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German Pages 336 Year 1970
Stimmung und Transzendenz Die Antizipation der existenzanalytischen Stimmungsproblematik bei Ignatius von Loyola
Von
Ramón González de Mendoza
Duncker & Humblot . Berlin
R. G. de Mendoza • Stimmung und Transzendenz
Stimmung und Transzendenz D i e A n t i z i p a t i o n der existenzialanalytischen S t i m m u n g s p r o b l e m a t i k bei I g n a t i u s v o n L o y o l a
Von D r . R a m ó n González de Mendoza
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
Gedruckt m i t Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Förderer und Freunde der Freien Universität Berlin e. V.
Alle Rechte vorbehalten © 1970 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1970 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany D 188
Inhaltsverzeichnis Einleitung
9
ERSTER T E I L
Die Vorgeschichte der existenzphilosophischen Stimmungsproblematik der Gegenwart § 1. Einleitende Bemerkungen zum Begriff „ S t i m m u n g " a) Der psychologische Stimmungsbegriff b) Heideggers ontischer Stimmungsbegriff § 2. Grundzüge der klassisch-griechischen Interpretation der päthe § 3. Die passiones animae bei Thomas von A q u i n § 4. Vives' Interpretation des A f f e k t i v e n § 5. Descartes' Passions de l'Äme § 6. Die Passions i n Hobbes' Leviathan § 7. Die Leidenschaften i n Spinozas Ethik § 8. Lockes Lehre von den Passions § 9. Passions, Desires u n d Emotions bei Hume § 10. Das Gefühl bei Tetens §11. Gefühle, Affekte u n d Leidenschaften bei K a n t § 12. Grundzüge der Interpretation des A f f e k t i v e n i m 19. J h § 13. Schelers Gefühlsinterpretation
15 15 17 27 29 34 40 41 49 52 53 56 64 66 78 82
ZWEITER TEIL
Die philosophische Stimmungsproblematik der Gegenwart Erster
101
Abschnitt
Die Entdeckung der existenzial-ontologischen Relevanz der Stimmungen durch Martin Heidegger Erstes Kapitel:
Der ontologische
Stimmungsbegriff
Heideggers
101 101
§14. Charakter, Z i e l u n d Grenzen der Stimmungshermeneutik i m F r ü h w e r k Heideggers 101
Inhaltsverzeichnis
6
§ 15. Das fundamentale Existenzial der Befindlichkeit
106
§ 16. Die transzendentale Erschließungsfunktion der Stimmungen § 17. Die stimmungsmäßige Erschließung von Selbst, Faktizität u n d Welt § 18. Stimmung u n d Transzendenz: Die K o n s t i t u t i o n der Weltoffenheit des Daseins durch die Befindlichkeit § 19. Die stimmungsmäßige Erschließung des Mitdaseins
111 113 118 102
Zweites Kapitel: Der existenzialontologische lichkeit der Angst
123
Vorrang
der
Grundbefind-
§20. Die existenzialontologische Transposition des Kierkegaardschen Angstbegriffes § 21. Die methodische Bedeutung der Angst für die Daseinsanalytik § 22. Der existenzialontologische Vorrang der Grundbefindlichkeit der Angst als Stimmung der Entschlossenheit §23. Der existenzielle Vorrang der Grundbefindlichkeit der Freude als Stimmung der Freiheit
Zweiter
123 139 142 146
Abschnitt
Die Auseinandersetzung der philosophischen Anthropologie mit Heidegger über das Wesen der Stimmungen Drittes Kapitel: O. Fr. Bollnows Kontroverse mit Heidegger über Primat der gehobenen gegenüber den gedrückten Stimmungen
152 den
§ 24. Das anthropologische Mißverständnis des Heideggerschen S t i m mungsbegriffes § 25. Bollnows Ablehnung der Angst als Fundament der philosophischen Anthropologie § 26. Ziel u n d Methode der Bollnowschen „Anthropologie der gehobenen Stimmungen" §27. Ontologisch relevante Aspekte der anthropologischen Hermeneutik der gehobenen Stimmungen § 28. Das Zeit- u n d Raumerlebnis i m Rauschzustand §29. Bilanz der Auseinandersetzung Bollnows m i t Heidegger über das Wesen der Stimmungen
Dritter
Viertel Kapitel:
152 152 156 162 165 174 177
Abschnitt
Die Kehre der Heideggerschen Stimmungslehre
182
Die Stimmung
182
als Stimme des Seins
§ 30. Der neue Stimmungsbegriff Heideggers § 31. Die Scheu als Stimmung des Heiligen § 32. Die seinsgeschichtliche Bedeutung der Stimmungen
182 184 189
7
Inhaltsverzeichnis DEITTER TEIL
Die Rolle der Stimmungen bei der mystischen Erfahrung und Lehre des Ignatius von Loyola
195
§ 33. Einleitende Bemerkungen zum d r i t t e n T e i l der Untersuchung Erstes Kapitel: Die Genesis der Ignatianischen vorangehende Ursache "
Lehre vom „Trost
195 ohne
205
§ 34. Loyolas Entdeckung der existenziellen Relevanz der Stimmungen . . . 205 § 35. Die Suche nach dem sicheren K r i t e r i u m der Richtigkeit der existenziellen Entscheidung 215 § 36. Die Lehre vom „Trost ohne vorangehende Ursache" i n den Exerzitien 220 Zweites Kapitel:
Die philosophische
Interpretation
der CSCP
226
§ 37. Francisco Suárez' Interpretation der CSCP 226 §38. K a r l Rahners Interpretation der CSCP als „thematisch gewordene Erfahrung der Transzendenz" 229 § 39. Die CSCP als Stimmung der „theologischen Differenz" 235 Drittes Kapitel:
Die CSCP in der Ignatianischen
Mystik
238
§40. Loyolas Entdeckung des mystischen Vorrangs der „reverencia y acatamiento amoroso " 238 § 41. Die Erfahrung der theologischen (transzendenten) Differenz i n der Stimmung der „reverencia y acatamiento amoroso " 243
VIERTER T E I L
Die Wiederholung der Auseinandersetzung über die philosophische Relevanz der Stimmungen nach der Aneignung der ursprünglichen existenziellen Stimmungsproblematik Erster
249
Abschnitt
Die Rolle der Stimmung bei der Erfahrung der theologischen Transzendenz
251
Erstes Kapitel: Die Erhellung des Bezugs der Stimmungen zum mystisch erfahrenen Transzendenten durch C. Albrechts Phänomenologie der mystischen Erfahrungen 251 § 42. Der „Gegenstand" der mystischen Erfahrung § 43. Die „Evidenz" der mystischen Erfahrung Zweites Kapitel : Die transzendentalen fahrung
Bedingungen
251 261 der mystischen
§ 44. Rudolf Ottos „gnoseologisches A p r i o r i des Heiligen"
Er-
268 268
8
Inhaltsverzeichnis
§ 45. Carl Albrechts „mystisches Existenzial" § 46. Befindlichkeit als mystisches Existenzial § 47. M a r t i n Bubers „eingeborenes D u "
273 280 284
Drittes Kapitel: Die existenzial-ontologische Explikation Stimmungen bei der mystischen Erfahrung
der Rolle
der
§ 48. § 49. § 50. § 51.
Die Transzendenzerfahrung i n der numinosen Stimmung Die Präsenzerfahrung i n der numinosen Stimmung Die Soseinserfassung i n der numinosen Stimmung Die ideogrammatische u n d begriffliche Thematisierung der stimmungshaften Transzendenzerfahrung § 52. Die Begegnung m i t dem göttlichen D u i n der numinosen Stimmung . .
Zweiter
287 288 292 295 300 306
Abschnitt
Die Rolle der Stimmungen beim Treffen existenzieller Entscheidungen Viertes Kapitel: Die existenzial-ontologische hangs zwischen Stimmung und Wahl
Explikation
310 des
Zusammen-
310
§ 53. G. Fessards „dialektisch-existenzielle" E x p l i k a t i o n des von Ignatius entdeckten Zusammenhangs zwischen Stimmung u n d Entscheidung 311 §54. Die existenzialontologische E x p l i k a t i o n der Rolle der Stimmungen beim Treffen existenzieller Entscheidungen 316
Literaturverzeichnis
327
Einleitung W i r fragen i n dieser Arbeit nach der ontologischen Relevanz der Stimmungen. Damit greifen w i r eine Problematik auf, die eigentlich zuerst von Heidegger 1927 i n seinem Frühwerk Sein und Zeit aufgeworfen wurde, die aber erst während und unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg zum Mittelpunkt des Interesses eines Teiles der mitteleuropäischen Philosophie wurde. Damals stand der französische Existenzialismus, bei dessen verschiedenen Strömungen gewisse „Stimmungen" 1 eine grundlegende Rolle spielten, i n voller Blüte. Es liegt auf der Hand, daß die inzwischen laut gewordene K r i t i k gegen den Existenzialismus an dem Problem der Stimmungen nicht vorbeigehen konnte. Ein wichtiger Teil dieser K r i t i k richtete i n der Tat seinen Hauptangriff gegen den existenzialistischen Ansatz bei den sogenannten „negativen, gedrückten" Stimmungen. I n diesem Zusammenhang erschien 1941 das Buch des Lebensphilosophen Otto Friedrich Bollnow Das Wesen der Stimmungen 2, i n dem der Verfasser sich vor allem m i t dem Stimmungsbegriff und der Stimmungshermeneutik Heideggers auseinandersetzte, allerdings m i t der etwas anspruchsvollen Absicht, durch den Nachweis der Einseitigkeit des existenzialistischen Ansatzes bei den gedrückten Stimmungen die gesamte neue philosophische Bewegung zu untergraben 3 , deren Vorliebe für Stimmungen augenscheinlich von Heideggers Stimmungshermeneut i k geweckt worden war. Daher griff Bollnow i n seinem Buch nicht nur den existenzialistischen Ansatz an, sondern stellte zugleich den von Heidegger behaupteten und zur Grundlage der Daseinsanalytik gemachten ontologischen Primat der Stimmung der Angst i n Frage. Man hatte damals noch keine klare Linie zwischen Existenzialismus und Existenzphilosophie 4 einerseits, und zwischen anthropologischen und fundamen1 M i t dieser allgemeinen Bezeichnung sind bestimmte psychische Phänomene gemeint, die der Gefühlssphäre angehören, die sich aber i m Gegensatz zu vielen Gefühlen u n d Affekten auf keinen bestimmten Gegenstand zu beziehen scheinen, w i e z. B. Angst, Ekel, Scham, Hoffnung usw. 2 3. durchges. u. erw. A u f l . (Frankfurt a. M., Klostermann, 1956). 3 Bollnows wirkliche Absicht geht am deutlichsten aus dem U n t e r t i t e l seines zweiten Buches über die Stimmungen hervor: Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existenzialismus. 4 Z u r Beseitigung des seit Sein u n d Zeit verbreiteten „anthropologischexistenzialistischen Mißverständnisses des Denkers Heidegger" hat Max Müller i n seinem Buch Existenzphilosophie i m geistigen Leben der Gegenwart (Heidelberg 1949) am wirksamsten beigetragen.
10
Einleitung
talontologischen Absichten i m Frühwerk Heideggers andererseits gezogen. Bollnows K r i t i k entfachte sodann eine Auseinandersetzung über die anthropologische Relevanz der Stimmungen, an der sich zunächst einige Philosophen 5 beteiligten, die aber bald i n dem Maße an Bedeutung verlor, als die Absichten Heideggers von diesem selbst deutlicher gemacht und von seinen K r i t i k e r n besser verstanden wurden. A u f jeden Fall ist Bollnows Versuch, durch einen neuen Ansatz bei den gehobenen, positiven Stimmungen den Existenzialismus zu widerlegen, gescheitert. Es ist aber zu bedauern, daß wegen dieser ersten Mißerfolge die hauptsächlich von Bollnow entfachte Auseinandersetzung m i t Heidegger über das Wesen der Stimmung vorerst zum Erliegen kam. Aus mehreren Gründen verdiente die Stimmungsproblematik von neuem aufgegriffen und weitergeführt zu werden. Endlich erhob sich 1960 eine Stimme, die dies ausdrücklich verlangte. Aus Anlaß des Erscheinens der dritten, kaum veränderten Auflage des Buches Das Wesen der Stimmungen forderte Otto Pöggeler i n einer Rezension eine Wiederholung der Auseinandersetzung m i t Heideggers Stimmungshermeneutik 6 . Pöggeler meinte, die Wiederholung sei deshalb notwendig, weil Bollnow die eigentliche Absicht der Stimmungslehre Heideggers verkannt habe; Heideggers A n liegen sei ein ontologisches, Bollnows dagegen ein anthropologisches; überdies suche Bollnow Heideggers Philosophieren überhaupt und dessen Stimmungslehre i m besonderen als „existenzphilosophische Radikalisierung lebensphilosophischer Bestrebungen" zu begreifen; Heidegger habe jedoch solche Interpretationen seiner Stimmungshermeneutik entschieden zurückgewiesen und erklärt, daß jedes „anthropologische Beforschen des Menschen stets außerhalb der Möglichkeit bleibe, i m Gedankengang der Vorlesung [Was ist Metaphysik?] zu gehen" 7 . Pöggeler meint ferner, Heidegger selbst habe nicht „die beabsichtigte Formalität und weltanschauliche Neutralität seiner Analytik des Daseins überall zu wahren gewußt", inzwischen aber sei die eigentliche Absicht Heideggers deutlicher geworden; dies habe die Wiederholung der Auseinandersetzung über das Wesen der Stimmungen noch dringlicher gemacht. Auf alle Fälle müsse die Auseinandersetzung „gründlicher gefaßt und mit größerer Schärfe wiederholt werden". 5 Die bedeutendsten i n Deutschland waren Ludwig Binswanger , Grundformen u n d Erkenntnis menschlichen Daseins (Zürich 1942) u n d Oskar Becker , Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophische Aufsätze (Pfullingen 1963). 6 Otto Pöggeler , „Das Wesen der Stimmungen. Kritische Betrachtungen zum gleichnamigen Buch O. Fr. Bollnows", Zeitschr. f. phil. Forschung, X I V (1960) 272—284. 7 Martin Heidegger , Was ist Metaphysik?, 8. A u f l . (Frankfurt a. M., Klostermann, 1960), S. 46. I n dieser Auflage ist der Text der am 24. J u l i 1929 i n Freiburg gehaltenen Antrittsvorlesung, das neu durchgesehene Nachwort der 4. A u f l . von 1943 u n d die Einleitung der 5. Aufl. von 1949 enthalten. Das Zitat stammt aus dem Nachwort.
Einleitung Schließlich sei die Wiederholung sowohl wegen der Aktualität der Thematik als auch wegen deren tiefer Verwurzelung i n der Tradition sehr an der Zeit. So schreibt Pöggeler zum Schluß seiner K r i t i k an Bollnow: Jedenfalls berührt Bollnow m i t dem Problem der S t i m m u n g e n . . . die M i t t e jenes Philosophierens, das er unter dem Namen „Existenzphilosophie" zusammenfaßt, spielt doch die Angst bei Heidegger, die Scham bei Lipps, die Nausée bei Sartre, die Hoffnung bei Marcel eine grundlegende Rolle. Darüber hinaus hat Bollnow eine Thematik aufgegriffen, die i n der abendländischen Tradition einst eine große Bedeutung hatte u n d deren Neuaneignung an der Zeit ist.
Dieser Aufforderung Pöggelers folgend, haben w i r uns i n dieser Arbeit zur Aufgabe gemacht, die Stimmungsthematik neu aufzugreifen m i t der Absicht, sie auf jene Ebene zurückzuführen, auf die Heidegger sie ursprünglich gestellt hatte, nämlich auf die ontologische. Da es sich aber dabei, wie Pöggeler richtig bemerkt, u m die Neuaneignung einer Themat i k handelt, die einst eine große Bedeutung hatte, halten w i r es für notwendig, vorerst zu ermitteln, ob die von Heidegger zuerst entdeckte ontologische Relevanz der Stimmungen i n der abendländischen Tradition, wenn auch nur vorwissenschaftlich und vorontologisch, erkannt worden ist. U m jedoch wirkliche Vorläufer der existenzphilosophischen Stimmungsproblematik zu entdecken, müssen w i r zuerst genau feststellen, wo die ontologische Bedeutung der Stimmungen eigentlich liegt; denn nicht jeder Denker, der sich einmal Gedanken über die heute als Stimmungen, Gefühle und Affekte bekannten Phänomene gemacht, oder gar bestimmte Phänomene dieser A r t i n philosophischer oder theologischer Absicht ausführlich behandelt hat, kann als echter Vorläufer der spezifischen Stimmungsproblematik der Gegenwart angesehen werden. Die ontologische Relevanz der Stimmungen gründet i n der K r a f t bestimmter „ausgezeichneter" Stimmungen, die Erfahrung der Transzendenz, des Nichts und sogar des Seins zu ermöglichen. Wenn w i r nun i n der abendländischen Tradition nach einer Antizipation gerade dieser Stimmungsproblematik suchen, müssen w i r deshalb nach einer Lehre Ausschau halten, i n der gewissen privilegierten Stimmungen irgendwie die K r a f t zuerkannt wird, die Erfahrung der Transzendenz zu ermöglichen. Gibt es nun wirklich i n der abendländischen Tradition eine Lehre, i n der ein solches Verhältnis zwischen Stimmung und Transzendenz zum Ausdruck kommt? K a r l Rahner ist der Ansicht, daß der „Trost ohne vorangehende Ursache", von dem Ignatius von Loyola bei den „Regeln zur Unterscheidung der Geister" i n den berühmten Exerzitien spricht, i m Grunde nichts anderes als eben die „thematisch gewordene Erfahrung der Transzendenz" sei 8 .
12
Einleitung
Eine wichtige Aufgabe unserer Arbeit w i r d es sein, die Rahnersche Interpretation dieser Lehre Loyolas zu prüfen. Es w i r d sich herausstellen, daß Rahner den Stimmungscharakter jenes Trostes nicht v o l l zu würdigen und folglich die Bedeutung Loyolas für die Stimmungsproblematik der Gegenwart nicht gesehen hat. I n der Tat hat unseres Wissens niemand bisher Ignatius' Lehre als Antizipation dieser Problematik anerkannt. Während Augustin, Luther, Pascal und Kierkegaard — alle vier ebenfalls vorzügliche Repräsentanten der christlichen Tradition — von Heidegger i n Sein und Zeit als Vorläufer der gegenwärtigen philosophischen Stimmungsproblematik betrachtet wurden 9 , blieb der zweifellos bedeutendste Zeuge der ontologischen Relevanz der Stimmungen seltsamerweise unerwähnt. Dies Versäumnis kann vielleicht dadurch erklärt werden, daß die Exerzitien , obwohl sie nicht nur längst zur allgemeinen Praxis der katholischen Frömmigkeit, sondern auch zum Gegenstand zahlreicher theologischer Kommentare geworden sind, philosophisch nur sehr selten untersucht wurden. Dem katholischen Theologen und ehemaligen Schüler Heideggers i n Freiburg, K a r l Rahner, kommt das Verdienst zu, zum ersten M a l die existenzialphilosophische Relevanz der Ignatianischen Exerzitien gesehen zu haben 10 . Es darf daher nicht verwundern, daß Heidegger, obwohl er m i t der Ignatianischen Frömmigkeit seit jungen Jahren vertraut war 1 1 , die Bedeutung Loyolas für die von i h m selbst aufgegriffene und ausführlich behandelte Stimmungsthematik völlig entging. Es geht uns i n dieser Arbeit nicht darum, eine Lanze für Ignatius als Existenzphilosophen ,avant la lettre ' zu brechen, und auch nicht darum, einen verborgenen Einfluß Loyolas auf den ehemaligen Jesuitenzögling Heidegger aufzuspüren; es geht uns allein u m die von Pöggeler verlangte Wiederbelebung und Neuaneignung der einst sehr wichtigen Stimmungs8 Karl Rahner , Das Dynamische i n der Kirche, Quaestiones disputatae Nr. 5 (Freiburg i. Br., Herder, 1958), S. 124 ff. — I m folgenden abgekürzt: DK. 9 Martin Heidegger, Sein u n d Zeit, 9. A u f l . (Tübingen, Niemeyer, i960), S. 139,190. I m folgenden abgekürzt: SZ. 10 Der i m Buch Das Dynamische i n der Kirche enthaltene Aufsatz „Die L o g i k der existenziellen Erkenntnis bei Ignatius von Loyola" erschien 1956 unter dem T i t e l „Die Ignatianische L o g i k der existenziellen Erkenntnis. Über einige theologische Probleme i n den Wahlregeln der Exerzitien des Heiligen Ignatius" i n Ignatius von Loyola. Seine geistliche Gestalt u n d sein Vermächtnis, hrsg. von Friedrich W u l f S. J. (Würzburg, Echter, 1956), S. 343—405. I m folgenden zitieren w i r den Aufsatz, w i e er zwei Jahre später i m zuerst genannten W e r k v e r öffentlicht wurde. 11 Wie aus dem i n der Dissertation von 1914 enthaltenen Lebenslauf hervorgeht, besuchte Heidegger v o n 1903 bis 1906 das Gymnasium der Jesuiten i n Konstanz. Drei Jahre — v o m 14. bis zum 17. Lebensjahr — verbrachte er i m Internat unter der strengen Disziplin der Jesuiten, w o er Gelegenheit hatte, sich m i t der Ignatianischen Frömmigkeit u n d den Exerzitien vertraut zu machen.
Einleitung thematik, um gerade von jenem Ort der Tradition her, wo die existenzielle Relevanz der Stimmungen zum ersten Mal m i t aller Deutlichkeit gesehen wurde, eine „grundsätzlichere und schärfer gefaßte" Auseinandersetzung um das Wesen der Stimmungen anzuregen. Die Exposition der Vorgeschichte der existenzialphilosophischen Stimmungproblematik der Gegenwart gehört eigentlich i n die Einleitung dieser Arbeit, doch ist es uns wegen des großen Umfangs der Darlegung richtiger erschienen, sie zum ersten Teil der Untersuchung zu machen. I m zweiten Teil der Untersuchung versuchen wir, die Grundzüge der philosophischen Stimmungsproblematik der Gegenwart darzulegen. Wegen der großen Bedeutung der Heideggerschen Stimmungsinterpretation für unsere Untersuchung exponieren w i r i m ersten Abschnitt Heideggers fundamentalontologische, i m dritten Heideggers seinsgeschichtliche Stimmungslehre nach der „Kehre" seines Denkens ausführlich. I m zweiten Abschnitt legen w i r die Lehre des wichtigsten Kritikers der ersten Stimmungslehre Heideggers, nämlich O. Fr. Bollnows, dar. Die ersten zwei Teile dieser Arbeit sind also vorwiegend darlegender Natur und müssen somit als Vorbereitung der eigentlichen Untersuchung betrachtet werden. Darum haben w i r es vorgezogen, unsere Untersuchungsmethode nicht wie üblich i n dieser allgemeinen Einleitung der Arbeit, sondern erst am Anfang des dritten Teils der Untersuchung i m Paragraphen 33 zu erläutern.
ERSTER T E I L
Die Vorgeschichte der existenzphilosophischen Stimmungsproblematik der Gegenwart § 1. Einleitende Bemerkungen zum Begriff „Stimmung" Weil das Anliegen dieser Arbeit ist, die Bedeutung der von Heidegger zuerst gestellten ontologischen Stimmungsproblematik zu erörtern und zu fragen, warum die Auseinandersetzung darüber so schnell an einem toten Punkt angelangt ist, und ob es noch sinnvoll ist, sie erneut aufzugreifen und weiterzuführen; wenn w i r schließlich nach neuen Richtungen suchen, i n denen eine Bereicherung und Vertiefung der Stimmungsthematik zu erwarten ist, so liegt es auf der Hand, daß es unsere erste Aufgabe sein muß, den Sinn, i n dem w i r das Wort „Stimmung" gebrauchen, genau festzulegen. Es handelt sich doch dabei um einen Terminus, der sowohl i n der alltäglichen als auch i n der wissenschaftlichen Sprache zur Bezeichnung der verschiedensten Phänomene gebraucht wird. Nicht einmal i m alltäglichen Verständnis hat das Wort überall dieselbe Bedeutung, und es gibt Gegenden innerhalb des deutschsprachigen Raumes, wo das Wort „Stimmung" bekanntlich m i t den mannigfaltigsten Nuancen beladen ist. Außerdem weisen Wörter, die i n anderen modernen europäischen Sprachen als Übersetzungen von „Stimmung" gelten, ebenfalls eine Reihe von fremden Nebenbedeutungen auf 1 . 1 M a n denke an das dem deutschen Wort „ S t i m m u n g " sehr nahekommende englische Wort „mood", welches wiederum dem deutschen „ M u t " stammverw a n d t ist, dessen ursprüngliche Bedeutung zur Bezeichnung eines Gemütszustandes bei dem Ausdruck „zumute sein" u n d der A d j e k t i v b i l d u n g „ w o h l gemut" zum Vorschein kommt. „Das gemeingermanische Wort [mhd., ahd. „muot", engl, „mood", schwed. „mod"] bezeichnete ursprünglich die triebhaften Gemütsänderungen u n d seelischen Erregungszustände u n d w u r d e i n den alten Sprachzuständen häufig i m Sinne von „ Z o r n " verwendet. Dann bezeichnete es den Sinn u n d die wechselnden Gemütszustände des Menschen. Die heute vorherrschende Bedeutung „Tapferkeit, K ü h n h e i t " setzte sich erst seit dem 16. Jh. stärker durch" (Duden. Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Der große Duden, Bd. 7 (Mannheim 1963), „ M u t " , S. 456). Das stammverwandte lateinische W o r t „mos" = Sitte, Brauch, Gewohnheit dagegen hat i n den romanischen Sprachen zu keinem Wort Anlaß gegeben, das Gemütszustände bedeutet. Was die Übersetzung des Wortes „ S t i m m u n g " bet r i f f t , findet man weder i n der französischen noch i n der spanischen Sprache
Erster Teil: Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k Vor allem beim wissenschaftlichen Gebrauch des Wortes ist eine große Diskrepanz festzustellen, je nachdem ob das Wort psychologisch oder philosophisch verstanden wird, und dann tauchen so viele Bedeutungen des Terminus auf, wie es verschiedene Schulen und Meinungen gibt. Weil es sich schließlich beim Wort „Stimmung" u m einen allgemeinen Begriff handelt, dem eine Reihe von spezielleren Begriffen untergeordnet sind, die i n den verschiedenen Gegenden und Zeiten für die Bezeichnung der mannigfaltigsten Phänomene verwendet worden sind, w i r d leicht verständlich, daß w i r vor der Erörterung der ontologischen Relevanz der Stimmungen, den Sinn, i n dem w i r den Terminus i n dieser Arbeit gebrauchen, genau bestimmen müssen. W i r könnten uns vielleicht diese Arbeit dadurch erleichtern, daß w i r erklären, für eine philosophische Untersuchung sei lediglich der philosophische Sinn des Wortes „Stimmung" von Belang, und zwar, wie er vom Entdecker der ontologischen Relevanz der Stimmungen fixiert wurde. Es würde dann genügen, den Sinn des Heideggerschen Stimmungsbegriffes aus seinen Werken herauszulesen und die Phänomene festzustellen, für die Heidegger solchen Begriff verwendet. I n der Tat w i r d dies eine unerläßliche Aufgabe unserer Untersuchung sein, doch können w i r uns mit einer unkritischen Übernahme des Heideggerschen Stimmungsbegriffes deshalb nicht begnügen, w e i l a priori nicht feststeht, daß Heideggers Verständnis des Wortes berechtigt ist. Man könnte sogar den Verdacht aufkommen lassen, es handle sich dabei u m einen recht willkürlichen Gebrauch des Wortes, und dies u m so mehr, als er sich von dem allgemeinen alltäglichen und wissenschaftlichen Gebrauch zu unterscheiden scheint. W i r müssen daher prüfen, ob und i n welchem Maße der Heideggersche Stimmungsbegriff von dem alltäglichen und wissenschaftlichen Gebrauch abweicht, was natürlich voraussetzt, daß w i r vorher die Bedeutung dieser Begriffe erkunden. Weil andererseits solche Begriffe jeweils eine Geschichte haben, besser ausgedrückt, selber geschichtlich sind, können sie nicht verstanden werden, solange uns nicht diese Geschichte zumindest i n ihren Grundzügen bekannt ist. Dies stellt uns vor die Aufgabe, einen Überblick über die Geschichte der Stimmungsproblematik zu geben. einen gleichwertigen Begriff. A u f französisch pflegt m a n das deutsche Wort durch „état d'âme" bzw. „état d'esprit auf spanisch durch „estado de ánimo" bzw. „temple de ánimo" zu übersetzen. Solche Ausdrücke w i e „tonalidad afectiva " u n d „disposición afectiva" gehören offensichtlich nicht zum alltäglichen Gebrauch, während das alltägliche Wort „Humor" dem deutschen „ L a u ne" v i e l näher als dem W o r t „ S t i m m u n g " kommt. Die v o m spanischen Philosophen José Luis L. Aranguren (Catolicismo y protestantismo como formas de existencia, M a d r i d 1952) vorgeschlagene Bezeichnung des „temple de ánimo" durch das W o r t „talante" ist auch nicht annähernd dem deutschen Begriff „ S t i m m u n g " gleichzusetzen.
§ 1. Einleitende Bemerkungen zum Begriff „Stimmung"
17
a) Der psychologische Stimmungsbegriff Obwohl das Wort „Stimmung" schon seit dem 16. Jh. i m Zusammenhang m i t Musikinstrumenten gebraucht wurde, bezeichnet es die Gemütsverfassung des Menschen erst seit dem 18. Jh. 2 . Es handelt sich also u m einen verhältnismäßig neuen psychologischen Begriff. Die ersten systematischen Definitionen der Stimmungen stammen aus dem Kreis derjenigen Psychologen, die i m ersten D r i t t e l des vorigen Jahrhunderts i n Auseinandersetzung m i t Kant und insbesondere m i t der idealistischen Philosophie ihre psychologischen Systeme als empirische Psychologie verstanden. F. E. Beneke (1798—1854) versteht unter affektiven oder Stimmungs-Gebilden die nicht intellektuellen seelischen Zustände. So schreibt er: Durch die auch v o n den Gefühlen zurückbleibenden Spuren oder Angelegenheiten werden mehr oder weniger bleibende Gemütsstimmungen begründet, vermöge deren Glücklichsein u n d Unglücklichsein i n den mannigfachsten Modifikationen gewissermaßen zu Eigenschaften werden können 8 .
Diese das ganze Erleben färbende K r a f t der Stimmungen hatte schon H. Lotze i n seiner 1852 erschienenen, naturphilosophischen Anschauungen verpflichteten Medizinische Psychologie bemerkt, als er die Stimmungen als „dauernde Färbungen des Gemütszustandes" 4 beschrieb. Es ist beachtenswert, daß der psychologische Stimmungsbegriff dieser Zeit i m Gegensatz zu dem heutigen alltäglichen nicht das Flüchtige und Wechselnde, sondern gerade das Dauerhafte und Bleibende bezeichnet. Der Begriff „Stimmung" ist inzwischen banal geworden. Einen launenhaften und unbeständigen Menschen bezeichnet man als „Stimmungsmensch". Man denkt heutzutage beim alltäglichen Gebrauch des Wortes nicht mehr an jenen Zug der Stimmungen, der die Psychologen der Mitte des vorigen Jahrhunderts so stark interessiert hat, nämlich an die Tiefe und Beständigkeit dieser zugrundeliegenden, alles Erleben durchtönenden und färbenden Zuständlichkeiten. Vom Gesichtspunkt der physiologischen Psychologie her nennt W. F. Volkmann i n seinem Lehrbuch der Psychologie (1875—6) die „Stimmungsempfindungen" solche Empfindungen, die dem trophischen Zustande der Nervenfaser entsprechen 5 . Die Experimentalpsychologie hingegen versteht die Stimmungen als aktuelles Psychisches, d. h. als Erlebnis. Der Begriff der Apperzeption 2 8
Duden, Etymologie, „Stimme", S. 681. Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft, 4. A u f l . (Berlin 1877),
§288. 4 5
Medizinische Psychologie (Leipzig 1852), S. 514 f. 4. A u f l . 2 Bde., 1894—5,1., S. 224 f.
2 Mendoza
Erster Teil: Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k erlaubt W. Wundt, die Stimmungen von den starken Gefühlen zu unterscheiden: Die Stimmungen seien zwar bewußt, aber die Vorstellungen, die sie veranlaßt haben, seien noch nicht i n den Fokus der Aufmerksamkeit erhoben worden. Nach Wundt sind die Stimmungen Affekte, welche relativ schwache Gefühle enthalten; Vorstellungsgefühle w i r k e n auf die Bewußtseinslage, ehe noch die zugehörigen Vorstellungen selbst apperzipiert werden 6 . Die Stimmung ist nach Wundt zwar kein apperzeptiver A k t , doch durch die Apperzeption w i r d sie m i t anderen psychischen Phänomenen assoziiert und somit als deren Begleitphänomen betrachtet. Wundt versteht die Stimmung nicht mehr bloß als ein Element des Bewußtseinsstromes gleichsam i n einer horizontalen Dimension, sondern er sieht die Stimmung i n der Erlebniseinheit m i t anderen psychischen Phänomenen. Wundt unterscheidet nicht zwischen Stimmung und Affekt; und zwischen Stimmung und Gefühl unterscheidet er nur der Intensität nach: Stimmungen seien ja Affekte, erklärt er, die relativ schwache Gefühle enthalten. Jede Vorstellung und jede willentliche Tätigkeit w i r d stets von Gefühlen begleitet. Der schon von Beneke, Biunde und Nahlowsky bemerkte Unterschied zwischen Stimmung und Gefühl w i r d von J. Rehmke betont. Nach i h m ist die Stimmung deswegen nicht Gefühl, w e i l unklares Gegenständliches i n ihr liegt 7 . Hier t r i t t schon das Problem der Intentionalität der Stimmungen auf. Zwar hatte bereits Nahlowsky das unklare Bewußtsein bei den Stimmungen bemerkt, doch damals handelte es sich u m die veranlassenden Ursachen; hier dagegen geht es schon u m das intentional Gegenständliche. Nach Theodor Ziehen ist die Stimmung nichts anderes als die A b straktion „aus den gleichartigen Gefühlstönen der Vorstellungen und Empfindungen eines bestimmten Zeitabschnitts" 8 . Nach dieser Auffassung ist die Stimmung weder Disposition noch aktueller Zustand, überhaupt kein eigenständiges psychisches Phänomen, sondern lediglich eine Begleiterscheinung der Vorstellungen und Empfindungen, oder besser, eine Abstraktion dieser Begleiterscheinungen. Damit kehrt die Auffassung des sensualistischen Assoziationismus wieder, nach der Gefühle lediglich Qualitäten der Vorstellungen sind. Nach F. H. Biunde ist Stimmung „diejenige Verfassung des Subjekts, welche die Entstehung eines Gefühls oder einer Begierde fördert, dazu Disposition ist". Vorübergehende und bleibende Stimmungen des Be6 Grundzüge der physiologischen Psychologie, 5. Aufl., 3 Bde. (Leipzig 1902— 03), I I I . , S. 210 ff. 7 „ Z u r Lehre v o m Gemüt" i n Zeitschr. f. imman. Phil. (Leipzig 1897), S. 85 ff. u n d 120. 8 Leitfaden der physiologischen Psychologie, 2. A u f l . (Jena 1893), S. 215.
§ 1. Einleitende Bemerkungen zum Begriff „Stimmung"
19
gehrens sind die Neigungen, des Willens die Gesinnungen 9 . Beide A u toren unterscheiden zwischen Gefühlen und Stimmungen und unterstreichen das Bleibende, Dispositionelle, Zuständliche der letzteren. Doch w i r d das Verhältnis der Stimmungen zu den Gefühlen von beiden Psychologen verschiedentlich gedeutet. Nach Beneke sind die Stimmungen zurückbleibende Spuren der Gefühle, laut Biunde dagegen sind sie Dispositionen zu den Gefühlen. Außerdem betont Biunde die Beziehung der Stimmungen zum Begehren und zum Willen. Nach diesen Auffassungen steht die Stimmung i m kausalen Zusammenhang m i t anderen, vor allem orektischen psychischen Phänomenen. 30 Jahre nach dem Erscheinen der Werke Benekes und Biundes bestreitet J. W. Nahlowsky gerade den dispositionellen Charakter der Stimmungen. Unter Stimmung versteht er „jenen durch seinen Grundton charakterisierten Kollektivzustand des Gemüts, welcher (in der Regel) weder das Hervortreten bestimmter Sondergefühle noch das klare Bewußtsein seiner veranlassenden Ursachen gestattet" 1 0 . Hier w i r d schon auf ein Merkmal der Stimmungen hingewiesen, das bald eine entscheidende Holle i n der Ganzheitspsychologie Felix Kruegers und bei W i l l i a m Stern und Philipp Lersch spielen w i r d : die Stimmungen sind basale Erlebnisse, die das ganze psychische Leben durchtönen und färben. Es w i r d auch weiter angenommen, daß die Stimmungen eine Ursache haben, auch wenn man sich ihrer nicht bewußt ist. Eine charakteristische Definition der Stimmungen für die gegen den sensualistischen Assoziationismus gerichtete A k t - und Funktionspsychologie bietet der Schüler Brentanos, Carl Stumpf: „Gefühlszustände von längerer Dauer, die teils i n bestimmten, m i t Bewußtsein erlebten, aber bald wieder vergessenen Anlässen, teils i n den Empfindungen der vegetativen Organe wurzeln 1 1 ." Anscheinend geht es Stumpf hier nur u m die Ursachen der Stimmungen, i n Wirklichkeit aber w i l l er durch diese Definition betonen, daß die Stimmungen keine intentionalen Gemütsbewegungen darstellen, da sie auf keinen Gegenstand bezogen sind. Auch ganz i m Sinne der Aktpsychologie Brentanos ist folgende Unterscheidung R. Wahles: „Stimmungen sind Gefühle ohne Gegenstand des Gefühles 12 ." Für F. Jodl ist die Stimmung eine „chronische Erregung", ein Nachzittern der Gefühlswirkung oder ein Gefühlsreflex oder auch die W i r 9 Versuch einer systematischen Behandlung der empirischen Psychologie, 3 Bde. (Trier 1831—2), II., S. 116 ff. 10 Das Gefühlsleben (Leipzig 1862), § 24. 11 „Über den Begriff der Gemütsbewegung" i n : Zeitschr. f. Psychologie, 21 (1899), S. 49. 12 Das Ganze der Philosophie u n d i h r Ende (Wien - Leipzig 1894), S. 392.
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Erster Teil: Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k kung lebhaft reproduzierter Gefühle. Ferner sind Stimmungen oft mit Störungen i n der Vitalsphäre verbunden; sie beeinflussen die Wertung der Erlebnisse 13 . A. Lehmann 1 4 und dem jungen O. K ü l p e 1 5 zufolge gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Stimmung und Affekt. Nach W. Jerusalem ist die Stimmung „die Summe der m i t den Funktionsbedürfnissen zusammenhängenden Gefühle . . . , die einzeln zu schwach sind, u m zum Bewußtsein zu kommen" 1 6 . Ebenfalls als Summe der Gefühle versteht M. Offner die Stimmung. Diese sei „ein K o l l e k t i v gefühl, das als die sich ausgleichende Summe der Gefühle zu betrachten ist". Offner unterscheidet außerdem zwischen positiven und depressiven Stimmungen 1 7 . U m die Jahrhundertwende setzte sich die Grundeinsicht i n der experimentellen Psychologie durch, daß Erlebnisse keine Summe von elementaren Einzelphänomenen, sondern komplexe qualitative Ganzheiten darstellen. Die Qualitäten der ganzheitlichen Erlebnisse seien i m Grunde die Gefühle. Diese Einsicht, verbunden m i t schichtentheoretischen Prämissen, veranlaßt die Psychologen, vom „emotionalen Grund" zu sprechen. Jegliches Erlebnis sei stets i n Stimmungen „eingebettet"; sie machen gleichsam den dunklen Boden aus, aus dem alles Psychische emporwächst. Die Stimmungen werden dann systematisch m i t der Holle der Begründung bzw. Einbettung der ganzheitlichen Erlebnisse beauftragt. M i t Hilfe des Begriffes der „Tiefe" beginnt man, Theorien über die Struktur der Seele zu bilden. Nicht erlebbare, sondern den Erlebnissen angeblich zugrundeliegende Dispositionen und Anlagen kommen wieder ins Gewicht. Die Ermittlung der Qualitätsunterschiede der Tiefe bei den Gefühlen und gefühlsartigen Komplexen soll nach Felix Krueger allererst den sicheren Grund für die Strukturtheorie des Seelischen freigeben 18 . Der gefühlsartige Erlebnisgrund w i r d auch i n der Entwicklungspsychologie ontogenetisch sowie phylogenetisch als ein diffuser, undifferenzierter Erlebnisboden dargestellt, aus dem sich erst allmählich artikulierte Erlebnisse herausbilden. Solche frühen Zustände werden m i t dem 13
Lehrbuch der Psychologie, 3. A u f l . (Stuttgart 1909), S. 420 ff. Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens (Leipzig 1892), S. 62. 15 Grundriß der Psychologie (Leipzig 1893), S. 334. 16 Lehrbuch der Psychologie, 3. A u f l . (Wien - Leipzig 1903), S. 162. 17 Das Gedächtnis (Berlin 1909), S. 83, 90, 95,141 f., 189. 18 Siehe Wilhelm Hehlmann , Geschichte der Psychologie, Kröners Taschenausg., Bd. 200 (Stuttgart, Kröner, 1963), S. 300 ff. V o m umfangreichen Werk Felix Kruegers sind für die Stimmungsproblematik besonders wichtig folgende Abhandlungen: Das Wesen der Gefühle. E n t w u r f einer systematischen Theorie, 2. A u f l . (Leipzig 1929); Die Tiefendimension u n d die Gegensätzlichkeit des Gefühlslebens, 2. A u f l . (München 1931); Z u r Philosophie u n d Psychologie der Ganzheit. Schriften aus den Jahren 1918—1940, hrsg. v. Heuss, E. ( B e r l i n Göttingen - Heidelberg 1953). 14
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Begriff des „Gefühlsartigen" bezeichnet. A u f dieser Ebene sei eine Trennung von Gefühl und Empfindung undurchführbar. Auch die SubjektObjekt-Spaltung gewisser kognitiver Phänomene scheint i n diesem Licht als ein entwicklungsmäßig sehr spätes Phänomen. „ I n den diffus komplexqualitativen Phänomenen sei diese Gegenüberstellung nicht vorhanden, die ungegliederte Einheit evident. I n ihr manifestiere sich eine seelische Tiefendimension, i n welcher der Mensch sich selbst als der erfahre, der er ist 1 9 ." Max Scheler, m i t dessen Phänomenologie der Gefühle w i r uns später eingehend befassen werden, begreift die Stimmung i m Gegensatz zu den intentionalen A k t e n und Funktionen des Fühlens als einen nicht-intentionalen, von Hause aus auf kein Objekt bezogenen Gefühlszustand. Stimmungen können zwar eine Ursache haben, doch diese Ursache gehört nicht zur Struktur der Zuständlichkeit selbst, sondern muß vermittels einer Vorstellung auf die Stimmung bezogen werden. Die Stimmungen gehören zu den Leib- und Lebensgefühlen, entbehren jeder kognitiven K r a f t und müssen daher als rein psychisch, d. h. außergeistig und außerpersonal angesehen werden 2 0 . I m Anschluß an Scheler versteht Philipp Lersch die Stimmungen ebenfalls als Zuständlichkeiten des Lebensgefühls. I m Gegensatz zu jenen Phänomenen, die Lersch „Gefühlsregungen" nennt, sind die Stimmungen keine seelischen Prozesse, Ereignisse, Akte, sondern stationäre Zustände und Weisen des Zumuteseins, die keine eigentliche Intentionalität aufweisen: Der Gesamtbereich der Erlebnisse, auf die w i r den Begriff Gefühl anwenden, gliedert sich i n Gefühlsregungen — die eben genannten Anmutungserlebnisse — u n d i n Gefühlszustände oder stationäre Gestimmtheiten. Die einen sind W e i sen des Angemutetwerdens , die anderen solche des Zumuteseins. Gefühlsregungen sind Prozesse, seelische Abläufe; die stationären Gestimmtheiten sind relativ beharrende Zustände. So ist die Freude eine Gefühlsregung, die Heiterkeit ein Gefühlszustand, eine stationäre Gestimmtheit des endothymen G r u n des 21 .
Lersch unterscheidet ferner zwischen aktuellen Gestimmtheiten und stationären Gestimmtheiten, zu denen die Stimmungen eigentlich gehören; denn auch alle Gefühlsregungen, alle Anmutungserlebnisse enthalten ein Zustandsmoment, welches i n actu, i m Vollzug der Gefühlsregungen mitgegeben ist. „ W i r nennen dies das endothyme Quäle , das aktuelle Zumutesein, die aktuelle Gestimmtheit, die i n jeder Gefühls19
Hehlmann , Geschichte der Psychologie, S. 303. Der Formalismus i n der E t h i k u n d die materiale Wertethik. Neuer V e r such der Grundlegung eines ethischen Personalismus, 4. durchges. Aufl., Gesammelte Werke, Bd. 2 (Bern, Francke, 1954). 21 Philipp Lersch , A u f b a u der Person, 9. A u f l . (München, Barth, 1964), S. 216. 20
Erster Teil: Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k regung enthalten und für sie spezifisch ist 2 2 ." Dieses endothyme Quäle bzw. diese aktuelle Gestimmtheit ist die spezifische Tönung oder Färbung jeder Gefühlsregung; es ist ein Moment des Anmutungserlebnisses. Die stationären Gestimmtheiten dagegen, zu denen die eigentlichen Stimmungen gehören, sind kein bloßes Moment eines Phänomens, sondern das ganze Phänomen selbst: die nicht intentionale, weder auf Objekt noch auf Wert bezogene reine Zuständlichkeit. Der Oberbegriff „stationäre Gestimmtheiten" umfaßt nach Lersch drei Gefühlsbereiche: die Lebensgefühle, die Selbstgefühle und die Weltgefühle. Diese Dreiteilung entspricht der traditionellen Leib-Seele-GeistThematik, nach der sich Lersch bei der Einteilung sämtlicher psychischen Phänomene — seltsamerweise auch derjenigen, die keine Intentionalität aufweisen und daher keinen spezifizierenden Gegenstand bzw. Wert haben können — systematisch richtet. Die Stimmungen gehören zu den Lebensgefühlen, worunter Lersch die Grundbefindlichkeit versteht, „ m i t der das Dasein dem Erleben als Lebendigsein stationär gegeben ist" 2 3 . Auch zu den Lebensgefühlen gehören die leiblichen Gefühlszustände, die Lersch, wiederum Scheler folgend, von den Stimmungen unterscheidet. Jene werden entweder als begrenzt auf bestimmte Leibbezirke oder als diffuse Zustände des ganzen Leibes erfahren 24 , diese hingegen sind weniger leibgebunden, weniger leibnah als die psychosomatischen Gestimmtheiten und weisen gleichsam einen „atmosphärischen" Charakter auf. „ I m Lebensgefühl der Stimmung . . . t r i t t das Innesein, das Erleben des Leibes zurück, die Seele w i r d ihrer selbst inne als eines atmosphärischen Schwebens und Tönens . . . 2 5 ." Die Phänomene, die Lersch als Stimmungen betrachtet, sind Heiterkeit, Lustigkeit (Vergnügtheit), Traurigkeit (Schwermut), Mißmut (Verdrossenheit), Angst und Ekstase 26 . Da sie wesenhaft nicht-intentional sind und daher kein Objekt bzw. kein Wertquale haben, nach dem sie irgendwie bestimmt und spezifiziert werden können, sieht sich Lersch dazu gezwungen, die spezifische Tönung oder Färbung jeder Stimmung m i t Hilfe von metaphorischen Ausdrücken vor allem aus dem Gebiet der Sinneswahrnehmung anzugeben. So ist „die stationäre Gestimmtheit der H e i t e r k e i t . . . immer ausgezeichnet durch das Erlebnis einer inneren Helligkeit, die auch auf die Umwelt ausstrahlt und ihr einen eigentümlichen Glanz verleiht" 2 7 . „Neben dem Zuge des 22
a.a.O., S. 223. a.a.O., S. 304. 24 Als psychosomatische Gestimmtheiten werden von Lersch folgende zitiert: Behagen u n d Unbehagen, Frieren u n d Erhitztsein, Hunger, Durst, Sättigung, Müdigkeit, Schläfrigkeit, Frische, Übelkeit, Unwohlsein, K r a f t , Schwäche, Spannung, Gelöstheit, Ruhe u n d Unruhe. 25 a.a.O., S. 306. 26 a.a.O., S. 307—320. 27 a.a.O., S. 307. 23
§ 1. Einleitende Bemerkungen zum Begriff „Stimmung"
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Sonnigen, der Lichthaftigkeit, ist es noch derjenige des inneren A u f triebs, der ,Gehobenheit 4 , der Leichtigkeit u n d Befreitheit, der dem E r lebnis der Heiterkeit wesenhaft zugehört 2 8 ." Traurigkeit dagegen sei „ v o r allem gekennzeichnet durch ein Erlebnis der Lichtlosigkeit, eines inneren Dunkels" u n d „der inneren Schwere u n d des Niedergezogenwerdens" 29 . Andere Stimmungen dagegen können n u r durch das Verhalten des so oder so Gestimmten von ähnlichen Stimmungen unterschieden werden. So sei z. B. die Verdrossenheit von der Traurigkeit v o r allem durch die Feindseligkeit u n d Gereiztheit des Mißmutig-Verdrossenen gegen seine M i t w e l t u n d U m w e l t zu unterscheiden. W i e bei Scheler besitzen auch bei Lersch die Stimmungen keine „ E r schließungskraft"; es w i r d ihnen keine gnoseologische Bedeutung zuerkannt. I m Gegensatz zu den Gefühlsregungen (Lersch) u n d den geistigen Gefühlen (Scheler), die auf Werte bezogen sind, j a sogar Werte allererst erschließen, sind die Stimmungen nicht-akthafte, nichtintentionale, sinnliche, beziehungslose, „tote" Zuständlichkeiten. Werden sie trotzdem auf irgendeinen Gegenstand bezogen, so geschieht dies rein äußerlich u n d zufällig; die Stimmungen erscheinen dann höchstens als W i r k u n g e n oder als Anzeichen u n d Symptome. Wenn auch von Scheler u n d Lersch die Stimmungen als nicht-gerichtete Gefühle betrachtet werden, so sind sie nach diesen Autoren doch i m m e r h i n Gefühle, was keineswegs eine Selbstverständlichkeit i n der Psychologie ist. V o r allem i n der angelsächsischen Psychologie finden w i r A u toren, die dies bestreiten. H. C. Warren zufolge ist der Unterschied z w i schen „mood" u n d „disposition" n u r ein gradueller. Er schreibt: The distinction seems valid, but i t is of social rather than psychological importance. Our emotional attitudes become established by slow degrees and the borderline between passing mood and an inground disposition is i n definite 3 0 .
U n d W. McDougall meint: . . . mood implies a more or less subconscious persistence of the conation and the emotion, a subexcitement of the affective conative disposition 3 1 .
Beide Psychologen sehen die Stimmung (mood) nicht als ein gegenstandsloses Gefühl bzw. ein Kollektivgefühl, j a überhaupt nicht als ein psychisches Ereignis (occurrence, event) an, sondern wesentlich als „disposition 28 29 30 31
a.a.O., S. 308. a.a.O., S. 311. H u m a n Psychology, 4. Aufl. (Boston - New Y o r k 1919), S. 367 ff. A n Outline of Psychology (London 1923), S. 359 f.
Erster Teil: Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k A m deutlichsten kommt diese Auffassung bei Gilbert Ryle zum Ausdruck: Inclinations and moods, including agitations, are not occurrences and do not therefore take place either p u b l i c l y or privately. They are propensities, not acts or s t a t e s . . . Feelings, on the other hand, are occurrences ... Moods or frames of m i n d are, u n l i k e motives, but l i k e maladies and states of the weather, temporary conditions which i n a certain w a y collect occurrences, b u t they are not themselves extra occurrences 32 .
Laut Ryle sind also moods weder occurrences noch feelings; er ist nicht einmal dazu bereit, moods ohne weiteres als emotions anzuerkennen. So fragt er sich: A r e names of moods names of emotions? The only tolerable reply is that of course they are, i n the sense t h a t some people some of the t i m e use the w o r d „emotion". B u t then we must add that i n this sense an emotion is not something that can be segregated f r o m thinking, daydreaming, v o l u n t a r i l y doing things, grimacing or feeling pangs and itches 88 .
Moods sind also nach Ryle eigentlich nur „frames of mind" (das Wort könnte man wohl am besten durch „Gemütsfassung" auf deutsch übersetzen, vorausgesetzt, daß man Gemüt als animus versteht, wie K a n t das Wort verstanden hat), also eigentlich keine feelings, und emotions nur, wenn man dieses Wort i n einem sehr weiten Sinn versteht. Dennoch bestreitet Ryle keineswegs den engen Zusammenhang, der zwischen mood und feeling besteht. Er stellt fest: Names of moods, then, are not the names of feelings. B u t to be i n a particular mood is to be i n the mood, among other things, to feel certain sorts of feelings i n certain sorts of situations 8 4 .
Doch an welche Phänomene, genauer ausgedrückt, an welche Wörter — Ryle ist bekanntlich ein hervorragender Vertreter der linguistischen Richtung des logischen Positivismus — denkt der englische Philosoph, wenn er von moods spricht? I m Abschnitt „Moods" des Kapitels über die „emotions" 8 5 sieht Ryle folgende Eigenschaftswörter als „words for moods" an: lazy , frivolous, depressed, happy, discontented, nervous, serene, gloomy, jovial, jolly, sulky, restless, uncommunicative, melancholic, sullen, hilarious, sad, companionable, touchy, bored, cheerful. Ryle bemerkt, daß, wenn w i r sagen, daß w i r uns i n dieser oder jener mood befinden, w i r keineswegs sagen wollen, daß w i r hic et nunc ein spezifisches feeling haben, das sich qualitativ von einem anderen feeling unterscheidet, welches nur dann auftaucht, wenn w i r uns i n einer mood 32 33 84 35
Gilbert Ryle, The Concept of M i n d (London, Hutchinson, 1949), p. 83. a.a.O., p. 104. a.a.O., p. 103. a.a.O., pp. 83—115, bes. pp. 98—104.
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verschiedenen Namens befinden, sondern lediglich, daß w i r i n einer Fassung des Gemüts (frame of mind) sind, i n der man zwar die Disposition hat, feelings einer bestimmten Tonalität und Färbung zu spüren, die aber nicht gestattet, aus diesen eventuellen feelings allein angemessen bestimmt zu werden. So z. B. die Langeweile: Boredom is not some unique distinguishable ingredient, scene or feature of a l l that its v i c t i m is doing or undergoing; rather i t is the temporary complexion of that t o t a l i t y 8 6 .
U m Ryles Unterscheidung zwischen mood und feeling richtig zu verstehen, muß man natürlich sowohl m i t der Methode seiner Analyse als auch m i t seiner eigenen Auffassung von feeling und emotion vertraut sein. Feeling, wie Ryle dieses Wort versteht, ist nicht gleichbedeutend m i t dem deutschen Wort Gefühl, daher haben w i r bisher die Übersetzung gescheut. Man w i r d am besten begreifen, was Ryle eigentlich unter „feeling " versteht, wenn w i r die Wörter anführen, die Ryle für „words for feelings " hält. Solche sind: thrills, twinges, pangs, throbs, wrenches, itches, prickings, chills, glows, loads, qualms, hankerings, curdlings, sinkings, tensions, gnawings und shocks? 7. Das Vorgehen Ryles kann man bezeichnen als eine sprachanalytische Erörterung dessen, was m i t den alltäglichen Formulierungen gemeint ist, und als ein Aufweisen der Unterschiede und Ähnlichkeiten i n den dort ausgedrückten Verhältnissen durch eine Exaktheit und Genauigkeit anstrebendes, differenzierendes Formulieren des Gemeinten. Er geht von den umgangssprachlichen Ausdrucksweisen aus, m i t der Absicht, die Unklarheiten, Verwirrungen und Widersprüche (verbal muddle) zu überwinden, die den herrschenden Theorien und Klassifizierungen der Emotionen anhaften. Sein Interesse richtet sich daher vorwiegend auf die sprachlichen Formulierungen des Alltags, die er als die Instanz betrachtet, die letztlich über die Angemessenheit und Gültigkeit der theoretischen Interpretationen und Einteilungen zu entscheiden hat. Ryles Begriff von „mood" — sowie sein Begriff von „inclination ", „agitation ", (oder „commotion"), „feeling " und „emotion" — ist also nicht der wissenschaftlich-psychologische Begriff der Stimmung, den w i r bisher untersucht haben, sondern der alltägliche, umgangssprachliche Begriff dessen, was man heutzutage i m englischen Sprachraum unter diesem Namen versteht. Wenn man die Namen der feelings prüft, die Ryle aufzählt, stellt man fest, daß es sich dabei nicht u m solche Phänomene handelt, die man i m deutschen Sprachgebiet gewöhnlich als Gefühle bezeichnet, sondern u m Bezeichnungen für spezifische körperliche Empfindungen, die dann i n 36 37
a.a.O., p. 104. a.a.O., p. 83 f.
Erster Teil: Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k Verbindung m i t den Namen der agitations oder commotions , d. h. der eigentlichen emotions (was man gewöhnlich unter Affekten und Gefühlen versteht) den ursprünglichen körperlichen Sinn verlieren zugunsten eines neuen übertragenen Sinnes, und Ausdrücke bilden wie „a throb of compassion ", „a shock of surprise " oder „a glow of pride". Bei diesen und ähnlichen alltäglichen Formulierungen, durch die man das Ereignis eines „Gefühls" (the occurrence of a feeling) zu melden pflegt, stellen die Wörter „throb", „shock" und „glow" die Namen von feelings dar, während die Wörter „compassion ", „surprise " und „pride" Namen für agitations sind. Ryles Auffassung von feelings steht der Theorie W i l l i a m James' nahe, nach der feelings nichts anderes als körperliche Empfindungen sind, doch Ryle geht nicht so weit wie James, sofern er den „words for feelings" die Möglichkeit eines leichten metaphorischen Sinnes einräumt: James boldly identified feelings w i t h bodily sensations, b u t for our purposes i t is enough to show that w e t a l k of feelings very much as w e t a l k of bodily sensations, though i t is possible that there is a tinge of metaphor i n our t a l k of the former which is absent from our t a l k of the latter 3 8 .
Wenn jemand ein feeling m i t einer agitation (emotional condition, commotion) sprachlich verbindet und seine augenblickliche Gemütsfassung m i t solchen Ausdrücken wie „chill of disquiet", „tug of commiseration", „twinge of remorse", „sinking feeling of boredom" meldet, so teilt er dadurch, bemerkt Ryle, nicht bloß die aktuell empfundene psychosomatische Störung mit, sondern er macht schon eine Diagnose davon, d. h. er interpretiert sein feeling m i t Hilfe einer kausalen Hypothese; denn die „chills", „tugs ", „twinges", „throbs " erscheinen nicht gleichsam bereits m i t der Etikette einer bestimmten agitation versehen. Stimmungen sind also nach Ryle — falls es zulässig ist, mood durch Stimmung zu übersetzen — weder feelings (im soeben erklärten Sinn) noch agitations. Wenn man nun die agitations (commotions, emotional conditions) m i t den von Lersch genannten Gefühlserregungen identifiziert (was allerdings ein Vergleich der Liste der agitations von Ryle 3 9 m i t der Liste der Gefühlsbewegungen und Gefühlserregungen, d. h. der Gefühle und Affekte von Lersch, nahelegt), muß man zum Schluß kommen, daß nach Ryle die Stimmungen auch nicht m i t Gefühlen und Affekten identifiziert werden können. Schließlich sind Stimmungen nach Ryle nicht einmal aktuelle psychische Ereignisse und Vorkommnisse (events, 38
a.a.O., p. 84. Als Namen f ü r agitations f ü h r t Ryle folgende an: thrill , rapture , anxiety, grief , suspense, fear, worry, excitement, embarrassment, surprise, relief, vexation, amusement, dudgeon, harassment, homesickness, anguish, perplexity, distress, uneasiness, love, want, desire, pride, eagerness, irritation, agitation, disturbance, shock, convulsion, flurry, being flabbergasted u n d upset. 39
§ 1. Einleitende Bemerkungen zum Begriff „Stimmung"
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occurrences) weder i n der Gestalt von A k t e n noch i n der Gestalt von Zuständen: „They are propensities , not acts or states." Folglich sind die Stimmungen nach Ryle nicht einmal Zuständlichkeiten, was jedoch für Scheler und Lersch eine Selbstverständlichkeit ist. M i t der Erörterung des Stimungsbegriffes Ryles schließen w i r die Untersuchung über den psychologischen und alltäglichen Begriff der Stimmung ab. W i r stellen fest, daß dieser Begriff alles andere als eindeutig, klar umrissen und unwandelbar ist. W i r wollen jetzt prüfen, inwiefern der Stimmungsbegriff Heideggers m i t den alltäglichen und wissenschaftlich-psychologischen Stimmungsbegriffen übereinstimmt. W i r wollen; aber noch nicht den ontologischen Stimmungsbegriff Heideggers erörtern, sondern voerst nur den ontischen Begriff und die Phänomene, die Heidegger als Stimmungen ansieht und zur Grundlage seiner ontologischen Analyse macht. b) Heideggers ontischer Stimmungsbegriff I m Gegensatz zu Ryle geht Heidegger i n seiner Stimmungshermeneutik weder von einer sorgfältigen und genauen Analyse der alltäglichen noch der wissenschaftlichen sprachlichen Formulierungen der Stimmungslagen aus. Ohne seine Entscheidung zu begründen, versteht Heidegger die Stimmung i n einem Sinn, der auf den ersten Blick recht willkürlich erscheint. Stimmungen, behauptet er, sind Phänomene, die „unter dem Titel der Affekte und Gefühle . . . ontisch längst bekannt und i n der Philosophie immer schon betrachtet worden" sind 4 0 . Damit scheint er die Stimmungen m i t den Gefühlen und Affekten ohne Bedenken identifizieren zu wollen. U n d i n der Tat, wenn man die Phänomene sorgfältig ansieht, die Heidegger i n seinem Frühwerk als Stimmungen anführt, stellt man fest, daß es sich dabei u m Phänomene handelt, die man i m Alltag wie auch i n der Psychologie eher als Gefühle und Affekte denn als Stimmungen zu bezeichnen pflegt. So werden von Heidegger solche Phänomene wie Furcht, Angst, Erschrecken, Grauen, Entsetzen, Freude, Hoffnung und Verzweiflung als Stimmungen angesehen. Zwar zählt er neben diesen Affekten auch einige Phänomene zu den Stimmungen, die i m A l l t a g und i n der Psychologie gemeinhin als solche bezeichnet werden, wie z. B. Heiterkeit, Überdruß, Langeweile, Traurigkeit und Schwermut, doch hebt Heidegger diese Phänomene von den vorher erwähnten weder bestimmend noch einteilend ab, sondern subsumiert sie alle unterschiedslos unter den Oberbegriff „Stimmungen". Dies gilt allerdings auch für die Phänomene der Angst und der Furcht, die er auf gleiche Weise als Stimmungen behandelt und ausdrücklich als solche 40
SZ, S. 138.
Erster Teil: Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k bezeichnet 41 . Nach der ontologischen Relevanz der Stimmungen zu fragen heißt also so viel wie nach der ontologischen Bedeutsamkeit der Affekte und Gefühle zu fragen. Doch was versteht Heidegger unter Affekten und Gefühlen? Darüber gibt uns Heidegger zwar eine indirekte, doch ziemlich deutliche Auskunft. Die Gefühle und Affekte, die er als Stimmungen ansieht, sind solche, die „ i n der Philosophie immer schon betrachtet worden sind" (SZ 138). Diese Bemerkung w i r k t befremdend. Es ist ja eine bekannte geschichtliche Tatsache, daß die Philosophie die Gefühle und Affekte als solche erst i m 18. Jh. i n den Blick bekommen und eigens thematisiert hat. K a n t ist bekanntlich der erste Denker, der die von alters her thematisierten passiones animae, die er Leidenschaften nennt, sowohl von den Affekten als auch von den Gefühlen abhebt, und diese drei Phänomenarten dann einzeln systematisch behandelt, d. h. genau bestimmt, beschreibt, unterteilt und interpretiert 4 2 . Zwar hatte die Philosophie seit der A n t i k e stets zwischen den heftigen und den milderen motus animae unterschieden, aber zu einer systematischen Behandlung der milderen Gemütsbewegungen, sofern sie sich von den eigentlichen passiones (oder perturbationes, wie Cicero es vorzog, die päthe der Stoiker zu übersetzen) unterscheiden, kam es erst i n der Zeit Kants. Wenn also Heidegger behauptet, daß die Affekte und Gefühle „immer schon i n der Philosophie betrachtet worden sind", versteht er diese Termini nicht i m engeren Sinne, i n dem K a n t sie verstanden hat, sondern i n einem weiteren Sinne, der auch die heftigen, verwirrenden Gemütsbewegungen (passiones bzw. perturbationes animae und die päthe der Griechen) umfaßt. Unsere Interpretation w i r d durch folgende Bemerkung Heideggers bestätigt: „Die Weiterführung der Interpretation der Affekte i n der Stoa, imgleichen die Überlieferung derselben durch die patristische und scholastische Theologie an die Neuzeit sind bekannt" (SZ 139). Nun sind die „Affekte", die die Stoa interpretierte, eben die päthe, d. h. die heftigen, störenden, verwirrenden Ergriffenheiten, die die Patristik und die Scholastik dann unter dem Titel „passiones animae" der Neuzeit überlieferten und von Juan Luis Vives, Descartes, Spinoza, Hobbes, Locke und Hume systematisch behandelt wurden. Nach der ontologischen Relevanz der Stimmungen zu fragen heißt also nach dem Heidegger von Sein und Zeit so viel, wie nach der ontologischen Bedeutsamkeit sowohl der heftigen als auch der milderen Gemütsbewegungen: päthe, perturbationes bzw. passiones animae, Gefühle, Affekte, Leidenschaften und Stimmungen zu fragen. A l l e diese Phänomene scheint Heidegger m i t dem Ausdruck „das Affektive überhaupt" 41
SZ, S. 341,344. Immanuel Kant, Anthropologie i n pragmatischer Hinsicht, I. Teil, 2. u n d 3. Buch. 42
§ 2. Grundzüge dfcr klassisch-griechischen Interpretation der p&the
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zusammenfassen zu wollen, wenn er versichert, daß es i n der Stimmungshermeneutik eigentlich auf eine „grundsätzliche ontologische Interpretation des Affektiven überhaupt" ankommt, die „seit Aristoteles k a u m einen nennenswerten Schritt vorwärts hat t u n können" (a.a.O.). Doch aus welchem Grund entscheidet sich Heidegger f ü r das Wort „Stimmung"? Was empfiehlt gerade diesen vor anderen Namen des Affektiven, wie z. B. Gefühl, Affekt, Emotion, Leidenschaft, wenn eine ontologische Interpretation des „ A f f e k t i v e n überhaupt" versucht werden soll? Wenn es sich hier u m keine W i l l k ü r handelt, so kann der Grund für Heideggers W a h l kein anderer sein als seine Überzeugung, daß gerade dieser T i t e l die ontologisch bedeutsame Dimension des Affektiven trefflicher als alle anderen Namen des „ A f f e k t i v e n überhaupt" zum Ausdruck bringen kann. Worauf sich diese Überzeugung stützt, werden w i r erst dann erfahren, wenn w i r den ontologischen Stimmungsbegriff Heideggers erörtert haben.
§ 2. Grundzüge der klassisch-griechischen Interpretation der pdthe W i r haben eine einleitende Überlegung über den ontischen Stimmungsbegriff Heideggers vorangeschickt, die uns erlaubt, gerade die für die ontologische Stimmungsproblematik der Gegenwart w i r k l i c h relevanten Lehren der sehr umfangreichen abendländischen philosophischen Affektinterpretation aufzudecken. Denn wenn es sich bei der heutigen Stimmungsproblematik u m die ontologische Relevanz des Affektiven überhaupt und nicht bloß u m die ontologische S t r u k t u r eines besonderen Phänomens innerhalb des Gebietes des Affektiven handelt, so müssen w i r unseren Blick auf die allgemeine philosophische A f f e k t - u n d Gefühlsinterpretation der abendländischen Tradition richten, i n deren Rahmen erst i n letzter Zeit die allgemeine Frage nach der existenzialontologischen Relevanz des Affektiven überhaupt und die besondere Frage nach dem Wesen der Stimmungen gestellt wurde. Diese allgemeine Gefühls- u n d Affektproblematik n i m m t i n der Tradition die Gestalt jener Hermeneutik an, die laut Heidegger bei Aristoteles ansetzte, von der Stoa weitergeführt u n d von der patriotischen u n d scholastischen Philosophie u n d Theologie der Neuzeit überliefert wurde, wo die Affekte u n d Gefühle dann unter die psychischen Phänomene gerieten, „als deren dritte Klasse sie meist neben Vorstellen u n d Wollen fungierten" und „zu Begleitphänomenen herabsanken", bis die phänomenologische Forschung „eine freiere Sicht auf diese Phänomene" schuf {SZ139). E i n umfassender Bericht aller jener Lehren der Tradition, wo Gefühle, Affekte und Leidenschaften überhaupt zum Thema der philosophischen
Erster Teil: Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k und theologischen Spekulation gemacht worden sind, würde jedoch unserer Arbeit wenig von Nutzen sein, da w i r uns hier ausschließlich für den ontologischen Aspekt der Stimmungsproblematik interessieren. Angesichts der Tatsache, daß die Entdeckung der ontologischen Relevanz des Fühlens erst i n der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gemacht wurde, müssen w i r vor allem die Frage stellen, wie es überhaupt möglich gewesen ist, daß die ontologische Bedeutsamkeit des Affektiven so lange verdeckt blieb. Dies scheint uns die wirklich relevante Frage an die Tradition zu sein. U m eine A n t w o r t darauf zu finden, müssen w i r zunächst auf das griechische Verständnis der päthe zurückgehen. Die allgemeine Einstellung der antiken und scholastischen Philosophie gegenüber dem Affektiven ist größtenteils die Folge gewisser auf Sokrates und Plato zurückführbarer ontologischer sowie moral-philosophischer Thesen. I n dem Maße, als der Gedanke, der Mensch könne seine w i r k liche Vollendung und Glückseligkeit nur i n der Betrachtung (theöria) des Ewigen und Unveränderlichen finden — von der letztlich auch die Praxis der Tugend abhängig sei — das griechische Denken bestimmte, mußte i h m das unbeständige, die ruhige Kontemplation der Vernunft störende und gar verwirrende Affektive als das größte innere Hindernis i m Wege der menschlichen Vollkommenheit erscheinen. So wurden die päthe als das Alogische und Irrationale angesehen und m i t h i n von der Bestimmung des wesentlich als lögos aufgefaßten Menschen ausgeschlossen. Die Griechen hielten denjenigen für einen Weisen (sophös), der die innere Ruhe (hesychia) und Unerschütterlichkeit (ataraxia) unter allen Umständen, vor allem aber i m Angesicht des Todes, zu wahren wußte. So bestand das wahre Glück nach Epikur i m ruhigen, von keiner Leidenschaft gestörten Vergnügen (hedone) 43. U m die selige Ataraxie zu erreichen, ist es nach Epikur unerläßlich, jeden betrüblichen Affekt, vor allem die Angst vor dem Tode und die Furcht vor den Göttern, zu vertreiben. Die Philosophie wäre müßig, wenn sie nicht vermöge, die Menschen von deren Leidenschaften zu befreien. M i t der Moralphilosophie Epikurs steht seine Kosmologie i m Einklang: die UnVeränderlichkeit des Weltalls spiegelt offensichtlich die Unerschütterlichkeit des Weisen wieder. Auch Aristoteles, der i m Anschluß an Sokrates und Plato meinte, daß die Glückseligkeit (eudaimonia) i n der Kontemplation des Schönen und Göttlichen bestehe 44 , konnte, trotz der großen Aufmerksamkeit, die er dem Affektiven widmete, die tief i m griechischen Denken verankerte 43 Cfr. Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen i n ihrer geschichtlichen Entwicklung, 4. Aufl., 3. T., 1. Abt., hrsg. von Ed. W e l l m a n n (Leipzig 1909), S. 455 ff. 44 Aristoteles, Ethica Nicomachia, X , 7 f.
§ 2. Grundzüge d r klassisch-griechischen Interpretation der pthe
31
Voreingenommenheit gegen die päthe nicht ganz überwinden. Wenn er auch i m zweiten Buch der Rhetorik die Leidenschaften ausführlich behandelt, so bedeutet sein Bemühen i n Wirklichkeit keine grundsätzliche Änderung der herrschenden Auffassung des Affektiven, sondern lediglich, daß Aristoteles die große politische Bedeutung der Affekte und Leidenschaften besser als seine Vorgänger begriffen hatte. Aristoteles verstand ja die Rhetorik, wie Zeller richtig bemerkt, als eine „Hülfswissenschaft der P o l i t i k " 4 5 und als eine „Verwendung der Dialektik für Zwecke der P o l i t i k " 4 6 . Bei der Behandlung der Affekte interessierte i h n hauptsächlich, wie die Leidenschaften der Zuhörer vom Redner der pölis für seine Zwecke am besten erregt bzw. besänftigt werden konnten. So kamen Zuneigung und Abneigung, Liebe und Haß, Furcht und Scham, Gunst und Mitleid, Entrüstung, Neid und Eifersucht, d. h. gerade diejenigen Affekte, die für die Massenbeeinflussung die größte Bedeutung hatten, zum ersten M a l systematisch i n den Blick des Philosophen 47 . Aristoteles beschrieb diese Affekte sehr genau und versuchte, gemäß den Objekten, auf die sich die Affekte jeweils beziehen, sie zu bestimmen, doch immer m i t der pragmatischen Absicht, festzustellen, wie der politische Redner sich der Leidenschaften seiner Zuhörer für seine Zwecke am besten bedienen konnte. Die anthropologische und erst recht die ontologische Relevanz des Affektiven blieb dabei völlig i m Dunkel. Schon von wirklicher anthropologischer Relevanz war hingegen die peripatetische Ansicht, das Affektive gehöre zur Natur des Menschen. Die These der Naturgemäßheit der päthe, so selbstverständlich sie uns heute auch vorkommen mag, wurde von der Stoa entschieden zurückgewiesen, wodurch sie die alte Lehre der Vernunftswidrigkeit des Affektiven zu den letzten Konsequenzen führte 4 8 . Obgleich die Stoiker die Vollkommenheit des Menschen nicht mehr i n der reinen Kontemplation des Guten und Schönen sahen, sondern die Praxis der Tugend für die einzig wahre Bestimmung des Menschen erklärten, bestand doch diese Tugend i n der Harmonie des menschlichen Handelns m i t der kosmischen Vernunft und deren ewigem, unveränderlichem Gesetz; insofern muß diese Auffassung i n Wirklichkeit als eine Behauptung der sokratisch-platonischen Ansicht betrachtet werden. So bestimmt Zeller das wirkliche A n liegen der stoischen Philosophie: Die Philosophie soll uns zum richtigen Handeln, zur Tugend anleiten. E i n richtiges Handeln ist aber nach stoischen Grundsätzen n u r das vernunftmäßige Handeln, u n d vernunftmäßig ist n u r dasjenige, welches m i t der N a t u r des 45
Zeller, Die Philosophie der Griechen, 2. T., 2. Abt. (Leipzig, Reisland, 1921), S. 754. 46 a.a.O., S .180, A n m . 2. 47 Aristoteles, Rhetorik, I I , 1—11,1377b—1388b. 48 Zeller, Die Philosophie der Griechen, 3. T., 1. Abt., S. 30.
Erster Teil: Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k Menschen u n d der Dinge übereinstimmt: die Tugend besteht darin, daß sich der Mensch den Gesetzen des Weltganzen, der allgemeinen Weltordnung u n t e r wirft 49.
Dieser allgemeinen Auffassung der Philosophie zufolge verstanden die Stoiker die päthe als vernunftwidrige und folglich auch als naturwidrige triebhafte Bewegungen des Gemüts, die stets das rechte Maß überschreiten: „est igitur Zenonis haec definitio ut perturbatio sit quod päthos ille dicit, aversa a recta ratione contra naturam animi commot i o " 5 0 . Älogos kai parä physin, irrational und naturwidrig, ist nach stoischer Auffassung die Seelenbewegung {pisyches kinesis), die to päthos kennzeichnet. Der Affekt ist aber auch und vor allem horme, d. h. Drang, Trieb, Streben, und zwar pleonäzousa horme, übermäßiger Drang. Wie die früheren griechischen Denker so hielt auch Zeno die Affekte für eines Weisen unwürdig. Charakteristisch für seine Auffassung ist aber, daß die päthe als Krankheiten, und zwar als „freiwillige" K r a n k heiten angesehen werden. So sagt Cicero von Zeno: „hic omnibus quasi morbis voluit carere sapientem" und fügt hinzu: Cumque eas perturbationes a n t i q u i naturales esse dicerent et rationis e x pertes aliaque i n parte a n i m i cupiditatem, alia rationem collocarent, ne his quidem adsentiebatur. N a m et perturbationes voluntarias esse putabat opinionisque judicio suscipi et o m n i u m perturbationum matrem esse arbitrabatur immoderatam quandam intemperantiam 5 1 .
Sind die Leidenschaften eines Weisen unwürdig, schließt Zeno folgerichtig, so müssen sie freiwillig sein; sie können ja durch keine natürliche Gewalt verursacht werden, sondern müssen jeweils auf ein freiwilliges Urteil über Gut und Böse zurückgeführt werden: „perturbationes autem nulla naturae v i conmoventur, omniaque ea sunt opiniones ac j u dicia levitatis. Itaque his sapiens Semper vacabit 5 2 ." Die Vernuftwidrigkeit der perturbationes faßt Cicero bündig zusammen: „cum omnis perturbatio sit animi motus vel rationis expers vel rationem aspernans vel rationi non oboediens 53 ." I n bezug auf die Naturwidrigkeit der passiones gelang es der stoischen Interpretation des Affektiven nicht, sich i m Mittelalter durchzusetzen. So lehnten sowohl Augustin als auch Thomas von A q u i n die stoische These ab und übernahmen die peripatetische Auffassung der Naturgemäßheit der Affekte. Sie hielten die passiones nicht für naturwidrige und daher ethisch durchaus verwerfliche Triebe, die man unterdrücken muß, sondern für natürliche Kräfte, die bloß der Kontrolle der Vernunft 49 60 51 52 58
a.a.O., S. 55. Cicero, Tusculanae disputationes, I V , 11. Cicero, Acad. Post., 1,38. Cicero, De finibus, I I I , 35. Cicero, Tusc. disp., I I I , 11.
§ 2. Grundzüge d r klassisch-griechischen Interpretation der pth
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bedürfen. Trotz dieser i m Vergleich zur stoischen Auffassung recht positiven Wertung des Affektiven, entzog sich das Denken Thomas' nicht ganz dem Einfluß des Stoizismus, sofern Aquinas die Affekte für triebhafte Bewegungen des Begehrensvermögens hielt. Denn die These der dynamischen und orektischen Natur der Affekte, die solch schwerwiegende Folgen für die Ontologie der Affekte haben w i r d — sie ist hauptsächlich dafür verantwortlich gewesen, daß die Eigenständigkeit des Affektiven bis zur Zeit Kants verdeckt blieb —, ist weder eine platonische noch eine aristotelische, sondern eine stoische These. Außer dem stoischen ist auch der platonische Einfluß auf die scholastische Affektinterpretation besonders stark gewesen. Keine philosophische Lehre hat w o h l mehr zur Verdeckung der anthropologischen, ontologischen und sogar theologischen Relevanz des Affektiven beigetragen, als der platonische Dualismus. Der platonische ontologische Dualismus nahm bekanntlich die Existenz an von zwei gegensätzlichen ewigen Seinsprinzipien, einem stofflichen und einem geistigen. Dementsprechend unterschied der platonische gnoseologische Dualismus eine sinnlich-materielle von einer geistig-idealen Erkenntnissphäre, zu der ausschließlich die Vernunftseele Zugang hat. Diese Auffassung führte schließlich zu einem anthropologischen Dualismus, der die Vernunftseele streng vom Leib und sogar von den anderen eng m i t dem Leib verbundenen Seelen trennte. Dieser anthropologisch-dualistischen Auffassung Piatos zufolge muß der Leib als Vehikel (ôchëma) der Seele begriffen werden. Die Vernunftseele befinde sich darin gleichsam i n einem Kerker eingesperrt. Dies sei die Folge ihres göttlichen Ursprungs und Endziels. Wie Albert Rivaud i n seiner Einleitung zum Timaios treffend bemerkt, A u fond, ce q u i domine toute la doctrine de l'âme humaine, c'est le sentiment que, par ses fonctions supérieures, la pensée de l'homme est directement unie au D i v i n 5 4 .
Wie die gegensätzlichen Seinsprinzipien, denen sie entspringen, müssen geistige Seele und stofflicher Leib des Menschen streng voneinander getrennt bleiben. Eine Einigung solch grundverschiedener Wesenheiten war für Plato undenkbar. Für die Erklärung derjenigen Phänomene (Affekte und Begierden), die dennoch unmißverständlich von einer engen Verbundenheit von Leib und Seele zeugen, nahm Plato die Existenz an von einer (in Wirklichkeit zwei) niedrigeren, vergänglichen, von der Vernunftseele dem Wesen nach verschiedenen und sogar räumlich getrennten, doch m i t dem Leib eng verbundenen Seele. Rivaud bemerkt: 54 Platon , OEuvres complètes. Collection des Universités de France, t. X : Timée-Critias. Texte établi et t r a d u i t par A l b e r t Rivaud (Paris 1956), p. 86.
3 Mendoza
Erster Teil Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k Des deux éléments dont l'âme humaine se compose, l ' u n est éternel, l'autre périssable; l ' u n est l'oeuvre d u Demiurge, l'autre est produit par les dieux subalternes — intellect nous est d'origine divine — le corps, dans lequel i l pénètre, est pour l u i une prison, u n lieu d ' e x i l et d'épreuve ou bien encore u n "véhicule" destiné à le transporter, mais auquel i l demeure étranger 5 5 .
Es ist wohl der Anfang dessen, was Gilbert Ryle sehr trefflich „the dogma of the Ghost i n the Machine" genannt hat. Der platonische Dualismus w i r k t e sich am stärksten auf die Lehre der Neuplatoniker aus. Dieser Lehre zufolge hat sich die Einzelseele — die platonische Vernunftseele — von allem Stofflichen und Sinnlichen zu befreien, u m zum ursprünglichen göttlichen Einen, von dem sie abgefallen ist, zurückzukehren. U m ihre Bestimmung zu erfüllen, die i n nichts anderem als i m Streben nach Einung m i t dem reinen göttlichen Geist besteht, muß sich die Einzelseele durch eine Läuterung (kâtharsis) aus der besudelnden Verbindung m i t dem Leibe loslösen und durch die reine Kontemplation des Göttlichen auf die ekstatische Einung vorbereiten. Da die Materie jeder Ordnung und Gestalt entbehre, kann sie nur als Finsternis und Prinzip des Bösen überhaupt betrachtet werden. Der Leib ist folglich nichts anderes als der düstere Kerker der Seele, und alles leibliche muß als schlecht und abträglich verabscheut werden. Dazu gehören nun i n erster Linie die Leidenschaften, Affekte und Ergriffenheiten, deren enge Leibverbundenheit — wegen der Erschütterung, die sie oft begleitet — i n die Augen springt. Diese Auffassung, die i m Grunde die stoische These der Naturwidrigkeit des Affektiven wiederholt, hat bekanntlich nicht nur die patristische und scholastische Philosophie und Theologie, sondern auch die christliche Mystik des Spätmittelalters und der Renaissance, vor allem durch die Werke des Pseudo-Dynoysius, stark beeinflußt.
§ 3. Die passiones animae bei Thomas von Aquin Nicht weniger entscheidend als der platonische anthropologische Dualismus beeinflußte die platonische psychologische Trichotomie die nachfolgende Gefühlsinterpretation. Als Plato drei voneinander getrennte und i n verschiedenen Teilen des Körpers (Kopf, Herz und Leber) lokalisierte Seelen unterschied, nämlich to logistikôn, ho thymôs und hë epithymia, und die Affekte von der lichten Sphäre der Vernunftseele ausschloß und sie auf die niedrigeren Seelen beschränkte, legte er nicht nur die Grundlage für die patristische und scholastische Auffassung des Affektiven, sondern bestimmte auch weitgehend die gesamte philosophische Affektinterpretation bis zur Gegenwart. 55
a.a.O., p. 90.
§ 3. Die passiones animae bei Thomas von Aquin
35
Aristoteles, der die Trichotomie Piatos und vor allem dessen Auffassung der Seelenteile als voneinander getrennte Seelen ablehnte, stimmte mit seinem Lehrer eindeutig darin überein, daß das Affektive i m Irrationalen bestehe. So schreibt er i n De Anima: „en tö alögö he epithymxa kai ho thymös 5e." I n seiner Einleitung zu den Quaestiones 22—30 der I — I I der Summa Theologica von Thomas von Aquino behauptet D'Arcy: I n De anima I I I Aristotle divides the powers of the soul into the logistikön, the rational, and the orexis, the non-rational; then, w i t h i n the non-rational, he divides the aisthetike, the sensory orexis, into epithumetike and t h u m i k e 5 7 .
Aber Aristoteles macht diese Einteilung nicht, sondern übernimmt vielmehr die platonische Gliederung i n logistikön, thymikon und epithymetikon, fügt die Auffassung anderer (die er nicht namhaft macht) hinzu, nach der die Seele vielmehr i n to älogon und to logon echon eingeteilt werden soll, und führt schließlich selber andere Teile der Seele an, i n die sie ebensogut eingeteilt werden könnte, wie threptikön, aisthetikön (welches, wie Aristoteles ausdrücklich sagt, nicht leicht i n logisch und alogisch unterteilt werden kann), phantastikön und orektikön. Dieses orektikön nun, i m Gegensatz zu dem, was D'Arcy behauptet, ist keineswegs nach Aristoteles ein alogischer Teil der Seele, sondern befindet sich in allen drei von Plato unterschiedenen Teilen der Seele (genauer gesagt, i n den drei platonischen Seelen), falls die Seele wirklich dreifach sein sollte: „ei de tria he psyche, en hekästö estax orexis 58." Die Gleichsetzung des Affektiven m i t dem Orektischen ist also weder eine platonische noch eine aristotelische, sondern eine stoische Auffassung; und die Identifizierung der aisthetike m i t der sinnlichen orexis und die Gliederung der sinnlichen orexis (appetitus sensitivus) i n epithymetike (concupiscibilis) und thymike (irascibilis) ist ebenfalls keine aristotelische, sondern eine thomasische Vorstellung. Daher konnte sich Thomas nicht auf A r i stoteles berufen, als er den appetitus zum eigentlichen Sitz der passiones animae erklärte, sondern mußte sich damit begnügen, seine Lehre (in Wirklichkeit die Lehre von Johannes von Damaskus, der sie offenbar aus stoischen Quellen geschöpft hatte) indirekt auf ein Zitat von Augustinus zu stützen: Sed contra est quod Augustinus dicit, quod motus animi, Graeci pdthe, nostri autem quidam, sicut Cicero, ,perturbationes', quidam ,affectiones' vel ,affectus', quidam vero, sicut in Graeco habetur, expressius ,passiones' vocant. E x quo 56
I I I , 9,432b. St. Thomas Aquinas, Summa theologiae, vol. 19, The Emotions (la2ae. 22-30). L a t i n text, English translation, Introduction, Notes and Glossary by Eric D ' A r c y (London, Blackfriars, 1967), p. X X V . 58 a.a.O. 57
Erster Teil: Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k patet quod passiones animae sunt idem quod affectiones. Sed affectiones m a n i feste pertinent ad partem appetitivam, et non ad apprehensivam. Ergo et passiones magis sunt i n appetitiva quam i n apprehensiva 5 9 .
U m die Zugehörigkeit der passiones zu der pars animae appetitiva zu begründen, greift hier Thomas zu der von Augustinus erwähnten Übersetzung des griechischen päthos durch das lateinische affectiones und behauptet, die affectiones gehören augenscheinlich zum orektischen Teil der Seele. Die zu Thomas* Zeit schon gemein gewordene Auffassung, die passiones seien dem Strebevermögen zuzuordnen, hatte Johannes von Damaskus mehrere Jahrhunderte vor Thomas vertreten. Johannes schrieb: „Passio est motus appetitivae virtutis sensibilis in imaginatione boni et mali 60." Diese Aussage gibt fast wörtlich die stoische Auffassung wieder, nach der die päthe i m Grunde nichts anderes sind als Impulse und Triebe, die als Reaktionen zu einem vorgestellten bonum bzw. malum entstehen. Andererseits beschränkt Thomas die passiones — sich diesmal ausdrücklich auf den Damascenus berufend — auf den sinnlichen Teil der Seele (pars animae sensitiva), womit er sich auch der Meinung Piatos und Aristoteles anschließt. Die passiones sind laut Thomas kein spezifisch menschliches Phänomen, sondern den Menschen und den Tieren gemeinsam 6 1 ; sie müssen daher der animalitas, nicht der rationalitas des menschlichen Wesens zugeschrieben werden. Dementsprechend nennt sie Thomas „animales passiones" 62. Damit unterschreibt er völlig die von den Griechen so stark betonte Irrationalität des Affektiven. Die animales passiones sind zwar nicht naturwidrig, wie die Stoiker behaupteten, aber sie sind doch, wie Cicero sagte, „vel rationis expers vel rationem aspernans vel rationi non oboediens". Den Grund für die Einreihung der passiones i n die A k t e der sinnlichen orexis sieht Thomas darin, daß die passiones wesenhaft m i t einer physiologischen Veränderung verbunden sind: „passio proprie invenitur ubi est transmutatio corporalis" 63. Das Charakteristischste an der passio sei jedoch — und hier kommt die stoische und neuplatonische pejorative Auffassung der päthe am deutlichsten zum Ausdruck —, daß sie jeweils eine Veränderung zum Schlimmen h i n ist, weshalb die Traurigkeit i m eigentlicheren Sinne als die Fröhlichkeit eine passio ist. So schreibt Thomas: 59 60 61 62 63
Summa theol., I - I I , q. 22, art 2. Johannes von Damaskus, De Fide orthodoxa, I I , 22, PG 94, 941. Summa theol., I - I I , q. 6, Einleitung. Summa theol., I - I I , q. 22, a. 3, sed contra. Summa theol., I - I I , q. 22, a. 3.
§ 3. Die passiones animae bei Thomas von Aquin
37
quando hujusmodi transmutatio fit i n deterius, magis proprie habet rationem passionis, quam quando fit i n melius. Unde t r i s t i t i a magis proprie est passio quam laetitia 6 4 .
Diese Lehre der Sinnlichkeit der passiones kann man bis Plato zurückverfolgen, der die päthe der zweiten, von der Vernunftseele getrennten und m i t dem Leib eng verbundenen Seele, dem thymös, zuordnete. Geistige Gefühle (wie später Scheler und zum Teil auch K a n t annehmen werden) kann es nach Thomas* Ansicht grundsätzlich nicht geben; ein geistiges Gefühlsvermögen kennt er ebensowenig wie ein sinnliches. Die eigentlichen Affekte entspringen stets dem sinnlichen Strebevermögen (appetitus sensitivus). Jene orektischen Akte, die Thomas dennoch i n die geistige Sphäre — vor allem aus theologischen Gründen — aufnehmen mußte, und die heute von der Philosophie und auch von der Psychologie gemeinhin als Gefühle und Affekte oder als Emotionen angesehen werden (wie Liebe, Freude usw.), sind nach Thomas keine passiones, sondern A k t e des geistigen Strebevermögens (actus appetitus intellectivi, i. e. vo~ luntatis). So schreibt er: A d t e r t i u m dicendum, quod amor et gaudium et alia hujusmodi, cum a t t i b u u n t u r Deo v e l angelis, aut hominibus secundum appetitum intellectivum, significant simplicem actum voluntatis cum similitudine effectus absque passione 85 .
Dies zeigt eindeutig, daß Thomas, obwohl er die passiones ausführlich und scharfsinnig behandelt hat, dem eigentlichen Affektiven keine theologische Relevanz zuerkannt hat; ausschließlich für die Moralphilosophie hatten die passiones — vorwiegend als zu überwindende Hindernisse auf dem Wege der Vollkommenheit betrachtet — eine gewisse Bedeutung. Es ist daher nicht verwunderlich, daß unter diesen Umständen die anthropologische und erst recht die ontologische Bedeutsamkeit des Affektiven Thomas i m wesentlichen verschlossen bleiben mußte. I n Wirklichkeit trug die thomasische Interpretation der passiones vielmehr dazu bei, die wahre Natur des Affektiven zu verdecken, sofern Thomas die passiones für Strebungen des sinnlichen Begehrensvermögen hielt und somit die Eigenständigkeit des Affektiven nicht an den Tag kommen ließ. Diese Auffassung hielt sich ein halbes Jahrtausend hindurch und bestimmte die ganze scholastische Spekulation, bis Tetens und K a n t sie i n Frage stellten. Noch länger hielt sich die andere Ansicht, nämlich daß alle Affekte wesenhaft sinnlich seien; es ist das Verdienst Max Schelers gewesen, dieses seit Plato unbezweifelte Dogma zuerst i n Frage gestellt zu haben. Dafür übernahm Scheler unbefangen den scholastischen Lehrsatz, die geistigen Gefühle (die die Scholastik als actus voluntatis behandelt hatte) 64 85
Summa theol., I - I I , q. 22, a. 1. Summa theol., I - I I , q. 22, a. 3.
Erster Teil: Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k seien wesenhaft intentionale, gegenstandsbezogene Akte. Diese Schelersche These kann als die letzte Folge der stoischen Lehre über die orektische Natur der päthe und deren wesenhaften Bezug zu Gut und Übel angesehen werden. Nach Thomas sind die passiones also intentionale Akte der sinnlichen orexis, die sich jeweils auf einen ebenfalls sinnlichen Gegenstand — ein sinnliches Gut: das Lustvolle (delectabile) bzw. ein sinnliches Übel: das Schmerzhafte (dolorosum) M — beziehen. Da die A k t e ihre Spezifizierung jeweils aus der Eigenart ihrer eigenen Objekte erhalten, ist es gerade die Beschaffenheit des Objektes, was die thomasische Einteilung und A n ordnung der passiones ermöglicht. A u f der orektischen Intention auf Gut und Übel gründet sich ferner die eigentümliche Polarität, die der Klasseneinteilung der passiones bei Thomas zugrunde liegt und die Gegensätze L i e b e - H a ß , Sehnsucht - Flucht, Freude - Trauer usw. entstehen läßt. 6 7 . Wiederum aus stoischem Gedankengut schöpfend, betrachtet Thomas die passiones als Bewegungen; doch kennzeichnend für Thomas' Auffassung der passiones als motus ist es, daß er gerade die räumliche Bewegung zweier Körper, die sich anziehen bzw. abstoßen, als Modell für die A k t e der passiones nimmt. Daß es sich dabei u m ein wirkliches Modell und nicht u m eine veranschaulichende Analogie handelt, geht deutlich aus I - I I q. 23 a r t . 4, aus q. 25 a r t . 2 u n d 3 u n d aus q. 26 a r t . 2 der Summa
theol.
— wie D'Arcy richtig bemerkt 6 8 — hervor. Die räumliche Bewegung also m i t ihren drei Momenten: Neigung (inclinatio), eigentliche Bewegung (moveri ad locum) und Ruhezustand (quiescit i n loco) liefert Thomas das zweite Gliederungsprinzip der Leidenschaften. So entspricht dem Moment der Neigung die Leidenschaft der Liebe, dem Moment der Bewegung die Leidenschaft der Sehnsucht oder Begierde und dem Moment der Ruhe die Leidenschaft der Lust oder Freude. Das dritte und letzte Gliederungsprinzip bietet der Begriff der Schwierigkeit (quod habet rationem ardui vel difficilis). Wenn also das Erreichen bzw. Vermeiden des Lustvollen bzw. Schmerzhaften mit Schwierigkeit verbunden ist, entsteht eine neue Gruppe von Leidenschaftsgegensätzen, die wiederum nach dem zweiten Prinzip der Bewegung dreifach gegliedert ist. Daraus ergibt sich folgendes Schema: Liebe Begierde Freude Hoffnung Kühnheit 68 67 68
Summa theol., I - I I , q. 23, a. 1. Summa theol., I - I I , q. 23, a. 2. D'Arcy, The Emotions, p. X X V I ff.
Haß Flucht Trauer Verzweiflung Furcht Zorn
§ 3. Die passiones animae bei Thomas von Aquin
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Nur für den Zorn gibt es keine gegensätzliche Leidenschaft, da das erreichte Gut nicht mehr die Bewandtnis des Mühevollen haben kann 6 9 . Alle drei Gliederungsprinzipien: die Polarität des bonum et malum sensibile, die drei Bewegungsmomente — inclinatio, motus, quies — und die Schwierigkeit des Erreichens bzw. Vermeidens, ergeben sich aus der G r u n d a u f f a s s u n g d e r passiones
als actus appetitus
sensitivi.
Denn wenn
die Leidenschaften i m Grunde nichts anderes als Bewegungen des sinnlichen Strebevermögens sein sollen, liegt es auf der Hand, daß erstens ihr Gegenstand das Lustvolle bzw. das Schmerzhafte sein muß, daß zweitens sie nicht anders können als zu diesem Gegenstand h i n tendieren bzw. sich von i h m abkehren, und daß sie dies schließlich entweder m i t Leichtigkeit oder m i t Schwierigkeit vollziehen. Das Resultat ist zwangsläufig ein starres Schema zweier Gruppen von jeweils drei Leidenschaftspaaren, welches, obwohl es den Anspruch darauf macht, sämtliche passiones animae zu enthalten, offenbar weit entfernt davon ist, der Mannigfaltigkeit des Affektiven gerecht zu werden 7 0 . Bei der Klasseneinteilung der Leidenschaften bei Thomas spielt dagegen die Stärke der Affekte als Gliederungs- und Unterscheidungsgrund gar keine Rolle. Die passiones können sowohl heftig und überwältigend als auch ruhig und m i l d sein; wesentlich ist nur, daß sie von irgendeiner physiologischen Veränderung begleitet sind. Die „naturalis transmutatio organi" gehört ja wesenhaft zur Betätigung des sinnlichen Strebevermögens und w i r d von Thomas als „materia" der Leidenschaft aufgefaßt: Sed ad actum appetitus sensitivi per se ordinatur hujusmodi transmutatio: unde i n definitione m o t u u m appetitivae partis, materialiter ponitur aliqua naturalis transmutatio organi; sicut dicitur quod „ i r a est accensio sanguinis circa cor" 7 1 .
Die natürliche Organveränderung unterscheidet sich wesentlich von der sog. geistigen Veränderung der sinnlichen Wahrnehmungskraft. Hier w i r d lediglich das A b b i l d eines Wirklichen aufgenommen. Bei der Betätigung des sinnlichen Strebevermögens dagegen verändert sich das Organ selbst, und zwar nicht zufälligerweise — z. B. wenn das Auge infolge des angestrengten Hinsehens ermüdet —, sondern von Hause aus, so daß man i n die Begriffsbestimmung der Regungen des Strebeteils irgendeine natürliche Organveränderung als materia einschließen muß 7 2 . Die forma der passio jedoch — das eigentlich Bestimmende also — ist der intentionale A k t des sinnlichen Strebevermögens selbst, der seinen Sitz aber nicht i m Körper, sondern eigentlich i m sinnlichen Seelenteil hat. Eben 69
Summa theol., I - I I , q. 23, a. 4. Dies gibt der Kommentator der Affektenlehre der Summa theol. (Blackfriars), Eric D'Arcy, a.a.O., p. X X I X , u n u m w u n d e n zu. 71 Summa theol., I - I I , q. 22, a. 2. 72 Siehe Eric D'Arcy, The Emotions, p. X X X I I . 70
Erster Teil: Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k durch diese forma unterscheidet sich die passio von den geistigen Akten des Strebevermögens (geistige Liebe, Freude usw.). Die materia der passio hingegen erlaubt es, die Leidenschaft von der sinnlichen Wahrnehmung — die ohne natürliche Organveränderung stattfinden kann — zu unterscheiden, und außerdem noch, sie überhaupt als passio zu betrachten. Denn es ist zweifellos merkwürdig, daß ein Akt gerade als passio aufgefaßt w i r d — an sich gehören die actus eben zur actio, der neunten aristotelischen Kategorie. Es besteht nun kein Zweifel darüber, daß Thomas die passiones als actus betrachtet 73 . Aber die zum Wesen der passio als materia gehörende natürliche (physische) Veränderung eines Organs erlaubt Thomas, diese merkwürdigen A k t e der zehnten Kategorie des Aristoteles, to päschein, zuzuordnen. D'Arcy sieht dabei keine Inkonsequenz. Er schreibt: I do not t h i n k that this is an inconsistency; I t h i n k that St. Thomas consist e n t l y assigns the passiones to the tenth category, passio: b u t he does not see t h e m as pure inert passivity. Perhaps the English w o r l d that w o u l d best h i t the point off is reaction: activity, yes, but an activity that is produced b y some other a g e n t . . . 7 4
Dazu kann man aber einwenden: gewiß sieht Thomas die passiones nicht als „pure inert passivity aber: Genügt schon ein Reagieren, u m einen A k t als passio zu bezeichnen? Ist der sinnliche Wahrnehmungsakt nicht auch eine Reaktion, die von einem äußerlichen Agens hervorgerufen wird? Warum w i r d denn auch dieser A k t nicht passio genannt? Es scheint uns, daß der Grund, weshalb Thomas die Bezeichnung passio der Betätigung des sinnlichen Strebevermögens vorbehält, vielmehr gerade jener Wesenszug ist, der nach Thomas die Wahrnehmung von der passio zu unterscheiden erlaubt, nämlich daß letztere ihrem Wesen nach mit einer natürlichen (nicht geistigen) Organveränderung verbunden ist. Es ist also die materia der passio, nicht ihre forma, was Thomas zur Annahme verleitet hat, die passio müsse unter die zehnte aristotelische Kategorie fallen. Wenn man dabei nicht von einer Inkonsequenz sprechen w i l l , so muß man doch diese Paradoxie als Zeichen jener Aporie ansehen, die sich daraus ergibt, daß man dinghafte Seinsbestimmungen auf das spezifisch Menschliche anwendet. Nicht nur passio also, sondern auch actio (und reactio!) scheinen dazu unfähig, das Wesen der Affekte angemessen zu bestimmen. § 4. Vives' Interpretation des Affektiven I m Gegensatz zu Thomas unterscheidet der spanische Humanist und Philosoph Juan Luis Vives i m 3. Buch des 1538 i n Brügge vollendeten 73 74
Siehe u. a. die Einleitung zu I - I I q. 6 u n d q. 22 passim. D'Arcy, The Emotions, p. X X I I .
§ 5. Descartes' Passions de l'Âme
41
Tractatus de anima et vita zwischen den milden und den heftigen Affekten. Die ersten nennt er affectiones, die anderen commotiones bzw. alterationes. Nur diese letzteren seien das, was die Griechen pâthë nannten, denn hier leide die Seele wirklich gleichsam unter einem Stoß und einer Erschütterung, die, wenn sie einen gewissen Grad von Heftigkeit erreichen, eine wirkliche Verwirrung (confusio, perturbatio) und Verblendung (caecitas) i n der Seele verursachen. I m wesentlichen jedoch stimmt Vives* Auffassung m i t der stoischen und thomasischen überein, da er alle Affekte, sowohl die milden als auch die heftigen, wesentlich als Triebe auffaßt, die von Hause aus auf ein Gut bzw. ein Übel bezogen sind. Es ist eben dieses Gut bzw. Übel, was das erste Gliederungskriter i u m der Affekte bei Vives ausmacht. Das zweite ist ein temporales K r i terium: bonum et malum können ja gegenwärtig, vergangen oder zukünftig sein. I n Verbindung miteinander begründen sie eine Affektentafel, die i n der Tat kaum von der Leidenschaftsliste von Thomas abweicht. Vives zählt folgende Affekte auf: Gefallen, Liebe, Freude, Begierde, Mißfallen, Haß, Traurigkeit, Furcht, Zorn, Abscheu, Empörung, Vertrauen und Verwegenheit. Unter die Liebe stellt Vives ferner Wohlwollen, Ehrfurcht und Mitleid; unter die Freude, das Vergnügen; unter die Begierde, die Hoffnung und schließlich unter die Traurigkeit, den Gram 7 5 . Außerdem teilt Vives die übliche Voreingenommenheit gegen das Affektive, indem er die herkömmliche Auffassung übernimmt, die A f fekte seien wesentlich vernunftwidrig und des Weisen unwürdig. Ferner ist die stoische Ansicht, daß die Affekte einem falschen Urteil über Gut und Böse entspringen, für die Affektinterpretation des spanischen Humanisten maßgebend. Die Tendenz, die Affekte als Impulse und Triebe zu betrachten, fand schließlich i n der neuzeitlichen Philosophie ihren berühmtesten Vertreter i n Thomas Hobbes, der sämtliche Affekte für Formen des Begehrens und der Abneigung hielt. I n der heutigen Philosophie jedoch hat diese Auffassung nur noch sehr wenige Anhänger. § 5.
Descartes' Passions de l'Âme
Durch die Philosophie von Descartes vollzog sich ein radikaler Umschwung i n der Affektinterpretation. Descartes selbst war sich des Neuen seiner Interpretation sehr bewußt. So schrieb er am Anfang der 1649 i n Amsterdam veröffentlichten Abhandlung Les Passions de l'Ame: I l n'y a rien en quoy paroisse m i e u x combien les sciences que nous avons des Anciens sont défectueuses, qu'en ce qu'ils ont escrits des Passions . . . Ce que les 75
Juan Luis Vives , Tractatus de anima et vita, 1.3, c. 1.
Erster Teil Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k Anciens en ont enseigné est si peu de chose, et pour la plus part si peu croyable, que je ne puis avoir aucune esperance d'approcher de la vérité, qu'en m'éloignant des chemins qu'ils ont suivis. C'est pourquoy j e seray obligé d'escrire icy en mesme façon, que si je traitois d'une matière que jamais personne avant moy n'eust touchée 76 .
Trotz der unleugbaren Originalität von Descartes auf dem Gebiet der Affektinterpretation, ist seine Unabhängigkeit von der Tradition i n Wirklichkeit nicht so groß, wie er meint. Obwohl Descartes seine Interpretation vor allem der für die Scholastik maßgebenden peripatetischen Affektenlehre entgegenstellt 77 , bleibt er dem traditionellen Denken, insofern noch ziemlich nahe, als er etliche Auffassungen platonischer und stoischer Provenienz unbedenklich übernimmt. I n bezug auf die cartesianische Terminologie merkt man, daß Descartes die scholastische Bezeichnung des Affektiven ohne Bedenken übernommen hat: was bei Thomas passiones animae hieß, heißt jetzt bei Descartes passions de l'âme. Allerdings kennt Descartes andere Namen des Affektiven, wie „sentiments " und „émotions de l'âme", doch diese Benennungen bedeuten nicht ganz dasselbe wie passions und werden i n der Tat auch für Phänomene verwendet, die sich von den passions wesentlich unterscheiden. So bedeutet das Wort „sentiment" die durch die sowohl äußeren als auch inneren Sinne empfangenen Eindrücke i n der Seele, während das Wort „émotion" alle Veränderungen der Seele bezeichnet, auch wenn sie rein intellektueller Natur sind. Dennoch verdienen besonders die passions de l'âme „sentiments " genannt zu werden, „ w e i l die Seele sie ebenso wie die Gegenstände der äußeren Sinne empfängt und nur so kennen lernt"; und sie können noch trefflicher „émotions " genannt werden, „da dieser Name nicht bloß allen Veränderungen i n der Seele beigelegt werden kann, d. h. allen aufsteigenden Gedanken, sondern hauptsächlich, w e i l von allen ihren Gedanken [pensées] keine sie so stark erregen und erschüttern als eben die Leidenschaften" 78 . Descartes versteht also die passions als pensées de l'âme, als cogitatio, und die Definition derselben lautet: Des perceptions, ou des sentimens, ou des émotions de l'ame, qu'on raporte particulièrement à elle, et q u i sont causées, entretenuës et fortifiées par quelque mouvement des esprits 7 9 . 76 Descartes, OEuvres, éd. par Charles A d a m et Paul Tannery, vol. X I (Paris, Cerf, 1909), Les Passions de l'Ame, 1ère. Partie, art. 1, p. 327 f. 77 Siehe den „Avertissement d'un des amis de l'autheur", a.a.O., p. 312 f. 78 a.a.O., 1ère, partie, art. 28 - 29. Die deutsche Übersetzung übernehmen w i r von: René Descartes , Philosophische Werke, übers, u. hrsg. v. A r t u r Buchenau, 2. Bd. 4. Abt.: Über die Leidenschaften der Seele, 3. Aufl. (Leipzig, Meiner, 1911), S. 16. 79 Descartes , OEuvres, vol. X I , art. 27.
§ 5. Descartes' Passions de l ' m e
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W i r haben schon gesehen, warum Descartes die passions „sentiments " und „émotions " genannt hat; er erklärt auch weshalb er sie als „perceptions " zu bezeichnen vermag: On les peut nommer des perceptions, lors qu'on se sert generalement de ce mot, pour signifier toutes les pensées q u i ne sont point des actions de l'ame, ou des volontez; mais non point lors qu'on ne s'en sert que pour signifier des connoissances evidentes. Car l'experience fait v o i r que ceux q u i sont les plus agitez par leurs passions, ne sont pas ceux q u i les connoissent le mieux, et qu'elles sont d u nombre des perceptions que l'estroite alliance q u i est entre l'ame et le corps rend confuses et obscures 80 .
A n dieser Auffassung der passions zeigt sich schon das Neue der cartesianischen Interpretation und das, was sie so scharf von der Affektenlehre der Antike und der Scholastik trennt: die passions werden nicht mehr als Impulse und Triebe des Strebevermögens aufgefaßt, sondern als pensées (cogitationes), die sich von anderen perceptions der Seele lediglich dadurch unterscheiden, daß sie verworren und dunkel, "während jene klar und deutlich sind. Anstatt einer orektisch-intentionalen, entsteht hier eine noetische Auffassung der Affekte, die sicher noch nicht bei Descartes, aber bald darauf i m Rationalismus stark intellektualistische Züge annehmen wird. Somit weist Descartes Thomas* These zurück, daß die passiones i h r e n S i t z i n der pars animae
appetitiva
u n d n i c h t i n d e r appre-
hensiva haben. Aber Descartes w i l l auch nicht die passions i n der pars animae apprehensiva lokalisieren; denn er lehnt entschieden jede Einteilung der Seele ab. Es gibt weder einen niederen sinnlichen noch einen höheren vernünftigen, weder einen orektischen noch einen noetischen, und innerhalb des sinnlichen orektischen Teils weder einen appetitus concupiscibilis noch einen appetitus irascibilis, sondern es gibt nur eine einzige Seele, die keine verschiedenen Teile kennt 8 1 . Diese einfache Seele ist der einzige wahre Sitz der passions, die eben darum passions de l'âme heißen 82 . I m Gegensatz zum Körper, den er als res bzw. substantia extensa begreift, faßt Descartes bekanntlich die Seele als res bzw. substantia cogitans auf. Trotzdem sind Seele und Leib i n der cartesianischen Auffassung — i m Gegensatz zu dem, was allgemein behauptet w i r d — aufs engste miteinander verbunden. Obgleich die Seele i n alle Teile des Körpers eindringt, gibt es doch i n i h m ein Teil, wo sie ihre Operationen vorzüglich ausübt, nämlich die Zirbeldrüse, die sich i n der Mitte des Gehirns befindet und, da sie — anders als andere Teile des Gehirns — nicht doppelt ist, sich am besten dazu eignet, die zweifachen Eindrücke der zweifachen Sinnesorgane zu einem B i l d zu summieren, ehe sie i n die Seele gelangen. 80 81 82
a.a.O., art. 28. a.a.O., art. 47 u. 68. a.a.O., art. 4 u. 17.
Erster Teil Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k Diese Drüse ist jedoch nach Descartes nur insofern als eigentlicher Sitz der Seele anzusehen, als die Seele n u r i n i h r und nirgendwo sonst unmittelbar wirksam ist 8 8 . Sie stellt gleichsam den Berührungspunkt der zwei wesensverschiedenen Substanzen dar. I n u n d durch dieses Zentrum sollen sich sämtliche Wechselwirkungen der res cogitans und der res extensa vollziehen. Descartes faßt diese Wechselwirkungen nach einem streng mechanistischen Modell auf. Doch es ist nicht die Seele, die den Körper bewegt — w i e die aristotelische Lehre behauptet —, sondern es ist i m Gegenteil der Körper, der auf die Seele einwirkt. Dies geschehe durch „les esprits animaux „un certain air ou vent très-subtil" 8 4 — „parties du 85 sang très-subtiles" — die selbst Körper sind: . . . car ce que j e nomme icy des esprits, ne sont que des corps, et ils n'ont point d'autre propriété, sinon que ce sont des corps trèspetits, et q u i se meuvent tres-viste, ainsi que les parties de la flame q u i sort d'un flambeau 85 .
Es sind also diese Lebensgeister, die mechanisch die Zirbeldrüse bewegen, welche dann ihrerseits die Seele, m i t der sie aufs engste u n d u n m i t telbar verbunden ist, ebenfalls mechanisch bewegt und i n i h r die verschiedenen passions, j e nach der A r t der verschiedenen Lebensgeister, entstehen läßt. Obwohl sie vielfach angegriffen u n d verspottet worden ist, hat diese Auffassung das große Verdienst, zuerst auf die physiologische Bedingtheit der Affekte hingewiesen zu haben; sie bereitete den Weg zum Verständnis der entscheidenden Rolle, die die innere Sekretion i m emotionalen Leben spielt. Descartes k o m m t es vor allem darauf an, entgegen der aristotelischen und scholastischen Auffassung zu zeigen, daß erstens der Sitz der Affekte die einfache, unteilbare Seele, u n d daß zweitens der Körper und nicht die Seele, die unmittelbare Ursache der Leidenschaften ist. Die passions erscheinen demnach zum ersten M a l als rein psychische, doch physiologisch verursachte Phänomene. Eben darum sind sie passiones und nicht Akte. Die einzige wirkliche Tätigkeit der Seele ist der Willensakt: i l ne reste rien en nous que nous devions attribuer a nostre ame, sinon nos pensées, lesquelles sont principalement de deux genres: à sçavoir, les unes sont les actions de l'ame, les autres sont ses passions. Celles que je nomme ses actions, sont toutes nos volontez, à cause que nous experimentons qu'elles viennent directement de nostre ame, et ne semblent dépendre que d'elle. Comme, au contraire, on peut generalment nommer ses passions, toutes les sortes de perceptions ou connoissances q u i se trouvent en nous, à cause que souvent ce n'est pas nostre ame q u i les fait telles qu'elles sont, et que tous jours elle les reçoit des choses q u i sont représentées par elles 88 . 83 84 85 88
a.a.O., art. a.a.O., art. a.a.O., art. a.a.O., art.
32 - 39. 7. 10. 17.
§ 5. Descartes' Passions de l ' m e
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Passion w i r d hier noch als aristotelische Kategorie verstanden, und zwar i n dem Sinne, wie Aristoteles sie i n Physik I I I , 3, 202b verstanden hat, d. h. als Gegensatz zu actio und doch i m Grunde insofern auch als identisch m i t der actio, als beide zwei Seiten ein und derselben Sache sind 8 7 . Nach Descartes jedoch gibt es nur eine einzige wahre action de Tarne, nämlich den Willensakt, der allein völlig spontan und von allem anderen unabhängig ist. Alles andere, was nicht dieser Willensakt ist bzw. von i h m nicht unmittelbar abhängt, ist passion de Väme oder perception, d. h. die i n der Seele empfangene Wirkung einer äußeren U r sache (ein Objekt der äußeren Sinne oder der Leib selbst, der wiederum auf zweierlei Weise auf die Seele wirken kann, einmal durch die inneren Sinne, und zum anderen eben durch die Lebensgeister, die die passions durch die Zirbeldrüse i n der Seele hervorrufen). I m Gegensatz zu Thomas versteht Descartes die Affekte als passiones, weil sie die Wirkung einer Tätigkeit sind, die vom Leib selbst ausgeübt wird. Thomas dagegen hatte die Affekte, die er stets als A k t e ansieht, nur deshalb als passiones aufgefaßt, weil sie wesentlich von einer Organveränderung — die materia der Affekte — begleitet werden, ohne daß diese Organveränderung sich irgendwie an der Verursachung des entsprechenden Aktes des sinnlichen Strebevermögens zu beteiligen braucht. Weil die passion de Väme ferner von Descartes nicht als intentionaler A k t aufgefaßt wird, ist sie nicht m i t einem Gegenstand von Hause aus verbunden, und w e i l sie keine orexis ist, braucht sie auch nicht auf ein Gut bzw. ein Übel bezogen zu sein. Der physiologische Ursprung der passions legt nahe, daß manchmal Affekte i n der Seele auftreten, ohne daß w i r einen Grund angeben können, warum w i r uns so und nicht anders fühlen, und ohne daß w i r auf ein Objekt zeigen können, das für die Entstehung des Affekts irgendwie verantwortlich gemacht werden kann 8 8 . Darum sind jene gegenstandslosen emotionalen Phänomene, die später i n der Psychologie als Stimmungen bezeichnet werden, für die cartesianische Auffassung des Affektiven weniger rätselhaft als für die orektisch-intentionale Deutung des Emotionalen. Weil die Objektbezogenheit keine wesentliche Eigenschaft der passions darstellt, und diese keine Akte des Strebevermögens sind, die sich notwendigerweise auf Gut und Böse richten müssen, mußte Descartes nach einem Gliederungsprinzip für seine Leidenschaftstafel suchen, das i n etwas anderem als i n der Eigenart der Objekte besteht. Entsprechend der festgestellten physiologischen Bedingtheit der Leidenschaften, liegt es auf der Hand, daß Descartes zunächst das Einteilungskriterium bei der unmittelbaren Ursache der passions zu finden versuchte. Er stellte jedoch 87 88
a.a.O., art. 1. a.a.O., art. 51,93, 94.
Erster Teil Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k bald fest, daß die letzte und nächste Ursache der Affekte, nämlich die Bewegung, die die Lebensgeister i n der Zirbeldrüse auslösen, nicht ausreicht, die passions voneinander zu unterscheiden; darum wurde er gezwungen, sich den entfernteren und mittelbaren Ursachen zuzuwenden. Unter diesen fand er nur eine, die als K r i t e r i u m für die Unterscheidung und als Grundlage für die Klasseneinteilung der Affekte dienen kann, nämlich die sinnlichen Gegenstände, die manchmal die passions erregen können: . . . i l paroist neantmoins, par ce q u i a esté dit, que toutes les mesmes peuvent aussi estre excitées par les objets q u i meuvent les sens, et que ces objets sont leurs causes plus ordinaires et principales; d'où i l suit que, pour les trouver toutes, i l suffit de considérer tous les effets de ces objets 8 9 .
Daraus erhellt, daß Descartes letzten Endes doch auf das gleiche Einteilungskriterium zurückgreifen muß, welches Aristoteles, die Stoiker, Thomas und Vives ihren Affektentafeln zugrunde gelegt hatten; ja Descartes scheut sich nicht zu sagen, daß die sinnlichen Gegenstände sogar die gewöhnlichsten und hauptsächlichsten Ursachen der Leidenschaften sind. Doch braucht der sinnliche Gegenstand dem Subjekt nicht immer als ein Gut bzw. ein Übel zu erscheinen, und folglich braucht nicht jede Leidenschaft einen Gegensatz zu haben. So ist der Gegenstand der Verwunderung ein Neues bzw. ein von allem Bisherigen oder mindestens von dem, was w i r erwarten, Verschiedenes. Aber w i r geraten i n Verwunderung, ehe w i r wissen, ob der Gegenstand für uns paßt oder nicht, d. h. ehe w i r i h n als gut oder übel wahrnehmen. Daher betrachtet Descartes die Verwunderung als die erste Leidenschaft. „Sie hat auch kein Gegenteil; denn wenn der sich darbietende Gegenstand nichts Überraschendes für uns hat, so werden w i r davon nicht bewegt und betrachten ihn ohne Leidenschaft 90 ." (Vielleicht könnte man doch die Langeweile als Gegenteil der Verwunderung betrachten; auf jeden Fall hat Descartes die Langeweile nicht als passion angesehen.) Außer der Verwunderung können auch Hoch- und Geringschätzung, Edelmut und Hochmut, Demut und Niedrigkeit, Verehrung und Verachtung „ i n uns entstehen, ehe w i r irgendwie wissen, ob der sie veranlassende Gegenstand gut oder schlecht ist. Zeigt sich aber ein Gegenstand für uns zuträglich, d. h. uns angemessen, so fassen w i r Liebe zu ihm, und zeigt er sich als schlecht oder schädlich, so erweckt dies Haß gegen denselben; dann aber fügt Descartes hinzu: „Aus dieser selben Erwägung des Guten und Bösen entspringen alle anderen Leidenschaften 91 ." Die Cartesianische Affektentafel enthält, außer den schon erwähnten, folgende Leidenschaften: Begehren, Hoffnung, Furcht, Eifersucht, Zu89 90 91
a.a.O., art. 51. a.a.O., art. 53. a.a.O., art. 54 - 56.
§ 5. Descartes' Passions de l'Âme
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versieht, Verzweiflung, Unentschlossenheit, Mut, Kühnheit, Wetteifer, Feigheit, Schrecken, Gewissensbisse, Freude, Traurigkeit, Spott, Neid, Selbstzufriedenheit, Reue, Gunst, Dankbarkeit, Unwille, Zorn, Ruhm, Schande, Ekel, Bedauern und Fröhlichkeit 9 2 . Es gibt laut Descartes jedoch nur sechs einfache und ursprüngliche Leidenschaften: Verwunderung, Liebe, Haß, Begehren, Freude und Traurigkeit. Alle anderen sind aus einigen dieser sechs zusammengesetzt oder aber Unterarten derselben 93 . So ist die Furcht (la crainte) eine Unterart des Begehrens, die entsteht, wenn die Erlangung eines Guts oder die Abwendung eines Übels als wenig wahrscheinlich vorgestellt w i r d 9 4 . Die Angst (la peur) und der Schrecken (l'épouvante) dagegen sind Unterarten der Furcht, die entstehen, wenn das erwartete Ereignis von uns abhängt und die Ausführung der Handlung Schwierigkeiten macht 96 . Bei allen diesen Definitionen ist Descartes sich dessen sehr bewußt, daß die passion selbst etwas ganz anderes ist, als ihre eventuelle Ursache, nämlich der vorgestellte sinnliche Gegenstand. Weil die Leidenschaft keine Strebung und überhaupt kein intentionaler A k t ist, gehört der Gegenstand nicht zu ihrem Wesen; das sinnliche Objekt ist höchstens die Ursache des Affekts und bildet das einzige zureichende Unterscheidungskriterium der Leidenschaften. Es handelt sich folglich dabei lediglich u m äußerliche Unterscheidungsmerkmale, nicht aber u m eigentliche unterscheidende Wesenszüge. Zur passion gehört wesentlich, daß sie durch die Bewegung der Lebensgeister veranlaßt wird. Dies scheint allerdings wiederum ein äußerliches Merkmal zu sein, doch i n Wirklichkeit ist die Bewegung der Lebensgeister nicht nur Ursache, sondern auch insofern wesentliches Merkmal der Leidenschaft, als ihre Wirkung auf die Seele vermittels der Zirbeldrüse bestimmte organische Veränderungen — vor allem i m B l u t und Herzen — m i t sich bringt, welche, sofern sie bewußt sind, zur Bildung jener komplexen pensée, i n der die Leidenschaft eigentlich besteht, beitragen, und zwar als konstituierende Elemente derselben. Descartes kennt auch eine von der passion de l'âme wesentlich verschiedene und doch dieser sehr ähnliche „émotion intérieure de l'âme", die nicht von den Lebensgeistern, d. h. letztlich vom Leib, sondern von der Seele selbst verursacht w i r d 9 6 . So gibt es neben der Leidenschaft der Freude, der Liebe, der Verwunderung usw. eine „loye [joie] intellectuelle", d. h. eine intellektuelle Freude, Liebe, Verwunderung usw. Man sieht an den Beispielen, die Descartes anführt, daß der Gegenstand so92 93 94 95 96
a.a.O., art. a.a.O., art. a.a.O., art. a.a.O., art. a.a.O., art.
57 - 67. 69. 58. 59. 147.
Erster Teil Die Vorgeschichte der S t i u n g s p r o b l e m a t i k w o h l der passion als auch der émotion intérieure das gleiche sein kann; das einzige, was sie unterscheidet, ist die Abwesenheit jeder körperlichen Erregung bei der émotion intérieure u n d die Annahme, daß sie aus dem T i e f s t e n d e r Seele e n t s p r i n g t : „ u n e loye secrete dans le plus intérieur son ame".
de
A m Ende k o m m t die cartesianische Auffassung doch der thomasischen ziemlich nahe. Auch Thomas hatte die Organveränderung als wesentliches M e r k m a l der passiones animae anerkannt u n d die eigentlichen passiones v o n den ihnen sehr ähnlichen intellektuellen Strebungen durch gerade diese organische Veränderung unterschieden. W e i l Descartes ferner das gleiche Einteilungskriterium w i e Thomas gebraucht, sind i n W i r k l i c h k e i t die cartesianische u n d die thomasische Affektentafel — w e n n man von der ersten cartesianischen Leidenschaft, nämlich der Verwunderung, absieht — einander sehr ähnlich; denn außer der Verwunder u n g sind alle sechs einfachen u n d ursprünglichen cartesianischen L e i denschaften i n der aus elf passiones bestehenden Liste von Thomas enthalten. Es scheint i n der Tat unvermeidlich, daß bei jeder Unterscheidung u n d Einteilung der Affekte der Gegenstand derselben, sei es als Ursache, sei es als intentionaler Pol des Aktes, berücksichtigt werden muß. Wie w i r es bei Thomas u n d Descartes festgestellt haben, k o m m t bei jeder Klassifizierung des A f f e k t i v e n zwangsläufig die enge Beziehung des A f f e k t i v e n zum Orektischen zum Vorschein. Es scheint, als ob n u r das uns irgendwie Angehende, „ce qui nous importe die K r a f t hätte, Affekte bei uns zu erwecken. Dieses Uns-Angehende ist offenbar zunächst das uns Zuträgliche bzw. Schädliche (ein Gut oder ein Übel), d. h. das eigentliche Objekt einer Strebung. So müssen sich auch die modernsten Einteilungen der Affekte i n der systematischen Psychologie, w i e z. B. die Klassifikation von Lersch, w e i t e r h i n an der Gliederung der Strebungen orientieren 9 7 . Es ist ferner bemerkenswert, daß die moderne Auffassung u n d Unterscheidung von feelings u n d émotions (wie sie etwa bei Ryle zu finden ist), gemäß der es kein spezifisches feeling der Verwunderung, der Achtung, des Hochmuts usw. gibt, i n W i r k l i c h k e i t die Auffassungen von Descartes u n d Thomas eher bestätigt als widerlegt. Denn weder hat Thomas die Organveränderung noch Descartes die durch die Lebensgeister verursachte körperliche Erregung jemals m i t der passio selbst v ö l l i g identifiziert. Obwohl i n beiden Auffassungen die gespürte Organveränderung ein wichtiges Moment der Leidenschaft darstellt, ist diese selbst auf alle Fälle etwas mehr als die körperliche Erregung. Die Emotion — so w i r d heute allgemein angenommen — ist zwar kein feeling, aber sie ist stets von bestimmten feelings begleitet. Sollte das als Emotion bezeichnete 97
Philipp
Lersch, Aufbau der Person, 9. Aufl. (München, Barth, 1964), S. 229.
§ 6. Die Passions in Hobbes' Leviathan
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Phänomen von keinem feeling begleitet sein, so wäre es w o h l ratsamer, es anders zu nennen (Ryle zieht i n diesem Fall vor, das Phänomen als „inclination" oder „motive" zu bezeichnen). § 6. Die Passions in Hobbes' Leviathan Zwei Jahre nach dem Erscheinen der Abhandlung von Descartes veröffentlichte Thomas Hobbes i n London sein Hauptwerk Leviathan. Der Titel des 6. Kapitels des 1. Teiles lautet: „ 0 / the Interiour Beginnings of Voluntary Motions: commonly called Passions. And the Speeches by which they are expressed." Dieser Titel weist schon auf die zwei wichtigsten Züge der Hobbschen Affektinterpretation hin, nämlich auf die dynamische Auffassung des Wesens der passions und auf die besondere Bedeutung, die Hobbes dem linguistischen Aspekt der Affektenproblematik beimißt. Alles, was man gemeinhin „passions" nennt, ist nach Hobbes i m Grunde nichts anderes als Bewegung. Aber diese Bewegung ist nicht, wie die Scholastik behauptete, eine rein metaphorische Bewegung — was laut Hobbes Unsinn ist —, sondern „actual motion