Dewey, 1925–1953, Vol. 3: 1927–1928. Essays, Reviews, Miscellany, and „Impressions of Soviet Russia“, Carbondale 1984, S. 115–132. Hier S. 119. 23 Fortune 6 (1932), Nr. 5, S. 96. 24 Ein Aspekt, den Augspurger, Economy (wie Anm. 18), zum Mittelpunkt seiner Interpretation macht. Als Adressaten des Magazins identifiziert auch Baughman diese Gruppe. Vgl. Baughman, Luce (wie Anm. 19), S. 65.
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John Stomberg hat die eigentümliche Haltung Luces aus einer angenommenen Lektüre Max Webers und Werner Sombarts hergeleitet.25 Tatsächlich ist Luce von einem protestantischen Arbeitsethos durchdrungen, und er will den Eliten eine verantwortungsethische Position nahebringen.26 Näher aber liegt ein anderer Einfluss, der sich aus dem Charakter des Magazins ergibt: Die Werbung. Fortune verstand sich selbst zu einem wesentlichen Teil als Anzeigenzeitschrift. Die Werbungen in eigener Sache thematisierten oft diesen Aspekt: „Fortune: First in Color Advertising.“27 „Fortune itself is the best reason for advertising in Fortune.“28 Schon der Aufbau des Magazins zeigte, dass man sich als Werbeträger sah: Die ersten 40 Seiten zeigten jeweils nur ganzseitige Werbeanzeigen auf Tiefdruckpapier. Dann folgten etwa 100–150 Seiten redaktionelle Teile mit den Artikeln und vereinzelten Werbungen auf einem raueren, dickeren Papier, gefolgt von nochmal 40 Seiten Werbung auf Glanzpapier. Werbung aber sollte nicht jene beliebige Bauernfängerei darstellen, als die sie kulturkritische Augen diesseits und jenseits des Atlantiks sahen, sondern Fortune legte Wert darauf, dass Werbung „in the Fortune Manner“29 erfolgte. Die Märzausgabe im Jahr 1930 brachte sogar einen Artikel zum Thema „Good Taste in Advertising“,30 in dem provozierender Werbung zwar ein hoher Aufmerksamkeitswert bescheinigt wurde, sie aber letztlich als unethisch qualifiziert wurde. Werbung war in den 1920er und 1930er Jahren der Träger einer veränderten Weltwahrnehmung. Auf der Außenseite wird das darin deutlich, dass man nicht mehr vorrangig Informationen über Produkte vermittelte mit langen Texten und wenigen Bildern, sondern die mit dem Produkt verbundenen Werte transportieren wollte – mit großen Bildbotschaften und überschaubarem Text. Damit wurde zugleich nicht allein das Produkt, sondern ein Leben propagiert, das durch
25 John Robert Stomberg, Art and Fortune: Machine-Age Discourse and the Visual Culture of Industrial Modernity, PhD Dissertation. Boston 1999, S. 229ff. 26 So beginnt eine Sentenzensammlung im ersten Heft: „‚Ye Men of America, methinks ye are in many ways too materialistic.‘ – St. Paul the Apostle, as paraphrased by Myron C. Taylor.“ Vgl. Fortune 1 (1930), Nr. 1, S. 25. 27 Fortune 6 (1932), Nr. 3, S. 76. 28 Fortune 8 (1933), Nr. 4, S. 24. Erstmals in der Märzausgabe 1934 wirbt Fortune mit seiner journalistischen Kompetenz, mit der Fortune das Vertrauen der Leser erworben hätte. Fortune 9 (1934), Nr. 3, S. 185. 29 Fortune 6 (1932), Nr. 5, S. 96. 30 Fortune 1 (1930), Nr. 2, S. 60f.
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das Produkt ermöglicht, erleichtert oder erhoben wird. Werbung erhielt dadurch einen missionarischen Charakter.31 Fünf Jahre vor Fortunes Geburt war dieser Mission in einem anderen Evangelium der Segen erteilt worden. Einer der erfolgreichsten Werbefachleute in den USA der damaligen Zeit war Bruce Barton. Wie Luce Sohn eines Pfarrers, wechselte er nach anfänglichem Theologiestudium in die Wirtschaft und gründete 1919 die bald darauf drittgrößte Werbeagentur in den USA.32 Zugleich schrieb Barton einen bis heute aufgelegten Bestseller mit dem Titel „The Man Nobody Knows“.33 Das Buch erreichte in den Jahren 1925 und 1926 eine Auflage von 250.000 Exemplaren. Barton stellt darin Jesus als den ersten Businessman vor. Jesus habe eigentlich die erfolgreiche Geschäftsführung erfunden, eine Gruppe von qualifizierten Menschen um sich versammelt und ein Weltunternehmen gegründet. Jesus habe gewusst, dass man früh aufstehen müsse, um erfolgreich zu sein, und er wusste, wie man wirbt, die Menschen anspricht, sie abholt und ihnen die wichtigen Dinge des Lebens nahebringt. Wie Luce war Barton von der Mission durchdrungen, den Menschen seiner Zeit (und sich selbst) eine Verbindung zwischen der Tradition und der Moderne zu ermöglichen.34 Barton lehrte die Menschen, ihr Leben in dieser wirtschaftlich geprägten Welt als Nachfolge Jesu verstehen zu können. Die protestantische Fundierung der Werbung bei Barton zeigte sich u.a. in einer Werbung für General Motors. Lange bevor die Depression die Firmen dazu zwang, ihren Beitrag für das Wohl der Gesellschaft in den Vordergrund zu stellen, ließ Barton General Motors ihre Pflicht zum Dienst an der Öffentlichkeit annoncieren. Das Auto diene dazu, Ärzte zu ihren Patienten zu bringen und Pfarrer zu ihrer
31 Vgl. zur Werbung allgemein den Klassiker zur amerikanischen Werbung der Zwischenkriegszeit: Roland Marchand, Advertising the American Dream. Making Way for Modernity. 1920–1940, Berkeley/ Los Angeles/ London 1985. Marchand bemerkt an vielen Stellen die religiösen Untertöne der Werbung, kann dies aber nur als zufällig oder metaphorisch deuten. Anders Erin Smith, die darauf hinweist, dass viele Werbeleute Pfarrersöhne waren und die kirchlichen Methoden übertrugen. Vgl. Erin A. Smith, „ ‚Jesus, My Pal‘: Reading and Religion in Middlebrow America“, in: Canadian Review of American Studies/ Revue canadienne d’études américaines 37 (2007), Nr. 2, S. 147–181. Hier S. 155. 32 Zu Barton vgl. Richard M. Fried, The Man Everybody Knows. Bruce Barton and the Making of Modern America, Chicago 2005. – Leo P. Ribuffo, „Jesus Christ as Business Statesman: Bruce Barton and the Selling of Corporate Capitalism“, in: American Quarterly 33 (1981), Nr. 2, S. 206–231. 33 Bruce Barton, The Man Nobody Knows, a discovery of the real Jesus, Indianapolis 1925. 34 Barton und Fortune veröffentlichten 1933 darüber hinaus eine ganzseitige Anzeige, in der Barton dagegen zu Felde zog, Jesus als Idealisten zu werten. Stattdessen solle man angesichts der Kriegsgefahr Jesu Weg des Friedens als den einzig praktischen Weg verstehen. Fortune 8 (1933), Nr. 6, S. 6.
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Gemeinde.35 Für das Warenhaus Marshall Field’s, das sonntags noch geschlossen hatte und seine Schaufenster verhängte, titelte Barton mit den Worten „The Things Unseen“, was zur Vorlage für zahlreiche Predigten wurde.36 Schon damals wurde Bartons Jesusbuch für seine theologische Oberflächlichkeit kritisiert.37 Unabhängig von der tatsächlich, insbesondere für europäische Ohren, krude anmutenden Übertragung der Evangelien in die Gegenwart der dreißiger Jahre belegen Leserbriefe an Barton, dass er sein Ziel erreichte. Viele Reaktionen zeigen, dass die Menschen durch Barton ihrem Leben einen neuen Ort geben konnten. „However limited Barton’s theology might appear to scholars and intellectuals, it was useful for people who felt they needed a faith to live by and could not find one that worked in a modern, industrial age.“38 Was Barton für die Wirtschaft vollzog und womit er jedem Angestellten vom Handelsvertreter bis zum Firmenchef ermöglichte, sich als Wanderprediger zu sehen, übertrug Luce auf die Industrie.39 Werbung und Religion protestantisch-liberaler Provenienz bildeten die Form, in der Fortune seinen Inhalt transportierte. Die Werbung ist daher der Ort, an dem wesentliche Teile der Botschaft Fortunes von der Kulturbedeutung der Technik zu finden sind. Das Mittel solcher Mission ist die Verbindung des Technischen mit Elementen des Transzendenten.
IV. Transzendenzmuster Im Folgenden werden wir uns zunächst vorwiegend Bildern zuwenden. Die Abbildungen der Werbung und des redaktionellen Teils eröffnen die Möglichkeit, jene Botschaften, Anmutungen und Assoziationen zu beschreiben, die nicht expressis verbis formuliert werden, weil dies entweder nicht möglich oder in textlicher Form zu durchsichtig und rational erschienen wäre.40 „Seeing is Believing“, meinte die W. F. Hall Printing Company und führte diesen Zusammenhang auf
35 Vgl. Fried, The Man (wie Anm. 32), S. 62. 36 Fried, The Man (wie Anm. 32), S. 63. 37 So monierte die New Republic etwa, dass Barton die Göttlichkeit Jesu Christi aus dem Blick verliere. Vgl. Gilbert Seldes, „The Living Christ“, in: The New Republic 43 (24.6.1925), S. 127 und 43 (15.7.1925), S. 207f. (Hinweis bei E. Smith, siehe Anm. 30) – Reinhold Niebuhr kritisierte, dass Jesus zum „Efficiency Expert“ gemacht werde. Vgl. Fried, The Man (wie Anm. 32), S. 100. – Jesus as Efficiency Expert, in: The Christian Century, 42 (2.7.1925), S. 851–52. 38 Smith, „Jesus, My Pal“ (wie Anm. 31), S. 156. 39 Luce und Barton kannten sich. Aber ganz unabhängig davon wird Fortune plausibel, wenn man es aus der intimen Verschränkung von Werbung und christlicher Mission versteht. 40 Vgl. Marchand, Advertising (wie Anm. 31), S. 236f.
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den Moment zurück, in dem Adam erstmals Eva gesehen hätte und nicht mehr allein auf Gottes Ankündigung angewiesen gewesen wäre.41 Transzendenzverweise im Technischen beziehen sich dabei sowohl auf im engeren Sinne religiöse Motive als auch auf das, was man in einem unscharfen Sinne nicht-religiöse Transzendenz nennen könnte. Eine solche Bestimmung hängt selbstverständlich am Religionsbegriff. Legt man einen weiten Religionsbegriff zugrunde, wie er von Friedrich Schleiermacher bis Clifford Geertz vertreten wurde, dürfte sich gleichwohl schnell zeigen, dass im Hintergrund dessen, was überhaupt als Transzendenz inszeniert und wahrgenommen wird, jeweils eine traditionelle Religion mit ihrem Symbolhaushalt steht. Vor diesem Hintergrund soll hier gleichwohl differenziert werden zwischen solchen Verweisen, die explizit auf Motive einer definierten Religion anspielen und solchen Bezügen, die auf Transzendentes verweisen, das nicht Gegenstand einer bestimmten Religion ist, aber dennoch dem Verfügungshorizont zumindest des Adressaten entzogen ist, z.B. Schönheit, Adel, Geschichte. Insofern diese Motive aber auf eine – wenn auch implizite, hintergründige – religiöse Fundierung rekurrieren, sind auch sie religiös bezogen. Ein gutes Beispiel für die zielgruppenorientierte Transzendierung des Technischen lieferte die Gulf Refining Company 1934. Unter der Überschrift „Men Who Live For Tomorrow“ zeigt die Werbung in einem Aquarell einen Manager, der im Halbprofil am übergroßen Fenster seines Büro steht und auf die Welt draußen herabschaut. Dort sieht man im Vordergrund einen Hafen und Fabriken mit rauchenden Schornsteinen. Rechts im Hintergrund erhebt sich eine Wolkenkratzersiedlung, die sich wie ein überdimensionierter Sears Tower zu einem Mittelblock steigert. Im Hintergrund links dagegen schmiegt sich ein Dorf mit Kirche in die leicht gewellte Hügellandschaft. Die rechte Hand des Managers ruht auf dem Telefon. Für solche Menschen, so der Text, existiere die Gegenwart nicht. Vielmehr würden sie die Gabe der „scientific prophecy“ zu ihrer Aufgabe machen.42 Der Manager, dessen Machtinstrument, das Telefon, in klassischer Art unter seiner Hand ruht, und der gottgleich den Garten seiner Welt überschaut, kann Vergangenheit und Gegenwart überbrücken. Was er tut, hat religiöse Dignität. Gleichzeitig wird die Welt draußen zu einem wiedereröffneten Garten Eden, in dem aller Rauch weiß und die Welt geordnet ist. Die technische Welt der Moderne gewinnt ihre Sinnperspektive aus der religiösen Deutung der Weltgeschichte, indem Paradies und Neue Welt zusammenfallen. Wie in allen symbolischen Verweisungszusammenhängen funktionieren Transzendenzanspielungen in der Darstellung von Technik freilich nur dann,
41 Fortune 8 (1933), Nr. 1, S. 91. 42 Fortune 9 (1934), Nr. 4, S. 144.
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wenn sie letztlich plausibel sind. Wenn die Great Lakes Aircraft Corporation mit Pegasus wirbt und ihre Flugzeuge den alten Mythos darin überbieten sieht, dass sie real sind, dann passt das mythologische Element zum Gegenstand der Technik. Diese wird letztlich als Realisierung des mythisch Erträumten gedacht.43 Wenn aber die Socony-Vacuum Corporation (später Mobil Oil) mit Pegasus für Mineralöle wirbt, dann gibt es keinen Bezug.44 Mit Paul Tillich lässt sich sagen, dass Symbole nur dann ihre spezifische Aufgabe erfüllen, wenn sie Anteil an der Wirklichkeit haben, die sie repräsentieren. Das kann, wie weiter unten zu erläutern sein wird, auch über einen mehrstufigen Verweisungszusammenhang konstruiert werden, aber Transzendenzanspielungen sind nicht beliebig einsetzbar. Schon dies spricht dafür, sie nicht als zufällige Werbemarotten zu verstehen. Um Transzendenz wahrnehmen zu können, um die Botschaft verstehen zu können, bedarf es eines Deutungsrahmens. Transzendenz ergibt sich nicht von selbst. Sie wird gesehen oder aber nicht. Einen Zugang zur Wahrnehmung solcher Transzendenz bietet die Symboltheorie Paul Tillichs. Tillichs bereits in den zwanziger Jahren formulierte Überlegungen wurden verschiedentlich Revisionen unterzogen und erreichten in den USA ihre abschließende Formulierung.45 Vier Merkmale bestimmen nach Tillich das repräsentative Symbol: 1. Das Symbol weist über sich selbst hinaus, 2. es partizipiert an der Wirklichkeit, die es repräsentiert, 3. das Symbol kann nicht willkürlich hergestellt werden, 4. es öffnet Dimensionen des Geistes, die ansonsten verschlossen sind. Schließlich haben Symbole eine integrierende oder dissoziierende Macht über Gruppen.46 Dass Symbole im Gegensatz zu willkürlich gesetzten Zeichen nicht eindeutig sind, ist inzwischen Gemeingut der Symboltheorie. Auf den Gegenstand dieser Untersuchung übertragen, bedeutet dies: Die jeweiligen Transzendenzverweise heben das Technische über sich hinaus (1.).
43 Fortune 2 (1930), Nr. 1, S. 7. Ähnliches gilt für eine Werbung der Northern Pacific Railroad. Fortune 1 (1930), Nr. 1, S. 20. 44 Das wird auch unfreiwillig in der Abbildung deutlich: Vor einer schwarz-weißen Fotomontage, die mit einem Frachter am Kai, parkenden (!) Autos und einer Anspielung auf Charles Sheelers „Criss-Crossed Conveyors“ lauter statische Objekte zeigt, hebt sich rot ein fliegender Pegasus ab. So unverbunden wie im Bild sind Symbol und Produkt auch in Wirklichkeit. Fortune 9 (1934), Nr. 4, S. 143. 45 Paul Tillich, „Das religiöse Symbol“ (1928); „The Religious Symbol / Symbol and Knowledge“ (1940); „The Meaning and Justification of Religious Symbols“ (1961). Alle Texte in John Clayton (Hg.), Main Works/ Hauptwerke Bd. 4: Writings in the Philosophy of Religion/ Religionsphilosophische Schriften, Berlin/ New York 1987, S. 213–228; 253–277; 415–420. 46 Tillich, „Meaning“ (wie Anm. 45).
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Wirksam kann dies nur geschehen, wenn es Dimensionen am jeweiligen technischen Gegenstand oder Prozess gibt, die „tatsächlich“ an der gedachten Wirklichkeit des Transzendenten teilhaben, z.B. an der Überwindung von Raum und Zeit, an einer Idee von Schönheit oder an dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (2.). Insofern kann man nicht jede Technik mit beliebigen Transzendenzverweisen koppeln (3.). Um überhaupt wirksam zu werden, müssen solche Transzendenverweise bildlich oder metaphorisch inszeniert werden. Eine diskursive Sprache verschlösse demgegenüber gerade jenen Bereich (4.). Eine Pointe des Tillichschen Konzepts besteht selbstverständlich darin, dass das Symbolische nie „bloß“ symbolisch im Sinne von „irreal“, nicht „wirklich“ ist. Das Symbol repräsentiert vielmehr eine Realität, die es tatsächlich „gibt“, die aber im strikten Sinne nicht unsymbolisch ausgedrückt werden kann.47 Weil damit eine Allgegenwart des Symbolischen nahegelegt wird, die es schwer macht, Symbole noch von nicht-symbolischen Repräsentationen zu unterscheiden, wurde Tillich in den USA heftig kritisiert. Er bemühte sich daraufhin, in Abgrenzung zu Cassirer, eine nicht-symbolische Referenzebene (z.B. für den Gottesbegriff) als epistemologisch notwendigen Bestandteil der Theorie zu bestimmen.48 Dieses Dilemma ist aus der Metapherntheorie bekannt. Je „stärker“ die Theorie wird, desto anfälliger ist sie für erkenntnistheoretische Kritik. Denn woher lässt sich wissen, dass etwas Metapher oder Symbol ist, wenn es nichts anderes gibt? Je „schwächer“ die Theorie aber konzipiert wird, desto belangloser wird ihr kulturtheoretischer Erklärungswert. Denn warum gibt es überall Metaphern und Symbole, wenn sich alles auch anders, direkter und präziser sagen lässt? Symbole und Metaphern werden dann zwangsläufig zu rhetorischen Figuren, deren Persistenz nur durch die mangelnde Durchrationalisierung der Gesellschaft erklärt werden kann. Das hier zur Diskussion stehende Material lässt sich m. E. am besten mit einem Symbolbegriff fassen, der auf einer gleichsam unteren Ebene eng ist und also eine nicht-zufällige Beziehung zwischen Symbol und Symbolisiertem behauptet. Das impliziert eine quasi realistische Sicht auf diese Beziehung. Insofern diese Beziehung (oder mehrere aufeinander bezogene Stufen solcher Beziehungen) aber nur innerhalb eines bestimmten kulturellen Kontextes identifizierbar ist, ist sie arbiträr und erfüllt die Bedingungen des Zeichenhaften, bzw. eines
47 Zur neueren Diskussion: Christian Danz, „Der Begriff des Symbols bei Paul Tillich und Ernst Cassirer“, in: Dietrich Korsch/ Enno Rudolph (Hg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000, S. 201–228. – Michael Moxter, „Die Frage als Symbol, das Symbol als Frage. Ein Vorschlag zur Tillich-Interpretation“, in: Christian Danz et al. (Hg.), Das Symbol als Sprache der Religion, Wien/ Berlin/ Münster 2007, S. 31–45. 48 Vgl. Tillich, „Symbol and Knowledge“ (wie Anm. 45).
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weiten Symbolbegriffs, wie ihn der Dresdner Sonderforschungsbereich 537 verwendet hat.49 Darin unterscheidet sich die hier vertretene Vorstellung auch von Tillichs ontologischer Fundierung des Symbolbegriffs. Verschiedene Stufen der Inanspruchnahme von Transzendenz für die Technik lassen sich an den Werbekampagnen der Firma Otis Elevators illustrieren: Auf einer ersten Stufe wird die konkrete Technik und ihre konkrete Leistung thematisiert. Hier kommt Technik ohne Transzendenz aus: Vor Fotografien einer Rolltreppe, eines Hochhauses und eines Steuerelementes für Fahrstühle zieht sich diagonal der Schriftzug OTIS über die Anzeige.50 Bereits in der nächsten Anzeige im folgenden Heft hebt Otis ab. Wieder erscheint der Schriftzug OTIS diagonal über einer dreigeteilten Fotomontage. Diesmal aber zeigen die Bilder die Skyline einer Stadt mit der Bildunterschrift „Skyways of a City“.51 Der Fahrstuhl wird zum Himmelsfahrzeug, was er faktisch nicht ist, aber er führt dorthin. Einen in sich mehrstufigen Transzendenzverweis bietet schließlich eine Anzeige, die Fahrstühle und Lokomotiven parallelisiert.52 Die Lokomotive, in den 1930er Jahren eines der Symbole für überwältigende Kraft und Geschwindigkeit, wird zum Vorbild für den Fahrstuhl, insofern die Lokomotive nach jedem „Flug“ ebenso kompetent gewartet wird, wie ein Otis-Fahrstuhl. Das dazugehörige Bild zeigt die Schrägansicht in Untersicht einer Dampflokomotive, die von oben in strahlendes Licht getaucht ist. In der unteren rechten Ecke des Bildes sieht man einen Fahrstuhlmotor. Das Bild ist mehrstufig, weil es erst den Fahrstuhl mit der mythischen Kraft der Lokomotive verbindet und dann beides in das Licht der Offenbarung taucht.53 Nicht alle Symbole verweisen direkt auf religiöse Zusammenhänge und schon gar nicht auf die letzte Wirklichkeit eines Gottes oder des Absoluten. Wenn die Firma Otis Menschen, die ohne Fahrstühle leben müssen, eine breite Treppe
49 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, „Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien – Eine Einführung in systematischer Absicht“, in: Gert Melville (Hg.), Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/ Weimar/ Wien 2001, S. 3–49. 50 Fortune 6 (1932), Nr. 1, S. 91. 51 Fortune 6 (1932), Nr. 2, S. 100. 52 Fortune 8 (1933), Nr. 1, S. 83. 53 Wie Roland Marchand zutreffend bemerkt, ist nicht jedes Licht gleichzusetzen mit Offenbarung. Lichtkegel sind wie Scheinwerfer auch schlicht Aufmerksamkeitserreger. Überblickt man aber die Lichtdarstellungen in den Werbungen der 1930er Jahre, so folgen sie so stereotyp einer religiös konnotierten Ikonografie, dass man diesen Aspekt nicht ignorieren kann. Selbst wenn Marchand keinen Textbeleg dafür finden konnte, dass Werbedesignern diese Zusammenhänge bewusst waren, sind kulturelle Traditionen nicht zu übersehen. Vgl. Marchand, Advertising (wie Anm. 31), S. 279.
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nach oben steigen lässt, die im Dunkeln sich verliert, so ist die Transzendenzanspielung auf das Ungewisse, das die Menschen erwartet, nicht direkt religiös.54 Das Ungewisse, Dunkle aber lebt von einer kulturell kodierten Vorstellung des Endes eines „breiten“ Weges, der zwar nach oben, aber dennoch in den Abgrund führt. Das Ungewisse verweist auf das, was dort zu erwarten ist. In Umkehrung von Hieronymus Boschs Lichttrichter im „Aufstieg in das himmlische Paradies“55 wird hier letztlich doch auf eine religiöse Transzendenz verwiesen. Das muss der Leser nicht wissen, um die Botschaft der Werbung zu verstehen. Dennoch wird ihm klar, dass die Entscheidung für oder gegen Fahrstühle eine Entscheidung von zivilisatorischer Tragweite sein soll. Die im oberflächlichen Sinne höchste Stufe der Inanspruchnahme religiöser Transzendenz läge in der direkten Anspielung. So zeigte Otis in einer Anzeige Mohammed, der dem Berg vergeblich nahelegt, sich zu bewegen. Deshalb, so der Text, würde Otis die Menschen zum Berg (sc. die oberen Etagen der Hochhäuser) bringen.56 Wie an den Beispielen deutlich geworden ist, erreichen vermittelte Transzendenzanspielungen eine ungleich größere Wirkung, weil sie nicht bekenntnisgebunden sind.57 Auch Verweise auf negative Transzendenzmotive verwendete die Werbung. Die zuletzt genannte war dafür ebenso ein Beispiel wie eine Anzeige, die potenzielle Kunden drohend auf ihre Verantwortung für das Wohl ihrer Mieter hinwies und damit dringend nahelegte, sich an Otis zu wenden.58 Das Evangelium der Technik in Fortune hatte sogar seinen Teufel: Die Hartford Fire Insurance Company warb zu den Worten „I see a dark cloud over your Future“59 mit einem leibhaftigen Teufel in schwarzer Kutte und mit rotem Leib, der als Vorbild für George Lucas’ Darth Maul hätte dienen können.
54 Fortune 6 (1932), Nr. 4, S. 85. 55 Venedig, Palazzo Ducale. 56 Fortune 9 (1934), Nr. 5, S. 133. – Auch ironisch lassen sich Transzendenzbezüge herstellen. So zeigte General Electric ihren Kühlschrank vor nächtlichem Sternenhimmel neben dem Sensenmann, der sich vor Ratlosigkeit am Kopf kratzt, weil er nicht weiß, wie er an diesem Produkt seiner Arbeit nachkommen soll. Fortune 11 (1935), Nr. 3, S. 29. 57 Zur Thematisierung von Religionen in der Werbung vgl. Marchand, Advertising (wie Anm. 31), S. 265 unter Verweis auf Marghanita Laski, „Advertising – Sacred and Profane“, in: The Twentieth Century 165 (1959), S. 118–129. Ausgehend von Umfragen nennt Laski eine Reihe von Kontexten (u.a. Religion, Geburt, Liebe und Nationalehre), in denen Werbung als anstößig empfunden wird (S. 122). Gerade diese Kontexte wirken jedoch als „triggers“, mit deren Hilfe Werbung „life-enhancing feelings“ evoziere (S. 122). 58 Fortune 6 (1932), Nr. 5, S. 108. 59 Fortune 1 (1930), Nr. 2, S. 122. Mit wechselndem Text tauchte dieser Teufel regelmäßig auf.
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Dass Transzendenzmotive wirksam auch eingesetzt werden konnten, ohne scheinbar im Geringsten religiös konnotiert zu sein, zeigten Werbungen für Automobile. Während in der übrigen Presse Autos mit dem Merkmal „Geschwindigkeit“ beworben wurden, setzte Fortune selbstverständlich auf „Distinktion“. Die Firma Packard zeigte über einem Bild ihres Wagens in jeder Anzeige jeweils ein Bild aus vergangenen Tagen, in denen Damen des Adels aus Kutschen stiegen, Herren Zylinder lüfteten oder ein Märchenpaar auf einem fliegenden Teppich dahinschwebte: „Luxurious Transportation“.60 Die Werbung lebt von der Suggestion der Erreichbarkeit des Unerreichbaren. Selbstverständlich kann man sich mit einem Packard diese Distinktion käuflich erwerben und also verfügbar machen. Der Reiz aber, dieses zu tun, lebt von der letzten Unverfügbarkeit dessen, was paradox erworben werden soll: Adel. Eng mit dieser sozialen Distinktion verbunden ist die Frage der Individualität, die Cadillac und La Salle aufgriffen. Cadillacs 16-Zylinder-Limousine prangte als Ikone der Moderne auf einem im Siebdruckverfahren aufgebrachten Silbergrund. Darüber sah man eine Vignette mit einer Jagdszene zu Pferde: „Sixteen Cylinders – Performance such as the world has never witnessed […] The most highly individualized of all motor cars.“61 Der Cadillac V12 All-Weather Phaeton sah dann, vor einem Globus in einer Marmorhalle aufgebaut, diese Individualität zum „Standard of the World“62 erweitert. Die Transzendierung der höchsten Individualität zum Allgemeinen, einst höchstes Glück und tiefstes Leid idealistischer Philosophen und frühromantischer Dichter, wird technisch realisierbar im bestimmten Automobil: „DON’T HOPE TO EXPERIENCE IT ELSEWHERE […] it is found in La Salle alone!“63 Mehr kann sich der Leser von Fortune in und gegenüber der modernen Gesellschaft, die auch in den USA als Massengesellschaft wahrgenommen wurde, nicht wünschen. Den Gegensatz zur Steigerung „nichtreligiöser“ Transzendenz bildet die Erdung des Göttlichen als Inkarnation des Firmengeistes. So warb die Russell, Burdsall & Ward Bolt & Nut Company mit einer Stadtansicht, die im Vordergrund Industriebauten zeigte und im Hintergrund über den Fabriken die Skyline einer amerikanischen Großstadt sich erheben ließ. Über allem aber ragte die übergroße Gestalt eines männlichen Arbeiters hinter den Wolkenkratzern hervor, der mit einem riesigen Mutternschlüssel die Krone des höchsten Wolkenkratzers
60 Fortune 1 (1930), Nr. 2, S. 36; Nr. 3, S. 36; 2 (1930), Nr. 3, S. 34. 61 Fortune 1 (1930), Nr. 5, S. 31. 62 Fortune 8 (1933), Nr. 3, S. 5. 63 Fortune 7 (1933), Nr. 5, S. 7.
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festzog: „The World is held together with bolts, nuts, and rivets.“64 ‚Was die Welt im Innersten zusammenhält‘, das war für die Firma ihr Produkt, für Fortune die industrielle Technik. Die Figur des überdimensionierten Arbeiters repräsentiert die Firma, die in Analogie zu mittelalterlichen Bildern Gottes zum Weltbaumeister wird. So gewagt diese Transzendenzinanspruchnahme auch erscheinen mag, sie beschreibt präzise die Wahrnehmung einer Zeit, die in der Maschine, nach einer Formulierung Paul Strands, den neuen Gott sah. Die dargestellten Transzendenzmotive stellen einen exemplarischen Ausschnitt aus den zahlreichen Möglichkeiten und Mustern dar, die das Rad der Fortuna in Fortune bewegten. Diese konnten im engeren Sinne religiös sein, mussten es aber nicht. Wichtiger als die einzelnen Motive ist die Struktur. Unabhängig davon, dass Transzendenzanspielungen in der Werbung immer auch eingesetzt werden, weil sie die Verkaufszahlen erhöhen sollen, kann eben diese Wirkung doch nur dann erzielt werden, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Diese kann man wahrnehmungspsychologisch rekonstruieren oder aus der Logik des Transzendenten heraus verstehen. Danach wird das Transzendente, um es überhaupt abbildbar zu machen, in Symbolen verdichtet, die entweder direkt oder über mehrere Stufen vermittelt auf das Transzendente verweisen. Dabei muss das Symbol sowohl Anteil an der Wirklichkeit des Technischen wie an der virtuellen Realität des damit verbundenen Unverfügbaren haben. Gelingt diese Kopplung, schafft die Transzendenzkonstruktion eine Brücke zwischen den materiellen Lebensbedingungen und den Aspirationen der Menschen. Im Falle Fortunes werden damit Anpassungsprobleme einer Elite behandelt, die Technik in großem Umfang verwendete, etablierte und durchsetzte, ohne doch selbst in jedem Falle als Ingenieure in dieser Welt ausgebildet worden zu sein. Themen wie Geschwindigkeit, Gestaltungsmacht und eine Ästhetisierung des Technischen bestimmen in den 1930er Jahren die Diskussion weit über Fortune hinaus. Diese Themen werden jedoch entsprechend der Leserschaft auf die Subjekte bezogen, die als Agenten des Wandels die Last der Verantwortung tragen (sollen). Daher geht es im Evangelium nach Fortune nicht einfach um den Erweis der „Göttlichkeit“ der Technik, sondern um die Rechtfertigung des Akteurs. Diese wird nun aber nicht in klassischer Weise durch die Anerkenntnis von Schuld vollzogen, sondern mittels der Rechtfertigung der Tätigkeit, der Etablierung der Technik. Die Technik ist also zugleich legitimationsbedürftig wie – im gelungenen Fall – erlösungskräftig. Damit handelt man sich erkennbar die Probleme der klassischen Christologie, also die Frage der Vermittlung des Menschlichen mit dem Göttlichen ein. Aber wie in der Christologie gibt es auch
64 Fortune 1 (1930), Nr. 1, S. 37.
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in der Inkulturation von Technik eine Entwicklung. Hatte die Antike die eigentlichen Probleme mit der Frage, wie Gott Mensch sein könne, so arbeitet sich die Moderne an der Frage ab, wie ein Mensch Gott sein könne. In ähnlicher Weise steht am Beginn einer grundsätzlichen technischen Veränderung stets die Frage nach ihrer Realisierbarkeit. Am Ende des Adaptionsprozesses steht dagegen stets die Frage: „For Heaven’s Sake – What On Earth Does Technology Have To Do With Transcendence?“65
V. Das Rad der Fortuna Fortunes Mission war es, so wurde am Anfang gesagt, eben jene Elite in die Moderne zu führen und sie ihr Tun als in einer umfassenden Weise als sinnhaft verstehen zu lehren. Dazu musste Technik als Kultur verstanden werden können. Wie dies im redaktionellen Teil der Zeitschrift vollzogen wurde, soll am Beispiel eines Beitrags zum Wolkenkratzer gezeigt werden. In einer sechsteiligen Reihe umriss Fortune im Jahr 1930 das Thema „Skyscraper“ in seinen planerischen, statischen, ökonomischen, künstlerischen und ethischen Aspekten.66 „Prophecy in Steel“ war der letzte Artikel in der Serie, in dem das Magazin die Diskussion über die Frage aufgriff, ob der Bau von Wolkenkratzern wünschenswert sei oder nicht. Fortune wandte sich zunächst gegen die Behauptung, dass Wolkenkratzer ein Produkt der Gier geschickter Geschäftsleute seien und führte die Notwendigkeit von hohen Gebäuden vielmehr auf die Verdichtung von Menschen und Transaktionen in den Städten zurück. Die Kritiker, so Fortune, verwechselten den Wolkenkratzer mit der modernen Stadt. Gegen diese könne man gewiss vieles einwenden, aber solange es Großstädte gäbe, käme man nicht darum herum, den Menschen in verdichteter Bauweise Raum zu schaffen: „The first skyscrapers, that is to say, were thrown up by the centripetal force of the industrial age.“67 Die Gegner der Wolkenkratzer seien von Emotionen geleitet, die man doch von Argumenten trennen solle. „Fortune, therefore, in its prophetic role foresees a long life for the skyscraper […].“68 Der Forderung nach
65 Stijn Van den Bossche, „For Heaven’s Sake – What On Earth Does Technology Have To Do With Transcendence?“, in: Michael Breen et al. (Hg.), Technology and Transcendence, Blackrock, Co Dublin 2003, S. 174–195. 66 Fortune 2 (1930), Nr. 1, S. 32ff.; Nr. 2, S. 60ff.; Nr. 3, S. 54ff.; Nr. 4, S. 85ff.; Nr. 5, S. 77ff.; Nr. 6, S. 84ff. 67 Fortune 2 (1930), Nr. 6, S. 86. 68 Fortune 2 (1930), Nr. 6, S. 86.
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Rationalität folgte in gut prophetischer Tradition die Sozialkritik, in welcher der Autor die Wohnhochhäuser der Superreichen als Missbrauch kritisierte. Schließlich folgte die „Heilsprophetie“: Ein neuer Stil der Architektur setze sich gegen die Beaux-Arts-Wolkenkratzer durch. „The new spirit in architecture is entirely opposed. It is technical.“69 Stahl und Glas gehöre die Zukunft. Die neue Architektur ermögliche Wände als das zu bauen, was sie nunmehr in Wahrheit seien: Vorhänge. Reine Technik würde im Ergebnis zu echter Schönheit führen: „[…] a city beautiful from the air und from the sea.“70 Genau dies aber war das Credo, das den Glauben vieler Leser überstiegen haben dürfte, die ihre Villen mehrheitlich doch lieber im Kolonialstil erbauen ließen. Folgerichtig wurde hier wieder auf eine Transzendenz verwiesen. Um die ästhetische Transzendenz dieser Stadt zu unterstreichen, wurde der Artikel von Luftaufnahmen illustriert, die zwar einerseits zeigten, wie viel man noch tun musste, um Amerikas Städte in Ensembles neuer Architektur zu verwandeln. Andererseits boten sie den God’s eyes point of view, der den Leser gemeinsam mit dem Autor aus den Straßen emporhob. Denn die Perspektive von unten war es, die Kritik am Wolkenkratzer nahelegte. Visuell dominiert wurde der Beitrag denn auch von zwei Aquarellen, die Manhattans Standard Oil Building am Battery Park und Chicagos Gebäude an der Kreuzung von Michigan Avenue und Wacker Drive zeigten. In gedämpfter Farbigkeit konnte das Auge von oben auf jene historistischen Gebäude herabsehen, die der Autor als „Totempfähle“ dem Vergessen empfahl. In diesem Fall leistete die Vogelperspektive die Erschließung des transzendenten Raums, die es ermöglicht, die Welt als Planer wahrzunehmen.71 Visuell wird der Leser abgeholt, um ihn textlich in die Zukunft zu entlassen: „Prophecy in Steel“. Fortune leistete eine ästhetische Inkulturation der Technik mit dem Mittel des Transzendenzverweises. Insofern damit für die Leser eine Sinnperspektive avisiert war, leistete die Repräsentation des Transzendenten im
69 Fortune 2 (1930), Nr. 6, S. 87. 70 Fortune 2 (1930), Nr. 6, S. 88. 71 Das Mittel der visuellen Transzendierung wird auch durch die Farbgebung erreicht. Man vergleiche etwa die Farbfotografien von Webstühlen in einer Reportage zur Textilindustrie (Bildunterschrift: „Such frank Beauty“) mit Lewis Hines berühmten Aufnahmen von Kindern bei der Arbeit in dieser Branche. Vgl. „Sheep and Shuttleworths“, in: Fortune 7 (1933), Nr. 1, S. 42– 48. Hier S. 42. – Umgekehrt konnte Fortune einen Artikel zu „Smoke“ mit eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Aufnahmen unterlegen, die das „monster of our sleeplessness“, das „like a curse that some obscure and nameless god might have laid upon us“ die Welt verdunkelt, zeigte. Fortune 9 (1934), Nr. 6, S. 90ff. Hier S. 100.
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Technischen das, was schon Kant in der Kritik der praktischen Vernunft als Funktion des Gottesbegriffs identifiziert hatte. Wenn etwas Immanentes mit Transzendenz aufgeladen wird, dient dies scheinbar der Entrückung. Es kann aber auch umgekehrt mit dem Ziel geschehen, Gegenstände oder Prozesse in die sie umgebende Kultur zu integrieren. Dieser Vorgang wurde hier an einem Beispiel der modernen Technik rekonstruiert. Dabei gibt das Material Aufschluss über zwei naheliegende, aber falsche Unterscheidungen, die jede Beschäftigung mit der Wahrnehmung und Konstruktion von Transzendenz umgeben: Zum einen erweist sich, dass die Differenz zwischen einer echten und einer „unechten“ (sc. bloß konstruierten) Transzendenz künstlich ist und das Erklärungspotenzial eines analytischen Gebrauchs des Begriffs Transzendenz in kulturellen Zusammenhängen verschenkt. Dies einerseits deshalb, weil der Mechanismus der Indienstnahme von Transzendenzverweisen gerade von dem wechselseitigen Überschreiten dieser Grenze getragen ist, andererseits, weil „echte“ Transzendenzen auch für den Forscher transzendent, und also unerkennbar wären. Zum anderen zeigt sich, dass Unterscheidungen zwischen religiösen und nicht-religiösen „Transzendenzen“ zwar hermeneutisch aufschlussreich sind, dass die jeweiligen Funktionszusammenhänge jedoch gerade davon leben, religiöse und nicht-religiöse Transzendenzen wechselseitig aufeinander zu beziehen. Die Verweisungszusammenhänge, die sich z.B. in einem Stufenschema begreifen lassen, zielen jedoch nicht auf eine „letzte“ quasi-ontologische Ebene der Religion. Vielmehr ist es die kulturelle Prägekraft einer jeweiligen Religion, der wahrscheinlich nicht entrinnt, wer immer über Transzendenz nachdenkt, und die eine vollkommen religionslose Transzendenz schwer identifizierbar macht. Dies hat kein Geringerer als Niklas Luhmann, ein „Schleiermacher des 20. Jahrhunderts“, bereits überzeugend dargelegt: Wenn der Code der Religion die Differenz von Immanenz und Transzendenz ist, dann ist die Beschäftigung mit der Transzendenz an der Grenze zur Immanenz eine Beschäftigung mit Religion: „Zur Bezeichnung der beiden Werte des religionsspezifischen Codes eignet sich am ehesten die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. Man kann auch sagen, daß eine Kommunikation immer dann religiös ist, wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet.“72 Oder, wie Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher es fast genau 200 Jahre früher dem Soziologen kongenial ‚nachempfand‘: „[…] alles Beschränkte als eine Darstellung des Unend-
72 Vgl. Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000. Hier S. 77.
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lichen hinnehmen, das ist Religion.“ 73 Dennoch lassen sich wiederum bezogen auf einen bestimmten kulturellen Kontext und seine Religion durchaus religionsdistanzierte Transzendenzverweise ausmachen. Auch dies hat Fortune vorgeführt. Hatten Henry Luce und sein Fortune Erfolg? Blickt man auf die Leserbriefe, die Fortune (zur Werbung in eigener Sache) abdruckt: ja. Sie gleichen in vieler Hinsicht den Briefen, die Bruce Barton mit seinem Jesusbild evozierte. Menschen fühlten sich verstanden, belehrt und fanden mit ihren überkommenen Werten und Wahrnehmungsmustern einen Ort in der technischen Welt. Das Medium solcher Migration in die Moderne war die Präsentation der Transzendenz des Technischen mit den Mitteln der Kunst. Das Technische wird zugleich ästhetisiert und zum Teil der Lebenswelt. Es wird geheiligt, wie das Heilige geerdet wird. Das ist kein geringes Verdienst, wenn man diese Welt nicht für ortlos und legitimerweise dem Untergang geweiht sehen möchte, so dass Menschen sich darin gar nicht einrichten sollen. Man kann es freilich auch mit den Augen Adornos und Horkheimers als eine List der Kulturindustrie verstehen.74 Blickt man dagegen auf die Geschichte des Magazins, lautet die Antwort auf die Frage nach dem Erfolg: eher nicht. Bereits Ende der vierziger Jahre wendet sich Fortune von der „Kultursynthese“ (Ernst Troeltsch) aus Industrie, Wirtschaft, Kunst und Literatur ab. Die kurze Phase einer versuchten Durchlässigkeit zwischen Kunst und Industrie endet mit dem Beginn des Kalten Krieges. Der von Fortune so geförderte Regionalismus kann sich als Realismus nicht halten. „Legitime“ Kunst wird ebenso abstrakt, wie erfolgreiche Industrie und Wirtschaft wieder technisch im Sinne des „künstlerisch Unmusikalischen“ werden. Das kann man als Scheitern deuten. Und warum sollte es einem Missionar der Transzendenz des Technisch-Wirtschaftlichen besser ergehen als christlichen Missionaren seit zwei Jahrtausenden? Man kann es aber auch als nachhaltigen Erfolg lesen. In dem Maße, in dem sowohl die industrielle Technik als selbstverständlich in die Lebenswelt integriert worden war als auch die (ursprünglich moralisch fundierte) Ethik letztlich in den Sozialprogrammen des New Deal in die Ordnung eingebaut worden waren, erübrigte sich die Überhöhung durch Transzendenzverweise. Das
73 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), Günter Meckenstock (Hg.), Berlin/ New York 2001, S. 82 (= KGA Bd. I/2, S. 214). 74 „In den maßgebenden amerikanischen Magazinen Life und Fortune kann der flüchtige Blick Bild und Text der Reklame von denen des redaktionellen Teils schon kaum mehr unterscheiden“. Theodor W. Adorno/ Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug), in: Rolf Tiedemann (Hg.), Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften, Bd. 3, Darmstadt 1998, S. 186.
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Leben war, jedenfalls in dieser Hinsicht, wieder selbstverständlicher geworden. Im Spiegel der Transzendenz war das Neue (in diesem Falle die Technik) an der Grenze der Verfügbarkeit in die Gesellschaft integriert worden.
VI. Ordnungen des Religiösen – Transzendenznarrative der Heiligung
Maria Häusl
Heiligung, Sinnstiftung und Transzendenz Jesaja 58 und Nehemia 9.10 im Vergleich
I. Transzendenz und der JHWH-Glauben Israels – Klärungen Der Philosoph Thomas Rentsch hebt in seiner Konstitution von Transzendenz dessen Negativität heraus und charakterisiert diese als „Unerkennbarkeit, Unverfügbarkeit, Unsagbarkeit und Entzogenheit“.1 Das Moment der Entzogenheit der Transzendenz sei zugleich wesentlicher Ermöglichungsgrund für jede Bestimmung von Sinn. „Transzendenz meint […] die vorgängige Eröffnung eines Sinnhorizonts, ein vorgängiges Sinngeschehen, sie meint keinen isolierbaren Gegenstand, sondern eine Relation.“2 Diese Relation, so Rentsch, bestehe zwischen dem Menschen und den Dimensionen der Transzendenz; als solche sind die Transzendenz der Welt (ihr Sein, ihre Gegenstände und ihre räumlich-zeitliche Erstreckung), die Transzendenz der Sprache, interpersonale Transzendenz und die Transzendenz des Individuums (Leiblichkeit, …) zu nennen.3 Prägnant bestimmt Rentsch Transzendenz deshalb „als sinnkonstitutive Negativität an der Basis des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses und –verständnisses“4 und betont, dass dieser Bestimmung eine universale und transkulturelle Geltung zukomme.5 Für eine kulturelle Hermeneutik der Transzendenz geht Rentsch von der Überlegung aus, dass sich „die menschliche Kulturgeschichte, die Geschichte der humanen Welt […] als das Reflexivwerden der Transzendenzdimensionen begreifen“ lässt. In den verschiedenen Kulturen und Epochen geschehen Transzendenzbezüge in vielfältigen kulturellen Modi und Ausprägungen, wobei Rentsch vier grundlegende Modi unterscheidet: den mythischen, den philosophischen, den ästhetischen und den religiösen Modus.6
1 Thomas Rentsch, „Transzendenz – Konstitution und Reflexion. Systematische Überlegungen“, in diesem Band, S. 397–418, S. 401. 2 Rentsch, „Transzendenz“ (wie Anm. 1), S. 401. 3 Vgl. Rentsch, „Transzendenz“ (wie Anm. 1), S. 403. 4 Rentsch, „Transzendenz“ (wie Anm. 1), S. 403–407. 5 Rentsch, „Transzendenz“ (wie Anm. 1), S. 408. 6 Rentsch, „Transzendenz“ (wie Anm. 1), S. 411.
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Wenn wir uns nun dem nachexilischen Israel im Kontext des persischen Reiches des ausgehenden 6. und im 5. Jahrhundert v. Chr. zuwenden, so sind die kulturellen Ausformungen der Transzendenzdimensionen in mehreren Schritten deutlich zu machen. Auf diese Weise kann gezeigt werden, wie diese Kultur in ihren Transzendenzkonstruktionen die Spannung zur Tiefendimension von Transzendenz aufrecht erhält und worin sich dieser kulturelle Kontext vom modernen europäischen Kontext unterscheidet. Deshalb werden in einem ersten Schritt wichtige Aspekte des altorientalischen Denkens und Weltverstehens benannt, die die Ausformungen des Transzendenzbezuges grundlegend prägen. Für das altorientalische Weltverstehen ist konstitutiv, dass die gesamte Welt vom Ursprung bis zu ihrem Ende samt ihrer Geschichte auf eine über die erfahrbare Welt hinausgehende Gewissheit, auf ein „Anderes“ verweist und darin verankert ist.7 Will man den Begriff Religion, der in seiner Begriffsgeschichte abendländisch und christlich geprägt ist, für dieses altorientalische Weltverstehen verwenden, um es etwa von modernen Erklärungsmodellen abgrenzen zu können, so muss man sich aber bewusst sein, dass es im altorientalischen Kontext im Unterschied zur Situation der europäischen Moderne gerade keine anderen, „nicht-religiösen“ Deutungsmodelle gibt. In den altorientalischen Kulturen kann Religion nicht als ein von anderen Welterklärungsmodellen verschiedenes Modell verstanden werden, das kulturelle Zeichensystem ist ein „religiöses“. Jede Weltdeutung und jede Weltgestaltung sowohl des Einzelnen als auch aller sozialen Ordnungen ist daher „religiös“. Innerhalb eines solchen umfassenden religiösen Deutungsmodells haben sich aber sehr wohl verschiedene Formen des Weltverstehens sowie des Transzendenzbezuges ausgeprägt.8
7 Bernd Janowski, „Das biblische Weltbild. Eine methodologische Skizze“, in: ders/Beate Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, 2. Aufl., Tübingen 2004, S. 3–26, hier S. 8, drückt es folgendermaßen aus: „Was wir als mythisch bezeichnen, galt im Alten Orient als ebenso gewiß und war ebensosehr in seiner Erfahrung begründet wie das, was wir als empirisch gelten lassen.“ 8 Jan Assmann, Ägypten, Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur, Stuttgart u.a. 1984, S. 11–14, hat aufgrund dieser Problematik des Religionsbegriffes für Ägypten folgende Unterscheidung vorgeschlagen: „Religion im weiteren Sinne“ umfasst „Moral und Recht“ sowie „Religion im engeren Sinne“, die ihrerseits den „Umgang mit den Göttern“ und die „Versorgung der Toten“ umfasst. Für Israel kann „Religion“ im Sinne der umfassenden Weltdeutung m. E. in mehr als zwei Ausprägungen differenziert werden (vgl. unten).
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Diese Differenzierungen lassen sich am besten aus dem altorientalischen Weltbild herleiten. Das altorientalische Weltbild,9 das auch das nachexilische Israel teilt, geht davon aus, dass die erfahrbare Welt Teil eines Kosmos ist, der auch Unterwelt und Überwelt umfasst. Die konkret erfahrbare Welt ist dabei offen zur Über- und Unterwelt hin, zum Göttlichen und zum Chaos, zu lebensbewahrenden und lebensvernichtenden Kräften.10 Wenn die Altorientalistik und die alttestamentliche Forschung von Offenheit sprechen, beziehen sie diesen Begriff nicht auf den einzelnen Menschen und seine Kontingenzerfahrung, wobei Kontingenz die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit der menschlichen Lebenserfahrung bezeichnet. Die Rede von der Offenheit der Welt grenzt sich vielmehr ab von der falschen neuzeitlichen Rekonstruktion des antiken Weltbildes als naives Käseglockenmodell. Schon vor vierzig Jahren hat Othmar Keel nachgewiesen,11 dass „für den Alten Orient und das Alte Testament die empirische Welt nicht einfach das ist, was ‚vor Augen‘ liegt, sondern über sich selbst hinausweist und deshalb immer auch symbolische Qualität hat“.12 Die Rede von der Offenheit der Welt meint also, dass „die Welt nach altorientalischer und biblischer Auffassung nicht ein geschlossenes und profanes System, sondern eine nach allen Seiten hin offene Größe darstellt“.13 Diese Offenheit der Welt zeigt sich insbesondere in der Verweisfunktion der konkreten Welt auf die Über- und Unterwelt, aber auch, wie Keel es beschreibt, in der symbolischen Qualität der Welt, die eine Osmose von Faktischem und Symbolischen bzw. eine enge Korrelation von Konkretem und Abstraktem benennt.14 Konkret sieht sich der einzelne Mensch beispielswese von einer bedrohlichen Welt umgeben. Bedrohliche Tiere, bedrohliche Natur mit Dürre und Wasserfluten und menschliche Feinde (Eroberer) gefährden den Lebensraum des Menschen. Die Stadt mit ihren Mauern und Wehrtürmen schützt den Menschen konkret,
9 Zur Einführung vgl. Jürgen Ebach, „Weltbild“, in: Frank Crüsemann et al. (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, S. 646–648; Othmar Keel/Silvia Schroer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen 2002, S. 102–108. 10 Ebach, „Weltbild“ (wie Anm. 9), S. 647, spricht von „offenen Grenzen“, von „offenen und damit auch bedrohlichen Grenzbereichen und -überschreitungen“. 11 Othmar Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Zürich/Neukirchen 1972. 12 Janowski, „Weltbild“ (wie Anm. 7), S. 8. 13 Janowski, „Weltbild“ (wie Anm. 7), S. 13. 14 Interessant wäre in diesem Zusammenhang die Klärung der Differenzen zwischen der neuzeitlichen Rede von „Konstruktion“ und „Symbolizität“, insofern uns die Welt nur über Zeichencodes und Symbolisierungen zur Verfügung steht, und dem altorientalischen Symbolverständnis.
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ebenso der König, der die Bedrohungen von der Stadt und den Menschen abzuwehren hat.15 Sowohl die Bedrohungen als auch die Schutzmächte besitzen nun eine Verweisfunktion. Denn im Kampf des Königs gegen wilde Tiere oder gegen Feinde bildet sich der Kampf einer Gottheit gegen die Chaosmächte ab.16 Die konkrete Welt besitzt aber nicht nur eine Verweisfunktion auf die numinosen Welten, umgekehrt wirken auch die numinosen Kräfte auf diese Welt ein, ihr Handeln lässt sich in dieser Welt erkennen und ablesen.17 Die Menschen rechnen mit der Wirksamkeit der Götter in dieser Welt; ihre stabilisierende und schützende Hinwendung zur Welt wird erhofft, ihre zerstörende Macht gefürchtet. Deshalb gilt es, chaotische Mächte zu meiden und sie in Schranken zu halten und sich der schützenden Nähe der Götter/eines Gottes durch das alltägliche und/oder kultische Handeln zu vergewissern. Im Gegensatz zum aufgeklärten Weltbild, das Gott zwar als den Ursprung der Welt, aber außerhalb, jenseits der Welt verortet und als der Welt gegenüberstehend begreift, zeichnet die altorientalischen Götter eine Osmose aus, nämlich die Osmose von in der Welt-Sein und über der Welt-Sein. Götter sind zugleich als in ihrem Tempel bzw. Kultbild anwesend und im Himmel lebend vorgestellt. Dieses Weltbild, das eine Offenheit der konkreten Welt kennt, kann als grundlegende kulturelle Ausformung der Transzendenzdimension im Alten Orient erachtet werden. Die Offenheit zeigt die Notwendigkeit an, die ambivalente und zweideutige Welt vereindeutigen zu müssen und geht so der Sinnstiftung voraus. Denn die immer vorhandene Offenheit der konkreten Welt ist eine Herausforderung, die bewältigt werden muss. Bewältigung bedeutet, Ordnungen und Zusammenhänge als sinnvoll zu erkennen und in Handlungen und Praktiken zur Stabilisierung der Ordnung, d.h. lebensförderlich umzusetzen.18 Bernd Janowski beschreibt die Problematik folgendermaßen: Sind, so die Frage, in einer auf die himmlische und die unterirdischen Bereiche hin offene Welt Ordnungs- und Sinnzusammenhänge auf Dauer erlebbar oder ist dem Menschen die Erfahrung einer stabilen und heilvoll geordneten Welt nur punktuell vergönnt? Das für den einzelnen wie für die soziale Gemeinschaft aufbrechende Grundproblem bestand also darin, ‚die Spannung zwischen der notwendigen Ordnung der Welt und den faktischen Gegebenheiten, in denen Ordnungs- und Unordnungselemente immer ineinander liegen und durcheinander gehen, zu bewältigen, also mit Hilfe von kultisch-ritueller, magischer, divinatorischer, medizinischer, (sakral-)rechtlicher oder auch mathematisch-astronomi-
15 Die herausgehobene Bedeutung der Stadt ist auf ein Zentrum-Peripherie-Konzept zurückzuführen, das Teil des altorientalischen Weltbildes ist. 16 Vgl. Janowski, „Weltbild“ (wie Anm. 7), S. 13f. 17 Diese Vorstellung ist Grundlage für alle Formen der deduktiven Divination. 18 Vgl. Janowski, „Weltbild“ (wie Anm. 7), S. 14.
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scher Operationen den Vorgang der Setzung bestimmter Abgrenzungen und Unterscheidungen‘ ständig zu vollziehen und so verläßlich zu Bestimmungen hinsichtlich der von antagonistischen Kräften geprägten menschlichen Lebenswelt zu gelangen.19
Wenn Janowski von „Operationen“ spricht, so sind diese nichts anderes als voneinander unterscheidbare kulturelle Ausprägungen des Weltverstehens sowie der Konstruktionen von Transzendenz innerhalb des umfassenden „religiösen“ Deutungsmodells. Für epochen- und kulturübergreifende Vergleiche sind gerade diese und ähnliche Transzendenzkonstruktionen von Interesse, da sie sich sowohl in anderen religiösen Systemen wie auch außerhalb von Religion, in säkularen Kontexten, ausprägen. In einem nächsten Schritt sind nun die speziellen Konturen des altorientalischen Weltbildes im nachexilischen Israel zu erläutern. Die entscheidende religionsgeschichtliche Entwicklung im Israel der nachexilischen Zeit stellt die ausschließliche Verehrung JHWHs als universalen Gott, wirkmächtig in Schöpfung und Geschichte, dar. JHWH hat damit alle für den Menschen wesentlichen Funktionen anderer Gottheiten übernommen,20 zugleich werden andere Götter in ihrer Existenz negiert und numinose Kräfte depotenziert. Sinnstiftung und Bewältigung können im nachexilischen Israel daher nicht ohne Orientierung und Ausrichtung auf JHWH hin geschehen, wobei allerdings in den verschiedenen Operationen der Weltdeutung und Sinnstiftung die Bezugnahme auf JHWH in unterschiedlicher Weise und Intensität erfolgt. Von den oben genannten altorientalischen Operationen haben sich in Israel insbesondere ein kultisch-ritueller, ein divinatorisch-prophetischer, ein (sakral-) rechtlicher und ein weisheitlicher Weg in je spezifischer Weise ausgeformt.21 Jede dieser Ausformungen enthält das Moment der Erkenntnis und der Deutung der Welt sowie das Moment der Handlungsorientierung und der richtigen Ausrichtung der Lebensführung. Sinnstiftung umfasst also erstens das Erkennen der Ordnung, das durch das Beobachten der Welt mit ihren verweisenden Zeichen und das Setzen von Unterscheidungen geschieht. Zur Sinnstiftung gehört zweitens ein Leben und Handeln nach der erkannten Ordnung, wobei eine Übereinstimmung des „Lebensstiles“ mit der Weltordnung hergestellt werden muss.
19 Janowski, „Weltbild“ (wie Anm. 7), S. 14. 20 Vgl. Ernst Axel Knauf, „Ist die Erste Bibel monotheistisch?“, in: Manfred Oeming/Konrad Schmid, Der eine Gott und die Götter. Polytheismus und Monotheismus im antiken Israel (AThANT 82), Zürich 2003, S. 39–48, hier S. 43. 21 Wenn in den nachexilischen Texten als wichtige Themenfelder Tempel/Kult, Tora und Schriftlichkeit, Jerusalem als Stadt und das weisheitliche Denken hervortreten, so zeichnen sich darin die verschiedenen Formen des Transzendenzbezuges ab.
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Der Begriff der Weltordnung darf dabei nicht als eine von Menschen und Gott „unabhängige Weltordnung im Sinne von Naturgesetzen“22 verstanden werden. Vielmehr ist diese Ordnung eine (von Gott) verfügte Ordnung, die gefährdet bleibt und von Gott und den Menschen je neu zu stabilisieren ist. Der hebräische Begriff ṣädäq/ṣedaqā benennt einen wesentlichen Aspekt einer solchen stabilen Ordnung, wenn er als Relationsbegriff „ein gegenseitig verbindendes Verhalten bezeichnet, welches das fragile Netz der zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso wie die Beziehungen Gottes zu den Menschen oder der Menschen zu Gott pflegt.“23 ṣädäq/ṣedaqā beschreibt also die lebensförderliche Ausformung der zwischenmenschlichen und gott-menschlichen Beziehungen und damit die Grundlage des Zusammenlebens. Diese Aspekte kommen im deutschen Begriff „Gerechtigkeit“, der in der Regel als Übersetzung für ṣädäq/ṣedaqā, verwendet wird, nur bedingt zum Ausdruck. Besser eignet sich zur Wiedergabe von ṣädäq/ ṣedaqā der Begriff der „Gemeinschaftstreue“, der von Klaus Koch vorgeschlagen wurde.24 Es dürfte deutlich werden, dass der Ordnungsgedanke und auch die Vorstellung von ṣädäq/ṣedaqā aufs engste mit dem oben skizzierten altorientalischen Weltbild verbunden sind. Dem lebensförderlichen Handeln der Menschen kommt dabei eine wesentliche ordnungsstabilisierende Funktion zu. Das Handeln der Menschen für die Gemeinschaft und in der Beziehung zu Gott ist wesentlicher Teil dieser Ordnung, die selbst sinnstiftender Ausdruck der Transzendenzdimension ist. Die verschiedenen oben genannten Operationen lösen nun die Aufgabe der Sinnstiftung, die Erkennen und Handlungsgestaltung umfasst, unterschiedlich und besitzen je unterschiedliche Schwerpunkte. Idealtypisch gesprochen hat die weisheitliche Operation, basierend auf Natur- und Erfahrungswissen, ihren
22 Klaus Bieberstein/Lukas Bormann, „Gerechtigkeit/Recht“, in: Frank Crüsemann et al. (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, S. 197–203, hier S. 197; vgl. auch die ägyptische Vorstellung von Maat: Joachim Friedrich Quack, „Maat“, in: wibilex. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de, letzte Änderung Dez 2006). 23 Bieberstein/Bormann, „Gerechtigkeit/Recht“ (wie Anm. 22), S. 198. 24 Vgl. Klaus Koch, „Ṣädäq und Macat. Konnektive Gerechtigkeit in Israel und Ägypten?“, in: Jan Assmann et al. (Hg.),Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen,München 1998, S. 37–64, hier S. 41: „Der abendländische Begriff [Gerechtigkeit] beinhaltet vornehmlich eine reaktive Verteilungsgerechtigkeit einer übergeordneten Instanz gegenüber Individuen oder Gruppen. […] Das ägyptische wie die beiden hierher gehörigen hebräischen Nomina [i. e. macat, ṣädäq/ṣedaqā] zielen jedoch auf ein primär aktives Handeln zugunsten der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Mitglieder, nur abkünftig auf ein Reagieren gegenüber problematischen Tatbeständen. […] Genauer wäre für das Hebräische eine Übersetzung mit ‚Gemeinschaftstreue‘, doch das signalisiert deutschen Ohren nicht den hohen Wert in der ethischen Beurteilung.“
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Schwerpunkt in der lebensförderlichen Ausrichtung der Handlung der Einzelnen auf die zuvor erkannte Ordnung/Gerechtigkeit. Die (sakral-)rechtliche Operation nennt in Rechtssätzen und Verboten den Rahmen für das geordnete Zusammenleben der Menschen, indem es Ausgleich, Schadensersatz und Sanktion regelt.25 Die kultische Operation stabilisiert durch den Vollzug von rituellen Handlungen die Ordnung der Welt und stützt auf diese Weise die Beziehung der Menschen untereinander und zu Gott. Die prophetische Operation schließlich hat ihren Schwerpunkt in der Beziehungsherstellung zwischen Gott und den Menschen, alttestamentlich v.a. im Mitteilen einer Gottesweisung. Am Beispiel der Texte Jes 58 und Neh 9.10 soll nun gezeigt werden, wie in diesen verschiedenen kulturellen Transzendenzkonstruktionen die Momente des ordnenden Erkennens und der Handlungsausrichtung aufscheinen, und wie sich dabei Transzendenzbezüge ergänzen und verstärken oder auch in Konkurrenz zueinander treten.
II. Jesaja 58,1–14 – Du wirst rufen und JHWH wird antworten! II.1 Der Text Jesaja 58 1 Ruf aus voller Kehle, halt dich nicht zurück, wie eine Posaune erhebe deine Stimme. Mache bekannt meinem Volk seinen Frevel und dem Haus Jakob seine Vergehen. 2 Mich suchen sie Tag für Tag und Kenntnis meiner Wege wünschen sie. Wie ein Volk, das Gerechtigkeit tut und das das Recht seines Gottes nicht verlassen hat, bitten sie mich um gerechte Entscheidungen, wünschen sie die Nähe Gottes. 3 Warum fasten wir und du siehst es nicht, warum erniedrigen wir uns und du merkst es nicht? Seht: Am Tag eures Fastens macht ihr Geschäfte und all eure Arbeiter treibt ihr an. 4 Seht: Zu Streit und Zank fastet ihr, um zu schlagen mit der Frevel-Schaufel. Zur Zeit fastet ihr nicht so, als dass euer Rufen oben Gehör finden würde. 5 Ist das ein Fasten, das ich wünsche: ein Tag, an dem man sich erniedrigt? Den Kopf hängen lassen wie eine Binse, und wenn man sich bettet in Sack und Asche – nennst du das Fasten und einen Tag, der JHWH gefällt? 6 Ist nicht dies ein Fasten, das ich wünsche: Fesseln des Frevels zu öffnen, Bänder des Jochs zu lösen, Unterdrückte als Freie zu entlassen, und dass ihr jedes Joch zerbrecht?
25 Vgl. Klaus Grünwaldt, „Recht“, in: wibilex. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de, letzte Änderung Jan. 2011).
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7 Ist es nicht das: Dein Brot zu teilen mit dem Hungrigen, und dass du den armen Heimatlosen in das Haus bringst? Wenn du einen Nackten siehst, sollst du ihn bekleiden und dich vor deinem Fleisch nicht verbergen. 8 Dann wird wie die Morgenröte dein Licht hervorbrechen und deine Heilung schnell sprossen. Dann geht deine Gerechtigkeit vor dir her und die Herrlichkeit JHWHs folgt dir. 9 Dann wirst du rufen und JHWH wird antworten, du wirst schreien und er sagt: Hier bin ich! Wenn du aus deiner Mitte entfernst das Joch, (mit dem) Finger zu zeigen und Übles zu reden, 10 wenn du dich dem Hungrigen gibst und ein erniedrigtes Leben sättigst, dann wird in der Finsternis dein Licht aufgehen und deine Dunkelheit wie der Mittag werden. 11 JHWH wird dich beständig leiten, dich sättigen im trockenen Land und deinem Gebein neue Kraft geben. Du wirst sein wie ein bewässerter Garten und ein Wasserquell, dessen Wasser nicht täuschen. 12 Man baut durch dich die ewigen Trümmer wieder auf, du richtest die Befestigungen aller Generationen wieder auf und man nennt dich einen, der Risse schließt und Straßen wieder herstellt zum Wohnen. 13 Wenn du vom Sabbat deinen Fuß abwendest, um Geschäfte zu machen an meinem heiligen Tag und wenn du den Sabbat Freude nennst, den heiligen (Tag) JHWHs hochgeehrt und ihn ehrst, indem du deine Wege meidest und deinem Geschäft nicht nachgehst und nicht handelst, 14 dann wirst du an JHWH deine Freude haben. Ich lasse dich reiten über den Höhen der Erde und lasse dich genießen das Erbe deines Vaters Jakob. Ja so spricht der Mund JHWHs.
II.2 Textstruktur und Argumentationsweg Jes 58,1–12, das sekundär um V. 13.14 ergänzt wurde, zeigt folgende Struktur und Argumentation.26
26 V. 13.14 bilden mit der Sabbatthematik einen Nachtrag. Dies ist formal daran ersichtlich, dass mit V. 13 die Kommunikationssituation wechselt. Während sich vorher ein nicht explizit genannter Sprecher an das Volk wendet, ist es in V. 13.14 nun JHWH, der in 1. Person spricht. Die Sabbatthematik war außerdem zuvor kein Thema. Eine entsprechende literarkritische Abgrenzung wird von den meisten Auslegern angenommen; vgl. etwa Leszek Ruszkowski, Volk und Gemeinde im Wandel. Eine Untersuchung zu Jesaja 56–66 (FRLANT 191), Göttingen 2000, S. 36, und Judith Gärtner, „Erlebte Gottesferne. Drei schriftgelehrte Antworten (Jes 58,1–12; 59,1–15a; 57,14–21)“, in: Friedhelm Hartenstein/Michael Pietsch (Hg.), „Sieben Augen auf einem Stein“ (Sach 3,9). Studien zur Literatur des Zweiten Tempels. Festschrift für Ina Willi-Plein zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2007, S. 81–100, hier S. 83. Als einen einheitlichen
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In V. 1.2 spricht JHWH zu einem nicht explizit genannten Adressaten, der aufgrund der ihm übertragenen Aufgabe und der von ihm fortgeführten großjesajanischen Traditionen27 als Prophet bzw. genauer als „prophetischer Tradent“ bezeichnet werden muss.28 Dieser „prophetische Tradent“ soll dem Volk Gottes als dem eigentlichen Adressaten des Gotteswortes seine Frevel und Vergehen aufzeigen. Die Ausführung dieses Auftrages erfolgt in V. 3–12. Für den Argumentationsweg sind drei Beobachtungen zentral, die sich in V. 1–3 finden: 1. Gott und Volk stimmen darin überein, dass das Volk Gott sucht, ihn erkennen will und sich der Nähe Gottes versichern will (V. 2.3). Sie stimmen auch darin überein, dass die Gottesnähe von Gott derzeit nicht gewährt wird (V. 3).29 2. Ursache hierfür sind die Frevel und Vergehen des Volkes (V. 1). Die Selbsteinschätzung des Volkes, Recht und Gerechtigkeit zu üben, wird deshalb als falsch qualifiziert. 3. Die heilvolle Nähe Gottes kann (daher) nicht durch Fasten erwirkt werden (V. 3). Es bedarf vielmehr der prophetische Stimme, die dem Volk Frevel und Vergehen aufzeigt (V. 1). Für seine Überzeugungsarbeit setzt der Prophet in V. 3a bei der Beurteilung der Situation durch das Volk an. „Weil das Volk meint, sich bußfertig und kultgemäß zu verhalten, JHWH aber sein Fasten nicht beachtet, beklagt es, sich grundlos im Zustand der Gottferne zu befinden.“30 In drei Schritten wird anschließend in V. 3b–12 entfaltet, dass die sozialen Missstände die Ursache für die Gottferne sind, wie gottgemäßes „Fasten“ aussieht und was zum Tun von Recht und Gerechtigkeit gehört. 1. In V. 3b.4 wird durch zweimaliges „seht“ das vom Volk vollzogene Fasten als falsch qualifiziert, weil es mit sozialem Unrecht einhergeht.
Text untersucht dagegen Park Jes 58,1–14: Kyung-Chul Park, Die Gerechtigkeit Israels und das Heil der Völker. Kultus, Tempel, Eschatologie und die Gerechtigkeit in der Endgestalt des Jesajabuches (Jes 56, 1–8; 58, 1–14; 65, 17–66; 24) (Beiträge zur Erforschung des Alten Testaments und des antiken Judentums 52), Frankfurt a.M. 2003, S. 225–228. Zur Struktur vergl. Gärtner, „Gottesferne“, S. 83–86; Ulrich Berges, Das Buch Jesaja. Komposition und Endgestalt (HBS 16), Freiburg 1998, S. 473–476. 27 Aufgegriffen werden v.a. Jes 1,10–20, Jes 40,1–11, Jes 52, die Gottesknechtslieder Jes 42,1–9, Jes 49,1–9 und Jes 60–62; ausführlich hierzu Berges, Jesaja (wie Anm. 26), S. 473; Ruszkowski, Volk (wie Anm. 26), S. 37–45; Gärtner, „Gottesferne“ (wie Anm. 26), S. 83–89. 28 Berges, Jesaja (wie Anm. 26), S. 473f. 29 Von einer völlig falschen Einschätzung der Situation durch das Volk kann daher keine Rede sein; so auch Berges, Jesaja (wie Anm. 26), S. 474f. 30 Gärtner, „Gottesferne“ (wie Anm. 26), S. 83.
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2. In V. 5–9a werden alternativ zu diesem falschen Fasten die für eine gerechte soziale Ordnung wichtige Behebung sozialer Missstände und die Linderung existenzieller Nöte genannt. Aus solchem Handeln folgt die Wiedergewinnung der Nähe Gottes, ebenso Licht, Heilung31 und Gottes Herrlichkeit und Gerechtigkeit.32 3. In V. 9b–12 schließt eine mit V. 5–9a vergleichbare Argumentation an, die das Fasten umdeutet, indem es den Begriff des Erniedrigens (cNY), der in V. 3.5 für das Fasten verwendet wird, aufgreift und ihn nun auf das durch soziale und existenzielle Not erniedrigte Leben der Mitmenschen bezieht, das es aufzurichten gilt.33 „‚Richtiges‘ Fasten lässt sich nicht, wie es auch in V. 5–7 bereits betont wird, auf rituelle Handlungen reduzieren, sondern bedeutet nach V. 9–12 vor allem Hingabe für andere.“34 V. 10b–12 beschreibt als Konsequenz aus solchem Verhalten die erneute heilvolle Nähe Gottes mit den Motiven von Licht, Heilung und Wiederaufbau der Stadt.35 Die Gottesnähe wirkt sich also auf den Kosmos, den einzelnen Menschen und die Gemeinschaft aus.36
II.3 Transzendenzbezüge Wenn wir uns nun den Transzendenzbezügen in diesem Text zuwenden, so ist mit V. 2 zu beginnen. Die Aussagen dieses Verses sind nur auf dem Hintergrund der Vorstellung verständlich, dass die konkrete Welt offen ist auf eine göttliche Welt hin. Denn die Offenheit ist die Bedingung für die Aussagen, Gott suchen zu können, Kenntnis über die Wege Gottes erlangen zu können, um gerechte Entscheide Gottes bitten zu können und den Wunsch nach der Nähe Gottes äußern zu können. Das Bemühen des Volkes um die heilvolle Nähe Gottes ist als sinn-
31 Die Begriffe von Licht und Heil verweisen auf Jes 60–62. 32 V. 8 verweist auf Jes 52,12; Wenn in V. 8 nun von „deiner Gerechtigkeit“ statt von Gott gesprochen wird, die dem Volk vorangeht, sollte nicht zu schnell geurteilt werden, dass Gerechtigkeit hier das gerechte Handeln der Menschen und nicht die Gerechtigkeit JHWHs meint; so aber Ruszkowski, Volk (wie Anm. 26), S. 41f. und Gärtner, „Gottesferne“ (wie Anm. 26), S. 88. 33 Vgl. Thomas Staubli, „Maat-Imagery in Trito-Isaiah: The Meaning of Offering a Throat in Egypt and in Israel“, in: Martti Nissinen/Charles E. Carter (Hg.), Images and Prophecy in the Ancient Eastern Mediterranean, Göttingen 2009, S. 41–50, und Gärtner, „Gottesferne“ (wie Anm. 26), S. 85. 34 Gärtner, „Gottesferne“ (wie Anm. 26), S. 85. 35 V. 12 zitiert Jes 61,4. 36 Vgl. Staubli, „Maat-Imagery“ (wie Anm. 33), S. 44f., der einen „cosmological, individual and collective level“ nennt. Darüber hinaus sieht er in V. 9.12 auch einen „spiritual or prophetictheological level“. M. E. beschreibt V. 9 aber die wieder hergestellte Gottesnähe selbst, erst V. 10–12 benennen die Konsequenzen daraus.
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stiftende Bewältigungsstrategie zentral. Sinnkonstitutiv ist aber auch die Vorstellung der Ordnung, die sich in den Begriffen der Gemeinschaftstreue/Gerechtigkeit (ṣedaqā) und des Rechtes Gottes niederschlagen und an denen das Volk sein Handeln ausgerichtet sieht. Dass insbesondere die Gottesnähe, d.h. die Zugewandtheit der Gottheit sinnstiftend ist, zeigt sich deutlich in V. 9, der die gelingende Beziehung mit der Gottheit als Höhepunkt der kosmischen, persönlichen und sozialen, lebensförderlichen Ordnung nennt: Das Volk ruft und Gott antwortet! In diese Bestimmung der Transzendenzdimension stimmen der Prophet und das Volk überein. Sie stimmen jedoch nicht überein in der Wahl des konkreten Weges, der sinnstiftenden Operation. Das Volk wählt mit dem Fasten einen kultisch-rituellen Weg. Denn im Kult dient das Fasten der Vorbereitung und Reinigung für die Begegnung mit der Gottheit. Es basiert wie andere Formen der Enthaltsamkeit auf der Vorstellung der Heiligung. Vor dem Hintergrund, dass Heiligkeit ein Attribut ist, das primär nur der Gottheit zukommt, meint die Heiligung von Menschen den Vollzug von kultischen Praktiken, die eine Zueignung eines einzelnen Menschen bzw. des Volkes zu Gott ermöglicht. In nachexilischer Zeit ist die Vorstellung der Heiligung nicht mehr ausschließlich an den Kult und seine rituellen Praktiken gebunden, sie wird etwa im priesterschriftlichen Entwurf auch an soziale Verpflichtungen gebunden. „Laut Lev 19 bildet sie [Heiligkeit] sich gerade auch im ethischen Handeln, d.h. im Alltag ab.“37 Obwohl also Heiligung in nachexilischer Zeit nicht mehr generell auf kultisch-rituelle Praktiken beschränkt werden kann, so ist in Jes 58,1–12 das Fasten als Teil eines kultischrituellen Weges der Heiligung einzustufen. Denn das Fasten wird in V. 5 konkret beschrieben als Beugen des Hauptes und Gehen in Sack und Asche. In anderen nachexilischen Texten ist das Fasten außerdem als Teil von Klagefeiern mit den entsprechenden Selbstminderungsriten tradiert, die zum „Gedenken an den Fall Jerusalems und die Zerstörung des Tempels als auch zur Aufforderung um ein baldiges Eingreifen JHWHs zur Wende der Not abgehalten wurden.“38 Dieser kultische Weg der Heiligung ist in Jes 58,1–12 jedoch nicht zielführend, um sich der Präsenz Gottes zu vergewissern und um die heilvolle Nähe Gottes wieder herzustellen. Der kultische Weg wird dabei nicht generell abgelehnt, abgelehnt wird aber ein Fasten samt den entsprechenden Bußfeiern, das die Augen
37 Dorothea Erbele-Küster/Elke Tönges, „Heiligkeit“, in: Frank Crüsemann et al. (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, S. 256–260, hier S. 256. 38 Berges, Jesaja (wie Anm. 26), S. 474; Vgl. Klgl; Sach 7,1–14; Sach 8,18–19; Neh 9,1–2.
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vor den sozialen Missständen, vor Unrecht und existenzieller Not verschließt.39 In seiner Argumentation ergänzt V. 3–12 das rituelle Fasten um die Forderung, Recht und Gerechtigkeit zu tun. Die Vorstellung des Fastens wird nicht aufgegeben, sie wird aber umgedeutet als gerechtes Verhalten, näherhin als Linderung von Not. Damit wird der kultisch-rituelle Weg in den größeren sinnstiftenden Horizont des Ordnungsgedankens gestellt. Als wesentlicher Aspekt dieser Ordnung ist wiederum für ṣädäq/ṣedaqā, Gemeinschaftstreue/„Gerechtigkeit“ zu nennen, das die Grundlage der Argumentation in Jes 58,1–12 bildet. Wie ich oben bereits gezeigt habe, bezeichnet ṣädäq/ṣedaqā sowohl die stabile Ordnung zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Gott als auch den Maßstab für das Handeln der Menschen und Gottes,40 der in Jes 58,5.6.10 konkret gemacht wird als Einsatz für die am Rande Stehenden und als Linderung von existenzieller Not. In der Vorstellung von ṣädäq/ṣedaqā kommt somit der Gemeinschaftsbezogenheit und dem Handeln für die Gemeinschaft die Dimension des Transzendenten zu. Im Fall von Jes 58,1–12 gelingt die Erkenntnis, dass nicht der kultisch-rituelle Weg für die Wiederherstellung der Nähe Gottes zielführend ist, dass vielmehr eine Ausrichtung allen Verhaltens an ṣädäq/ṣedaqā die Nähe Gottes herbeiführt, nur durch die prophetische Stimme. Das Volk gelangt weder durch Fasten noch durch eigene (weisheitliche) Erkenntnis zur Gottesnähe. Mit dem prophetischen Weg haben wir aber eine Alternative zum kultisch-rituellen Weg vor uns; dieser muss als alternative kulturelle Ausprägung des Transzendenzbezuges angesehen werden. Es ist ein charakteristisches Kennzeichen des prophetischen Weges, dass Gottesunmittelbarkeit hergestellt und der Inhalt der Botschaft nur durch einen Auftrag Gottes legitimiert wird. Die Richtigkeit der prophetischen Mitteilung hängt allein an der Beauftragung durch Gott. Dies mag v.a. in einem späten Text des Alten Testamentes, wie es unser Text Jes 58 ist, der zudem nachweislich auf älteren prophetischen Texten basiert, überraschen. Doch scheint es anders als bei der Tora, die bei ihrer Rezeption als Autorität explizit benannt sein kann, bei prophetischen Texten nicht möglich zu sein, eingespielte Texte als autoritative Zitate zu kennzeichnen. Die Untersuchung von Jes 58 zeigt deutlich, dass in diesem Text eine Konkurrenz zwischen dem kultisch-rituellen und dem prophetischen Weg besteht, was
39 Jes 58 ist mit dieser Form von Kultkritik nicht allein, vgl. etwa Jes 1,10–17; Am 5,21–27; Sach 7; Mal 2,17–3,5. 40 Das Tun von ṣädäq/ṣedaqā wird in diesem Text sowohl vom Volk als auch von Gott ausgesagt: Jes 58,2.8.
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den Transzendenzbezug betrifft. Diese Konkurrenzen vervielfältigen sich noch, wenn wir Neh 9.10 vergleichend hinzuziehen.
III. Nehemia 9.10 – Verpflichtung auf die Tora Neh 9.10 berichtet in seinem Kern von einem Vertragsschluss der Volksversammlung in Jerusalem (Neh 10,1a),41 wobei sich die namentlich genannten Unterzeichnenden (Neh 1b–30) auf eine Tora verpflichten,42 die folgende Inhalte umfasst: Verbot der Exogamie, Heiligung des Sabbat, Einhalten des Erlassjahres und Versorgung des Tempels (Neh 10,31–40). Diese spezifischen als Tora ausgewiesenen Vertragsinhalte können als boundary marker dieser Gruppe und damit als konstitutiv für diese Gruppe erachtet werden. Dem Vertragsschluss gehen in Neh 9,1–3 vorbereitende kultische Handlungen und in Neh 9,4–37 ein umfangreiches Bußgebet voraus. Dabei erfahren wir in Neh 9,1–3 in der Form einer Verbreihe im Erzählmodus gestaltet, dass die Söhne Israels bzw. die Nachkommenschaft Israels kultische Handlungen vollziehen: sie versammeln sich (9,1), reinigen sich von allem Ausländischen, fasten, tragen Trauerkleidung mit Asche auf dem Haupt (9,1), werfen sich nieder, bekennen ihre Sünden und die ihrer Väter (9,2) und lesen aus der Tora (9,3). Durch die Angaben der Dauer verschiedener Handlungen gewinnt man den Eindruck eines liturgischen Ablaufes. So folgt der Versammlung, dem Fasten, der Trennung von allem Ausländischen ein erstes Sündenbekenntnis. Es schließen
41 Genau genommen, wird der Vertragsschluss in Neh 10,1a nicht vom Erzähler berichtet, sondern ist Teil einer wörtlichen Rede, die mit dem Bußgebet in Neh 9,5 beginnt und in Neh 10,40 nach den Vertragsinhalten endet. 42 Ralf Rothenbusch, „… abgesondert zur Tora Gottes hin“. Ethnische und religiöse Identitäten im Esra/Nehemiabuch (HBS 70), Freiburg 2012, S. 363–365, sieht in dem in Neh 10,1 geschlossenen Vertrag im Unterschied zum spätvorexilischen Bund mit Gott eine freiwillige Selbstverpflichtung auf die Tora. Damit wird die „freiwillig übernommene persönliche Befolgung der Tora“ entscheidend für „die Zugehörigkeit zur religiösen Gruppe.“ Die starke Betonung der Freiwilligkeit und der Selbstverpflichtung gegenüber dem alten Bundeskonzept erscheint mir jedoch vom Text her kaum plausibilisiert werden zu können, denn das Hauptargument Rothenbuschs, hier trete JHWH nicht mehr als Handelnder und Vertragsgeber auf, greift nicht, da im Buch Esra/Nehemia Gott generell nicht als Akteur in Erscheinung tritt. Dies ist also eine gattungsbedingte Eigenheit des Textes. Vgl. Maria Häusl, „‚Ich betete zum Gott des Himmels‘ (Neh 2,4). Zur kontextuellen Einbettung der Gebete in Neh 1–13“, in: Carmen Diller/Martin Mulzer/Kristin Ólason/Ralf Rothenbusch (Hg.), Studien zu Psalmen und Propheten. Festschrift für Hubert Irsigler (HBS 64), Freiburg 2010, S. 47–64, hier S. 62.
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sich die Toralesung, zu der man sich erhebt, und ein zweites Sündenbekenntnis, zu dem man sich vor Gott niederwirft, an. Ein solcher kultische Ablauf wird als geeignet angesehen, das Bußgebet und den Vertragsschluss vorzubereiten, wobei uns der Erzähler allerdings im Unklaren darüber lässt, wodurch Gott in dieser Situation als anwesend gedacht bzw. repräsentiert wird, da die Handlungen nicht explizit am/im Tempel lokalisiert werden. Als Bericht über einen tatsächlichen liturgischen Ablauf sind die Informationen aber zu unbestimmt. Deshalb handelt es sich wohl um eine literarische Strategie, die die wichtigen theologischen Topoi des Buches Esra/Nehemia in ein kultisches Gewand kleidet. Der kultisch-rituelle Weg erweist sich für den Erzähler und in der erzählten Welt als diejenige Form, die die (disparaten) Aspekte der Trennung von allem Ausländischen, der Lesung der Tora und des Sündenbekenntnisses zu integrieren vermag.43 Das Hören auf die Tora bzw. die Toraobservanz ist dabei als das zentrale Thema anzusehen, da die Tora außerdem im Bußgebet sowie beim Schließen des Vertrages im Mittelpunkt steht. Das Bußgebet Neh 9,5–37 beschreibt in Rezeption der deuteronomistischen Tradition die Geschichte JHWHs mit seinem Volk Israel als regelmäßige Abfolge der zwei Elemente Abfall Israels von JHWH und erneuerte Zuwendung Gottes zu seinem Volk. Als Abfall von Gott bzw. als Vergehen des Volkes wird das Nichtbeachten der Tora und ihrer Weisungen identifiziert. Der in Neh 10,31–40 niedergelegte Vertragsinhalt wird in Neh 10,30 eindeutig als Tora Gottes gekennzeichnet.44 In der Zentralstellung der Tora als Weisung Gottes und der sich daraus ergebenden Forderung der Toraobservanz ist eine spezifisch israelitische Ausprägung des sinnstiftenden Umgangs mit der Transzendenzdimension zu sehen. Die in Neh 10 zu findende Vorstellung von Tora kann als rechtliche Ausprägung des Transzendenzbezuges erachtet werden, insofern diese Tora Rechtsetzungen und Vorschriften umfasst.45 Zugleich gilt die Tora im Gebet Neh 9,13.14 als Mitteilung des Willens der Gottheit, der zumindest teilweise durch Mose übermittelt wird. Wenn der Abfall von JHWH als Übertretung der Tora qualifiziert wird, so ereignet
43 Als wichtige „zitierte“ Texte sind zu nennen: Esr 9.10 (Exogamieproblematik, Bußgebet) und Neh 8 (Toralesung) bzw. Neh 13 (Exogamieproblematik, Sabbatproblematik, Tempelversorgung). 44 Vgl. Maria Häusl, „‚Eine Schriftrolle, darin ist geschrieben‘ (Esr 6,2). Zur Bedeutung der Schriftlichkeit im Buch Esra/Nehemia“, in: Erasmus Gaß/Hermann-Josef Stipp (Hg.), „Ich werde meinen Bund mit euch niemals brechen!“ (Ri 2,1). Festschrift für Walter Groß zum 70. Geburtstag (HBS 62), Freiburg 2011, S. 175–194, hier S. 186. 45 Auch diese Tora Neh 10,31–40 enthält sowohl soziale wie auch kultisch-rituelle Bestimmungen. In Neh 9.10 sind die formativen Momente, d.h. die die Gemeinschaft begründenden Erzählungen, in das Gebet Neh 9,6–37 „ausgelagert“. Vergleicht man damit den Pentateuch als Tora, so umfasst dieser sowohl die formativen wie auch normativen Momente.
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sich umgekehrt die Nähe Gottes im Halten der Tora und ihrer Rechtssatzungen, worauf letztlich der Vertragsschluss in Neh 10 zielt.
IV. Jesaja 58 und Nehemia 9.10 im Vergleich – Konvergenzen und Konkurrenzen Wenn man nun die in Jes 58 und Neh 9.10 zu findenden kulturellen Ausformungen der Transzendenzdimension vergleicht, so lassen sich signifikante Konvergenzen und Konkurrenzen benennen. In beiden Texten ist die Ausgangssituation ganz ähnlich als Notsituation qualifiziert. Neh 9,37 beschreibt diese als konkrete wirtschaftliche und politische Notsituation, Jes 58,3 als fehlende Gottesnähe. Der Wunsch nach Gottesnähe wie auch die Anstrengungen Gott zu suchen und Kenntnis über seine Wege zu erlangen (Jes 58,2) bringen die Transzendenzdimension deutlich zum Ausdruck, die im altorientalischen Weltbild als Offenheit der konkreten Welt zu fassen ist, und benennen zugleich wichtige sinnstiftende Momente. In Neh 9.10 fehlt eine vergleichbare grundlegende Beschreibung der Transzendenzdimension. Für die Erklärung der Notsituation werden in den Texten drei verschiedene Ursachen genannt. So urteilt das Volk in Jes 58,3, dass sich JHWH vom Volk abgewandt habe, die Ursache für die fehlende Gottesnähe also bei Gott liege. Dieser Begründung widerspricht die prophetische Stimme in Jes 58 entschieden und begründet die Gottferne mit den Freveln und Vergehen des Volkes. Denn das Verhalten des Volkes sei nicht an ṣädäq/ṣedaqā, an der Gemeinschaftstreue/Gerechtigkeit ausgerichtet. Konkret werden der Einsatz für die am Rande Stehenden und die Linderung von existenzieller Not gefordert. Wenn aber die konkrete Ausrichtung des Handelns an der Gemeinschaftstreue zur Voraussetzung für die Gottesnähe wird, ist die Transzendenzdimension bereits in diesem „gemeinsinnigen“ Handeln gegeben und nicht erst in der Nähe Gottes. Auch in Neh 9, näherhin im Bußgebet Neh 9,5–37, wird die Not mit dem falschen Verhalten des Volkes begründet. Dies geschieht aber nicht mit Bezug auf den sinnstiftenden Horizont des Ordnungsgedankens und dessen sozialer Ausprägung in der „Gemeinschaftstreue“, sondern mit Hilfe der Vorstellung, dass das Volk von JHWH abgefallen sei und die Tora, die Weisungen JHWHs, nicht beachtet habe. Was ist aber unter Tora JHWHs in Neh 9.10 zu verstehen? Im Unterschied zur deuteronomistischen Theologie ist der Abfall von JHWH nicht explizit als Abfall zu anderen Göttern ausgeführt. Andere Götter sind weder ein Thema noch eine Gefahr in Neh 9.10. Das Gebet Neh 9,5–37 nennt mit Ausnahme der Sabbatheili-
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gung in Neh 9,14 keine konkreten Inhalte der Tora. Wir sind daher auf die Inhalte des Vertragsschlusses in Neh 10,31–40 verwiesen, die in Neh 10,30 als Tora charakterisiert werden. Vier wesentliche Inhalte sind genannt: Verbot der Exogamie, Heiligung des Sabbat, Einhalten des Erlassjahres und Versorgung des Tempels.46 Diese Zusammenstellung überrascht, ebenso die Bezeichnung dieser Bestimmungen als Tora. Denn eigentlich wäre zu vermuten, dass sich der Begriff Tora im Buch Esra/Nehemia auf den Pentateuch mit seinen Erzählungen und Rechtsvorschriften bezieht, die sowohl soziale wie auch religiös-kultische Bestimmungen umfassen.47 Die obigen vier Bestimmungen sind jedoch auch Tora, sie stellen gegenüber dem Pentateuch eine aktuelle Tora dar, die auf die konkrete nachexilische Situation abgestimmt ist. An dieser Stelle können die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Toraverständnisses, wie es im Buch Esra/Nehemia ausgeprägt ist, und der Konzeption von ṣädäq/ṣedaqā als wesentliches Moment der Ordnung, wie sie im Buch Jesaja aufscheint, nicht ausführlich erläutert werden. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass ṣädäq/ṣedaqā der übergeordnete Begriff ist und Tora „der Verwirklichung einer konsequent relational gedachten ‚Gerechtigkeit‘ dient.“48 Als MoseTora verleiht sie der Beziehung des Volkes Israel zu JHWH aber einen signifikant rechtlichen Aspekt und ist zugleich ein eigenständiges Medium der Mitteilung des Gotteswillens, wenngleich sie durch die Verknüpfung von sozialen und kultischen Bestimmungen die Funktion der Ordnungsstiftung sowohl mit Blick auf die menschliche Gemeinschaft wie auch für die Beziehung des Menschen zu Gott beibehält. Damit können wir den Blick auf die Formen und Wege werfen, die in den Texten dazu dienen, die Nähe Gottes herzustellen. In beiden Texten wird mit dem Fasten der kultisch-rituelle Weg thematisiert. Während in Jes 58,1–12 das Fasten, insofern es kultisch-rituell vollzogen wird, kritisiert wird, geschieht in Neh 9.10 mit Hilfe der kultisch-rituellen Praktiken die angemessene Vorbereitung auf den Vertragsschluss. Die in Neh 9.10 vollzogene rituelle Heiligung des Volkes ist in
46 M. E. wurde aufgrund dieser Tora in Neh 10,31–40 die Sabbatheiligung sekundär in Jes 58,13.14 nachgetragen. Für die anderen Bestimmungen aus Neh 10,31–40 finden sich allerdings keine Äquivalente in Jes 58. 47 Vgl. Neh 8.9. 48 Bieberstein/Bormann, „Gerechtigkeit/Recht“ (wie Anm. 22), S. 198. Diese Relation zeigt sich auch im Ursprung des Wortes Tora, das ursprünglich nicht Rechtstraditionen und kultischen Vorschriften, sondern die Unterweisung und Belehrung durch Eltern, Priester und Propheten meint. Vgl. Andreas Ruwe/Martin Vahrenhorst, „Tora/Nomos“, in: Frank Crüsemann et al. (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, S. 590–596, hier S. 591.
Heiligung, Sinnstiftung und Transzendenz
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Jes 58 – so könnte man urteilen – genau die Praxis, die als nicht zielführend verurteilt wird. In der unterschiedlichen Beurteilung des Fastens bzw. des kultischrituellen Weges ist ein entscheidender Unterschied, nicht jedoch der theologisch gewichtigste Unterschied der beiden Texte zu sehen. Die zentrale Konkurrenz ist vielmehr zwischen der prophetischen Mitteilung des Gotteswillens und dem in der Tora vermittelten Gotteswillen gegeben. Während sich das Volk in Neh 10 in einem Vertragsschluss auf das Halten der Tora, die dem sakral-rechtlichen Bereich zuzurechnen ist, verpflichtet, besitzt das prophetische Wort in Jes 58 weder eine rechtliche noch eine vertragliche Dimension. Seine Autorität gründet allein in der Beauftragung durch Gott (Jes 58,1), in seiner Gottesunmittelbarkeit. Dagegen ermöglicht die Konzeption, dass die Tora am „Anfang der Geschichte“ von Gott gegeben wurde, die Erinnerung an dieses Ereignis und die Rezeption der gegebenen Tora als autoritative Texte. Diese Konzeption der Tora erhält im Buch Esra/Nehemia dadurch besonderes Gewicht, dass Gott nicht mehr als Sprechender und Handelnder auftritt und so die Beziehung Gottes zum Volk und die Beziehung des Volkes zu Gott auf vermittelnde Medien angewiesen sind. Als solche finden wir das Gebet, die Toralesung und die vertragliche Verpflichtung auf die Tora. Zeitgleich und alternativ nutzt Jes 58 das prophetische Medium und macht damit die Stimme Gottes direkt hörbar. Jes 58 kennt keine Tora und steht dem kultisch-rituellen Weg sowie dem damit verbundenen Weg der Heiligung des Volkes äußerst kritisch gegenüber. Dagegen lässt sich die Verpflichtung auf die Tora, die in Neh 9.10 kultisch-rituell vorbereitet wird, sehr gut als Zueignung zu JHWH und als Heiligung beschreiben. Die Verpflichtung auf die Tora schränkt diese Heiligung nicht kultisch-rituell ein, sondern umfasst sowohl soziale als auch kultische Aspekte. Als kultisches Element wird in Neh 10 die Versorgung des Tempels, als soziales Element die Einhaltung des Erlassjahres genannt. Die Sabbatobservanz ist sowohl kultisch als auch sozial ausgeformt. Das Element des Exogamieverbotes thematisiert schließlich neben der „Heiligung nach innen“, der die vorausgehenden drei Bestimmungen zuzuordnen sind, als zweite Seite des Heiligungskonzeptes auch die „Heiligung nach außen“, im Sinne einer Grenzziehung nach außen.49 Ein letzter Unterschied zwischen den beiden Texten ist im Verständnis von Heiligung zu sehen. Für beide Texte ist der Begriff Heiligung zutreffend. In Jes 58 ist Heiligung aber wesentlich an die Konzeption von ṣädäq/ṣedaqā gebunden. Heiligung geschieht im Handeln der Menschen entsprechend von ṣädäq/ṣedaqā. In Neh 9.10 ist die Heiligung dagegen durch die Verpflichtung auf die Tora vermittelt, die mit ihren vier Bestimmungen die Heiligung des Volkes bedeutet.
49 Vgl. Erbele-Küster/Tönges, „Heiligkeit“ (wie Anm. 37), S. 257.
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All diese Unterschiede zeigen die Differenziertheit eines umfassend religiösen Symbolsystems auf und machen deutlich, dass Transzendenzbezüge unterschiedlich und in Konkurrenz zueinander konstruiert werden können.
Matthias Klinghardt
Inspiration und Fälschung Die Transzendenzkonstruktion der christlichen Bibel
I. Evidenz und Plausibilität: Zur Rationalität der Inspiration „Wenn du mit Gott redest, bist du religiös. Wenn Gott mit dir redet, bist du verrückt.“ Mit dieser Differenzialdiagnose religiösen Verhaltens charakterisiert der Fernseharzt Dr. House1 ein verbreitetes Verständnis des menschlichen Transzendenzverhältnisses, dessen Kern in der unterschiedlichen Beurteilung gottmenschlicher Kommunikation liegt: „Mit Gott reden“ ist insofern eine akzeptable Erscheinungsform des Religiösen, als sie im Sinn eines religiös raffinierten Selbstgesprächs Ausdruck des menschlichen Selbstverhältnisses sein kann. Umgekehrt verbleibt die Behauptung, Gott rede mit den Menschen, gerade nicht innerhalb des frommen Selbstbewusstseins des Individuums, sondern wird in aller Regel gegenüber Dritten vertreten: Sie erheischt Zustimmung und reklamiert dafür zugleich eine maximale Autorität. Während man einem Beter immerhin zubilligen mag, sein „Reden mit Gott“ sei Ausdruck seiner Selbsttranszendierung und besitze in der Evidenz der subjektiven Glaubensgewissheit eine unhintergehbare Wahrheitsinstanz, fehlt der Autorisierung einer Gemeinsinnsproposition durch die maximale Transzendenz gegenüber Dritten („Dies ist das Wort Gottes!“) eine vergleichbare Basis. Was Dr. House für pathologisch hält, wäre demnach nicht in erster Linie die Vorstellung, dass Gott überhaupt mit Menschen redet, sondern dass ein solcher Anspruch mit Blick auf bestimmte Inhalte gegenüber Dritten vertreten wird: Da diesem Anspruch letztgültiger Wahrheit der unmittelbare Beweis des Geistes und der Kraft fehlt, ist er irrational – eben „verrückt“.
1 Das Zitat stammt aus der 19. Episode der zweiten Staffel der Fernsehserie „Dr. House“ mit dem Titel „House vs. God“ (zuerst ausgestrahlt 2007), in der Dr. House einen religiösen Heiler behandelt; über diesen unterhält er sich mit seinem Assistenten, Dr. Chase: (House) „God talks to him?“ – (Chase) „It’s not psychosis, he’s just religious. The only medical issue that showed up on the blood work is low sodium.“ – (House) „No. You talk to God, you’re religious. God talks to you, you’re psychotic.“
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Nun gehört dieser pathologische Anspruch zu den zentralen Kennzeichen der christlichen Tradition, und zwar in einer deutlich verschärften Form: Sie rechnet nicht nur mit einzelnen Instanzen vergänglich-flüchtiger Wortereignisse, in denen Gott zu Menschen spricht. Vielmehr ist die Bibel als ganze das verbindliche Wort Gottes, das, verschriftlicht und in Buchform, quasi objektiviert vorliegt und damit eine prinzipiell universale Leserschaft anspricht: tolle, lege! Die Form, in der diese Transzendenzbehauptung breit rezipiert wurde, ist die Vorstellung von der Inspiration der Schrift. Sie war für die Geschichte der Hermeneutik von grundlegender Bedeutung, wie beispielsweise die Lehre vom drei- bzw. vierfachen Schriftsinn in der Alten Kirche oder das protestantische Schriftprinzip mit seiner Annahme der claritas interna2 belegen. Die Vorstellung der Inspiration der Schrift findet sich bereits im Neuen Testament selbst. Der zweite Timotheusbrief (2Tim) stellt fest, dass die „ganze Schrift von Gott eingehaucht“ und daher nützlich zur Belehrung sei.3 Der zweite Petrusbrief (2Pe) erklärt etwas präziser den Vermittlungsweg der Inspiration: „Die gesamte Prophetie der Schrift entsteht nicht durch eigene Auslegung; denn noch niemals wurde eine Prophetie durch den Willen eines Menschen hervorgebracht; sondern vom heiligen Geist getragen haben Menschen von Gott her gesprochen.“4 Diese Vorstellung einer Personalinspiration ist in der Antike weit verbreitet und gehört zu den geläufigen Elementen von Dichtung und Mantik. Auch die weitergehende Vorstellung, dass ein aufgrund der Theopneustie seines Autors entstandener Text selbst als inspiriert gilt, ist gut bezeugt. Im Bereich des frühen Christentums mag es genügen, hier auf Philo zu verweisen, der nicht nur die alttestamentlichen Prophezeiungen, sondern die gesamte jüdische Bibel – und zwar einschließlich der erzählenden Passagen – als inspirierte Orakelsammlung verstand.5 Da diese Orakel für Philo nicht nur geheimnisvoll, sondern auch feh-
2 Vgl. Martin Luther, Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum (1520): (scriptura) „per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans“ (WA 7,97,23f.). 3 2Tim 3,16: πᾶσα γραφὴ θεόπνευστος (Vulgata: omnis scriptura divinitus inspirata). Die meisten Übersetzungen verstehen πᾶσα/omnis distributiv: ‚Jede (einzelne von mehreren) Schrift(stell)en‘. Die weiteren Ausführungen legen dagegen ein kollektives Verständnis nahe: ‚Die ganze Schrift‘ (vgl. Anm. 50). 4 2Pe 1,20f.: πᾶσα προφητεία γραφῆς ἰδίας ἐπιλύσεως οὐ γίνεται· οὐ γὰρ θελήματι ἀνθρώπου ἠνέχθη προφητεία ποτέ. ἀλλὰ ὑπὸ πνεύματος ἁγίου φερόμενοι ἐλάλησαν ἀπὸ θεοῦ ἄνθρωποι. 5 Beispielsweise Philo, Migr. 14; Cherub. 124; VitMos 2,188 u. ö.; vgl. dazu Helmut Burkhardt, Die Inspiration heiliger Schriften bei Philo von Alexandrien, 2. Aufl., Gießen 1992, S. 112–125.
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lerlos sind,6 sind hier die Idee der Irrtumslosigkeit der Schriften sowie der erstmals bezeugte Zusammenhang von „Schrift“ und „Wort Gottes“ bereits angelegt.7 Die Inspirationsbehauptungen im 2Tim und im 2Pe sind also ziemlich passgenaue Beispiele für das, was im weiteren religions- und geistesgeschichtlichen Umfeld des Neuen Testaments möglich war. Die kritische Forschung hat sie durchweg in diesem Sinn verstanden: Als vereinzelte Beispiele für die immer wieder einmal geäußerte Behauptung, dass diese oder jene Schrift inspiriert und daher Wort Gottes sei. Seitdem das historische Bewusstsein den „garstigen, breiten Graben“ aufgerissen hatte und an die Stelle der Gewissheit der Irrtumslosigkeit der Schrift die bloß historische Anerkennung des Inspirationsanspruchs der biblischen Autoren getreten war,8 verlor auch die Inspirationslehre an Geltung: Sie erscheint als bloße Behauptung ohne Plausibilität. Schwerer wiegt: Ließe sich die Plausibilität des Transzendenzanspruchs tatsächlich konkludent erweisen, würde gerade dadurch sein Charakter der Unverfügbarkeit aufgehoben. Das ist das Dilemma von Evidenz und Plausibilität der Transzendenz: Während sich das Widerfahrnis von Unverfügbarem in evidenter Unmittelbarkeit erschließt, kann die Transzendenzbehauptung gegenüber Dritten zwar durchaus plausibel und sogar „historisch gewiss“ sein, ist dann aber gerade dadurch von der Unmittelbarkeit der Evidenzerfahrung getrennt, dass sich die Angabe von (guten) Gründen vermittelnd zwischen den Anspruch und seine unmittelbare Anerkennung legt. Darauf zielen Lessings Urteil und die Diagnose von Dr. House: Die rationale, für Dritte nachvollziehbare Begründung eines Transzendenzanspruchs scheitert an sich selbst.
6 Z. B. Philo, Praem. 55. 7 Vgl. Burkhardt, Inspiration (wie Anm. 5), S. 104ff., mit weiteren Belegen, der auch auf den Zusammenhang zwischen Irrtumslosigkeit und hermeneutischer Methode aufmerksam macht: Die Behauptung der Irrtumslosigkeit auch von schwer verständlichen oder gar sinnwidrigen Texten erfordert deren allegorische Interpretation (ebd. S. 220, Anm. 183). 8 Gotthold Ephraim Lessing, „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“ (1777), in: Werke und Briefe, Bd. 8, hg. von A. Schilson (DKV 45), Frankfurt a. M. 1989, S. 437–445, hier S. 443f.: „Wollte man mich noch weiter verfolgen und sagen: ‚O doch! das ist mehr als historisch gewiß; denn inspirierte Geschichtsschreiber versichern es, die nicht irren können‘: So ist auch das, leider, nur historisch gewiß, daß diese Geschichtsschreiber inspiriert waren und nicht irren konnten. Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, sooft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüberhelfen, der tu es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdienet ein Gotteslohn an mir.“
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II. Kanon und Transzendenz Da sich dieses Dilemma nicht lösen lässt, wäre schon viel gewonnen, wenn sich die Transzendenzbehauptung historisch plausibilisieren ließe. Man müsste dazu mit den Mitteln der historischen Kritik zeigen, dass die Inspirationsaussagen keine vereinzelten und sekundären Zuschreibungen, sondern der Bibel insgesamt strukturell inhärent sind. Der Weg, den die Forschung für diesen Nachweis eingeschlagen hat, führt über den Kanon. Das ist insofern angemessen, als sich die Transzendenzattribute der Bibel (Unbedingtheit, Geltungsanspruch, Irrtumslosigkeit) schon sehr früh mit der Vorstellung des verbindlichen Schriftenkanons verbunden hatten. Da hier in erster Linie die Unverfügbarkeit des Anfangs in Frage steht, bleibt dem historischen Urteil nur der Weg, die Entstehungsgeschichte dieser Schriftensammlung zu rekonstruieren und darin Transzendenzelemente auszumachen. Aus sachlichen Gründen ist es sinnvoll, sich dabei auf die Entstehung des Neuen Testaments zu konzentrieren. Die klassischen Kanontheorien bis zum Ende des 20. Jahrhunderts9 sehen die historische Frage nach der Entstehung der Sammlung neutestamentlicher Schriften und die theologische nach ihrem unbedingten Geltungsanspruch in eins: Sie verstehen die Entstehung des Kanons als einen ungesteuerten, sich allmählich vollziehenden Prozess der Sammlung (und Ausscheidung) von Einzelschriften, denen „kanonische“ Geltung, also unbedingte Verbindlichkeit, zuerkannt wurde. Für diesen Prozess ist charakteristisch, dass es in der Alten Kirche keine Instanzen gab, die über die Geltung von Einzelschriften entscheiden oder gar den Umfang des Kanons „festlegen“ konnten. Dies ist erstmalig durch das Tridentinische Konzil geschehen, das den Umfang und die sprachliche Gestalt des Kanons in einer Situation verbindlich festschrieb, als seine ökumenische Geltung fraglich
9 Grundlegend: Theodor Zahn, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I/II, Erlangen/ Leipzig 1889–1892; Adolf von Harnack, Das Neue Testament um 200. Theodor Zahns Geschichte des Neutestamentlichen Kanons, Freiburg i. Brsg. 1889; Adolf von Harnack, „Die ältesten Evangelienprologe und die Bildung des Neuen Testaments“, in: SPAW.PH 1928, Heidelberg 1928, S. 320–341; Hans von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel (BHTh 39), Tübingen 1968; Bruce M. Metzger, The Canon of the New Testament. Its Origin, Development, and Significance, Oxford 1987. Zur Zahn-Harnack-Debatte vgl. zuletzt Christoph Markschies, „Epochen der Erforschung des neutestamentlichen Kanons in Deutschland. Einige vorläufige Bemerkungen“, in: Eve-Marie Becker/Stefan Scholz (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2012, S. 578–604.
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geworden war.10 Da es in der Alten Kirche keine entsprechende Autorisierung der Einzeltexte gab, beruht ihre Kanonizität auf ihrer Selbstdurchsetzung durch die Gewinnung faktischer Akzeptanz. Strittig ist dabei zwischen den verschiedenen Ansätzen nur, welches Ausmaß dabei die gezielte Abwehr von Häretikern gespielt und wie lange dieser Sammlungs- und Ausscheidungsprozess gedauert habe; viele sind überzeugt, dass die Sammlung im 4. Jahrhundert vollständig vorlag.11 Dieser Theorie zufolge haben sich Einzelschriften durchgesetzt und sind auf diese Weise Teil der Sammlung geworden, also etwa: Das Johannes-, nicht aber das Thomasevangelium; die Korintherbriefe des Paulus, aber nicht der des Clemens; die Acta Apostolorum, aber nicht die Paulus- und Theclaakten usw. Der Geltungsanspruch des biblischen Kanons als eines Ganzen basiert auf der Geltung der in ihm versammelten Einzeltexte, die sich in ihrer faktischen, ökumeneweiten Durchsetzung erwiesen hat. Es ist von großer Bedeutung, dass dieses Konzept zwei offene Prozesse aufeinander bezieht. Denn so wenig es dieser Theorie zufolge von Beginn an eine fertige Sammlung von Schriften gab, so wenig gab es auch „die Kirche“, die erst allmählich in komplexen Inklusions- und Exklusionsprozessen entstand. Da aber „die Kirche“ den Geltungsraum bildet, in dem und für den sich der angenommene Selbstdurchsetzungsprozess einzelner Schriften vollzogen haben soll, ist der Kanon als Sammlung dieser Einzelschriften sowohl die Voraussetzung als auch das Resultat der Entstehung der katholischen Kirche; und umgekehrt.12 Der Kanon wäre, mit anderen Worten, gleichzeitig ein Gründungs- als auch ein Verstetigungsphänomen. In diesem Modell führt die Unmöglichkeit, den Weg der Selbstdurchsetzung für einzelne Schriften historisch nachzuzeichnen, zu der paradoxen Konsequenz, dass die unverfügbare Qualität des Kanons wenigstens als Postulat und mit einer gewissen Unschärfe historisch vertreten werden kann, weil anders die wechselseitige Dependenz der beiden Entstehungsprozesse von
10 Das Tridentinum hat im Jahr 1546 Umfang und Wortlaut der Vulgata für verbindlich erklärt, vgl. Sessio IV, Decretum De usu et editione sacrorum librorum (Heinrich Denzinger/Peter Hünermann, Enchiridium symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, 43. Aufl., Freiburg i. Brsg. u. a. 2010, Nr. 1507). 11 Das Datum ergibt sich aus dem 39. Osterfestbrief des Athanasius von Alexandria aus dem Jahr 367 (PG 26, 1436–1440), der erstmals alle 27 neutestamentlichen Schriften in einem Katalog aufführt und deswegen – unbeschadet regionaler Sonderentwicklungen – als vorläufiges Enddatum des Sammlungsprozesses gilt. 12 Vgl. Adolf Martin Ritter, „Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons: Selbstdurchsetzung oder autoritative Entscheidung?“, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.), Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, S. 93–99, der die Alternative zurückweist und postuliert, dass beide Aspekte zutreffen.
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Kirche und Kanon historisch nicht mehr verständlich wird.13 Ob Lessing die Entstehung dieser Sammlung als das unverfügbare Resultat eines Selbstdurchsetzungsprozesses akzeptiert und als ein „noch gegenwärtig gangbares Wunder“ angesehen hätte, bleibt offen. Hartgesottene Kanongeschichtler tun es jedenfalls.14 Die Kehrseite dieses theologischen Gewinns sind jedoch historische Defizite: Dieses hier sehr vereinfacht skizzierte Modell geht, seiner weitreichenden Akzeptanz zum Trotz, historisch nicht auf. Die Hauptschwierigkeit liegt in der Grundannahme, dass sich jeweils Einzelschriften durchgesetzt, also: aufgrund ihres Inhalts theologische Zustimmung gefunden hätten. Das ist für das Johannesevangelium oder den Römerbrief ohne weiteres nachvollziehbar, für einige kleinere Schriften dagegen völlig unwahrscheinlich. So wird niemand auf die Idee kommen, dass die wenigen, inhaltlich vollkommen nichtssagenden Zeilen des 3. Johannesbriefs seine „self-authenticating quality“ verbürgen könnten und für seine Aufnahme in die Sammlung verantwortlich wären. Analoges gilt auch für andere Briefe, vor allem, wenn man sie mit anderen, theologisch gehaltvolleren Schriften vergleicht, die nicht Teil dieser Sammlung sind. Die Vorstellung, dass die Sammlung der 27 Einzelschriften durch deren Selbstdurchsetzung zustande gekommen sei, scheitert schon an diesen kleinen „randständigen“ Schriften des Neuen Testaments. Daher ist eine alternative Vorstellung der Entstehung des Kanons zu bevorzugen, der zufolge die Zusammenstellung der 27 Einzelschriften zu einer Einheit nicht das Resultat eines kontingent verlaufenen Sammlungs- und Ausscheidungsprozesses ist, sondern das Ergebnis der Publikation durch einen Herausgeber.15 In diesem Fall haben sich nicht einzelne Schriften jeweils für sich durchgesetzt, sondern ein einheitlich konzipiertes Sammelwerk: Die editio princeps des Neuen Testaments. Für diese Kanonische Ausgabe liegt ohne weiteres auf der Hand, dass das Problem des Geltungsanspruchs bzw. der durch die Inspirations-
13 Vgl. Metzger, Canon (wie Anm. 9), S. 287: Die Kirche habe den Kanon nicht geschaffen, „but came to recognize, accept, affirm, and confirm the selfauthenticating quality of certain documents that imposed themselves as such upon the Church. If this fact is obscured, one comes into serious conflict not with dogma, but with history“ [Hervorhebungen M. K.]. 14 Ernst Dassmann, „Wer schuf den Kanon des Neuen Testaments?“, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 3 (1988), S. 275–283, hier S. 283: „Nicht nur Dogmatiker, auch Historiker und Exegeten staunen über das ‚Wunder‘ des Kanons.“ 15 Vgl. David Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur christlichen Bibel (NTOA 31), Fribourg/Göttingen 1996; vgl. dazu Matthias Klinghardt, „Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon“, in: Zeitschrift für Neues Testament 12 (2003), S. 52–57. Das Folgende fasst Trobischs Thesen zusammen.
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behauptung angezeigten Unverfügbarkeit sich ganz anders darstellt als für Einzeltexte: Es ist das redaktionelle Konzept dieser Kanonischen Ausgabe, das den strukturellen Zusammenhang der Einzeltexte gewährleistet. Daher sollte dieses redaktionelle Konzept auch in der Lage sein, den Inspirationsanspruch nachvollziehbar zu machen. Der Nachweis für diese einheitliche Ausgabe ist hier nicht zu führen,16 aber es ist sinnvoll, das zugrundeliegende Begründungsverfahren wenigstens anzudeuten. Es beruht auf einer Analyse derjenigen Elemente, die nicht auf die Autoren der Einzeltexte zurückgehen, sondern erst in einem zweiten Schritt hinzugefügt sein können. Diese redaktionellen Merkmale bestehen, wie bei jedem anderen redaktionell verantworteten Sammelwerk auch, vor allem in formalen und inhaltlichen Vereinheitlichungen der Einzelbeiträge. Für die Kanonische Ausgabe sind diese Vereinheitlichungen zunächst an nichttextlichen Layoutentscheidungen der Handschriften erkennbar, die jeweils sehr ungewöhnlich, unableitbar und willkürlich sind, gleichzeitig aber alle Einzeltexte in allen Handschriften auszeichnen. Wichtige Hinweise liefern zunächst die sog. Nomina Sacra, also theologisch zentrale Begriffe (Gott, Jesus, Christus, Sohn, Geist, Kreuz u. a.), die in einer einzigartigen, an Abkürzungen erinnernden Schreibweise geboten werden, und zwar durchweg in allen Handschriften der christlichen Bibel.17 Ein zweites nichttextliches Merkmal ist die Kodexform: Die christliche Bibel wurde nicht auf Rollen, sondern auf Kodizes produziert, und zwar ebenfalls von Anfang an und ebenfalls ohne Ausnahme.18 Diese Publikationsart hatte zwar Vorbilder bei nichtliterarischen Fachbüchern; für die Produktion literarischer Texte hat sich der Kodex dagegen erst seit dem 4. Jahrhundert durchgesetzt.19 Die Handschriften des Neuen Testaments sind jedoch schon seit dem 2. Jahrhundert ausnahmslos Kodizes: Auch dies ist als Merkmal einer willkürlichen, aber einheitlichen Redaktionsentscheidung zu verstehen. Sehr viel wichtiger als diese beiden Layoutmerk-
16 Vgl. Trobisch, Endredaktion (wie Anm. 15), S. 13–70. 17 Zu den Nomina Sacra vgl. etwa Philip Comfort, Encountering the Manuscripts. An Introduction to New Testament Paleography and Textual Criticism, Nashville 2005, S. 199–253; Larry W. Hurtado, The Earliest Christian Artifacts: Manuscripts and Christian Origins, Cambridge 2006, S. 95–134; zur redaktionellen Funktion vgl. Trobisch, Endredaktion (wie Anm. 15), S. 16–31. 18 Trobisch, Endredaktion (wie Anm. 15), S. 31–35. 19 Die Verteilung von Kodex und Rolle an der Produktion literarischer Texte hat sich in den ersten fünf Jahrhunderten dramatisch verändert (vgl. Colin H. Roberts/Theodor C. Skeat, The Birth of the Codex, London/New York 1983, S. 37): Waren bis ins 3. Jh. noch über 90 % aller literarischen Texte auf Rollen geschrieben, sinkt der Anteil im 4. Jh. auf etwa ein Drittel, im 5. Jh. auf 10 %. Der rasante Aufstieg des Kodex als Publikationsform vollzog sich im 4. Jh.
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male ist jedoch der Umstand, dass alle Handschriften immer dieselben Schriften in immer derselben Reihenfolge enthalten. Wäre die Sammlung über einen langen Zeitraum ungesteuert und mit regionalen Unterschieden entstanden, müsste man Sammlungen unterschiedlichen Umfangs und mit unterschiedlichen Reihenfolgen postulieren, weil unterschiedliche Herausgeber eben unterschiedliche redaktionelle Konzepte realisieren, die sich dann in Umfang und Anordnung der Einzeltexte ausweisen.20 Für solche unterschiedlichen Sammlungen gibt es aber keine Hinweise. Nur fünf von rund 2500 Handschriften21 zeigen Abweichungen in der Reihenfolge der enthaltenen Schriften,22 während die restlichen (also beeindruckende 99,8 %) den einheitlichen Befund bestätigen. Die Schlussfolgerung ist einfach: Da die hier genannten Merkmale nicht von den Autoren der Einzeltexte stammen können, müssen sie editorische Elemente sein; da sie in allen Handschriften einheitlich bezeugt sind, belegen sie die eine einheitliche Redaktion – das ist die Kanonische Ausgabe. Deren redaktionelles Konzept ergibt sich in erster Linie aus dem, was der Herausgeber23 zu den Texten der von ihm edierten „Autoren“ hinzugefügt hat. Dies sind in erster Linie die Titel der Schriften, die in der ganzen Ausgabe (und durch die gesamte Handschriftenüberlieferung hindurch!) einheitlich formuliert sind. Diese Titel sind wichtig, weil sie auch Autorenangaben enthalten. Dass, beispielsweise, das Markusevangelium von „Markus“ stammt, weiß der Leser nur aus dem Titel „Evangelium nach Markus“: Der Name taucht im Textkorpus des Evangeliums überhaupt nicht auf. Allerdings gibt es eine Reihe von Hinweisen auf „Markus“ in anderen Schriften (und Sammlungseinheiten) des Neuen Testaments: Ein Johannes mit dem Beinamen „Markus“ stammte aus Jerusalem, Petrus verkehrte im Haus seiner Mutter, wie die Apostelgeschichte berichtet
20 Ein Gegenbeispiel sind die Schriften der nachapostolischen Generation, die erst seit dem 17. Jh. unter dem Titel „Apostolische Väter“ gemeinsam herausgegeben werden. Diese Texte haben keine gemeinsame Handschriftenüberlieferung, gehen also nicht auf eine antike „Ausgabe“ zurück. Dementsprechend weichen alle modernen Ausgaben – von Jean-Baptiste Cotelier, SS. Patrum qui temporibus apostolicis floruerunt, Paris 1672 bis Joseph A. Fischer et al., Die Schriften des Urchristentums I–III, Darmstadt 1986–1998 – in Umfang und Anordnung der Einzeltexte voneinander ab. 21 Nicht mitgerechnet sind die für die Fragen der Reihenfolge der Texte unerheblichen Lektionare und die anders konzipierten Handschriften der byzantinischen Rezension, vgl. Klaus Wachtel, Der byzantinische Text der Katholischen Briefe. Eine Untersuchung zur Entstehung der Koine des Neuen Testaments (ANTF 24), Berlin/New York 1995. 22 Das Zustandekommen dieser Abweichungen lässt sich in Teilen auch erklären, vgl. Trobisch, Endredaktion (wie Anm. 15), S. 47–54. 23 Nur aus Gründen der Einfachheit verwende ich den Singular: Die Funktion des Herausgebers können auch mehrere Personen übernommen haben.
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(Act 12,12). Sein Vetter Barnabas (Kol 4,10) und Paulus nahmen „Markus“ mit auf die erste Missionsreise (Act 12,25), trennten sich aber seinetwegen, weil er sie in Pamphylien im Stich gelassen hatte (Act 15,37–41): Barnabas reiste mit seinem Vetter „Markus“ weiter nach Cypern, Paulus ging mit einem anderen Begleiter nach Syrien. Später finden wir „Markus“ in Rom: Zusammen mit „Petrus“, der ihn als „mein Sohn“ bezeichnet, grüßt er am Ende des ersten Petrusbriefs (1Pe 5,13). Schließlich erfahren die Leser auch, dass „Markus“ sich bei Paulus aufhält, als dieser im Gefängnis ist: Paulus ist froh über seine Unterstützung (2Tim 4,11; Kol 4,10; Phlm 24). Und „Markus“ hat natürlich auch ein Evangelium verfasst, wie die Überschrift des „Markus“-Evangeliums verrät (Mk inscr.). Diese kleinen, verstreuten Informationen konstituieren eine Metaerzählung jenseits der Einzeltexte. Weil nur der Herausgeber, nicht aber die Autoren, alle Einzeltexte vor sich hatte, ist diese Hintergrunderzählung sein Werk, mit dem er sublime Lektüreanweisungen für das Verständnis der ganzen Sammlung gegeben hat. In diesem Beispiel dient „Markus“ als Verbindung zwischen Petrus und Barnabas auf der einen Seite und Paulus auf der anderen. Diese Verbindung ist wichtig, weil diese drei Apostel in Antiochia in einer scharfen Auseinandersetzung aneinander geraten waren und sich heftig zerstritten hatten, wie Paulus im Galaterbrief berichtet (Gal 2,11–14). Die Metaerzählung über „Markus“ gibt zu erkennen, dass Paulus durchaus Grund hatte, Markus und seinem Vetter Barnabas zu zürnen (Act 15,27ff.), ihm aber später offensichtlich verziehen hat: Er findet hohes Lob für seine treue Hilfe (2Tim 4,11). Dieses Beispiel zeigt, auf welche Weise der Herausgeber die Einzelschriften mit den darin sichtbar werdenden, teilweise stark divergierenden Positionen und den antagonistischen Handlungsträgern zu einer Einheit verbunden hat: Die zwar nicht spannungsfreie, aber doch einheitliche und am Ende auch harmonisch verlaufende Metaerzählung bringt das redaktionelle Konzept der Kanonischen Ausgabe prägnant zum Ausdruck und konstituiert ihre strukturelle Kohärenz. Die Transzendenzbehauptung der Inspirationsaussagen muss daher als Teil dieses redaktionellen Konzeptes verstanden werden, wenn sie für die Leser nachvollziehbar sein soll.
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III. Inspiration und redaktionelles Konzept Ausgangspunkt für die Einzeichnung der Inspirationsaussagen in das redaktionelle Konzept der Kanonischen Ausgabe ist die Mahnung des „Paulus“ an „Timotheus“, seinen ehemaligen Mitarbeiter und jetzigen Bischof in Ephesus.24 Die Aussage, dass „die ganze von Gott eingehauchte Schrift nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ sei (2Tim 3,16), ist Teil des bischöflichen Pflichtenspiegels. Um welche Schrift es sich hier handelt, ergibt sich aus der unmittelbar vorangehenden Bemerkung: „Du kennst ja von Kindheit an die heiligen Schriften, die dir Weisheit verleihen können, damit du durch den Glauben in Christus Jesus gerettet wirst“ (3,15). Der Leser der Kanonischen Ausgabe weiß natürlich, dass „Timotheus“ beschnitten und seine Mutter eine geborene Jüdin war.25 Aus diesem Grund sind die „heiligen Schriften“, die „Timotheus“ von Kindheit an kennt, die jüdische Bibel – bzw. genauer und im Sinn der Aussage: das (christliche) Alte Testament. Denn diese „heiligen Schriften“ haben ja einen pointiert christlichen Anstrich: Sie vermitteln „Weisheit“, die zur Rettung „durch den Glauben in Christus Jesus“ führt. Aus diesem Grund werden die „heiligen Schriften“ ja auch zu des christlichen Standes Besserung empfohlen: „Timotheus“ soll das Alte Testament in seiner Gemeinde verwenden.26 Es taugt auch „zur Widerlegung“ (ἐλεγμός), kann also auch zur Überführung von Häretikern genutzt werden, die eben dieses christliche Alte Testament entweder nicht haben oder es gar ablehnen. Schon diese kurzen Bemerkungen entfalten wesentliche Grundzüge der Hermeneutik der Kanonischen Ausgabe. Dass die „ganze Schrift von Gott eingehaucht“ sei, ist vor diesem Hintergrund eine verständliche und einheitlich konzipierte Transzendenzbehauptung. Sie bleibt jedoch zunächst ohne jede Begründung. Dies gilt auf den ersten Blick auch für die korrespondierende Aussage im zweiten Petrusbrief: Dass „die gesamte Prophetie der Schrift nicht durch eigene
24 Da das redaktionelle Konzept für die Leser geschaffen ist, ist es zunächst angebracht, die Perspektive der intendierten Leser einzunehmen: Für sie ist selbstverständlich „Paulus“ der Verfasser des 2Tim und „Timotheus“ sein Empfänger. Die Leserperspektive wird hier durch die Anführungszeichen kenntlich gemacht. Dass „Timotheus“ in Ephesus ist, ergibt sich aus 2Tim 1,3, dass er Bischof ist, aus 3,2; die naheliegende Kombination beider Informationen findet sich z. B. bei Euseb, h. e. 3,4,5. 25 Act 16,1.3; 2Tim 1,5 nennt sogar die Namen seiner Mutter (Eunike) und Großmutter (Lois): Diese Betonung der matrilinearen Abstammung ist Absicht, weil sie sicherstellt, dass „Timotheus“ gebürtiger Jude ist. 26 Vgl. Alfons Weiser, Der Zweite Brief an Timotheus (EKK XVI/1), Düsseldorf u. a. 2003, S. 279–283.
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Auslegung entsteht“, weil sich in ihr Menschen äußern, die „vom heiligen Geist getragen von Gott her sprechen“ (2Pe 1,20f.), ist zunächst auch nur Behauptung. Immerhin erläutert „Petrus“, dass die Inspiration der Schrift auf der Inspiration der Menschen durch den heiligen Geist beruht. Analog zu 2Tim 3 bezeichnet auch hier die „gesamte Prophetie der Schrift“ das (christliche) Alte Testament, dem, was ja nicht ungewöhnlich ist, insgesamt eine prophetische Qualität zugeschrieben wird. Die Differenzierung von Schrift- und Personalinspiration ist wichtig, weil „Petrus“ unmittelbar zuvor daran erinnert, dass er selbst Augenzeuge der aus den synoptischen Evangelien bekannten Verklärung Jesu27 war und dabei auch die Worte der Himmelsstimme28 gehört hatte: „Und diese Stimme, hervorgebracht aus dem Himmel, haben wir gehört, als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren. So haben wir das prophetische Wort gewisser, und ihr tut gut daran, darauf zu achten!“ (1,18f.). Diese ganze Einheit diskutiert das Verhältnis von Menschenwort und Gotteswort und begründet so den Transzendenzanspruch der Inspirationsaussage: (1) „Petrus“ war Zeuge der Stimme, die „aus dem Himmel hervorgebracht“ wurde.29 (2) Dadurch „hatte“ er das „prophetische Wort gewisser“: Die (gesprochene und gehörte) Himmelsstimme ist eine Bestätigung der prophetischen Schrift des Alten Testaments, die christologisch auf Jesus verweist. (3) Ergo: Keine einzige Prophetie der Schrift ist die eigenmächtige Erfindung von Menschen; vielmehr gilt: (4) Nur wer vom heiligen Geist getragen wird, kann von Gott her reden und, so ist zu ergänzen, dies dann auch aufschreiben. Die Leistung dieser Argumentation besteht darin, dass der 2Pe hier eine problematische Verhältnisbestimmung, nämlich die von Schrift- und Personalinspiration, durch eine andere erläutert, nämlich die von Altem Testament und christlicher Verkündigung. Der Grund für die Richtigkeit beider Beziehungen liegt natürlich in der persönlichen Zeugenschaft der Himmelsstimme: „Wir sind nämlich nicht irgendwelchen ausgeklügelten Märchen (σεσοφισμένοις μύθοις) gefolgt, als wir euch die Macht und die Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus kundgetan haben, sondern wir
27 Mk 9,2–10; Mt 17,1–9; Lk 9,28–36. 28 Es ist charakteristisch, dass 2Pe 1,17 mit keiner der jeweils voneinander abweichenden synoptischen Fassungen (Mk 9,7; Mt 17,5; Lk 9,35) genau übereinstimmt. In der handschriftlichen Überlieferung zeigt sich die Tendenz, diese Differenzen aneinander anzugleichen. 29 Im Deutschen lässt sich nicht angemessen wiedergeben, dass hier drei Mal das Passiv von φέρω (‚tragen; bringen‘) verwendet wird: Die Stimme bei der Verklärung war aus dem Himmel ‚hervorgebracht‘ (1,18: ἐνεχθεῖσα); noch nie wurde eine Prophetie von einem Menschen ‚hervorgebracht‘ (1,21a: ἠνέχθη); als vom heiligen Geist ‚Hervorgebrachte‘ (φερόμενοι) reden Menschen von Gott her (1,21b).
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sind Augenzeugen (ἐπόπται) seiner Erhabenheit geworden!“ (1,16). Es ist letztlich diese Augenzeugenschaft, welche die Inspiration des Alten Testaments bestätigt. Zusammen mit der Inspirationsaussage in 2Tim 3 geht es also darum, das Alte Testament für das christliche Selbstverständnis zu reklamieren und zu autorisieren: Das Alte Testament führt zur christlichen Wahrheit; es enthält den prophetischen Interpretationsrahmen für die Christologie; es ist eine unverzichtbare Grundlage sowohl für das Leben christlicher Gemeinden als auch für die Widerlegung von Häretikern und gehört deshalb in die Hand der Bischöfe. Diese Bedeutung des Alten Testaments gründet in seiner Inspiriertheit, die durch die Himmelsstimme bei der Verklärung bestätigt wird. Deren Wahrheit wiederum wird durch die Augen- bzw. Ohrenzeugenschaft des Petrus sichergestellt.
IV. Redaktionelles Konzept und literarische Fälschung Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die Inspirationsaussagen im 2Tim und im 2Pe vom Herausgeber der Kanonischen Ausgabe tatsächlich als Teile einer konzeptuellen Strategie aufeinander bezogen wurden. Andernfalls wäre dieses hermeneutische Konzept nur eine kontingente Zutat des Interpreten, vom Textbefund her möglich, aber in ihm nicht planvoll angelegt. In diesem Fall ist die Identifizierung einer redaktionellen Strategie allerdings der Schlüssel zum Verständnis, wenn es denn darum gehen soll, die Inspirationsbehauptung als strukturell zentrales Element der gesamten Ausgabe zu erweisen. Der Nachweis der konzeptuellen Einheit ist in diesem Fall relativ leicht zu führen, denn er kann sich darauf beschränken, in 2Tim und 2Pe Querverweise auf die anderen Schriften der Kanonischen Ausgabe zu identifizieren: Sie belegen die ordnende Hand des Herausgebers, weil nur er – nicht aber die realen Autoren der Einzelschriften – alle Beiträge zu diesem Sammelwerk überblicken und kennen kann. In dieser Hinsicht ist zunächst charakteristisch, dass der „Paulus“ von 2Tim 3,10f. den Adressaten „Timotheus“ an die gemeinsam erduldeten Verfolgungen während der Mission in Kleinasien erinnert: „Du aber bist mir gefolgt […] in
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den Verfolgungen und Leiden, denen ich in Antiochia, Ikonion und Lystra ausgesetzt war.“ Damit werden Reisestationen und Ereignisse abgerufen, die in Act 13f. in derselben Reihenfolge erzählt werden, und zwar, wie kleinere Unterschiede zeigen, als assoziative Erinnerung, nicht als literarische Referenz.30 Aufschlussreicher sind rund ein Dutzend gemeinsame „Bekannte“, die „Paulus“ gegenüber „Timotheus“ erwähnt (2Tim 4,9–20).31 Für die Semantik nur des 2Tim als Einzelschrift sind diese Bemerkungen völlig belanglos und ohne jede erkennbare Funktion. In formaler Hinsicht und auf das gesamte Neue Testament bezogen, haben sie dagegen die entscheidende Funktion, Verbindungslinien zu anderen Texten des Neuen Testaments zu ziehen und dadurch die Einheit der Kanonischen Ausgabe zu untermauern.32 Die Verwendung von Personennamen und Einzelnachrichten zur Konstituierung der innerkanonischen Beziehungen entspricht dem bereits erwähnten Beispiel über „Markus“. Durch diese Querverweise wird die Situation, aus welcher der Brief geschrieben zu sein behauptet, erkennbar: „Paulus“ befindet sich in Gefangenschaft und erwartet gefasst sein unmittelbar bevorstehendes, gewaltsames Ende (2Tim 4,6). Die fingierte Abfassungssituation des 2Tim entspricht dem Ende der Apostelgeschichte: „Paulus“ befindet sich in der römischen Gefangenschaft, der 2Tim ist also sein literarisches Testament. Auch für den 2Pe lassen sich solche Querverweise in großer Zahl ausmachen. Das wichtigste Beispiel, die Reminiszenz an die Verklärung Jesu (2Pe 1,17f.), wurde bereits erwähnt. Unter den restlichen Querverweisen33 ragen zwei heraus, weil sie das Verhältnis der apostolischen Kollegen „Petrus“ und „Paulus“ betreffen. Zunächst: „Petrus“ steht, was seine moralischen Qualitäten angeht, nicht hinter „Paulus“ zurück. Wie dieser, geht auch er gefasst seinem Martyrium entgegen: „Ich weiß, dass mein Zelt in Kürze abgebrochen wird, wie mir auch unser
30 In der Aufzählung in 2Tim 3 fehlt die letzte Station der paulinischen Mission in Derbe (Act 14,20); umgekehrt geht aus dem Act-Bericht nicht hervor, dass „Timotheus“ zu den Begleitern des Paulus gehörte: Erwähnt wird hier nur Barnabas. 31 Vgl. dazu Norbert Brox, „Zu den persönlichen Notizen der Pastoralbriefe“, in: Biblische Zeitschrift NF 13 (1969), S. 76–94. 32 Zu diesen Personalnotizen gehört auch die Aufforderung, „Timotheus“ möge doch bitte den Mantel und die Pergamente mitbringen, die „Paulus“ in Troas zurückgelassen habe: Man hat diesen Satz (neben der diätetischen Aufforderung 2Tim 5,23) als „das Banalste“ im neutestamentlichen Briefkorpus überhaupt bezeichnet (Cislas Spicq, „Pèlerine et vêtements. A propos des II Tim IV, 13 et Act XX, 33“, in: Mélanges Eugène Tisserant I, Città del Vaticano 1964, S. 389–417, hier S. 389). Im Rahmen der Kanonischen Ausgabe ist dieser Satz jedoch keineswegs banal, sondern der vielleicht wichtigste Satz des Neuen Testaments überhaupt: Er liefert einen nur geringfügig kaschierten Hinweis auf die Identität des Herausgebers, vgl. dazu David Trobisch, „Who Published the Christian Bible?“, in: Free Inquiry 28 (2008), S. 30–33. 33 Vgl. beispielsweise noch 2Pe 3,13 mit 1Thess 5,2 und Apc 21,1.
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Herr Jesus Christus offenbart hat“ (2Pe 2,14). Diese Ankündigung des Petrusmartyriums verweist auf das Ende des Johannesevangeliums34 und konstituiert so eine weitere Querverbindung zwischen dem 2Pe und den Berichten über Petrus in den Evangelien. Noch wichtiger ist die direkte Referenz auf „Paulus“: (Haltet die Langmut unseres Herrn für Heil,) „wie euch auch unser geliebter Bruder Paulus gemäß der ihm geschenkten Weisheit geschrieben hat. So spricht er in allen Briefen, in denen er davon handelt. In ihnen ist manches schwer verständlich; die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen dies – wie auch die übrigen Schriften – zu ihrem eigenen Untergang“ (2Pe 3,15f.). Das ist erstaunlich: „Petrus“ verweist auf die Autorität „unseres geliebten Bruders Paulus“ – gerade so, als hätte der ihn nicht schwer (und deutlich unter der Gürtellinie)35 beleidigt. Er lobt seine von Gott „geschenkte Weisheit“ – als hätte es zwischen beiden nie fundamentale theologische Differenzen gegeben. Und er kennt „alle seine Briefe“, setzt also bei den Lesern eine abgeschlossene Sammlung voraus. Das alles dient einem Gemeinsinnsangebot: Anders, als es die Lektüre (nur) des Galaterbriefes nahelegt, verläuft die fundamentale Trennlinie, die Inklusion und Exklusion markiert, nicht zwischen Petrus und Paulus, sondern zwischen Petrus und Paulus auf der einen Seite und den „Unwissenden“ auf der anderen. Deren Identität bleibt auf der Textebene offen, ist aber für die Rezipienten ebenso leicht zu erraten wie der gegen sie erhobene Vorwurf, sie würden die Paulusbriefe „zu ihrem eigenen Untergang verdrehen“: Es handelt sich offensichtlich um Leute, die aus den Paulusbriefen einen Gegensatz zwischen Petrus und Paulus herauslesen und von daher auch die „anderen Schriften“ falsch verstehen. Im historischen Kontext gab es nur eine Gruppierung, auf die dieser Vorwurf zutrifft, nämlich Marcion und die Marcioniten.36 Entscheidend ist an diesen Querverweisen, dass sie nicht auf die Autoren zurückgehen können, von denen sie zu stammen behaupten. Will man nicht annehmen, dass die „apostolischen Verfasser“ des 2Tim und des 2Pe jeweils mindestens 120 Jahre alt wurden, ist klar, dass die Autorenangaben fingiert sind. Die neutestamentliche Wissenschaft hält diese Briefe daher schon seit langer Zeit
34 Joh 21,18f.: „Amen, amen, ich sage dir: Als du noch jünger warst, hast du dich selbst gegürtet und bist gegangen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausbreiten, und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst. Das sagte Jesus, um anzudeuten, durch welchen Tod er (= Petrus) Gott verherrlichen würde.“ 35 Vgl. nur Gal 5,12; Phil 3,2! 36 In einigen Handschriften ist diese Anachronie dadurch beseitigt, dass anstelle des präsentischen ‚sie verdrehen‘ (στρεβλοῦσιν) das Verb im Futur „sie werden verdrehen“ (στρεβλώσουσιν) steht.
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für Pseudepigraphen.37 Strittig ist dabei, wie genau das Phänomen der (neutestamentlichen) Pseudepigraphie zu verstehen ist: Sind die Pseudepigraphen fiktionale Texte, die ohne weiteres auf das Einverständnis der Leser setzen, diese Fiktion als solche zu goutieren? Oder sind sie faktuale Texte, was zur Folge hat, dass die Leser die fingierten (und eben nicht fiktionalen) Autorenangaben für bare Münze nehmen und über die wahre Verfasserschaft getäuscht werden sollen? Die Alternative heißt also: Fiktion oder Täuschung?38 Die Antwort auf diese viel verhandelte Frage kann nur aufgrund der literarischen Intention pseudepigrapher Texte hinsichtlich ihres Täuschungsvorsatzes gegeben werden.39 Zu dessen Beurteilung ist bereits charakteristisch, dass die Forschung das Phänomen der neutestamentlichen Pseudepigraphie nicht an erzählenden Texten verhandelt,40 sondern an den Briefen. Auch wenn diese Briefe als Teil des Neuen Testaments literarische Texte und keine Dokumente sind, suggeriert die Wahl dieser Gattung eben doch einen dokumentarischen Charakter: Die teilweise sehr konkreten Angaben zu Briefsteller, Adressaten und Abfassungssituation wirken dann als Beleg für eine „Echtheit“, die gerade nicht gegeben ist, sondern fingiert werden soll. Für den 2Tim und den 2Pe lässt sich die Täuschungsabsicht vor dem Hintergrund der Annahme der Kanonischen Ausgabe ganz eindeutig belegen. Da die Querverweise des 2Tim und des 2Pe jeweils die Kenntnis der kompletten Sammlung der Kanonischen Ausgabe voraussetzen, stammen die Autorenangaben vom Herausgeber. Die redaktionelle Strate-
37 Das Forschungsfeld ist intensiv beackert, vgl. nur die Arbeiten aus jüngerer Zeit: Armin D. Baum, Pseudepigraphie und literarische Fälschung im frühen Christentum (WUNT 2/138), Tübingen 2001; Jörg Frey et al. (Hg.), Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen (WUNT 246), Tübingen 2009; Martina Janßen, Unter falschem Namen. Eine kritische Forschungsbilanz frühchristlicher Pseudepigraphie (ARGU 14), Frankfurt a. M. u. a. 2003; Herrmann Josef Riedl, Anamnese und Apostolizität. Der Zweite Petrusbrief und das theologische Problem neutestamentlicher Pseudepigraphie (RSTh 64), Frankfurt a. M. u. a. 2005; Terry L. Wilder, Pseudonymity, the New Testament, and Deception. An Inquiry into Intention and Reception, Lanham (MD) 2004. 38 Zum 2Tim und 2Pe vgl. die folgenden Beiträge in Frey et al. (Hg.), Pseudepigraphie (wie Anm. 37): Jens Herzer, „Fiktion oder Täuschung? Zur Diskussion über die Pseudepigraphie der Pastoralbriefe“, S. 489–536; Matthias Schmidt, „Die Stimme des Apostels erheben. Pragmatische Leistungen der Autorenfiktion in den Petrusbriefen“, S. 625–644; Jörg Frey, „Autorfiktion und Gegnerbild im Judasbrief und im Zweiten Petrusbrief“, S. 683–732. 39 Zu der Kriterienfrage vgl. vor allem Herzer, „Fiktion oder Täuschung“ (wie Anm. 38), S. 490–502. 40 Die Verfasserzuschreibungen der Evangelien oder der Apostelgeschichte würden dies ohne weiteres nahelegen. Die Frage der möglichen Täuschungsabsicht wird jedoch nur für die Briefliteratur verhandelt. Im Rahmen der Kanonischen Ausgabe liegen beide Phänomene jedoch auf derselben Ebene und sind Teil desselben Konzeptes.
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gie dieser Ausgabe macht es zwingend erforderlich, dass die Leser über die wahre Autorschaft dieser beiden Briefe getäuscht werden. Denn bereits der Hauch des Verdachtes, dass diese Briefe nicht von den Aposteln Petrus und Paulus stammen könnten, würde das redaktionelle Konzept der Kanonischen Ausgabe vollständig desavouieren: Welche Beweiskraft hätte etwa „Petrus’“ demonstrativer Schulterschluss mit „unserem geliebten Bruder Paulus“ für die Versöhnung der zerstrittenen Apostel, wenn er nicht wirklich von seinem antiochenischen Kontrahenten berichtet würde? Schon der Verdacht, diese Bemerkung könne fiktional sein, würde ja offenbaren, dass der Gegensatz zwischen den beiden Aposteln von einem Dritten kaschiert werden soll, also offensichtlich gar nicht beseitigt wurde und vielleicht auch nicht zu beseitigen war, so dass der Gegensatz zwischen beiden bestehen bliebe: Genau das ist die Position derer, die die Paulusbriefe zu ihrem eigenen Verderben verdrehen. Die Leser dürfen folglich die Autorenangaben unter keinen Umständen als fiktional und die Briefe als literarisches Spiel durchschauen: Die Täuschungsabsicht ist fundamental,41 und sie ist unteilbar.42 Beide Briefe sind literarische Fälschungen. So ergibt sich das einigermaßen erstaunliche Phänomen: Gerade die programmatischen Transzendenzbehauptungen, dass „die ganze Schrift von Gott eingehaucht“ sei und dass noch nie ein „Mensch aus eigenem Willen eine Prophetie erhalten“ habe, sind gezielte Fälschungen des Herausgebers der Kanonischen Ausgabe.
41 Gegen Ruben Zimmermann, „Unecht – und doch wahr? Pseudepigraphie im Neuen Testament als theologisches Problem“, in: Zeitschrift für Neues Testament 12 (2003), S. 27–38, hier S. 35: Die Autoren pseudepigrapher Schriften handelten „nicht mit Täuschungsabsicht im Sinne einer bewussten Irreführung der Adressaten. Im Gegenteil. Die Verfasserangabe sollte nicht hinters Licht führen, sondern zum Licht hin.“ Diese Alternative geht genau am Kern des Problems vorbei: Die redaktionelle Strategie der Kanonischen Ausgabe setzt gerade darauf, dass die Leser nur durch die (sorgfältig kaschierte) Täuschung zur Erleuchtung gelangen können. 42 Herzer, „Fiktion oder Täuschung“ (wie Anm. 38). S. 533f., erwägt, die Frage für 1Tim auf der einen Seite und für 2Tim und Tit auf der anderen Seite unterschiedlich zu beantworten. Das geht – möglicherweise – für Einzelschriften; für die Pastoralbriefe als Teil der Kanonischen Ausgabe ist die Möglichkeit ausgeschlossen, weil sie das Fälschungskonzept und damit das entscheidende Element des Transzendenznarrativs kompromittieren würde.
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V. Das Transzendenznarrativ der Kanonischen Ausgabe: Einige Konsequenzen Es ist wenig zweifelhaft, wie Dr. House diesen Befund beurteilt hätte. Betrachtet man die Transzendenzbehauptung der Inspirationsaussagen jedoch unter dem Gesichtspunkt ihrer Rationalität im Sinn der Nachvollziehbarkeit ihrer konzeptuellen Funktion, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Aus diesem Grund sind abschließend Funktionsweise, historische Leistung und Wirkung dieses Konzepts knapp zu skizzieren. 1. Mit den Querverweisen, die der Herausgeber über die einzelnen Schriften seiner Ausgabe legt, hat er diese nicht nur zu einer kohärenten Einheit verbunden, sondern er hat auch eine Metaerzählung konstituiert. Diese „Geschichte hinter den Geschichten“ wird jedoch nicht direkt erzählt und unterscheidet sich darin von den Erzählungen der einzelnen Schriften. Gleichwohl besitzt diese Metaerzählung eine narrative Struktur, da ihre einzelnen Elemente eine Geschehensfolge konstituieren: Sie ist nicht Narration, sondern Narrativ.43 Dieses Narrativ bildet das innere Strukturprinzip der Kanonischen Ausgabe und entspricht darin dem, was traditionell als „Kanon im Kanon“ bezeichnet wird: Eine Metanorm zur Steuerung des Verständnisses der Einzeltexte. Die Funktionsweise dieses Hintergrundnarrativs beruht zunächst auf einer Reihe formaler Bedingungen, unter denen zwei herausragen: Für die erste, seine hohe Kohärenz, genügen hier wenige Andeutungen. Denn es ist schon hinreichend deutlich geworden, dass die Wahl der „Autoren“ für die Schriften der Kanonischen Ausgabe hier eine entscheidende Rolle spielt. Der Herausgeber hat neben die Briefe des Paulus (die er, wie gezeigt, auch durch eigene „Paulus“Briefe ergänzt hat) die Katholischen Briefe der Jerusalemer Kontrahenten gestellt: „Jakobus“, „Petrus“ und „Johannes“ (sowie „Judas“), die in den Handschriften der Kanonischen Ausgabe immer in der Reihenfolge auftauchen, in der Paulus sie anlässlich seiner Schilderung des antiochenischen Zerwürfnisses nennt (Gal 2,9). Daneben stehen die apostolischen („Matthäus“ und „Johannes“) und nachapostolischen44 („Markus“ und „Lukas“) Gewährsleute des einen Evangeli-
43 Ich greife hier auf Überlegungen zu Transzendenznarrativen von Nele Schneidereit, Christoph Lundgreen und Daniel Schulz zurück, die auf einer Tagung zum Thema „Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen“ am 1. und 2. Juni 2012 in Dresden geäußert wurden. 44 N. B.: Die Zuschreibung zweier Evangelien an die Apostelschüler „Markus“ und „Lukas“ schließt aus, dass Apostolizität das schlichte Kriterium der Autorenwahl war. Nach Origenes (Hom in Luc 1,1) ist der Geistbesitz das entscheidende Kriterium, das die kanonischen von nicht-kanonischen Evangelien unterscheidet. Die Apostelschüler sind für die Kanonische
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ums: Teilweise durch die direkten Angaben der Texte, teilweise durch das daraus zu erschließende Hintergrundnarrativ, lassen sich diese acht „Autoren“ in einer plausiblen Geschehensfolge zuordnen, die durchaus spannungsvoll verlaufen ist, am Ende aber zu harmonischer Einheit führte. In dieser Hinsicht spielen dann auch die theologisch wenig aufregenden „kleinen“ Briefe eine große Rolle: Der 3Joh war mit Sicherheit nicht wegen seines theologischen Gehalts für die Kanonische Ausgabe wichtig, sondern weil er ein nicht unwichtiges Element zur Konstruktion der Hintergrunderzählung liefert. Neben der Angabe der „Autoren“ konstituieren selbstverständlich auch deren Äußerungen und theologischen Überzeugungen Kohärenz und eine (wiederum: spannungsvolle) Einheit. Die Inspirationsaussagen in den literarischen Testamenten der einstigen Streithähne „Petrus“ und „Paulus“ sind ein kleines, aber wichtiges Beispiel dafür. Allerdings sind die Identifizierung der kanonischen Kohärenzelemente sowie der Nachweis, dass und wie sie strategisch aufeinander bezogen sind, eine Aufgabe, die im Wesentlichen erst noch zu leisten ist. Dies hat forschungsgeschichtliche Gründe: Es ist zwar eine banale Einsicht, dass die Sinnkonstitution von Texten Zusammenhang und Kohärenz voraussetzt; aber mit Blick auf die Kanonische Ausgabe erfordert sie, das Neue Testament nicht als eine Sammlung von Einzeltexten zu lesen, sondern als einen Text, dessen Ursprungsdatum in der Mitte des 2. Jahrhunderts liegt. Erst die kanonische Lektüre, also eine Interpretation, welche die intratextuellen Querverweise und Kohärenzsignale ernst nimmt, kann beanspruchen, diesen Text (nämlich das gesamte Neue Testament als eine literarische Einheit) historisch adäquat zu verstehen. Zu Unrecht hat die historisch-kritische Forschung diese angeblich „vorkritische“ Perspektive fundamentalistischen Auslegungsansätzen überlassen. Neben der Kohärenz beruht die starke Wirkung dieses Narrativs darauf, dass seine wesentlichen Elemente nicht von einem „Autor“ behauptet, erzählt, argumentativ entfaltet, begründet oder plausibilisiert werden: Seine Stimme ist nur ‚aus dem Off‘ vernehmbar. Stattdessen müssen die Leser selbst das Geschehen hinter dem Geschehen, das in den Einzeltexten berichtet wird, identifizieren. Diese nicht unerhebliche Anforderung an das „kanonische“ Lesevermögen ist die Voraussetzung der Wirksamkeit des Narrativs. Denn der nur durch sehr dezente Hinweise gesteuerte Vorgang der Selbsterschließung bewirkt die unmittelbare Evidenz bei der Aneignung: Die Leser selbst sind die Urheber der von ihnen entdeckten Zusammenhänge. Aus diesem Grund ist ihre Wahrnehmung frei, zwang-
Ausgabe wichtig, weil der Herausgeber mit ihrer Hilfe seine „Autorengeschichte“ fast bis in die Gegenwart der Rezipienten reichen lassen konnte – ein Verfahren, das sich noch Irenäus zunutze gemacht hat (adv. haer. 2,22,5; 3,3,4; Eus, h. e. 5,20,5f.).
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los und unmittelbar. Diese Unmittelbarkeit lässt den Lesern keinen Spielraum, sich bewusst zu diesem Hintergrundnarrativ zu verhalten, seinen Anspruch zu plausibilisieren oder ihn abzuweisen: Es ist ihnen unverfügbar. So beruht die Authentifikation der christlichen Bibel als „Wort Gottes“ nicht auf den „gefälschten“ Inspirationsaussagen, sondern auf der Wirkung des Transzendenznarrativs als ganzem, in das jene sich nahtlos einfügen.45 Die Voraussetzung dieser Wirkung ist natürlich, dass der reale Autor dieses Narrativs nicht offen zutage tritt, sondern sich hinter den fingierten Autoren versteckt. Seine Invisibilisierung ist die Bedingung für die Wirkung des Konzepts und macht die Täuschung der Leser über die wahre Autorschaft (wenigstens eines Teils) der Texte erforderlich. Denn würde der Herausgeber den Lesern erkennbar entgegentreten, wäre seine Stimme nur eine unter anderen: Er bedürfte einer Autorisierung, die in der Mitte des 2. Jahrhunderts im Vergleich zu den apostolischen Autoren gar nicht mehr zu erlangen war, ohne die Unverfügbarkeit der Ausgabe insgesamt preiszugeben. Indem sich der Herausgeber für die Leser unsichtbar macht, erreicht er sie auf eine Weise, die der direkten Kommunikation verwehrt ist. Das zugrundeliegende Konzept war dem Herausgeber aus den ihm bereits vorliegenden Evangelien vertraut: Sie waren anonym. Der Herausgeber hat dieses Element für die Gesamtausgabe übernommen und sich seine Wirkweise zunutze gemacht. Aber weil er selbst unerkannt im Hintergrund blieb, konnte er die Anonymität der Evangelien auf dezente Weise rückgängig machen und ihre „Autoren“ zumindest in den Titeln nennen. Oder umgekehrt: Weil er die apostolischen Autorenangaben für die Evangelien aus Gründen der subtilen Leserlenkung seiner Ausgabe benötigte, musste er selbst unerkannt bleiben. Trotzdem hat der Herausgeber, wie viele andere „ehrbare Fälscher“ auch, in seiner Ausgabe eine versteckte Spur gelegt, die seine Identität verrät (s. o. Anm. 32). Darin liegt kein Widerspruch zu dem Konzept der Selbstinvisibilisierung, sondern eine Bestätigung für die Intentionalität seines Vorgehens. Die Kehrseite der Selbstinvisibilisierung des Herausgebers ist sein Täuschungskonzept: Die Fälschung von Autorenangaben und Texten ist für die Wirkung des Transzendenznarrativs konstitutiv und unumgänglich. Selbst wenn das Hintergrundnarrativ nur durch kleine Hinweise in Szene gesetzt wäre, könnte dies nur durch Interpolation in vorgegebene Texte geschehen, also etwa durch falsche Verfasserzuschreibungen, die ein wesentliches Element des Fälschungskonzeptes sind. Solche Interpolationen gibt es, quer durch die Kanonische
45 Bereits für die Alte Kirche fällt auf, wie relativ selten die Inspirationsaussagen zur Begründung der Inspiration der Schrift herangezogen werden; das Material ist gesammelt bei Johannes Beumer, Die Inspiration der Heiligen Schrift (HDG I/3b), Freiburg i. Brsg. u. a. 1968.
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Ausgabe, in geringerem und größerem Umfang. Aber es ist offenkundig, dass zumindest die beiden erwähnten Briefe (2Tim; 2Pe) komplett gefälscht sind: Sie sind Interpolationen, die in den Gesamttext „Neues Testament“ eingefügt sind. Auf den ersten Blick könnte diese zielgerichtete Täuschungsstrategie als moralischer Makel erscheinen, der den umfassenden Wahrheitsanspruch des gesamten Unternehmens zu kompromittieren in der Lage ist. Dies gilt umso mehr, als gerade die programmatischen Inspirationsaussagen Teil dieser strategischen Fälschungen sind: Kann das Transzendenznarrativ seine Wirkung deceptione hominum, Dei providentia entfalten? Für die Beurteilung bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder hat der Herausgeber sich tatsächlich nicht um die moralische Beeinträchtigung gekümmert; in diesem Fall wären seine Fälschungen eine „dreiste Lüge“ und der moralische Makel auf das Konto einer utilitaristischen Mittelheiligung durch den höheren Zweck zu verbuchen. Die andere Möglichkeit besteht darin, die Bemerkung, noch nie sei „eine Prophetie durch menschlichen Willen hervorgebracht“ worden (2Pe 1,21), auch als Selbstbeschreibung der Tätigkeit des Herausgebers zu verstehen. In diesem Fall wäre sie ein Indiz sowohl für das Bewusstsein für das Problematische seines Vorgehens als auch für die Überzeugung, gerade darin „vom heiligen Geist getragen von Gott her zu reden“. Die Frage ist unentscheidbar, weil sich zwar das literarische Konzept des Herausgebers und seine Intentionalität rekonstruieren lassen, nicht aber sein moralisches Bewusstsein. Nur eine Lösung für dieses moralische Dilemma ist auszuschließen, nämlich die Feststellung, dass die pseudepigraphischen Briefe (2Tim; 2Pe) theologisch marginal seien, weswegen die Entscheidung über Echtheit oder Fälschung keine Relevanz besitze.46 Dieses Urteil verkennt die zentrale Rolle, die diese Fälschungen für das Transzendenznarrativ der Kanonischen Ausgabe spielen. 2. In inhaltlicher Hinsicht ist der herausragende Aspekt des Transzendenznarrativs seine Zeitlichkeit: Als „Mitte der Schrift“ wird nicht eine begrifflich fassbare (oder gar: gefasste) Wahrheit erkennbar, auch nicht ein formales Kriterium (z. B. „was Christum treibet“), sondern die zeitliche Strukturierung der apostolischen Geschichte. Sie erlaubt es, die divergenten und antagonistischen Positionen der Apostel in einen impliziten Geschehensablauf mit einem Vorher
46 So Herzer, „Fiktion oder Täuschung“ (wie Anm. 38), S. 535, über die Pastoralbriefe (1/2Tim; Tit): Sie blieben „in ihrem theologischen Gewicht weit hinter anderen Schriften nicht nur des Paulus“ zurück. Wenn sie unecht wären, „wäre auch nicht viel verloren, es sei denn, man meinte, darauf angewiesen zu sein, eine kirchliche Hierarchie, die Ordination von Amtsträgern oder eine apostolische Sukzession unbedingt aus dem Neuen Testament begründen zu müssen“. An dieser Einschätzung würde sich aber auch dann nichts ändern, wenn man die Pastoralbriefe für echt hielte, so dass ihre theologische Bedeutungslosigkeit auch das moralische Dilemma der Fälschung bedeutungslos mache.
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und einem Nachher einzuordnen, der sie am Ende in inhaltlicher Einigkeit und moralischer Gleichwertigkeit miteinander verbindet: Das hat die Geschichte des „Markus“ genauso gezeigt wie der Hinweis, den „Petrus“ auf seine Augenzeugenschaft der Verklärung gibt, oder seine Wertschätzung für „unseren geliebten Bruder Paulus“. All diese einheitsstiftenden Elemente sind Teil einer Geschichte. Aber die Bedeutung der „Geschichtshaltigkeit“ des Transzendenznarrativs geht weit über die Aufhebung des apostolischen Zerwürfnisses von Antiochia hinaus. Denn das redaktionelle Konzept konstituiert nicht nur die Geschichte der Entstehung der frühesten Kirche im Zeitalter der Apostel, sondern bindet diese in das umfassende Narrativ der Heilsgeschichte ein: Die entscheidende Leistung der Kanonischen Ausgabe war die Kombination von Altem und Neuem Testament zu einer Einheit. Dass sich die Inspirationsaussagen zunächst auf die alttestamentlichen Schriften beziehen, diese aber in erster Linie als Verweise auf Christus hin Bedeutung gewinnen, ist schon deutlich geworden. Zu diesem Befund passt die Beobachtung, dass auch die anderen expliziten Hinweise auf eine Schriftinspiration, etwa in Act 28,2547 oder durchweg im Hebräerbrief48, aus Texten stammen, die erst auf der Ebene der Kanonischen Ausgabe entstanden sind. Sie sind, genau wie die Titel „Das Alte Testament“ und „Das Neue Testament“,49 Kohärenzmerkmale der zweibändigen Ausgabe, die der Herausgeber geschaffen hat. Dass diese Ausgabe offensichtlich von Anfang an in diesen zwei Teilen geplant war, hat eine Reihe von Konsequenzen, von denen hier nur zwei heraus-
47 Vgl. François Bovon, „Schön hat der heilige Geist durch den Propheten Jesaja zu euren Vätern gesprochen“ (Act 28,25), in: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 75 (1984), S. 226–232. 48 Zum Hebräerbrief als „paulinisches“ Pseudepigraph vgl. Claire K. Rothschild, Hebrews as Pseudepigraphon. The History and Significance of the Pauline Attribution of Hebrews (WUNT 235), Tübingen 2009. 49 Die Titel „Altes Testament“ und „Neues Testament“ tauchen erstmalig um 180 n. Chr. auf, der eine in den Eklogai des Melito von Sardes (Euseb, h. e. 4,26,13f.: τὰ τῆς παλαιᾶς διαθήκης βίβλια), der andere etwa gleichzeitig bei dem antimontanistischen Anonymus (Euseb, h. e. 5,16,3); zu diesem ganz einheitlich überlieferten Titel (ἡ καινὴ διαθήκη) vgl. Trobisch, Endredaktion (wie Anm. 15), S. 68ff.; Wolfram Kinzig, „Ἡ καινὴ διαθήκη: The Title of the New Testament in the Second and Third Centuries“, in: The Journal of Theological Studies 45 (1994), S. 519–544. Wie wenig der Buchcharakter des Neuen Testaments ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen ist, zeigt der Umstand, dass der Titel zwar Teil der Handschriften ist (siehe Trobisch, Endredaktion [wie Anm. 15], S. 68), von den kritischen Ausgaben aber gar nicht verzeichnet wird: Sie halten den Titel nicht für einen Teil des Textes. Dieselbe Fehleinschätzung liegt auch der gelegentlich verwendeten Bezeichnung des Alten Testaments als „Erstes Testament“ zugrunde: Sie ist als Ausdruck einer theologischen Einschätzung verständlich, verkennt aber, dass „Das Alte Testament“ der Titel des ersten Teils der Kanonischen Ausgabe ist.
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gegriffen seien. Zunächst leuchtet es unmittelbar ein, dass die Inspirationsaussagen im 2Tim und 2Pe sich zwar auf der Ebene der Einzeltexte nur auf die „heiligen Schriften“, also das Alte Testament, beziehen, im Rahmen der Gesamtausgabe aber auch selbstreferentiell wirken und das Neue Testament mit einbeziehen. Denn wer im Neuen Testament davon liest, dass die „Schriften“ des Alten Testaments inspiriert sind, wird diese Qualität ohne weiteres auch auf das in vielerlei Hinsicht sehr viel wichtigere Neue Testament übertragen: Die „ganze von Gott eingehauchte Schrift“ ist die Gesamtausgabe aus Altem und Neuen Testament.50 Natürlich konnten die apostolischen „Autoren“ zu ihrer Zeit nicht sagen, dass die „heiligen Schriften“ den Titel „Altes Testament“ tragen oder dass es ein ebenfalls inspiriertes Buch namens „Neues Testament“ gibt, ohne die Echtheitsfiktion zu gefährden. Wichtiger ist, dass diese zweiteilige Ausgabe, in Reaktion auf Marcion und andere, das Konzept der Heilsgeschichte vielleicht nicht erfunden, aber doch dem Christentum zum ersten Mal auf eine umfassende Weise strukturell eingeschrieben hat. Damit wurde Geschichtlichkeit zur Basiskategorie für die Bestimmung all dessen, was Gott und Welt miteinander verbindet: Dies gilt im universalen Horizont der Weltgeschichte von der Schöpfung bis zur Vollendung der Welt, die in der Kanonischen Ausgabe literarisch vom Schöpfungsbericht am Anfang des Buches Genesis bis zur Schilderung des Weltgerichts am Ende der Johannesoffenbarung abgebildet wird. Dies gilt auch für die Einbindung des Christentums in die Erwählungsgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel, die sich darin erweist, dass die an Israel ergangenen Verheißungen im Horizont des Christentums realisiert werden. Und dies gilt schließlich auch für die Fortsetzung dieser Erwählungsgeschichte, die von Jesus bis in die apostolische und nachapostolische Zeit führt und damit fast bis in die Gegenwart der Erstrezipienten dieser zweibändigen Bibel reicht. Dieses heilsgeschichtliche Hintergrundnarrativ bestimmt Anfang, Ziel und Richtung dieses Geschehens und erlaubt den Lesern darüber hinaus, darin ihre eigene Gegenwart kurz vor seiner Vollendung zu identifizieren: Geschichtlichkeit ist die Grundsignatur des kanonischen Transzendenznarrativs. Die Bedeutung dieser Leistung erschließt sich erst angesichts der konkreten Alternativen, die sich im 2. und 3. Jahrhundert dazu boten: Die Theologie der gnostischen Systeme war modern, elitär, intellektuell reizvoll und philosophisch anschlussfähig. Ihre nicht geringste Attraktivität lag darin, dass der kosmolo-
50 Aus diesem Grund ist πᾶσα γραφὴ θεόπνευστος (2Tim 3,16) kollektiv zu verstehen, s. o. Anm. 3. Dementsprechend haben schon die Väter des 2. Jh. die Inspiration ohne weiteres auch auf das Neue Testament bezogen, vgl. etwa Iren, 2,282; 3,24,1; Tertullian, Apol 20,1 (CSEL 69, 52) usw.
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gische Dualismus und die hochspekulativen Konzepte der Emanationenlehre gerade frei waren von jeder Art „Geschichtlichkeit“: Das soteriologische Konzept „Heil durch Erkenntnis“ ermöglichte den Gläubigen die unmittelbare Partizipation am Göttlichen, unabhängig von Zeit und Raum. Demgegenüber musste die Vorstellung, dass das Göttliche die materielle Welt nicht nur erschafft, sondern sich selbst an sie bindet und geschichtlich in sie eingeht, geradezu lächerlich einfältig wirken; pagane Ridikülisierungen des katholischen Christentums von Celsus bis Porphyrius und darüber hinaus legen davon beredtes Zeugnis ab. Man unterschätzt die Bedeutung dieser Alternative, wenn man sie nur aus der Perspektive des geschichtlich Gewordenen betrachtet und dieses für das Gegebene hält: Die Anstrengung, die ihre Widerlegung den Häresiologen und Apologeten bereitet hat, zeigt die Größe des Problems. Diese geschichtstheologische Gestalt des Christentums, das sich gegen diese gnostisch-ungeschichtlichen Alternativen durchsetzte, machte später eine Reihe von Adaptionen notwendig, die an den komplexen, aber fruchtbaren Entwicklungen der Dogmengeschichte bis ins 5. Jahrhundert ablesbar sind. Die wesentliche theologische Voraussetzung dafür, dass eine Kirche mit dieser geschichtlichen Signatur sich überhaupt formieren und um ein plausibles Gemeinsinnsangebot sammeln konnte, bildet die Kanonische Ausgabe. Sie ist das eigentliche Gründungsdokument51 der entstehenden ökumenischen Kirche: Das katholische Christentum der Alten Kirche ist wesentlich kanonisches Christentum. So gesehen, ist der Herausgeber der Kanonischen Ausgabe der dritte Gründer des Christentums. 3. Erst die historische Kritik der Spätaufklärung hat der Geltung dieses Transzendenznarrativs ein Ende bereitet. Johann Salomo Semlers „freie Untersuchung des Kanons“52 war so frei, die kanonischen Querverbindungen zwischen den Einzelschriften aufzulösen und ihnen ihren je eigenen historischen Ort zuzuweisen. Dadurch wurde das Transzendenznarrativ dekonstruiert, die Unmittelbarkeit
51 Darin unterscheidet sich die hier skizzierte Entstehungsgeschichte des christlichen „Kanons“ grundlegend von früheren Wahrnehmungen, die den Kanon i. W. als Verstetigungsphänomen verstehen. Sehr deutlich wird dies bei A. und J. Assmann, Kanon und Zensur (wie Anm. 12): Die biblischen Kanones werden unter der Überschrift „Kanon oder die Verfestigung kulturellen Sinns“ dargestellt. Das entspricht dem programmatischen Verständnis von Kanon als „Institutionalisierung von Permanenz“ (Assmann/Assmann, Kanon und Zensur, [wie Anm. 12], S. 7–27, hier S. 13); für den „Kanon“ der christlichen Bibel ist damit jedoch nur der Aspekt seiner Rezeption erfasst, nicht aber der seiner Entstehung. 52 Johann Salomo Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I–IV, Halle (1771–1775); die eigentliche Programmschrift aus dem ersten Teil ist bequem zugänglich in der Ausgabe von Heinz Scheible (Hg.), Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte 5, 2. Aufl., Gütersloh 1980.
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seiner Evidenz ging verloren: Heilsgeschichte und Historie waren endgültig auseinander getreten, die Vorstellung der Verbalinspiration verflüchtigte sich, am Ende blieb die blasse und letztlich nichtssagende Annahme einer „Realinspiration“. Unter den Bedingungen des historischen Bewusstseins lässt sich dieser garstige, breite Graben nicht mehr zuschütten. Immerhin kann man den seit dem 18. Jahrhundert eingeschlagenen Weg zu Ende gehen und dem Konzept dieses Transzendenznarrativs seinen eigenen, historischen Ort zuweisen. Die historisch-kritische Forschung der vergangenen 200 Jahre hat diesen letzten Schritt jedoch nicht getan. Trotz ihrer Einsicht in die historische Bedingtheit der neutestamentlichen Schriften und trotz der Erkenntnis, dass viele von ihnen Pseudepigraphen sind, hat sie das sinnkonstitutive Konzept der Kanonischen Ausgabe nicht durchschaut und diese nicht als historisches Phänomen wahrgenommen. In der Folge wurden die einzelnen Elemente dieses Konzepts immer wieder nur aus der Perspektive verstanden, die sie selbst allererst produziert hatte. Denn die patristischen Belege, die Kanongeschichtler von Zahn bis von Campenhausen und Metzger ausgewertet und als historische Zeugnisse für ihr Modell der Entstehung des Kanons genutzt haben, waren komplett in der Täuschung des redaktionellen Konzepts gefangen. So lässt sich etwa, ein Beispiel unter vielen, die Ansicht, dass „Johannes“ der Verfasser des Johannesevangeliums sei, durch eine Fülle patristischer Belege untermauern, die bis ins 2. Jahrhundert zurückreichen; wer diese sehr alte und breite „Tradition“ als historischen Beleg für das Wissen um die johanneische Verfasserschaft akzeptiert,53 hat sich, zusammen mit den patristischen Quellen, vom Konzept des Herausgebers täuschen lassen. Erst Trobischs Modell der „Kanonischen Ausgabe“ hat dieses Konzept durchschaut, seine Entstehungsbedingungen analysiert und seine Ziele identifiziert. Man kann darin tatsächlich die Vollendung des Programms der Historischen Kritik sehen. Denn auf diese Weise wird die Konstruktion dieses Transzendenznarrativs wirklich als historisches Phänomen verständlich – einschließlich der Invisibilisierung seines Schöpfers, der dazu notwendigen vorsätzlichen Fälschung von Autorenangaben und Schriften sowie der Transzendenzbehauptung in den Inspirationsaussagen. Das Konzept dieses Transzendenznarrativs hat rund 1600 Jahre lang gehalten und seine Wirkung getan. Ganz abgesehen von den immensen Folgen, die es für die Kultur- und Geistesgeschichte freigesetzt hat, ist dies eine Leistung, die ihresgleichen sucht und höchsten Respekt verdient. Angesichts der für die Wirkung des Konzepts notwendigen Fälschung kann man es mit Lessing halten: „Was
53 Zuletzt ausführlich: Martin Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (WUNT 67), Tübingen 1993.
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kümmert es mich, ob die Sage falsch oder wahr ist: die Früchte sind trefflich.“54 Selbst wenn man dieses Konzept nicht als Ausdruck göttlicher providentia oder als „Wunder“ bewerten mag, muss man ihm ein hohes Maß an Rationalität bescheinigen: Verrückt ist es nicht.
54 Lessing, Beweis des Geistes (wie Anm. 8), S. 444, der im Zusammenhang erklärt, die Neuheit der christlichen Offenbarung habe „nichts geringeres als Wunder und erfüllte Weissagungen erfordert […], um erst die Menge darauf aufmerksam zu machen. Die Menge aber auf etwas aufmerksam machen, heißt, den gesunden Menschenverstand auf die Spur zu helfen. Auf die kam er; auf der ist er: und was er auf dieser Spur rechts und links aufgejaget, das, das sind die Früchte jener Wunder und erfüllten Weissagungen.“
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Göttliche Gotik? Modi der Transzendierung von Sakralarchitektur im hohen und späten Mittelalter Mit dem spezifischen Charakter christlicher Sakralarchitektur wird in zeitgenössischen Vorstellungen zumeist die Erwartung verbunden, dass er vorrangig Stimmungen zu evozieren habe, welche den Gläubigen subjektive Transzendenzerfahrungen ermöglichen. Wie sehr solche Vorstellungen kulturell determiniert sind, zeigt sich nicht nur daran, dass die Architektur von Bauten anderer Religionen anderen Leitbegriffen folgen kann, sondern auch, wenn zeitgenössische Neubauten nichtchristlicher Religionsgemeinschaften der genannten Leitvorstellung folgen bzw. ihnen die Realisierung solcher Leitvorstellungen zugeschrieben wird, wie z.B. aktuell die Synagoge in Dresden1 oder die Zentralmoschee in Köln.2 Solche plakativen Beispiele belegen nicht nur die kulturelle Prägung von Sakralarchitektur im weitesten Sinne, sondern sie zeigen auch die historische Wandelbarkeit von Transzendenzerwartungen und -behauptungen an, die an solche Architektur gestellt bzw. ihr zugeschrieben werden. Charakteristisch ist dabei, dass von der Architektur eine der religiösen Transzendenz entsprechende Transzendierungsleistung erwartet wird. Diese kann höchst unterschiedliche Eigenschaften haben. Einige der speziell für die mittelalterliche Baukunst des Christentums dominanten Modi ließen sich als magisch, symbolisch und künstlerisch charakterisieren – ohne damit weitere Optionen wie Repräsentativität etc. ausschließen zu wollen. Christliche Kirchen waren in der Zeit der Urgemeinde keine Sakralbauten im Sinne von „sakralisierten“ Bauten, die geweiht und damit alleine schon durch ihre überhöhte Materialität zur Präsenz des Göttlichen beigetragen hätten. Vielmehr herrschte anfangs sogar eine gewisse Feindlichkeit gegenüber dieser Vorstellung. Denn: „Gott, der die Welt gemacht hat und alles was darin ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind“ predigte beispielsweise Paulus auf dem Areopag in Athen.3 Das Urchristentum
1 1998–2001 vom Architekturbüro Wandel, Lorch und Hirsch geplant und errichtet. 2 Der Rohbau wurde zwischen 2009 und 2011 nach Plänen des Kölner Architekten Paul Böhm errichtet. 3 Zum ur- und frühchristlichen Verständnis vom Kirchenbau vgl. Carola Jäggi, „Die Kirche als heiliger Raum. Zur Geschichte eines Paradoxons“, in: Berndt Hamm/Klaus Herbers/Heidrun
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kannte daher keine „Sakralbauten“, sondern bloß Gemeindebauten. Dabei blieb die Bedeutung der Gemeinde und der Gemeinschaft von der Spätantike bis ins Mittelalter relativ konstant, wohingegen sich Wertigkeit und Interpretation des Ortes, an dem sie sich versammelten, stärker transformierten. Erste Modifikationen der urchristlichen Vorstellung lassen sich bereits in vorkonstantinischer Zeit nachweisen, während die unter Konstantin errichteten großen Basiliken schon „sakralisierte“ Bauten waren. Dies kam besonders im Ritus der Kirchweihe, der Gott herabrufenden „consecratio“ zum Ausdruck, der sich bis ungefähr ins 10. Jahrhundert immer weiter ausdifferenzierte und im um 960 entstandenen Pontificale Germano-Romanicum kodifiziert wurde.4 Ab dem zweiten Konzil von Nicäa 787 war auch die Beisetzung von Märtyrerreliquien in Kirchen vorgeschrieben. Parallel zur diesen Entwicklungen ist eine zunehmend allegorische Ausdeutung des eigentlichen Messgeschehens zu beobachten, die im gegen 820 verfassten Liturgiekommentar des Amalarius von Metz einen vorläufigen Höhepunkt fand. Weitere Autoren wie Honorius Augustodunensis, Sicardus von Cermona, Peter von Roissy oder Durandus von Mende folgten noch bis ans Ende des 13. Jahrhunderts.5 Dieser Prozess der wegen der angenommenen Realpräsenz des Heiligen sowohl magischen als auch symbolischen Ausdeutung des Kirchenbaus war damit argumentativ weitgehend zu seinem Abschluss gekommen; gleichwohl war dieser Diskurs niemals wirklich zu stabilisieren, wie am Ende des hier betrachteten Zeitraums in der reformatorischen Ablehnung der Vorstellungen vom sakralen Gehalt des Kirchengebäudes zum Ausdruck kam.6 Auch blieben stets weitgehende Konkretisierungen möglich. Hierbei wäre insbesondere an die Intensivierung der Heiligenverehrung und speziell an den konkret mit den
Stein-Kecks (Hg.), Sakralität zwischen Antike und Neuzeit (= Beiträge zur Hagiographie 6), Stuttgart 2007, S. 75–89; Paul Corby Finney, „Topos Hieros und christlicher Sakralbau in vorkonstantinischer Zeit“, in: Boreas 7 (1984), S. 193–225. 4 Anton Stiegler et al., Artikel „Kirchweihe“, in: Josef Höfer/Karl Rahner (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), Bd. 6, 2. Aufl., Freiburg i. Br. 1961, Sp. 302–306; Bernard Botte/ Heinzgerd Brakmann, Artikel „Kirchweihe“, in: Georg Schöllgen et al. (Hg.), Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 20, Stuttgart 2004, Sp. 1139–1169 (mit weiterer Literatur); Ralf M. W. Stammberger/Claudia Sticher/Annekatrin Warnke (Hg.), Das Haus Gottes, das seid ihr selbst. Mittelalterliches und barockes Kirchenverständnis im Spiegel der Kirchweihe, Berlin 2006; hierin insbesondere: Peter Wünsche, „Zur Feiergestalt der westlichen Kirchweihliturgie vom Frühmittelalter bis zum nachtridentinischen Pontifikale von 1596“, S. 131–141. 5 Die Standardliteratur zum Thema bleibt: Joseph Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Auffassung des Mittelalters, 2. Aufl., Freiburg i. Br. 1924. 6 Dafür nahm die Bedeutung der Rolle des Kirchengebäudes als Versammlungsort der Gemeinde wieder zu.
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Kirchen verbundenen Reliquienkult zu denken,7 oder an die seit dem Laterankonzil von 1215 populär gewordene Sakramentsverehrung,8 die sich materiell auf den Kirchenbau auswirken konnte. Für das erste christliche Jahrtausend im Westen gilt dabei, dass die erwähnten Deutungsphänomene zwar nicht völlig ohne Auswirkungen auf die architektonische Gestaltung der Kirchen blieben, grosso modo aber keine unmittelbar mit der Entwicklung der Interpretation parallel verlaufende Entwicklung der Form zu beobachten ist. Ja es lässt sich sogar die These aufstellen, dass der Kirchenbau bis ungefähr zur Romanik durch seine Primärfunktionen geprägt war. Unter diesen müssen nicht allein die religiösen verstanden werden, sondern es konnte auch um Inszenierung von Herrschaft, Demonstration von monastischem Selbstverständnis etc. gehen. Auch für kompliziertere Aufgaben genügte in der Regel die Anwendung eines relativ einfachen Systems, das über Kernelemente wie Größe, Ausdifferenzierung der Räumlichkeit, Verweise auf bestimmte Vorbilder, Verwendung kostbarer Materialien und vor allem den Verweis auf die Heiltümer9 verfügte. Dieses primär architektonische System entfaltete sich parallel zum Prozess der zunehmenden symbolischen Deutung des Kirchengebäudes; konkrete Einflüsse des einen auf das andere sind jedoch kaum erkennbar. Wenn überhaupt, so wurden die architektonisch herausragenden Lösungen nachträglich symbolisch interpretiert, während die architektonischen Gestaltungen nur höchst begrenzt auf solche Deutungen Rücksicht nahmen, z.B. wenn in einem Chorhaupt zwölf Säulen in Analogie zu den zwölf Aposteln errichtet wurden.10
7 Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 1997. 8 Der hiermit im Zusammenhang stehende Abendmahlsstreit, bei dem es um die Qualität von Brot und Wein bei der Eucharistie ging, sei hier nicht weiter verfolgt. Er kann aber als Phänomen, bei dem es um Ähnliches geht, im Hintergrund mitgedacht werden. 9 In diesem Sinne charakteristisch: Gervasius von Canterbury über die alte, 1176 durch Brand zerstörte Kathderale: „Es ist aber nicht unser Vorsatz gewesen, die Zusammenfügung der Steine zu beschreiben, sondern weil ich nicht vollständig die Orte und die Ruhestätten der Heiligen ansagen konnte, die in den verschiedenen Teilen der Kirche untergebracht sind, wenn ich nicht vorher die Orte selbst, in denen sie nach dem Augenschein, der Mitarbeit und dem schriftlichen Zeugnis Eadmers untergebracht sind, irgendwie kritisch beschreibe.“ Zitiert nach der Übersetzung von: Jochen Schröder, Gervasius von Canterbury, Hugo von Sankt Victor und die Methodik der Bauerfassung im 12. Jahrhundert, Bd. 2, Köln 2000, S. 343. 10 Bruno Reudenbauch, „Säule und Apostel. Überlegungen zum Verhältnis von Architektur und architekturexegetischer Literatur im Mittelalter“, in: Frühmittelalterliche Studien 14 (1980), S. 310–351.
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Als der Prozess symbolischer Deutung inhaltlich weitgehend zum Stillstand gekommen war, scheint ein neuartiger Diskurs über die Gestaltung der Kirchen die Oberhand gewonnen zu haben, der auf bis dahin eher seltene Begriffe wie vor allem „Schönheit“ abzielte. Und so wurden erstmalig auch Interpretationen von Kirchenbauten festgehalten, in denen deren ästhetische Qualität im Mittelpunkt stand.11 Ein Indiz hierfür ist der generelle Wandel in Bezug auf die Wertschätzung der Architektur. Wie bei zahlreichen anderen Autoren zuvor auch, zählt sie bei Hugo von Sankt Viktor in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts noch eindeutig zu den mechanischen Künsten, und zwar als eine Untergattung der Waffen- und Schmiedekunst.12 Hingegen erscheint sie am Ausgang desselben Jahrhunderts an der Westfassade der Kathedrale von Laon in den skulptierten Fensterarchivolten des ersten Obergeschosses – augenscheinlich erstmalig – als eigene, den sieben freien Künsten zugeordnete Darstellung, womit die traditionelle Artes-LiberalesIkonographie durchbrochen wird.13 (Abb. 1) Dies ging mit einer Diskussion einher, in deren Verlauf die Architektur als eine religiösen Zwecken dienende „Kunstfertigkeit“ anerkannt und deren Funktion theologisch begründet wurde. Doch dieser Diskurs ist als einer, der sich weitgehend auf das Feld der Theorie beschränkte, für die gebaute und skulptierte Realität nur von begrenzter Bedeutung. Daher ist es auch nicht notwendig, die neue künstlerische Qualität der Bau- und Bildkunst aus dieser Theorie abzuleiten, zumal die Idee, dass Kunstschönheit auch moralisch gut sei, auf göttlich gesetzten Proportionen beruhe, die göttliche Ordnung widerspiegele etc., schon auf Augustinus oder Pseudo-Dionysos zurückreichte und damit im Hochmittelalter nicht mehr grundsätzlich originell war. Was sich aber ungefähr seit der Mitte des 12. Jahrhundert verstärkte, war die Dichte des Diskurses über die Schönheit von Architektur. Dabei war gerade von den Autoren, welche in besonderem Maße theologisch geschult waren und die
11 Grundlegend zur Ästhetik im Mittelalter sind die Arbeiten von Andreas Speer, insbesondere: Andreas Speer, „Kunst und Schönheit. Kritische Überlegungen zur mittelalterlichen Ästhetik“, in: Ingrid Craemer-Ruegenberg/Andreas Speer (Hg.), Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter (= Miscellanea Medievalia 22), Berlin/New York 1994, S. 945–966. 12 Vgl. Victor Mortet/Paul Deschamps, Recueil de textes relatifs à l’histoire de l’architecture et à la condition des architectes en France, au Moyen-Age, XIe–XIIIe siècles, Paris 1911–1929, Ausgabe Paris 1995, S. 657–659; Paul Oskar Kristeller, „Das moderne System der Künste“, in: ders., Humanismus und Renaissance, Bd. 2, München 1980, S. 164–206, hier S. 173. 13 Dany Sandron, „La cathédrale et l’architecte. À propos de la façade occidentale de Laon“, in: Fabienne Joubert/Dany Sandron (Hg.), Pierre, lumière, couleur. Études d’histoire de l’art du Moyen Âge en l’honneur d’Anne Prache, Paris 1999, S. 133–150.
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für ihresgleichen und ihre Schüler schrieben, in ihren literarisch hochstehenden Texten keine substanzielle Innovation zu erwarten. Dass in der entsprechenden Literaturgattung des Mittelalters geradezu durchgängig konservativ argumentiert wurde, haben die genannten Forschungen der letzten Jahrzehnte eindrücklich bewiesen. Daher ist es wahrscheinlich, dass die theologische Theorie und das, was sich von ihr in Texten niedergeschlagen hat, keinen unmittelbaren Einfluss auf die Baukunst hatte,14 anders als dies beispielsweise Panofsky oder von Simson angenommen hatten und wie dies lange Zeit als Lehrmeinung galt.15 Daher ist es plausibler, die Argumentation umzudrehen, zumal den Texten über Bauten schon aus systematischen Gründen keine Priorität gegenüber den Bauten selbst eingeräumt werden kann: Die theologischen Texte, so die These, sind den Neuerungen in Bau- und Bildkunst keineswegs vorgängig, sondern sie dokumentieren vielmehr den Versuch, populäre und in Hinblick auf ein Kunstverständnis dynamische Diskurse in den Rahmen des scholastischen Wissens und Denkens zu reintegrieren. Sie sind nicht Akteure, sondern Spiegel dessen, was sich bei der Planung und auf den Baustellen der großen Kirchen vollzog. Dies zu belegen fällt allerdings aus vielerlei Gründen nicht leicht: Zunächst sind die mittelalterlichen Texte, in denen über Architektur im Allgemeinen und speziell über Sakralbauten gesprochen wird, nicht systematisch erfasst. Sodann wird kaum berücksichtigt, dass sie von ihrer Sorte, Struktur, Intention und Qualität her völlig unterschiedlich sind.16 Daher werden sie in der Regel nach Sorten
14 Beispielhaft: Hanns Peter Neuheuser, „Die Kirchenbeschreibungen von Saint-Denis und ihre Aussagefähigkeit für das Schönheitsempfinden des Abtes Suger“, in: Günther Binding/ Andreas Speer (Hg.), Mittelalterliches Kunsterleben nach Quellen des 11. bis 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1994, S. 116–183; Günther Binding, „Beiträge zum Architekturverständnis bei Abt Suger von Saint-Denis“, in: Binding/Speer, Mittelalterliches Kunsterleben, (wie oben), S. 184–207. Zuletzt hat Binding noch einmal betont, dass „den handwerklich ausgebildeten Werkmeistern die theologisch-philosophische Literatur nicht zugänglich war und die theoretischen Überlegungen zu ordo und pulchritudo ihnen vermutlich auch nicht verständlich waren.“ Siehe hierzu: Günther Binding, „Zahl und Geometrie als Gestaltungsgrundlagen: ordo und pulchritudo“, in: Insitu. Zeitschrift für Architekturgeschichte 2 (2010), S. 149–164, hier S. 164. 15 Erwin Panofsky, Gothic Architecture and Scholasticism, Latrobe 1951; deutsche Ausgabe: Gotische Architektur und Scholastik. Zur Analogie von Kunst, Philosophie und Theologie im Mittelalter, Köln 1989. Otto von Simson, The Gothic Cathedral. The origins of Gothic architecture and the medieval concept of order, New York 1956; deutsche Ausgabe: Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung, Darmstadt 1968. 16 Zu diesem methodischen Problem auch: Speer, „Kunst und Schönheit“ (wie Anm. 11), S. 961–962.
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Abb. 1: Laon, Kathedrale, Detail der Archivolte an der Westfassade [cop. Centre André Chastel, phot. C. Lemzaouda, 2001]
getrennt behandelt,17 so dass keine zusammenfassende Diskursanalyse der mittelalterlichen Äußerungen zur Kunst und zur Schönheit in der Architektur stattfindet. Auch der folgende Versuch, durch ein paar Zitate aus erzählerischen Quellen des hohen und beginnenden späten Mittelalters die zu jener Zeit zunehmende Verdichtung des populären Diskurses über die Schönheit von Architektur zu belegen, kann daher nicht mehr als eine Skizze sein, die weiterer systematisch-analytischer Ergänzung bedarf. Für den im frühen 13. Jahrhundert begonnenen Neubau der Kathedrale von Auxerre wird in der Bischofschronik der Diözese kein anderer Grund angegeben, als dass der damalige Bischof Guillaume de Seignelay (1207–1220) seine Kathedrale für zu alt und zu schlecht angelegt (structure antique minus composite) hielt und sie deshalb nicht mehr mit den „wunderschönen“ (mira specie
17 So sind die Quellen einseitig der Gelehrtenliteratur entnommen bei: Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, Köln 1963.
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venustatis)18 Kathedralen ringsumher konkurrenzfähig sei – zumal angeblich das Volk damals darauf brannte, neue Kirchen errichten zu wollen. Es besteht kein Anlass, diesen Hinweis auf „vox populi“ bloß für eine rhetorische Floskel zu halten, denn ohne Unterstützung des Kirchenvolkes wäre der Neubau ja nicht zu realisieren gewesen. Dieser gelang sogleich auf viel elegantere Art (elegantiorem […] speciem).19 Die unter Guillaumes Nachfolger Guy de Melle (1247–1269) errichtete Kapelle des bischöflichen Palastes erhielt wegen ihrer Schönheit mannigfaltige Epitheta.20 In der zwischen 1268 und 1278 verfassten Chronik der Stiftskirche von Wimpfen im Tal wird deren Rekonstruktion fast ausschließlich mit künstlerischen Argumenten gelobt, ebenso wie die Kompetenz des entwerfenden Künstlers hervorgehoben wird.21
18 Die Interpretation der Kategorie „venustas“ verdient für das Mittelalter noch eine weitergehende Untersuchung. Denn während sie bei Vitruv eine Qualität ist, die vorrangig aus guten Proportionen resultiert, bezeichnet sie in der für das Mittelalter höchst bedeutenden Etymologia des Isidor von Sevilla Bauornamentik und Bauschmuck. Beides spielt aber in den hier sowie im Folgenden zitierten Passagen keine Rolle. Vgl. zu diesem Problem ansatzweise: Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, München 1991 (Erstausgabe 1985), S. 31–32. 19 „Eodem tempore, circa novas ecclesiarum structuras passim fervebat devotio popolorum. Videns itaque episcopus ecclesiam suam Autissiodori structure antique minus composite, squalore ac senio laborare, aliis circumquaque capita sua extollentibus mira specie venustatis, eam disposuit nova structura et studioso peritorum in arte cementaria artificio decorare, ne ceteris specie studiove peritus impar esset; eamque fecit a posteriori parte funditus demoliri, ut depositio antiquitatis veterno, in elegantiorem juvenesceret speciem novitatis […]“ [Hervorhebungen durch den Verfasser]. Vgl. Mortet/Deschamps, Recueil de textes (wie Anm. 12), S. 839, sowie: Dieter Kimpel/Robert Suckale, Die gotische Architektur in Frankreich 1130–1270, München 1985, S. 28/476, Anm. 37. 20 „aulam […] arte cementaria prepollentem erexit, fenestralibus aperturis extructis, scultura spectabili, vitreisque perlucidis illustratam […]“. Mortet/Deschamps, Recueil de textes (wie Anm. 12), S. 842. 21 „[Richardus de Ditensheim, decanus] […] peritissimo architectoriae artis latomo, qui tunc noviter de villa Parisiensi e partibus venerat Franciae, opere Francigeno basilicam ex sectis lapidibus construi jubet: idem vero artifex, mirabilis architecturae basilicam yconis sanctorum intus et extus ornatissime distinctam fenestras et columnas ad instar anaglifici operis multo sudore et sumptuosis fecerat expensis, sicut usque hodie in praesens humano visui apparet: populis itaque undique advenientibus, mirantur tam opus egregium, laudant artificem […]“. Mortet/Deschamp, Recueil de textes (wie Anm. 12), S. 932. Vgl. auch: Günther Binding, „Opus Francigenum – ein Beitrag zur Begriffsbestimmung“, in: Archiv für Kulturgeschichte 71 (1989), S. 45–54; Peter Kurmann, „Gotik als Reformprogramm. Die Stiftskirche St. Peter zu Wimpfen im Tal“, in: Sönke Lorenz/Peter Kurmann/Oliver Auge (Hg.), Funktion und Form. Die mittelalterliche Stiftskirche im Spannungsfeld von Kunstgeschichte, Landeskunde und Archäologie. Zweite wissenschaftliche Fachtagung zum Stiftskirchenprojekt des Instituts für Geschichtliche
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Welche Bedeutung die Kunstschönheit einer Kirche in dieser Zeit zu gewinnen vermochte, bringen auf geradezu extreme Weise die „Wunder von Notre Dame in Chartres“ vom Beginn des 13. Jahrhunderts zum Ausdruck: Der große Brand der Kathedrale von 1194 wird dort nämlich damit begründet, dass „die selige Gottesmutter sich eine neue und unvergleichliche Kirche erbauen lassen wollte“.22 Das Argument übernimmt wenige Jahre später Guillaume le Breton in seiner „Philippide“, dem Lobgedicht auf König Philipp Augustus.23 Diese hauptsächlich aus Frankreich stammenden Beispiele24 deuten vor allem für das 12. und frühe 13. Jahrhundert eine Entwicklung an, die in Richtung auf eine zunehmende Wertschätzung der ästhetischen Qualitäten von Architektur zielte.25 Hingegen traten die rein funktionalen Begründungen für die Erneuerung einer Kirche zurück. In diesem Zuge nahm auch die literarisch geäußerte Wertschätzung jener Personen zu, welche diese ästhetische Qualität zu garantieren vermochten, d.h. der Bau- und Werkmeister. Galt in älterer Zeit vor allem der geistliche Bauherr als „sapiens architectus“,26 weil er derjenige war, der die Bauorganisation im umfassenden Sinne beherrschte, so verdienten nun in zunehmendem Maße diejenigen Bewunderung, welche zu garantieren vermochten, dass die Bauten ein gewisses künstlerisches Niveau erreichten. Dabei wurde über lange Zeit bei diesen Bauleiter-Architekten nicht unterschieden zwischen ihren praktisch-organisatorischen Fähigkeiten auf der einen Seite und ihrer kreativ-künstlerischen Kompetenz auf der anderen. Vielmehr musste letztere in der Regel sogar mit einer organisatorisch-technischen gepaart werden, um überhaupt Anerkennung zu finden. Dies ist typisch für ein Übergangsphänomen, bei dem damit zu rechnen ist, dass sich die tatsächliche Bedeutungsverschiebung schneller vollzog als es deren literarischer Rezeption möglich war. In den überlieferten Texten, die vor allem von gelehrten, im traditionellen
Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Universität Tübingen (16.–18. März 2001, Weingarten), Ostfildern 2007, S. 175–185. 22 Mortet/Deschamps, Recueil de textes (wie Anm. 12), S. 805: „beata Die genetrix novam et imcomparabilem ecclesiam sibi volens fabricari“. 23 Mortet/Deschamps, Recueil de textes (wie Anm. 12), S. 806. 24 Ihre Auswahl folgt der Lektüre der Texte zur Architekturgeschichte bei: Mortet/Deschamps, Recueil de textes (wie Anm. 12), in der Ausgabe Paris 1995. 25 Zu jüngeren Äußerungen, die nicht mehr nur die Sakral-, sondern auch die Profanbaukunst betreffen vgl. Bruno Klein, „Warum und seit wann spricht man im Abendland über Kunst“, in: Sabine Frommel/Gernot Kamecke (Hg.), Les sciences humaines et leurs langages. Artifices et adoptions, Rom 2011, S. 53–59. 26 Günther Binding, Der früh- und hochmittelalterliche Bauherr als sapiens architectus, Köln 1996.
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Geist erzogenen Klerikern verfasst wurden, dürfte sich deshalb viel mehr von einer konservativen Haltung widerspiegeln als es der Lebenswirklichkeit der Zeit entsprach. Dies lässt sich auch durch die Zunahme der Kritik an allzu aufwendiger Architektur bestätigen. In älterer Zeit waren die Vorbehalte gegenüber Bauluxus eher selten und setzten vor allem bloß dann ein, wenn Kirchen wegen zu großen Aufwands nicht fertiggestellt werden konnten oder Baukosten und Baustelle das Leben einer religiösen Gemeinschaft über Gebühr beeinträchtigten. Das sind aber praktische und keine künstlerischen Argumente. So ist beispielsweise aus dem frühen 9. Jahrhundert die Beschwerde der Mönche von Kloster Fulda über Abt Ratgar bekannt, der unter anderem wegen seines allzu ehrgeizigen Bauprogramms das Klosterleben behindert habe – allerdings ging es hierbei bloß um die Quantität der Baulichkeiten und nicht um deren ästhetische Qualität.27 Diese stand schon ein wenig mehr im Hintergrund der Maßnahmen, die Abt Theodoricus von Saint-Remi in Reims bei seinem Amtsantritt 1039 einleitete, als er feststellte, dass der von seinem Vorgänger Aimard begonnene Neubau der alten, verfallenen Kirche zu aufwendig zu werden drohte. Daher ließ er Teile davon wieder abreißen, um danach einen einfacheren, aber „nicht weniger angemessenen“ Neubau errichten zu können.28 Solche kritischen Bemerkungen gegenüber der Vergrößerung und dem Neubau von Kirchen blieben aber bis ins 12. Jahrhundert bei weitem die Ausnahme. Vielmehr wurde in der Regel der „objektive Baubedarf“29 widerspruchslos anerkannt und Kritik daran nur dann laut, wenn dieser deutlich überschritten und offenbar zur eigensinnigen Repräsentation missbraucht wurde. Dies änderte sich im 12. und 13. Jahrhundert, und zwar, wie bereits weiter oben vermutet, weil zu jener Zeit die Bedeutung und Wertschätzung von ästhetischer Qualität im Sinne von Kunstschönheit in der Sakralarchitektur generell zunahm. Besonders markant sind diesbezüglich die im 12. und 13. Jahrhundert
27 „Supplex Libellus monachorum Fuldensium Carolo imperatori porrectus“, ed. Josef Semmler, in: Corpus Consuetudinum Monasticarum, Bd. 1, Siegburg 1963, S. 319–327. 28 Mortet/Deschamps, Recueil de textes (wie Anm. 12), S. 127: „Verum quia grave nimis et inexplebile sibi illud erat incoeptum, deliberatio quoque sua, si id intenderet implere, videbatur non habitura effectum. Quocirca eorum qui inter sibi commissos prudentiores habebantur, et seniorum Remensis provinciae consilio usus, difficulter agressus est inchoatum diruere opus: quo paene diruto, et fundamentis quibusdam relictis, quae architectis visa sunt necessaria fore futuris aedificiis, divinam domum coepit faciliori quidem structura, sed non indecentiore construere, ut aspectum adhibentibus facile est cernere.“ 29 Martin Warnke, Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt a.M. 1979, S. 15.
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erarbeiteten Statuten der Zisterzienser,30 die sich zwar auf den ersten Blick als Statements gegen individuell überzogenen Bauluxus lesen lassen, jedoch historisch betrachtet als Dokumente des Umbruchs verstanden werden müssen: Sie stehen indirekt für eine Verweigerung der über die bis dahin übliche religiöse Praxis hinausgehenden modernen Transzendierung von Kirchenarchitektur, bei welcher deren weiterhin unbestrittene sakrale Qualität durch Qualität an materieller und insbesondere künstlerischer Gestaltung ergänzt wurde. Dabei waren die einschlägigen Texte aber weder in der Lage, den Zugewinn an künstlerischer Qualitätszuschreibung gedanklich zu erfassen, noch sprachlich zum Ausdruck zu bringen,31 weshalb sich die Invektiven vor allem gegen den Bauluxus richteten. Subtiler drückte dies zur gleichen Zeit lediglich Abelard aus, der den Schmuck der Kirchen für notwendig und nicht überflüssig hielt, jedoch Klarheit statt Pracht schätzte, womit ein neues, ästhetisches Argument in die Diskussion eingeführt wurde.32 In der Summe sprechen die hier zusammengetragenen Einzelbeobachtungen dafür, dass es im Untersuchungszeitraum zu Wandlungen in der Auffassung von Sakralarchitektur kam, die sich in narrativen Texten unmittelbarer niedergeschlagen haben als in theologisch-theoretischen, wo sie sich eher indirekt und oft kritisch gebrochen sedimentierten. Tatsächlich sind die Wandlungen in der Baukunst jener Zeit evident und auch seit langem bekannt: Bereits die allerorten zu beobachtende Steigerung der Dimensionen von Kirchen seit dem 12. Jahrhundert ist hierfür signifikant, gehört aber vielleicht noch eher zu den Nachläufern des älteren Diskurses, der weniger mit Subtilitäten denn mit Konkurrenzen zu argumentieren vermochte – wobei dieses Argumentationsmuster bis heute eines der vorrangigen geblieben ist. Doch es gibt auch andere, sehr konkrete Indizien für eine zunehmende Transzendierung von künstlerischer Qualität: Wenn sich beispielsweise im frühen 13. Jahrhundert mehrfach die Rezeption der Türme der Kathedrale von Laon mit ihrem geschossübergreifenden achteckigen Kern und den daran außen anschließenden kleineren Baldachinen in Originalgröße beobachten lässt (Abb. 2), wenn diese Turmmodelle ebenfalls zeitnah, z.B. in Bamberg (Abb. 3) und Naumburg (Abb. 4), miniaturisiert als Figurenbaldachine reproduziert wurden, und wenn zugleich der französische Bauzeichner Villard de Honnecourt in seinem illus-
30 Vgl. Mortet/Deschamps, Recueil de textes (wie Anm. 12), S. 666–674. 31 Die rund einhundert Jahre jüngeren Statuten der Dominikaner sind im Vergleich viel pragmatischer. Sie klagen nicht an, sondern legen einfach Obergrenzen fest. 32 „Oratorii ornamenta necessaria sint, non superflua; munda magis quam pretiosa“. Zit. nach Mortet/Deschamps, Recueil de textes (wie Anm. 12), S. 681.
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trierten Bauportfolio schreibt, dass er niemals einen schöneren Turm als denjenigen der Kathedrale von Laon gesehen habe (Abb. 5), dann deutet dies mit größter Deutlichkeit darauf hin, dass es hier vorrangig um ästhetische und nicht semantische Qualität ging.
Abb. 2: Laon, Kathedrale
Unter diesem Aspekt ließe sich insbesondere auch der Übergang von der Romanik zur Gotik, der bislang vorwiegend form- und stilgeschichtlich beschrieben wurde, als ein Phänomen fassen, durch welches zum Ausdruck kam, dass der traditionelle früh- und hochmittelalterliche, „symbolische“ Transzendierungsmodus von Sakralarchitektur seit der Mitte des 12. Jahrhunderts zunächst sporadisch, dann aber immer häufiger durch einen neuen, nämlich „künstlerischen“ ergänzt wurde. Die gleichzeitig erscheinende „Gotik“ wäre dann weniger als ein Stil zu betrachten, der das Resultat einer immanenten künstlerischen und technischen Entwicklung war, sondern vielmehr als Ausdruck eines neuartigen, vorwiegend ins autonom, vor allem subjektiv Ästhetische gewandten Architekturdiskurses. In der Phase des Übergangs – der daher hier nicht als ein stilistischer, sondern als ein paradigmatischer, vom Symbolischen zum Ästhetischen führender aufgefasst wird – dürfte es zu Verwerfungen und Überschneidungen verbaler
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Abb. 3: Bamberg, Dom, Figurenbaldachin
wie architektonischer, aber auch bildlicher Diskurse gekommen sein. Dies könnte manche, bisher disparat erscheinende Phänomene erklärbar machen, beispielsweise, dass die Zeit der Gotik, trotz der damals beschleunigten Entwicklung künstlerischer Qualitäten, in Bezug auf eine konkret auf die Artefakte anwendbare Kunsttheorie weitgehend stumm geblieben ist. Denn die tatsächliche Entwicklung der „gotischen“ Architektur und auch ihr lebenswirkliches Ästimieren vollzogen sich viel zu schnell und zu radikal, als dass die Entwicklung zu einem adäquaten verbalen Diskurs hiermit hätte schritthalten können. Dies vor allem deshalb, weil die verbalen, zudem auch bloß in schriftlicher Form dokumentierten Diskurse zumeist von traditionell geschulten Personen geführt wurden und die Summe von deren Reflexionen darstellen,33 nicht aber populäres, spontanes und subjektives Empfinden. Was sich damals auf ästhetischem Gebiet vermutlich wirklich ereignet hat, ist erst durch die moderne Kunstgeschichte – wenngleich bloß rudimentär – erfassbar gemacht worden, weil sie erstmalig in der Lage war, normative und subjektive Ästhetik voneinander zu trennen. Bis dahin konnten
33 Hierzu wären vor allem die zahlreichen Äußerungen aus dem Bereich der philosophischreligiösen Ästhetik zu rechnen. Vgl. Speer, „Kunst und Schönheit“ (wie Anm. 11), S. 949–958.
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Abb. 4: Naumburg, Dom, Figurenbaldachin
die ältere Kunst- und speziell Architekturtheorie eigentlich nur solche Phänomene erfassen und beschreiben, die innerhalb ihrer historisch determinierten Diskursmöglichkeiten und deutlich unterhalb der Komplexität dessen lagen, was im ästhetischen Sinne tatsächlich geleistet wurde.34 Dennoch scheint diese aus heutiger Sicht mangelnde Ausdrucksfähigkeit während des hohen und späten Mittelalters selbst nicht als defizitär empfunden worden zu sein. Dies könnte sich daran erweisen, dass die seltenen Quellen, in denen direkt oder indirekt auf künstlerische Phänomene eingegangen wird, sich grosso modo auf das 12. und 13. Jahrhundert konzentrieren, während das
34 Eine überwiegend negative Beurteilung dessen, was mittelalterliche Kunstbeschreibungen in Bezug auf die verbale Darstellung von künstlerischer Qualität zu leisten vermochten, bei: Arwed Arnulf, Architektur- und Kunstbeschreibungen von der Antike bis zum 16. Jahrhundert, Berlin/München 2004.
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Abb. 5: Villard de Honnecourt, Zeichnung eines Westturmes der Kathedrale von Laon
14. Jahrhundert in dieser Hinsicht weitgehend stumm bleibt.35 Über die allergrößte Mehrheit der monumentalen Kathedralen, Stifts-, Stadt- und Klosterkirchen jener Zeit liegen keinerlei Dokumente vor, in welchen ihre ästhetische Qualität angesprochen würde. Zugleich verringern sich aber auch die Äußerungen zur „materiellen“ Heiligkeit von Kirchengebäuden, also zu ihrer symbolischen Aufladung durch Weihe oder das Einbringen von Reliquien. Das fand zwar alles weiterhin auf die traditionelle, hoch ritualisierte Weise statt, scheint die Geister aber über die je einmaligen performativen Akte hinaus nicht weiter bewegt zu haben. Ausnahmen, wie die Reliquien- und Edelsteinkapellen Karls IV. auf Burg
35 Dabei ist allerdings nicht auszuschließen, dass die Quellen möglicherweise weder hinreichend überliefert noch ediert sind.
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Abb. 6: Burg Karlstein, Katharinenkapelle
Karlstein (Abb. 6) oder im Prager Veitsdom aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts bestätigen diese Regel: Der Glaube an die Realpräsenz des Heiligen im Kirchenbau muss damals so weit erodiert gewesen sein, dass es materieller und künstlerischer Zufügung bedurfte, um ihn erneut evozieren zu können. Dabei blieb es nicht nur bei diesen Zufügungen im Form von Reliquien, verschiedenen Halbedelsteinen oder Vergoldungen, sondern auch der künstlerische Aufwand wurde mittels prachtvoll dekorierter, subtil proportionierter und originell gestalteter Räume sowie erlesener Dekorationen gesteigert. Und so unterscheidet sich die spätmittelalterliche Sichtbarmachung des „materiell“ Heiligen dank der Inszenierung ästhetischer Qualität deutlich von gedanklich ähnlichen Maßnahmen älterer Zeit, wie z.B. den dezent in Kapitellen untergebrachten und nur durch Inschriften kenntlich gemachten Reliquien in St. Michael in Hildesheim aus dem 11. Jahrhundert. (Abb. 7)
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Abb. 7: Hildesheim, St. Michael, Langhauskapitell
Der augenscheinlich im 12. und 13. Jahrhundert neu in die Sakralarchitektur eingeführte Modus von deren Transzendierung mittels Kunst hat nur im Augenblick seiner Entstehung literarisch ein paar vereinzelte Spuren hinterlassen. Darüber hinaus blieb er aber auf einen praktischen Diskurs beschränkt. Wenn, um ein Beispiel zu nennen, aus heutiger Sicht wahrnehmbar wird, dass sich die Verglasungen von Kirchen seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zunehmend aufhellen und auch die Architekturglieder selbst nicht mehr so bunt sind wie zuvor, dann ist daran ein Geschmackswandel abzulesen. Ja es lässt sich sogar vermuten, dass diese größere Helligkeit auch dazu führte, dass die nunmehr stärker im Licht liegenden Bauelemente anders gestaltet werden konnten und mussten als zuvor. Bloß gibt es keine einzige schriftliche Quelle, welche dies belegt. Sogar die großen romanischen und vor allem gotischen Kirchenportale, bei denen die Zunahme an Gestaltungsaufwand völlig unverkennbar ist, erfuhren in den Quellen fast keine Erwähnung.36 Dennoch machen alle diese Phänomene deutlich, dass damals ein
36 Arnulf, Architektur- und Kunstbeschreibungen (wie Anm. 34), S. 586. Die fast einzige Ausnahme bildet die Beschreibung der Portale der Kathedrale von Santiago im sogenannten Pilgerführer aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die jedoch höchst summarisch bleibt und nach der sich kein konkreter Eindruck der dortigen Reliefs rekonstruieren ließe. Vgl. zu der umfangreichen Literatur zum Thema: Arnulf, Architektur- und Kunstbeschreibungen (wie Anm. 34), S. 366–376.
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Ästhetisierungsprozess in Bezug auf den Kirchenbau in Gang gekommen sein muss. Selbst durch die in Italien ausgeprägte humanistische Kunsttheorie des 15. und frühen 16. Jahrhunderts wurde diese Ästhetisierung, speziell des Sakralbaus, noch lange nicht eingeholt. Denn wie die betreffenden Architekturbeschreibungen dieser Zeit zeigen, fehlte auch ihnen das Verständnis für solche künstlerische Qualitäten, die nicht durch Vergleich mit anderen Werken messbar gewesen wären, für die es keine antiken Modelle gab oder die nicht der Idee immanenter Proportionen folgten.37 Die sich in verbalen Äußerungen nur zaghaft andeutende, im Gebauten jedoch überdeutlich manifestierende künstlerische Transzendierung des Sakralbaus an der Wende vom hohen zum späten Mittelalter ist damit argumentativ keineswegs eine bloß auf ihre Verschriftlichung in der Renaissance wartende „Proto“-Kunst- und Architekturtheorie. Letztere ließe sich vielmehr als das Resultat des Versuches betrachten, für neue gesellschaftliche Schichten eine Sprachhoheit über diese Themen zu gewinnen, die zuvor nur klerikale Kreise besessen hatten, ohne dass dies existente subjektive Empfindungen und Erwartungen zum Ausdruck gebracht hätte. Denn es sollte noch bis ins 18. Jahrhundert dauern, dass z.B. Laugier in Notre-Dame in Paris oder Goethe vor dem Straßburger Münster ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen konnten, dass ihre Empfindungen im Angesicht gotischer Bauten nicht dem entsprachen, was sie darüber zu empfinden gelernt hatten. Denn der im 12. Jahrhundert zaghaft einsetzende Diskurs über die subjektive Kunstschönheit von Architektur wurde zwar erst am Beginn der Moderne theoretisch und verbal hinreichend untersetzt, dennoch hatte es ihn schon vorher gegeben. Zugleich verlor die subjektive Empfindung von architektonischer Schönheit, speziell der europäischen, gotisch genannten Baukunst des 12. bis 16. Jahrhunderts in dem Augenblick, in dem sie dem kunsttheoretischen Diskurs anheimgestellt wurde, ihre vormalige Unverfügbarkeit. Stattdessen wurde ein Feuerwerk von Argumentationen entzündet, um subjektive Empfindungen angesichts von hoch- und spätmittelalterlicher Architektur auf eine vermeintlich wissenschaftlich objektivierbare Basis zu stellen. Es ist daher vorstellbar, dass der moderne Diskurs zwar prinzipiell zu einem differenzierteren Verständnis von gotischer Architektur geführt hat, aber dennoch auch der Versuchung erlegen ist, ursprünglich unverfügbar Gedachtes mittels der Integration in bekannte und etablierte Diskurse dieser Unverfügbarkeit zu entziehen.
37 Arnulf, Architektur- und Kunstbeschreibungen (wie Anm. 34), S. 279–292.
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Die Bau- und Textbeispiele für Sakralarchitektur des 12. bis 16. Jahrhunderts vermögen zwar Tendenzen zu illustrieren, doch steht es weiterhin aus, das gesamte Phänomen des damals erfolgten Wandels von Architektur und Architekturauffassung in Hinblick auf den im Modus des Künstlerischen gewonnenen Transzendenzgewinn systematisch und differenziert zu beschreiben.
Marina Münkler
Amicus Dei Konstruktionsformen des Heiligen am Beispiel der Franziskuslegenden
I. Selbsterniedrigung und Erhöhung Nietzsches spöttische Umformulierung der berühmten Stelle aus Lukas 18,14: „Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden“, in „wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden“1 erfasst ein spezifisches Problem ostentativer Frömmigkeit innerhalb der religiösen Kommunikation: Ihre Instrumentalisierung im Sinne der Verfügbarmachung der Transzendenz zum Zwecke der Bewirtschaftung des eigenen Heils. Was bei Lukas vor solcher Verfügbarmachung schützen soll, weil Selbsterniedrigung und Erhöhtwerden auf den beiden entgegengesetzten Seiten von Immanenz und Transzendenz angesiedelt sind und das Wort Christi an seine Jünger damit als Heilszusage ein Versprechen auf eine Zukunft ist, die dem Wollen des Betenden entzogen ist, gilt Nietzsche umgekehrt als Beispiel für sie: die Selbsterniedrigung, bei der die Erhöhung als Belohnung bereits einkalkuliert ist und damit nicht mehr in der Verfügung des Erhöhenden steht, sondern in der des sich selbst Erniedrigenden. Was Nietzsche damit anspricht ist die Verfügbarmachung der Transzendenz in der Immanenz, mit der Transzendenz letztlich negiert wird. Wer erhöht werden will, gibt sich nicht der göttlichen Gnade anheim, sondern hat sie sich selbst angeeignet, oder aber er zielt auf ein irdisches Publikum, um dessen Anerkennung er buhlt. Alle Formen der Heiligung durch Askese sind von solcher Problematisierung der Verfügbarmachung von Transzendenz im Konnex von Erniedrigung und Erhöhung in besonderer Weise affiziert, und das ist als Problem bereits in der christlichen Spätantike beschrieben worden: Selbsterniedrigung kann zum Zwecke der Erhöhung im Sinne irdischer Anerkennung und der Produktion von Charisma benutzt werden.2 Das gilt umso mehr, als Prozesse der Selbsternied-
1 Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, 8. Aufl., Stuttgart 1978, Nr. 87 (Lukas 18,14 verbessert). 2 Vgl. Götz Hartmann, Selbststigmatisierung und Charisma christlicher Heiliger in der Spätantike, Tübingen 2006, S. 4–6. Hartmann spricht von der „kontrafaktisch antizipierenden Weltumkehrung, die in den ‚Letzten‘ von heute die ‚Ersten‘ von morgen erkennt, die den
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rigung institutionell nur schwer zu kontrollieren sind. Da alle Menschen nach dem bei Matthäus und Lukas überlieferten Christuswort „kommt her, folgt mir nach“ dazu aufgerufen sind, ihr Leben auf die Transzendenz auszurichten und die Ansprüche der Immanenz zu negieren,3 kann es per se keine institutionellen Schranken geben, die Akte der Selbsterhöhung durch Selbsterniedrigung von denen des Erhöhtwerdens eindeutig abtrennen könnten. Vielmehr stehen die zentralen Wege der Selbsterniedrigung zur Erlangung des Heils, insbesondere die Askese, für alle, Männer wie Frauen, offen. In der Abkehr von der Welt und der an sich selbst vollzogenen Abtötung des Fleisches verkörpert Askese im wörtlichsten Sinne den Prozess der Selbsterniedrigung: Der Asket führt eine Existenz in der Einsamkeit der Wüste oder an den verachteten Rändern der Gesellschaft und macht den Leib zum Zentrum seiner Selbsterniedrigung durch sexuelle Askese, Nahrungsmittelaskese und Blutaskese (Selbstgeißelung).4 Eingeleitet werden diese Praktiken der Selbsterniedrigung in der Regel durch die Aufgabe der familialen und sozialen Bindungen und damit den Verzicht auf einen innerweltlichen sozialen Status. Die radikale Verneinung der Ansprüche der Immanenz an Leben und soziale Gemeinschaft erscheint damit als der Königsweg für den Zugang zur Transzendenz.5 Erst die Lossagung von der Welt macht den Heiligen zum Charismatiker. Mit Max Weber gesprochen: „Die Träger des Charisma: der Herr wie die Jünger und Gefolgsleute müssen, um ihrer Sendung genügen zu können, außerhalb der Bande dieser Welt stehen, außerhalb der Alltagsberufe ebenso wie außerhalb der alltäglichen Familienpflichten.“6 Die Abkehr von der Gesellschaft
‚Armen‘ das Reich Gottes zuspricht und denen, die ‚sich selbst erniedrigen‘ die ‚Erhöhung‘ in Aussicht stellt (S. 10). Susanne Köbele konstatiert unter Bezug auf die mittelalterliche Mystik eine „durchgängige Begründungs- und Glaubwürdigkeitsaporie von Heiligkeit“. Vgl. Susanne Köbele, „heilicheit durchbrechen. Grenzfälle von Heiligkeit in der mittelalterlichen Mystik“, in: Bernd Hamm/Klaus Herbers/Heidrun Stein-Kecks (Hg.), Sakralität zwischen Antike und Neuzeit (Beiträge zur Hagiographie 6), Stuttgart 2007, S. 147–169, hier S. 148. 3 Diese Aufforderung findet sich mehrfach im Neuen Testament. Vgl. Matthäus 4,18–25; Lukas 5,1–11. Im Alten Testament entspricht dem die Aufforderung, heilig zu sein. Vgl. Lev 11,44. 4 In der Blutaskese wird das Martyrium Christi wie das der heiligen Märtyrer, der Blutzeugen, metonymisch nachvollzogen. Zur Charisma-Bildung durch Selbsterniedrigung, die er als Selbststigmatisierung deutet, vgl. Wolfgang Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Neuauflage, Würzburg 2010, S. 130–138. 5 Vgl. Peter Strohschneider, „Weltabschied, Christusnachfolge und die Kraft der Legende“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 60 (2010) Nr. 2, S. 143–163. 6 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 656. Zum Gegensatz von Charisma und familialer Bindung vgl. auch Bernhard Lang, „Charisma and the Disruption of the Family in Early Christianity“, in: Karl-Heinz Kohl et al. (Hg.), Die Vielfalt der Kultur. Ernst W. Müller zum 65. Geburtstag, Berlin 1990, S. 278–287. Grundsätzlich zu Webers Charisma-Begriff
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mit Selbstisolierung und Askese wirkt jedoch auf die Gesellschaft zurück: Der Asket wird zum Charismatiker. Der sich von der Gesellschaft Lossagende rückt in den Mittelpunkt eines sozialen Interesses, denn aufgrund seiner Selbststigmatisierung gerät er häufig schon zu Lebzeiten in den Ruch der Heiligkeit, findet Anhänger und wird zum Adressaten für Hilfsbedürftige, die auf seine thaumaturgischen Fähigkeiten hoffen.7 Theologisch-systematisch ist hier jedoch eine Schranke eingerichtet, die nur scheinbar leicht zu überwinden ist. Heiligwerdung impliziert nämlich nicht nur, dass der Mensch sich ganz und gar Gott zuwendet, sondern auch dass dieser sich dem Menschen zuwendet. Heiligkeit zeigt sich folglich nicht nur dadurch, dass ihm aufgrund seiner asketischen Praktiken eine besondere Nähe zu Gott zugeschrieben wird, sondern dass diese sich bereits zu seinen Lebzeiten äußert und durch die ihm zugeschriebenen Wunder nach seinem Tod – also die Wirkmächtigkeit seines Handelns über den Tod hinaus – bestätigt wird. Heiligkeit besteht daher nicht einfach in der Anerkennung eines als vorbildlich betrachteten Lebenswandels durch die soziale oder religiöse Gemeinschaft und ihre Institutionen, sondern in der dem Heiligen zugeschriebenen Nähe zu Gott. Die Nähe zu Gott kann allerdings nicht einfach in einem vorbildlichen religiösen Leben erlangt werden, sondern sie ist ihrerseits Ausdruck der göttlichen Gnade.8 Der Heilige hat damit in der Welt eine liminale Existenz: Er ist angelegt auf das Überschreiten der Grenzen der Immanenz, aber er kann diese Überschreitung nur dadurch leisten, dass die göttliche Gnade ihm den Weg ebnet, dass Transzendenz in der Immanenz wirksam wird. Der Prozess der Heiligsprechung versteht sich daher selbst als Nachvollzug der durch Gott bereits erfolgten Heiligung eines Menschen, die durch zahlreiche Zeichen Gottes auch bereits Bestätigung gefunden hat. Als illokutionärer Sprechakt aber wird die Heiligung erst durch den Ritus der kirchlichen Heiligsprechung vollzogen, der seit dem Hochmittelalter überdies mit deutlichen Schranken
und den Bezügen zwischen religiösem und politischem Charisma siehe Karl-Siegbert Rehberg, „Rationalisierungsschicksal und Charisma-Sehnsucht. Anmerkungen zur ‚Außeralltäglichkeit‘ im Rahmen der institutionellen Analyse“, in: Giancarlo Andenna/Mirko Breitenstein/Gert Melville (Hg.), Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter, Münster 2005, S. 3–24. 7 Der christomimetische imitatio-Aspekt des Heiligen wird hier besonders deutlich, weil dies kennzeichnend für die Darstellung der Wirkung Christi in den Evangelien ist. Siehe etwa Matthäus 4,23–25. Vgl. Hartmann, Selbststigmatisierung und Charisma (wie Anm. 2), S. 7. 8 In diese Richtung, aber mit etwas anderem Akzent, argumentiert auch Strohschneider, „Weltabschied, Christusnachfolge und die Kraft der Legende“ (wie Anm. 5), S. 148, wenn er schreibt: „Weltabschied und Christus-imitatio sind nicht nur etwas, was man tut, sondern was einem zugleich widerfährt.“
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gegenüber dem frühmittelalterlichen Verfahren versehen worden war: nicht mehr die Erhebung zu den Altären durch den örtlichen Bischof aufgrund von Forderungen der örtlichen Gemeinde, sondern ein ordentliches, juridisch organisiertes Kanonisierungsverfahren, das ausschließlich an der Kurie durchgeführt werden durfte und damit institutionell streng reglementiert war, entschied über die Zusprechung von Heiligkeit.9
II. Das Heilige, der Heilige und die Legende Mit den Verfahren der Heiligsprechung ist die Legende im Früh- wie im Hochmittelalter eng verbunden. Der Auftrag zur Abfassung einer Legende wurde häufig, wie auch im Falle des heiligen Franziskus, im unmittelbaren Anschluss an ein Heiligsprechungsverfahren erteilt.10 Die Legende konnte sich freilich nicht einfach auf die erfolgte Heiligsprechung stützen. Sie musste nachvollziehbar machen, worauf das Heiligsprechungsverfahren beruhte, sie musste den Durchbruch des Heiligen im Leben eines als historisch verbürgt angenommenen Menschen metonymisch repräsentieren. Insofern greift es zu kurz, sie nur als die Vita eines Heiligen zu bezeichnen.11 Denn die Legende repräsentiert nicht einfach nur den Heiligen, sondern auch das Heilige. „Sie vergegenwärtigt das Heilige in Gestalt der
9 Die Umstellung des Heiligsprechungsverfahrens von der rituellen Elevation zum kanonischen Rechtsakt, an den die Elevation nur noch angehängt wird, lässt sich als institutioneller Ausdruck für das Bemühen um die Begrenzung von Heiligkeitszuschreibungen lesen. Zur Geschichte des Heiligsprechungsverfahrens vgl. Otfried Kraft, Papsturkunde und Heiligsprechung, Köln u.a. 2005; Thomas Wetzstein, Heilige vor Gericht: das Kanonisationsverfahren im europäischen Spätmittelalter, Köln u.a. 2004; zum Begriff des „advocatus Diaboli“, der in den kanonischen Regeln für das Heiligsprechungsverfahren als „promotor fidei“ bezeichnet wird, vgl. ebd., S. 308f. sowie S. 417f. Vgl. auch Hans Ulrich Gumbrecht, „Die Identität des Heiligen als Produkt ihrer Infragestellung“, in: Odo Marquard/ Karlheinz Stierle (Hg.), Identität (Poetik und Hermeneutik 8), München 1979, S. 704–708. 10 Viten, die den Anspruch auf die Heiligkeit einer Person formulieren, können einem Heiligsprechungsverfahren aber auch vorausgehen bzw. dazu dienen, die Einleitung eines solches Verfahrens zu propagieren, was nicht immer erfolgreich sein muss. 11 Zur gattungstheoretischen Diskussion, vgl. Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters. Eine Formgeschichte des Legendenerzählens von der spätantiken lateinischen Tradition bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1964; Siegfried Ringler, „Zur Gattung Legende. Versuch einer Strukturbestimmung der christlichen Heiligenlegende des Mittelalters“, in: Peter Kesting (Hg.), Würzburger Prosastudien II. Festschrift Kurt Ruh (Medium Aevum 31), München 1975, S. 255–270; Hans Ulrich Gumbrecht, „Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie“, in: Christoph
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viten- oder biografieförmigen Erzählung von einem oder einer Heiligen.“12 Das unterscheidet sie von anderen Formen der biografischen Erzählung. Selbst wenn der Heilige von Beginn an ein sündenfreies, Gott hingegebenes Leben führt, muss sich das Heilige doch erst im Laufe seines Lebens verwirklichen und in oder nach seinem Tod bestätigen. Im irdischen Dasein des Heiligen kann sich der Weg zur Heiligkeit in unterschiedlicher Weise zeigen: in der Weltabkehr, in der Askese, im Martyrium, etc. In vieler Hinsicht folgt die Legende dabei durchaus dem, was zu den Elementen prekärer Selbstheiligung gehört. In Bekennerlegenden sagt sich der künftige Heilige von seiner Familie los, verlässt sein Elternhaus oder seine Ehefrau, gibt seinen gesellschaftlichen Status auf und wandelt als Fremder durch die Welt oder zieht sich, wie in den Anachoretenlegenden, in die Einsamkeit der Wüste zurück und fristet losgelöst von seinen familiären Bindungen und seinem sozialen Status ein Leben in radikaler Selbsterniedrigung und qualvoller Askese. Auch in Märtyrerlegenden begründet die Lossagung von der Familie oder die Verweigerung der Ehe und der damit einhergehende Verzicht auf den gesellschaftlichen Status häufig den Weg zum Martyrium. Die solchermaßen beschreibbare Identität des Heiligen gibt der Legende nicht unbedingt ein einheitliches Erzählschema vor; sie lässt sich vielmehr mit den beiden von Edith Feistner aufgezeigten morphologischen Bauprinzipien der mittelalterlichen Legende verknüpfen, dem Prinzip der syntagmatischen Verknüpfung der Erzählelemente und dem ihrer paradigmatischen Reihung.13 Diese beiden grundsätzlichen Bauprinzipien legendarischen Erzählens fallen weitgehend zusammen mit der traditionellen Unterteilung der Legenden in Märtyrer- und Bekennerlegenden. Die Märtyrerlegende folgt dem Prinzip der syntagmatischen Verknüpfung der Erzählelemente, während die Bekennerlegende sich des loseren Prinzips der paradigmatischen Reihung bedient. Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass das Martyrium der Logik einer dramatischen Klimax folgt, die am Basisnexus Verhör – Haft – Hinrichtung orientiert ist.14 Die einzelnen Elemente des Bekennertypus können dagegen mehr oder weniger beliebig amplifiziert werden, weil sie als Paradigmen der Heiligung fun-
Cormeau (Hg.), Deutsche Literatur im Mittelalter: Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, Stuttgart 1979, S. 37–84. 12 Peter Strohschneider, „Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg Alexius“, in: Gert Melville/Hans Vorländer (Hg.), Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen, Köln u.a. 2002, S. 109–147, hier S. 113. 13 Vgl. Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995, S. 26–49. 14 Vgl. Feistner, Historische Typologie (wie Anm. 13), S. 27.
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gieren, deren Reihung nicht unbedingt einer bestimmten Anordnung unterliegt und die deshalb auch unproblematisch erweitert werden kann. Nach Feistners überzeugender Darlegung ist das Prinzip ihrer Anordnung bis auf den Rahmen von Herkunft, Geburt und Tod weitgehend frei verfügbar und kann sich entweder an der rhetorischen Disposition der Reihung in chronologischer Abfolge (ordo naturalis) oder der Reihung nach bestimmten Themenbereichen bzw. Tugenden (ordo artificialis) orientieren.15 Beide Legendentypen können darunter verschiedene biografische Modelle des Heiligen und der Heiligung entwickeln: das Geburtsmodell und das Konversionsmodell.16 Im linearen Geburtsmodell ist der Heilige von Geburt an frei von Sünde und von der Aura der Heiligkeit umgeben; im Konversionsmodell lebt er anfänglich in Sünde und Gottesferne, um sich dann zu bekehren und von da ab ein heiligmäßiges Leben in Buße und Reue zu führen oder das Martyrium für den Glauben zu erleiden. Das Konversionsmodell gibt der Askese eine andere Bedeutung als das Geburtsmodell: Askese dient hier der Buße für vorangegangene Sünden und als Selbstbestrafung für wiederkehrende sündige Gedanken. Die Legende folgt biografisch damit dem „Konstruktionsprinzip des ungeplanten Statusgewinns durch radikalen Statusverzicht, der unabsehbaren Erhöhung nach rückhaltloser Selbsterniedrigung“.17 Diese „unabsehbare Erhöhung“ aber beruht auf Zeichen, die nicht allein über den Willen des Heiligen gesteuert werden können – auch nicht den Willen zur unbedingten Hingabe. Diese Zeichen zeugen von der Gottesnähe des Heiligen, dem unmittelbaren kommunikativen
15 Vgl. Feistner, Historische Typologie (wie Anm. 13), S. 35. Feistner zeigt, dass sich die Legende mit diesen beiden möglichen Dispositionsformen an den beiden in der antiken Rhetorik vorgegebenen Biografiemodellen orientiert. 16 In ähnlicher Weise unterscheidet Hans Ulrich Gumbrecht im Anschluss an Max Scheler (Zur Ethik und Erkenntnislehre, Bd. 1, Berlin 1933, S. 157ff.) die einmalgeborenen Heiligen (Heilige, die von ihrer Geburt bis zum Tod ein heiligmäßiges Leben führen) von den zweimalgeborenen Heiligen (Heilige, die vor ihrer conversio ein sündhaftes Leben geführt haben, wie etwa Paulus, Augustinus und Maria Magdalena), denen nach seiner Auffassung eine persönliche Identität und damit Biografie eignet. Vgl. Gumbrecht, „Die Identität des Heiligen als Produkt ihrer Infragestellung“ (wie Anm. 9), S. 706. Zu den nachfolgende angestellten Überlegungen zur Identität des Heiligen vgl. Marina Münkler, „Sündhaftigkeit als Generator von Individualität. Zu den Transformationen legendarischen Erzählens in der Historia von D. Johann Fausten und den Faustbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts“, in: Peter Strohschneider (Hg.), Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, Berlin/New York 2009, S. 25–61, hier S. 36–39. 17 Harald Haferland, „Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden“, in: Euphorion 99 (2005), S. 323–364, hier S. 357.
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Austausch mit Gott, der sich anschließend in göttlichen Zeichen offenbart. Zu diesen göttlichen Zeichen der Erwählung gehört in erster Linie die Erzählung von den Wundern, die der Heilige noch zu Lebzeiten und/oder nach seinem Tod gewirkt hat. Die Legende kann damit repräsentieren, was allein über die Vita des um Selbsterniedrigung ringenden Asketen nicht erzählt werden könnte: Sie kann jene Zeichen von Heiligung, vom Durchgriff der Transzendenz in die Immanenz vermitteln, die repräsentieren, dass der Heilige sich nicht selbst heiligt, sondern durch die göttliche Gnade geheiligt wird. Deshalb geht es in der Legende nicht um das Kontinuum eines Lebens, sondern um metonymische Kontiguität, die die Zeichen der Heiligkeit versammelt.18 Die Identität des Heiligen wird darin als die mirabile Ausnahme sichtbar, die das Hereinragen der Transzendenz in die Immanenz markiert. Die Selbstexklusion ist daher nur eine Stufe auf dem Weg zur Inklusion des Heiligen in die communio sanctorum und damit eine Inklusion in die Gesellschaft auf zweiter Stufe, denn dem Heiligen wird in den Wundern die Funktion des Mediators und Intercessors zugewiesen, der als Inklusionsvermittler in das himmlische Reich fungiert. Seine irdische Exklusion ist daher nur die Vorstufe seiner himmlischen Inklusion sowie Ausweis und Versprechen der Inkludierbarkeit auch für diejenigen, die selbst keine Heiligen sein können. Daher ist der Heilige nicht allein auf seine Vorbildfunktion festzulegen: das venerabile fordert nicht unbedingt zur imitatio auf, sondern ersetzt vielfach die imitatio durch die admiratio.19
III. Charisma und Institution: Der heilige Franziskus und seine Legenden Innerhalb der mittelalterlichen Legenden nehmen Ordensgründerlegenden eine besondere Stellung ein. Sie fungieren gleichermaßen als legitimierendes Element für den Heilssorgeanspruch des Ordens wie als stabilisierendes Element für dessen soziales Gedächtnis, das in der Erinnerung an den heiligen Ordensgründer die geheiligten Anfänge des Ordens festhält.20 Das Charisma des Ordens-
18 Vgl. Haferland, „Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion“ (wie Anm. 17). 19 Vgl. Wolpers, Die englische Heiligenlegende (wie Anm. 11), S. 31. Hans Robert Jauß hat dafür den Begriff der admirativen Identifikation geprägt. Vgl. Hans Robert Jauß, „Ästhetische Identifikation – Versuch über den literarischen Helden“, in: ders., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1991, S. 244–292. 20 Hierzu grundlegend: Cristina Andenna, „Heiligenviten als stabilisierende Gedächtnisspeicher in Zeiten religiösen Wandels“, in: Peter Strohschneider (Hg.), Literarische
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gründers wird dabei auf den Orden übertragen, womit aber zugleich die von Max Weber als „Veralltäglichung von Charisma“21 beschriebene Problemstelle bezeichnet ist, die nicht nur den Orden als die Organisation der Jünger nach dem Tod des charismatischen Führers betrifft, sondern schon dessen charismatische Herrschaft selbst, weil die Institutionalisierung charismatischer Herrschaft selten gelingt. Sie neigt dann, wie Weber gezeigt hat, zur Traditionalisierung, die das Charisma bedroht.22 Das Charisma, das sich in der Vereinzelung des Heiligen entfaltet, wird durch dessen Gründung eines Ordens gefährdet, die gerade nicht auf Rückzug und Einsamkeit, sondern auf Gemeinschaft und Gemeinsinn setzt. Andererseits entfaltet sich Charisma nicht zuletzt dadurch, dass der asketische Virtuose Anhänger, Jünger findet, die ihn als ihr Leben bestimmend anerkennen und ihm nachfolgen.23 Von daher ließe sich sagen, innerweltliche Verwandtschaft und Freundschaft würden durch eine spirituelle Gemeinschaft abgelöst, deren Gemeinsinnigkeit sich einerseits im gemeinsamem Versuch der Nachahmung Christi konstituiert, andererseits in der Jüngerschaft gegenüber einem charismatischen Visionär, der den Weg gebahnt hat. Das legitimiert den Orden als Versammlung einer Jüngerschaft. Die Institution – gerade im Fall eines neu gegründeten Ordens – bezieht ihre Legitimität aus dem Ordensgründer, und dessen Charisma bestätigt sich nicht zuletzt in seiner Fähigkeit, eine Gemeinschaft von Jüngern um sich zu scharen.24 Andererseits kann das Charisma des Ordensgründers nur bewahrt werden, wenn er deutlich von der Gemeinschaft abgehoben wird. Charisma und Institution stehen damit ebenso in wechselseitiger Abhängigkeit wie in einem Spannungsverhältnis, das in der Legende bewältigt werden muss.25 Gehört es daher bei den
und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, Berlin/ New York 2008, S. 526–573. 21 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 142f. 22 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 145. 23 Cristina Andenna hat dieses Problem am Beispiel zweier anderer Ordensgründer exemplarisch entfaltet. Vgl. Cristina Andenna, „Dall’esempio alla santità. Stefano di Thiers e Stefano di Obazine: modelli di vita o fondatori di ordini?“ in: Gert Melville/Markus Schürer (Hg.), Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster 2002, S. 177–224 24 Vgl. hierzu Andenna, „Heiligenviten als stabilisierende Gedächtnisspeicher“ (wie Anm. 20), S. 529. 25 Peter Strohschneider hat dies als ein grundsätzliches Problem der Spannung von Institution und Charisma in der mittelalterlichen Legende am Beispiel der Ursula-Legende beschrieben. Vgl. Peter Strohschneider, „Religiöses Charisma und institutionelle Ordnungen in der Ursula-Legende“, in: Franz J. Felten/Anette Kehnel/Stefan Weinfurter (Hg.), Institution und Charisma. Festschrift für Gert Melville zum 65. Geburtstag, Köln 2009, S. 571–588.
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Ordensgründern zur imitatio Christi, eine Gemeinschaft um sich zu scharen, die der Gemeinschaft Jesu und seiner Jünger gleicht, so muss die Legende den Heiligen doch deutlich von seinen Gefährten abheben und damit wieder vereinzeln. Wie dieses Spannungsverhältnis bearbeitet werden kann, will ich nachfolgend an den Legenden des heiligen Franziskus zeigen.26 Die Franziskuslegenden sind nicht zuletzt deshalb von besonderem Interesse, weil der Bettelorden der Fratres Minores zu den aus den religiösen Laienbewegungen des 13. Jahrhunderts hervorgegangenen Neugründungen gehört, mit denen eine neue Ausrichtung der Orden und der Ordenspolitik stattfindet.27 Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Franziskuslegenden aber auch, weil sie von Anfang an heftig umkämpft sind: Einerseits konkurriert der Orden mit der Kurie um den Anspruch, über die Vita des Ordensgründers zu verfügen, andererseits rivalisieren innerhalb des Ordens die unterschiedlichen Faktionen um die Inanspruchnahme des Heiligen für ihre je eigene Position in der Armutsfrage. Das Charisma des Ordensgründers spielt dabei eine besondere Rolle, denn anders als etwa der Dominikanerorden legitimiert sich der Orden der Minderen Brüder eher aus dem Charisma des Poverello als aus der Ordensregel.28 Das zeigt sich nicht zuletzt an den innerhalb des Ordens entstandenen und aufeinanderfolgenden Franziskuslegenden.29 Die Bearbeitung der daraus resultierenden unterschiedlichen Spannungen lässt sich besonders
26 Ich beschränke mich hierbei auf die ausführlichen Franziskuslegenden des Thomas von Celano (Cel I und II), die Legenda trium sociorum (Dreigefährtenlegende) sowie die Legenda Maior und die Legenda Minor Bonaventuras. Die verschiedenen Briefe über das Leben des heiligen Franziskus durch Ordensmitglieder berücksichtige ich hier nicht. Vgl. insgesamt zu den Briefen und chronikalischen Berichten über das Leben des Poverello: Helmut Feld, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, S. 30–54. 27 Vgl. Gert Melville/Jörg Oberste (Hg.), Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster 1999; zur Verbindung der Ordensneugründungen mit den religiösen Laienbewegungen des 12. und 13. Jahrhunderts siehe auch nach wie vor Herbert Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Untersuchungen über die geschichtlichen Zusammenhänge zwischen der Ketzerei, den Bettelorden und der religiösen Frauenbewegung im 12. und 13. Jahrhundert und über die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Mystik (Historische Studien 267), Berlin 1935. 28 Vgl. hierzu Gert Melville, „Der geteilte Franziskus. Beobachtungen zum institutionellen Umgang mit Charisma“, in: Joachim Fischer/Hans Joas (Hg.), Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M./New York 2003, S. 347–363; ders., „Vita religiosa e regole al tempo di Francesco d’Assisi“, in: La regola dei Frati Minori. Atti del XXXVII Convegno internazionale, Assisi, 8–10 ottobre 2009, Spoleto 2010, S. 3–30. 29 Für eine Liste sämtlicher Franziskuslegenden sowie ihre Einschätzung aus historischer Perspektive vgl. deren ausführliche Darstellung bei Achim Wesjohann, Mendikantische Gründungserzählungen im 13. und 14. Jahrhundert. Mythen als Element institutioneller
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gut am Einsatz des Kommunikationsmediums Freundschaft zeigen.30 Freundschaft oszilliert in den Franziskuslegenden zwischen der alle irdischen Bindungen negierenden Gottesfreundschaft, der Freundschaft mit der Armut und den Armen und der gemeinsinnigen Verbundenheit mit den Gefährten und Ordensbrüdern. Die erste ausführliche Lebensbeschreibung, die Vita Prima, hat Thomas von Celano unmittelbar nach der am 16. Juli 1228 erfolgten Heiligsprechung Francescos im Auftrag Gregors IX. abgefasst. Thomas von Celano gehörte zu jenen Brüdern, die Franziskus 1214/15 in den noch nicht offiziell anerkannten Orden aufgenommen hatte. Er war dann einer von den fünfundzwanzig Brüdern, die Franziskus 1221 mit dem zum Provinzialminister ernannten Caesarius von Speyer nach Deutschland entsandte. Thomas wurde dort zum Custos für das Rheinland mit den Städten Speyer, Worms, Mainz und Köln bestellt. In den entscheidenden Jahren des schwierigen Prozesses der Anerkennung der Ordensregel durch Gregor IX. dürfte er sich also nicht in der unmittelbaren Umgebung des Franziskus aufgehalten haben. 1228 soll er sich jedoch wieder bei der Portiuncula befunden und im selben Jahr der Heiligsprechung Francescos durch Gregor IX. in Assisi beigewohnt haben, von der er in seiner Vita prima ausführlich berichtet.31 In den ersten beiden Büchern folgt die Vita prima weitgehend dem ordo naturalis von Franziskus’ Biografie. Sie setzt ein mit dem sündigen, von Müßiggang und Verschwendung bestimmten Leben des Franziskus als Sohn einer reichen Kaufmannsfamilie aus Assisi und seiner nachfolgenden Bekehrung zu einem gottesfürchtigen und der Pflege der Armen gewidmeten Leben, berichtet von den ersten Kirchenrenovierungen und der Zuwendung zu den Aussätzigen und Armen, der Begründung seines ärmlichen Habits, der Bekehrung der ersten Brüder und schließlich der Gründung des Ordens der Minderen Brüder (Ordo Fratres Minores)
Eigengeschichtsschreibung der mittelalterlichen Franziskaner, Dominikaner und AugustinerEremiten, Münster 2012, S. 66–122. 30 Von Freundschaft als Kommunikationsmedium spreche ich in Anlehnung an Niklas Luhmann, der den Begriff des „symbolisch generierten Kommunikationsmediums“ geprägt hat. Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 316–332, hier zur Freundschaft als Kommunikationsmedium, S. 326f. 31 Vgl. Thomas von Celano, „Vita prima Sancti Francisci“, in: Enrico Menestò/Stefano Brufani et al. (Hg.), Fontes Franciscani, Santa Maria degli Angeli – Assisi 1995, S. 273–424 (künftig zitiert als 1Cel). Nach dieser Ausgabe zitiere ich auch die anderen von mir behandelten Legenden. Die deutschen Übersetzungen zitiere ich nach: Dieter Berg/Leonhard Lehmann (Hg.), Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden, Kevelaer 2009. Zur Vita prima vgl. Raimondo Michetti, Francesco d’Assisi e il paradosso della Minoritas. La Vita beati Francisci di Tommaso da Celano, Roma 2004.
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und seiner Regeln. Das zweite Buch erzählt von Franziskus’ beiden letzten Lebensjahren und seinem Tod, und das dritte Buch berichtet schließlich von seiner Heiligsprechung und anschließend in systematischer Reihenfolge (ordo artificialis) von den Wundern, die der Heilige nach seinem Tod gewirkt hat. Nahezu zwanzig Jahre später erhielt Thomas von Celano vom neu gewählten Generalminister der Franziskaner, Crescentius de Jesi, den Auftrag, eine weitere Franziskus-Legende abzufassen, für deren Abfassung in den Jahren 1246/47 er Nachrichten und Briefe von Ordensbrüdern einbeziehen sollte, die auf eigener Augenzeugenschaft und Erinnerung beruhten.32 Anders als die Vita prima orientiert sich die Vita secunda vorwiegend am ordo artificialis. Thomas von Celano entfaltet im ersten Buch zwar den biografischen Rahmen von Franziskus’ Bekehrung, seiner zunehmenden Hinwendung zur Armut und der Gründung des Ordens, aber im II. Buch gliedert er die Erzählung vom Leben des Heiligen nach bestimmten Themenbereichen (De paupertate, De humilitate, De caritate), die vorwiegend auf die Probleme des Ordens bezogen sind. Immer wieder wird in den Kapiteln Bezug auf die Armut und den Umgang mit Geld, aber auch auf den Umgang mit Ämtern und der Gelehrsamkeit genommen, wobei Franziskus teils eine strenge, teils eine benevolente Position einnimmt. Franziskus firmiert hier als Wächter und Richter über die Auslegung der Ordensregel – einem der zentralen Probleme des Ordens der Minderen Brüder, wie sich in zahlreichen scharfen Auseinandersetzungen innerhalb des Ordens zeigte.33 Die Vita secunda fungierte dabei weniger als Memoria des Heiligen, denn als Exempelsammlung für die Lehren des charismatischen Ordensgründers, deren pragmatische Funktion darin bestand, ihre Lesarten durch die Lektüre seiner Legende zu begrenzen.34
32 Auf dem 1244 in Genua tagenden Ordenskapitel wurden in einem Rundschreiben alle Ordensbrüder aufgefordert, ihre Erinnerungen oder sicheren Kenntnisse vom Leben des Franziskus aufzuschreiben und an den Generalminister zu schicken. Vgl. Helmut Feld, Franziskus von Assisi (wie Anm. 26), S. 32. 33 Bei den schon zu Lebzeiten Franziskus’ beginnenden Auseinandersetzungen ging es vorwiegend um die Auslegung der körperlichen wie der geistigen Armut. Grundsätzlich zu den Armutskonzeptionen der Mendikantenorden vgl. Gert Melville/Annette Kehnel (Hg.), In propositio paupertatis. Studien zum Armutsverständnis bei den mittelalterlichen Bettelorden, Münster u.a. 2001. Zur Konzeption der geistigen Armut des Franziskus, der sich selbst häufig als stultus et idiota oder als pazzus bezeichnete vgl. Maria Pia Alberzoni, „‚Unus novellus pazzus in mundo‘. Individualità e affermazione del carisma“, in: Gert Melville/Markus Schürer (Hg.), Das Eigene und das Ganze (wie Anm. 23). 34 Ihre Legitimation bezog die Vita secunda aber durchaus aus dem persönlichen Kontakt zu Franziskus. Vgl. Raoul Manselli, Nos qui cum eo fuimus. Contributo alla questione francescana, Roma 1980, bes. S. 7ff. Zur Funktion des Exemplums in mendikantischen Geschichtserzählungen vgl. Markus Schürer, Das Exemplum oder die erzählte Institution.
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In der Einleitung zum zweiten Buch weist der Erzähler daher darauf hin, dass die nachfolgenden Exempla des Heiligen dazu dienen sollten, jenen Brüdern, die ihn nicht mehr persönlich kannten, „einen Spiegel […] seiner Heiligkeit und ein Bild der Vollkommenheit seines geistigen Lebens vorzuhalten“.35 Grundsätzlich richtete sich der zweite Teil der Vita secunda sowohl gegen die rigorosen Zelanten als auch gegen die unter dem Verdacht der Laxheit stehenden Brüder, die an den Universitäten lehrten oder sich dem Weltklerus angenähert hatten.36 In engem zeitlichen Zusammenhang zu Celanos Vita Secunda dürfte die Legenda trium sociorum, die Dreigefährtenlegende entstanden sein. In der jüngeren Forschung jedenfalls wird es für wahrscheinlich gehalten, dass sie auf den 1244 ergangenen Aufruf des Generalministers Crescentius de Jesi an die noch lebenden Gefährten des Franziskus zurückgeht, ihre Erinnerungen an die Begegnungen mit dem Heiligen niederzuschreiben und dem Orden zur Verfügung zu stellen.37 Als Verfasser werden die drei Ordensbrüder Leo, Rufinus und Angelus genannt, die zu den frühen Gefährten und Vertrauten des Heiligen gehörten. Leo bewegte sich seit 1210 in seinem Umkreis und diente ihm als Beichtvater und Sekretär. In verschiedenen Quellen wird er als einer der engsten Vertrauten des Heiligen bezeichnet, der ihn begleitete, wenn dieser sich zu Fasten und Gebet in eine Einsiedelei zurückzog und auch in der Nähe war, als Franziskus auf dem Berg La Verna die Stigmata empfing.38 Rufinus war ein Cousin der heiligen Klara und wird in den Legenden als äußerst bescheidener und gehorsamer Bruder geschildert. Nach der Erzählung der Vita prima (1Cel. II, 95) war er der Einzige,
Studien zum Beispielgebrauch bei den Dominikanern und Franziskanern des 13. Jahrhunderts, Münster u.a. 2005; Thomas Füser, „Vom exemplum Christi über das exemplum sanctorum zum ‚Jedermannsbeispiel‘. Überlegungen zur Normativität exemplarischer Verhaltensmuster im institutionellen Gefüge der Bettelorden des 13. Jahrhunderts“, in: Gert Melville/Jörg Oberste (Hg.), Die Bettelorden im Aufbau [wie Anm. 27], S. 27–105. 35 „speculum (…) sanctitatis et imaginem perfectionis illius“. Thomas von Celano, „Vita secunda Sancti Francisci“, in: Fontes Franciscani (wie Anm. 30), S. 443–773, hier S. 467 (künftig zitiert als 2 Cel). 36 Ob die Vita secunda eher für die Seite der strengen oder der ‚laxen‘ Observanz Partei ergreift, ist in der Forschung umstritten. Vgl. dazu Wesjohann, Mendikantische Gründungserzählungen (wie Anm. 29), S. 72f. 37 Die Datierung der Dreigefährtenlegende und auch die Frage ihrer Echtheit ist bis in die jüngere Forschung umstritten. Vgl. hierzu Feld, Franziskus von Assisi (wie Anm. 26), S. 34–38; Franz Xaver Bischof, „Der Stand der ‚Franziskanischen Frage‘“, in: Dieter R. Bauer/Helmut Feld/ Ulrich Köpf (Hg.), Franziskus von Assisi. Das Bild des Heiligen aus neuer Sicht, Köln u.a. 2005, S. 1–16; Wesjohann, Mendikantische Gründungserzählungen (wie Anm. 29), S. 80–85. 38 Zu Leo, Rufinus und Angelus vgl. Engelbert Grau, „Die ersten Brüder des hl. Franziskus“, in: Franziskanische Studien 40 (1958), S. 132–144; Manselli, Nos qui cum eo fuimus (wie Anm. 34).
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der zu Lebzeiten des Heiligen dessen bei der Stigmatisierung empfangene Seitenwunde berührte. Angelus (Tancredi) war ein Ritter aus Rieti, der ebenfalls um 1210 der Gemeinschaft beigetreten war. Er soll zu den Brüdern gehört haben, die den todkranken Franziskus pflegten. In ihrer Legende nannten sie sich selbst freilich nicht; ihre Namen erscheinen nur in dem Begleitschreiben zur Dreigefährtenlegende, dessen Authentizität umstritten ist. Für die Deutung der Legende ist diese Frage jedoch nachrangig: Entscheidend ist die mit dem Begleitschreiben vorgenommene Legitimierung der Verfasser als Augenzeugen der Ereignisse und insbesondere als Gefährten und Vertrauten des Heiligen. Entsprechend ihrer Ansiedlung in den Anfängen des Ordens widmete sich die Dreigefährtenlegende besonders breit der Bekehrung des Heiligen und stellte ausführlich sein vorangegangenes sündiges Weltleben als vergnügungs- und verschwendungssüchtiger Ritter dar, um seine Bekehrung dann in umso strahlenderem Licht zu zeigen. Deutlicher als andere markieren die drei Gefährten damit den zentralen Aspekt der Sünderheiligenlegende: die conversio des Sünders und seine anschließende glühende Begeisterung für die Armut und seine innige Liebe zu Christus. Dabei spielen die Berufung der ersten Brüder und ihre Aussendung eine besondere Rolle; das Charisma des Heiligen wird hier besonders eng mit der Gründung des Ordens und der Bestätigung der Regel verknüpft. Die Legenda trium sociorum überspringt relativ große Teile von Franziskus’ Leben und erzählt abschließend von seinen letzten Lebensjahren, seinen an die Brüder gerichteten Reden, seinem Tod und seiner Heiligsprechung. Wie die Vita prima des Thomas von Celano widmet sie dem Generalprotektor des Ordens, Ugolino d’Ostia, dem späteren Papst Gregor IX., mehrere Kapitel und berichtet ausführlich von der Heiligsprechung Franziskus’ durch Gregor.39 1260 beauftragte das Generalkapitel von Narbonne den Generalminister des Ordens Bonaventura, eine neue Franziskusvita zu schreiben. Bonaventura kam dieser Aufforderung mit zwei Legenden nach. Einer ausführlicheren für die Tischlesung und einer kürzeren für den Chorgebrauch.40 Die beiden Legenden, die Legenda maior und die Legenda minor, rückten bald an die Stelle der früheren
39 Zu Ugolino d’Ostia, seiner Verbindung zu Franziskus und zum Franziskanerorden vgl. Cristina Andenna, Les cardinaux protecteurs: des personnes d‘autorité?, in: Les personnes d‘autorité en milieu régulier (des origines de la vie régulière au XVIIIe siècle), 7e Colloque international du CERCOR (Strasbourg, 18-20 juin 2009), Saint-Etienne 2012, S. 289-314 (i.E.); Ulrich Köpf, „Hugolino von Ostia (Gregor IX.) und Franziskus“, in: Bauer/Feld/Köpf (Hg.), Franziskus von Assisi (wie Anm. 37); John V. Kruse, „The changing role of Hugolino dei Conti di Segni (Gregory IX). A hermeneutical tool for understanding the lives of Francis“, in: Miscellanea francescana 108 (2008), S. 438–464. 40 Vgl. Feld, Franziskus von Assisi (wie Anm. 26), S. 42ff.
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Legenden, die sie nahezu vollständig verdrängten. Das lag nicht per se an ihrer Beliebtheit innerhalb des Ordens, sondern daran, dass das Pariser Generalkapitel im Jahre 1266 Bonaventuras Legende zur allein authentischen Franziskuslegende erklärte und auf sein Betreiben hin alle früheren Legenden über das Leben des Heiligen vernichten ließ, derer man habhaft werden konnte. Der 1217 in Bagnoreggio als Sohn eines Arztes geborene Bonaventura gehörte nicht zu den frühen Ordensmitgliedern, konnte also seine Legitimation als Verfasser zweier Lebensbeschreibungen des Heiligen nicht auf eigene Augenzeugenschaft oder gar den vertrauten Umgang mit dem charismatischen Ordensgründer stützen. Seine spezifische Legitimation bezog er aus seinem Amt als Generalminister des Ordens, also aus seiner institutionellen Funktion. Diese der Teilhabe am Charisma averse Funktion relativierte die Legende auf der Ebene der Erzählung jedoch, indem sie Bonaventura zu einem Verehrer des Heiligen und zum Objekt eines Wunders machte. An die Stelle des Amtes trat bei Bonaventura das Wunder, mit dem ihn der Heilige vor dem Tode bewahrt habe. Sich selbst als Objekt eines Mirakels einsetzend, erzählte Bonaventura sowohl in seiner Legenda maior als auch in der Legenda minor, er sei als Kind schwer erkrankt gewesen und nur die Fürsprache des Heiligen habe sein Leben gerettet.41 Das Charisma des Poverello wirkte in Bezug auf ihn selbst nicht durch die Amtsnachfolge, sondern durch das Wunder, das der Charismatiker an ihm gewirkt hatte. Bonaventura folgte in seiner Legenda maior im ersten Buch weitgehend dem ordo naturalis der biografischen Erzählung, im zweiten Buch orientierte er sich eher am ordo artificialis der thematischen Zusammengehörigkeit. Er folgte darin im Prinzip der Vita prima und der Vita secunda des Thomas von Celano, deren Benutzung er freilich verschwieg und sich stattdessen auf glaubwürdige Augenzeugen, insbesondere noch lebende erste Gefährten berief, mit denen er gesprochen habe. Gegenüber der Vita prima wie der Legenda trium sociorum nahm er den Sünderheiligenaspekt zurück und behauptete schon für die Zeit vor der Bekehrung Franziskus’ Desinteresse an Geld und Gold und sein besonderes Mitgefühl für die Armen (Legenda maior, II/1). Bonaventura machte Franziskus damit zwar nicht zu einem Geburtsheiligen, aber er näherte den Sünderheiligen diesem Modell an, indem er den Übergang von der Sünde zur Heiligkeit als Climax von der Berührbarkeit durch das Leid anderer zur absoluten Hingabe an die imitatio Christi inszenierte.
41 Bonaventura, Legenda maior, Prologus 3; Legenda minor, VII/8. Beide in: Fontes Franciscani (wie Anm. 31), S. 775–961 u. S. 965–1013.
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IV. Amicus paupertatis – Amicus homini – Amicus Dei: Transformationen von Freundschaft und Heiligkeit Freundschaft osziliert in den Franziskuslegenden zwischen der alle irdischen Bindungen negierenden Gottesfreundschaft, der Freundschaft mit der Armut und den Armen und der gemeinsinnigen Verbundenheit mit den Gefährten und Ordensbrüdern. In allen fünf skizzierten Legenden spielt die Semantik von Freundschaft auf unterschiedlichen Ebenen der Narration eine entscheidende Rolle. Dabei ist im Hinblick auf Franziskus grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der Freundschaft zu den Armen und zur Armut (amicitia paupertatis), der Freundschaft zu einzelnen Personen, insbesondere frühen Gefährten aus dem Orden, aber auch entscheidenden Vertretern der Institution Kirche, sowie der Freundschaft zu Gott (amicitia Dei), die in allen Legenden dominant ist. Zwischen der Vereinzelung des Heiligen und der Funktionalisierung als Ordensgründer bilden Freundschaftstermini damit eine zentrale Verknüpfung. In Bezug auf die Brüder ist vor allem der Terminus socius dominant. Neben socius treten in den Franziskuslegenden die Bezeichnungen des Franziskus als pater oder mater seiner Ordensmitglieder, die einerseits eine familiäre Nähe zwischen dem Heiligen und seinen Gefährten herstellen, andererseits aber auch dessen Fürsorge für seinen Orden und seine Autorität über dessen Mitglieder hervorheben. Der Einsatz der Verwandtschafts- und Freundschaftssemantik lässt sich damit als Mittel lesen, die enge, auch personale Verbindung des Ordensgründers zu seinem Orden über die Freundschaft mit einzelnen Mitgliedern seines Ordens abzusichern. Zumeist bleiben die dabei apostrophierten Brüder aber anonym; selten werden einzelne namentlich genannt. Die als Freunde apostrophierten Brüder werden so zu weitgehend gesichtslosen Vertretern der Ordensbrüder und in der Annäherung an den Heiligen sogleich wieder von ihm distanziert. Diese Distanzierung entspricht den Anforderungen charismatischer Distanz: Der Charismatiker als Ordensgründer ist der Bezugspunkt aller, deshalb darf er nicht zu nah an einzelne Ordensmitglieder herangerückt werden. Von der Anmutung einer Sonderdyade mit einem einzelnen Freund muss er freigestellt werden, wozu die Anonymisierung der als Freunde apostrophierten Ordensmitglieder dient. Die Spannung zwischen Transzendenzbezug und Gemeinsinn wird damit ausbalanciert: Einerseits wird die Gemeinsinnigkeit zwischen Ordensgründer und Ordensmitgliedern betont, andererseits wird der charismatische Ordensgründer mit keinem der Brüder in eine enge und damit identifizierbare Beziehung gesetzt, um ihn für seine Sonderbeziehung zu Gott von anderen Verpflichtungen frei zu stellen.
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Selbst dort, wo Franziskus einem der Brüder seine spezielle Liebe und Freundschaft versichert, wird durch die Anonymität des Ordensbruders dessen Sonderstellung minimiert, exemplarisch funktionalisiert und die Sonderbeziehung des Heiligen zu Gott hervorgehoben. So versichert Franziskus in der Vita prima des Thomas von Celano einem Bruder, der ängstlich um seine Liebe und Freundschaft bemüht ist, sich aber nicht traut ihn anzusprechen, seine unverbrüchliche Liebe und Freundschaft: ‚Mein Sohn, laß dich von keiner Versuchung beunruhigen, von keinem Gedanken verbittern, denn du bist mir sehr lieb und sollst wissen, daß du unter denen, die mir vor allem teuer sind, meine Liebe und Freundschaft verdienst. Komme ruhig zu mir herein, wann du willst, und rede ganz vertraulich mit mir!‘ In höchstes Staunen und größte Bewunderung geriet da der genannte Bruder und, nur noch ehrfürchtiger geworden, wuchs sein Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes um so mehr, je höher er stieg in der Gunst des heiligen Vaters.42
Die Zusage der Freundschaft durch den Heiligen fungiert hier als Medium der Heilszusage, die Gottvertrauen begründet. Bonaventura hat diese Stelle im Prinzip übernommen, die Funktion des Heiligen als Heilsmittler und damit die Funktion der Freundschaft als Element der Heilszusage aber noch verstärkt: Einem anderen Bruder, der Gott und dem Diener Christi fromm ergeben war, kam häufig der Gedanke, wen der Heilige besonders liebe, sei auch Gottes Gnade würdig, wen er aber als Fremden behandele, der zähle auch nicht zu Gottes Auserwählten. Da aber solche Grübeleien den Bruder häufig quälten, er des Heiligen Freundschaft sehnlichst wünschte, niemandem aber seine geheimen Gedanken anvertraute, rief der gute Vater ihn eines Tages zu sich und sprach zu ihm: ‚Mein Sohn, quäl dich nicht mit solchen Gedanken, denn du bist mir unter denen, die mir besonders lieb sind, am liebsten; gern schenke ich dir meine Freundschaft und Liebe.‘ Der Bruder wunderte sich darüber sehr, und seine Frömmigkeit wuchs noch mehr, denn seine Liebe zum Heiligen nahm zu, und der Heilige Geist beschenkte ihn mit reicheren Gnadengaben.43
42 „‚Nulla te conturbet tentatio, fili, nulla cogitatio exacerbet, quoniam carissimus mihi es, et inter praecipue mihi caros mea dilectione ac familiaritate dignum te noveris. Securus ad me intra, quando volueris, et de familiaritate sume facundiam.‘ Miratus est frater dictus admiratione permaxima, et exinde reverentior factus, quantum crevit in gratia sancti patris tantum coepit in Dei misericordia fiducialius dilatari.“ 1Cel, XVIII/50. 43 „Frater quidam Deo devotus et famulo Christi, frequenti cogitatione versabat in pectore, superna fore gratia dignum, quem vir sanctus familiari complecteretur affectu, quem vero tamquam extraneum reputaret extra numerum electorum reputandum a Deo. Cum igitur cogitationis huiusmodi crebrius vexatus impulsu, viri Dei familiaritatem vehementer optaret, nec tamen cordis sui secretum revelaret alicui, advocans eum ad se dulciter pater pius, sic
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In der Funktion von Freundschaft als Medium der Heilszusage für den grübelnden Bruder bedurfte es nicht der Schilderung einer personalen Freundschaft, sondern lediglich deren Zusage an den identitätslosen Bruder, der gerade durch seine Anonymität die Gemeinschaft der Brüder zu repräsentieren vermochte, die als Angehörige des Ordens damit alle zu Freunden des Heiligen wurden. Eine Ausnahme von dieser Anonymisierung der Freunde und Vertrauten bildet in den Franziskuslegenden nahezu ausschließlich der ehemalige Kardinalprotekor des Ordens, Ugolino d’Ostia, der als Papst Gregor IX. Franziskus zwei Jahre nach dessen Tod heilig sprach. Die Beziehung zwischen Ugolino d’Ostia und Franziskus wird in allen genannten Legenden als innige Liebe und Freundschaft beschrieben. Von Beginn an, noch bevor sich eine Freundschaftsbeziehung zwischen ihnen entwickeln konnte, so die Vita prima des Thomas von Celano, seien Franziskus und der Kardinalprotektor durch herzliche Liebe verbunden gewesen. Noch war der eine mit dem andern [Franziskus und Kardinal Hugo von Ostia] nicht durch besondere Freundschaft verbunden, sondern einzig der Ruf eines heiligmäßigen Lebens hatte das Band einer gegenseitigen und herzlichen Liebe um sie geschlungen.44
Die Freundschaft zwischen dem heiligen Ordensgründer und dem Protektor des Ordens schafft eine persönliche Bindung zwischen der Institution der Amtskirche und dem charismatischen Ordensgründer. Die Spannung zwischen Institution und Charisma, zwischen Amtskirche und charismatischem Ordensgründer wird in der über das Kommunikationsmedium Freundschaft grundierten affektiven Beziehung ausbalanciert, ohne dass dazu die Freundschaftsbeziehung auserzählt werden müsste. Damit repräsentiert sie zugleich Freundschaft als Transzendenzfigur, die nicht für jedermann, sondern nur für besonders Gleichgesinnte verfügbar ist und hebt den Kardinalprotektor und späteren Papst auf eine Ebene, auf der er an der Heiligkeit des Ordensgründers partizipiert. Wie eine solche legendarisch produzierte und bestätigte Freundschaftsbeziehung im institutionellen Rahmen funktionalisierbar ist, zeigt die 1230 durch Gregor IX. erlassene Bulle Quo elongati. In dieser zwei Jahre nach der Heiligspre-
allocutus est: „Nulla te turbet cogitatio, fili, quoniam te carissimum habens inter praecipue mihi caros, libenter tibi munus meae familiaritatis et dilectionis impendo“. Miratus exinde frater factusque devotior ex devoto, non solum in amore crevit hominis sancti, verum etiam per Spiritus sancti gratiae munus donis est maioribus cumulatus.“ Legenda maior, XI/9. 44 „Nondum alter alteri erat praecipua familiaritate coniunctus, sed sola fama beatae vitae mutua eos et affectuali iunxerat charitate.“ 1Cel, XXVII/74.
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chung erlassenen Bulle erklärte Gregor IX. Franziskus’ Testament für nichtig.45 Zur Legitimation dieses Eingriffs in den erklärten letzten Willen des Ordensgründers berief sich Gregor im Prolog der Bulle auf seine innige Freundschaft mit Franziskus, die sich auf die Darstellung bei Thomas von Celano stützen konnte.46 Weniger der päpstliche Machtanspruch als vielmehr seine Freundschaft zu Franziskus sollten seine Eingriffe in die Entwicklung des Ordens legitimieren.47 Freundschaft bildet damit eine Transzendenzfigur, in der Unverfügbarkeit und Verfügung in einem reziproken Verhältnis zueinander standen: Als Freund des Heiligen konnte der Papst über dessen Absichten verfügen und sie damit für andere unverfügbar stellen. Grundlage dieser spannungsvollen Verknüpfung von Unverfügbarkeit und Verfügung war das Charisma des Ordensgründers als verus amicus paupertatis48 und als pauperum pius amator 49. Der amicus pauperi erwies jenen Freundschaft und Liebe, die davon in der Gesellschaft ausgeschlossen waren: den Armen und insbesondere den Aussätzigen, deren Gestank vor seiner vollständigen Bekehrung selbst Franziskus ekelte. In den Exempeln seiner Fürsorge für Arme und Aussätzige schuf der Heilige Gemeinschaft, wo sonst Abgrenzung war, er diente, wo sonst Verachtung herrschte, er liebte, wo sonst Abneigung überwog.50 Damit übernahm er stellvertretend für andere die Gemeinsinnsorientierung einer auf die Teilhabe aller am Heil gerichteten Gottesliebe.51 Diese Art von Gemeinsinnigkeit, das Erkennen Gottes im Verachteten und das Streben nach Gleichheit mit dem Armen, bildete dann wiederum das entscheidende Vehikel der Gottesfreundschaft.52 So erzählt Bonaventura in seiner
45 Kommentierte Edition bei: Herbert Grundmann, „Die Bulle ‚Quo elongati‘ Papst Gregors IX.“, in: Archivum Franciscanum Historicum 54 (1961), S. 3–25; Nachdruck in: ders., Ausgewählte Aufsätze. Teil 1. Religiöse Bewegungen, Stuttgart 1976, S. 222–242 (Edition: S. 236–242). 46 Vgl. Grundmann, Die Bulle „Quo Elongati“ (wie Anm. 45), S. 237. 47 Vgl. Melville, „Der geteilte Franziskus“ (wie Anm. 28), bes. S. 354f. 48 Bonaventura, Legenda Maiora, VII,6. 49 Bonaventura, Legenda Maiora, VIII,5. 50 Vgl. 1Cel, VII,17. 51 Dazu, wie komplex diese Gemeinsinnsorientierung im Hinblick auf die Armut war, und wie viel den freiwillig armen Charismatiker von den unfreiwillig Armen trennte, vgl. Gert Melville, „What Role did Charity Play in Francis of Assisi’s Attitude towards the Poor?“ in: ders. (Hg.), Aspects of Charity. Concern for one’s neighbour in medieval vita religiosa, Münster 2011, S. 99– 123; siehe auch die Ergebnisse des von Gert Melville und Annette Kehnel herausgegebenen Bandes: In propositio paupertatis (wie Anm. 33). 52 Zur Gottesfreundschaft vgl. Alois Haas, „Gottesfreundschaft“, in: Ferdinand van Ingen/ Christian Juranek (Hg.), Ars et amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst
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Legenda maior, Franziskus habe sich nur insofern als Freund Christi betrachtet, als er dessen Geschöpfe liebte: Seine überströmende Hingabe und Liebe trug ihn so nach oben zu Gott, daß er sein mitfühlendes Herz allen erschloß, die mit ihm die gleiche Natur und Gnade teilten. Daher nimmt es nicht wunder, wenn ihn, den die Macht der Liebe den andern Geschöpfen zum Bruder gegeben hatte, die Liebe Christi noch mehr denen zum Bruder machte, die mit dem Bild des Schöpfers gezeichnet und mit dem Blut des Schöpfers erlöst sind. Er hielt sich nur dann für einen Freund Christi, wenn er die Seelen liebhabe, die jener erlöst hat. Es gebe nichts Höheres, sagte er, als das Heil der Seelen.53
Die Liebe zu den Geschöpfen Gottes markiert einen zentralen Aspekt der imitatio Christi, die nicht auf die Passion beschränkt ist, sondern die Mimesis der göttlichen Selbsterniedrigung in der Menschwerdung des Sohnes ist. Die Präsenz dieser Selbsterniedrigung Gottes im Kreuzestod repräsentierte der Heilige insbesondere in den Stigmata, die er auf dem Berg La Verna empfangen haben soll. Als göttliche Auszeichnung wie als Zeichen der Anwesenheit Gottes spielten sie sowohl für die Heiligsprechung als auch in den legendarischen Erzählungen eine zentrale Rolle.54 Schon der Rundbrief, den Elias von Cortona unmittelbar nach dem Tod des Franziskus abgefasst haben soll, dessen Echtheit in der Franziskus-
und Literatur. Festschrift für Martin Bircher zum 60. Geburtstag am 3. Juni 1998, Amsterdam/ Atlanta (GA) 1998, S. 75–86; siehe auch: E. Barnicol, Artikel „Gottesfreund“, in: RGG 2, 3. Aufl., Tübingen 1986. Sp. 1789f.; Richard Egenter, Gottesfreundschaft. Die Lehre von der Gottesfreundschaft in der Scholastik und Mystik des 12. und 13. Jahrhunderts, Augsburg 1928; zu der dem Heiligen zugeschriebenen Gottesfreundschaft vgl. Verena Epp, Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter, Stuttgart 1999, S. 262–267. 53 „Sic autem eum caritatis excessiva devotio sursum in divina ferebat, ut eiusdem affectuosa benignitas ad naturae consortes et gratiae dilataret. Quem enim creaturis ceteris germanum pietas cordis effecerat, mirum non est, si Creatoris insignitis imagine et sanguine redemptis. Auctoris germaniorem Christi caritas faciebat. Non se Christi reputabat amicum, nisi animas foveret, quas ille redemit. Saluti animarum nihil praeferendum esse dicebat, eo maxime probans, quod Unigenitus Dei pro animabus dignatus fuerit in cruce pendere.“ Legenda maior, IX/4. 54 Vgl. zu den Stigmata unter der Fragestellung von Stigma und Charisma: Otto Langer/ Hartmann Tyrell, „Stigma und Charisma: Franz von Assisi“, in: Lipp, Stigma und Charisma (wie Anm. 4), S. 303–328. Auch für die bildliche Darstellung des heiligen Franziskus waren die Stigmata von herausragender Bedeutung. Vgl. Chiara Frugoni, Francesco e l’invenzione delle stimmate, Turin 1983 (Neuauflage Turin 2010). Siehe auch Klaus Krüger, „Selbstdarstellung im Konflikt. Zur Repräsentation der Bettelorden im Medium der Kunst“, in: Otto Gerhard Oexle/ Andrea von Hülsen Esch (Hg.), Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte, Göttingen 1998, S. 127–186, hier S. 145 f.
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forschung allerdings umstritten ist, betonte das Wunder der Wundmale, die Franziskus empfangen habe und die denen Christi glichen: Noch nie hat man gehört ein solches Zeichen, außer im Sohne Gottes, welcher ist Christus der Herr. Nicht lange vor seinem Tod erschien unser Bruder und Vater gekreuzigt: Die fünf Wunden, die wirklich die Wundmale Christi sind, trug er an seinem Leib. Seine Hände und Füße nämlich trugen die Einstiche der Nägel und waren von beiden Seiten durchbohrt. Sie bewahrten die Narben und zeigten das Schwarze der Nägel. Seine Seite aber erschien mit einer Lanze geöffnet, und er schwitzte oft Blut daraus.55
Thomas von Celano, die drei Gefährten und Bonaventura behandelten den Empfang der Stigmata mit sehr viel größerer Zurückhaltung als Elias. Alle Legenden berichteten von der Stigmatisierung, aber alle betonten auch, dass der Heilige seine Wundmale vor anderen, insbesondere Fremden, verborgen habe und dass selbst nur wenige seiner Freunde und Vertrauten sie gesehen hätten. Was nach dem Tod als göttliches Zeichen emphatisch verkündet werden konnte, musste im Leben sorgsam gehütet werden. Auch die Franziskuslegenden wurden erst nach dessen Tod verfasst, aber sie verkündeten nicht einfach deklarativ die Stigmatisierung, sondern integrierten sie in die Vita des Heiligen. Und innerhalb dieser Vita fungierten sie als ein so eminentes Zeichen der Auszeichnung, dass sie nicht ostentativ durch den Heiligen präsentiert, sondern sorgsam verborgen und bestenfalls von jenen Brüdern, die den Heiligen pflegten, zufällig gesehen oder bemerkt worden sein konnten. Die unmittelbarsten Zeichen der imitatio Christi, die zugleich die Zeichen göttlichen Begnadetseins und der darin sich verleiblichenden Gottesfreundschaft bildeten, durften in den Viten des Heiligen nicht im Sinne eines Bewusstseins von Herausgehobenheit präsentiert werden. Heiligkeit als Gottesfreundschaft blieb in der Welt stets prekär, weil sie immer in der Gefahr stand, vorzeitig, d.h. noch zu Lebzeiten des Heiligen, als Erhöhung gelesen zu werden. Eine solche Erhöhung konnte aber nicht vom Ruch der Selbsterhöhung freigestellt werden. Aus diesem Grund musste hier eine Schranke der Scham errichtet werden: Der Heilige war sich seiner Herausgehobenheit durch die persönliche Beziehung zu Gott bewusst, aber diese persönliche Beziehung gehörte zu den Geheimnissen der Transzendenz und musste in der Immanenz der Wahrnehmung entzogen werden.
55 [Rundbrief des Bruders Elias an alle Provinzen des Ordens über den Tod des heiligen Franziskus], in: Franziskus-Quellen (wie Anm. 31), S. 184–186, hier S. 185; lat. Text in: Fontes Franciscani (wie Anm. 31), S. 253–255, hier S. 254.
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Nicht durch das ostantive Vorzeigen der Zeichen, sondern allein vermittelt durch das vertrauliche Wort gegenüber den Freunden konnte die Gottesfreundschaft lesbar gemacht werden: Mit so inniger Liebe hing er Christus an, und auch der Geliebte erwies ihm eine solche Freundschaft und Liebe, daß der Freund Gottes sich jederzeit unter den Augen seines Erlösers fühlte, wie er zuweilen seinen Gefährten in vertrautem Gespräch eingestanden hat.56
Das Kommunikationsmedium Freundschaft ist damit ebenso geeignet, den unmittelbaren Zugang des Heiligen zur göttlichen Transzendenz zu markieren, die ihn von allen anderen Menschen abhebt, wie als Vermittlungsebene in der Immanenz zu fungieren, die allen anderen Gläubigen durch die Mittlerfunktion des Heiligen den Zugang zur Transzendenz ermöglicht. Die Gottesfreundschaft repräsentiert nicht die Funktion als Ordensgründer, sondern die Nähe des charismatischen Heiligen zu Gott.57 Erst in der Doppelheit von Menschenfreund und Gottesfreund entfaltet sich die spezifische Funktion des Heiligen als imitator Christi und Heilsmittler.
56 „Tam fervido quidem in Christum ferebatur affectu, sed et Dilectus illi tam familiarem rependebat amorem, ut videretur ipsi famulo Dei quasi iugem prae oculis ipsius Salvatoris sentire praesentiam, sicut aliquando sociis familiariter revelavit.“ Legenda maior, IX/2. 57 Die Gottesfreundschaft im Sinne der Hervorhebung des persönlichen Charismas gegenüber dem Amtscharisma als Ordensgründer spielt auch in der Franziskuslegende der Legenda aurea, in der Franziskus als „servus et amicus altissimi“ (Jacobi a Voragine Legenda Aurea vulgo Historia Lombardica dicta ad optimorum librorum fidem recensit, ed. T. Grässe, Neudruck Osnabrück 1969 nach der 3. Auflage der Ausgabe Breslau 1890, S. 663) bezeichnet wird, eine entscheidende Rolle. Vgl. Füser, „Vom exemplum Christi über das exemplum sanctorum zum ‚Jedermannsbeispiel‘“ (wie Anm. 34), S. 43f.
VII. Ordnungen der Reflexivität
Thomas Rentsch
Transzendenz – Konstitution und Reflexion Systematische Überlegungen Was ist Transzendenz? Wie ist Transzendenz zu verstehen? Worin gründet sie? Diese Klärung erfolgt unabhängig von den vielfach mit dem Begriff der Transzendenz assoziierten Bereichen der Religion und der Theologie. Sie setzt grundsätzlicher, fundamental-anthropologisch an und analysiert die Konstitution von Transzendenz formal und strukturell. Mit diesem Zugriff, der im ständigen Diskurs mit der internationalen systematischen Gegenwartsdiskussion entwickelt wird, ist von vorneherein ein negativ-kritischer Ansatz methodisch verbunden, der näherhin sowohl ontologie- wie auch erkenntnis- und sprachkritisch angelegt ist. Nur auf diese Weise ist es möglich, die konstitutive Selbstreflexivität der Transzendenzthematik methodologisch von vornherein in die Analyse einzubeziehen, anstatt ungeklärt, von objektivistischen, verdinglichten und hypostasierten Transzendenzverständnissen auszugehen, wie dies vielfach geschah und geschieht. So soll auch die Klärung des Verständnisses von Transzendenz und Immanenz ohne ungeklärte metaphysische Setzungen und Prämissen erfolgen, in meiner Terminologie: auf dem Weg einer kritischen Hermeneutik, die antithetisch-dualistische Bestimmungen dieses Verhältnisses überwindet. Demgegenüber gilt es, systematisch einen komplexen Differenzialismus der Modi, Formen und Aspekte von Transzendenz auf allen Ebenen der gesellschaftlichen und kulturellen Praxis zu erreichen, sowie kulturelle Paradigmen der Transzendenz zum Beispiel in den Bereichen der Moral, der Ethik, des Rechts und der Politik, in denen der Kunst, der Architektur, der Dichtung, der Philosophie oder auch der Religionen, Mythen und Theologien aufzuweisen. Nur so ist es methodologisch möglich, eine Architektonik und Topik zu entwickeln, die hermeneutisch die jeweilige Kontextualität der Transzendenzverständnisse und Praxen möglichst genau berücksichtigt, ohne reduktionistische Unterbestimmungen oder unkritische Dogmatismen zu implizieren. Somit zielt der Beitrag auf die Klärung der Grundfragen: Wie artikuliert sich jeweils der für die Identität der Individuen, Gemeinschaften und Gesellschaften sinnkonstitutive Transzendenzbezug? Wie gestalten sich die auf ihn ausgerichteten kommunikativen Lebens- und Praxisformen, die kulturellen Paradigmen? Und: wie vergegenwärtigen wir forschend diese Paradigmen? Mit dieser mehrfachen Selbstreflexivität steht auch die irreduzible Verbindung von Transzendenz und Gemeinsinn bereits im Zentrum.
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I. Grundlegende Prämissen In Untersuchungen der letzten Jahre zu einer kritischen Religionsphilosophie, zur Gottesfrage und zum Verständnis von Transzendenz habe ich versucht, für die Gegenwart eine systematische Prototheologie zu entwickeln.1 Der methodische Anspruch einer solchen Prototheologie ist es, diejenigen Phänomene der menschlichen Welt freizulegen und aufzuzeigen, die für religiöse, theistische und z.B. mystische Welt- und Selbstverhältnisse grundlegend sind. Dieser Aufweis aber erfolgt selbst dem Anspruch nach neutral, formal, strukturell. In der Terminologie der Heideggerschen Phänomenologie kann hier von formaler Anzeige gesprochen werden, mit Wittgenstein von dem, was sich zeigt. Die prototheologischen Phänomene (bzw. Urphänomene) sind: die Existenz der Welt (das Dass des Seins des Seienden, die ontologisch-kosmologische Transzendenz), die Existenz der Sprache (die Transzendenz des Logos), schließlich die Existenz des Menschen (die interexistenzielle und existenzielle Transzendenz). Für die Prototheologie relevant ist die – im Blick auf die humane Welt aufweisbare – Gleichursprünglichkeit (Äquiprimordialität) dieser Transzendenzdimensionen: Sie sind irreduzibel aufeinander, unableitbar von einander und nur durch und mit einander verstehbar. Insofern haben sie trinitarische Struktur. Transzendenz ist ferner nur dem Menschen explizit reflexiv zugänglich, seinem eigenem „Sich-vorwegschon-sein-in-der-Welt“ (Heidegger), seiner eigenen Erschlossenheit (Heidegger) durch die Sprache und die Praxis ihres Gebrauchs (Wittgenstein), in der unvordenklichen, sprachlich wie praktisch unhintergehbaren Intersubjektivität, der sozialen, kommunikativen Lebenspraxis. Es ist der Anspruch einer Transzendenzanalyse, rational, universal und fundamentalanthropologisch geltend zu sein, ohne zusätzliche z.B. metaphysische oder gar religiöse Voraussetzungen zu benötigen oder zu machen. Dass überhaupt etwas ist, dass wir überhaupt existieren, dass ich ich bin, dass wir sprechen, handeln und überhaupt Sinn erfahren können, die ontologisch-ontische Differenz ist – mit Leibniz, Schelling und Heidegger – unvordenklicher Grund alles Seienden und allen Sinns. Und sie ist konstitutiv verbunden mit Freiheit (Selbstsetzung) und Individualität. Die Transzendenzanalyse ist zunächst allein auf die lebensweltliche Alltäglichkeit bezogen, transkulturell und transhistorisch. Sie hat Vorläufer in den existenzphilosophischen Transzendenzanalysen
1 Vgl. Thomas Rentsch, Gott, Berlin/New York 2005; vgl. auch die Rezension von Ingolf U. Dalferth, „Unbedingter Sinn und absolute Transzendenz“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56 (2008), S. 135–140; Thomas Rentsch, Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin/New York 2011.
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von Jaspers, in denen der Begriff der Grenze bzw. der Grenzsituation zentral ist, in den Analysen zur Transzendenz des Ego von Sartre, noch fundamentaler bereits in der Konzeption der Transzendenz des Gegenstandes bei Brentano und Husserl. Auch die erkenntniskritische Fundamentalunterscheidung von Phainomena und Noumena bei Kant lässt sich in diesem Kontext rekonstruieren, ebenso der Begriff der wahren Unendlichkeit bei Hegel. Denn es ist die Wirklichkeit, die Faktizität mit all ihren Modi, die – je spezifisch – transzendent ist, und kein vermeintlich abstrakt objektivierbares Jenseits. Die Wirklichkeit der Transzendenz und ihre Dimensionen neu zu denken, und dies nach Transzendentalphilosophie, Erkenntniskritik, Ontologiekritik und sprachkritischer Wende, nach Heidegger und Wittgenstein,2 dies führt uns auf neue Weise auch zurück auf traditionelle Fragestellungen der Metaphysik, der philosophischen Theologie, des Neuplatonismus und der rationalen Mystik. Es zeigt sich in den bisher geleisteten Transzendenzanalysen, dass gerade die bezüglich der Vorhandenheitsontologie kritischen Existenzialanalysen Heideggers, die sprachkritischen Lebensformanalysen Wittgensteins wie auch die negative Dialektik Adornos produktiv für sie genutzt werden können, ebenso die zentralen Ansätze zu Differenz und Dekonstruktion von Derrida, Deleuze und Lyotard. Wenn dies zutrifft, dann ließe sich die These begründen und erhärten, dass die wichtigsten Denker der Moderne und der Spät- und Postmoderne im Kern ihres Denkens kryptotheologische Ansätze weiterverfolgen, was bislang nach meinem Urteil viel zu wenig bewusst ist bzw. überhaupt nicht wahrgenommen wird.3 Von grundsätzlicher Bedeutung für eine sinnkriteriale, kritisch-hermeneutische Transzendenzanalyse ist, so zeigt sich, die Unverfügbarkeit der Transzendenzdimensionen, ihre Entzogenheit.4 Dass wir sind, dass wir sprechen und handeln können, dass wir faktisch so individuiert sind, wie es uns geschah – all das ist uns schlechterdings vorgängig und in dieser Vorgängigkeit schlechthin irreduzibel sinnkonstitutiv. Sein ist das transcendens schlechthin – so lehrte die Tradition.5 Dass überhaupt etwas ist, ist uns sowohl pragmatisch entzogen wie auch schlechterdings sinnermöglichend.
2 Vgl. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, 2. Aufl., Stuttgart 2003. 3 Vgl. Rentsch, Gott (wie Anm. 1), S. 173–188. 4 Vgl. Thomas Rentsch, „Thesen zur Kritik der religiösen Vernunft“, in: Willi Oelmüller (Hg.), Wiederkehr von Religion? Perspektiven, Argumente, Fragen, Paderborn 1984, S. 93–109. 5 Vgl. dazu Martin Heidegger, Sein und Zeit, 11. Aufl., Tübingen 1967, S. 3.
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Eine pragmatisch-funktionale Religionsphilosophie wie die von Hermann Lübbe entwickelte konnte daher den Begriff der Kontingenz an die Stelle des Begriffs der Transzendenz setzen.6 Wesentliche Aspekte der menschlichen Existenz lassen sich als zufällig begreifen. Wann wurde ich von wem wo geboren, in welche Lebensverhältnisse hinein? Wem begegnete ich, wer lehrte mich, wer liebte mich? Die Negativität der Transzendenzdimensionen ermöglicht eine Kontingenzanalyse. Ob es allerdings kritisch-hermeneutisch und sinnkriterial angemessen ist, z.B. Religionen dann lediglich als „Kontingenzbewältigungspraxen“ zu bestimmen, ist zu fragen. Es ergeben sich viele Ansätze zur Analyse des systematischen Zusammenhangs von Transzendenz und Negativität auf allen Ebenen der menschlichen Praxis. Ich hatte bereits die Verbindung von Negativität und praktische(r) Vernunft in vielen Kontexten untersucht.7 In den folgenden Untersuchungen zu Transzendenz und Negativität8 zeigt sich einerseits, wie bestimmend die Transzendenzthematik für die wesentlichen Ansätze der Philosophie des 20. Jahrhunderts ist: Weder Heidegger noch Wittgenstein, weder Adorno noch Derrida lassen sich ohne diese Thematik verstehen.9 Andererseits wird deutlich, dass eine religiöse oder theologische Engführung der Transzendenzphänomene eine sowohl historisch wie systematisch weitreichende Unterbestimmung dieser Phänomene impliziert. Vielmehr muss wieder von komplexen Transzendenzdimensionen der Welt (des Seins und jedes Gegenstandes), der Sprache (des logos), von interpersonaler Transzendenz sowie von der Transzendenz der Individuation und der Individuen ausgegangen werden – und dies seit Beginn der philosophischen Reflexion. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich dann kulturelle – d.h. mythische, philosophische, praktische, ethische, ästhetische und religiöse – Paradigmen von Transzendenz analysieren, die auf dem Wege des Reflexivwerdens von Transzendenz ausgebildet werden. Es ist daher gegenwärtig dringend erforderlich, eine kritisch-hermeneutische Analyse und Rekonstruktion von Transzendenz zu erneuern und explizit auszuführen. Aufzuklären ist das Verhältnis von Transzendenz und Sprache, Transzendenz und Lebenspraxis sowie das Verhältnis von Transzendenz und Vernunft. Die Erneuerung der Transzendenzreflexion
6 Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz 1986. 7 Vgl. Thomas Rentsch, Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt a.M. 2000. 8 Vgl. Rentsch, Transzendenz und Negativität (wie Anm. 1). 9 Vgl. zu Heidegger: Markus Enders, Transzendenz und Welt: Das daseinshermeneutische Transzendenz- und Welt-Verständnis Martin Heideggers auf dem Hintergrund der neuzeitlichen Geschichte des Transzendenz-Begriffes, Frankfurt a. M 1999; Thomas Rentsch, „Spuren Gottes? Substitute des Absoluten in der Reflexion der Moderne“, in: ders.: Transzendenz und Negativität (wie Anm. 1), S. 148–158.
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lässt sich daher im Kern als Aufklärungsprojekt verstehen. Diese Dimension der Thematik ist angesichts der weltpolitischen, inter- und transkulturellen und religiösen Umbruchsituation der Gegenwart besonders hervorzuheben. Es lässt sich zeigen, dass die systematische Verbindung von Transzendenz und Negativität, die die Philosophiegeschichte seit Beginn bis zur Gegenwart prägt, erst erkenntnis-, ontologie- und sprachkritisch ganz in die Reflexion eingeholt werden kann. Negative Theologie, die negative Transzendenzreflexion des Neuplatonismus, die Negativität der rationalen Mystik Europas, aber auch und insbesondere Asiens – diese großen Traditionen weisen auf transhistorische und transkulturelle Rationalitätspotenziale im Begreifen des Konnexes von Transzendenz und Negativität. Im Folgenden will ich die genannten methodischen Aspekte einer Reflexion der Konstitution der Transzendenz systematisch präzisieren und die Negativität, die Hermeneutik, die Konstitution, das Zentrum sowie kulturelle Paradigmen der Transzendenz genauer analysieren.10
II. Transzendenz und Negativität Ein erster entscheidender Schritt zur Explikation und Präzisierung eines Verständnisses, einer Hermeneutik von Aspekten und Dimensionen der Transzendenz und den mit ihr verbundenen Phänomenen besteht darin, die methodische Schwierigkeit eines solchen Verständnisses zu begreifen. Ich bezeichne diese Schwierigkeit auch als die Negativität der Transzendenzdimension. Was heißt das? Es lässt sich eine Gruppe von negativen Zügen feststellen, die durch Aspekte wie Unerkennbarkeit, Unverfügbarkeit, Unsagbarkeit und Entzogenheit charakterisiert sind. Diese Aspekte werden oft begleitet von solchen der Einmaligkeit, der Einzigkeit, der Plötzlichkeit. Die Negativität der Transzendenz lässt sich so präzisieren, dass Transzendenz dem Menschen entweder zu fern ist, um begreiflich und zugänglich zu sein, oder zu nah. Mit diesen absoluten Metaphern der Ferne und der Nähe (im Sinne der Metaphorologie Hans Blumenbergs)11 wird auch schon angezeigt, dass Transzendenz kein Objekt, kein Gegenstand ist, der isoliert thematisiert werden kann, sondern ein Verhältnis, eine Beziehung, eine Relation zwischen Menschen und den je sich zeigenden, sich eröffnenden Dimensionen
10 Vgl. zum Folgenden auch: Thomas Rentsch, „Aufklärung über Transzendenz – Anspruch der Philosophie“, in: Philosophisches Jahrbuch 2 (2010), S. 287–298. 11 Vgl. dazu Thomas Rentsch, „Thesen zur philosophischen Metaphorologie“, in: Anselm Haverkamp/Dirk Mende (Hg.), Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie, Frankfurt a.M. 2009, S. 137–152.
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von Transzendenz. Näherhin handelt es sich um eine Relation der Form: x steht zu y im Verhältnis der Transzendenz. Hinsichtlich der zu großen Ferne bzw. Nähe lassen sich als klassische Paradigmen der Nähe und Ferne die Transzendenz (und Negativität) der Selbsterkenntnis (Augustinus) und die Transzendenz (Negativität) der Welterkenntnis (Anselm) aufzeigen. Augustinus lehrt, dass Gott uns näher ist als wir uns selber sind. Die unverfügbaren Sinnbedingungen unserer selbst, unseres Seins sind uns durch ihre übergroße Nähe entzogen und unerkennbar. Anselm lehrt, dass über Gott hinaus Größeres nicht gedacht werden kann – diese Größe sprengt alle Erkenntnismöglichkeiten. In Kants Kritiken bleiben beide Transzendenzperspektiven erkenntniskritisch irreduzibel erhalten: Wir werden weder die Welt noch uns selbst je erkennend einholen, vergegenständlichen, objektivieren. Und das ist gut so: Denn diese Selbsttranszendenz und interexistenzielle Transzendenz ist sinnkonstitutiv. In ihr gründen Personalität, Freiheit und Würde. Ebenfalls werden wir nie das All des Seienden, den Kosmos erfassen, begreifen, weder mythisch noch wissenschaftlich, und wir werden nicht dahinter zurückgehen können, dass überhaupt etwas ist. Insofern leben wir aus und in und durch unverfügbare Sinnbedingungen, durch Transzendenzbezüge. An dieser Stelle beginnt nun allererst die Aufgabe, diese Bezüge selbst zu begreifen bzw. sich zu ihnen sinnvoll und angemessen zu verhalten. Denn die eben skizzierte Erkenntniskritik führt die negative Konsequenz mit sich, dass die in Nähe und Ferne verdeckten Transzendenzdimensionen unerkannt, unbeachtet, verdrängt, vergessen, übersprungen, scheinhaft vergegenständlicht und verdinglicht werden. Die Modi dieses Vergessens und Verdinglichens sind so vielschichtig wie das gesamte komplexe soziokulturelle Alltagsleben in Geschichte und Gegenwart einschließlich der jeweiligen Deutungssysteme in Mythos, Religion, Wissenschaft, Metaphysik und Philosophie, ebenso wie der Kampf gegen dieses Vergessen und Verdinglichen – von der Götzenpolemik des Propheten Jeremia und dem alttestamentlichen Bilderverbot über das Sokratische Nichtwissen und die negative Theologie bis zur Erkenntniskritik Kants und der modernen Sprachkritik. Um das Verhältnis dieser zentralen Aspekte unserer Thematik zu begreifen, ist es zunächst wichtig, einzusehen, dass das Vergessen und Vergegenständlichen der Transzendenzdimension in gewisser Weise selbst nötig und unvermeidlich ist: Stets vergegenständlichen wir uns wie auch die Anderen, nutzen Aspekte der interexistenziellen Transzendenz wie auch die der Welt, stets benutzen und instrumentalisieren wir die Sprache. Jedoch ist dies ersichtlich nur möglich auf der impliziten Basis der Transzendenzdimensionen. Es gilt: Die Verdecktheit und Implizitheit gehört wesentlich zu den Dimensionen der Transzendenz, kurz: Die Transzendenz ist in der Alltäglichkeit verborgen.
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III. Hermeneutik der Transzendenz Betrachten wir vor diesem Hintergrund wesentliche Dimensionen der Transzendenz genauer: die Transzendenz der Welt (des Seins), die interexistenzielle und die existenzielle Transzendenz, die Transzendenz der Sprache. Es stellt sich hier die systematische Kernfrage nach dem methodischen Status der Artikulationsformen und der Explikationssprache der Transzendenz. In diesem Zusammenhang ist das Verhältnis von Transzendenz und Negativität für eine Hermeneutik der Transzendenz von zentraler Bedeutung. Dieses Verhältnis bzw. diese Beziehung ist es, die die Konstitution von Sinn, die Eröffnung von Sinn allererst ermöglicht. Denn es ist die konstitutive Entzogenheit zum Beispiel der bzw. des Anderen wie auch meiner selbst, die Unmöglichkeit der Objektivierung näherhin des Individuellen, des Einzelnen, die den Raum der Freiheit, damit des Handelns und der Sprache eröffnet. Es ist gerade das Nichtwissen, das Unverfügbare, das Sinn konkret erschließt und eröffnet. Transzendenz meint so die vorgängige Eröffnung eines Sinnhorizonts, ein vorgängiges Sinngeschehen, sie meint keinen isolierbaren Gegenstand, sondern eine Relation. Wir müssen uns die vorgängige Sinneröffnung als ein Geschehen denken und vergegenwärtigen. Die Sinnraumeröffnung zum Beispiel durch die reale Räumlichkeit geschieht für unseren Leib und unsere Wahrnehmung, bevor wir konkrete Schritte vollziehen bzw. bevor wir einzelne Phänomene genauer wahrnehmen oder bevor wir Räume gestalten. Bevor wir in und mit der Zeit Unterscheidungen treffen, ist eine offene zeitliche Dimensionalität schon eröffnet. Das je einmalige, augenblickliche und situative Geschehen der Sinneröffnung geht allen faktischen Orientierungen schon voraus. Diese Vorgängigkeit wird im Blick auf die räumlich-zeitliche Transzendenzdimension ebenso sichtbar wie auch im Blick auf die Transzendenz des Logos, wie sie die Tradition immer wieder artikulierte. Wir bewegen uns im bereits unvordenklich lange eröffneten Sinnraum der Sprache. Er geht uns und allen unseren Selbstwerdungsprozessen voraus, nur in ihm und durch ihn können wir eigenständige sprachliche Sinnvollzüge praktizieren. Was ist neben ihrer Negativität für eine systematische Hermeneutik der Transzendenz methodisch noch zu berücksichtigen, um die Aufklärung ihrer Konstitution angemessen zu leisten? Wir müssen zunächst die interne Komplexität der Transzendenzdimensionen in all ihren Aspekten übersichtlich zu erfassen versuchen. Ich bezeichne bzw. überschreibe diese interne Komplexität mit Hegel auch als interne Unendlichkeit oder als unendliche Konkretion der Wirklichkeit (der menschlichen Welt). Wir müssen dann zweitens den Ort der Transzendenz in der humanen Welt genauer fassen. Hier sehe ich einen konstitutiven Bezug der Transzendenz zur Individuation, zur Individualität und zum principium individuationis. Zum ersten Punkt. Eine Hermeneutik der Transzendenz muss notwendig Tiefen-
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hermeneutik sein. Denn alle Formen der sprachlichen und praktischen Vergegenständlichung und Objektivierung setzen die freizulegenden Transzendenzdimensionen schon voraus. Eine Hermeneutik, die lediglich an der Oberfläche unserer Praxis und unserer Sprachpraxis bleibt, kann weder die sinnkonstitutive Bedeutung der Transzendenz der Welt (des Seins und aller möglichen Gegenstände), noch die der interexistenziellen und existenziellen Transzendenz erfassen und freilegen. Erst recht entzieht sich oberflächenhermeneutisch die Transzendenz der Sprache. Allerdings ist die Rede von der Tiefe selbst mit Vorsicht zu gebrauchen und zu verstehen, denn diese Tiefe ist mit Wittgensteins Formulierung ihrerseits an der Oberfläche verborgen. Um die Struktur der Transzendenz in ihrer sinnkonstitutiven Negativität inmitten der lebensweltlichen Praxis und Sprachpraxis genauer zu erfassen, müssen wir zunächst erkennen, dass unsere gesamte Orientierungspraxis (mit Heidegger formuliert) ekstatisch-zeitlich konstituiert ist.12 Wittgensteins Analyse des Regelfolgens und bereits Kierkegaards Analyse der Wiederholung zeigen, dass wir sprachliche Unterscheidungen und Sätze wiederholen können, und dass dieses lebensweltliche Basiskönnen unhintergehbar ist. Mit Kant können wir von der erkenntniskonstitutiven Synthesis a priori sprechen, die aber vorgängig ermöglicht ist, wenn wir einzelne Sätze formulieren, Unterscheidungen treffen, Prädikationen vollziehen. Wie Heidegger in seiner Kant-Interpretation herausarbeitet, vollzieht sich diese Synthesis als Transzendieren. Weder können wir die jeweils verwendete Regel der Sprache von der vorherigen Praxis – diese verdoppelnd – ablesen, noch können wir sie im Blick auf innere, subjektive Evidenzen monologisch kontrollieren, ohne sie selbst bereits zu verwenden. Weder Bedeutungssubjektivismus noch platonischer Bedeutungsobjektivismus können die lebensweltliche Sinnkonstitution klären oder gar erklären. Unser sprachliches Transzendieren weist auf eine sich uns eröffnende Transzendenzdimension von Sinn, die weder als subjektiv noch als objektiv begreifbar ist. Diese Transzendenzdimension, so können wir mit Wittgenstein formulieren, zeigt sich vielmehr am und im lebensweltlichen, alltäglichen Sprachgebrauch. Am Regelfolgen zeigt sich je und je die Offenheit und Unbestimmtheit dieser alltäglichen Sprachpraxis. Beim sprachlichen Regelfolgen ist es die mögliche, auch abweichende Wiederholbarkeit prädikativer Praxis durch verschiedene Individuen, die für diese Praxis sinnkonstitutiv ist. Das sprachliche Handeln lässt sich somit als freies Fortsetzen nicht-festlegender Anfänge begreifen, als Basis und Möglichkeitseröffnung des
12 Vgl. dazu Enders, Transzendenz und Welt (wie Anm. 9), S. 111–176; Thomas Rentsch, „Zeit, Sprache, Transzendenz – phänomenologische Analysen zu den Grenzen und zum Sinngrund menschlicher Praxis“, in: Rentsch, Transzendenz und Negativität (wie Anm. 1), S. 184–200.
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Verstehens wie des Missverstehens, des Interpretierens, des Abweichens oder des Konventionellen, des Wahren oder des Falschen, des Konservativismus wie der Emanzipation und Revolution. Die Offenheit und Unbestimmtheit der Sprachpraxis, die gleichwohl eröffnet und vorgezeichnet ist als Horizonteröffnung, lässt sich somit als ein Ursprungsort menschlicher Freiheit begreifen. Die sprachliche Transzendenzdimension eröffnet uns die Möglichkeit des je-situativen Transzendierens. Wir können uns verstehen als uns selbst je und je transzendierende Wesen, aber diese Freiheit ist nur möglich durch die eröffnete Transzendenzdimension der Sprache. Sprache ist Ort und Medium des spezifisch humanen Transzendierens. Sie gestattet es durch ihre vorgängige Erschlossenheit nicht nur, durch Referenz und Prädikation je Wirklichkeit gedanklich festzuhalten und zu überschreiten, abstrakt zu fixieren und sozial zu kommunizieren. Sie gestattet die intersubjektive Fortsetzung der Bedeutungsbildung und ermöglicht so die Kontinuität von Sinn, die Rückfrage und die innovative Sinnstiftung. Die so freigelegte kommunikative Selbsttranszendenz begründet alle genuin menschlichen Möglichkeiten des Behauptens von Wahrheitsansprüchen, der Technik und Wissenschaft, der Ethik, Ästhetik und Religion, die alle ohne die sinnkonstitutive, kommunikative Selbsttranszendenz des Menschen unmöglich wären. Die konstitutive systematische Verbindung von Transzendenz und Negativität reicht bis in die minimale Feinstruktur der Sprachpraxis hinein. Ich spreche hier vom Unableitbaren der Pause, eines leeren Moments in jedem Satz zwischen den einzelnen Worten, einem leeren Moment nach dem Punkt zwischen den Sätzen, je zwischen den Buchstaben. Beim Regelfolgen, beim sprachlichen Wiederholen im Blick nach vorne auf den Sinn des ganzen Satzes bzw. des Textes ist jeweils ein regelfreier Moment sinnkonstitutiv, den wir sprachlich oder gedanklich nicht fassen können bzw. der uns nicht auffällt, weil er (mit Heidegger) „das Nächste des Nahen“ ist. Strukturell gibt es bei aller humanen Sinnkonstitution im innersten Kernbereich einen blinden Fleck, der weder dem vergangenen Sinn, noch dem neuen, kommenden, innovativen Sinn zugehört. Bei der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Kleist) praktizieren wir ständig Brüche und Sprünge, die wir aber gar nicht eigens bemerken. Zugespitzt formuliert: Unser eigenes Transzendieren ist uns transzendent. Der stets nötige Sprung ist der freie, nicht vergegenständlichbare Akt, der aus der offenen Unbestimmtheit der Schwebe zur innovativ-vereindeutigenden Fortsetzung des Sprachgebrauchs führt. Der Augenblick des Übergangs ist dem Übergehen, dem Transzendieren, immanent und transzendent zugleich, so unverfügbar wie sinnkonstitutiv. Das menschliche Selbsttranszendieren in Sprache und Praxis kann sich nur zeitlich und endlich, leiblich-räumlich situiert und diskursiv vollziehen. Dieses Transzendieren verweist inmitten unserer alltäglichen Praxis auf einen nichtobjektivierbaren Grund. Dieser nicht-objektivierbare Grund als negative Voraus-
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setzung allen Sinns ist es, der sich in den genannten Transzendenzdimensionen jeweils zeigt: in der Transzendenz der Welt (und aller Gegenstände), in der Transzendenz der Sprache (und aller Worte und Sätze) und in der interpersonalen und personalen, der interexistenziellen und existenziellen Transzendenz. Wir gelangen an dieser Stelle unweigerlich an Grenzen der Sprache. Die philosophische, sinnkriteriale Transzendenzanalyse muss sich deshalb als formal-anzeigend (Heidegger) bzw. parasprachlich (erläuterungssprachlich) verstehen. Nur so, anzeigend-erläuternd, ist eine Konstitutionsanalyse der Transzendenz hermeneutisch möglich. Auch der Begriff des Transzendierens und der der Transzendenz haben diesen formalen Status, ebenso die Rede von Grenze und Grund. Entscheidend ist nun für eine Hermeneutik der Transzendenz und ihrer Negativität, dass die Transzendenzaspekte jeder menschlichen Lebenssituation formal-strukturell eignen, so verdeckt und verborgen sie auch in der Alltäglichkeit jeweils sein mögen. Jede mögliche menschliche Lebenssituation ist mir zugänglich und vorgängig erschlossen durch ihre Transzendenzaspekte. Diese Aspekte: dass die jeweilige Situation, mir erschlossen, überhaupt ist (einschließlich meiner eigenen Existenz), dass ich sie im Medium der Sprache erfassen, verstehen und begreifen kann, dass sich in der Situation das Verstehen und Handeln anderer Menschen vollzieht, und ich dieses Verstehen wiederum nachvollziehen und mit den anderen gemeinsam handeln kann – diese Aspekte sind mir unverfügbar, sie gehen meinem Verstehen und Handeln voraus, sie ermöglichen es. Und zwar ermöglichen sie es in ihrer Gleichursprünglichkeit, in ihrer irreduziblen Äquiprimordialität (Husserl). Die gleichursprüngliche Transzendenz in ihrer vorgängigen Entzogenheit (Negativität) erschließt, eröffnet und ermöglicht so je mein eigenes Transzendieren. Für dieses je eigene Transzendieren ist jeweils ein – ungesichertes – Vorgreifen auf Sinn und Verstehen konstitutiv. Das Prinzip Hoffnung ist lebenssinnkonstitutiv (Bloch).
IV. Die Konstitution der Transzendenz In diesem Zusammenhang können wir das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz formal-konstitutionsanalytisch genauer bestimmen. Die Anbindung der Transzendenzanalyse an eine Hermeneutik der Lebenswelt und der Alltagssprache zeigt bereits, dass ein dualistisches, dichotomisches Verständnis dieses Verhältnisses in die Irre führt. Wir können die Transzendenzaspekte, die Transzendenzdimension nicht von der alltäglichen Wirklichkeit abspalten und objektivieren. Vielmehr sind sie Aspekte inmitten der Wirklichkeit, aber in dieser verborgen bzw. verdeckt durch ihre Negativität. Ich kann die Transzendenz der Anderen
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nicht empirisch sehen. Auch in ihrem Gesicht nicht, wie Levinas meint, wenn ich nicht schon ein Vorverständnis ihrer Unverfügbarkeit und Nichtobjektivierbarkeit gewonnen habe. Wenn ich die Unverfügbarkeit der Anderen aber begriffen habe, dann zeigt sie sich mir in allen ihren Gesten, Vollzügen und Regungen. Ebenso bemerke ich die sinnkonstitutive Unverfügbarkeit der sprachlichen Situationserschlossenheit im praktischen Vollzug der Rede nicht, obwohl diese sinnkonstitutive Unverfügbarkeit meiner Rede und meinem Sprachverständnis vorausliegt und es mir ermöglicht – mitsamt allen Möglichkeiten des Abweichens und des freien, verantwortlichen Redens. Ich bemerke auch nicht die Entzogenheit und Nichtobjektivierbarkeit meiner selbst, die dennoch mein freies Handeln erschließt und ermöglicht. Die Formel von der Transzendenz inmitten der Immanenz versucht, dieses Zwischen, diese in der Alltäglichkeit verborgene transzendente Mitte unserer Praxis zu fassen. Näherhin lässt sich von sinnkonstitutiven Transzendenz-Aspekten bzw. Dimensionen sprechen. Die Transzendenz-Aspekte dürfen nicht als Objekte im Groß- bzw. Megaformat gedacht und verdinglicht werden. Sie zeigen sich implizit am und im Geschehen der Praxis, sind somit dynamisch-prozessual zu verstehen. So transzendiere ich im Horizont der situativen Erschlossenheit auf das Sein der Welt, dessen Prozessualität mich selbst hervorgehen lässt, ich transzendiere auf die unverfügbare Existenz der Anderen und meiner selbst. Es ist angemessen, die Transzendenz-Aspekte (mit Heidegger) als ekstatisch zu beschreiben, mit Husserl als gleichursprünglich. Nur im Horizont und Medium aller dieser Aspekte (des Seins der Welt, der Sprache, der Anderen und meiner selbst) lässt sich auch nur eine konkrete Lebenssituation verstehen, wie sie sich alltäglich (mitsamt unserem Handeln und Sprechen) ereignet. Die ekstatische Gleichursprünglichkeit und Relationalität (1.) und der damit verbundene intern differenzierte Holismus (2.) sind grundlegende Konstituentien der TranszendenzAspekte. Als weitere formale Konstituentien lassen sich freilegen: (3.) die schon aufgewiesene Dialektik von Nähe und Ferne aller Transzendenzdimensionen – beide sind traditionell gesprochen übergroß; (4.) damit verbunden komplexe Modi der Negativität: Alterität, Differenz, Kontingenz, Entzogenheit, Unverfügbarkeit; (5.) die sich insbesondere erkenntniskritisch ausbilden und präzisieren lassen als Nichtwissen, Unerkennbarkeit und Unsagbarkeit; (6.) schließlich das zentrale formale Konstituens des mit den Transzendenzaspekten verbundenen transpragmatischen, ungeschuldeten Sinns.13
13 Vgl. dazu Pirmin Stekeler-Weithofer, Sinn, Berlin/New York 2011.
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Die formale Struktur der als relational und gleichursprünglich verstehbaren Transzendenzdimensionen lässt sich demnach als sinnkonstitutive Negativität an der Basis des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses wie seines Verständnisses bestimmen. Dieser Bestimmung kommt aufgrund ihrer Formalität und ihres fundamental-anthropologischen Status (7.) eine systematisch transkulturelle Geltung zu, während die kulturellen Ausbildungen, Modifikationen und Gestaltungen sich unüberschaubar reich und komplex ausdifferenzieren.
V. Die Mitte der Transzendenz Bevor ich das kulturelle Reflexivwerden der Transzendenz thematisiere, will ich im folgenden Schritt zunächst versuchen, die Mitte bzw. das Zentrum der Transzendenzdimensionen formal und systematisch aufzuzeigen. Das aufgewiesene Zwischen des Weltbezuges, der sprachlichen Erschlossenheit wie auch der interexistenziellen und existenziellen Transzendenz ist bereits der metaphysische Titel für die fundamentalanthropologische sinnkonstitutive Negativität. Mitte und Zentrum dieses Zwischen, das ist die nächste These, sind je wir selbst – und dies ist wiederum nur verstehbar ohne vergegenständlichenden Subjektivismus, ohne Bewusstseinsphilosophie cartesianischer Prägung. Warum? Weil alle vergegenständlichenden Vor-stellungen dieses Zentrums das Zentrum in seiner nichtobjektivierbaren Transzendenz schon voraussetzen. Anders gesagt: Wir transzendieren uns bereits im Vollzug der Thematisierung bzw. Explikation dieses Zentrums, dieser Mitte, die wir nur in ihrer Entzogenheit, also nur negativ, begreifen können. Diese Mitte, dieses Zentrum, ist nur in seinem Sich-Entziehen je gegenwärtig. Hier setzen die Antinomien und Paradoxien der transzendentalen Selbstreflexivität ebenso an wie zum Beispiel Gilbert Ryles Analyse der systematic elusiveness of I, der systematischen Flüchtigkeit des Ich14 sowie Heideggers Analyse des ekstatisch-existenzialen Sich-vorwegseins.15 Hier hat nach meiner Auffassung auch die von Derrida analysierte Differenz im Verstehen der Schrift mit den von ihm extrem akzentuierten Phänomenen des Aufschubs und der Spur
14 Vgl. Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969. 15 Heidegger: Sein und Zeit (wie Anm. 5), S. 41; Enders: Transzendenz und Welt (wie Anm. 9), S. 117–176; Rentsch, Heidegger und Wittgenstein (wie Anm. 2), S. 201–237; Thomas Rentsch, „Zeitlichkeit und Alltäglichkeit“, in: ders. (Hg.), Martin Heidegger: Sein und Zeit (Reihe Klassiker Auslegen), 2. Aufl., Berlin 2007, S. 199–228.
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ihren wirklichen, im Wortsinn tatsächlichen Ort.16 Denn wir sind es jeweils, die im Lesen, im Hören, im Verstehensprozess auf unsere früheren Verständnisse zurückkommen, und dieser sinnentwerfende Rückgang ist der Ort von Innovation und Bruch wie auch von Formen der Kreativität in diesem Prozess. Die durch die gleichursprüngliche Relationalität der Transzendenzdimensionen erschlossene jeweilige Lebens- und Verstehenssituation hat als weiteres formales Konstituens eine je gegenwärtige Einzigkeit und Einzigartigkeit: Sie ist individuiert und nur durch je uns als einzigartige Individuen erfahrbar und verstehbar. Die sich entziehende Transzendenz des Augenblicks wurde in der Tradition der Philosophie immer wieder herausgestellt; ebenso die sinnkonstitutive Transzendenz der Individualität. Der Grundsatz Individuum est ineffabile zeigt diese Unsagbarkeit, die sich der Sprache konstitutiv entzieht, bereits in der traditionellen Ontologie und Erkenntnistheorie auf. Und in der Tat: In jedem Augenblick zeigt sich die unsagbare Einzigkeit und Einzigartigkeit der Wirklichkeit und der personalen Individualität dem Verstehen; nicht nur dem bewussten und wachen Verstehen, sondern auch dem Schlafenden, dem Träumenden. Die These vom Zentrum der Transzendenzdimensionen in der einzigartigen Individualität lässt sich philosophiegeschichtlich ontologisch und metaphysisch, erkenntniskritisch und bewusstseinsphilosophisch, transzendentalphilosophisch und sprachkritisch formuliert finden. Ihre erste große Ausformung findet sich bereits in Aristoteles’ Analyse des Status der proté ousia. Hier scheint mir von Aristoteles eine ontologische Differenzierung erstmals akzentuiert zu werden, der in der Folge durch die Anknüpfung an die deutera ousia und ihre substanzontologische bzw. prädikationslogische Struktur systematisch viel zu wenig Beachtung gewidmet wurde. An dieser Stelle ist ontologiegeschichtlich der Ursprung des zu wenig beachteten Grundsatzes: Individuum est ineffabile, der Unaussagbarkeit und prädikativen Unerfassbarkeit des Individuellen. Mit Heidegger formuliert geht dieses Sein des Seienden, das Dass jedes unsagbaren Individuums allen seinen ontischen, prädikativen Bestimmungen ontologisch konstitutiv voraus. Da nur wir erfahrenden, erkennenden, selbstbewussten, sprachfähigen, im und durch den logos lebenden Individuen – die Menschen, sich selbst bewusst als Individuen begreifen können, lässt sich das formale Konstituens der je gegenwärtigen Individuation in jeder Lebens- und Verstehenssituation in seiner Transzendenz mitsamt seiner Negativität, der sprachlichen Ineffabilität, als Zentrum und Mitte, als Bedingung der
16 Vgl. dazu Thomas Rentsch, „Religion und Philosophie“, in: ders, Transzendenz und Negativität (wie Anm. 1), S. 289–308.
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Möglichkeit der Erfahrbarkeit und Erkennbarkeit aller anderen Transzendenzdimensionen auszeichnen. Die Individualität ist der nicht objektivierbare Grund aller unserer Objektivierungen, unserer Handlungen, unserer Sprachhandlungen und Sinnentwürfe. Sie ist das Zentrum der Horizonteröffnung der Transzendenzdimensionen einer menschlichen Welt, in der die transindividuelle Transzendenz der Welt, die transindividuelle Transzendenz der Sprache, die interindividuelle Transzendenz der Intersubjektivität, besser: der Interexistenzialität17 und die intraindividuelle Transzendenz gleichursprünglich miterschlossen sind. Nur je in individueller und individuierter Erfahrung kann sich diese Horizonteröffnung konkret ereignen. Aber das galt und gilt für jeden Menschen und alle Lebenssituationen. Die existenzielle Zentriertheit darf daher keinesfalls subjektivistisch oder positivistisch missverstanden werden. Der dynamische Prozess der Sinneröffnung im Medium der Transzendenzdimensionen ist primär nur transsubjektiv und intersubjektiv zu verstehen. Nur so werden auch die üblichen, konventionellen Verständnisse von Objektivität und Subjektivität ermöglicht. Die Transzendenz der Welt übersteigt und ermöglicht bis in die physische Materialität jeder Lebenssituation hinein allererst jede individuelle, konkrete Erfahrung und Erkenntnis. Diese Dimension lässt sich auch als der tiefere Sinn des partiellen Wahrheitsanspruches des Empirismus und der Kantschen Formulierung von der Angewiesenheit auf die Sinnlichkeit verstehen. Die Transzendenz des Logos, der Sprache übersteigt und ermöglicht, erschließt jede einzelne Äußerung und jeden konkreten Verstehensvollzug in der Lebenspraxis. An dieser Stelle können wir den partiellen Wahrheits- und Geltungsanspruch des Rationalismus, der kategorialen, begrifflichen Formung unseres Welt- und Selbstverständnisses verorten. Aber nur im Zusammenspiel und im Horizont der interexistenziellen Transzendenz eröffnet sich die Wirklichkeit der konkreten menschlichen Sprach- und Handlungswelt. Inmitten dieser Transzendenzdimensionen wird die individuelle Transzendenz in ihrer Unverfügbarkeit ermöglicht und erschlossen, von ihr aus wird jede konkrete, augenblickliche, gegenwärtige, wirkliche Sinnerfahrung in ihrer Einzigkeit und Einmaligkeit ermöglicht und erschlossen. Aber die individuelle Transzendenz ist nicht objektivierbar, prädikativ nicht erfassbar; sie geht uns und aller unserer Praxis sinnkonstitutiv voraus, und nur so können wir sie dynamisch-prozessual weitergestalten und entwickeln.
17 Vgl. dazu Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralität, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1999, S. 218–269.
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VI. Kulturelle Paradigmen der Transzendenz Mit diesem Schritt können wir die formal-konstitutionsanalytische Skizze einer Architektonik der Transzendenz vorerst abschließen. Betont seien noch einmal die zentralen Konstitutionsaspekte der Gleichursprünglichkeit, die den primären Holismus der menschlichen Lebenssituationen ermöglicht wie auch der Aspekt der Negativität, der alle Transzendenzdimensionen in vielen Modi ermöglicht. Um auf dieser Grundlage Ansätze zu einer kulturellen Hermeneutik der Transzendenz zu entwickeln, müssen wir die transkulturelle Konstitutionsanalyse verlassen und uns materialen, kulturellen Modi des Transzendenzbezuges paradigmatisch zuwenden. Kurz gesagt, lässt sich die menschliche Kulturgeschichte, die Geschichte der humanen Welt als das Reflexivwerden der Transzendenzdimensionen begreifen. Ein großes erstes Modell dieser Einsicht ist Hegels Transformation der statischen Transzendentalphilosophie Kants in eine dynamischprozessuale Dialektik der kulturellen Sinnkonstitution, zunächst in der Jenaer Realphilosophie, dann in der Phänomenologie des Geistes, schließlich wiederum geltungslogisch in der Wissenschaft der Logik. In einer sprachkritischen Weiterentwicklung dieses Modells, die mit Wittgenstein davon ausgeht, dass wir weder eine sprachunabhängige Ontologie noch eine sprachunabhängige Bewusstseinsphilosophie oder Erkenntnistheorie kriterial zur Verfügung haben, können wir kulturphilosophisch Paradigmen der Transzendenz aufweisen, die sich als kulturell reflexiv gewordene, materiale Modi der formal aufgezeigten Transzendenzdimensionen verstehen lassen.
VI.1 Mythische Transzendenz Frühe menschheitsgeschichtliche Paradigmen der Transzendenz sind zum Beispiel die Mythen mit ihrer narrativen Vergegenwärtigung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses in seiner Ganzheit und seinem Werden, seiner Binnenstruktur und Sinnhaftigkeit, aber auch seiner Kontingenz und Gefährdung. So vergegenwärtigen die sumerischen und mesopotamischen Mythen narrativ die Weltentstehung und den sinnhaften Aufbau des Kosmos mit dem Weltmittelpunkt, dem Wohnort der Menschen, mit dem Göttlichen in der Höhe und dem Abgrund des Totenreichs unter der bewohnten Welt.18 Die reflexiv gewordenen, versprachlichten Transzendenzdimensionen sind keine geografischen Orte,
18 Vgl. dazu Thomas Rentsch: „Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht“, in: Rentsch, Transzendenz und Negativität (wie Anm. 1), S. 409–422.
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sondern sie bilden eine existenzielle Landkarte, eine Architektur der lebenssinnbezogenen Geltungshorizonte. Die frühen mythischen Beispiele zeigen, dass seit Beginn der kulturell reflexiv werdenden Menschheitsgeschichte die Transzendenzverständnisse im Zentrum der menschlichen Selbstvergewisserung stehen. Ohne sie ist die jeweilige soziokulturelle Vergegenwärtigung des sinnhaften Aufbaus der menschlichen Welt jahrtausendelang nicht denkbar gewesen.
VI.2 Philosophische Transzendenz Betrachten wir nun den Weg der okzidentalen Rationalität vor diesem Hintergrund paradigmatisch, so lassen sich im Prozess der Ausdifferenzierung insbesondere theoretische, praktische, ästhetische und religiöse Paradigmen der Transzendenz im kulturellen Reflexivwerden aufzeigen. Eine erste materiale Ausprägung ist zweifellos die Philosophie selbst, insbesondere seit der Vorsokratik als Vergegenwärtigung des kosmischen Transzendenzbezuges bei Parmenides und Heraklit und dann im Weltentwurf Platons und in der Metaphysik des Aristoteles. Sie ist im Kern Transzendenzreflexion und bleibt es auch bis heute, auch und gerade nach der erkenntnis- und sprachkritischen Wende. So konnte Heidegger mitten im vorigen Jahrhundert an die Vorsokratiker anknüpfen, so knüpft zum Beispiel Theunissen gegenwärtig an die Entwürfe Pindars an.19 Die Grundfragen der Philosophie: Was ist Sein, was Wesen? Warum ist etwas und nicht nichts? Wer sind wir? Was ist der Sinn des Seins? – sie bleiben erhalten und weisen von Beginn an in die reflexiv gewordenen Transzendenzdimensionen. Auch die Ausdifferenzierung der Wissenschaften in der späteren Entwicklung der okzidentalen Rationalitätsgeschichte bleibt im Fragen, Forschen und Untersuchen zumindest indirekt auch der ganzheitlichen Theoria-Konzeption der Antike verbunden. Vorgestalten der modernen Atomtheorien wie der modernen Kosmologien finden sich in der antiken Philosophie ebenso wie Vorgestalten der modernen Sozial- und Kulturwissenschaften. Sie sind ohne das Reflexivwerden der Transzendenzdimensionen nicht denkbar und nicht verstehbar. In welcher Welt leben wir eigentlich? Diese Grundfrage bleibt leitend. Der metaphysische Transzendenzbezug ist dabei von Beginn an mit dem Bewusstsein der Negativität und der Unverfügbarkeit verbunden, was sich besonders eindrucksvoll an Sokrates und seiner Konzeption des Nichtwissens zeigen lässt. Philosophie ist im Kern reflexiv werdender Transzendenzbezug, wenn sie sich als Sinngrenzreflexion und
19 Michael Theunissen, Pindar: Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000.
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als Sinngrundreflexion entfaltet, und dies gerade im Bewusstsein des Nichtwissens, des Nichterkennbaren und der Endlichkeit unserer Erkenntnis. Platon entfaltet die Transzendenzdimension als Ideenlehre in etwa fünf verschiedenen Versionen im Zentrum seiner Philosophie. Von dieser Systematik an ist bereits eine mögliche Verbindung des philosophischen Reflexivwerdens von Transzendenz mit spezifisch religiösen kulturellen Praxen tief angelegt, wie sie sich später insbesondere in der Verbindung des Neuplatonismus mit dem Christentum und der entstehenden Theologie herausbildet. Explizit entfaltet sich die Transzendenzreflexion vor allem in der Transzendentalienlehre des Hochmittelalters – ens et unum, verum, bonum et pulchrum convertuntur. Es wird hier sehr deutlich sichtbar, dass sich die Metaphysik im Kern keineswegs als vornaturwissenschaftliche Quasi-Physik verstehen lässt, sondern als Grammatik der Lebenswelt und existenzbezogene Ethik. Daher ist der genuin praktische Sinn und Geltungsstatus, den die Metaphysik bei Kant wieder zurückgewinnt, in ihrer Geschichte viel früher angelegt. Ins Zentrum der kulturell reflexiv werdenden Transzendenzdimensionen rückt in der Genesis der okzidentalen Rationalität die praktische, moralische, existenziell-ethische Transzendenz, deren Sinn und Geltung einerseits mit der antiken Philosophie, andererseits mit der jüdisch-christlichen Tradition verbunden ist. Die platonische Ideenlehre, der stoische Universalismus der Menschheit und die Botschaft von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus gehen ein in den praktischen Geltungssinn der Lehre von der Unbedingtheit der personalen Würde jedes einzelnen, einzigartigen menschlichen Individuums. Diese Reflexivwerdung der unverfügbaren Transzendenz der individuellen Existenz in ihrer praktischen Bedeutung wurde daher von Hegel zurecht als entscheidender Wendepunkt der von ihm rekonstruierten Weltgeschichte herausgearbeitet. Die unbedingte personale Würde des je einzigartigen menschlichen Individuums ist das zentrale Paradigma der Transzendenz der europäischen Vernunftgeschichte, von dem her sich insbesondere alle späteren Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen, die Naturrechtstheorie, die Amerikanische und Französische Revolution, die Sklavenbefreiung, die Frauenbewegung verstehen lassen. Das heißt: Das praktische Paradigma der Transzendenz hat politische und soziale Implikationen. Es impliziert mit den formal-konstitutiven Transzendenzparadigmen der Unverfügbarkeit der Personalität, der Transzendenz des Logos (der Sprache, der Vernunft) und der interexistenziellen Transzendenz das Transzendenzparadigma der Freiheit, der Selbstbestimmung, der Autonomie. An dieser Stelle verbinden sich in der okzidentalen Vernunftgeschichte ganz zentral Transzendenz und Gemeinsinn. Der sensus communis ist der praktische Geltungssinn, in dessen Medium die personale Individualität sich sprachlich und handelnd frei entfalten und entwickeln, mit Hegel: zu sich selbst kommen kann, durch Prozesse der interexistenziellen Transzendenz in praktischer, sozialer, näherhin politischer,
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rechtlicher, wissenschaftlicher Konkretion, in Modi der Kommunikation, der Achtung und Anerkennung, der Dialogizität und Streitkultur, in Modi der Erziehung und Bildung, Hilfe und Heilung, der Pflege, der Verrechtlichung. Die Basis aller dieser Kulturleistungen ist der praktische Geltungssinn des Transzendenzparadigmas: Personale Menschenwürde des einzigartigen Individuums in seiner Freiheit und Selbstbestimmung, kurz: die praktische, ethische Transzendenz. Das schließt im Übrigen ein, dass letztlich alle anderen Begründungsbemühungen für diese Tiefendimension der praktischen Transzendenz – seien sie empirisch, funktional, utilitaristisch – im Kern und im Wesen zum Scheitern verurteilt sind und sein werden, und ebenso, dass alle solchen Widerlegungsversuche – seien sie neurobiologisch oder sonst deterministisch – ebenso scheitern müssen, denn alle diese Versuche können die praktische Transzendenzdimension gar nicht erst erreichen. Dies ist für die Gegenwartsdiskussion und für zu erwartende Kontroversen von nicht geringer Tragweite. Emphatisch gesprochen wäre die praktische Transzendenzdimension mit ihren Aspekten der unsagbaren Einzigartigkeit und der objektivistisch-empirisch unerreichbaren Freiheit der Entwurfspraxis gerade im Blick auf ihre Negativität „seinsgeschichtlich“ die Basis einer humanen Welt und Vernunftkultur und die eigentlich relevante ontologische Differenz.
VI.3 Ästhetische Transzendenz Ein weiteres zentrales Paradigma der Transzendenz ist kulturell reflexiv in den Modi der Schönheit, der Erhabenheit in Kunst und Natur gegeben, als ästhetische Transzendenz. Ich deute dieses Paradigma, das auch transkulturell aufweisbar ist, hier nur an. An ihm, wie aber auch bereits am Paradigma der praktischen Transzendenz wird im Übrigen deutlich, wie diese Paradigmen mit ihren defizienten Modi verschränkt sind. Ebenso, wie die Transzendenzdimensionen in der Alltäglichkeit verdeckt und verborgen sein können, so sind sie auch verletzlich, destruierbar, depotenzierbar. So ist die Würde sinnkonstitutiv verbunden mit den Modi der Demütigung, die Schönheit mit dem Hässlichen, das Erhabene mit dem Niedrigen. Auch diese Dialektik der Transzendenz ist sinnkonstitutiv, und wie eine jeweilige Kultur das Reflexivwerden der Transzendenzaspekte gestaltet, ist im Spektrum einer solchen Dialektik offen. Negativität, Defizienz, Destruktion können in hohem, intensivem Maße reflexiv werden, eine Ästhetik des Hässlichen ist ebenso durch die Tiefendimension der Transzendenz des Schönen konstituiert wie zum Beispiel ein Bewusstsein des Fehls, des Schwundes, der Abwesenheit oder des Todes Gottes vom Bewusstsein der von Gott erfüllten Gegenwart.
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VI.4 Religiöse Transzendenz Damit komme ich zu einem letzten Paradigma, der religiösen Transzendenz. Auch sie kann sich soziokulturell außergewöhnlich vielgestaltig ausbilden. Ein zentraler Modus ist hier sicher das Heilige in seinen schon von Rudolf Otto herausgearbeiteten Modi, die wiederum auf die Dialektik der Transzendenz verweisen: als mysterium tremendum et fascinosum. Wichtig ist für unseren systematischen, hermeneutischen Klärungszusammenhang, dass wir das Spezifische religiöser, polytheistischer, theistischer, christlicher, mystischer und zum Beispiel buddhistischer Transzendenzentwürfe und Transzendenzbezüge ausdifferenziert begreifen und von den anderen Paradigmen unterscheiden. Denn dann erst kann es phänomenologisch und hermeneutisch gelingen, die jeweilige innige Verflochtenheit der theoretischen, der praktischen, der ästhetischen und der religiösen Paradigmen der Transzendenz in ihrer Binnendifferenziertheit exemplarisch aufzuzeigen: zum Beispiel im Kirchenbau, in der geistlichen Musik, in der Meditationspraxis, in philosophischer Reflexion, in der Dichtung, aber eben auch im Recht, in der Politik und in den Wissenschaften. Letzte Basis und letzter Bezug bleibt dabei stets die Ebene der lebensweltlichen Alltäglichkeit (und damit der sensus communis).
VII. Fazit und Ausblick Aufgabe der Philosophie ist in unserem Kontext Aufklärung über Transzendenz. Dieses Aufklärungsprojekt stand im Zentrum der Philosophie seit ihrem Beginn, exemplarisch bei Platon. Eine vorschnelle Verbindung der Transzendenzthematik mit Religion und Theologie ist daher verfehlt. Vielmehr muss philosophischanthropologisch und phänomenologisch eine kritische Hermeneutik der Transzendenz in ihrer ganzen Komplexität entwickelt werden. Auf dem Wege der soeben skizzierten Transzendenzreflexion lassen sich auch gegenwärtig wichtige Ansätze der Religionsphilosophie, der philosophischen Theologie und der Thematisierung von Transzendenz kritisch-rekonstruktiv beurteilen. Das gilt sowohl für affirmative und apologetische wie auch für religionskritisch-destruktive Positionen. So lässt sich Sloterdijks Analyse der Transzendenz20 als reduktionistisch und destruktiv kritisieren, wenn sie Trans-
20 Peter Sloterdijk, Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt a.M./Leipzig 2007.
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zendenz als biologisch depotenzierbar erklärt, während die Transzendenzaspekte, die nach Sloterdijk so nicht depotenzierbar sind – eine überragende Intelligenz, der Ort der Toten, lebensbedeutsame Botschaften – archaisch, heterogen bzw. trivial anmuten. Auf dieser Basis aber entwirft Sloterdijk das Horrorszenario des (mit Assmann) „polemogenen“ Monotheismus, ohne die Vernunftpotenziale der Religionen und der okzidentalen Transzendenzreflexion zu erkennen.21 Auch die – im Übrigen sehr anspruchsvolle – von Ulrich Beck entworfene Subjektivierung des Religiösen verkennt gerade die Universalität der Transzendenzdimensionen für jede menschliche Welt.22 Auch Agambens machtpolitisch-bürokratische Interpretation der Engellehre verdrängt die aufklärend-emanzipatorischen Potenziale sowohl der negativen Theologie wie auch der Angelologie.23 Demgegenüber zeigen die komplexen Untersuchungen von Haas zur rationalen Mystik ebendiese Potenziale in deren sinnkritischen Grenzreflexionen zur Transzendenz auf.24 Ernst Tugendhat entwickelt in den letzten Jahren entsprechend produktive fundamentalanthropologische Interpretationen der mystischen Transzendenzreflexion Meister Eckharts und bezieht dabei zu Recht Heidegger und Wittgenstein ein.25 Solchen kritisch-konstruktiven Ansätzen steht zum Beispiel Lorenz B. Puntels philosophische Theologie gegenüber, die theoretisch-dogmatisch alle ontologie-, erkenntnis- und sprachkritisch relevanten Ansätze zurückweist, um so eine rein theoretische Onto-Theologie – explizit ohne jeglichen Lebens- und Praxisbezug – systematisch zu entwickeln. Eine solche Systematik verkennt und verfehlt gerade den spannenden Kern und das wesentliche Zentrum einer kritischen Transzendenzreflexion: die sinnkonstitutive Gleichursprünglichkeit der Transzendenzdimensionen mit unserem eigenen Transzendieren. Und dieses
21 Vgl. dazu Thomas Rentsch, „Gott, Religion, Mystik – was leisten postsäkulare Ansätze?“ in: Philosophische Rundschau 55 (2008), S. 189–208, hier S. 189–193. 22 Ulrich Beck, Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt a.M./Leipzig 2008; vgl. dazu Rentsch, „Gott, Religion, Mystik – was leisten postsäkulare Ansätze“, in: Philosophische Rundschau 3 (2008), S. 194–199. 23 Giorgio Agamben, Die Beamten des Himmels. Über Engel, Frankfurt a.M./Leipzig 2007; vgl. dazu Rentsch, „Gott, Religion, Mystik“ (wie Anm. 23), S. 199–202, sowie Thomas Rentsch, Artikel „Theologie, negative“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1102–1105, und Dirk Westerkamp, Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie, München 2006; vgl. dazu die Rezension von Thomas Rentsch in: Theologische Literaturzeitung 133 (2008), S. 196–198. 24 Alois M. Haas, Mystik als Aussage: Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt a.M./Leipzig 2007; dazu Rentsch, „Gott, Religion, Mystik“ (wie Anm. 23), S. 202–204. 25 Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, 2. Aufl., München 2006; vgl. dazu Rentsch, „Gott, Religion, Mystik“ (wie Anm. 23), S. 204–206.
Transzendenz – Konstitution und Reflexion
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Transzendieren ist nie unabhängig von seinen sozialen, kulturellen und lebenspraktischen Kontexten zu begreifen.26 Auch Charles Taylors in vieler Hinsicht bahnbrechende und grundlegende Beiträge zur Rekonstruktion der Entstehung des modernen Selbst und der säkularen Welt weisen im Blick auf die Transzendenzreflexion Defizite auf. In seinem neuen Hauptwerk A Secular Age27 ist – bei aller Subtilität der Analyse – letztlich eine statische, onto-theologische Transzendenzkategorie leitend, die wie eine transhistorische Konstante der geschlossenen Immanenz gegenübersteht. Wie in der geschlossenen Immanenz eine Öffnung zur absoluten Transzendenz für den Menschen möglich ist, wird nicht weiter geklärt. Konstitution und Reflexion von Transzendenz müssen aber kritisch-hermeneutisch in ihrem Verhältnis geklärt werden. Die Religionsphilosophie von Hermann Deuser zum Beispiel versucht eine solche Klärung durch eine prozess-theologische Rekonstruktion der Religionsgeschichte unter Rekurs auf die evolutionäre Metaphysik von Peirce.28 Auch Hans Julius Schneiders Ansatz bei dem kommunikativen Lebens- und Praxisbezug von Religionen, in denen es darum geht, angesichts der Transzendenzdimensionen eine „wahrhaftige Einstellung zum Leben im Ganzen“ zu gewinnen, führt produktiv weiter.29 Meine Analysen zur Konstitution und Reflexion von Transzendenz sollen in der Perspektive einer kritischen Hermeneutik verhindern, dass ontologische Prämissen ungeklärt zur Voraussetzung einer Religionsphilosophie oder philoso-
26 Lorenz B. Puntel, Struktur und Sein. Ein Theorierahmen für eine systematische Philosophie, Tübingen 2006; Lorenz B. Puntel, Sein und Gott. Ein systematischer Ansatz in Auseinandersetzung mit M. Heidegger, É. Lévinas und J.-L. Marion, Tübingen 2010; vgl. dazu Thomas Rentsch, „Eine ‚theory of everything‘?“ in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011), S. 323–342. 27 Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge/London 2007, dt. Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a.M. 2009; vgl. dazu Thomas Rentsch, „Transzendenz und Moderne, Religion und Philosophie. Kritische Bemerkungen zu Charles Taylors A Secular Age“, in: Michael Kühnlein (Hg.), Kommunitarismus und Religion, Berlin 2010, S. 243–249 sowie Thomas Rentsch, „Wie ist Transzendenz zu denken? Kritische Thesen zu Charles Taylors Säkularisierungskonzept“, in: Michael Kühnlein/Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Berlin 2011, S. 573–598. Vgl. die Entgegensetzungen von Taylor im selben Band (S. 829, 843, 846, 850). 28 Hermann Deuser, Religionsphilosophie, Berlin/New York 2009; vgl. dazu die Rezension von Thomas Rentsch in: Göttingische Gelehrte Anzeigen (2010), Nr. 1/2, S. 63–72. 29 Hans Julius Schneider, Religion, Berlin/New York 2008; dazu Thomas Rentsch, „Was ist spezifisch religiöse Transzendenz? Kritische Bemerkungen zu Hans Julius Schneider Religion“, in: Stefan Tolksdorf/Holm Tetens (Hg.), In Sprachspiele verstrickt oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt, Berlin/New York, S. 339–346 sowie Hans Julius Schneiders Entgegnungen im selben Band, S. 536–540, S. 542, S. 548.
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phischen Theologie werden. Ebenso sollen sie – ander als ideologiekritische und naturalistisch-reduktionistische Ansätze – die Transzendenzdimensionen der humanen Welt nicht von vornherein verfehlen. Um den Transzendenzbegriff und das Gottesverständnis zu klären, ist an die philosophisch-theologische europäische Vernunfttradition auf dem Niveau der Gegenwartsdiskussion mit Einbezug der Ideologie-, Ontologie-, Sprach- und Religionskritik systematisch anzuschließen, insbesondere durch kritische Sinngrenzanalysen, wie sie paradigmatisch Kant und Hegel, Heidegger und Wittgenstein durchgeführt haben. Eine kritische Vernunftreflexion der Konstitution der Transzendenz muss auf der Basis einer systematisch geklärten philosophischen Anthropologie und praktischer Philosophie erfolgen sowie die Sprachkritik und kritische Hermeneutik der Moderne a primis fundamentis einbeziehen. So wird die Transzendenzreflexion methodologisch auf die gesamte philosophische Grundlagenreflexion systematisch zurückbezogen. Insbesondere das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz in ihrer Dialektik kann keineswegs fraglos gesetzt werden, sondern verlangt nach immer neuer, auch interreligiöser, interkultureller Klärung – gerade angesichts der weltpolitischen Umbrüche der Gegenwart.
Über die Autorinnen und Autoren Andenna, Cristina, Dr. phil., ist Ricercatore an der Università degli studi della Basilicata (zurzeit beurlaubt), wissenschaftliche Koordinatorin der Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte (FOVOG) an der TU Dresden und Leiterin des Projekts „Dynastie, Idoneität und Transzendenz. Vergleichende Untersuchungen zum hohen und späten Mittelalter“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Gli ordini ‚nuovi‘ come ‚instrumenta regni‘. Linee di continuità e cambiamenti di una politica monastica?, in: Pasquale Cordasco/Francesco Violante (Hg.), Un Regno nell’impero. I caratteri originari del regno normanno nell’età sveva. Persistenze e differenze (1194–1250), Bari 2010, S. 195–268; „Kanoniker sind Gott für das ganze Volk verantwortlich“. Die Regularkanoniker Italiens und die Kirche im 12. Jahrhundert (Schriftenreihe der Akademie der Augustiner Chorherren von Windesheim 9), Paring 2004; ‚Mortariensis Ecclesia‘. Una congregazione di canonici regolari in Italia settentrionale tra XI e XII secolo (Vita regularis. Abhandlungen 32), Münster 2007. Hänseroth, Thomas, Dr. rer. oec., ist Professor für Technikgeschichte und Technikwissenschaftsgeschichte an der TU Dresden und Leiter des Projekts „Das Fortschrittsversprechen von Technik und die Altruismusbehauptung der Ingenieure in der technokratischen Hochmoderne (ca. 1880–1970)“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Transzendierungen von Wissenschaft und Technik im Systemwettstreit: Innovationskulturen im deutsch-deutschen Vergleich, in: (Hg., mit Uwe Fraunholz) Ungleiche Pfade? Innovationskulturen im deutsch-deutschen Vergleich, Münster u.a. 2012; On the Path to Technical Design – DFG-Funded Research in Mechanical Engineering 1920–1970, in: Mark Walker et al. (Hg.), The German Research Foundation 1920–1970, Stuttgart/New York 2013. Häusl, Maria, Dr. theol., ist Professorin für Biblische Theologie (katholisch) an der TU Dresden und Leiterin des Projekts „Trennung und Öffnung. Alttestamentliche Diskurse um die Konstituierung des nachexilischen Israel“ des SFB 804. Veröffentlichungen: (Hg., mit Gerlinde Baumann/Susanne Gillmayr-Bucher/Dirk Human) Zugänge zum Fremden. Methodisch hermeneutische Perspektiven zu einem biblischen Thema, Frankfurt a.M. 2012; Andere, Fremde, Feinde im Buch Esra/Nehemia, in: Norbert Clemens Baumgart/Martin Nitsche (Hg.), Gewalt im Spiegel alttestamentlicher Texte, Würzburg 2012, S. 97–122; (Hg.) Tochter Zion auf dem Weg zum himmlischen Jerusalem. Rezeptionslinien der „Stadtfrau Jerusalem“ von den späten alttestamentlichen Texten bis zu den Werken der Kirchenväter, Leipzig 2011.
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Über die Autorinnen und Autoren
Jehne, Martin, Dr. phil., ist Professor für Alte Geschichte an der TU Dresden und Leiter des Projekts „Die Investition eigener Ressourcen in die Gemeinschaft von der mittleren Republik bis in die hohe Kaiserzeit“ des SFB 804. Veröffentlichungen: (Hg., mit Hans Beck/Antonio Duplá/Francisco Pina Polo), Consuls and res publica. Holding High Office in the Roman Republic, Cambridge 2011; Der große Trend, der kleine Sachzwang und das handelnde Individuum. Caesars Entscheidungen, München 2009; Caesar, 4. Aufl. München 2008. Klein, Bruno, Dr. phil., ist Professor für Christliche Kunst der Spätantike und des Mittelalters an der TU Dresden, Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und Leiter des Projekts „Die Kirche als Baustelle. Großstädtische Sakralbauten im Mittelalter“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Gotik. Bildkultur des Mittelalters 1140–1500, Potsdam 2012; (Hg.) Werkmeister der Spätgotik, 2 Bde. Darmstadt 2009/10; (Hg.) Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 3: Gotik, München/Berlin 2007. Klinghardt, Matthias, Dr. theol., ist Professor für Biblische Theologie (evangelisch) an der TU Dresden und Leiter des Projekts „Mahl und Kanon. Gemeinschaftsbildung im frühen Christentum“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern, Tübingen 1996. Lenz, Karl, Dr. phil., ist Professor für Mikrosoziologie an der TU Dresden, Prorektor für Universitätsplanung, Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Qualitätsanalyse an dieser Universität und Leiter des Projekts „Transzendenz und Gemeinsinn in privaten Lebensformen“ des SFB 804. Veröffentlichungen: (mit Robert Hettlage) Projekt Deutschland. Zwischenbilanz nach zwei Jahrzehnten, München 2013; (mit Marina Adler) Geschlechterbeziehungen. Einführung in die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung, Band 2, Weinheim/München 2011; (Hg., mit Frank Nestmann), Handbuch Persönlicher Beziehungen, Weinheim 2009. Lippert, Hans-Georg, Dr.-Ing., ist Professor für Baugeschichte an der TU Dresden und Leiter des Projekts „Das Planbare und das Unverfügbare. Modelle von Transzendenz und Gemeinsinn in Architektur und Städtebau im 20. Jahrhundert“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Historismus und Kulturkritik, Der Kölner Dom 1920– 1960 (Studien zum Kölner Dom 7), Köln 2001; Klassisches Erbe. Zum Begriff der Nationalen Tradition in der frühen DDR, in: (Hg., mit Kai Krauskopf) Neue Tradition – Konzepte einer antimodernen Moderne in Deutschland von 1920 – 1960. Dresden 2009; Rivalen des Schöpfers. Der Architekt als Weltbaumeister, in: (Hg.,
Über die Autorinnen und Autoren
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mit Anke Köth/Andreas Schwarting) un|planbar 1. Weltbaumeister und Ingenieur: Der Architekt als Rivale des Schöpfers, Dresden 2012. Melville, Gert, Dr. phil., ist Seniorprofessor für Mittelalterliche Geschichte an der TU Dresden, Direktor der „Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte“ (FOVOG), Mitglied des „Pontificio Comitato di Scienze Storiche“ und Leiter des Projekts „Dynastie, Idoneität und Transzendenz. Vergleichende Untersuchungen zum hohen und späten Mittelalter“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Die Welt der mittelalterlichen Klöster. Geschichte und Lebensformen, München 2012; (Hg.) Enzyklopädie des Mittelalters, 2 Bde., Darmstadt 2008; Vorfahren und Vorgänger. Spätmittelalterliche Genealogien als dynastische Legitimation zur Herrschaft, in: Peter-Johannes Schuler (Hg.), Die Familie als sozialer und historischer Verband, Sigmaringen 1987, S. 203–309. Müller, Jürgen, Dr. phil., ist Professor für Kunstgeschichte, Schwerpunkt Neuzeit und Moderne, an der TU Dresden und Leiter des Projekts „Das subversive Bild. Religiöse und profane Deutungsmuster in der Kunst der Frühen Neuzeit“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d.Ä., München 1999; (Hg., mit Thomas Schauerte) Ausst.-Kat. Die gottlosen Maler von Nürnberg. Konvention und Subversion in der Druckgrafik der Beham-Brüder, Dürerhaus/Nürnberg, Emsdetten 2011. Müller, Winfried, Dr. phil., ist Professor für Sächsische Landesgeschichte an der TU Dresden, Direktor des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde (Dresden) und Leiter des Projekts „Gemeinsinnsdiskurse und religiöse Prägung zwischen Spätaufklärung und Vormärz (ca. 1770 – ca. 1848)“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Die Aufklärung, München 2002; (Hg.) Perspektiven der Reformationsforschung in Sachsen, Dresden 2008; (Hg., mit Swen Steinberg) Menschen unterwegs. Die via regia und ihre Akteure. Essays zur 3. Sächsischen Landesausstellung, Dresden 2011. Münkler, Marina, Dr. phil., ist Professorin für ältere und frühneuzeitliche deutsche Literatur und Kultur an der TU Dresden und Leiterin des Projekts „Das Ethos der Freundschaft. Diskurse und Narrationen von Gemeinsinn in der mittelalterlichen Literatur“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Narrative Ambiguität. Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts, Göttingen 2011; (Hg.) Aspekte einer Sprache der Liebe. Formen des Dialogischen im Minnesang. Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 21, Bern, Berlin u.a. 2011; (Hg., mit Werner Röcke) Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Band 1: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München 2004.
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Über die Autorinnen und Autoren
Mutschler, Fritz-Heiner, Dr. phil., ist Professor emeritus für Klassische Philologie/Latein an der TU Dresden, Professor für Western Classics an der Peking University und Leiter des Projekts „Tradition, Vernunft, Gott. Zur wechselnden Fundierung gemeinsinnigen Handelns vom Ausgang der Republik bis in die Umbruchphase des 3. Jahrhunderts“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Happiness, life models, and social order in republican and Augustan Rome, in: Symbolae Osloenses 86 (2011), S. 234–260; (Hg., mit Andreas Haltenhoff/Andreas Heil), Römische Werte und römische Literatur im frühen Prinzipat, Berlin 2011; (Hg., mit Achim Mittag), Conceiving the Empire: China and Rome Compared, Oxford 2008. Patzelt, Werner J., Dr. phil., ist Professor für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden und Leiter des Projekts „Transzendenz und Gemeinsinn als Ressourcen politischer Ordnungskonstruktion“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Einführung in die Politikwissenschaft, 7., erw. Aufl. Passau 2013 (i.E.); (Hg.) Parlamente und ihre Evolution. Forschungskontext und Fallstudien. BadenBaden 2012; (Hg.) Evolutorischer Institutionalismus. Theorie und exemplarische Studien zu Evolution, Institutionalität und Geschichtlichkeit, Würzburg 2007. Rehberg, Karl-Siegbert, Dr. phil., ist Seniorprofessor für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie an der TU Dresden, Direktor des Dresdner Instituts für Kulturstudien e.V. und Leiter des Projekts „Kunstsakralisierung und Gemeinsinn“ des SFB 804. Veröffentlichungen: (Hg., mit Wolfgang Holler/ Paul Kaiser) Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen [Ausst.Katalog Neues Museum Weimar 19.10.2012–3.2.2013] 2012; (Hg., mit Paul Kaiser) Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung, Berlin 2012; (Hg., mit Gert Melville) Dimensionen institutioneller Macht. Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2012. Rentsch, Thomas, Dr. phil., ist Professor für Praktische Philosophie/Ethik an der TU Dresden und Leiter des Projekts „Transzendenz und Gemeinsinn in Geschichte und Gegenwart der Philosophie“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Gott, Berlin 2005; (Hg.) Einheit der Vernunft? Normativität zwischen Theorie und Praxis, Paderborn 2005; Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin/New York 2011. Scholz, Sylka, Dr. phil., ist Privatdozentin an der TU Dresden und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Transzendenz und Gemeinsinn in privaten Lebensformen“ des SFB 804. Veröffentlichungen: (Hg., mit Stephan Dreischer/
Über die Autorinnen und Autoren
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Christoph Lundgreen/Daniel Schulz) Jenseits der Geltung. Konkurrierende Transzendenzbehauptungen von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2013; Männlichkeitssoziologie. Studien aus den Feldern Arbeit, Politik und Militär im vereinten Deutschland, Münster 2012; Verschwindet die Familie? Eine soziologische Bestandsaufnahme, in: Michaela Holdenried/Weertje Willms (Hg.), Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2012, S. 45–62. Schwarke, Christian, Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der TU Dresden und Leiter des Projekts „Konstruktionen von Transzendenz und Gemeinsinn in Technik und Theologie“ des SFB 804. Veröffentlichungen: (Hg., mit Katharina Neumeister/Peggy Renger-Berka) Technik und Transzendenz. Zum Verhältnis von Technik, Religion und Gesellschaft, Stuttgart 2012; Im Spiegel des Gehirns. Über die Inszenierung öffentlicher Debatten um die Freiheit des Willens, in: Jost Halfmann/Johannes Rohbeck (Hg.), Zwei Kulturen der Wissenschaft – revisited, Weilerswist 2007, S. 173–192; Die Kultur der Gene. Eine theologische Hermeneutik der Gentechnik, Stuttgart/Berlin/Köln 2000. Schwerhoff, Gerd, Dr. phil., ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der TU Dresden und Leiter des Projekts „Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz in der Frühen Neuzeit“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Historische Kriminalitätsforschung, Frankfurt/M. 2011; (Hg.) Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit, Köln 2011; (Hg., mit Albrecht Burkardt) Tribunal der Barbaren? Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit, Konstanz 2012. Vorländer, Hans, Dr. phil., ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Dresden, Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung, Sprecher des Sonderforschungsbereichs 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ und Leiter des Projekts „Demokratische Ordnung zwischen Transzendenz und Gemeinsinn“ des SFB 804. Veröffentlichungen: Demokratie. Geschichte, Formen, Theorien. 2. überarb. Aufl. München 2010; Die Verfassung. Idee und Geschichte. 3. überarb. Aufl. München 2009; (Hg.) Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, Wiesbaden 2006.