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German Pages 254 Year 2014
Irini Siouti Transnationale Biographien
Kultur und soziale Praxis
Irini Siouti (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migrations- und Biographieforschung, Qualitative Bildungsforschung, Kultursoziologie und Gender Studies.
Irini Siouti
Transnationale Biographien Eine biographieanalytische Studie über Transmigrationsprozesse bei der Nachfolgegeneration griechischer Arbeitsmigranten
D.30 Titel der Dissertation: »Vom Gastarbeiterkind zur Transmigrantin. Eine biographieanalytische Untersuchung über Transmigrationsprozesse bei der Nachfolgegeneration griechischer ArbeitsmigrantInnen«. Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu Frankfurt am Main. Tag der mündlichen Prüfung: 26.10.2011 GutachterInnen: Prof. Dr. Ursula Apitzsch, Prof. Dr. Lena Inowlocki, Prof. Dr. Fritz Schütze
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Irini Siouti Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2006-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Danksagung | 9 Einleitung | 11
I. THEORETISCHE Z UGÄNGE: TRANSNATIONALISIERUNG, M IGRATION UND B IOGRAPHIE 1.
Der Transnationalisierungsansatz in der Migrationsforschung | 19
1.1 Die Migrationsgeschichte des Transnationalisierungsdiskurses | 19 1.2 Der „transnational turn“ in der deutschsprachigen Migrationsforschung | 23 1.3 Das Konzept der Transmigration | 24 1.4 Empirische Forschungen über die Entstehung von Transmigrationsformen bei der zweiten Migrantengeneration | 26 1.5 Die Kategorie „transnationaler Sozialraum“ als zentrale Denkfigur | 29 1.6 Methodologische Herausforderungen der Transnationalisierungsperspektive für die empirische Migrationsforschung | 33 2.
2.1 2.2 2.3 2.4
Biographie als theoretischer und methodischer Zugang in der transnationalen Migrationsforschung | 35
Zur Geschichte der biographischen Forschung | 36 Biographische Migrationsforschung | 39 Migrationsverläufe als Prozessstrukturen des Lebenslaufs | 41 Biographietheoretische Perspektiven auf transnationale Migration | 45 2.4.1 Biographische Arbeit, Biographisches Wissen und Biographizität | 46 2.4.2Das Konzept der transnationalen (Migrations-)Biographie | 48
2.5 Biographische Erzählungen als methodisches Schlüsselkonzept zur Erforschung transnationaler Migrationsprozesse | 51 3.
Von der griechischen Arbeitsmigration zur transnationalen Migration | 55
3.1 Die griechische Arbeitsmigration nach Deutschland | 56 3.2 Die politische Dimension der griechischen Arbeitsmigration | 58 3.3 Organisationsstrukturen griechischer MigrantInnen in Deutschland | 60 3.4 Die Bildungsaspirationen der griechischen ArbeitsmigrantInnen | 63 3.5 Rückkehrorientierung und Pendelmentalität | 66
4.
Lebenswelten zwischen hier und dort: die zweite griechische Migrantengeneration | 71
4.1 Die Bildungssituation von Kindern mit griechischem Migrationshintergrund in Deutschland | 72 4.2 Die griechischen (National-)Schulen | 73 4.3 Bildungsaufstiegsprozesse in der Migration: Zum Stand der Forschung | 79 4.3.1 Erklärungsansätze in der Literatur zum Bildungserfolg der griechischen Migrantenkinder | 83 4.4 Grenzüberschreitungen: Pendel- und Remigration | 84
II. EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG 5.
Methodologie und Methode | 93
5.1 Der abduktive Forschungsstil der Grounded Theory als methodologisches Rahmenkonzept | 94 5.1.1 Entwicklung der Fragestellung | 96 5.1.2 Der transnationale Forschungsprozess | 98 5.2 Die Datenerhebung: autobiographisch-narrative Interviews | 99 5.2.1 Die Interviewdurchführung: Kontaktaufnahme und Arbeitsbündnisse | 101 5.2.2 Das Sample | 102 5.3 Die Methode der Biographieanalyse | 103
5.3.1 Abduktion, Rekonstruktion, Sequenzialität als zentrale Prinzipien der Biographieanalyse | 103 5.3.2 Biographieanalyse im transnationalen Migrationskontext | 104 5.3.3 Die Auswertung des Datenmaterials | 108 6.
Exemplarische Falldarstellungen | 111
6.1 Der Fall Athina | 111 6.1.1 Kontaktaufnahme | 111 6.1.2 Interviewdurchführung | 113 6.1.3 Biographisches Portrait | 115 6.1.4 Biographische Fallanalyse | 117 6.1.5 Zusammenfassung | 141 6.2 Der Fall Jannis | 142 6.2.1 Kontaktaufnahme | 142 6.2.2 Interviewdurchführung | 143 6.2.3 Biographisches Portrait | 145 6.2.4 Biographische Fallanalyse | 147 6.2.5 Zusammenfassung | 181 6.3 Der Fall Maria | 182 6.3.1 Kontaktaufnahme | 182 6.3.2 Interviewdurchführung | 183 6.3.3 Biographisches Portrait | 185 6.3.4 Biographische Fallanalyse | 185 6.3.5 Zusammenfassung | 205
7.
Transmigration und Biographie: Abschließende Betrachtung der Forschungsergebnisse | 207
7.1 Die Entstehung der Transmigration als nicht-intendierte Folge von biographischen Bewältigungsstrategien | 208 7.2 Transnationales biographisches Kapital als zentrale Ressource für den Bildungsaufstieg unter den Bedingungen von Migration | 211 7.3 Die Entwicklung vergeschlechtlichter biographischer Transmigrationsprozesse | 213 Literatur | 219 Transkriptionszeichen | 251
Danksagung
Ich bedanke mich sehr herzlich bei den Menschen, die mir für meine Forschung ihre Lebensgeschichten anvertraut haben. Ihren transnationalen Biographien zu folgen war für mich stets eine aufregende Reise. Dass ich das Abenteuer dieser Reise eingegangen bin, verdanke ich zwei Frauen, bei denen ich während meines Studiums meine erste Lehrveranstaltung zu Familien in der Migration besucht habe und die mein Interesse an der biographischen Migrationsforschung geweckt haben, Ursula Apitzsch und Lena Inowlocki. Ich danke ihnen von ganzem Herzen für die Betreuung der Arbeit und des Forschungsprozesses sowie ihre wissenschaftliche und persönliche Unterstützung und die Förderung meines wissenschaftlichen Weges. Fritz Schütze danke ich herzlich für das dritte Gutachten und auch dafür, dass er mein Projekt mit unterstützendem Interesse verfolgt hat. Jeanette Ehrmann, die es übernommen hat, die gesamte Arbeit zu lesen, danke ich sehr herzlich für ihre kritischen Anmerkungen, ihre Korrekturen und ihre Unterstützung. Für konstruktive Kommentare in persönlichen Gesprächen, bei Vorträgen und in Methoden-Workshops danke ich MinnaKristiina Ruokonen-Engler, Maria Kontos, Bettina Dausien, Athina Paraschou, Silke Müller, Roswitha Breckner, Peter Alheit, Kostas Gounis, Ulrich Oevermann und Giorgos Tsiolis. Die Anfangsphase meines Forschungsprozesses wurde von den Mitgliedern der Frankfurter Arbeitsgruppe Transdisziplinäre Migrations- und Biographieforschung begleitet, denen ich ebenso für die gute Zusammenarbeit danken möchte. Der Frankfurt Graduate School und dem Internationalen Promotions-Colleg am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt danke ich für die finanzielle Unterstützung meines Dissertationsprojektes durch Forschungsstipendien. Inge Jensen-
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Papaioannou und Skevos Papaioannou danke ich für ihre Unterstützung bei meinen Feldforschungsaufenthalten in Griechenland. Für die vielen persönlichen Ratschläge und die Ermutigung während der Endphase danke ich Susi Ajami, Blazi Schindler, Eli Tsolakopoulou und Ortrud Walter. Mein letzter Dank gilt meiner Familie. Ich danke ihr für die Unterstützung und widme das Buch meinen Eltern Stamatia und Athanasios Sioutis sowie meinem Großvater Mihail Lolis, der vor vielen Jahren aus Griechenland nach Deutschland ausgewandert ist und unser Familienmigrationsprojekt initiiert hat.
Einleitung
Einführung in das Forschungsthema und in die Fragestellung der Arbeit Die um die Ankunftsnation zentrierte deutschsprachige Migrationsforschung hat sich seit ihren Anfängen vorwiegend auf die Frage der Sesshaftigkeit und damit verbundener Probleme von MigrantInnen in der Einwanderungsgesellschaft konzentriert. Den theoretischen Diskurs im deutschsprachigen Raum dominierte bis Ende der 1990er Jahre eine mononationale Perspektive, die sowohl für das „strukturelle Migrationsmodell“ von HansJoachim Hoffmann-Novotny (1973), das „handlungstheoretische Modell“ von Hartmut Esser (1980) und den „Ethnic Community Ansatz“ von Friedrich Heckmann (1981) charakteristisch ist. Im Mittelpunkt des Interesses stand die Frage nach den Bedingungen und dem Verlauf für erfolgreiche Integration und Assimilation der ersten Generation von ArbeitsmigrantInnen und ihren Nachkommen (Pries 2010: 35). Dabei wurde der Prozess der Migration als unidirektionaler Weg der Ein- und Auswanderung vom Herkunftsland in das Aufnahmeland betrachtet (Apitzsch/Siouti 2008: 106). Aus einer defizit- und problemorientierten Perspektive, bei der die Vorstellung des entwurzelten „marginal man“ (Park 1928) zum Prototyp des Einwanderers erklärt wurde (Cyrus 2000: 97), wurden Grenzüberschreitungen der ersten Generation und ihren Nachkommen in der Remigrationsforschung untersucht und die Pendelmigration von Arbeitsmigrantenfamilien als Auslöser von Problemlagen diskutiert (Auernheimer 2006; Diehl 2002). Seit Ende der 1990er Jahre kann ein langsamer, aber offensichtlicher Wandel im wissenschaftlichen Diskurs in der deutschsprachigen Migrationsforschung festgestellt werden. Unter dem Stichwort „Transnationalisie-
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rungsansatz“ wurde ein neues Paradigma in die Sozialwissenschaften eingeführt, welches eng mit dem Globalisierungsdiskurs verbunden ist und einen Perspektivwechsel in der Migrationsforschung initiiert hat (Lutz 2005: 78). Der Aspekt der geographischen Mobilität und der Pendelmentalität, des sich Hin- und Herbewegens zwischen und in zwei Orten und in unterschiedlichen kulturellen Kontexten wird auf theoretischer Ebene aus einer neuen Perspektive als Ressource und nicht als Defekt thematisiert. Im Gegensatz zu den klassischen Ansätzen, bei denen „traditionelle“ Formen internationaler Wanderung wie Immigration und Remigration im Mittelpunkt des Interesses standen, ist im Kontext der Transnationalisierungsforschung die „qualitativ“ neue Migrationsform der Transmigration im Zeitalter der Globalisierung eingeführt worden. Beim Konzept der Transmigration wird davon ausgegangen, dass MigrantInnen, anstatt sich zu assimilieren, längerfristig soziale, kulturelle und ökonomische Beziehungen zu Angehörigen ihrer ethnischen, religiösen oder politischen Gruppe in ihren Herkunftsländern beibehalten (vgl. dazu Glick Schiller/Basch/Szanton Blanc 1992; Portes 1999; Pries 1997). Diese Verbindungen führen – wenn sie eine bestimmte Dichte und Stabilität erreichen –, dazu, dass eine dauerhafte sozialräumliche Referenzstruktur entsteht, die die Ankunfts- mit der Herkunftsregion verbindet und zur Emergenz transnationaler Räume führt (Pries 2001a: 8). Dem Ansatz liegt ein relationaler Raumbegriff zu Grunde, der im Gegensatz zum absoluten geographischen Raumbegriff davon ausgeht, dass Raum durch Beziehungen und Handlungen hergestellt wird (vgl. dazu Löw 2001). Das Konzept der Transmigration ist anhand empirischer Studien aus dem US-amerikanischen Raum entwickelt worden. In der deutschsprachigen Migrationssoziologie wurde der Ansatz von dem Soziologen Ludger Pries Ende der 1990er Jahre in den migrationswissenschaftlichen Diskurs eingeführt, am Beispiel einer Studie über transnationale Arbeitswanderung zwischen Mexiko und den USA (vgl. Pries 1996). Im Zusammenhang mit den Folgen der Gastarbeitsmigration im europäischen Raum wurde die Transmigrationsperspektive im deutschsprachigen Migrationsforschungsdiskurs jedoch sehr kritisch rezipiert. Transmigration wurde als kosmopolitisches Phänomen der Eliten diskutiert und als eine mögliche Lebensform bei den Gastarbeiterkindern in Frage gestellt, sogar ausgeschlossen (KürsatAhlers/Waldhoff 2001: 58). Entgegen dieser Annahme hat die empirische Migrationsforschung in den letzten Jahren aufgezeigt, dass auch im Gefolge
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der Gastarbeitsmigration transnationale Migrationsphänomene existieren (Apitzsch/Siouti 2008; Faist 2000b; Fürstenau 2004; Goeke 2007; Martini 2001). Insbesondere die transnationalen Lebensmuster von mobilen ArbeitsmigrantInnen der ersten Generation rücken dabei zunehmend in den Mittelpunkt empirischer Studien (Krumme 2003; Pielage/Pries 2010). Es ist deutlich geworden, dass der Transnationalisierungsansatz für das Verständnis von Familienmigrationsprozessen im Gefolge der Gastarbeitsmigration in Deutschland von besonderer Bedeutung ist. Jedoch gibt es kaum empirische Untersuchungen in der deutschsprachigen soziologischen Migrationsforschung, die sich mit transnationalen Lebensorientierungen und Verläufen der Kinder der ehemaligen GastarbeiterInnen beschäftigen.1 Die vorliegende Arbeit greift diese Forschungslücke auf und begibt sich auf die Spuren von Transmigrationsprozessen bei der Nachfolgegeneration von ArbeitsmigrantInnen. Am Beispiel der griechischen Arbeitsmigration in Deutschland wird anhand von Grenzüberschreitungen der jüngeren, gut ausgebildeten Generation der Frage nachgegangen, wie im Gefolge der Gastarbeitsmigration die Transmigration der Nachfolgegeneration entsteht.2 Welche Faktoren bedingen die Entstehung von Transmigrationsformen bei der Nachfolgegeneration griechischer ArbeitsmigrantInnen? Welche Rolle spielen die strukturellen und politischen Rahmenbedingungen des Einwanderungs- und ehemaligen Herkunftslandes? Wie wirken sich die unterschiedlichen Migrationspolitiken auf die Migrationsentscheidungen, bio-
1
Es existieren meines Erachtens bisher nur zwei empirische Studien, die Belege für die Existenz transmigratorischer Lebensweisen bei der Nachfolgegeneration von (Gast-)ArbeitsmigrantInnen in Deutschland vorgelegt haben: die Studie der Erziehungswissenschaftlerin Sara Fürstenau (2004) über transnationale Ausbildungswege von Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie die Studie des Geographen Pascal Goeke (2007) über post-jugoslawische MigrantInnen. Vgl. dazu Kap. 1.
2
In der vorliegenden Arbeit verwende ich die Begriffe Nachfolgegeneration und zweite Generation synonym mit der Bezeichnung „Kinder mit Migrationshintergrund“. An die Definition von Wilpert (1983) und Apitzsch (1992) anknüpfend, erachte ich als wesentliches Bestimmungsmoment der Nachfolgegeneration die Tatsache, dass sich diese Generation biographisch auf den Migrationsprozess der Eltern bezieht und ihn in ihre eigenen Erfahrungen mit einbringt und reflektiert (vgl. Apitzsch 1992: 159).
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graphischen Entwürfe und Handlungsmöglichkeiten aus? Wie wird die (Trans-)Migration biographisch verarbeitet? Welche genderspezifischen Ausprägungen von Transmigrationsformen im Kontext der griechischen Arbeitsmigration existieren? Auf diese Fragen werden in der vorliegenden Arbeit Antworten gesucht. Als Untersuchungsfeld wurde die griechische Migrantengruppe ausgewählt, weil für diese Gruppe eine ausgeprägte Disposition zur geographischen Mobilität und Pendelmentalität charakteristisch ist, die bisher in ihrer Prozesshaftigkeit und Komplexität nicht empirisch untersucht worden ist.3 Theoretische Perspektiven: Die Verknüpfung des Transnationalisierungsansatzes mit dem biographischen Paradigma in der Migrationsforschung Neben dem Transnationalisierungsansatz wird in der vorliegenden Untersuchung der Ansatz der Biographieforschung als zentraler theoretischer und methodischer Zugang in der Migrationsforschung gewählt. Dabei wird der Transmigrationsansatz im Anschluss an Glick Schiller/Basch/Szanton Blanc (1992) und Pries (1997) um eine biographietheoretische Perspektive erweitert (Apitzsch 2003, 2009; Apitzsch/Siouti 2007, 2008). Es wird von der These ausgegangen, dass der transnationale Raum, der in der Transmigration entsteht, durch „hegemoniale Verhältnisse überformt wird und sich in der Struktur der Migrationsbiographie konkretisiert, die durch biographische Arbeit von den Migrationssubjekten zugleich hergestellt und immer wieder neu rekonstruiert wird” (Apitzsch 2003: 65). Für die empirische Studie wurde der Ansatz der Biographieforschung als methodischer Zugang ausgewählt, weil er für die Erforschung von Migrationsphänomenen in besonderer Weise geeignet ist. Der biographische Ansatz ermöglicht einen empirischen Zugang zum „transnationalen Kontinuum migrantischer Lebensstrategien (Hess 2005: 31), bei dem der Prozesscharakter von (Trans-)
3
In der klassischen Migrationsforschung wurden die Grenzüberschreitungen als Rückkehr in das Herkunftsland betrachtet und auch als unidirektionale Migrationsbewegung untersucht. Es gibt zwar eine Vielzahl von Studien über die Rückkehr der griechischen ArbeitsmigrantInnen und ihrer Kinder, aber keine Studie, die explizit Pendelmigration bei der griechischen Migrantengruppe untersucht.
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Migrationsphänomenen im Mittelpunkt steht. Dadurch können sowohl Probleme und Konflikte ins Blickfeld der Analyse gelangen, aber auch – und das ist ein entscheidendes Anliegen der vorliegenden empirischen Studie – die subjektiven Handlungskompetenzen, die zur Bewältigung der Migrationssituation den Subjekten zur Verfügung stehen (vgl. Apitzsch 1990: 90). Methodologische und methodische Vorgehensweise: die abduktive Forschungslogik und das biographieanalytische Verfahren Im Mittelpunkt der methodischen Vorgehensweise bei der empirischen Untersuchung steht eine abduktive Forschungslogik im Sinne von Peirce (1933), die mithilfe des Forschungsstils der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967) und der biographieanalytischen Methode entfaltet wird. Als Datenmaterial wurden transnationale Biographien von den Nachkommen der griechischen ArbeitsmigrantInnen erhoben, denen mehrere Migrationsbewegungen zugrunde liegen. Für die Datenerhebung wurde die Methode des autobiographisch-narrativen Interviews (Schütze 1983; Rosenthal 1995) eingesetzt. Das empirische Material wurde mit der Methode der rekonstruktiven Biographieanalyse ausgewertet. Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil der Arbeit werden die theoretischen Ansätze und Perspektiven vorgestellt, die der Arbeit zugrunde liegen und der Forschungsstand zur griechischen Arbeitsmigration und der Nachfolgegeneration griechischer MigrantInnen diskutiert. Im ersten Kapitel stelle ich den Transnationalisierungsansatz in der Migrationsforschung vor. Ich skizziere zunächst die Geschichte des Transnationalisierungsdiskurses, um dann auf die Etablierung des Transnationalisierungsansatzes in der deutschsprachigen Migrationsforschung einzugehen. Es werden dann zentrale empirische Studien im deutschsprachigen Raum vorgestellt sowie das Konzept der Transmigration und die Kategorie des transnationalen Sozialraumes diskutiert. Im letzten Teil des ersten Kapitels widme ich mich den methodischen Herausforderungen und Konsequenzen der Transnationalisierungsforschung für die empirische Migrationsforschung und führe in das biographische Paradigma in der Migrations-
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forschung ein. Im zweiten Kapitel wird dann der Ansatz der Biographieforschung als theoretischer und methodischer Zugang in der transnationalen Migrationsforschung vorgestellt. Nach einem kurzen historischen Abriss über die Entwicklung des biographischen Ansatzes in Deutschland und insbesondere des Forschungsfeldes der biographischen Migrationsforschung, gehe ich anschließend auf zentrale theoretische Konzeptionen der Biographieforschung ein und diskutiere den theoretischen Stand der Biographietheorie im Kontext von transnationaler Migration am Beispiel der Diskussion um das Konzept der transnationalen Biographie. Im Abschluss des Kapitels setze ich mich mit dem Konzept der Biographie als methodischem Schlüsselkonzept zur Erfassung biographischer Narrative unter Bedingungen von Transnationalisierung und Migration auseinander. Im dritten und vierten Kapitel nähere ich mich dann meinem Forschungsgegenstand, der griechischen Arbeitsmigration, zunächst in theoretischer Hinsicht. Hierzu skizziere ich die Besonderheiten der griechischen Arbeitsmigration und gehe der Frage nach, wie sich im Verlauf der griechischen Arbeitsmigration ein transnationales Beziehungsgeflecht zwischen Griechenland und Deutschland entwickeln konnte. Das vierte Kapitel befasst sich mit der sozialen Situation der Nachkommen der griechischen ArbeitsmigrantInnen, insbesondere der Bildungssituation. Den Abschluss des theoretischen Teils bildet die Diskussion des Forschungsstandes zu Bildungsaufstiegsprozessen in der Migration und Grenzüberschreitungen bei der Nachfolgegeneration griechischer MigrantInnen. Im zweiten Teil steht die empirische Studie im Mittelpunkt. Eingeleitet wird dieser Teil der Arbeit durch die Darstellung der methodologischen und methodischen Anlage der Studie. Grounded Theory als methodisches Rahmenkonzept, der Forschungsprozess sowie der Ansatz und die methodische Vorgehensweise der Biographieanalyse werden vorgestellt und im Hinblick auf ihre Anwendung im transnationalen Forschungssetting reflektiert. Es folgt dann die Präsentation von drei exemplarischen Falldarstellungen, die typische Muster von Bewältigungsstrategien repräsentieren, die in der Untersuchung entdeckt wurden. Den Abschluss der Arbeit bildet die zusammenfassende Betrachtung und die theoretische Diskussion der Forschungsergebnisse.
I. Theoretische Zugänge: Transnationalisierung, Migration und Biographie
1.
Der Transnationalisierungsansatz in der Migrationsforschung
Im folgenden Kapitel werde ich den Transnationalisierungsansatz vorstellen, den ich als theoretische Perspektive meiner eigenen empirischen Untersuchung über Grenzüberschreitungen bei der bildungserfolgreichen Nachfolgegeneration griechischer MigrantInnen im europäischen Raum zugrunde gelegt habe. Zunächst werde ich die historische Entwicklung des Transnationalisierungsdiskurses und die zentralen Prämissen des Ansatzes skizzieren. Im Anschluss werde ich das Konzept der Transmigration und der transnationalen Sozialräume diskutieren und auf aktuelle empirische Untersuchungen im deutschsprachigen Raum eingehen. Abschließend frage ich nach den methodischen Herausforderungen, die sich aus dem Transnationalisierungsansatz für die empirische Migrationforschung ergeben.
1.1 D IE M IGRATIONSGESCHICHTE DES T RANSNATIONALISIERUNGSDISKURSES Unter dem Schlagwort Transnationalisierungsforschung verbirgt sich nicht nur ein Ansatz in den Sozialwissenschaften, sondern vielmehr verschiedene theoretische Konzeptionen, die in unterschiedlichen disziplinären Kontexten entwickelt worden sind. Der zentrale Leitbegriff der unterschiedlichen Konzeptionen ist der Terminus der Transnationalisierung. Die Begriffsverwendung ist allerdings oft diffus (vgl. dazu Pries 2008), und die Bezeichnung Transnationalisierung wird oft auch synonym zu Globalisierung und
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Internationalisierung gebraucht. Wie wird der Begriff der Transnationalisierung im Kontext der Migrationsforschung definiert und welchen Erkenntnisgewinn verspricht der Ansatz? Transnationalisierung bedeutet im eigentlichen Sinne des Wortes, dass Aktivitäten jeglicher Art unabhängig von nationalstaatlichen Grenzen und über diese hinweg stattfinden (Martini 2001: 27). Im Kontext der Migrationsforschung wird durch den Begriff Transnationalisierung versucht, die durch Migrationsprozesse eingetretenen Veränderungen auf der Ebene der handelnden Subjekte und der durch sie hergestellten Sozialräume zu begreifen (vgl. dazu Homfeld/Schröer/Schweppe 2008). Der Transnationalisierungsansatz gilt im weitesten Sinn als eine Kritik an einseitig strukturorientierten Ansätzen. Der Ansatz kritisiert die Prämissen der klassischen, um die Ankunftsnation zentrierte Migrationsforschung, die Migration als unidirektionalen Weg und begrenzten raum-zeitlichen Prozess von einem Herkunftsland in ein Aufnahmeland versteht (Apitzsch/Siouti 2008: 106). Dabei bezweifelt der Transnationalisierungsansatz keineswegs die Bedeutung von Nationalstaaten für Migrationsbewegungen, sondern begreift Nationalstaaten weiterhin als grundlegende analytische Bezugseinheiten, die für die Strukturierung von transnationalen Lebensformen von Bedeutung sind (Lutz/Morokvasic-Müller 2002; Pries 2008). Die ersten theoretischen Konzeptionen zu Transnationalisierung wurden im US-amerikanischen Raum entwickelt. Die Pionierarbeit zur Entwicklung des Konzeptes geht auf die amerikanische sozialanthropologische Forschung zurück. Die Anthropologinnen Nina Glick Schiller, Linda Basch und Cristina Szanton Blanc entfachten die Diskussion um Transnationalismus, Transmigration und transnationale soziale Felder zu Beginn der 1990er Jahre am Department of Anthropology der Columbia University in New York.1 Die Grundlagen ihrer ersten, recht vagen theoretischen Überlegungen bildeten ethnographische Fallstudien über transnationale Migrationsphänomene zwischen dem Großraum New York und den karibischen Inseln St.
1
Zu den Anfängen des Transnationalisierungsdiskurses in der US-amerikanischen Kulturanthropologie vgl. die Einführung von Lambros Comitas (1992) in Glick Schiller/Basch/Szanton Blanc (1992; Hg.).
D ER T RANSNATIONALISIERUNGSANSATZ
IN DER
M IGRATIONSFORSCHUNG | 21
Vincent, Haiti und Grenada sowie zwischen den USA und den Philippinen.2 In einer vergleichenden Untersuchung ihrer unterschiedlichen Fallstudien definierten sie den Prozess, durch den ImmigrantInnen soziale Felder schaffen, die das Land ihrer Herkunft und das Land ihrer Niederlassung miteinander verbinden, als Transnationalismus (Glick Schiller/Basch/Szanton Blanc 1992; Basch/Glick Schiller/Szanton Blanc 1994). Dieser Prozess, der im Alltagsleben in den Aktivitäten und sozialen Beziehungen von MigrantInnen verankert ist, ist unauflöslich mit der Entwicklung des globalen Kapitalismus verknüpft und führt dazu, dass zwischen der Alltagspraxis der MigrantInnen und hegemonialen Zusammenhängen soziale Felder entstehen, die die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten und auf der Bewusstseinsebene neue eigene Formen annehmen (Basch/Glick Schiller/Szanton Blanc 1994: 7). Glick Schiller, Basch und Szanton Blanc (1992; 1994) kreierten den Begriff „transmigrants“, um die AkteurInnen dieser besonderen Form von Migration, die sich durch Facetten von Mehrfachzugehörigkeit auszeichnet, zu benennen. Mit dem Präfix „trans“ (= jenseits, hindurch, darüber hinaus) versuchten sie, einen sinnvollen Begriff zur Beschreibung und Analyse aktueller Migrationsphänomene einzuführen und der Alltagswelt der Lebensweisen von MigrantInnen einen neuen konzeptionellen Rahmen zu geben. Ihr Ziel war es, das binäre Modell von Immigration und Remigration und von „pull“- und „push“-Faktoren zu überwinden und den Fokus auf die grenzüberschreitenden transnationalen Praktiken der TransmigrantInnen zu richten (Apitzsch/Siouti 2008: 106).
2
Die empirische Forschung, die die Grundlage für die theoretischen Konzeptionen bildete, fand bereits in den 1980er Jahren statt. Linda Basch forschte in einer vergleichenden Untersuchung über Muster der Organisation und Selbstidentifikation bei MigrantInnen aus Grenada und St. Vincent, die nach Trinidad oder in die USA migriert sind (Basch/Glick Schiller/Szanton Blanc 1994: 55). In den empirischen Untersuchungen von Nina Glick Schiller stand die Frage der Entstehung transnationaler Identität am Beispiel von MigrantInnen aus Haiti im Mittelpunkt (vgl. Glick Schiller/Fouron 1990). Cristina Szanton Blancs Forschungsinteresse richtete sich auf MigrantInnen aus den Philippinen, die seit über zwanzig Jahren nicht mehr in Manila waren und zwischenzeitlich in den USA lebten (vgl. Basch/Glick Schiller/Szanton Blanc 1994: 4).
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Im Anschluss an ihre Pionierstudie wurde das Transnationalismuskonzept insbesondere in der US-amerikanischen Soziologie aufgegriffen. Es wurden innovative Versuche unternommen, den Transnationalisierungsansatz theoretisch auszudifferenzieren. Dabei sind eine Reihe von Einzelstudien, die sich mit unterschiedlichen Typen von transnationalen Migrationsformen aus verschiedenen regionalen und disziplinären Perspektiven beschäftigt haben, entstanden.3 Vorrangig von Interesse waren die Herausbildung von transnationalen Gemeinden und Netzwerken sowie Austauschbeziehungen und Identitätsentwicklung von MigrantInnen (Pries 2008: 189). Die empirischen Bezugspunkte für die theoretischen Ausführungen bildeten insbesondere der Grenzraum zwischen den USA und Mexiko, Lateinamerika, die Karibik und Asien. Im europäischen Raum wurde der Transnationalisierungsansatz zuerst in der britischen Migrationsforschung aufgegriffen (Hess 2005: 142). Einen wesentlichen Beitrag zur Etablierung des Forschungsansatzes leistete der britische Economic and Social Research Council (ESRC), der im Jahr 1997 das an der Universität Oxford angesiedelte Forschungsprojekt Transnational Communities Programme (Transcomm) finanzierte.4 Während sich der Transnationalisierungsansatz in der britischen und US-amerikanischen Migrationsforschung in den 1990er Jahren als ein Forschungsparadigma in der neuen Ära der transnationalen Migration etabliert hat, fand der Ansatz erst Ende der 1990er Jahre Eingang in die deutschsprachige Migrationsforschung. Seitdem wurden Transnationalisierungskonzeptionen auch in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen diskutiert. Neben der Soziologie (vgl. stellv. insbesondere Pries 1996, 2008) und der Politikwissenschaft (vgl. stellv. Faist 2000b) fand der Ansatz insbesondere in der Kulturanthropologie (vgl. u.a. Bernstein 2009; Hess 2005; Hess/Lenz 2001; Kosnick 2007; Lenz 2010; Römhild 2005; Welz 2009), aber auch in der Geographie (Goeke 2007; Glorius 2007), den Erziehungswissenschaften
3
In den letzten Jahren sind sehr viele Einzelbeiträge und mehrere Sammelbände über Transnationalisierung im Kontext von Migration erschienen. Vgl. dazu u.a. Ong/Nonini (1997); Pries (1997); Smith/Guarnizo (1998); Vertovec/Cohen (1999); Lionnet/Shih (2005); Lutz (2009).
4
http: //www.transcomm.ox.ac.uk [Stand: 05. April 2011].
D ER T RANSNATIONALISIERUNGSANSATZ
IN DER
M IGRATIONSFORSCHUNG | 23
(Fürstenau 2004; Mecheril 1997) und der Sozialen Arbeit (Homfeldt/Schröer/Schweppe 2008) Anklang.5
1.2 D ER „ TRANSNATIONAL
TURN “ IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN M IGRATIONSFORSCHUNG
Im deutschsprachigen Migrationsforschungsdiskurs hat der Transnationalisierungsansatz im letzten Jahrzehnt einen „transnational turn“ in der Migrationsforschung initiiert. Der Ansatz hat die klassische Betrachtungsweise von Migration um die Dimension der Bewegung, des Raumes und der Identität erweitert (Eichler 2008: 91). Die Transnationalisierungsperspektive hat eingefahrene Problemstellungen in der interdisziplinären Migrationsforschung hinterfragt und bisher unberücksichtigte und neue Migrationsphänomene thematisiert (Goeke 2007: 74). Pendelmigration und geographische Mobilität werden aus der Transnationalisierungsperspektive nicht mehr, wie in klassischen Migrationsansätzen, als defizitär und problematisch betrachtet. Der vorherrschende, problemzentrierte Blick der um die Ankunftsnation zentrierten Migrationsforschung wurde abgelöst bzw. erweitert durch einen Blickwechsel, der die Ressourcen der MigrantInnen und die Transkulturalitätsperspektive in den Vordergrund gerückt hat. Die Vorstellung von MigrantInnen als zwischen den Kulturen zerrissenen und entwurzelten Menschen wurde verabschiedet, und das Oszillieren zwischen Kulturen und Regionen wurde auf theoretischer Ebene aus einer neuen Perspektive im Konzept der Transmigration konzeptualisiert. Konzeptionen um multiple, hybride und transnationale Identitäten fanden Eingang in die Migrationsforschung (vgl. dazu Mecheril 2003). Das Aufkommen des Transnationalisierungsansatzes hat aber auch heftige Kontroversen in der Migrationsforschung ausgelöst und ist von der auf die Ankunftsnation orientierten klassischen Migrationsforschung massiv kritisiert worden. Die Übertragbarkeit des Ansatzes vom USamerikanischen Raum auf den europäischen Migrationsraum wurde hinterfragt (vgl. Rogers 2004), und es wurde konstatiert, dass es sich bei transnationalen Raumbezügen um ein Phänomen handele, das historisch bis in die
5
Zur historischen Entwicklung des Transnationalisierungsdiskurses in unterschiedlichen Disziplinen der Sozialwissenschaften vgl. Pries (2008: 168).
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Antike zurückgeführt werden kann (Bade 2006; Bommes 2002, 2003; Nieden 2006). Zudem wurde kritisiert, dass der Ansatz, obwohl er den Gesellschaftsbegriff des methodologischen Nationalismus kritisiert, dem nationalstaatlichen Denken verhaftet bleibe (Bommes 2002: 96). Den kritischen Einwänden wurde von Befürwortern der Transnationalisierungsperspektive entgegen gehalten, dass die empirische Forschung zu Transnationalisierungsprozessen auf die dauerhafte Matrix nationalstaatlichen Handelns verweist und verdeutlicht, dass Nation, Nationalismus und Staatlichkeit weiterhin das Leben der MigrantInnen beeinflussen (Lutz 2005: 11). Zudem wurde anhand von empirischen Untersuchungen aufgezeigt, dass es im Zeitalter der Globalisierung die technologischen Innovationen, nämlich Kommunikation und Reisemöglichkeiten sind, die zur Entstehung von neuen Migrationsformen führen (vgl. u.a. Faist 2004; Lutz 2005).
1.3 D AS K ONZEPT
DER
T RANSMIGRATION
Im Mittelpunkt der Transnationalisierungsdebatte steht der qualitativ neue Migrationstypus der Transmigration. Den empirischen Referenzrahmen der Transmigrationsforschung bildeten in der Anfangsphase Forschungen aus dem US-amerikanischen Raum. Der Soziologe Ludger Pries, der das Konzept der Transmigration Ende der 1990er Jahre in die deutschsprachige Migrationsdebatte eingeführt hat (vgl. Pries 1996, 1997, 2008), orientierte sich in seiner empirischen Forschung an dem analytischen Rahmenkonzept von Glick Schiller/Basch/Szanton Blanc (1992). Er erweiterte das Konzept um eine raumsoziologische Dimension und führte das Phänomen der Transmigration am Beispiel einer empirischen Untersuchung in Mexiko und den USA ein (vgl. Pries 1996, 1997). Der Typus der Transmigration stellt nach Ludger Pries eine moderne Variante der nomadischen Lebensform dar. Diese transmigratorische Lebensform steht im Zusammenhang mit transnationalen Sozialräumen, die sich pluri-lokal zwischen und oberhalb von verschiedenen Wohn- und Lebensorten aufspannen. „In dem Typus der Transmigration ist Wanderung also nicht mehr überwiegend der – einmalige, zeitlich eng begrenzte – Übergang zwischen verschiedenen, örtlich eindeutig fixierten Lebenszusammenhängen. Vielmehr wird Wanderung selbst (wieder) zu einer Daseinsform“ (Pries 2001a: 9). Die physische
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Zirkularität grenzüberschreitender Bewegungen und Bindungen stellt dabei keine notwendige Bedingung für das Entstehen und die Aufrechterhaltung von Transmigrationsformen dar. In der Transmigrationsforschung wird daher auch zwischen verschiedenen Formen von Transmigration unterschieden. Es gibt Transmigrationsphänomene, die mit Pendelmigration bzw. geographischer und physischer Mobilität einhergehen, aber auch solche, bei denen die symbolische Bezugsebene im Mittelpunkt steht (vgl. Bernstein 2009). Zur letzten Form gehört auch das Phänomen der transnationalen Eltern- und Mutterschaft bei Haushaltsarbeiterinnen, die ihre Kinder und Ehepartner in den Herkunftsländern zurücklassen müssen und Mutterschaft auf kommunikativer und virtueller Ebene leben, aber jahrelang nicht physisch grenzüberschreitend mobil sind (vgl. Parreñas 2001; Shinozaki 2003). Auch wenn sich die empirische Forschung zur Transnationalisierung im europäischen Raum noch in den Anfängen befindet, so kann festgehalten werden, dass in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Migrationsforschung eine nicht geringe Anzahl von empirischen Studien über Transmigrationsphänomene im europäischen Raum entstanden ist (vgl. dazu u.a. Cyrus 1997; Faist 2000b; Fürstenau 2004; Hess 2005; Lutz 2004, 2007; Mandel/Wilpert 1994; Palenga-Möllenbeck 2005; Ruokonen-Engler 2008). In der feministischen Migrationsforschung fand die Transnationalisierungsperspektive insbesondere im Kontext empirischer Studien über Haushaltsarbeiterinnen ihren Niederschlag (vgl. insbesondere Lutz 2003, 2004b). In der sogenannten „Care“-Debatte stand seit den 1990er Jahren die Transnationalisierung von familialen Pflege-, Sorge- und Betreuungsbeziehungen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Desweiteren wurde das Phänomen transnationaler Elternschaft bei HaushaltsarbeiterInnen in Deutschland untersucht (Shinozaki 2003). Dabei stand insbesondere die Notwendigkeit der Einbeziehung der Intersektionalitätsanalyse für die Erforschung transnationaler Lebensräume im Mittelpunkt (vgl. u.a. Lutz 2005; Ruokonen-Engler 2008). Es entwickelte sich zudem eine Debatte um transnationale Biographien (vgl. Apitzsch 2003a, 2006; Apitzsch/Siouti 2008; Lutz 2004b; RuokonenEngler/Siouti 2006; Ruokonen-Engler 2008)6, bei der die Verknüpfung der
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Auf das Konzept der transnationalen Biographie und die Verbindung von biographietheoretischen Ansätzen mit der Transnationalisierungsforschung in der biographischen Migrationsforschung gehe ich ausführlich in Kap. 2.4.2 ein.
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Transnationalisierungsperspektive mit theoretischen und methodischen Ansätzen der Biographieanalyse im Mittelpunkt stand (vgl. Apitzsch 2003a, 2006, 2009; Lutz 2004b, 2009; Ruokonen-Engler 2008).7 Studien über Transmigrationsphänomene im europäischen Raum konzentrieren sich insbesondere auf ehemalige Anwerbeländer sowie auf Migrationsprozesse zwischen Ost- und Westeuropa. Es wurde insbesondere die transnationale Pendelmigration zwischen Polen und Deutschland (Cyrus 1997, 2000; Glorius 2007; Palenga-Möllenbeck 2005) und die Entstehung transnationaler Räume und Familiennetzwerke zwischen Deutschland und der Türkei (Faist 2000b; Krüger/Potts 1997; Mandel/Wilpert 1994) untersucht. Desweiteren stand die Entstehung transnationaler Räume bei der ersten Generation von italienischen und jugoslawischen ArbeitsmigrantInnen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses (Martini 2001; Goeke 2007).
1.4 E MPIRISCHE F ORSCHUNGEN ÜBER DIE E NTSTEHUNG VON T RANSMIGRATIONSFORMEN BEI DER ZWEITEN M IGRANTENGENERATION Es gibt bisher sehr wenige empirische Untersuchungen, die das Analysepotential der Transnationalisierungsforschung für die Erforschung der sozialen und kulturellen Situation der zweiten und dritten Generation von ArbeitsmigrantInnen in Deutschland erkannt und genutzt haben (vgl. Apitzsch/Siouti 2008). Bisher wurden empirische Belege dafür erbracht, dass bei den Nachkommen portugiesischer und jugoslawischer ArbeitsmigrantInnen Transmigrationsphänomene existieren (Fürstenau 2004; Goeke 2007). Der Geograph Pascal Goeke hat sich in kritischer Auseinandersetzung mit der Transnationalisierungsforschung aus einer systemtheoretischen Position (stellv. Bommes 1999) mit transnationalen Biographien zwischen
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Meines Erachtens waren es insbesondere Studien zu Geschlecht und Migration, die dazu beigetragen haben, dass der Ansatz empirisch fundiert in der deutschsprachigen Soziologie weiterentwickelt werden konnte. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Studien in der historischen Rekonstruktion durch Ludger Pries in seinem Schlüsselwerk zur Transnationalisierung der sozialen Welt (vgl. Pries 2008) nicht erwähnt werden.
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Deutschland und den Republiken des ehemaligen Jugoslawien befasst. Den empirischen Referenzrahmen seiner Studie bilden problemzentrierte Interviews mit TransmigrantInnen in Nürnberg, Bosnien-Herzegowina, SerbienMontenegro und Kroatien (Goeke 2007: 13). Ein wichtiges Teilergebnis seiner Forschung über transnationale Lebensläufe bei der ersten und zweiten Generation von angeworbenen ArbeitsmigrantInnen aus Jugoslawien ist, dass die transnationale Lebensführung bei der zweiten Generation nicht zur Marginalisierung führt, sondern Grundvoraussetzung für die strukturelle Assimilation darstellt. „Neben vielen einzelnen Ergebnissen verdienen vor allem die transnationalen Migrationskarrieren von Migranten aus der sogenannten zweiten Generation Beachtung. Die für die Migrationsforschung überraschenden Ergebnisse zeigen, dass jungen Migrantinnen und Migranten der soziale Aufstieg gelang, indem sie Aktivitäten in Deutschland und Kroatien miteinander kombinieren. Die sich ihnen bietenden Lerngelegenheiten und Inklusionschancen in Deutschland und Kroatien konnten sie zu ihrem Vorteil nutzen. Man kann sogar sagen, dass ihnen nur durch Aktivitäten hier und dort ein Aufstieg gelang, der ihnen an einem Ort verschlossen geblieben wäre“ (Goeke 2007: 343).
Die Erziehungswissenschaftlerin Sara Fürstenau hat in einer Untersuchung Ausbildungslaufbahnen und Zukunftsorientierungen von bildungserfolgreichen Jugendlichen portugiesischer Herkunft in Hamburg untersucht. Die empirische Grundlage ihrer Untersuchung bildeten bildungserfolgreiche Kinder portugiesischer ArbeitsmigrantInnen, „die nach Essers Assimilationskonzept aufgrund der Inklusion in das Bildungssystem des Aufnahmelandes als weitgehend strukturell assimiliert gelten“ (Fürstenau 2004: 51). Entgegen der Annahme Essers, dass Sozialintegration in die Aufnahmegesellschaft nur über Assimilationsprozesse möglich sei, die eine gleichzeitige Integration in die ethnische Gemeinde bzw. in die Herkunftsgesellschaft ausschließe (vgl. dazu Esser 2001), hat Fürstenau in ihrer Untersuchung festgestellt, dass „soziale Integration in die Aufnahmegesellschaft nicht im Widerspruch zu einem hohen Maß an Selbstorganisation innerhalb einer ethnischen community stehen muss“ (Fürstenau 2004: ebd.). Beim Übergang von der Schule in den Arbeitsmarkt orientieren sich die portugiesischen Jugendlichen transnational. Dabei fungieren transnationale Laufbahnen zwischen Portugal und Deutschland innerhalb der portugiesischen
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Community als Orientierungsmuster für Zukunftsentwürfe (Fürstenau 2004: 49). Die Studien von Goeke und Fürstenau zeigen auf, dass bei der Nachfolgegeneration von ArbeitsmigrantInnen eine starke Tendenz zur transnationalen Lebensgestaltung besteht.8 Die Forschungsergebnisse sind nicht nur für die Transnationalisierungsforschung, sondern auch für die Integrationsforschung von Interesse, weil sie verdeutlichen, dass transnationale Lebensführung und soziale Integration nicht im Widerspruch zueinander stehen müssen. Zudem implizieren die Ergebnisse, dass das Phänomen der Transnationalisierung im Kontext der Gastarbeitsmigration im Generationenverlauf nicht schwächer wird und eine vorübergehende Erscheinung bei der ersten Generation darstellt. Der Transmigrationsansatz stellt im Zusammenhang mit der zweiten Generation wichtige Impulse zum Verständnis von existierenden Migrationsprozessen bereit, die bisher in der problemzentrierten Remigrationsforschung unter der Kategorie ‚endgültige Rückkehr’ in das Herkunftsland der Elterngeneration klassifiziert wurden. Die Pendelmigration wurde im deutschsprachigen Diskurs im Kontext der Arbeitsmigration insbesondere bei der zweiten Generation als Auslöser von Defekten diskutiert. Beispielsweise wurde der schlechte Schulerfolg italienischer MigrantInnenkinder dadurch erklärt, dass sie der Pendelmentalität der Eltern ausgesetzt seien (vgl. Auernheimer 2006; Diehl 2002; Hopf 1992). In der Migrationsforschung wurden die Pendelbewegungen der Nachfolgegeneration von ArbeitsmigrantInnen zwar als statistisches Faktum zur Kenntnis genommen, aber in empirischen Untersuchungen in der deutschsprachigen Migrationssoziologie bisher nicht explizit untersucht. Bei den Studien über transnationale Migrationsphänomene im Kontext der Gastarbeitsmigration stand primär die Identifizierung transnationaler Phänomene im Mittelpunkt und weniger die theoretische Auseinandersetzung mit der Kategorie des transnationalen Sozialraumes, die den zentralen theoretischen Kernpunkt des Transnationalisierungsansatzes darstellt.9
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Zu dieser Erkenntnis kommt auch Susanne Wessendorf, die sich mit der Lebenssituation der zweiten Generation von italienischen MigrantInnen in der Schweiz beschäftigt hat (vgl. Wessendorf 2005, 2007).
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Eine Ausnahme bilden biographietheoretische Arbeiten, die den Transnationalisierungsansatz mit der Biographieanalyse verknüpfen (vgl. dazu Apitzsch
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1.5 D IE K ATEGORIE „ TRANSNATIONALER S OZIALRAUM “ ALS ZENTRALE D ENKFIGUR Im Transnationalisierungsansatz stellt das Konzept des „transnationalen Sozialraums“ eine zentrale Kategorie für die Theoriebildung dar. Aus migrationssoziologischer Sicht hat der Soziologe Pries die theoretische Debatte um das Konzept der transnationalen Sozialräume entfacht (vgl. Pries 1996, 2008). Unter Einbezug verschiedener sozialwissenschaftlicher Raumkonzepte konzipiert Pries ein soziologisch-theoretisches Modell des transnationalen sozialen Raumes, bei dem die Lockerung der Kongruenz von Flächen- und Sozialraum im Mittelpunkt steht.10 Seinem theoretischen Modell liegt ein Raumbegriff zugrunde, der sich nicht nur auf physische Eigenschaften bezieht, sondern auch auf soziale und symbolische Beziehungen von Menschen in und zwischen Orten (vgl. dazu auch Glick Schiller/Basch/Szanton Blanc 1992). Im Mittelpunkt steht zunächst die Kritik an der Vorstellung von Raum in der klassischen Migrationsforschung. Dort wurden nach Pries relationale Raumkonzepte ausgeblendet, und es dominierte lange Zeit die Vorstellung von Raum als „Containerraum“ (vgl. Pries 1997; 2008). Migration wurde als Austritt vom nationalen Containerraum der Herkunftsgesellschaft und Eintritt in den nationalen Containerraum der Ankunftsgesellschaft betrachtet.11
2003a, 2009; Apitzsch/Siouti 2008; Lutz 2004b; Ruokonen- Engler 2008). Vgl. dazu Kap. 2. 10 Pries orientiert sich dabei an den theoretischen Vorannahmen von Glick Schiller/Basch/Szanton Blanc (1992) über die Entstehung transnationaler Felder. Er grenzt sich allerdings explizit vom Begriff des Feldes ab, welcher oft synonym mit dem Begriff des transnationalen Sozialraumes verwendet wird. Nach Pries erscheint der Begriff des sozialen Feldes „als eine sinnvolle Bezeichnung für das Spezifische von sozialen Kräftekonstellationen, aber nicht als geeignet für die Bezeichnung von transnationalen Sozialräumen als Analyse und Bezugseinheiten“ (Pries 2008: 228). Im Unterschied zu Glick Schiller/Basch/Szanton Blanc greift Pries in seinem Modell auch verschiedene Raumkonzeptionen aus den Sozialwissenschaften auf. Vgl. dazu Pries (1997: 22 ff.) sowie Pries (2008: 77 ff). 11 Damit einher ging die Vorstellung der weitgehenden Deckungsgleichheit zwischen (National-)Staatlichkeit und Gesellschaftlichkeit (vgl. dazu auch Mau 2007: 19 ff).
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Um die Frage nach dem Verhältnis von geographischen Räumen und sozialen Lebensräumen theoretisch angemessen beantworten zu können, ist nach Pries eine Differenzierung des Konzepts der nationalstaatlich verfassten „Container“-Gesellschaften notwendig, welches von einer doppelt exklusiven Verschachtelung von Flächenraum und Sozialraum ausgeht (Pries 2008: 116). Neben der „Aufstapelung unterschiedlicher Sozialräume im gleichen Flächenraum“ findet nach Pries umgekehrt zunehmend auch eine plurilokale Ausdehnung von Sozialräumen über mehrere Flächenräume statt (Pries 2008: 117). Diese plurilokale Ausdehnung führt zur Konstitution transnationaler Sozialräume, die durch neue Formen internationaler Migrationsprozesse und durch internationale Organisationen entstehen. „Die transnationalen Sozialräume sind auf Dauer gestellte plurilokale und grenzüberschreitende alltägliche Lebenszusammenhänge“ (Pries 2001a: 14). Sie stellen „alltagsweltliche Lebensrealitäten“ dar, die auf vier Dimensionen untersucht werden können: politisch-legaler Rahmen, materiale Infrastruktur, soziale Strukturen und Institutionen sowie Identitäten (Pries 1997: 34). Pries definiert die transnationalen Sozialräume im Sinne Norbert Elias’ als „soziale Verflechtungszusammenhänge“, als „relativ dauerhafte, auf mehrere Orte verteilte bzw. zwischen mehreren Flächenräumen sich aufspannende verdichtete Konfigurationen von sozialen Alltagspraktiken, Symbolsystemen und Artefakten, die weder de-lokalisiert noch deterritorialisiert sind“ (Pries 2001a: 53). Dabei unterscheidet er zwischen drei Idealtypen von transnationalen Sozialräumen: Alltägliche Lebenswelten (1), Organisationen (2) und Institutionen (3) (Pries 2008: 224). Alltägliche Lebenswelten sind im Sinne von Alfred Schütz alle Bereiche des menschlichen Lebens auf der mikrosoziologischen Ebene (ebd.: 224). Organisationen sind nach Pries „dauerhafte arbeitsteilige Kooperationszusammenhänge von Menschen mit einer mehr oder weniger klaren Zielsetzung und Funktion, mit mehr oder weniger bewußt gestalteten und veränderbaren Strukturen und mit festen Mitgliedschaftsregeln, nach denen entschieden werden kann, wer zur Organisation dazugehört“ (ebd.: 225). Institutionen sind nach Pries auf einer makrosoziologischen Ebene komplexe Normen und Handlungsprogramme wie z. B. das Zusammenleben in Familienverbänden oder die Beruflichkeit von Arbeit. Institutionen als Kulturproduktion lassen sich nicht kurzfristig und voluntaristisch abwählen und verändern. Als „kulturelle Gene“ werden sie
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von einer zur nächsten Generation weiter gegeben und durch Erziehungsund Sozialisationsprozesse „vererbt“ (ebd.: 225). Für die Erforschung von transnationalen Sozialräumen durch Migrationsprozesse schlägt Pries vor, die Sozialräume grundsätzlich unter drei analytischen Perspektiven zu betrachten: soziale Praxis, Symbolsysteme und Artefakte (Pries 2008: 233). Die Entstehung von transnationalen Räumen ist nicht nur im Kontext von Migrationsprozessen angesiedelt, sondern kann primär auch eine Folge des Austauschs von Gütern und Informationen sein (Faist 2000b: 11). Neben Pries hat sich auch der Politikwissenschaftler Thomas Faist mit dem Konzept des transnationalen Sozialraums beschäftigt. Faist grenzt sich zunächst formal von der Bezeichnung transnational ab und fasst seine theoretischen Überlegungen, bei denen er die Netzwerkanalyse und Bourdieus Konzept des sozialen Kapitals kombiniert, im Begriff des „transstaatlichen Raumes“ zusammen (vgl. Faist 2000b).12 Faist definiert die transstaatlichen Räume als „plurilokale Bindungen von Menschen, Netzwerken, Gemeinschaften und Organisationen, die über die Grenzen von mehreren Staaten hinweg bestehen“ (Faist 2000b: 13). Während bei Pries primär die Akteursebene im Kontext der transnationalen Migration im Vordergrund steht, liegt der Fokus von Faist auf transstaatlichen Kooperationen aller möglichen Gebilde. Er entwickelt eine Typologie von transstaatlichen Räumen und unterscheidet vier Typen, die er mit spezifischen Formen kollektiven Handelns verbindet: Kontaktfelder, Kleingruppen wie z. B. Verwandtschaftssysteme, themenzentrierte Netzwerke und Gemeinschaften sowie Organisationen. Die zwei skizzierten Modelle zu transnationalen Räumen dominieren den deutschsprachigen Transnationalisierungsdiskurs sehr stark und stellen die Grundlage für die bisherigen Forschungen zu Transmigrationsformen
12 Faists theoretischen Ausführungen basieren auf empirischen Untersuchungen zu transstaatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei. Er verwendet in seinen ersten Arbeiten zunächst den Begriff transnationale Räume (vgl. Faist 1997, 1999, 2000a), den er auch noch in seiner englischsprachigen Veröffentlichung aus dem Jahr 2000 mit dem Titel: „The Volume and Dynamics of International Migration and Transnational Social Space“ (Faist 2000a) benutzt. Den Begriff „transstaatliche Räume“ führt er in der deutschsprachigen Monographie: „Transstaatliche Räume, Politik, Wirtschaft und Kultur in und zwischen Deutschland und der Türkei“ (Faist 2000b) ein.
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bei den Nachkommen von GastarbeiterInnen dar (vgl. Fürstenau 2004; Goeke 2007). Obwohl die beiden Ansätze innovative Modelle für die sozialwissenschaftliche Konzeption des transnationalen Sozialraumes zur Verfügung stellen, sehe ich in den Konzepten aber auch die Gefahr, dass sie den „male bias“ der Migrationsforschung auf die Transnationalisierungsforschung übertragen. Die soziale Kategorie Geschlecht wird, obwohl sie einen wesentlichen Strukturierungsfaktor von transnationalen Räumen darstellt (Hess 2005: 137), in den theoretischen Konzeptionen von Pries und Faist ausgeblendet. Innovative Ansätze, die das Konzept der transnationalen Sozialräume um die Genderdimension ergänzen und mit Perspektiven der Geschlechterforschung verknüpfen, sind in den letzten Jahren insbesondere in der biographietheoretisch orientierten Migrationsforschung entwickelt worden (vgl. dazu insbesondere Apitzsch 2003, 2006, 2009; Lutz 2004b, 2009; Ruokonen-Engler 2008). Ausgehend von der Annahme, dass der transnationale Sozialraum durch hegemoniale Verhältnisse überformt ist und dass Geschlechterverhältnisse für den transnationalen Sozialraum konstitutiv sind und ständig neu konstruiert werden, schlägt Ursula Apitzsch vor, transnationale Sozialräume als „unsichtbare Strukturen vielfach vernetzter staatlicher, rechtlicher und kultureller Übergänge“ zu betrachten, an denen sich die Individuen biographisch orientieren und in die sie zugleich als Erfahrungskollektiv verstrickt sind (Apitzsch 2003: 69). Der transnationale Raum konkretisiert sich nach Apitzsch in der „Struktur der Migrationsbiographie, die durch biographische Arbeit von den Migrationssubjekten zugleich hergestellt und immer wieder neu rekonstruiert wird“ (Apitzsch 2006: 373).13 Gerade im Hinblick auf die Erfassung von Transmigrationsprozessen bei der zweiten Generation im Kontext von Familienmigration, wie sie im europäischen Kontext für die Gastarbeitsmigration charakteristisch ist, bietet sich diese Konzeption an, weil sie sowohl die Gender-, als auch die biographische und gesellschaftliche Dimension von transnationalen Räumen berücksichtigt und auch die Prozesshaftigkeit transnationaler Phänomene
13 Auf die biographietheoretische Konzeption des transnationalen Raumes und die Verknüpfung der Transnationalisierungsforschung mit der biographischen Migrationsforschung im Konzept der transnationalen Biographie gehe ich noch einmal ausführlich im 2. Kapitel ein.
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der soziologischen Forschung zugänglich macht. Ich möchte abschließend die Frage nach den methodologischen Herausforderungen der Transnationalisierungsforschung für die empirische Migrationsforschung diskutieren, bevor ich im nächsten Kapitel den Ansatz der Biographieforschung vorstellen werde.
1.6 M ETHODOLOGISCHE H ERAUSFORDERUNGEN DER T RANSNATIONALISIERUNGSPERSPEKTIVE FÜR DIE EMPIRISCHE M IGRATIONSFORSCHUNG Der Transnationalisierungsansatz in der Migrationsforschung hat nicht nur die migrationstheoretische Debatte vor neue Herausforderungen gestellt, sondern auch in methodologischer und methodischer Hinsicht die empirische Migrationsforschung herausgefordert. Transnationalisierungsforscher betonen nicht nur die Notwendigkeit einer theoretischen, sondern auch methodologischen Schärfung des Konzepts Transnationalismus (vgl. dazu u.a. Apitzsch 2009; Levitt/Glick Schiller 2004; Pries 2008). Die Transnationalisierungsperspektive in der Migrationsforschung geht mit der Kritik am methodologischen Nationalismus einher (Wimmer/Glick Schiller 2002, 2003). Dieser geht von der Annahme aus, dass die Nation oder der Staat die natürliche soziale und politische Form der modernen Welt ist (Wimmer/Glick Schiller 2002: 302). Der Transnationalisierungsansatz kritisiert, dass durch die methodologische Nationalismusperspektive, die in den letzten Jahren die Erforschung der Lebenswelten von MigrantInnen bestimmt hat, transnationale Phänomene nicht adäquat erfasst und erforscht werden können. Um mehrfache Verortungen von MigrantInnen in transnationalen Räumen zu erforschen, plädieren Peggy Levitt und Nina Glick Schiller (2004) für eine methodologische Strategie in der empirischen Transnationalisierungsforschung, die die „Gleichzeitigkeit“ der Verbindungen der MigrantInnen in mehreren Gesellschaften in den Blick nimmt und die binäre Logik der klassischen Migrationsforschung überwindet. Zur empirischen Umsetzung dieser Strategie wurde seit den Anfängen der Transnationalisierungsforschung in den 1990er Jahren vorrangig auf die ethnographische Forschungstradition zurückgegriffen. Die methodologische Debatte konzentrierte sich dabei zunächst auf das Konzept der Multi-Sited Ethnography (Marcus 1995). Die Multi-Sited
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Ethnography wurde als Methode der mobilen Feldforschung in der Kulturanthropologie entwickelt, um globale und transnationale Phänomene zu erforschen. Sie gilt als Gegenkonzept zur Single-Sited Ethnography der so genannten lokalen Feldforschung. Im Mittelpunkt des Ansatzes steht die Idee des Verfolgens von transnationalen Phänomenen. Den methodischen Kernpunkt des Multi-Sited Ethnography-Ansatzes bildet die systematische Verknüpfung verschiedener Felder. George Marcus, der als Begründer der Multisited Ethnography gilt, schlägt vor, den Menschen, Dingen, Metaphern, Diskursen oder Narrativen sowie Biographien und Konflikten zu folgen, um transnationale und global agierende Lebenswelten zu erforschen (Marcus 1995: 106 ff.). In den letzten Jahren wird vor allem in der soziologischen Migrationsforschung neben der ethnographischen Forschungsperspektive auch der methodische Zugang über narrative Interview- und Auswertungsverfahren gewählt, um Einblicke in die transnationalen Lebensweisen von MigrantInnen zu erhalten (vgl. u.a. Apitzsch 2009; Glorius 2007; Goeke 2007; Lutz 2004b; Ruokonen-Engler/Siouti 2006). Einen zentralen Ansatz stellt in diesem Zusammenhang der methodische Zugang über das Konzept der Biographie dar (vgl. Apitzsch/Siouti 2008), das ich als methodisches Schlüsselkonzept zur Erforschung von unsichtbaren, aber dennoch objektiven Strukturen transnationaler Migrationsräume eingesetzt habe und im nächsten Kapitel vorstellen werde.
2. Biographie als theoretischer und methodischer Zugang in der transnationalen Migrationsforschung
Das Konzept der Biographie stellt seit den Anfängen der Migrationsforschung in der Chicago School of Sociology ein zentrales Schlüsselkonzept zur Erforschung von Migrationsphänomenen dar. Für die empirische Migrationsforschung im Zeitalter der Transnationalisierung und Globalisierung stellt der biographische Ansatz einen vielversprechenden methodischen Zugang dar, weil er durch den Einsatz von „Biographien „als radikale[n] Dokumente[n] der Sozialität des Individuums“ (Apitzsch 1990: 90) sowohl den Herkunfts- als auch der Ankunftskontext der Migration und die Binnenperspektive der MigrantInnen in die Analyse mit einbezieht. Dadurch bietet der biographische Ansatz Potential, die Fallstricke des „methodologischen Nationalismus“ (Wimmer/Glick Schiller 2003) in der Migrationsforschung zu überwinden. Darüber hinaus ermöglicht der biographische Ansatz einen Zugang zu transnationalen Lebenswelten, der über andere quantitative und qualitative Methoden der Forschung unzugänglich bleibt. Im folgenden Kapitel werde ich das biographische Paradigma in der Migrationsforschung vorstellen. Zunächst werde ich die historische Entwicklung der Biographieforschung skizzieren und die (biographie-) theoretischen Grundannahmen vorstellen, die dem biographischen Ansatz in der Migrationsforschung zugrunde liegen.1 Im Anschluss werde ich das 1
Ich konzentriere mich im folgenden Kapitel insbesondere auf das Forschungsfeld der biographischen Migrationsforschung. Im Mittelpunkt meiner Darstel-
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theoretische Konzept der transnationalen Biographie diskutieren, das die biographietheoretische Perspektive mit der Migrations- und Transnationalisierungsforschung verknüpft. Abschließend gehe ich auf das Konzept der biographischen Erzählung ein, das als methodisches Schlüsselkonzept in der biographischen Migrationsforschung eingesetzt wird.
2.1 Z UR G ESCHICHTE
DER BIOGRAPHISCHEN F ORSCHUNG
Der biographische Ansatz hat seine Wurzeln in der Tradition des interpretativen Paradigmas der Soziologie der Chicago School of Sociology. William Isaac Thomas und Florian Znaniecki, zwei Soziologen der Chicago School, gelten als die Pioniere biographischer Forschung in der Soziologie. Sie entwickelten in ihrer Migrationsstudie “The Polish Peasant in Europe and America”, die während des 2. Weltkriegs in Chicago entstand und in den USA erstmals 1918 erschien, die Biographieforschung als eine innovative sozialwissenschaftliche Methode (Apitzsch 2006: 373). Neben Dokumentanalysen zum Migrationsprozess haben sie die aufgeschriebene Biographie eines polnischen Migranten, die sie selbst in Auftrag gegeben haben, als empirisches Material verwendet. Die methodische Vorgehensweise von Thomas und Znaniecki, die sich dadurch auszeichnete, dass biographische Materialien als soziologische Daten benutzt wurden, um Einblicke in die Konstruktionsprinzipien der Lebensorganisation von MigrantInnen zu gewinnen inspirierte seit den 1920er Jahren die empirische Forschungstradition der Chicago School (Lutz 2000: 182). Dort wurde der Einsatz von biographischem Material für soziologische Untersuchungen vor allem in der Devianzforschung fortgesetzt und in den 1930er Jahren, insbesondere durch die Untersuchung „The Jack-Roller“ von Clifford R. Shaw (1930), die als zweite bedeutende Studie in der Entwicklung der Biographieforschung gilt, als biographische Methode systematisiert. Shaw setzte biographisches Material nicht nur zu Illustrationszwecken ein, sondern verwendete es mit anderen Quellen für die Einzelfallstudie (Fuchs 2000: 89).
lung stehen dabei die theoretischen und methodischen Positionen, die ich für meine eigene biographieanalytische Untersuchung zu Migrationsprozessen herangezogen habe (vgl. dazu Kap. 5 und Kap. 6).
B IOGRAPHIE ALS THEORETISCHER
UND METHODISCHER
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Im deutschsprachigen Raum bildete sich in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit der Rezeption des symbolischen Interaktionismus und der Hermeneutik im Kontext der wissenschaftstheoretisch-methodisch kontrovers geführten Paradigmendiskussion ein interdisziplinäres Forschungsfeld der Biographieforschung heraus, an dem WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Disziplinen beteiligt waren (Apitzsch/Siouti 2007: 6).2 Die Biographieforschung war dabei von Anfang an von verschiedenen europäischen und transatlantischen Theorietraditionen beeinflusst (Apitzsch/Inowlocki 2000: 54). Zu den wichtigsten theoretischen Strömungen, die die Biographieforschung beeinflusst haben, gehören neben der Chicago School der Pragmatismus, der Symbolische Interaktionismus, die Ethnomethodologie, die Konversationsanalyse, die Soziolinguistik sowie die französische Tradition der Phänomenologie, insbesondere Paul Ricoeurs und Daniel Bertauxs Konzept der „récits de vie“ (Apitzsch/Siouti 2007: 4). In der ersten Phase der Entwicklung der Biographieforschung in den 1970er Jahren stand insbesondere die methodische Entwicklung des biographischen Ansatzes im Mittelpunkt. Dabei wurde die Methodendiskussion vor allem durch den Soziologen Fritz Schütze vorangetrieben. Schütze, der zur „Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (1973)“ gehörte, hat im Umkreis des Symbolischen Interaktionismus, der phänomenologisch inspirierten Soziologie und sprachsoziologischer Ansätze ein Modell für eine offene narrative Interviewform und ein Verfahren zur Analyse narrativer Texte entwickelt (vgl. Schütze 1977). Er hat dieses Modell in späteren Jahren innerhalb der Biographieforschung zu einem Datenerhebungs- und Auswertungsverfahren weiterentwickelt, das Anfang der 1980er Jahre als „biographisch-Narratives Interview“ (vgl. Schütze 1983) in die sozialwissenschaftliche Methodendiskussion eingeführt wurde und bis heute ein zentrales Verfahren der interpretativen Sozialforschung und insbesondere der Biographieforschung darstellt (vgl. dazu Kap. 5). In der Entwicklung der Biographieforschung im deutschsprachigen Kontext folgte dann Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre eine zweite Phase, in der die Biographie als theoretisches und gesellschaftliches
2
Zu den Anfängen der Biographieforschung vgl. die Sammelbände: Kohli (Hg.; 1981); Bertaux (Hg.; 1981); Matthes/Pfeifenberger/Stosberg (Hg.; 1981); Kohli/Robert (Hg.; 1984).
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Konstrukt zentral diskutiert wurde. Dabei ging es vor allem um die Erkenntnis, dass Biographie – als gesellschaftliches Regulationsinstrument und als Konstruktionsmuster subjektiver Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung – an die Herausbildung der modernen Gesellschaft gebunden ist und sich in diesem Prozess verändert (Dausien 1995: 135). Die Biographieforschung hat ihre fachliche Verankerung und Institutionalisierung in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft zunächst insbesondere in der Soziologie und den Erziehungswissenschaften erfahren. Seit den 1990er Jahren expandierte die Biographieforschung aber auch über diese fachlichen Grenzen hinweg in andere sozial- und humanwissenschaftliche Disziplinen (Rosenthal 2005: 165). Obwohl die Biographieforschung von Anfang an interdisziplinär war, kann man insbesondere in den letzten Jahren durch die stärkeren interdisziplinären und internationalen Vernetzungen die Etablierung der Biographieforschung als interdisziplinäres Forschungsfeld beobachten.3 Dies ist im Wesentlichen dem Gegenstand der Biographieforschung selbst, dem Konzept der Biographie, geschuldet. Biographie ist ein Gegenstand theoretischen Denkens, der nicht nach der Logik wissenschaftlicher Disziplinen konstruiert ist, sondern der sich an einem komplexen sozialen und kulturellen Phänomen orientiert (Dausien 2002a: 118). Die interdisziplinäre Ausstrahlungskraft des biographischen Ansatzes ist zudem durch gesellschaftliche Individualisierung und damit einherge-
3
Die Institutionalisierung der Biographieforschung als interdisziplinäres Forschungsfeld ist wesentlich mit der Gründung von Forschungsgruppen, Institutionen und interdisziplinären und internationalen Netzwerken vorangeschritten. Einen entscheidenden Beitrag haben die in den Netzwerken agierenden WissenschaftlerInnen geleistet, die oft selbst einen interdisziplinären Ausbildungsweg durchlaufen haben. Viele von ihnen haben an ihren Lehrstühlen und Arbeitsschwerpunkten Forschungswerkstätten, Arbeitsgruppen und Forschungsinstitute gegründet. Dazu gehören – um nur einige zu nennen – das Interuniversitäre Netzwerk Biographie und Lebensweltforschung (INBL), an dem das Institut für angewandte Biographie- und Lebenslaufforschung (IBL) in Bremen sowie die Forschungsgruppe Biographie und Kulturanalyse (Fobika) an der Universität Bielefeld und der Arbeitsbereich Biographie- und Lebensweltforschung (ABL) an der Universität Göttingen beteiligt sind. Im Bereich der Migrationsforschung entstand
die
Transdisziplinäre
Arbeitsgruppe
Migrations-
und
Bio-
graphieforschung an der Goethe-Universität Frankfurt (Apitzsch/Siouti 2007: 6).
B IOGRAPHIE ALS THEORETISCHER
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hende Biographisierung begründet. Außerdem sind die methodologischen und methodischen Grundlagen der Biographieforschung prädestiniert für die Anwendung in unterschiedlichen interdisziplinären Forschungskontexten (vgl. Apitzsch/Siouti 2007). Zu den interdisziplinären Feldern, in denen die Biographieforschung rege Anwendung findet, gehört die Frauen- und Geschlechterforschung. In der Frauen- und Geschlechterforschung, in der die Biographien von Frauen seit den Anfängen der Frauenforschung als Datenquelle genutzt wurden, stellen biographische Ansätze seit den 1990er Jahren einen methodologischen und theoretischen Ansatz dar. Das Konzept der Biographie wird dabei als eine Perspektive der Rekonstruktion von Geschlecht verstanden, die einen empirischen Zugang zur Erforschung gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse ermöglicht (Dausien 2006: 192). An der Schnittstelle zwischen Geschlechter- und Migrationsforschung rückte zunehmend die biographische Konstruktion von Migrationsprozessen in den Mittelpunkt des Interesses und führte den biographischen Ansatz in der deutschsprachigen Soziologie wieder zurück in ein Forschungsfeld, in dem er seine Wurzeln hat, die transnationale Migrationsforschung.
2.2 B IOGRAPHISCHE M IGRATIONSFORSCHUNG Der biographische Ansatz fand erst zu Beginn der 1990er Jahre Eingang in die deutschsprachige sozialwissenschaftliche Migrationsdebatte.4 Zu dieser Zeit dominierten kulturalistische Deutungen und Typisierungen nach einem Schema der Modernitätsdifferenz den migrationstheoretischen Diskurs und quantitativ verfahrende Ansätze die empirische Migrationsforschung (Breckner 2005: 22). Der biographische Ansatz hat einen wichtigen und entscheidenden Blickwechsel in der Migrationsforschung initiiert, weil er den biographischen Prozess und das Transformationspotential von Migrationsbewegungen in den Mittelpunkt gestellt und explizit die Gender Perspektive berücksichtigt hat (Ruokonen-Engler 2008: 98).
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In den 1980er Jahren wurden zwar Biographien als empirisches Material im Migrationskontext eingesetzt, allerdings ohne den Einsatz von biographieanalytischen Methoden und auch ohne Bezug auf das theoretische Konzept der Biographie. Vgl. dazu Apitzsch (1990).
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Die erste konsequent fallgestützte Rekonstruktion der biographischen Einbettung von Migrationsprozessen hat Ursula Apitzsch Anfang der 1990er Jahre durchgeführt, indem sie ihre empirischen Analysen auf biographisch-narrative Interviews und deren textanalytische Interpretation aufgebaut hat (Breckner 2005: 55). Im Gegensatz zu der im Anschluss an die Enkulturationstheorie häufig vertretenen Annahme, dass Migrantenjugendliche grundsätzlich zwischen mehreren Kulturen innerlich zerrissen sind, hat Apitzsch in ihrer biographieanalytischen Untersuchung mit italienischen Migrantenkindern der zweiten Generation empirisch belegt, dass diese Jugendlichen in der Regel bereits in der Herkunftsgesellschaft eine interkulturelle Disposition entwickeln (vgl. Apitzsch 1990). Apitzsch verdeutlicht in ihrer Studie durch die fallrekonstruktive Analyse von Migrationsbiographien, dass der Herkunftskontext eine ebenso wichtige Bedeutung einnimmt wie der Ankunftskontext und dass eine differenzierte Betrachtung von Veränderungsprozessen im Migrationskontext nur ermöglicht werden kann, wenn der gesamtbiographische Verlauf betrachtet wird. Die Studie von Apitzsch hat eine biographisch-orientierte Forschungsperspektive in der empirischen Migrationsforschung im deutschsprachigen Raum initiiert, die sich in den letzten zwanzig Jahren zu einem eigenen Ansatz in der Migrationsforschung weiterentwickelt hat. In der ersten Phase Anfang der 1990er Jahre haben sich biographieanalytische Studien hauptsächlich mit Aspekten der Gastarbeitsmigration beschäftigt (Apitzsch 1990; Lafranchi 1993; Lutz 1991). Ende der 1990er Jahre rückte zunehmend die Migration und Remigration von Frauen in den Mittelpunkt (Agha 1997; Gutiérrez Rodríguez 1999; Jiménez Laux 2001; Philipper 1999; Ricker 2000; Steinhilber 1997).5 Zudem wurde die Frage nach der biographischen Bearbeitung von Tradition in Migrationsprozessen zentral diskutiert und der methodische Zugang um eine intergenerationale Perspektive erweitert (vgl. Apitzsch 1999a; Gültekin 2003; Inowlocki 1999; Rosenthal u.a. 1997). Das Spektrum der biographieanalytischen Untersuchungen zu Migrationsphänomenen erweiterte sich in den letzten zehn Jahren stetig (vgl. u.a. die Studien von Apitzsch/Kontos 2008; Breckner 2005; Hummrich 2002;
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Zur Geschichte der biographischen Migrationsforschung im deutschsprachigen Kontext vgl. Breckner (2005) sowie Ruokonen-Engler (2008).
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Jiménez Laux 2001; Juhasz/Mey 2003; Ruokonen-Engler 2008).6 Dabei wurden unterschiedliche theoretische Positionen verknüpft mit biographietheoretischen und methodischen Ansätzen (vgl. zu den verschiedenen theoretischen Perspektiven u.a. Apitzsch 2009; Gutiérrez Rodríguez 1999; Lutz 2010; Rokonen-Engler 2008). Aktuelle Untersuchungen kombinieren die biographieanalytische Forschungsperspektive mit den Transnationalisierungsansätzen (vgl. u.a. Apitzsch/Siouti 2008; Lutz 2004b; RuokonenEngler 2008). Den biographisch-orientierten Arbeiten ist trotz der unterschiedlichen theoretischen Zugänge gemeinsam, dass ihnen ein methodologisches Verständnis zugrunde liegt, bei dem die Bedeutung der lebensgeschichtlichen Erfahrungsdimension für das Verständnis von transnationalen Migrationsprozessen zentral ist. In dem Zusammenhang stellt das Konzept der Prozessstrukturen von Fritz Schütze ein zentrales Schlüsselkonzept dar, das es ermöglicht, die Prozesshaftigkeit von biographischen Migrationserfahrungen im Kontext gesellschaftlicher Spannungsverhältnisse zu untersuchen.
2.3 M IGRATIONSVERLÄUFE ALS P ROZESSSTRUKTUREN DES L EBENSLAUFS Die aus empirischen Analysen abgeleitete Theorie der Prozessstrukturen des Lebenslaufs stellt ein analytisches Instrumentarium für die Biographieanalyse dar, das gerade im Hinblick auf transnationale Migrationsprozesse besonders interessant ist, weil es einen Zugang zu migrationsspezifischen Veränderungs- und Transformationsprozessen ermöglicht. In der von Fritz Schütze entwickelten Theorie der Prozessstrukturen des Lebenslaufs steht die zeitlich geordnete wechselseitige Durchdringung „sozialer“ und „subjektiver“ Prozesse in Biographien im Mittelpunkt (Schütze 1981: 94). Das Konzept der Prozessstrukturen des Lebenslaufs wurde von Fritz Schütze bereits Anfang der 1980er Jahre auf der Grundlage von biographi-
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Einen Einblick in das breite Spektrum biographieanalytischer Untersuchungen im Kontext von Migration geben die Sammelbände Apitzsch (Hg.; 1999a), Dausien/Calloni/Friese (Hg.; 2000) sowie Bukow/Ottersbach/Tuider/Yildiz (Hg.; 2006).
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schen Fallstudien entwickelt. Es hat sich in den letzten dreißig Jahren als besonders fruchtbar erwiesen und fand nicht nur in der biographischen Migrationsforschung rege Anwendung, sondern in unterschiedlichen Forschungsfeldern der Biographieforschung. Der Ansatz bedarf freilich dreißig Jahre nach seiner Entwicklung und im Zuge von Globalisierungsprozessen einer transnationalen Perspektivenerweiterung, damit die Fallstricke des methodologischen Nationalismus umgangen werden können. Das theoretische Gerüst des Konzepts der Prozessstrukturen des Lebenslaufs stellt meines Erachtens aber nach wie vor ein geeignetes Instrument dar, um die wechselseitige Bedingung von biographischen und sozialen Prozessen im Migrationskontext herauszuarbeiten. Schütze geht in seiner Theorie der Prozessstrukturen des Lebenslaufs (1981) davon aus, dass es elementare Formen von Prozessstrukturen gibt, die in allen Lebensläufen anzutreffen sind, da die Lebensgeschichte “eine sequentiell geordnete Aufschichtung größerer und kleinerer, in sich sequentiell geordneter Prozessstrukturen“ ist (Schütze 1981: 67 ff.). Schütze differenziert zwischen vier Gruppen von Prozessstrukturen: 1. Institutionelle Ablaufmuster und Erwartungen des Lebenslaufs, 2. Handlungsschemata von biographischer Relevanz, 3. Verlaufskurven, 4. Wandlungsprozesse und biographische Gesamtformung (ebd.). Unter den institutionellen Ablaufmustern und Erwartungen des Lebenslaufs versteht Schütze gesellschaftliche Erwartungsfahrpläne, die von den BiographieträgerInnen erwartet sein können (z. B. Familienzyklus, Schullaufbahn, Ausbildungszeit, etc.; Schütze 1981: 68). Die Handlungsschemata von biographischer Relevanz repräsentieren nach Schütze das intentionale Prinzip des Lebenslaufs. Nach Schütze handelt es sich bei den biographischen Handlungsschemata allerdings nicht um rein individuelle Phänomene, sondern um sozial strukturierte Praktiken (vgl. dazu auch Juhasz/Mey 2003: 94). Biographische Handlungsschemata werden von den BiographieträgerInnen geplant. Die BiographieträgerInnen versuchen, sie in ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsspielräumen durchzusetzen. Schütze benennt in seinem Modell eine Vielzahl von Unterphänomenen, die er den Handlungsschemata zuordnet. Darunter gehören biographische Entwürfe, die in der Übernahme eines sozial präformierten Musters bestehen können; biographische Initiativen zur Änderung der Lebenssituation sowie episodale Handlungsschemata des Erlebens von Neuem mit nachträglicher biographischer Relevanz; situative Bearbeitungs- und Kontrollschemata
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sowie Handlungsschemata markierter Irrelevanz (Phasen des time off) (Schütze 1981: 75). Die Verlaufskurve dagegen beschreibt Phasen, in denen sich der Biographieträger nur noch als fremdbestimmtes Objekt anderer Kräfte wahrnimmt. Die Handlungen in Verlaufskurven entstammen nicht eigenen Aktivitätsimpulsen, sondern ablaufenden Ereigniskaskaden. Im Gegensatz zu den Handlungsschemata geht es nicht um intentionale Hervorbringung von Handlung, sondern um „konditionelle Gesteuertheit“ (Schütze 1981: 90). Handlungsprozesse sind Prozesse, die ihren Ursprung in der Innenwelt des Biographieträgers haben. Sie können gesellschaftlich-sozialstrukturell provoziert sein und treten im Gegensatz zu den Handlungsschemata überraschend auf (Schütze 2001: 142, 145). Sie führen zu neuen Handlungsspielräumen, welche die BiographieträgerInnen als systematische Veränderung der Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten erfahren (Schütze 1981: 103). Ausgehend von der These, dass Migrationsverläufe Prozessstrukturen des Lebenslaufs darstellen (Apitzsch 1990: 90), wird in der biographischen Migrationsforschung die wechselseitige Durchdringung von sozialen und subjektiven Prozessen in der Dynamik der biographischen Verlaufskurven und Wandlungsprozesse betrachtet (Ruokonen-Engler 2008: 99). Dabei hat die Biographieforschung sich bis Anfang der 1990er Jahre ausgiebig mit dem prozesshaften Charakter sozialen Leidens beschäftigt, das im Konzept der Verlaufskurve im Mittelpunkt steht (vgl. dazu insbesondere Apitzsch 2000a; Riemann/Schütze 1991; Schütze 1995).7 Das Konzept der Verlaufskurve ist abgeleitet vom englischsprachigen Begriff „trajectory“, den Anselm Strauss und Barney Glaser in den 1970er Jahren in einer Studie über Krankheitsverläufe verwendet haben, um Phasen menschlichen Lebens zu beschreiben, in denen Subjekte nicht mehr intentional handeln können, sondern in übermächtigen institutionellen Abläufen „prozessiert“ werden (Apitzsch 2000a: 103). Schütze hat das Konzept anhand biographischer Fallanalysen im Konzept der Verlaufskurve biographietheoretisch ausdifferenziert (vgl. Schütze 1995). Der soziale und biographische Prozess der Verlaufskurve ist durch Erfahrungen des Erleidens gekennzeichnet. Nach Schütze stehen Verlaufskurven „für das Prinzip des Getriebenwerdens
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Zu einer ausführlicheren Darstellung des Konzepts der Verlaufskurve vgl. Schütze (1995) sowie Riemann/Schütze (1991).
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durch sozialstrukturelle und äußerlich-schicksalhafte Bedingungen der Existenz“ (Schütze 1981: 145).8 Der in Verlaufskurven ablaufende Prozess des Umkippens intentionaler Handlungen in eine Phase intensiven Leidens und scheinbarer Passivität, von externen Kräften überwältigt, von einem fatalen Schicksal getrieben und sich selbst entfremdet zu sein, ist gerade für das Phänomen der Migration besonders interessant, weil Migration oft einhergeht mit der Entstehung von Verlaufskurven (vgl. Riemann/Schütze 1991). Das Ziel biographisch orientierter Migrationsforschung ist aber nicht nur die Entdeckung von Verlaufskurven im Migrationskontext, sondern darüber hinaus auch das Aufspüren der biographischen Ressourcen, auf die zurückgegriffen wird, um Verlaufskurven zu überwinden und ihnen entgegenzuwirken (Apitzsch 2000a: 77). Zur Untersuchung biographischer Prozesse im Migrationskontext anhand des Schlüsselkonzepts der Prozessstrukturen des Lebenslaufs wird in der rekonstruktiven biographischen Migrationsforschung das Verfahren der
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In der Verlaufskurve gibt es eine sequentielle Ordnung, die sich nach Schütze aufteilen lässt in „die Stationen des Aufbaus eines Verlaufskurvenpotentials, der Grenzüberschreitung von einem intentionalen zu einem konditionellen Aggregatzustand sozialer Aktivitäten, des Findens und Bewahrens eines labilen Gleichgewichts, der Entstabilisierung der Lebenssituation (‚Trudeln’), des Orientierungszusammenbruchs sowie der theoretischen und handlungsschematischen Bearbeitungs- und Entkommensstrategie“ (Schütze 1981:145). Nach einer Phase, in der es zum Aufbau des Verlaufskurvenpotentials gekommen ist, wird durch ein herausragendes Ereignis eine Verlaufskurve ausgelöst. Es herrscht Reaktivität statt Aktivität in den Handlungsmustern vor. Vor dem vollkommenen Absturz gibt es noch eine Ebene, in der ein labiles Gleichgewicht zwischen den äußeren Bedingungen und dem Handlungssteuerungspotential herrscht. In der Phase des Trudelns folgt der Verlust dieses Gleichgewichts mit dem daraus resultierenden Zusammenbruch der Handlungsorientierung. Dies kann sich in extremen Handlungen wie Flucht oder Suizidversuch ausdrücken. Die Zusammenbruchskrise ist anschließend Gegenstand der theoretischen Verarbeitung, bei der Mechanismen erkannt werden können, die den bisherigen Verlauf bestimmt haben. Im weiteren Verlauf werden die Behandlungs- und Kontrollstrategien immer effizienter, bis die Verlaufskurve bei voller intentionaler Handlungskompetenz verlassen wird (vgl. dazu Schütze 1995).
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Biographieanalyse eingesetzt (vgl. dazu insbesondere Schütze 1983), dem biographietheoretische Annahmen zugrunde liegen, die für den Migrationskontext im Konzept der transnationalen Biographie ausdifferenziert wurden (vgl. dazu u.a. Apitzsch 2003a, 2006; Apitzsch/Siouti 2008; RuokonenEngler 2008). Nachdem ich die historische Entwicklung der biographischen Migrationsforschung aufgezeigt habe, möchte ich im Folgenden die Verknüpfung des biographietheoretischen Migrationsforschungsansatzes mit der Transnationalisierungsforschung und das Konzept der transnationalen Biographie diskutieren.
2.4 B IOGRAPHIETHEORETISCHE P ERSPEKTIVEN AUF TRANSNATIONALE M IGRATION In der biographischen Migrationsforschung wird „Biographie” nicht fraglos als Methode zur Erhebung gegebener Erfahrungsstrukturen verwendet, sondern das Konzept der Biographie selbst ist Gegenstand einer (biographie-)theoretischen Debatte. Seit den 1990er Jahren liegt der Biographieforschung die Annahme zugrunde, dass Biographie ein soziales Konstrukt darstellt (Alheit/Dausien 1990; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997). Biographie wird dabei als „ein soziales Gebilde“ gedacht, „das sowohl soziale Wirklichkeit als auch Erfahrungs- und Erlebniswelten der Subjekte konstituiert und das sich in dem dialektischen Verhältnis von lebensgeschichtlichen Erlebnissen und Erfahrungen und gesellschaftlich angebotenen Mustern ständig affirmiert und transformiert“ (FischerRosenthal/Rosenthal 1997: 138). Ich möchte zunächst einige zentrale theoretische Vorannahmen und Begriffe der Biographieforschung vorstellen, die die Grundlage für das Konzept der transnationalen Biographie bilden, bevor ich auf den aktuellen Stand der Diskussion über transnationale Biographien in der biographischen Migrationsforschung eingehen werde. In meiner Darstellung konzentriere ich mich dabei vor allem auf die biographietheoretische Konzeption der Ereignis-, Erlebnis- und Erfahrungsbildung, an die ich in meiner eigenen biographieanalytischen Untersuchung über Migrationsprozesse anknüpfe (vgl. dazu Kap. 6).
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2.4.1 Biographische Arbeit, Biographisches Wissen und Biographizität Erfahrung, Struktur und Handeln sind in biographischen Prozessen unauflöslich miteinander verwoben. Biographien sind das Resultat eines gelebten sowie im Horizont zukünftiger Erwartungen und Möglichkeiten sinnhaft und kommunikativ konstruierten Lebens, das sich ständig verändert (Breckner 2005: 126). Im Kontext dieser Überlegungen entsteht eine spezifische Vorstellung von Identität, bei der der Prozess der Entstehung und Veränderung im Rahmen einer Lebensgeschichte zum organisierenden Prinzip wird (vgl. Fischer-Rosenthal 1995). Die Biographieforschung knüpft an die Meadsche Vorstellung von Identität an. Nach George Herbert Mead (1968) entwickelt sich Identität im lebensgeschichtlichen Prozess. „Sie ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden, entsteht aber innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses, das heißt am jeweiligen Individuum als Ergebnis seiner Beziehungen zu diesem Prozess als Ganzem und zu anderen Individuen innerhalb dieses Prozesses“ (Mead 1968: 177). Für die Biographieforschung ist gerade der prozesshafte und konstruktive Charakter von Lebensgeschichten von Interesse, und sie grenzt sich von Identitätsmodellen ab, die Identität als etwas Statisches und Starres fassen (Dausien 2002b: 155). Wolfram Fischer-Rosenthal (1995) hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, Identität durch das offene Prozesskonzept Biographie zu ersetzen, da das Konzept der Biographie den Prozess des Werdens abbilde, das dialogisch, interaktiv, dynamisch und offen sei und so die Nachteile des Identitätskonzepts vermeide.9 Die Fruchtbarkeit des Biographie-Konzepts hat sich in den letzten Jahren sowohl in der biographischen Migrationsforschung als auch in der Geschlechterforschung bestätigt, die über die Analyse der Biographie die soziale Konstruktion von Geschlecht als interaktiv hergestellte Praxis sichtbar
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Im Kontext biographieanalytischer Studien wurde der Identitätsbegriff seit Mitte der 1990er Jahre vermieden, stattdessen stand das Konzept der Biographie im Mittelpunkt. Im letzten Jahrzehnt findet allerdings in der biographischen Migrationsforschung wieder vermehrt eine Auseinandersetzung mit dem Identitätsbegriff statt. Vgl. dazu die Studien von Ricker (2000) sowie Ruokonen-Engler (2008).
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gemacht hat (Lutz 2010: 120). Das Konzept ist darüber hinaus in der Mehrgenerationenforschung gegenstandsnah weiterentwickelt worden, in der das Konzept der „Generationenarbeit“ (Inowlocki 1993, 1999) als Schlüsselkonzept zum Verständnis intergenerationaler biographischer Prozesse in die biographisch orientierte Migrations- und Generationenforschung eingeführt wurde. Die den Prozessen biographischer Arbeit zugrunde liegenden Lebenserfahrungen werden in der Biographieforschung nicht als Spiegelbild des Erlebten in Form von Erzählungen angesehen, sondern als Rekonstruktionsleistungen des biographischen Subjekts gedeutet (Ruokonen-Engler 2008: 88). Die biographischen Erfahrungen und daraus entstandenes Wissen stellen somit nicht nur die „Ablagerung des Erfahrenen“ dar, sondern die „fortlaufende Überarbeitung des Erfahrenen“ (Hoerning 2000: 4). Die im Laufe der Lebensgeschichte erworbenen Erfahrungen lagern sich als biographisches Wissen (Hoerning 1989) ab und stellen das biographische Kapital10 bereit, welches für die fortlaufende Konstruktion der Biographie verwertet wird und die Fähigkeit zur Biographizität ermöglicht. Unter Biographizität wird die Fähigkeit von Individuen verstanden, biographisch erworbenes „besonderes“ Wissen und das „allgemeine“ Wissen einer Gesellschaft immer wieder neu zu integrieren (Dausien 2002b: 136), d. h. „moderne Wissensbestände an biographische Sinnressourcen anzuschließen und sich mit diesem Wissen neu zu assoziieren“ (Alheit 1995: 292). Peter Alheit akzentuiert im Konzept der Biographizität die kreative Eigenleistung der Subjekte. Er geht davon aus, dass Individuen ihr Leben in den Kontexten, in denen sie es verbringen (müssen), immer wieder neu auslegen können und die Kontexte als ihrerseits „bildbar und gestaltbar“ erfahren. Die Ausgestaltung der Biographie sieht er dabei als einen offenen Entwurf an, bei dem den Individuen trotz struktureller Bedingungen und objektiver Hindernisse ein Raum für individuelle Handlungspotentiale überlassen ist.11 Das Konzept der Biographizität, wie es von Peter Alheit in Anknüp-
10 Das biographische Kapital setzt sich nach Hoerning aus sozialem und kulturellem Kapital im Sinne Pierre Bourdieus sowie aus biographischen Erfahrungen zusammen (Hoerning 1995: 239). 11 Peter Alheit hat in dem Zusammenhang einen biographietheoretisch inspirierten Lernbegriff entwickelt. Lernen ist demnach nicht bloß die passive Aufschichtung biographischer Erfahrung, sondern ein Prozess der Gestaltbildung, in dem
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fung an Kohli, entwickelt wurde12 (vgl. dazu Alheit 1992, 1995; Alheit/Dausien 2000), kann als „Bezeichnung des allgemeinen generativen Prinzips verstanden werden, dass gesellschaftliche Wirklichkeit durch die biographischen Leistungen der Individuen und im Modus biographischer Konstruktionen hervorgebracht wird“ (Dausien 2002: 135). Diese theoretischen Konzeptionen sind in der biographischen Migrationsforschung im Zusammenhang mit empirischen Forschungen zu Migrationsprozessen im Zeitalter der Transnationalisierung weiterentwickelt worden. Aktuell werden sie in der biographischen Migrationsforschung im Konzept der transnationalen Biographie diskutiert, das die biographietheoretische Perspektive mit dem Transnationalisierungsansatz verknüpft (vgl. Apitzsch 2003a, 2006, 2009; Apitzsch/Siouti 2008, Lutz 2004b, 2010; Lutz/Schwalgin 2006; Ruokonen-Engler 2008). 2.4.2 Das Konzept der transnationalen (Migrations-)Biographie Die biographische Konstruktion von transnationalen Sozialräumen steht im Mittelpunkt der aktuellen theoretischen Diskussion in der biographischen Migrationsforschung. Die biographietheoretische Diskussion um transnationale Migrationsbiographien hat Ursula Apitzsch (2003a) entfacht. Auf der Grundlage biographieanalytischer Fallanalysen von Migrationsprozessen im europäischen Kontext der Gastarbeitsmigration hat Apitzsch aus einer wissenssoziologisch orientierten biographietheoretischen Perspektive die These der Migrationsbiographien als Orte transnationaler Sozialräume entwickelt (Apitzsch 2003a). Den Begriff des Ortes verwendet sie nicht im Sinne eines geographischen Ortes, sondern als Metapher für die biographische Ansammlung für Wissen und Erfahrung. Die transnationalen Räume konkretisieren sich nach Apitzsch in der Struktur der Migrationsbiographie,
biographisches Wissen in neuen Kontexten immer wieder neu zusammengesetzt werden kann und somit Erfahrungen nicht nur fortgeschrieben, sondern auch umgeschrieben und transformiert werden können (Dausien 2002b: 135). 12 Den Begriff der Biographizität hat Martin Kohli (1988) in die Sozialwissenschaften eingeführt. Er definiert ihn als „Code von personaler Entwicklung und Emergenz“ (Kohli 1988: 37). Alheit hat darauf aufbauend den Begriff weiter ausgearbeitet. Vgl. dazu Alheit (2003).
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die durch biographische Arbeit von den Migrationssubjekten zugleich hergestellt und immer wieder neu rekonstruiert wird (Apitzsch 2003a: 65). Die biographische Konstruktion transnationaler Sozialräume setzt nach Apitzsch das Vorhandensein biographischen Wissens (Alheit/Hoerning 1989) interagierender Subjekte voraus. Das biographische Wissen wird in den Lebensverläufen von migrierenden Individuen und Gruppen biographisch aufgeschichtet und stellt die Grundlage transnationaler Handlungsräume dar. „Es konstituiert aufgrund vergangener fortwirkender und zukünftig notwendiger Trennungen und Grenzüberschreitungen unterschiedliche, sich teilweise überlappende soziale Räume im Sinne von Orientierungskoordinaten des individuellen und des Gruppenhandelns“ (Apitzsch 2009: 134). Für Apitzsch stellt somit die Biographie als Ort transnationaler und transkultureller Räume einen Schnittpunkt „kollektiver Konstitution und individueller Konstruktion dar“ (Apitzsch 2003a: 72). Durch die biographische Rekonstruktion von transnationalen Migrationsprozessen können migrationsspezifische Verläufe entdeckt werden, die in der Regel einen bestimmten Typus objektiv möglicher – mehr oder weniger bedrohter – Pfade der international grenzüberschreitenden Wanderungsoption repräsentieren (Apitzsch 2003a: 72). Diese typischen Verläufe sind abhängig von den Migrationsregimen, denen die Biographien unterliegen. Apitzsch unterstreicht in ihrer Konzeption, dass das biographische Wissen nicht nur ein „Produkt von Subjektivität“(Lutz 2004) darstellt, sondern einen methodischen Zugang zu unsichtbaren, dennoch objektiven Strukturen transnationaler Migrationsräume (vgl. Apitzsch 2009). In kritischer Auseinandersetzung mit dem Begriff des Ortes erweitert Helma Lutz (2004b, 2010) die Diskussion um transnationale Migrationsbiographien um eine postkoloniale Theorieperspektive. Auf der Grundlage von Biographien von Haushaltsarbeiterinnen entwickelt sie im Anschluss an Stuart Hall die These der transnationalen Migrationsbiographie als „Artikulation“ (ebd.), um „die in biographischen Erzählungen zum Ausdruck kommenden Fremd- und Selbstpositionierungen als Handlungs- und Leidensprozesse von einzelnen Person und Personengruppen zu verstehen und sie ebenfalls als narrative Produkte von Dis- und Reartikulationsprozessen zu begreifen“ (Lutz 2010: 128). Unter Artikulation versteht sie nach Hall und den machttheoretischen Überlegungen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe die Trennung und Neu-Verbindung von Elementen. „Artikulation“ ist nach Lutz nicht nur ein „Abbild bzw. Ausdruck eines Inneren, sondern
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auch Generator der Trennung und Neu-Verbindung von Elementen. Somit ist sie das Produkt von Subjektivität und gleichzeitig produziert sie diese“ (Lutz 2010: 127). Nach Lutz stellen transnationale Migrationsbiographien Artikulationen im Sinne „erzählter Verhandlungen biographischer Erfahrungen“ dar (Lutz 2010: 128). Die theoretischen Konzeptionen von Apitzsch und Lutz stellen innovative Ansätze dar, die aus unterschiedlichen theoretischen Standpunkten die biographietheoretische Perspektive um eine transnationale Dimension erweitern. Minna-Kristiina Ruokonen-Engler (2008) kritisiert an den Konzeptionen meines Erachtens aber durchaus zu Recht, dass in den biographietheoretischen Modellen des transnationalen Sozialraumes als „Ort“ (Apitzsch 2003a) und „Artikulation“ (Lutz 2004b, 2009) die Raumdimension zu vage bleibt. Um die Verbindung zwischen biographietheoretischen Überlegungen und Raumsoziologie im Konzept der transnationalen Biographie herzustellen, schlägt Ruokonen-Engler vor, die soziologische Raumtheorie von Martina Löw (2001) mit der biographietheoretischen Perspektive und dem Transnationalisierungsansatz zu verbinden. Löw geht in ihrem relationalen Raummodell davon aus, dass Räume immer zugleich strukturiert und strukturierend sind und durch Handlungsprozesse hergestellt werden (vgl. Löw 2001). Demnach konstituiert sich Raum in zwei verschiedenen Prozessen von Spacing und Syntheseleistung (Löw 2001: 158). „Spacing bezeichnet die Platzierung von Gütern und Menschen, während letztere durch die Syntheseleistung als Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse Räume konstituieren“ (Ruokonen-Engler 2008: 111). Auf das Konzept der transnationalen Migrationsbiographie übertragen, geht Ruokonen-Engler im Anschluss an Löw (2001) davon aus, „dass es in den Biographien durch die Prozesse von Spacing, Syntheseleistung sowie die prozessuale zeitliche Struktur möglich wird, der Herstellung von transnationalen Räumen nachzuspüren" (Ruokonen-Engler 2008: 111). Durch diese theoretische Verknüpfung konkretisiert Ruokonen-Engler die Konzeption des Raumes in den biographietheoretischen Modellen zur Konstruktion des transnationalen Sozialraumes. Darüber hinaus entwickelt sie in ihrer eigenen biographieanalytischen Untersuchung über Migrationsprozesse und Subjektkonstruktionen von Migrantinnen finnischer Herkunft das analytische Konzept der "transnationalen Positionalität" (Ruokonen-Engler 2008). Die „transnationale Positionalität“
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stellt nach Ruokonen-Engler eine Verortungsstrategie dar, die es ermöglicht, „die Vielschichtigkeit, Vielräumigkeit, Hybridität und die transnationale Dimension der Subjektkonstruktionen und Zugehörigkeiten“ analytisch zu deuten (Ruokonen-Engler 2008: 351). Die skizzierten Konzeptionen zur biographischen Konstruktion transnationaler Räume wurden auf der Grundlage von unterschiedlichen Migrationstypen entwickelt. Sie stellen ein Gerüst bereit für die theoretische Konzeptualisierung von Transnationalisierungs- und Migrationsprozessen aus einer subjekt- und handlungsorientierten Perspektive, das durch weitere empirische Analysen ausdifferenziert werden muss. Das Konzept der transnationalen Biographie stellt über den Migrationskontext hinaus in den Sozialwissenschaften ein wichtiges Instrument zum Verständnis von Gesellschaft und der Transformation nationalgesellschaftlicher Sozialstrukturen (Mau 2007) bereit. Nachdem ich die Entwicklung des biographischen Paradigmas in der Migrationsforschung skizziert habe und das theoretische Konzept der transnationalen Biographie diskutiert habe, möchte ich nun abschließend auf das Konzept der biographischen Erzählung als methodisches Schlüsselkonzept in der transnationalen biographischen Migrationsforschung eingehen.
2.5 B IOGRAPHISCHE E RZÄHLUNGEN ALS METHODISCHES S CHLÜSSELKONZEPT E RFORSCHUNG TRANSNATIONALER M IGRATIONSPROZESSE
ZUR
Die biographische Migrationsforschung stellt durch das Schlüsselkonzept der Biographie ein zentrales Instrument zur Verfügung, das zur Rekonstruktion von transnationalen Migrationsbiographien eingesetzt werden kann. Der methodische Zugang erfolgt durch die auto-biographische Stehgreiferzählung von (Trans-)MigrantInnen, die in einem Interviewsetting ihre transnationale Lebensgeschichte erzählen. Die biographische Erzählung wird dabei als zentrale Form der Erfahrungsorganisation betrachtet, die den Zugang zu den Ablagerungen vergangener lebensgeschichtlicher Erfahrun-
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gen ermöglicht (Juhasz/Mey 2003: 108).13 Für die Erfassung von biographischen Erzählungen in transnationalen Räumen wird in der biographischen Migrationsforschung das autobiographisch narrative Interview14 (vgl. Schütze 1977; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997; Rosenthal 1995, 2005) als zentrales Datenerhebungsverfahren eingesetzt. Das autobiographischnarrative Interview ist in besonderer Weise für den Einsatz in der transnationalen biographischen Migrationsforschung prädestiniert, weil es als „prozessanalytisches Verfahren“ einen Einblick in die Genese transnationaler sozialer Abläufe gibt und soziale Wirklichkeit aus der Perspektive der handelnden und erleidenden Subjekte erfasst (vgl. Schütze 1983). Als sozialwissenschaftliches Erhebungsverfahren zielt es darauf, die befragte Person erzählen zu lassen, wie sie bestimmte lebensgeschichtliche Prozesse bzw. die eigene Lebensgeschichte erlebt hat. Dabei liegt dem Konzept die Annahme zugrunde, dass in autobiographischen Stehgreiferzählungen relevante Erlebnis- und Erfahrungszusammenhänge mit Bezug auf das eigene Leben entfaltet werden (vgl. Schütze 1983). In der biographietheoretisch
13 Die angenommene Nähe von Erfahrung und Erzählung wurde seit den 1980er Jahren immer wieder als wesentlicher Kritikpunkt gegen die Biographieforschung aufgeführt. Im deutschsprachigen Raum ist die von Heinz Bude formulierte so genannte „Homologiekritik“ (vgl. Bude 1985: 327 ff.), in der er Fritz Schütze die Annahme der Homologie von Erfahrung und Erzählung unterstellt, in Methodenbüchern zur Qualitativen Sozialforschung aufgenommen und verbreitet worden. Schütze geht allerdings keineswegs, wie von Bude unterstellt, von einer Homologie von Erfahrung und Erzählung aus, sondern führt die Struktur der biographischen Erzählung “auf die Struktur der wieder erinnerten lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufschichtung“ zurück (Riemann 1986: 154). Vgl. dazu auch Rosenthal (1995: 132). 14 Zur Interviewtechnik des narrativen Interviews vgl. Schütze (1977), FischerRosenthal/Rosenthal (1997), Rosenthal (1995). Bei der Durchführung des Interviews wird die befragte Person zu Beginn des Interviews aufgefordert, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Die befragte Person wird dabei vom Interviewer/der Interviewerin zunächst nicht unterbrochen. Der Interviewer/die Interviewerin wartet, bis die interviewte Person die Erzählung abbricht und stellt erst dann Nachfragen. Auf die Prinzipien der offenen Gesprächsführung bei narrativen Interviews gehe ich in der Darstellung des Forschungsprozesses meiner eigenen empirischen Untersuchung in Kapitel 5 ein.
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orientierten transnationalen Migrationsforschung wird neben dem Modell zur Konstitution von biographischen Erzählungen von Schütze, das sich auf das Konzept der Prozessstrukturen des Lebenslaufs und die kognitiven Figuren der Stehgreiferzählens15 stützt, auch insbesondere auf das von Gabriele Rosenthal entwickelte Modell der „biographischen Selbstpräsentation“ (1995) zurückgegriffen, das die Gestalttheorie Aaron Gurwitschs in die biographietheoretische Diskussion eingeführt hat.16 Dabei wird in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Methodendiskussion zunehmend die Frage diskutiert, ob zur Erforschung transnationaler Migrationsbiographien die skizzierten theoretischen Modelle zu biographischen Erzählungen für die Datenerfassung und Auswertung im transnationalen Kontext geeignet sind oder ob neue Methoden entwickelt werden müssen (vgl. dazu insbesondere Bukow/Spindler 2006: 19; Lutz 2007, 2009; Tuider 2009). In diesem Zusammenhang werden insbesondere die grundlagentheoretischen Annahmen des biographischen Erzählens, die dem
15 Mit dem Konzept der kognitiven Figuren des autobiographischen Stehgreiferzählens hat Schütze das Verhältnis von biographischer Erfahrungsaufschichtung und narrativer Repräsentation auf der Grundlage von empirischem Material theoretisch konzipiert. Die kognitiven Figuren des autobiographischen Stehgreiferzählens stellen nach Schütze Orientierungs- und Darstellungsraster dar, die beim Erzählen eigener Erlebnisse selbstverständlich verwendet werden. Schütze unterscheidet vier kognitive Figuren: 1. Biographie und Ereignisträger, 2. Ereignisund Erfahrungskette, 3. soziale Rahmen: Situationen, Lebensmilieus und soziale Welten und 4. Gesamtgestalt der Lebensgeschichte. Vgl. dazu Schütze 1984: 84 ff. 16 Rosenthal geht von einem dialektischen Verhältnis zwischen Erleben, Erinnern und Erzählen aus, das eine bestimmte Form der Strukturierung der Wahrnehmung hervorbringt (vgl. dazu Rosenthal 1995: 21). Biographische Selbstpräsentationen unterliegen nach Rosenthal einem Gestaltungsprozess, der etablierten Strukturmustern des Erlebens ebenso wie der Erinnerung und Darstellung biographisch relevanter Ereignis- und Erfahrungszusammenhänge folgt. Den Gestaltbildungsprozess konzipiert sie im Anschluss an die Gestalttheorie Aaron Gurwitchs als Entwicklung und Veränderung von Themen und thematischen Feldern. Er stellt die Grundlage dafür dar, dass sich ein Bewusstseins- und Erfahrungsfeld organisieren kann, in dem sich biographische Konstruktionen konstituieren und artikulieren (Breckner 2005: 137).
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autobiographisch-narrativen Interview zugrunde liegen kritisch reflektiert (vgl. Bukow/Spindler 2006; Dausien/Mecheril 2006; Lutz 2010). Die Grenzen und Möglichkeiten der Biographieforschung werden in postkolonialen Forschungskontexten aufgezeigt. In diesem Zusammenhang wird auch zunehmend die Frage diskutiert, ob die erzähltheoretischen Annahmen universell sind und in unterschiedlichen kulturell-ethnischen Kontexten entfaltet werden können (vgl. dazu insbesondere Tuider 2009). Die Frage nach der Gültigkeit von zentralen Prämissen der Biographieforschung in anderen kulturellen Räumen kann meines Erachtens nur anhand von empirischen Untersuchungen beantwortet werden. Sie stellt zweifellos eine der zentralen Herausforderungen der Biographieforschung in transnationalen Räumen dar. Ebenso auch die Mehrsprachigkeit und Übersetzungen, sowohl im Prozess der Datengenerierung als auch im Prozess der Datenauswertung (vgl. Palenga-Möllenbeck 2009). Für den kulturellen Kontext des europäischen Raums, in dem ich meine eigene empirische Untersuchung durchgeführt habe, haben sich die skizzierten Ansätze zur Konstitution von biographischen Erzählungen in der Forschungspraxis als durchaus geeignete Konzepte erwiesen, um mithilfe autobiographisch-narrativer Interviews kognitive Zugänge zu unsichtbaren Strukturen transnationaler Räume zu erschließen. Dabei stellte die Mehrsprachigkeit meiner InterviewpartnerInnen für die Datenerhebung und auswertung keine besondere Problematik dar, da ich ebenso wie meine InterviewpartnerInnen mehrsprachig aufgewachsen bin und im Forschungssetting die Möglichkeit offenstand, die Gespräche auf Deutsch und/oder Griechisch zu führen (vgl. dazu Kap. 5).17 Nachdem ich die migrations- und biographietheoretischen Positionen vorgestellt habe, die ich meiner Arbeit zugrunde gelegt habe, möchte ich mich nun im nächsten Kapitel meinem empirischen Untersuchungsfeld in theoretischer Hinsicht annähern und die griechische Arbeitsmigration als exemplarischen Fall für innereuropäische Transnationalisierungsprozesse im Zuge der Gastarbeitsmigration vorstellen.
17 Die Bedeutung meiner eigenen biographischen Migrationserfahrung für den Zugang zum Feld und den Datenerhebungs- und Auswertungsprozess diskutiere ich ausführlich im 5. Kapitel im Zusammenhang mit der Darstellung meiner eigenen empirischen Untersuchung. Vgl. dazu insbesondere Kap. 5.1.3.
3.
Von der griechischen Arbeitsmigration zur transnationalen Migration
Die griechische Arbeitsmigration nach Deutschland hat fünfzig Jahre nach dem Anwerbeabkommen im Jahr 1960 einen transnationalen Charakter angenommen, der die Lebenswelten der griechischen MigrantInnen prägt und zur Entstehung von transnationalen Biographien führt (vgl. dazu Kap. 6). Im folgenden Kapitel werde ich die Besonderheiten der griechischen Arbeitsmigration1 nach Deutschland skizzieren, die dazu geführt haben, dass sich ein transnationales Beziehungsgeflecht zwischen Deutschland und Griechenland entwickeln konnte, das zur Entstehung von transnationalen Biographien geführt hat.2
1
Im folgenden Kapitel gehe ich auf die Geschichte der griechischen (Gast-)Arbeitsmigration nach Deutschland ein. Zur Geschichte der neugriechischen Migration vgl. u.a. Hassiotis (1993), Konstantinou (2000) sowie Tastsoglou (2009).
2
Zweifellos gab es historisch auch transnationale Bezüge zwischen Griechenland und Deutschland vor den 1960er Jahren. Vgl. dazu Paraschou (2008), Manos (2001). Von besonderem Interesse ist aber für meine Fragestellung, wie sich das transnationale Beziehungsgeflecht insbesondere im Gefolge der Gastarbeitsmigration entwickelt hat. Daher konzentriere ich mich in den folgenden Ausführungen auf die historische Phase nach 1960.
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3.1 D IE
GRIECHISCHE ARBEITSMIGRATION NACH D EUTSCHLAND
Migration ist für Griechenland kein neues Phänomen, sondern kontinuierlicher Bestandteil der griechischen Geschichte. Die moderne Auswanderung beginnt in der Phase zwischen 1880 bis 1890 mit der Auswanderung nach Afrika, Amerika und Australien (Hassiotis 1993: 92). In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg setzte dann eine erneute Migrationswelle in Überseeländer ein, vorwiegend in die USA, nach Kanada und Australien. In den 1960er Jahren wurden westeuropäische Industrieländer das Ziel der griechischen MigrantInnen, und es setzte eine Auswanderungswelle nach Deutschland, Belgien und Schweden ein, als aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs in den Industrieländern die Regierungen dieser Länder begannen, Anwerbeabkommen mit südeuropäischen Ländern abzuschließen, um den fehlenden Bedarf an Arbeitskräften auszugleichen. Die griechische Arbeitsmigration nach Deutschland begann mit dem Abschluss des Anwerbeabkommens am 30.03.1960.3 Zu dieser Zeit befand sich Griechenland in einer äußerst schwierigen ökonomischen Krise. Für Griechenland war das Anwerbeverfahren mit Deutschland das bedeutendste innereuropäische Anwerbeverfahren in der Migrationspolitik Griechenlands nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg. Von den 1.236.000 griechischen Staatsangehörigen, die im Zeitraum von 1955 bis 1977 aus Griechenland ausgewandert sind, gingen 680.000 GriechInnen im Rahmen des Anwerbeverfahrens nach Deutschland (Grammateia Apodimou Ellinismou 1992: 23). Die Bundesanstalt für Arbeit richtete 1960 zunächst ein Anwerbebüro in Athen und eine Nebenstelle in Thessaloniki ein und rekrutierte männliche und weibliche Arbeitskräfte, die einen guten gesundheitlichen Zustand vorweisen konnten. Das griechische Arbeitsministerium entsandte im Gegenzug zur Betreuung der rekrutierten griechischen ArbeitsmigrantInnen „Griechische Kommissionen“ in westdeutsche Großstädte. Obwohl in der Migrationsforschung im Zusammenhang mit der Gastarbeitsmigration das Bild des männlichen Arbeitsmigranten in den Fabriken
3
Vor der Anwerbevereinbarung mit Griechenland im Jahr 1960 hat die deutsche Regierung 1955 das erste Anwerbeabkommen mit Italien abgeschlossen. Es folgten weitere Abkommen mit Spanien, der Türkei, Portugal, Marokko, Tunesien und Jugoslawien (Bade 1992: 395 ff.).
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dominierte und die Migration von Frauen kaum beachtet wurde, lässt sich für die griechische Arbeitsmigration nach Deutschland festhalten, dass sie im Vergleich zu früheren Auswanderungswellen in der Geschichte Griechenlands durch einen hohen Anteil von Frauen gekennzeichnet war (vgl. Hassiotis 1993). Von den 381.316 Arbeitskräften, die im Zeitraum von 1960 bis 1973 angeworben wurden, waren 38 Prozent Frauen (Kontos 2009: 31). Die angeworbenen ArbeitsmigrantInnen kamen überwiegend aus ländlichen Gebieten und befanden sich in ihrem Herkunftsland bezüglich ihrer sozialen Herkunft und ihres Bildungsniveaus in einer strukturellen Marginalität (Papaioannou 1983: 255 ff.). Ein nicht geringer Anteil der angeworbenen ArbeitsmigrantInnen hatte bereits vor der Migration nach Deutschland eine Binnenmigration in Griechenland bewältigt (Baros 2001: 98). Im Rahmen des Anwerbeverfahrens erhielten die griechischen MigrantInnen in der Regel eine befristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis für Deutschland, bei der aus migrationspolitischer Sicht die Rückkehr in das Herkunftsland vorprogrammiert war, da die Anwerbevereinbarungen vor dem Hintergrund einer temporär begrenzten Lösung zur Überbrückung konjunktureller und demographischer Engpässe auf dem Arbeitsmarkt, abgeschlossen wurden (Wolfrum 2000: 26). Das wesentliche Charakteristikum der Anwerbephase von 1960 bis 1973 war die Familienfragmentierung und die darauf folgende Pendelsituation der ArbeitsmigrantInnenkinder zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland (Baros 2001: 113). Entgegen der ursprünglichen Annahme des lediglich vorübergehenden Aufenthalts im Aufnahmeland setzte bereits ab 1971 die erste Phase der Verfestigung des Aufenthaltes ein, die im Laufe der Entwicklung, insbesondere nach 1973, zu einer Sesshaftigkeit im Aufnahmeland Deutschland führte, die ursprünglich sowohl von politischer Seite als auch von den MigrantInnen selbst nicht vorgesehen war. Als aufgrund der Energiekrise und der dadurch ausgelösten Wirtschaftskrise in Deutschland Arbeitsplätze abgebaut wurden und am 23.11.1973 ein Anwerbestopp erlassen wurde, bestand das ursprüngliche Ziel dieser Maßnahme darin, dass keine neuen ArbeitsmigrantInnen ins Land einreisen konnten. Formell wurde zwar die Zuwanderung von neuen Arbeitskräften begrenzt, aber es änderte sich zugleich auch die Bevölkerungsstruktur der Zugewanderten, da der Familiennachzug folgte. Durch die Nachzugsregelung der Familien und die Zusammenführung der ArbeitsmigrantInnenfamilien, die in den 1980er Jahren weitgehend abge-
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schlossen war, wurden aus den griechischen Arbeitskräften in Deutschland in der so genannten „Konsolidierungsphase“ (1973-1980) griechische Familien in der Migration (Siouti 2003: 18). Das Thema der Rückkehr blieb aber auch weiterhin in den Familien aktuell, da das Migrationskonzept der ersten Generation angeworbener ArbeitsmigrantInnen aus Griechenland von Anfang an von der Idee der Rückkehr bestimmt war. Das Ziel der ArbeitsmigrantInnen war es, über das in Deutschland erworbene Arbeitseinkommen die Existenzmöglichkeiten in Griechenland zu verbessern und zurückzukehren (Kontos 2009: 32).
3.2 D IE
POLITISCHE D IMENSION DER GRIECHISCHEN A RBEITSMIGRATION
Neben der ökonomischen Motivation ist auch die politische Dimension im Kontext der griechischen Arbeitsmigration von großer Bedeutung. Die griechische Migration in westeuropäische Industrieländer stellt nach Maria Kontos eine wirtschaftlich, aber auch politisch motivierte und verursachte Auswanderung dar (Kontos 1997: 20). Griechenland war nach dem Bürgerkrieg ein in zwei politische Lager zersplittertes Land. Die Angehörigen des linken Lagers wurden durch Berufsverbote politisch und wirtschaftlich verfolgt. Die politisch-ökonomischen Auswirkungen des griechischen Bürgerkriegs und der Militärdiktatur (1967-1974) führten dazu, dass unter den angeworbenen griechischen ArbeitsmigrantInnen auch viele verfolgte Linke und Intellektuelle waren. Diese Besonderheit der Synthese von Arbeitsmigration und Exilsituation ist charakteristisch für die griechische Arbeitsmigration nach Deutschland, die seit ihren Anfängen in den 1960er Jahren stark politisiert ist (vgl. dazu Kontos 1997, 1999; Ruwe 1990). Die starke Politisierung der griechischen Migration führte sowohl zu intensiven Bindungen an das politische Geschehen in Griechenland als auch zu einem hohen Organisationsgrad der GriechInnen in den griechischen Gemeinden in Deutschland (vgl. Paraschou 2004). Der griechische Staat hat seit Beginn der griechischen Arbeitsmigration eine Diaspora-Politik betrieben, bei der die Organisationen und Vereine in Deutschland als vermittelnde Instanz zwischen Athener Regierung und griechischer Diaspora eine zentrale Rolle spielten. Die erste Phase der griechischen Diaspora-Politik in den 1960er Jahren war bis zum Ende der Militärdiktatur 1974 durch den
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Anspruch des „Nationalen Zentrums“4 geprägt, die im Bürgerkrieg besiegte Linke im griechischen Inland als auch im Ausland politisch und bürgerrechtlich auszuschließen. Nach dem Sturz der Militärdiktatur nahm die griechische Diaspora-Politik eine neue Gestalt an. Im Rahmen der sozialdemokratischen Reformen wurde eine neue Diaspora-Politik eingeleitet, die zum Ziel hatte, die griechische Diaspora durch die Partizipation in einem neuen Gremium, dem „Rat der Auslandsgriechen“, im griechischen politischen System einzubinden und im Dienste von Nationalinteressen mobilisierbar zu machen (Kontos 1997: 21). Im Jahr 1983 wurde das Staatssekretariat für Auslandsgriechen gegründet, das dem griechischen Außenministerium untergeordnet ist. Die Aufgabe des Staatssekretariats für Auslandsgriechen besteht darin, sich um die „kulturellen Belange der Auslandsgriechen zu kümmern und ihre nationale Identität zu bewahren“.5 Das Staatssekretariat pflegt intensive Beziehungen zu den Organisationen der griechischen Gemeinden in Deutschland. Es unterstützt griechische Vereinigungen mit finanziellen Mitteln bei der Organisation von kulturellen Veranstaltungen (Ventoura 1999: 95). Der griechische Staat hat mit der Gründung des Staatsekretariats für Auslandsgriechen diverse Maßnahmen getroffen, um die Bindungen zu den AuslandsgriechInnen zu intensivieren und die Remigration der griechischen Familien nach Griechenland zu fördern. Es wurden zu Beginn der 1980er Jahre Nationalschulen für AuslandsgriechInnen errichtet, die unter der Trägerschaft und Schulaufsicht der griechischen Regierung standen. Zudem wurden 1984 spezielle Hochschulzulassungsprüfungen für AuslandsgriechInnen vom griechischen Bildungsministerium eingeführt (vgl. dazu Kap. 4). Um den Devisenrückfluss zu fördern, richteten griechische Banken Filialen in Deutschland ein, damit die griechischen MigrantInnen ihr Geld in Griechenland zu Sonderkonditionen anlegen konnten (Nikolaidis 2006: 196). Im Zuge der Globalisierung wirkten zudem die technologischen Entwicklungen fördernd auf die Aufrechterhaltung der Bindungen der AuslandsgriechInnen zu Griechenland. Die Kommunikationsmedien ermöglichen einen schnellen und kontinuierlichen
4
Mit der Bezeichnung „Nationales Zentrum“ ist der griechische Staat und seine nationale Politik gegenüber dem „Griechentum“ außerhalb der Staatsgrenzen gemeint. Vgl. dazu Manos (2001: 25).
5
Siehe dazu die Homepage des Staatssekretariats für Auslandsgriechen: http://www.ggae.gr [Stand: 05. April 2011].
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Austausch der griechischen MigrantInnen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland. Eine wichtige Rolle bei der Interaktion zwischen den politischen Interessen des griechischen Staates und den Bedürfnissen der griechischen MigrantInnen in Deutschland haben bereits seit den Anfängen der Arbeitsmigration die griechischen Gemeinden in Deutschland und ihr Dachverband gespielt, da sie maßgeblich daran beteiligt waren, dass sich in den letzten fünfzig Jahren ein transnationales Beziehungsgeflecht zwischen Deutschland und Griechenland etablieren konnte (vgl. Nikolaidis 2006).
3.3 O RGANISATIONSSTRUKTUREN GRIECHISCHER M IGRANT I NNEN IN D EUTSCHLAND Die griechischen MigrantInnenfamilien in Deutschland sind stark von der ethnischen Kolonie und ihren Strukturen beeinflusst (Kontos 1997: 18). Die griechischen GastarbeiterInnen organisierten sich bereits zu Beginn der Arbeitsmigration in den 1960er Jahren auf lokaler Ebene und gründeten griechische Gemeinden und griechische Vereine.6 Die griechischen Gemeinden haben rechtlich den Status von Vereinen im Sinne des bürgerlichen Gesetzbuches. Das Spektrum der Vereine in den griechischen Gemeinden umfasst unterschiedliche Vereine kultureller, politischer, gewerkschaftlicher, sportlicher und religiöser Art. Die verschiedenen Vereinstypen entstanden zu unterschiedlichen Phasen der Arbeitsmigration, und die Vereinslandschaft hat sich im Laufe der Jahre gewandelt. In den ersten Jahren haben die griechischen Gemeinden kulturelle Veranstaltungen durchgeführt und die MigrantInnen in sozial- und arbeitsrechtlichen Fragen beraten (Ventoura 1999: 272 ff.). Die griechischen Gemeinden waren seit ihren Anfängen politisch stark polarisiert, und die sich wandelnden politischen Verhältnisse in Griechenland haben das griechische Vereinsnetz in Deutschland geprägt und beeinflusst. Im Gegensatz zu den griechischen Gemeinden der Diaspora im 18.
6
Es gab bereits vor dem Anwerbeverfahren mit Griechenland griechische Gemeinden in Deutschland. Bei den Gemeinden handelt es sich um Vereine, die von griechischen Unternehmern und Akademikern gegründet wurden. Vgl. dazu Paraschou (2008).
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und 19. Jahrhundert handelt es sich bei den griechischen Gemeinden in Deutschland, die im Kontext der Gastarbeitsmigration entstanden sind, „um ethnische Organisationsstrukturen von agrarisch-proletarischen Bevölkerungsschichten“, die nach Ventoura nur durch Parteiorganisationen konstituiert werden konnten (Ventoura 1999: 303). Politisch aktive MigrantInnen und Mitglieder der Griechischen Kommunistischen Partei (KKE) und ihrer Fraktionen waren von Anfang an aktiv in den griechischen Gemeinden. In den 1980er Jahren dominierte dann die sozial-demokratische Partei (PASOK) in den griechischen Gemeinden. Erst im letzten Jahrzehnt wurden Mitglieder der liberal-konservativen Partei Nea Dimokratia (ND) aktiv (Kontos 2009: 41). Der Einzug der Militärdiktatur in Griechenland Ende der sechziger Jahre hatte gravierende Folgen für die Gemeindeorganisationen. Das griechische Gemeindenetz spaltete sich während der Zeit der Militärdiktatur (1966-1974) in drei Gruppen: die konservativen Befürworter der Militärdiktatur, die Linken und diejenigen, die versuchten, sich politisch neutral zu verhalten (Schöneberg 1993: 124). Es entstanden während der Militärdiktatur in Griechenland neue „juntafreundliche“ Vereine in Deutschland, die zum Ziel hatten, die bereits bestehenden Vereinigungen zu überwachen und zu beeinflussen und gegen Oppositionelle Front zu machen. Während der Militärdiktatur wurden aber auch viele Kultur-, Berufs- und Sportvereine in Deutschland gegründet, die sich politisch neutral positionierten, um sich der Überwachung durch die Konsulate zu entziehen. Die damaligen rechtskonservativen Vertreter des griechischen Staates beobachteten die Aktivitäten der MigrantInnen, die sich frei organisierten, mit großem Misstrauen und ließen sie politisch beobachten. Aus diesen Beobachtungen und politischen Registrierungen tatsächlicher oder potentieller OppositionshelferInnen sind die berüchtigten „Schwarzen Listen“ entstanden, worauf sich die politische Verfolgung von GegnerInnen der griechischen Militärdiktatur stützte (Manos 2001: 96). In der Zeit nach der Militärdiktatur erlebte das Gemeindenetz der griechischen Gemeinden in Deutschland einen Wandel. Die Vereine, die die Militärdiktatur in Griechenland befürworteten und unterstützten, wurden aufgelöst. Die meisten griechischen Gemeinden und Vereine sind seit den 1970er Jahren politisch links orientiert (Schöneberg 1993: 126 ff.). Der Grad der Organisationsbereitschaft bei den griechischen MigrantInnen ist im Laufe der Migration stetig gestiegen. Die griechische
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MigrantInnengruppe hat unter allen MigrantInnengruppen in Deutschland den höchsten Organisationsgrad in ethnischen Vereinen (Paraschou 2004: 118). Zurzeit gibt es in Deutschland 155 griechische Gemeinden sowie 78 nationale herkunftsgebundene Vereine.7 Der Zusammenschluss der griechischen Gemeinden auf Bundesebene erfolgte 1965 im Dachverband der griechischen Gemeinden (OEK). Der Dachverband hat seinen Sitz in Bonn, ihm gehören 145 Vereinsgemeinden an.8 Das Ziel des Dachverbandes ist es, die Interessen aller in Deutschland lebenden GriechInnen zu vertreten, unabhängig von ihrer politischen und religiösen Zugehörigkeit.9 Der Dachverband arbeitet sowohl mit deutschen als auch mit griechischen Institutionen zusammen. Neben dem Generalsekretariat für Auslandsgriechen im griechischen Außenministerium, dem Rat für Auslandsgriechen und den griechischen konsularischen Behörden kooperiert der Dachverband mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände (BAGIV) und den Wohlfahrtsverbänden (Paraschou 2004: 119). Eine besonders wichtige Vereinsorganisationsform, die in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit erlangt hat und durch den Dachverband der griechischen Gemeinden tatkräftig unterstützt wurde, sind die griechischen Elternvereine. Die Elternvereine entstanden in den 1970er Jahren aufgrund des ausgeprägten Interesses der griechischen MigrantInnen an der Bildung und Erziehung ihrer Kinder und beschäftigten sich mit der Frage, ob griechische Kinder deutsche Regelklassen oder griechische Nationalschulen besuchen sollten. Die Elternvereine führten unter konfliktreichen Auseinandersetzungen mit lokalen und regionalen Schulbehörden dazu, dass die griechische MigrantInnengruppe als einzige unter den so genannten Anwerbestaaten ein eigenes „nationales Schulsystem“ im Aufnahmeland Deutschland einrichten konnte (Mihelakaki 1999: 85).
7
Quelle: Griechische Botschaft Berlin, 2009.
8
Quelle: http://www.oekg.de [Stand: 05. April 2011].
9
Quelle:
Griechische
Botschaft
Berlin
2009.
http://www.griechische-
botschaft.de/ueber-griechenland/griechen-in-deutschland/der-dachverband-oek [Stand: 05. April 2011].
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3.4 D IE B ILDUNGSASPIRATIONEN DER GRIECHISCHEN ARBEITSMIGRANT I NNEN Die erste griechische Migrantengeneration hat bereits zu Beginn der griechischen Migration Anfang der 1960er Jahre mit Protestaktivitäten die Einrichtung griechischer Schulen gefordert und durchgesetzt. Als sich im Jahr 1965 der Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) gegen das nationale Beschulungsmodell der GriechInnen aussprach und die Beschulung der griechischen Kinder in deutschen Regelklassen forderte, entfachte dies in den griechischen Gemeinden eine Protestwelle. Die griechische Elternbewegung protestierte in mehreren deutschen Großstädten gegen den KMK-Beschluss, den sie als „Zwangsintegration“ bezeichnete, und plädierte für Unterrichtsmodelle, in denen die Muttersprache im Regelschulunterricht verankert wird. Die griechischen Eltern waren der Überzeugung, dass ihre Kinder sowohl im Falle einer Rückkehr als auch bei einem Verbleib in Deutschland in der Muttersprache unterrichtet werden sollten, weil dies ihre Zweisprachigkeit und ihre Ausbildungswege fördere (vgl. Kalpaka 1986: 65). Die griechische Elternbewegung wurde unterstützt vom Dachverband griechischer Gemeinden (OEK), dem Dachverband Griechischer Studentenvereine in Deutschland (OEFE), aber auch vom Verband Griechischer Studentenschaften in Griechenland (EFEE) sowie der Föderation der Gymnasiallehrer (OLME) und dem Verband der Grundschullehrer (DOE) in Griechenland (Kalpaka 1986: 64). Die Protestaktivitäten wurden durch den Militärputsch am 21. April 1967 unterbrochen, blühten aber nach dem Sturz der Militärjunta im Sommer 1974 wieder auf. Die griechischen MigrantInnen gründeten Elternvereine und demonstrierten gegen die Bildungspolitik der deutschen Regierung, die weiterhin an der Integrationspolitik festhielt. Es kam in mehreren deutschen Großstädten zu Hungerstreiks und Massendemonstrationen, die letztendlich dazu führten, dass die griechische MigrantInnengruppe in Deutschland ein eigenes Schulsystem gründen konnte (Kalpaka 1986: 65; vgl.dazu auch Kap. 4). Das ausgeprägte Bildungsinteresse der griechischen MigrantInnen und die damit einhergehende Gründung von Elternvereinen wird auf den hohen Stellenwert akademischer Bildung in der griechischen Herkunftsgesellschaft zurückgeführt (vgl. dazu u.a. Apostolidou 1995; Damanakis 1978; Kontos 2009).
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Nach einer empirischen Studie von Michael Damanakis (1978), der sich bereits in den 1970er Jahren als erster Migrationsforscher explizit mit den hohen Bildungserwartungen der griechischen Eltern beschäftigt hat, ist für die Forderung nach der Einrichtung griechischer Schulen in Deutschland neben der Rückkehrorientierung das ausgeprägte Interesse griechischer Eltern nach einem Hochschulstudium für ihre Kinder ausschlaggebend. In seiner empirischen Studie in Nordrhein-Westfalen kam er zum Ergebnis, dass die griechischen Eltern eine ablehnende Grundhaltung zur Berufsausbildung und zum deutschen Bildungssystem haben, weil im deutschen Bildungssystem im Gegensatz zum griechischen Bildungssystem eine praktische, nicht-universitäre Ausbildung vorprogrammiert ist (vgl. dazu Damanakis 1978: 198). Obwohl die empirische Untersuchung von Damanakis bereits über dreißig Jahre zurückliegt, sind seine Forschungsergebnisse meines Erachtens von besonderem Interesse, weil sie aus heutiger Sicht darauf verweisen, dass die griechische MigrantInnengruppe die vorhandenen Diskriminierungsstrategien im deutschen Bildungssystem bereits zu Beginn der Arbeitsmigration erkannt hat und im Sinne einer „positiven Motivation“ in eine Handlungsstrategie verarbeitet hat. Damanakis' Erklärungsansatz zu den Bildungsaspirationen der griechischen MigrantInnen impliziert, dass diese als Interaktion zwischen Traditionen aus dem Herkunftsland und Institutionen der Ankunftsgesellschaft gedeutet werden müssen (vgl. dazu auch Siouti 2003). Nach Damanakis hat sich Ende der 1980er Jahre auch Diether Hopf (1987, 1992) im Zusammenhang mit Untersuchungen über die Schulsituation ausländischer Kinder den Bildungsaspirationen der griechischen MigrantInnengruppe gewidmet. Hopf hat einen schichtspezifischen Erklärungsansatz entwickelt, den er zur Erklärung für die Bildungsaspirationen der griechischen ArbeitsmigrantInnen heranzieht. Demnach sind die hohe Bildungsmotivation der griechischen ArbeitsmigrantInnen und der Bildungserfolg der griechischen Kinder darauf zurückzuführen, dass die Schichtzugehörigkeit der griechischen ArbeitsmigrantInnen in Deutschland nicht identisch mit der Arbeiter- oder Unterschicht ist. In der Gruppe der griechischen ArbeitsmigrantInnen findet sich nach Hopf ein vergleichsweise hoher Prozentsatz kleinasiatischer Flüchtlinge, die hinsichtlich beruflicher Fähigkeiten und Bildungsniveau eine über dem Durchschnitt stehende
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Gruppe in Griechenland ist und der Mittelschicht zugeordnet werden muss (Hopf 1987: 64). Zum Verständnis der Bildungsaspirationen der griechischen MigrantInnengruppe in Deutschland bieten sich auch Erklärungsansätze aus der griechischsprachigen Soziologie an, da der hohe Stellenwert der Bildung kein Phänomen ist, welches nur die griechischen ArbeitsmigrantInnen in der Migrationssituation betrifft, sondern die gesamte griechische Gesellschaft. Für die griechische Gesellschaft ist eine „Bildungsmanie“ (Apostolidou 1995: 178) charakteristisch, die insbesondere durch die Motivation zur Akkumulation von Bildungszertifikaten gekennzeichnet ist. Der ausgeprägte Bildungswille und die Hochschulfixierung finden sich in allen sozialen Schichten und äußern sich vor allem in Form von ökonomischen Investitionen der griechischen Familien für die Ausbildung der Kinder. Obwohl in Griechenland von Jahr zu Jahr die Zahl der Akademikerarbeitslosigkeit wächst, ändert sich die Einstellung der Eltern bezüglich der Bildungserwartungen an ihre Kinder nicht. Das Bildungsverständnis der griechischen Gesellschaft ist, wie Skevos Papaioannou sehr treffend formuliert, „mit dem Antlitz der griechischen Antike zugewandt“ (Papaioannou 1994: 161). Der griechische Soziologe Konstantinos Tsoukalas hat für das „Bildungssyndrom“ in der griechischen Gesellschaft und bei griechischen MigrantInnen im Ausland einen Erklärungsansatz, bei dem er den Stellenwert der Bildung auf die historisch-spezifische Entwicklung Griechenlands zurückführt. Nach Tsoukalas sind der besonders hohe Stellenwert der Bildung in der griechischen Gesellschaft und die damit verbundene Bildungserwartung griechischer Eltern „auf den Einfluss kollektiv wirksamer Denkstrukturen zurückzuführen, die sich nicht mehr direkt auf eine ökonomische Basis stützen, sondern als ideologisch-kulturelle Nachwirkungen ökonomischer Prozesse vergangener Zeiten das Bewusstsein der Einzelnen immer noch prägen“ (Tsoukalas 1982, zitiert nach Kontos 1997: 22). Die Bildungsfixierung griechischer Eltern sowohl innerhalb als auch außerhalb Griechenlands basiert nach Tsoukalas auf der kollektiven Erfahrung der GriechInnen, dass akademische Bildung das bewährte Mittel des sozialen Aufstiegs und Klassensprungs ist. Tsoukalas führt diese Erfahrung auf die Zeit der Ausbreitung des europäischen Kapitals im Osmanischen Reich und im Nahen Osten zurück, in der die Verstädterung das Entstehen von Arbeitspositionen im Handel und in der Verwaltung förderte, die von
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Griechen, Juden und Armeniern unter der Voraussetzung der Bildung besetzt wurden. Nach Tsoukalas blieb die Intensität der Erfahrung von Bildung als zuverlässigem Aufstiegsmittel trotz radikaler Änderungen der politisch-ökonomischen Bedingungen auf der Bewusstseinsebene erhalten und wurde durch die Verzögerung des Aufbaus eines technisch-beruflichen Bildungssystems in Griechenland unterstützt (vgl. dazu Tsoukalas 1982). Da es kein zweites schulisches „proletarisches Netz“ gab, was darauf zurückzuführen ist, dass in Griechenland die Industrialisierung nur langsam voranging und der Bedarf an weniger qualifizierten Arbeitskräften gering war, wurde die Universität zur einzigen Alternative für die soziale Mobilität (Papaioannou 1994: 166). In der Migrationssituation wurden die Anstrengungen der griechischen MigrantInnen nach sozialer Mobilität verknüpft mit geographischer Mobilität.
3.5 R ÜCKKEHRORIENTIERUNG P ENDELMENTALITÄT
UND
Neben der hohen Bildungsmotivation und einer ausgeprägten Bindung zu ihrem Heimatland ist für die griechische MigrantInnengruppe in Deutschland eine hohe Rückkehrquote und Rückkehrorientierung sowie eine ausgeprägte Disposition zu grenzüberschreitenden Bewegungen charakteristisch, die in der Literatur als Pendelmentalität bezeichnet wird (vgl. dazu Dietzel-Papakyriakou 2001). Laut Statistiken haben die griechischen MigrantInnen einen konstant hohen Anteil an Zu- und Fortzügen seit der Freizügigkeitsverordnung der EG vom 17. Juli 1997.10 Die Rückkehr- und Pendelphänomene, die in der deutschsprachigen Literatur oft mit der EUMitgliedschaft Griechenlands in Verbindung gebracht werden, existierten bereits in den 1970er Jahren und sind kein neues Phänomen der 1990er Jahre. Die griechische Historikerin und Migrationsforscherin Lina Ventoura hat bereits Ende der 1990er Jahre darauf hingewiesen, dass 58 Prozent der griechischen MigrantInnen bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 mindestens zwei Mal nach Deutschland ein- und wieder ausgewandert sind (Ventoura 1999: 81). Die erste große Rückkehrwelle der griechischen Mig-
10 Vgl. dazu den Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen in der BRD 2007.
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rantInnen war 1966 während der wirtschaftlichen Rezessionsperiode. Nach dem Putsch der Militärjunta im Jahr 1967 migrierten viele GriechInnen erneut nach Deutschland, darunter zahlreiche politisch Exilierte. Die zweite Rückkehrwelle nach Griechenland folgte nach der Wirtschaftskrise 1973 und vor allem nach dem Sturz der Militärjunta in Griechenland im Jahr 1974 (Unger 1984: 257 ff.). Auch in der so genannten „Rückkehrförderungsphase“ (1981-1984), in der von der deutschen Bundesregierung das Rückkehrförderungsgesetz erlassen wurde, kehrten sehr viele griechische MigrantInnen nach Griechenland zurück.11 Nach der Berechnung von Hopf (1988) lag die Rückkehrquote der griechischen MigrantInnen bis Ende der 1980er Jahre bei 80 Prozent (Hopf 1988:13). Der EG-Beitritt Griechenlands am 1.1.1981 und die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union führten aufgrund der Verbesserung des rechtlichen Status der GriechInnen in Deutschland dazu, dass der Migration zwischen Griechenland und Deutschland keine rechtlichen Hindernisse mehr im Weg stehen. Die griechischen MigrantInnen nutzen vermehrt ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb Europas, was sich auch in den amtlichen Statistiken zu den Fort- und Zuzügen widerspiegelt.12 Interessanterweise wurde die Pendelmentalität der griechischen MigrantInnen zwar als Phänomen in der Migrationsforschung wahrgenommen, aber nicht Gegenstand von empirischen Untersuchungen. Auch nachdem sich Ende der 1990er Jahre die Transnationalisierungsforschung im deutschsprachigen Raum etabliert hat, dominiert im deutschsprachigen Diskurs die klassische Vorgehensweise, die die grenzüberschreitenden Bewegungen der griechischen MigrantInnen und ihrer Kinder als unidirektionalen Weg der Rückkehr betrachtet. Zur Thematik der Rückkehr im Kontext der griechischen Arbeitsmigration existieren vergleichsweise viele
11 Das Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von AusländerInnen sah die sofortige Erstattung der Arbeitnehmerverträge zur gesetzlichen Rentenversicherung und eine finanzielle Rückkehrhilfe unter der Bedingung des Verzichts der Aufenthaltserlaubnis für Deutschland vor. Die Rückkehrhilfe wurde nur von einer geringen Anzahl von ehemals angeworbenen ArbeitsmigrantInnen wahrgenommen. Der Anteil der griechischen MigrantInnengruppe war neben dem Anteil der türkischen MigrantInnengruppe dabei am höchsten. 12 Vgl. Statistisches Bundesamt (2008): Statistik zu den Fort- und Zuzügen.
68 | THEORETISCHE ZUGÄNGE
Arbeiten.13 Die Rückkehr der griechischen MigrantInnen und ihrer Familien wurde vor allem in den 1980er Jahren in der Migrationsforschung aufgegriffen. Die Rückkehr und Rückkehrorientierung wurde im Kontext der Integrationsforschung (vgl. dazu insbesondere Esser 1980) als Abweichung und als Symptom des Scheiterns des Integrationsprozesses interpretiert (Dietzel-Papakyriakou 2001: 21). Der ethnischen Kolonie wurde dabei eine entscheidende Rolle zugeschrieben, da sie die Rückkehrorientierung als Loyalitätsbekundung der ethnischen Zugehörigkeit fördere (vgl. Kontos 2000a). In den 1980er Jahren entstanden zahlreiche Studien über die Remigration griechischer GastarbeiterInnen (vgl. u.a. Aidinidis 1990; Kilzer 1984; Unger 1983, 1984), die zu dem Ergebnis kamen, dass die Motivation zur Remigration nicht primär von ökonomischen Faktoren bestimmt ist, sondern dass sich die Remigrationsentscheidung aus vielfältigen Faktoren im Leben der MigrantInnen zusammensetzt. Als weitere wichtige Faktoren für die ausgeprägte Rückkehrbereitschaft der griechischen MigrantInnen wurde Ende der 1990er Jahre vermehrt die politische Dimension und die Bedeutung des EU-Beitritts Griechenlands sowie die geographische Nähe zwischen Deutschland und Griechenland diskutiert (vgl. dazu Dietzel-Papakyriakou 2001; Kontos 1997, 2000a; Paraschou 2001). Die Vorstellung der klassischen Migrationsforschung, dass der Weg der Rückkehr ein endgültiges Zurückkehren in das Heimatland darstelle, trifft im Zeitalter der Globalisierung und Transnationalisierung nur für die wenigsten MigrantInnengruppen zu. Bereits der sechste Familienbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2000, der dem Schwerpunkt ausländische Familien gewidmet ist, weist darauf hin, dass das Phänomen der Pendelmigration bei älteren MigrantInnen existiert und zunehmend an Bedeutung gewinnt. Auch wenn es bisher keine repräsentativen Studien zur transnationalen Lebenspraxis von RentnerInnen mit Migrationshintergrund gibt, konnte in zahlreichen qualitativen Studien festgestellt werden, dass RentnerInnen mit Migrationshintergrund relativ dauerhafte transnationale soziale
13 Zur Thematik der Rückkehr existieren über die griechischen ArbeitsmigrantInnen im Vergleich zu MigrantInnen aus den anderen Anwerbeländern vergleichsmäßig viele Arbeiten im Kontext der „Remigrationsforschung“ (DietzelPapakyriakou 2001: 27). Zur Remigration der ersten angeworbenen Generation griechischer ArbeitsmigrantInnen vgl. insbesondere die Arbeiten von Aidinidis (1990), Kilzer (1984), Unger (1983) und Luetkens (1981).
V ON
DER GRIECHISCHEN
A RBEITSMIGRATION
ZUR TRANSNATIONALEN
M IGRATION | 69
Beziehungen und Lebensstrategien entwickeln (vgl. dazu DietzelPapakyriakou 2005; Krumme 2004; Pielage/Pries 2009). Während sich in der Gruppe der deutschen RentnerInnen solche Aktivitäts- und Mobilitätsmuster vornehmlich als Mittelschichtsphänomene finden lassen, pendeln in der Gruppe der ArbeitsmigrantInnen vornehmlich berentete ArbeiterInnen mit häufig bescheidenen Rentenbezügen (Dietzel-Papakyriakou 2005: 404). In den letzten Jahren kehrten die wenigsten griechischen MigrantInnen der ersten „Gastarbeiter“-Generation vollständig in ihr Heimatland zurück, ohne Bindungen in Deutschland weiter aufrecht zu erhalten. Viele griechische RentnerInnen verlagern ihren Lebensmittelpunkt während der Sommermonate zwar nach Griechenland, behalten aber ihren Wohnsitz in Deutschland bei, um zu Besuchen der Kinder und Enkelkinder sowie zur ärztlichen Versorgung jährlich mehrere Monate zurückkehren zu können (Apitzsch/Siouti 2008; Dietzel-Papakyriakou 2005). Fünfzig Jahre nach dem ersten Anwerbeverfahren zwischen Deutschland und Griechenland hat sich die Normalität eines transnationalen Lebensraums als Ressource für die erste Generation der ArbeitsmigrantInnen etabliert. Welchen Einfluss hatte diese Entwicklung jedoch auf die sogenannte zweite Generation, die Generation derjenigen, die in den 1960er und 1970er Jahren geboren wurden? Wie stellt sich generell die soziale Situation der Nachkommen der griechischen ArbeitsmigrantInnen dar? Wie wirken sich die Bildungsaspirationen der griechischen ArbeitsmigrantInnen und ihre Rückkehrorientierung auf die Bildungssituation der Nachkommen aus?
4.
Lebenswelten zwischen hier und dort: die zweite griechische Migrantengeneration
Die soziale Situation der Nachkommen der griechischen ArbeitsmigrantInnen in Deutschland weist im Vergleich zu anderen MigrantInnengruppen aus den ehemaligen Anwerbeländern einige Besonderheiten auf. Die hohe Rückkehrquote und die ausgeprägten Bildungsaspirationen der Elterngeneration prägen die Lebenswelten der Nachfolgegeneration. Viele Kinder griechischer ArbeitsmigrantInnen sind im Vorschul- und Schulalter zwischen Griechenland und Deutschland gependelt und haben Teile ihres Bildungsganges sowohl im deutschen als auch im griechischen Bildungssystem durchlaufen. Ihre Biographien weisen oft das sogenannte „Kofferkinder“-Schicksal auf, das sich durch das mehrmalige „Hin- und Herverfrachtet-Werden“ zwischen Deutschland und Griechenland auszeichnet (Gaitanides: 1996: 35). In der klassischen Migrationsforschung wurden Pendelphänomene bei der zweiten Generation weitgehend als Auslöser von Defekten diskutiert, die zum Scheitern von Schulkarrieren bei Migrantenkindern führen. Auch wenn die Transnationalisierungsforschung in dieser Hinsicht einen Perspektivwechsel initiiert hat und Pendeln nicht mehr als Defizit, sondern als Ressource betrachtet wird, sind die transnationalen Bildungsverläufe der griechischen Migrantenkinder, die Anhaltspunkte für transmigrantische Lebensweisen bieten, bisher weitgehend unerforscht. Dasselbe gilt für den Bildungserfolg der Nachfolgegeneration der griechischen ArbeitsmigrantInnen. Obwohl die Gruppe der griechischen Kinder seit Jahren den (konstant) höchsten Anteil an bildungserfolgreichen MigrantInnen in der Grup-
72 | THEORETISCHE ZUGÄNGE
pe der ehemaligen Anwerbeländer darstellt (Damanakis 1982; DietzelPapakyriakou 2001; Hopf 1992; Kontos 1997; Pott 2002; Wolfrum 2000), wurden die Bildungsaufstiegsprozesse der Nachfolgegeneration griechischer ArbeitsmigrantInnen bisher nicht zum Gegenstand empirischer Untersuchungen gemacht. Im folgenden Kapitel möchte ich die Faktoren beleuchten, die dazu geführt haben, dass bei der Nachfolgegeneration der griechischen ArbeitsmigrantInnen das Phänomen des Bildungsaufstiegs in transnationalen Räumen entstehen konnte (vgl. dazu die Fallanalysen in Kap. 6). Dazu werde ich zunächst die Schul- und Bildungssituation der griechischen Migrantenkinder skizzieren und den Stand der Forschung zu Bildungsaufstiegsprozessen in der Migration diskutieren. Im Anschluss werde ich aktuelle Forschungen über Grenzüberschreitungen bei der zweiten griechischen Migrantengeneration diskutieren, die in der Migrationsforschung bisher im Kontext der Remigrationsforschung untersucht worden sind.
4.1 D IE B ILDUNGSSITUATION VON K INDERN MIT GRIECHISCHEM M IGRATIONSHINTERGRUND IN D EUTSCHLAND Die Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund sind auch nach einem halben Jahrhundert der faktischen Einwanderung nach Deutschland nach wie vor deutlich geringer als die von Kindern aus nicht eingewanderten Familien (Gogolin 2006: 38). Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind im deutschen Bildungssystem in höheren Bildungseinrichtungen nach wie vor unterrepräsentiert und an den Hauptschulen überrepräsentiert (vgl. Diefenbach 2007). Auch die Kinder griechischer ArbeitsmigrantInnen haben mit 42 Prozent einen relativ hohen Anteil an den Hauptschulen.1 Die Nachkommen griechischer ArbeitsmigrantInnen sind allerdings auch zeitgleich seit Jahren die erfolgreichste Gruppe im deutschen Bildungssystem unter den ehemaligen Anwerbeländern (Alba/Handl/Müller 1994; Dietzel-Papakyriakou 2001; Hopf 1987; Nauck/Diefenbach/Petri 1998; Raiser 2007). Die griechischen Migrantenkinder haben neben den spanischen Migrantenkindern die höchste Abitur-
1
Quelle: Statistisches Bundesamt 2008.
D IE ZWEITE GRIECHISCHE M IGRANTENGENERATION | 73
quote. Zurzeit besuchen 23,7 Prozent der griechischen SchülerInnen in Deutschland ein deutsches Gymnasium.2 Die starke Orientierung der griechischen Migrantenkinder an der akademischen Bildung spiegelt sich auch in den Statistiken zur Hochschulbildung wider. Studierende griechischer Herkunft stellen sowohl in absoluten Zahlen als auch proportional zum Umfang der griechischen Population in Deutschland eine der größten Gruppen von ausländischen Studierenden an deutschen Universitäten dar (Quelle: Experteninterview Statistisches Bundesamt April 2009; vgl. dazu auch Dietzel-Papakyriakou 2001: 26; Kalter/Granato 2004: 139). Die griechischen MigrantInnen verfügen als einzige Einwanderergruppe aus den ehemaligen Anwerbeländern über ein eigenes nationales Schulsystem in Deutschland. Neben dem regulären deutschen Schulsystem und dem Besuch des muttersprachlichen Nachmittagsunterrichts steht den griechischen Kindern die Möglichkeit offen, bilinguale Klassen zu besuchen sowie das griechische Schulsystem in Deutschland zu wählen, d.h. den Besuch einer privaten griechischen Schule, an der das griechische Abitur in Deutschland absolviert werden kann (Mihelakaki 2001: 58f).3 Derzeit besuchen 12.000 griechische SchülerInnen die griechischen Schulen in Deutschland (Stand Januar 2009).4
4.2 D IE
GRIECHISCHEN
(N ATIONAL -)S CHULEN
Die griechischen (National-)Schulen5 in Deutschland sind bereits zu Beginn der griechischen Arbeitsmigration in den 1960er Jahren aufgrund intensiver Bemühungen griechischer Eltern und griechischer Institutionen eingerichtet worden. Die erste griechische Schule wurde 1965 als „König Otto von
2
Ebd.
3
Die Schulmodelle variieren und sind von den Bestimmungen der jeweiligen Bundesländer abhängig. Zu den unterschiedlichen Schulmodellen vgl. Damanakis (1993a).
4
Quelle: Griechisches Bildungsministerium. Bericht zur Schulsituation griechi-
5
In der sozialwissenschaftlichen Literatur wurden die griechischen Schulen als
scher Kinder in Deutschland 2009. Nationalschulen bezeichnet. Ich bevorzuge die Verwendung der offiziellen Bezeichnung „griechische Schulen“.
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Griechenland Schule“ (Primar- und Sekundarstufe I) in München gegründet. Die bayerischen Schulgesetze ließen im Vergleich zu den anderen Bundesländern die griechischen Schulen aufgrund von Abkommen zwischen Griechenland und Bayern bereits zu Beginn der Arbeitsmigration zu. Die Anzahl der griechischen Schulen in Deutschland erhöhte sich von Jahr zu Jahr bis Mitte der 1980er Jahre. Im Jahr 1966 existierten bereits 74 griechische Schulen in Deutschland (Kalpaka 1986: 63). Nach dem Sturz der Militärjunta kam es 1976 in griechischen Ballungszentren in Deutschland zur Errichtung weiterer griechischer Schulen. Anfang der 1980er Jahre hat dann der griechische Staat unter der PASOK-Regierung mit der Unterstützung griechischer Eltern und griechischer Vereine ein flächendeckendes griechischsprachiges Schulnetz in Deutschland eingerichtet (Zografou 1983: 53). Die griechischen Schulen sind organisatorisch, pädagogisch und inhaltlich Institutionen des griechischen Schulsystems unter der Trägerschaft der griechischen Konsulate (Boos-Nünning/Karakaúo÷lu-Aydin 2006: 164). Sie werden vom griechischen Staat finanziert und von den griechischen diplomatischen Vertretungen in Deutschland koordiniert. Die Lehrpläne und Lehrbücher werden vom griechischen Ministerium für nationale Erziehung und Religion an die Schulen übermittelt. Die an griechischen Schulen unterrichtenden Lehrkräfte werden mit Zeitverträgen nach Deutschland versetzt (Milianou 1994: 87). Die griechischen Schulen sind analog zum griechischen Schulsystem aufgebaut, das sich vom deutschen Schulsystem vor allem aufgrund seiner Gesamtschulstruktur unterscheidet. Das griechische Schulsystem besteht aus sechs Jahren Primarstufe (Grundschule: Klasse 1-6) sowie 6 Jahren Sekundarstufe, die sich aufgliedert in drei Jahre Gymnasium6 (Klasse 7-9) und drei Jahre Lyzeum (Klasse 10-12). Es ist geprägt durch eine streng zentralistische Struktur des Bildungswesens. Sowohl in der Grundschule als auch im Gymnasium und Lyzeum gibt es einen einheitlichen Lehrplan und die gleichen Lehrbücher. Die Pflichtschulzeit umfasst neun Jahre und die Schulpflicht beginnt mit dem fünften Lebensjahr (Hopf 1992: 5). Da die Unterrichtssprache an den griechischen Schulen in Deutschland griechisch
6
Das griechische Gymnasium entspricht nicht dem deutschen Gymnasium, es ist eher als eine Art Gesamtschule zu verstehen, allerdings ohne äußere und innere Differenzierung (vgl. Giagounidis 1995: 13).
D IE ZWEITE GRIECHISCHE M IGRANTENGENERATION | 75
ist und die Schulen unter der Trägerschaft des griechischen Staates stehen, ist das griechische Abitur in Deutschland rechtlich nicht dem deutschen Abitur gleichgestellt. Das Abschlusszeugnis (Apolitirio) des griechischen Lyzeums berechtigt nicht ex lege zum Studium.7 AbsolventInnen der griechischen Schulen in Deutschland müssen den Weg über die griechischen Hochschulzulassungsprüfungen gehen, wenn sie im griechischen Bildungssystem studieren oder ein Studium außerhalb Griechenlands aufnehmen möchten. In Deutschland wird das griechische Abitur seit dem KMKBeschluss vom 06.03.1981 nur mit einem Nachweis einer erfolgreichen Teilnahme an den griechischen Zulassungsprüfungen zur Zulassung an deutschen Hochschulen akzeptiert (Damanakis 1993a: 13).8 Die ideologischen Ziele der griechischen Schulen sind neben der Erhaltung der nationalen und kulturellen Identität die Vorbereitung der griechischen SchülerInnen auf eine Rückkehr nach Griechenland und ein Hochschulstudium an einer griechischen Universität (Kanavakis 1989: 219ff). Der griechische Staat unterstützt das griechische Beschulungsmodell allerdings nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. In allen Einwanderungsländern, die eine große Anzahl an griechischen MigrantInnen aufweisen, wurden griechische Schulen eingerichtet.9 Die Einrichtung und Aufrechterhaltung der griechischen Schulen im Ausland wurde von allen griechischen Regierungen mitgetragen und ist Teil der griechischen Diasporapolitik, die zum Ziel hat, die natio-kulturelle Identität der GriechInnen im Ausland aufrechtzuerhalten.10 Obwohl die Anzahl der griechischen SchülerInnen an den griechischen Schulen in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren stark zurückgegan-
7
Zudem ist eine Prüfungsvorbereitung über private oder staatliche Vorbereitungsschulen (Frontistiria) für die Teilnahme an den griechischen Hochschulzulassungsprüfungen notwendig, da die Anforderungen der griechischen Hochschulzulassungsprüfungen sehr hoch sind.
8
Vor 1981 gab es für die AbsolventInnen der griechischen Lyzeen auch die Möglichkeit, durch den Besuch des Studienkollegs das griechische Abitur in Deutschland anerkennen zu lassen.
9
Dazu zählen neben Deutschland auch Belgien und Schweden sowie die USA, Australien und Kanada.
10 Zu den Unterschieden in den bildungspolitischen Forderungen der griechischen Parteien vgl. Damanakis (1987).
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gen ist (Dietzel-Papakyriakou 2001), unterstützt und finanziert der griechische Staat nach wie vor das griechische Beschulungsmodell in Deutschland. Allerdings wurde seit 1996 eine Reform der griechischen Schulen in Gang gesetzt, um adäquat auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in den Einwanderungsländern zu reagieren. Die griechischen Schulen im Ausland sollen in „zweisprachige und interkulturelle Schulen“ überführt werden (vgl. dazu Gesetz 2413, Regierungsblatt Nr.124, 17.06.1996, Artikel 8, § 14). Nach Absatz 2 des Gesetzes 2413 verfolgt „die griechische Bildung im Ausland das Ziel, Programme und Formen der griechischen Bildung zu fördern, die den im jeweiligen Lande herrschenden Verhältnissen entsprechen und fest mit den erzieherischen, psychologischen und kulturellen Bedürfnissen der griechischen Migrantenkinder und des Griechentums in der Diaspora im allgemeinen verbunden sind“. Um dieses Anliegen in die Praxis umsetzen zu können, finanziert das griechische Bildungsministerium ein internationales LangzeitForschungsprojekt zur „Erziehung und Bildung griechischer Kinder in der Diaspora“. Das Ziel des Forschungsprojektes ist die Evaluation der griechischen Schulmodelle im Ausland und die Entwicklung von Unterrichtsmethoden und Lehrmaterialien für die Grundschule und den Sekundarbereich, die dazu beitragen sollen, die Mehrsprachigkeit von griechischen Kindern mit Migrationshintergrund zu fördern (vgl. Paraschou 2008).11 Ein wichtiger Grund dafür, dass der griechische Staat auch fünfzig Jahre nach dem ersten Anwerbeverfahren mit Deutschland ein offensichtliches Interesse daran hat, das griechische Beschulungsmodell weiter aufrecht zu erhalten, ist die Bedeutung der griechischen Sprache für die Konstruktion und Aufrechterhaltung der nationalen Identität der AuslandsgriechInnen. Durch die Förderung der griechischen Sprache versucht der griechische
11 Das internationale Langzeit-Forschungsprojekt ist am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Kreta angesiedelt; vgl. Damanakis (1990, 1993a, 1996, 2003, 2004). Es wird von Prof. Michael Damanakis am Fachbereich für Pädagogik an der Universität Kreta koordiniert. Die deutsche Teilstudie wird von Dr. Athina Paraschou an der Universität Gießen geleitet, die auch das Schulbuch „Über das Leben der Griechen in Deutschland“ konzipiert hat, welches an den griechischen Schulen in Deutschland seit dem Schuljahr 2009/2010 als erstes interkulturelles Lehrbuch in der Geschichte der griechischen Schulen eingesetzt wird.
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Staat, das Auseinanderbrechen der griechischen Diaspora zu verhindern und die griechischen MigrantInnen an den national-geographischen Raum zu binden. Rechtlich-politische Maßnahmen, die dieses Ziel untermauern, sind neben der Finanzierung von griechischen Beschulungsmodellen im Ausland die Einführung von speziellen Hochschulzulassungsprüfungen, den „Panhellenischen Hochschulzulassungsprüfungen für Auslandsgriechen“, sowie eine Quotenregelung von 4 Prozent12 bei der Vergabe von Studienplätzen an griechischen Universitäten (Nikolaidis 2006: 195). Die „Panhellenischen Hochschulzulassungsprüfungen für Auslandsgriechen“ sind bereits im Jahr 1984 eingeführt worden und ermöglichen den griechischen Migrantenkindern größere Chancen auf einen Studienplatz als den einheimischen BewerberInnen, da der Prüfungsstoff geringer ist und für sie vier Prozent der Gesamtzahl der Studienplätze in Griechenland reserviert sind (Damanakis 1993a: 13). Die griechischen Schulen werden sowohl in der öffentlich-politischen Debatte als auch in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung heftig kritisiert. Die deutschen Schulbehörden stehen dem nationalen Beschulungsmodell der Griechen in Deutschland seit seiner Entstehung ablehnend gegenüber. Sie verweigern eine Unterstützung der griechischen Schulen, weil sie der Auffassung sind, dass das nationale Beschulungsmodell zur Ghettoisierung der griechischen MigrantInnen führe und ihre Integration in die deutsche Gesellschaft verhindere (Kalpaka 1986: 64). Die Argumentationslinie der Behörden dominiert weitgehend auch die Debatte über die griechischen Schulen in der deutschsprachigen Migrationsforschung (vgl. Pantazis 2002; Paraschou 2001; Zografou 1983).13 In der Literatur wird die monokulturelle, monolinguale und ethnozentristische Ausrichtung der griechischen Schulen kritisiert. Des Weiteren stehen die importierten Unterrichtsmaterialien und Lehrkräfte aus Griechenland, die nicht angemessen die Biographien der griechischen
12 Laut Gesetz 1351/1983 (FEK 561) sind vier Prozent der Studienplätze in Griechenland für AuslandsgriechInnen reserviert (vgl. Damanakis 2005: 297). 13 Im Zusammenhang mit empirischen Studien über die Lebens- und Schulsituation der griechischen Migrantenkinder haben sich insbesondere griechische ErziehungswissenschaftlerInnen mit den griechischen Schulen auseinandergesetzt (vgl. dazu u.a. Afratis 2004; Kanavakis 1989; Konstantinou 1989; Pantazis 2002).
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MigrantInnenschülerInnen berücksichtigen können, im Mittelpunkt der Kritik (vgl. Paraschou 2001; Pantazis 2002; Zografou 1983). Zudem werden die negativen Auswirkungen der Schulen in Bezug auf die Bildungsverläufe diskutiert, da eine große Anzahl der Migrantenkinder sowohl bei den Zulassungsprüfungen als auch bei einer Studienaufnahme scheitert und keinen Anschluss an das deutsche Berufsausbildungsystem findet (vgl. Baros 2000; Paraschou 2001; Wolfrum 2000). Im Hinblick auf die Aufnahme eines Hochschulstudiums in Griechenland wird in der Literatur vor allem der negative Verlauf von Studienlaufbahnen und das Scheitern im griechischen Hochschulsystem hervorgehoben (vgl. u.a. Paraschou 2001; Wolfrum 2000).14 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass im deutschsprachigen Migrationsforschungsdiskurs weitgehend die Positionen rezipiert wurden, die sich gegen das nationale Beschulungsmodell richten und die Vorteile einer Beschulung im deutschen Schulsystem hervorheben (vgl. Dietzel-Papakyriakou 2001: 32). Durch den griechischen Schulweg in Deutschland eröffnet sich aber für eine nicht geringe Anzahl von griechischen Migrantenkindern, die die Hauptschule besuchen, eine Chance, an das Abitur zu gelangen, die ihnen das deutsche Schulsystem aufgrund seines Selektionsmechanismus nicht ermöglicht hätte. Die griechischen Schulen stellen im Hinblick auf Bildungserfolge in der Migration eine Ressource dar, die die deutschsprachige Migrationsforschung herausfordert, weil sie nationalstaatlich konzipierte Vorstellungen von Bildungserfolg infrage stellt (vgl. dazu insbesondere Apitzsch/Siouti 2008).
14 Die Autorinnen beziehen sich auf eine Studie von Michael Damanakis (1993b), der an der Universität Ioannina herausgefunden hat, dass eine große Zahl der griechischen Migrantenkinder aus Deutschland, die unter vereinfachten Bedingungen die Zulassungsprüfungen bestanden haben, im griechischen Hochschulsystem scheitert. Nach Damanakis’ Forschungsergebnissen haben die Migrantenkinder aus Deutschland überdurchschnittlich lange Studienzeiten und beenden das Studium ohne Abschluss (Damanakis 1993b:13ff). Außer dieser Studie – deren repräsentativer Charakter meines Erachtens durchaus angezweifelt werden kann – gibt es keine empirische Untersuchung, die die Bildungsverläufe von griechischen Migrantenkindern aus Deutschland im griechischen Hochschulsystem untersucht hat.
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4.3 B ILDUNGSAUFSTIEGSPROZESSE IN DER M IGRATION : Z UM S TAND DER F ORSCHUNG In der deutschsprachigen Migrationsforschung wurde seit den 1980er Jahren vor allem das Scheitern der Kinder der ehemaligen GastarbeiterInnen im deutschen Bildungssystem untersucht. In der Migrationsforschung dominierten in der Debatte um die Bildungsbeteiligung der Migrantenkinder kulturdefizitäre Ansätze, der Ansatz institutioneller Diskriminierung und humankapitaltheoretische Erklärungsansätze (Raiser 2007: 15). Das Phänomen des Bildungsaufstiegs in der Migration fand erst im letzten Jahrzehnt Beachtung in der Bildungs- und Migrationsforschung. Die qualitativen Studien, die sich mit Bildungserfolg in der Migration beschäftigt haben, richten ihr Hauptaugenmerk auf die Kinder türkischer ArbeitsmigrantInnen (vgl. Hummrich 2002; Ofner 2003; Pott 2002; Raiser 2007).15 Der Fokus auf die BildungsinländerInnen türkischer Herkunft wird in der Literatur damit begründet, dass es sich bei dieser Untersuchungsgruppe um die größte Gruppe der in Deutschland lebenden MigrantInnen handelt. In den Studien über Bildungserfolg in der Migration wird Bildungsaufstieg als eine ausgeprägte Aufwärtsmobilität bei der Nachfolgegeneration von ArbeitsmigrantInnen definiert, für die die formal höchstmögliche Bildungskarriere (das Erreichen des höchstmöglichen Schulabschlusses und das Eintreten in das deutsche Universitätssystem) charakteristisch ist (vgl. u.a. Pott 2002). Die meisten Untersuchungen zum Thema Bildungserfolg in der Migration operieren mit einer Definition und Kategorisierung von Bildungsaufstieg, die ausschließlich auf das klassische nationalstaatliche Immigrationsmodell gerichtet ist (vgl. dazu auch Apitzsch/Siouti 2008: 100).16 Transnationale Bildungsräume und erfolgreiche Bildungsverläufe außerhalb des deutschsprachigen Bildungssystems können aus dieser Perspek-
15 Die Studien von Merle Hummrich und Andreas Pott gelten als die ersten sozialwissenschaftlichen Studien im deutschsprachigen Raum, die sich aus einer qualitativen Forschungsperspektive explizit dem Phänomen des Bildungserfolgs in der Migration gewidmet haben. Das Phänomen als solches wurde aber zuvor bereits in der Frauen- und Geschlechterforschung aufgegriffen. Vgl. dazu Apitzsch (1990); Agha (1997); Gutiérrez Rodríguez (1999) sowie Karakaúo÷luAydin (2000). 16 Eine Ausnahme bildet die Studie von Sara Fürstenau. Vgl. dazu auch Kap. 1.
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tive nicht in den Blick gelangen. Es erscheint daher nicht verwunderlich, dass Pendelphänomene bei der zweiten Migrantengeneration als Auslöser von Problemlagen diskutiert wurden, die Bildungserfolge im deutschen Schulsystem verhindern (vgl. u.a. Auernheimer 2006; Diehl 2002). Auch wenn neuere Untersuchungen unter Einbezug transnationaler Perspektiven hervorheben, dass das Pendeln zwischen verschiedenen Bildungssystemen eine Ressource für Bildungsverläufe bei der Nachfolgegeneration darstellen kann und nicht a priori zum Bildungsmisserfolg führen muss (vgl. u.a. Apitzsch/Siouti 2008; Fürstenau 2004, 2008; Siouti 2003), dominiert in der Forschung zu Bildungserfolg in der Migration die um die Ankunftsnation zentrierte Perspektive. Dabei wird in der Bildungs- und Migrationsforschung immer wieder auf die Thesen Hartmut Essers zurückgegriffen, der davon ausgeht, dass sowohl Sesshaftigkeit als auch die Vermittlung der sprachlichen Kompetenz in der Schulsprache Deutsch konstitutiv für den Bildungserfolg von Migrantenkindern ist (vgl. u.a. Esser 2001, 2006). Neben den deutschen Sprachkenntnissen stellen für Esser das niedrige Einreisealter, die hohe Bildungsausstattung der Elterngeneration sowie eine geringe Geschwisterzahl zentrale Faktoren dar, die den Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund begünstigen (vgl. Esser 2006). In der qualitativen Migrationsforschung werden aber auch die Bedeutung der Familie und insbesondere die elterlichen Bildungsaspirationen sowie die aufstiegsgenerierende Kraft ethnischer und familiärer Netzwerke als zentrale Faktoren für den Bildungserfolg diskutiert. Andreas Pott (2002) hat in seiner qualitativen Untersuchung über bildungserfolgreiche türkische MigrantInnen festgestellt, „dass die Verwendung ethnischer und/oder räumlicher Differenzierungen und die Teilnahme an lokalen, ethnisch markierten Eigenorganisationsformen einer Migrantengruppe wesentliche Bestandteile einer Handlungsweise sein können, mit der die mit dem (Bildungs)Aufstieg verbundenen sozialen Karrieren und Inklusionsanforderungen erfolgreich bewältigt werden“ (Pott 2002: 415). Ethnizität und Raum stellen somit nach Potts Ergebnissen eine zentrale Ressource für den Bildungsaufstiegsprozess in der Migration dar. Auch weitere qualitative Studien über bildungserfolgreiche MigrantInnen verweisen wiederholt auf die Bedeutung der sozialen Netzwerke und der familiären Sozialisationserfahrungen für Bildungsaufstiegsprozesse in der Migration (vgl. u.a. Ofner 2003; Raiser 2007; Soremski 2010).
D IE ZWEITE GRIECHISCHE M IGRANTENGENERATION | 81
In seiner Untersuchung über bildungserfolgreiche türkische MigrantInnen17 im deutschen Bildungssystem geht Raiser (2007) der Frage nach, wie trotz klassenspezifisch ungünstiger Ausgangslage sozialer Aufstieg und insbesondere Bildungserfolg möglich werden. In seiner qualitativen Analyse von Bildungsaufstiegsbiographien verbindet er den Sozialkapitalansatz in der Tradition von James Coleman und Alejandro Portes mit lebenslauftheoretischen Ansätzen und kommt zu dem Ergebnis, dass der entscheidende Aufstiegsfaktor das „migrationspezifische Kapital“ ist (vgl. Raiser 2007: 69). Die Kapitalien, die die erfolgreichen Migrantengruppen einsetzen, resultieren nach Raiser in erster Linie „aus ihrem spezifischen Status, ihrer spezifischen Erfahrung, ihren spezifischen Ansprüchen als MigrantInnen und aus ihrer familiären Struktur in der Migration“ (Raiser 2007: 181). Aber was genau sind die biographischen Ressourcen, die für den Bildungsaufstieg förderlich sind? Qualitative Studien weisen darauf hin, dass mehrere Faktoren, die in unterschiedlichen Konstellationen zusammenwirken, den Bildungserfolg von Migrantenkindern fördern und beeinflussen. Als zentrale Faktoren, die sich positiv auf den Bildungserfolg von Migrantenkindern auswirken, sind die Bildungsaspirationen und Unterstützungsleistungen der Eltern und die Vorbildfunktion der Geschwister entdeckt worden (vgl. u.a. Karakaúo÷lu-Aydin 2000; Nohl 2001; Ofner 2003; Pott 2002; Raiser 2007; Soremski 2010). Desweiteren wird in aktuellen Studien die engagierte Unterstützung durch einzelne VertreterInnen deutscher Bildungsinstitutionen hervorgehoben (vgl. u.a. Farrokhzad 2007; Raiser 2007). Eine weitere zentrale Rolle spielen die konstruktiven Verarbeitungsstrategien von biographisch-krisenhaften Erfahrungen und die Genderdifferenzen (vgl. Apitzsch 2003b; Delcroix 2001; King 2006). Insbesondere die biographietheoretisch orientierte rekonstruktive Migrationsforschung hat wichtige Impulse für das Verständnis von Bildungsaufstiegsprozessen in der Migration geliefert (vgl. u.a. Apitzsch 1990, 2003b; Hummrich 2002; Juhasz/Mey 2003; Soremski 2010). Der Bildungserfolg wird in diesen Studien aus einer intergenerationalen Perspektive als Aufstiegsprozess gedeutet, der sowohl die Fortsetzung des elterlichen Mig-
17 Raiser hat 15 Interviews mit Studierenden türkischer Herkunft in Berlin geführt sowie für den kontrastiven Vergleich 4 Interviews mit Studierenden griechischer Herkunft und fünf Interviews mit Studierenden deutscher Herkunft (vgl. Raiser 2007: 83).
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rationsprojektes darstellt (vgl. Juhasz/Mey 2003) als auch die Fortsetzung sozialer Transformationsprozesse (vgl. Hummrich 2002). Von zentraler Bedeutung ist dabei die Verschränkung von Adoleszenz, Geschlecht und Bildungsaufstieg (vgl. u.a. Apitzsch 2003b; King 2006). Der Adoleszenz kommt für den Bildungs- und sozialen Aufstieg deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil die entscheidende biographische Phase, in der über den Bildungserfolg entschieden wird, mit den für die Adoleszenz typischen Transformationsanforderungen koinzidiert (Pott 2006: 49). Fallrekonstruktive Analysen von bildungserfolgreichen MigrantInnen haben aufgezeigt, dass die für den Bildungsaufstieg erfolgreiche Bewältigung von gesteigerten Transformationsanforderungen einerseits von den Ressourcen und Belastungen in den familiären Generationenbeziehungen abhängt, andererseits von den Möglichkeiten der biographischen Verarbeitung und der Umgestaltung dieser Erfahrungen in unterschiedlichen außerfamilialen sozialen Feldern im Verlauf der Adoleszenz (vgl. King 2006: 29). Die Tatsache, dass weibliche Migrantinnen bildungserfolgreicher als männliche Migranten sind, wird darauf zurückgeführt, dass sich die Familienorientierung von weiblichen Migrantinnen „im Verlaufe des Migrationsprozess häufig in eine verstärkte individuelle Bildungsorientierung verwandelt, wenn zwar am Wunsch einer erfolgreichen Migration festgehalten wird, aber das Kriterium des Erfolges sich allmählich von der erfolgreichen Rückkehr in die Heimatregion auf die erfolgreiche Berufsperspektive im Aufnahmeland verlagert“ (Apitzsch 2003b: 73). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich der Forschungsbereich zu Bildungserfolg in der Migration noch in den Anfängen befindet. Aus dem bisherigen Kenntnisstand ergibt sich die Notwendigkeit systematisch vergleichender qualitativer Untersuchungen, die im interethnischen Vergleich biographische Verläufe erfolgreicher Bildungskarrieren sowohl von weiblichen als auch von männlichen MigrantInnen untersuchen. Über die Bedingungen des Bildungserfolgs von männlichen Migrantenjugendlichen gibt es vergleichsweise wesentlich weniger Untersuchungen als über den Bildungserfolg von weiblichen Migranten. Ebenso wurden bisher die spezifischen Bedingungen und Prozesse, die dazu führen, dass bestimmte Migrantengruppen (z.B. die griechische und spanische Migrantengruppe) besonders erfolgreich im deutschen Bildungssystem sind, nicht erforscht. Der Blick richtete sich insbesondere auf die
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Migrantengruppen, die sowohl im öffentlichen als auch wissenschaftlichen Diskurs als problematisch gelten. 4.3.1 Erklärungsansätze in der Literatur zum Bildungserfolg der griechischen Migrantenkinder Obwohl es bisher keine qualitative Untersuchung gibt, die sich explizit mit Bildungsaufstiegsprozessen bei der Nachfolgegeneration griechischer ArbeitsmigrantInnen beschäftigt hat, findet sich in der Literatur eine Reihe von Thesen über den Bildungserfolg griechischer Migrantenkinder. Nach Diether Hopf hat die Komposition der griechischen Zuwanderergruppe, die er eher der Mittelschicht zuordnet, bildungswirksame Effekte auf den Schulerfolg griechischer Kinder (vgl. Hopf 1987). Eine weitere wichtige Rolle für die hohe Bildungserfolgsquote der griechischen Migrantenkinder wird in der Literatur den hohen Bildungserwartungen der griechischen Eltern zugeschrieben, die an die Nachfolgegeneration vermittelt werden (vgl. Hopf/Chatzichristou 1994; Damanakis 1978; Hopf 1987; Kalpaka 1986; Kontos 1997; Pantazis 2002; Siouti 2003). Desweiteren wird die günstige Bildungsbeteiligung griechischer Kinder auf sogenannte „Institutionseffekte“ zurückgeführt (Hunger/Thränhardt 2001; Pantazis 2002; Giagounidis 1995). Hunger und Thränhardt (2001) führen den relativ hohen Bildungserfolg der griechischen Migrantengruppe auf die in der Migrationssituation genutzten Handlungsstrategien zurück. Demzufolge zeichnet sich die Migrationssituation griechischer Familien insbesondere durch Eigeninitiative und Selbstorganisation aus, die sich in der Einrichtung von Unterstützungsnetzwerken, Elternvereinen und in der Einrichtung eines eigenen nationalen Schulsystems in Deutschland zeigt. Nauck, Diefenbach und Petri (1998) dagegen vertreten die These, dass der Bildungserfolg der griechischen Migrantengruppe in keinem Zusammenhang mit der Selbstorganisation steht, sondern auf die familiären Sozialisationsbedingungen zurückzuführen ist. In einer Sekundäranalyse der Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP), in sie der Frage nachgegangen sind, auf welche Faktoren die bestehenden ethnischen Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem zurückzuführen sind, kommen sie zu dem Ergebnis, „dass sich die Sozialisationsbedingungen griechischer Kinder systematisch von denen der Kinder aus den übrigen Nationalitäten unterscheiden. Kinder aus Familien griechischer Nationalität sind mit größerer Wahrscheinlichkeit in
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Deutschland geboren und in einem jüngerem Alter eingereist, sie haben eine jüngere Mutter, Eltern mit höherer Bildung, weniger Geschwister im Haushalt und wachsen mit größerer Wahrscheinlichkeit in einem die Assimilation begünstigendem kulturellen Klima im Elternhaus auf als Kinder aus MigrantInnenfamilien anderer Nationalität“ (Nauck/Diefenbach/Petri 1998: 716). Diese These erscheint mir problematisch, da sie die Milieu- und Schichtsunterschiede innerhalb der griechischen Migrantengruppe nicht berücksichtigt und von der Annahme ausgeht, dass alle griechischen Migrantenkinder die gleichen Sozialisationsbedingungen haben. Dies ist gerade im Hinblick auf die Heterogenität der griechischen Migrantengruppe in Deutschland sehr unwahrscheinlich. Zudem verkennt sie, dass sich bei der griechischen Migrantengruppe Lebensformen entwickelt haben, bei denen nicht die Assimilation im Ankunftsland im Mittelpunkt steht. Entgegen der gängigen Annahme in der Integrationsforschung, dass aufgrund der starken Rückkehrorientierung die Ausrichtung auf eine höhere Bildung schwach ausgeprägt bleibt (vgl. insbesondere Nauck/Diefenbach/Petri 1998; Diefenbach 2002; Esser 2001), ist bei der griechischen Migrantengruppe sowohl eine starke Rückkehrorientierung als auch ein ausgeprägter Bildungserfolg in der Migration konstatiert worden. Obwohl beide Phänomene in der Lebenspraxis der MigrantInnen anzutreffen sind, ist die Verschränkung von sozialer und geographischer Mobilität bei der Nachfolgegeneration der Gastarbeiter bisher in der Migrationsforschung nicht systematisch zusammenhängend untersucht worden. Den Grenzüberschreitungen bei der Nachfolgegeneration widmete sich bis Ende der 1990er Jahre die Remigrationsforschung.
4.4 G RENZÜBERSCHREITUNGEN : P ENDEL - UND R EMIGRATION Grenzüberschreitungen bei den Nachkommen der griechischen ArbeitsmigrantInnen wurden bisher ausschließlich aus der Perspektive der Remigrationsforschung betrachtet und unter dem Terminus „Remigration“ als Synonym für die „Rückkehr in die Heimat“ subsumiert. Während die Verwendung des Begriffs bei der ersten Generation durchaus plausibel ist, da – wie der Begriff impliziert –, eine Migration der Remigration voraus-
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gegangen ist, ist die Begriffsverwendung bei der zweiten und dritten Generation – unabhängig von welcher theoretischen Positionen aus betrachtet – vor allem deshalb irritierend, weil es sich bei den migrierenden Individuen um Menschen handelt, die in Deutschland geboren und sozialisiert worden sind. Bei diesen nicht-migrierten sogenannten Postmigranten (Kosnick 2010) stellt die Remigration, wenngleich die Thematik der Rückkehr in den Arbeitsmigrantenfamilien aktuell war, eine faktisch-biographische und geographische Erstmigration dar (vgl. Siouti 2003).18 Die Betrachtungsweise von Migrationsprozessen bei der Nachfolgegeneration der ArbeitsmigrantInnen aus der verengten Perspektive der „Heimkehr“ hängt mit konkreten politischen als auch migrationstheoretischen Diskursen zusammen. Auf der migrationstheoretischen Ebene dominierte bei der Betrachtung von Migrationsphänomenen die Subsumtion der Wanderung unter dem Begriff der Remigration, da in Anlehnung an die klassischen Migrationstheorien das Wanderungsereignis als unidirektional zwischen Herkunfts- und Ankunftsregion begriffen wurde (vgl. Pries 2001). Zugleich dominierte auf der Ebene des öffentlich politischen Diskurses die Vorstellung der Normalität der Rückkehr im Zusammenhang mit Arbeitsmigration, was sowohl mit dem Verständnis der deutschen Gesellschaft als Nichteinwanderungsgesellschaft in Verbindung gebracht werden kann als auch mit den Emigrationsideologien der Entsendeländer (Kontos 2000a). Die sozialwissenschaftliche Forschung begann erst in den 1980er Jahren, sich für das Thema der Rückkehr der MigrantInnen und ihrer Kinder zu interessieren, als das Rückkehrförderungsgesetz erlassen wurde. In den Remigrationsansätzen wurden zunächst sozio-kulturelle Erklärungstheorien herangezogen, bei denen das Erklärungsmuster der Kulturkonfliktthese im Mittelpunkt stand (Gontovos 2000: 27). Die Rückkehr wurde als durch die elterliche Entscheidung fremdbestimmt motivierte Migration im Jugendalter untersucht und das Phänomen der Rückkehrorientierung bei der zweiten Generation als eine mögliche Reaktionsform auf anomische Spannungen, die ihrerseits aus strukturellen Bedingungen resultiert, diskutiert (Juhasz/Mey 2001: 216).
18 In der griechischsprachigen Migrationsforschung wird dafür die Bezeichnung „παλινȞóστȘση“ (palinostisi) verwendet, die sinngemäß übersetzt „WiederHeimkehr“ bedeutet und als Synonym für die Rückkehr in die Heimat verwendet wird.
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In empirischen Untersuchungen zur Situation von remigrierten Kindern und Jugendlichen aus den ehemaligen Anwerbeländern (vgl. u.a. Aidinidis 1990; Drakos 1989; Firat 1991; Gracia-Tardio/Weidlich 1985; Kapsalis 1987; Laue 1990; Schwenk 1990, Stenzel/Homfeldt 1985; Unger 1986; Zacharenakis 1990) standen die Schulprobleme sowie allgemeine Anpassungs- und Orientierungsprobleme der remigrierten Migrantenkinder im Schulalter im Vordergrund, die unter festgelegten Kulturkonfliktmustern subsumiert und untersucht wurden. Den Forschungsarbeiten ist allen gemeinsam, dass sie eine problemzentrierte Perspektive einnehmen und zum Ergebnis kommen, dass die remigrierten Jugendlichen unter Schul-, Sprach- und Kontaktprobleme leiden sowie Identitäts- und Orientierungsprobleme aufweisen, die auf die bikulturellen biographischen Erfahrungen zurückzuführen seien (Gontovos 2000: 59). Die Forschungsarbeiten zum Thema Remigration bei der zweiten griechischen Migrantengeneration sind sowohl in der griechisch- als auch in der deutschsprachigen Migrationsforschung primär im schulischen Kontext angesiedelt. Dabei stehen die Sprachschwierigkeiten im Interaktionsfeld Schule im Mittelpunkt der Untersuchungen. Die problemzentrierte Perspektive dominiert sowohl den griechisch- als auch den deutschsprachigen Remigrationsforschungsdiskurs (vgl. u.a. Dimas 1987; Drakos 1989; Gontovos 2000; Hopf 1987, 1992; Hopf/Chatzichristou 1994; Kapsalis 1987; Paraschou 2001; Unger 1986; Wolfrum 2000; Zacharenakis 1990).19 Die Tatsache, dass die Arbeiten im Allgemeinen im schulischen Kontext angesiedelt sind, lässt sich mit der besonderen Schulsituation der griechischen Remigrantenkinder in Verbindung bringen, die von der unzureichenden Vorsorge der griechischen Migrations- und Bildungspolitik betroffen sind (vgl. Paraschou 2001). Die im griechischen Schulwesen errichteten Empfangsklassen und Rückkehrerschulen sowie so genannte „Förderkurse“
19 Vgl.
dazu
u.a.
Gotowos/Markou
insbesondere (Hg.;
die
griechischsprachigen
1984):
Schulische
Arbeiten
Reintegration
von von
ReMigrantInnenschülern: Probleme und Aussichten, Athen; Karakatsanis (1989): Probleme schulischer Integration und Reintegration von ReMigrantInnenschülern, Alexandroupolis; Kasimati (1984): Emigration und Remigration: Die Problematik der zweiten Generation, Athen; Kiliari (1986): Probleme der Kinder griechischer ReMigrantInnen aus der BRD. Ein Bericht über den Forschungsstand in Griechenland.
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bilden einen weiteren Schwerpunkt der griechisch- und deutschsprachigen Forschungsarbeiten, bei denen primär die Modellversuche der politischpädagogischen Regelungen untersucht und evaluiert wurden (vgl. u.a. die Arbeiten von Hopf 1992; Markou/Gotowos 1984; Paraschou 2001). Die aktuellsten Studien zur Remigration griechischer Migrantenkinder liegen knapp ein Jahrzehnt zurück (vgl. Gontovos 2000; Paraschou 2001; Wolfrum 2000). Die Erziehungswissenschaftlerin Athina Paraschou hat mit ihrer Studie „Remigration in die Heimat – oder Migration in die Fremde?“ (2001) in intensiver Auseinandersetzung mit den historisch-politischen Rahmenbedingungen die schulische Situation griechischer jugendlicher MigrantInnen aus einer problemzentrierten Perspektive untersucht. Der empirische Zugang basiert auf einer Fragebogenuntersuchung, bei der remigrierte Jugendliche an der Rückwandererschule in Thessaloniki, einheimische Schüler an der Regelschule in Athen und griechische Kinder der Griechisch-Nationalen-Privatschule in Kelkheim befragt wurden. Paraschou kommt in ihrer vergleichenden Untersuchung zu dem Ergebnis, dass sowohl die Jugendlichen, die in Deutschland die Nationalschulen besuchen, als auch die remigrierten griechischen Jugendlichen Sprachdefizite und Orientierungsprobleme aufweisen. Die verfehlte Integration der Migrantenkinder in beiden Ländern führt Paraschou darauf zurück, dass keine bildungspolitischen Maßnahmen existieren, die der interkulturellen Situation der Migrantenkinder gerecht werden. Die Schulsysteme beider Länder sind nationalspezifisch orientiert und auf eine Zielgruppe mit monokultureller Orientierung ausgerichtet (Paraschou 2001: 196). Der Psychologe Konstantinos Gontovos hat sich in seiner Arbeit „Psychologie der Migration“ (2000) mit der Bewältigung von Migrationserfahrung und -problemen von griechischen Jugendlichen in zwei Nationalgesellschaften befasst. Gontovos hat in seiner empirischen Studie remigrierte griechische Jugendliche untersucht, die im Migrationsland der Eltern aufgewachsen und ins Heimatland der Eltern remigriert sind. Er interessiert sich insbesondere für die subjektive Bedeutung der nationalen Zugehörigkeit und die Anpassungsleistungen der remigrierten griechischen Jugendlichen. Seiner Arbeit liegt die These zugrunde, dass die MigrantInnenjugendlichen nicht nur, wie in der Remigrationsforschung angenommen, einen Konflikt zwischen den Kulturen erleben, sondern dass sie insbesondere unter dem starken Anpassungsdruck der jeweiligen Nationalgesellschaft leiden und sich derjenigen Nationalität zuordnen, die ihnen nach ih-
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ren subjektiven Einschätzungen die besseren Lebensmöglichkeiten anbietet (Gontovos 2000: 134). In seiner empirischen Untersuchung über remigrierte griechische Jugendliche, die auf einer Leitfrageninterviewbefragung basiert, kommt Gontovos zum Ergebnis, dass primär ein Doppelbezug an zwei Nationalgesellschaften bei den Jugendlichen existiert, der durch eine „doppelte Anpassungsaufgabe“ gekennzeichnet ist. Dieser Doppelbezug führt, sobald er in der Alltagspraxis in den Vordergrund gestellt wird, dazu, dass die Jugendlichen als „Nicht-Dazugehörige“ betrachtet werden und in beiden Gesellschaften als Minderheit auf Ablehnung stoßen. Sowohl in der Migrations- als auch in der Remigrationssituation erleben die griechischen Jugendlichen „einen Monopolisierungsanspruch der jeweiligen Nationalgesellschaft“, gegen den sie sich durch ein selektives Verhältnis zu beiden Ländern zu wehren versuchen (Gontovos 2000: 183 ff.). Die Forschungsergebnisse von Gontovos und Paraschou sind von besonderem Interesse, weil sie eine Wende in der Remigrationsforschung markieren. Während in den ersten Forschungsarbeiten Ende der 1980er Jahre die kulturellen Unterschiede in der Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft als Erklärungsfaktor für die Probleme remigrierter Jugendlicher herangezogen wurden, betonen beide AutorInnen die Bedeutung der migrationspolitischen Dimension und der sozialen Diskriminierungserfahrung für die Entstehung von Problemen in der Remigrationssituation. Aber sie reproduzieren beide auch den defizitären Blick der Migrationsforschung und stellen die ausweglose, krisenhafte Lebenssituation der griechischen Migrantenkinder in den Mittelpunkt. Aus dieser Perspektive kann die Verknüpfung von Rückkehrorientierung und Bildungserfolg nicht ins Blickfeld der Analyse gelangen. Es ist offensichtlich, dass ein theoretischer und methodischer Zugang erforderlich ist, der beide Perspektiven berücksichtigt und den Individuen und ihren biographischen Bildungsverläufen folgt. Einen innovativen Ansatz, um den problemorientierten, defizitären Blick der (Re)Migrationsforschung aufzubrechen, stellt meines Erachtens die Transnationalisierungsperspektive dar, die bisher im Zusammenhang mit Forschungen über Grenzüberschreitungen bei der Nachfolgegeneration griechischer ArbeitsmigrantInnen keine Beachtung gefunden hat. In meiner empirischen Untersuchung habe ich den Ansatz der Transnationalisierungsforschung mit der biographietheoretischen Perspektive und der qualitativ-rekonstruktiv verfahrenden Biographieforschung verknüpft und als theoretische Perspektive(n) meiner empirischen Studie zugrunde gelegt. Nachdem ich mich im
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ersten Teil dieser Arbeit meinem Forschungsgegenstand theoretisch angenähert habe, möchte im zweiten Teil dieser Arbeit meine empirische Studie vorstellen.
II. Empirische Untersuchung
5.
Methodologie und Methode
Für meine empirische Untersuchung über die Entstehung von Transmigrationsformen bei der Nachfolgegeneration griechischer ArbeitsmigrantInnen habe ich den Forschungsansatz der qualitativ-rekonstruktiv verfahrenden Biographieforschung herangezogen. Das hierbei zugrunde liegende Verständnis von Biographieforschung begreift den Ansatz als eine „Forschungsperspektive“, bei der die rekonstruktive Forschungslogik im Mittelpunkt steht und die sich in zentralen Aspekten ihres Vorgehens auf Biographien als theoretisches Konzept, als historisch-empirischen Gegenstand und als komplexe methodologische Strategie bezieht (vgl. Dausien 2004). Ich habe mich für den Ansatz der Biographieforschung entschieden, weil der Ansatz durch das Prinzip der Offenheit (Hoffmann-Riem 1980) im Forschungsprozess und die zentralen Prinzipien der Abduktion sowie der Rekonstruktion und der Reflexivität in der fallanalytischen Arbeit (vgl. Dausien 2002a) eine differenzierte, gendersensible Betrachtungsweise von Migrationsprozessen im transnationalen Kontext ermöglicht, die Raum eröffnet für die Binnenperspektiven der TransmigrantInnen, jenseits der öffentlich-politischen Vorstellungen der Einwanderungsgesellschaft. Um die abduktive Logik im Forschungsprozess methodisch umzusetzen, orientierte ich mich in meinem Forschungsprozess am Modell der empirisch fundierten Theoriebildung nach der Grounded Theory, bei dem der Prozesscharakter der Generierung neuer theoretischer Ideen und die Verankerung der Theorie im empirischen Material im Vordergrund stehen (vgl. Glaser/Strauss 1967; Strauss/Corbin 1990). Als Datenerhebungsinstrument habe ich das autobiographisch-narrative Interview (vgl. Schütze 1977, 1983) gewählt, da es in besonderer Weise zur Analyse sozialer Phänomene in ihrer Prozesshaftigkeit geeignet ist. Als „prozessanalytisches Verfahren“
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gibt es einen Einblick in die Genese sozialer Abläufe und erfasst soziale Wirklichkeit aus der Perspektive der handelnden und erleidenden Subjekte (vgl. Schütze 1983). Zur Auswertung der autobiographisch-narrativen Interviews habe ich fallrekonstruktive Auswertungsverfahren der Biographieanalyse herangezogen (vgl. dazu Kap. 5.4.). Im folgenden Kapitel möchte ich meine methodologische und methodische Vorgehensweise skizzieren und über die Anwendung der biographieanalytischen Methode im transnationalen Kontext reflektieren.
5.1 D ER ABDUKTIVE F ORSCHUNGSSTIL DER G ROUNDED T HEORY ALS METHODOLOGISCHES R AHMENKONZEPT Als methodologisches Rahmenkonzept für die empirische Untersuchung habe ich den abduktiven Forschungsstil der Grounded Theory herangezogen. Der Forschungsstil der Grounded Theory ist auf die amerikanischen Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss zurückzuführen.1 Glaser, der ein Schüler Paul Lazarfelds war und aus der Tradition der quantitativen Forschung der Columbia University kam, und Anselm Strauss, der in der Tradition der Chicago School zu verorten ist, haben vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Feldstudie über Interaktionsprozesse zwischen sterbenden Patienten und Pflegepersonal am University of California Medical Center in San Francisco Anfang der 1960er Jahre ein Konzept qualitativer Sozialforschung entwickelt, das sie 1967 in ihrem Buch „The Discovery of Grounded Theory“ vorgestellt haben (vgl. Glaser/Strauss 1967). Ausgangspunkt des Konzeptes ist die Kritik an der empirischen Sozialforschung, bei
1
Glaser und Strauss arbeiteten seit den 1970er Jahren getrennt an der Entwicklung der Methodologie der Grounded Theory. Zur Entwicklung der Grounded Theory und zum „Methodenstreit“ zwischen Glaser und Strauss vgl. Kelle (1994, 1995). Kelle unterscheidet bei der Methodologie der Grounded Theory drei Konzepte: die Erstveröffentlichung von Glaser und Strauss „ The Discovery of Grounded Theory“ (1967); die Monographie von Glaser unter dem Titel „Theoretical Sensitivity“ (1978) sowie die Erstveröffentlichung des Lehrbuchs zur Qualitativen Sozialforschung von Strauss (1987) und die zusammen mit Juliet Corbin überarbeitete Version des Lehrbuchs (1990a, 1990b).
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der die subsumtionslogische Anwendung formaler Theorien im Vordergrund steht, die auf der Grundlage des hypothetisch-deduktiven Paradigmas die Forschungspraxis der soziologischen Forschung dominierte (Kelle 1995: 26). Glaser und Strauss formulieren ein Gegenmodell „empirisch fundierter Theoriebildung“, bei dem der Prozesscharakter der Generierung von neuen theoretischen Ideen und die Verankerung der Theorie im empirischen Material im Vordergrund stehen. Der Forschungsprozess wird dabei als „spiralförmige Hin- und Herbewegung zwischen theoretisch angeleiteter Empirie und empirisch gewonnener Theorie“ (Dausien 1996: 93) verstanden, bei dem drei zentrale Elemente im Mittelpunkt stehen: das Kodieren2, das theoretische Sampling und die kontrastiven Vergleiche (vgl. Strauss 1994). Die Erhebung und Kodierung des Datenmaterials stehen in einem wechselseitigen Prozess, der durch das „Theoretical Sampling“ und die damit verbundene vergleichende Analyse angeleitet wird. Das Ziel des Theoretical Sampling ist es, dass möglichst unterschiedliche Fälle innerhalb des zu untersuchenden Phänomenbereichs erhoben und verglichen werden. Im Gegensatz zu einem Sample in der quantitativen Sozialforschung, bei dem die Argumentation der Repräsentativität der betreffenden Stichprobe aufgegriffen wird, wird bei der Samplingstrategie der Grounded Theory die „Repräsentativität der Konzepte in ihren variierenden Formen“ (Strauss/Corbin 1996: 161) verfolgt. Es werden gedankenexperimentell Fälle entworfen und während des Forschungsprozesses gezielt gesucht und erhoben, die zum Vergleich herangezogen werden, bis eine theoretische Sättigung der Kategorien erreicht ist und sich keine neuen Gesichtspunkte in der sich entwickelnden Theorie mittlerer Reichweite im Sinne Mertons (1967) ergeben. Die Generierung der Kategorien aus dem Datenmaterial setzt eine „Sensibilität für theoretische Verbindungen“ (Glaser 1978) voraus und suggeriert keineswegs ein „theorieloses Forschen“ (Kelle 1995: 24).3 Die Forscherin benötigt „ein Vorwissen, einen heuristi-
2
In der Grounded Theory unterscheiden Strauss und Corbin (1990) drei Kodierformen: das offene, das axiale und das selektive Kodieren. Zum Kodierparadigma der Grounded Theory vgl. Strauss und Corbin 1990, 1996 sowie Dausien 1996.
3
Zur Bedeutung des theoretischen Kapitals im abduktiven Forschungsprozess der Grounded Theory vgl. Kelle (1994, 1995); Dausien (1996). Udo Kelle, der eine systematische Aufarbeitung der Grounded Theory vorgenommen hat, betont,
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schen Rahmen, eine theoretische Perspektive- kurz: eine Bezugsmöglichkeit jenseits der Binnenperspektive des Feldes, wenn sie eine Theorie über dieses Feld entwickeln will“ (Dausien 1996: 97). Dieses Kontextwissen, das sich neben der Literatur und soziologischen Theorien auch aus persönlichen und beruflichen Erfahrungen der Forscherin/des Forschers zusammensetzt (vgl. Strauss/Corbin 1996) fließt auch in die transnationale Wissensproduktion ein (Ruokonen-Engler/Siouti 2010: 8). Die (biographie-)theoretischen, bildungs- und migrationssoziologischen Perspektiven, die ich meiner empirischen Arbeit zugrunde gelegt habe, habe ich bereits im ersten Teil der Arbeit skizziert. Im Folgenden möchte ich nun den Forschungsprozess skizzieren und meine eigene Position als Forscherin reflektieren. 5.1.1 Entwicklung der Fragestellung Einen zentralen Ausgangpunkt für einen abduktiven Forschungsprozess stellt nach Strauss und Corbin (1996) eine offene und weite Fragestellung zu Beginn eines Forschungsprojektes dar, die im Verlauf des Forschungsprozesses durch das Kodieren des Datenmaterials nach dem Prinzip des permanenten Vergleichs immer mehr eingegrenzt und fokussiert wird (Strauss/Corbin 1996: 23). Zu Beginn meines Forschungsprozesses wollte ich Grenzüberschreitungen bei der Nachfolgegeneration von griechischen MigrantInnen untersuchen und der Frage nachgehen, warum sich Kinder
dass der Forschungsgang entgegen der Annahme der „Theorielosigkeit“ durchaus auf die Vertrautheit mit soziologischen Theorien angewiesen ist. Er vertritt die These, dass die radikal induktivistische Konzeption, die Glaser und Strauss in der Erstveröffentlichung 1967 explizierten, ein „induktivistisches Selbstmissverständnis“ darstellt, das auf forschungspolitische Gründe zurückzuführen ist (Kelle 1995: 32). Nach Kelle wird zwar die Bedeutung des theoretischen Vorwissens für den Datenerhebungsprozess in der Darstellung der methodologischen Regeln des theoriekonstruktiven Vorgehens von Strauss und Glaser (1967) vernachlässigt, findet aber eine forschungspraktische Anwendung in den Studien über Interaktionsprozesse in Krankenhäusern, da Strauss und Glaser bereits vor der Konfrontation mit dem Feld zentrale theoretische Konzepte und Annahmen auf der Grundlage von soziologischen Theorien entwickelten (vgl. Kelle 1995: 30 ff.).
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griechischer ArbeitsmigrantInnen entscheiden, in das Herkunftsland ihrer Eltern zu (re-)migrieren. Bereits nach der Durchführung der ersten zwei autobiographisch-narrativen Interviews habe ich entdeckt, dass bei der Nachfolgegeneration Migrationsdynamiken existieren, die von traditionellen nationalen Lebenskontexten differieren und sich mit klassischen Ansätzen aus der Remigrationsforschung nicht erklären lassen. Es deutete sich im empirischen Material an, dass es sich bei den entdeckten Fällen um den Idealtypus der Transmigration handelt, den ich bis dahin aus der sozialwissenschaftlichen Literatur nur aus empirischen Forschungen aus dem USamerikanischen Raum kannte. Diese ersten Forschungsergebnisse inspirierten mich dazu, mich mit dem Transnationalisierungsansatz theoretisch auseinanderzusetzen und meine Fragestellung zu erweitern, um die Entstehung von Transmigrationsformen bei der Nachfolgegeneration von Arbeitsmigranten zu untersuchen. Im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses kristallisierte sich heraus, dass die Entstehung von Transmigrationsformen eng verzahnt ist mit Bildungsaufstiegsprozessen in der Migration. Dies führte dazu, dass die ursprüngliche Fragestellung auf die Gruppe der bildungserfolgreichen griechischen MigrantInnen der zweiten Generation eingegrenzt wurde, um ein möglichst breites Spektrum an biographischen Migrationsverläufen von Bildungsaufsteigern zu erfassen und zu entdecken, wie sich Bildungswege und Wanderungsprozesse verbinden und bedingen. Der empirischen Untersuchung legte ich folgende offene Fragestellung zugrunde: • • •
• • •
Wie entwickelt sich die Transmigration im (familien-)biogra phischen Prozess? Wie werden die Grenzüberschreitungen erlebt und biographisch verarbeitet? Welche Rolle spielen dabei die strukturellen und politischen Rahmenbedingungen des Einwanderungs- und Auswanderungslandes? Wie wirken sich die Migrationspolitiken und sozialpolitischen Maßnahmen auf die Migrationsentscheidungen, biographischen Entwürfe und Handlungsmöglichkeiten aus? Welche genderspezifischen Ausprägungen von Transmigrationsprozessen existieren? Wie kann der „transnationale Sozialraum“ aus einer biographieanalytischen und gendersensiblen Perspektive definiert werden? In welchem Zusammenhang stehen Bildungsmotivation, Bildungsaufstieg und Migrationsentscheidung?
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5.1.2 Der transnationale Forschungsprozess Meine eigene biographische Migrationserfahrung spielte eine zentrale Rolle sowohl bei der Entstehungsgeschichte der vorliegenden empirischen Arbeit als auch beim Zugang zum Feld, der Analyse des Datenmaterials und der damit einhergehenden Wissensproduktion. Ich bin als Enkelin griechischer ArbeitsmigrantInnen in Deutschland geboren und aufgewachsen. Die Themen, denen ich mich in meiner Forschung gewidmet habe, haben mich auch ein Leben lang in meinem sozialen Umfeld begleitet. Jedoch unterscheidet sich der Verlauf meiner eigenen Biographie wesentlich von den biographischen Verläufen meiner InterviewpartnerInnen, da ich selbst in meiner Kindheit nicht gependelt bin und keine griechische Schule in Deutschland besucht habe. Mein biographisches Wissen ist in das Forschungsprojekt eingeflossen. Meine eigene familienbiographische Migrationserfahrung und meine griechischen Sprachkenntnisse haben eine Ressource sowohl beim Feldzugang in Griechenland als auch bei der Interviewdurchführung dargestellt. Mein Forschungsprozess gestaltete sich allerdings nicht so unproblematisch, wie ich das zu Beginn des Forschungsprozesses erwartet hatte. Die Nähe zu meinem Untersuchungsfeld stellte vielmehr in der ersten Phase des Forschungsprozesses eine Barriere dar. Nachdem ich meine erste offene Ausgangsfragestellung konkretisiert hatte, benutzte ich meine Netzwerke und versuchte mir ein empirisches Feld zunächst in Deutschland zu erschließen. Es erschien mir naheliegend, zunächst in meinem eigenen sozialen Umfeld nach potentiellen InterviewpartnerInnen zu suchen. Durch die Kontakte meiner Familie fiel mir der Zugang innerhalb der griechischen Gemeinde relativ leicht. Die von mir kontaktierten Personen zeigten sich zwar sehr bereitwillig und hilfsbereit, aber sie waren sehr distanziert, als sie sich damit konfrontiert sahen, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Entweder wurden die Interviewtermine hinausgeschoben oder kurzfristig abgesagt. Es kamen trotz intensiver Bemühungen meinerseits über einen Zeitraum von fünf Monaten keine autobiographisch-narrativen Interviews zustande. Als Erklärungshintergrund für die Haltung meiner potentiellen InterviewpartnerInnen sehe ich meine Nähe zum sozialen Feld an, das ich erschließen wollte. Die Kontaktaufnahmen schienen mir bestimmt durch die Tatsache, dass ich von meinen InterviewpartnerInnen als „Tochter griechischer Eltern“ und Repräsentantin der griechischen Gemeinde wahrgenommen wurde und dass die soziale Kontrolle
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das Entstehen von Arbeitsbündnissen verhinderte. Der Forschungsprozess gestaltete sich in dieser ersten Phase für mich äußerst schwierig. Ich entschied mich, die Notizen über die durchgeführten Vorgespräche als Teil des Forschungsprozesses zu betrachten und Distanz zu der Idee zu nehmen, zunächst die Ressourcen in meinem sozialen Umfeld zu mobilisieren, um nach potentiellen InterviewpartnerInnen zu suchen. Ich begab mich auf Spurensuche nach TransmigrantInnen und reiste nach Griechenland. Die ersten Interviews habe ich dann während einer Forschungsreise in Griechenland geführt. Eine deutsche Bekannte, die bereits seit mehreren Jahren in Athen lebte, vermittelte mir meine erste Interviewperson. Desweiteren haben mir Freunde, die in Griechenland leben, Personen aus ihrem Freundeskreis vermittelt, sodass der Datenerhebungsprozess nach anfänglichen Schwierigkeiten beginnen konnte. Für das Zustandekommen von autobiographisch narrativen Interviews mit TransmigrantInnen war es von zentraler Bedeutung, dass ich mich von der biographischen und lokalen Nähe zur griechischen Gemeinde in Deutschland distanziert habe und mich selbst in den transnationalen Raum begeben habe.
5.2 D IE D ATENERHEBUNG : AUTOBIOGRAPHISCH - NARRATIVE I NTERVIEWS Um einen Zugang zu transnationalen Lebenswelten zu erhalten, habe ich das autobiographisch-narrative Interview (vgl. Schütze 1977, 1983) als zentrales Datenerhebungsverfahren eingesetzt.1 Ich habe mich für das auto-
1
Das autobiographisch-narrative Interview wurde von Fritz Schütze im Untersuchungsfeld einer lokalen Gesellschaft entwickelt, bei dem Kommunalpolitiker in einem Forschungsprojekt über Machtstrukturen im Zuge der Verwaltungsreformen der 1970er Jahre befragt wurden (vgl. Schütze 1977). Im Laufe der methodischen Entwicklung der Biographieforschung hat Schütze das Verfahren zu einem Konzept zur Erfassung und Analyse biographischer Strukturen ausdifferenziert (Riemann 1987: 27). Seit Anfang der 1990er Jahre wird es auch in der biographischen Migrationsforschung eingesetzt. Der methodologische Bezugsrahmen des narrativen Interviews ist vor allem durch die phänomenologische Soziologie (Alfred Schütz) sowie die Soziologie der Chicago School, insbesondere
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biographisch-narrative Interview als methodischen Zugang zur Erforschung von Transmigrationsphänomenen entschieden, weil es meines Erachtens das offenste Datenerhebungsverfahren der qualitativen Sozialforschung darstellt, um soziale und biographische Prozesse im Kontext von Migration zu erforschen. Es bietet die Möglichkeit, mithilfe von Stehgreiferzählungen die Erfahrungsaufschichtungen und Handlungsverläufe von MigrantInnen in transnationalen Räumen zu erschließen. Dabei richtet sich die biographische Stehgreiferzählung an grundlegenden kognitiven Figuren 2 der Erfahrungsrekapitulation (Schütze 1984: 80) aus, die durch die Zugzwänge des Erzählens wirksam werden.3 Damit eine Stehgreiferzählung während der Interviewsituation entfaltet werden kann, muss ein Arbeitsbündnis mit der interviewten Person hergestellt werden, bei dem die interviewte Person ihre Lebensgeschichte ununterbrochen erzählen kann (Rosenthal 2005: 142). In der forschungspraktischen Anwendung der Methode lässt sich dies durch eine narrative Gesprächsführungstechnik4 umsetzen, bei der das biographisch-narrative Interview in mehrere Phasen unterteilt wird (vgl. Alheit 1993a; Rosenthal 2005; Schütze 1983). In der ersten Phase steht die Erzählaufforderung im Mittelpunkt. Durch eine offene Erzählaufforderung wird die interviewte Person zur Erzählung ihrer Lebensgeschichte aufgefordert. In der zweiten Phase, die den Hauptteil des biographisch-narrativen Interviews bildet, steht die von der interviewten Person autonom gestaltete Haupterzählung im Mittelpunkt, die ohne Unterbrechung durch die Interviewer erfolgt. Erst in der dritten Phase, im sogenannten Nachfrageteil, der durch eine Erzählkoda des Interviewten einsetzt, werden Nachfragen gestellt. Zunächst anhand der Notizen, die während der Hauptphase notiert wurden und an-
den Symbolischen Interaktionismus und die Ethnomethodologie geprägt (Bohnsack 1993: 91). 2
Zu einer ausführlichen Darstellung der kognitiven Figuren, vgl. Schütze (1984).
3
Schütze unterscheidet drei Zugzwänge des Erzählens: den Gestaltschließungszwang, den Kondensierungszwang und den Detaillierungszwang (vgl. Schütze 1977).
4
Zur Technik des narrativen Interviews vgl. Schütze (1977, 1983) sowie die Ausführungen von Rosenthal (1995, 2005) sowie (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997). Zu den erzähltheoretischen Grundlagen des narrativen Interviews, vgl. Schütze 1977.
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schließend durch externe Nachfragen, die im Zusammenhang mit der Forschungsfrage stehen. Im Anschluss an die externen Nachfragen wird dann die Abschlussphase eingeleitet, in der der interviewten Person die Möglichkeit gegeben wird, über die Interviewsituation zu reflektieren und das Interview selbst zu beenden (vgl. Rosenthal 2005: 137 ff.; Riemann 2006: 120 f.). Zentrale Voraussetzung für die Durchführung und das Gelingen eines biographisch-narrativen Interviews ist das Vertrauen zwischen der interviewten Person und dem Interviewer/der Interviewerin (Dausien 1994: 143), das während der Kontaktaufnahme vor der eigentlichen Interviewsituation entsteht. 5.2.1 Die Interviewdurchführung: Kontaktaufnahme und Arbeitsbündnisse Bevor ich die Interviews durchführte, kontaktierte ich meine potentiellen InterviewpartnerInnen und vereinbarte zunächst Vorgespräche. Da ich meinen Lebensmittelpunkt in Frankfurt hatte und meine InterviewpartnerInnen zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung in Griechenland oder in anderen Städten in Deutschland wohnten, waren mehrere Forschungsreisen für die Datenerhebung notwendig. Ich kontaktierte zunächst alle meine GesprächspartnerInnen telefonisch. Mir war es wichtig, sie zunächst in einem Vorgespräch persönlich kennenzulernen und eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen. Zu Beginn der Begegnungen erläuterte ich zunächst mein Forschungsinteresse. Ich versuchte dabei darauf zu achten, keine festlegenden thematischen Vorgaben zu machen und sagte, dass ich an Lebensgeschichten von Kindern griechischer MigrantInnen interessiert sei, die in Deutschland aufgewachsen sind und sich im Laufe ihres Lebens entschlossen haben, ihren Lebensmittelpunkt in ein anderes Land zu verlagern.5 Ich informierte meine InterviewpartnerInnen über die Besonderheiten bei der Vorgehensweise des Verfahrens des narrativen Interviews und betonte schon in
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Ich vermied es, von Rückkehr zu sprechen, da ich die Selbstdeutungen meiner InterviewpartnerInnen nicht beeinflussen wollte. So kam es auch zustande, dass der Prozess der Grenzüberschreitung seitens meiner InterviewpartnerInnen bereits in den Vorgesprächen auf sehr unterschiedliche Weise formuliert wurde, z.B. als Umzug, Auswanderung, Rückkehr, Herkommen oder Migration.
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den Vorgesprächen, dass ich mit einer besonderen Interviewform arbeite, bei der nicht wie üblich das Frage-Antwort-Schema im Vordergrund steht, sondern die spontane Erzählung der Lebensgeschichte. Meine InterviewpartnerInnen reagierten sehr aufgeschlossen und erklärten sich alle sofort bereit, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Sie erkundigten sich auch nach meiner eigenen Biographie und meinem Bildungsweg. Ich beschrieb mich als Enkelin griechischen ArbeitsmigrantInnen, die in Deutschland aufgewachsen ist. Desweiteren erzählte ich ihnen, dass ich in Frankfurt lebe und an der Universität in einem Forschungsprojekt arbeite.
5.2.2 Das Sample Für die vorliegende empirische Untersuchung wurden 15 biographischnarrative Interviews als Datenmaterial herangezogen, die ich während einer dreijährigen transnationalen Feldforschungsphase in Griechenland und Deutschland erhoben habe. Die Interviews wurden mit Kindern ehemaliger angeworbener ArbeitsmigrantInnen im Erwachsenenalter durchgeführt, die zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung zwischen 28 und 45 Jahre alt waren. Ihre biographischen Verläufe sind durch soziale und geographische Mobilität sowie durch lange Bildungsverläufe gekennzeichnet. Alle 15 interviewten Personen haben Teile ihrer schulischen Laufbahn in Deutschland absolviert und verfügen über (mindestens) einen Hochschulabschluss. Die Interviews wurden in Griechenland und Deutschland durchgeführt. Bei der Durchführung der Interviews orientierte ich mich bei meinem Zugang zum Untersuchungsfeld am Verfahren des Theoretical Sampling (vgl. Glaser/Strauss 1967). Die Auswahl der Fälle erfolgte auf der Grundlage der Erkenntnisse der biographischen Fallrekonstruktionen. Im Forschungsverlauf fand die Fallselektion, die Erhebung von biographisch-narrativen Interviews und die rekonstruktive Analyse der biographischen Fallstudien in einem wechselseitigen Prozess statt, der durch kontrastive Vergleiche so lange angeleitet wurde, bis alle möglichen Variationen des untersuchten Feldes von bildungserfolgreichen TransmigrantInnen ins Sample aufgenommen wurden und sich keine neuen Aspekte mehr ergaben.
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5.3 D IE M ETHODE
DER
B IOGRAPHIEANALYSE
Zur Auswertung der durchgeführten biographisch-narrativen Interviews habe ich die rekonstruktive Biographieanalyse herangezogen. Ich möchte im Folgenden zunächst die zentralen Prinzipien der Biographieanalyse skizzieren, bevor ich im Anschluss zentrale methodische Ansätze der Biographieanalyse im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit in transnationalen Räumen diskutieren werde und meine eigene methodische Vorgehensweise bei der Auswertung des Datenmaterials vorstelle. 5.3.1 Abduktion, Rekonstruktion, Sequenzialität als zentrale Prinzipien der Biographieanalyse Die Biographieforschung ist durch eine Forschungslogik gekennzeichnet, die mit Bezug auf Charles Sanders Peirce als abduktive Forschungslogik bezeichnet werden kann (Dausien 2002b: 164). Charles Sanders Peirce hat in seiner berühmten Methodologie des abduktiven Schlusses die Abduktion eingeführt, als dritte Möglichkeit syllogistischen Schließens (neben der Induktion und Deduktion) und wissenschaftstheoretisch begründet. Als Abduktion bezeichnet Peirce den Vorgang, in dem eine erklärende Hypothese gebildet wird. „Es ist das einzige logische Verfahren, das irgendeine neue Idee einführt, denn die Induktion bestimmt einzig und allein einen Wert, und die Deduktion entwickelt nur die notwendigen Konsequenzen einer reinen Hypothese. Die Deduktion beweist, dass etwas der Fall sein muss, die Induktion zeigt, dass etwas tatsächlich wirksam ist: die Abduktion vermutet bloß, dass etwas der Fall sein mag“ (Peirce 1976: 163). Peirce sieht den abduktiven Schluss als einen Weg, neue Erkenntnisse zu entdecken, um eine neue theoretische Idee einzuführen (Peirce 1976: 404). Die abduktive Vorgehensweise wird in der Biographieanalyse einerseits im Forschungsprozess durch die Orientierung am methodologischen Rahmenkonzept der Grounded Theory umgesetzt, bei der die Generierung einer Theorie aus dem empirischen Material im Vordergrund steht, andererseits auf der Einzelfallebene durch die rekonstruktive, sequenzielle Forschungslogik, bei der nicht von außen vorab definierte Kategorien an den Fall herangetragen werden, sondern am Fall sequentiell entfaltet werden. Unter „sequentiell“ wird in der Biographieanalyse ein Vorgehen verstanden, bei dem der Text in der Abfolge seines Entstehens interpretiert wird (Rosenthal 2005: 173).
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Mit dem Prinzip der Sequenzialität wird in der Biographieanalyse dem prozessualen Charakter des Handelns Rechnung getragen. Jede Handlung stellt eine Auswahl zwischen verschiedenen, in der jeweiligen Situation des Handelns möglichen Alternativen dar (Rosenthal 1995: 213). „Jede einzelne Selektion, die wir aus dem Horizont der uns zugänglichen Erinnerungen und der uns möglichen Darstellungsformen vornehmen, bedeutet also einerseits die Eröffnung eines gewissen Handlungsspielraums und andererseits den Ausschluß anderer thematischer Felder und Folgehandlungen. Handlungsabläufe, die sich in Texten als Handlungsprotokolle manifestieren, sind somit Prozesse von Selektionen, aus denen jeweils- unabhängig von der Perspektive des Handelnden bestimmte Anschlußhandlungen resultieren und durch die bestimmte Folgehandlungen ausgeschlossen sind“ (Rosenthal 1995: 214). Durch die Fallrekonstruktion (Oevermann 1981, 2000; Kraimer 2000) wird das Besondere der konkreten Biographie herausgearbeitet und zugleich das Allgemeine im Besonderen entdeckt. Das Anliegen einer rekonstruktiven Analyse besteht darin, die Strukturgestalt des Falles zu erschließen. Der Fall stellt dabei eine soziale Einheit dar, dem allgemeine wie spezifische Sinnstrukturen inhärent sind (Kraimer 2000: 24). Das Allgemeine ist dabei in der biographischen Struktur repräsentiert, die sequentiell erschlossen wird. Im Hinblick auf die theoretische Verallgemeinerung der Fallanalysen wird somit von einer „dialektischen Konzeption von ‚individuell und allgemein’ und damit von der prinzipiellen Auffindbarkeit des Allgemeinen im Besonderen ausgegangen“ (Rosenthal 2005: 75). Im Unterschied zu numerischen Verallgemeinerungen, wie sie in der quantitativen Forschung zugrunde gelegt werden, ist bei der theoretischen Verallgemeinerung in der rekonstruktiven Biographieforschung daher auch die Häufigkeit eines Falls für die Bestimmung des Typischen eines Falles in keiner Weise von Bedeutung (Rosenthal 2005: 75).
5.3.2 Biographieanalyse im transnationalen Migrationskontext Die skizzierten zentralen Prinzipien der Biographieanalyse werden in unterschiedlichen methodischen Ansätzen der Biographieforschung angewendet. Die in der biographischen Migrationsforschung am häufigsten angewende-
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ten Verfahren sind die Narrationsanalyse nach Fritz Schütze (1983) sowie die mit Prinzipien der thematischen Feldanalyse und der Objektiven Hermeneutik arbeitende Biographische Fallrekonstruktion (FischerRosenthal/Rosenthal 1997; Rosenthal 1995). Zur Auswertung narrativer Interviews durch die Schlüsselkonzepte der kognitiven Figuren und der Prozessstrukturen des Lebenslaufs schlägt Schütze im Verfahren der Narrationsanalyse eine methodische Vorgehensweise vor, die aus mehreren Analyseschritten besteht (vgl. Schütze 1983: 283ff). Im ersten Analyseschritt wird das Transkript des narrativen Interviews einer formalen Textanalyse unterzogen. Das Interviewtranskript wird dabei in einzelne Erzähleinheiten segmentiert, die daran erkennbar sind, dass sie durch bestimmte Rahmenschaltelemente aus den Darstellungsaktivitäten herausgelöst werden. Zudem wird eine Differenzierung unterschiedlicher Erzähllinien vorgenommen. Im nächsten und zentralen Auswertungsschritt, der strukturellen Beschreibung, die die grundlegende Ausgangsbasis für alle folgenden Auswertungsschritte bildet, wird jedes einzelne Segment interpretiert, ohne dass der darauffolgende Text berücksichtigt wird. Das Ziel der strukturellen Beschreibung ist die Rekonstruktion der Prozessstrukturen. „Die strukturelle Beschreibung arbeitet die einzelnen zeitlich begrenzten Prozessstrukturen des Lebenslaufs – d.h. festgefügte institutionell bestimmte Lebenssituationen, Höhepunktsituationen, Ereignisverstrickungen, die erlitten werden, dramatische Wendepunkte oder allmähliche Wandlungen; sowie geplante und durchgeführte biographische Handlungsabläufe heraus“ (Schütze 1983: 286). Ein wichtiges Merkmal des Arbeitsschrittes der strukturellen Beschreibung besteht in der Anwendung der Feinanalyse, der detaillierten Betrachtung kleinräumiger Interviewpassagen. Nachdem die Prozessstrukturen zunächst auf der Einzelfallebene entwickelt werden, werden die Deutungen zunehmend abstrahiert und in der analytischen Abstraktion zu abstrahierten Strukturaussagen zusammengefasst, die vom Inhalt gelöst werden. Im maximalen und minimalen Fallvergleich zwischen den einzelnen Fallanalysen werden dann theoretische Modelle entwickelt (vgl. Schütze 1983). Neben dem Verfahren der Narrationsanalyse in der Tradition von Schütze ist im letzten Jahrzehnt in der biographischen Migrationsforschung auch das von Gabriele Rosenthal entwickelte Auswertungsverfahren der biographischen Fallrekonstruktion eingesetzt worden (vgl. Rosenthal 1995). Der Ansatz kombiniert wesentliche Elemente der Narrationsanalyse (vgl.
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Schütze 1983) mit zentralen Arbeitsschritten der Objektiven Hermeneutik (vgl. Oevermann et al. 1979)6 und der thematischen Feldanalyse in Anlehnung an Aaron Gurwitsch (1974). Methodisch steht dabei der Analyseschritt der „Kontrastierung von erlebter und erzählter Lebensgeschichte“ im Mittelpunkt, der zur Erfassung der Struktur und Gesamtgestalt der Biographie herangezogen wird (vgl. Rosenthal 1995). Durch die Analyse der „erlebten Lebensgeschichte“ werden „biographische OrientierungsStrukturen“ rekonstruiert (Fischer- Rosenthal/Rosenthal 1997: 149), während bei der Analyse der erzählten Lebensgeschichte die „biographische Bedeutung der Erlebnisse in der Gegenwart, […] die „biographische Ge-
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In den Anfängen der Biographieforschung wurden die Narrationsanalyse nach Schütze (1983) und die Objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann (Oevermann et al. 1979) als zentrale methodische Ansätze eingesetzt. Obwohl wesentliche
Analyseschritte
der
Objektiven
Hermeneutik
in
der
Biographieanalyse im Verfahren der biographischen Fallrekonstruktion (Rosenthal 1995, Fischer-Rosenthal 1997) zunutze gemacht wurden und das Konzept der Objektiven Hermeneutik als eigenständiges Analyseverfahren in der Biographieforschung verbreitet ist, stellt die Objektive Hermeneutik in ihrem Selbstverständnis nicht ausschließlich ein Analyseverfahren für biographischnarrative Interviews dar, sondern eine „strikt analytische, in sich objektive Methode der lückenlosen Erschließung und Rekonstruktion von objektiven Sinnund Bedeutungsstrukturen“ (Oevermann 1996: 5). Die Methodologie der Objektiven Hermeneutik basiert auf der Folie verschiedener theoretischer Konzepte. Neben dem französischen Strukturalismus, insbesondere dem Strukturalismus Claude Lévi-Strauss', hat Oevermann den pragmatistisch–naturalistischen Ansatz George Herbert Meads, den interaktiven Konstruktivismus Jean Piagets, den Pragmatismus von Charles S. Peirce, die Psychoanalyse Sigmund Freuds, die Falsifikationstheorie Karl Poppers, die Grammatiktheorie Noam Chomskys sowie die Sprechakttheorie John R. Searles und John Austins in das Konzept integriert. Ebenso sind zentrale Denkfiguren von Theodor W. Adornos methodologischer Position einer „dialektisch-hermeneutischen Sozialforschung“ im Konzept der Objektiven Hermeneutik enthalten (Wagner 1999: 43). In dem Zusammenhang erscheint es mir wichtig zu betonen, dass Oevermann zentrale Denkfiguren Adornos methodisch im Analyseverfahren der Sequenzanalyse umgesetzt hat (vgl. dazu insbesondere Wagner 2001), die in der Frankfurter Tradition der Biographieforschung nach wie vor von zentraler Bedeutung sind.
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samtsicht und Gesamtevaluation, die den Gestaltungsprozess im Interview konstituieren“ rekonstruiert wird (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 150). Damit wird methodisch explizit eine Ebenenunterscheidung aufgegriffen, die auch bei der objektiven Hermeneutik zentral ist: die „Differenz von objektiver Bedeutungsstruktur einer Biographie und der vom Sprecher subjektiv-intentional realisierten Bedeutung“ (Wohlrab-Sahr 2000: 211). Ein weiterer zentraler Ansatz, der in der biographischen Migrationsforschung erst in den letzten Jahren Anwendung findet (vgl. Ruokonen-Engler 2008), stellt der von Bettina Dausien entwickelte Ansatz einer sozialkonstruktivistisch orientierten biographisch-rekonstruktiven Geschlechterforschung dar, mit dem Prozesse der sozialen Konstruktion von Geschlecht in der zeitlichen Struktur und Sinnperspektive der Lebensgeschichte untersucht werden können (vgl. Dausien 1996, 2000, 2002b). Das kontextreflexive Verfahren nach Dausien ist so konzipiert, dass es als Heuristik die Forschunsgpraxis anleiten soll, aber nicht auf eine bestimmte Methode festlegelegt ist. Dausien schlägt vor, mindestens drei Kontexte bei der Interpretation von biographisch-narrativen Interviews zu reflektieren: die Interaktion im Interview, die Biographie sowie die kulturellen Muster und diskursiven Regeln (Dausien 2006: 64). Das vorgeschlagene Modell von Bettina Dausien stellt einen innovativen Ansatz dar, der Anschlussmöglichkeiten für die Verknüpfung von biographietheoretischen Positionen mit Ansätzen der Transnationalisierungs- und Geschlechterforschung bietet. In der Biographieforschung wird zunehmend die Frage diskutiert, ob die bisherigen methodischen Ansätze der Biographieanalyse, die in der Migrations- und Integrationsforschung in den letzten zwanzig Jahren rege Anwendung fanden, auch für die Erforschung von Migrationsbiographien unter Bedingungen von Transnationalisierung geeignet sind. Einigkeit herrscht darüber, dass die Biographieanalyse nach wie vor eine geeignete Methode zur Erforschung von Migrationsphänomenen in transnationalen Räumen darstellt. Zunehmend wird aber in der innermethodischen Kritik eine Reflexion und Weiterentwicklung der methodischen Ansätze gefordert, vor allem in Hinblick auf die Anwendung der biographieanalytischen Methode in postkolonialen Forschungskontexten (vgl. Tuider 2009). In diesem Zusammenhang findet in letzter Zeit unter Einbezug postkolonialer Theoriebezüge im Anschluss an Stuart Hall insbesondere das Konzept der Artikulation Einklang in die Methodendiskussion. Mithilfe des Konzepts der Artikulation wird dabei versucht, das Zusammenwirken von Diskurs,
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Subjekt und biographischem Erzählen in den Mittelpunkt der Analyse von Biographien zu stellen (Lutz 2004b, 2009; Lutz/Schwalgin 2006; Spies 2009). Auch wenn das Konzept für die theoretische Verknüpfung von Biographieforschung und Diskursanalyse fruchtbar ist, erscheint es meines Erachtens in der forschungspraktischen Anwendung vor allem deshalb problematisch, weil es die zentralen Prinzipien der Abduktion, Rekonstruktion und Sequenzialität ausblendet, die der rekonstruktiven Biographieanalyse als Methode der Sozialwissenschaften zugrunde liegen.7 Für die empirische Untersuchung von bildungserfolgreichen Migrationsbiographien in transnationalen Räumen innerhalb Europas erscheinen mir die zentralen Ansätze der Narrationsanalyse (Schütze 1983), der biographischen Fallrekonstruktion (Rosenthal 1995; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997) und das kontext-reflexive Verfahren (Dausien 1996, 2002b) nach wie vor geeignet, um Transmigration zu erforschen.
5.3.3 Die Auswertung des Datenmaterials Für die Auswertung des empirischen Materials habe ich zentrale Ansätze der Biographieanalyse herangezogen und um eine transnationale Dimension erweitert. Mir erscheint es gerade für die Biographieanalyse im transnationalen Kontext unabdingbar, eine Vorgehensweise zu wählen, die sich den Bedingungen des Forschungsprojektes anpasst und sich nicht nur auf eine bestimmte „Methodenschule“ festlegt. Bei der Auswertung des biographischen Materials habe ich eine Verfahrensweise gewählt, die sich konsequent an den Prinzipien der Rekonstruktion und Sequenzialität orientiert, aber auch die Entstehungsbedingungen des Interviews und die Interaktion als expliziten Arbeitsschritt einbezieht. Das Prinzip der Reflexivität wurde als zentrales Prinzip der transnationalen rekonstruktiven Biographieanalyse in der Forschungspraxis umgesetzt. Ich habe zunächst während des gesamten Forschungsprozesses in einem Forschungstagebuch von der Vorbereitung der Interviews bis zur Durchführung und Analyse alle Kontextinformationen in Form von Memos festge-
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Zudem ist das Konzept der Artikulation meines Erachtens nur schwer vereinbar mit biographietheoretischen Grundannahmen, die sich auf phänomenologische Konzepte der Ereignis-, Erlebnis- und Erfahrungsbildung stützen und von der Existenz biographischer Strukturen ausgehen (vgl. dazu auch Spies 2009).
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halten. Dabei habe ich versucht, aufgrund der durch die Interviewsituation gegebenen teilnehmenden Beobachtung so viele Informationen wie möglich über die Interviewsituation festzuhalten. Während ich zu Beginn des Forschungsprozesses meine Eindrücke noch schriftlich aufgezeichnet habe, bin ich im Laufe des Forschungsprozesses dazu übergegangen, meine Beobachtungen, Eindrücke, Ideen und Interpretationen auf Tonband zu sprechen und aufzunehmen. Von den 15 durchgeführten Interviews habe ich Verlaufsprotokolle angefertigt. Für die Transkription der Interviews mussten die Vorgaben zu den Transkriptionsnotationen, die in der Literatur verwendet werden, abgewandelt werden, da der Wechsel der Sprache während des Interviews in den Transkripten berücksichtigt und kenntlich gemacht werden musste. Die Personen und Ortsnamen wurden anonymisiert. Bei der Auswertung der Interviews habe ich zunächst in einem ersten Arbeitsschritt auf der Grundlage der Feldnotizen, des Verlaufsprotokolls und des Interviewtranskripts die Interviewsituation reflektiert sowie die Interaktion zwischen der Erzählerin/dem Erzähler und mir analysiert (im Hinblick auf Machtverhältnisse, Interessen, Differenz- und Identifikationsaspekte, Interaktionsdynamiken etc.) (vgl. dazu Dausien 2002b). Im nächsten Schritt wurden die biographischen Daten ausgewertet, die mir als Sensibilisierungsfolie für das Verständnis des Falles und die Auswertung des Interviewtranskripts gedient haben. Dabei habe ich einerseits die biographischen Daten aus dem Interviewtranskript herangezogen, aber ebenso externes Kontextwissen einbezogen (u.a. die Migrationsgeschichte der Familie rekonstruiert; historische Daten über das Anwerbeverfahren zwischen Deutschland und Griechenland herangezogen; Informationen über das griechische Beschulungsmodell in dem Bundesland herangezogen, in dem die interviewte Person ihren Schulweg durchlaufen hat, etc.). Im nächsten Schritt wurde die biographische Fallstruktur rekonstruiert. Bei der sequentiellen Auswertung des Interviewtranskripts habe ich zentrale Interpretationsstrategien der Biographieanalyse herangezogen. Dabei habe ich sowohl das soziolinguistische Verfahren der strukturellen Beschreibung und der Rekonstruktion biographischer Gesamtformungen (nach Schütze 1993) eingesetzt, als auch die Feinanalyse nach der Objektiven Hermeneutik (Oevermann et al. 1979) herangezogen. Nach der Durchführung der Fallrekonstruktion wurden in kontrastiven Vergleichen theoretische Modelle entwickelt (vgl. Schütze 1983). Um die Interpretation des Materials kritisch reflektieren zu können, habe ich meine Forschungsergebnisse in unter-
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schiedlichen Forschungskontexten und Workshops vorgestellt. Mein Forschungsprozess wurde von den Mitgliedern der Frankfurter Arbeitsgruppe Transdisziplinäre Migrations- und Biographieforschung begleitet.
6.
Exemplarische Falldarstellungen
Meiner empirischen Forschung über die Entstehung von Transmigrationsprozessen liegen fünfzehn Fallanalysen zu Grunde. Für die Darstellung meiner empirischen Forschung habe ich mich entschieden, drei Fallrekonstruktionen auszuwählen, die typische Mechanismen der Generierung transnationaler Biographien aufzeigen. Die drei Falldarstellungen Athina, Jannis und Maria wurden nach dem Prinzip des maximalen Kontrasts ausgewählt und repräsentieren drei Typen von Transmigration, wobei das Typische als je spezifische Form von Bewältigungsstrategien der spezifischen Migrationsproblematik begriffen wird. Die kontrastiven Vergleiche mit weiteren Fällen des Samples haben deutlich gemacht, dass es sich um Fallstrukturen handelt, die auch in weiteren Fällen aufzufinden sind. Bei der Darstellung der Fallanalysen habe ich mich entschieden, eine zusammenfassende ergebnisorientierte Darstellung zu wählen, bei der aber auch Teile des Auswertungsprozesses dargestellt und Ausschnitte aus den Interviews präsentiert werden. Dadurch möchte ich einen Einblick in die erzählten transnationalen Lebenswelten gewähren und nicht nur meine eigene Interpretation in den Mittelpunkt stellen, sondern auch meinen InterviewpartnerInnen Raum geben, ihre Geschichten selbst zu erzählen.
6.1 D ER F ALL ATHINA 6.1.1 Kontaktaufnahme Athina wurde mir als Interviewpartnerin von einer Bekannten vermittelt. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt, verheiratet und hat drei
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Töchter. Ihr Mann arbeitet in einer leitenden Position in einer Zweigstelle eines internationalen Wirtschaftsunternehmens in Athen. Die Familie hat ihren Hauptwohnsitz in Athen und einen Zweitwohnsitz in einer hessischen Kleinstadt, in der Athinas Eltern leben. Athina ist zum Zeitpunkt des Interviews nicht berufstätig. Sie pendelt mit ihren drei Töchtern, die noch nicht eingeschult sind, zwischen Griechenland und Deutschland. Vor dem Interview kannte ich Athina bereits flüchtig über Bekannte. Wir haben einige gemeinsame Bekannte, und ich habe bereits vor Jahren ihren Vater für ein Forschungsprojekt über Selbstständigkeitsprojekte von MigrantInnen interviewt. Von meinen Bekannten wusste ich auch, dass Athina zwischen Deutschland und Griechenland pendelt. Während eines Aufenthaltes in Deutschland sprach ich sie bei einer Gartenfeier bei Freunden an. Ich fragte sie, ob sie Lust und Zeit habe, mir für meine Forschungsarbeit ein Interview zu geben. Sie war sehr freundlich und willigte sofort ein, ohne weitere Nachfragen zu stellen. Sie gab mir ihre Telefonnummer, und wir vereinbarten, dass ich sie die nächsten Tage anrufen solle. Ich konnte sie allerdings nicht telefonisch erreichen, da sie zwischenzeitlich wieder abgereist war. Athina meldete sich dann eine Woche später bei mir und versprach mir, mich anzurufen, wenn sie wieder in Deutschland sei. Aufgrund Athinas mobiler Lebensweise war es sehr schwierig, einen Termin zu finden, an dem wir zeitgleich am gleichen Ort waren. Da ich zu der Zeit aus privaten Gründen sehr oft in Griechenland war, kontaktierte ich sie während eines Aufenthaltes in Athen. Ich hatte Glück, denn Athina war zeitgleich auch in Griechenland. Wir trafen uns zum Kaffeetrinken in einem Café, da ich ihr mein Anliegen konkreter mitteilen wollte. In dem Gespräch erläuterte ich ihr dann mein Forschungsvorhaben. Ich erzählte ihr, dass ich mich für die Lebensgeschichten von Kindern griechischer Arbeitsmigranten interessiere, die in Deutschland aufgewachsen sind und sich im Laufe ihres Lebens entschieden haben, ihren Lebensmittelpunkt nach Griechenland oder in ein anderes Land zu verlagern. Sie zeigte sich interessiert und sagte mir, dass sie das Thema Migration für ein sehr wichtiges und aktuelles Thema halte. Im weiteren Verlauf des Gesprächs erläuterte ich dann, dass ich mit ihr ein Interview durchführen wolle, bei dem die Erzählung ihrer Lebensgeschichte im Mittelpunkt steht. Sie erklärte sich damit einverstanden und stellte keine weitere Nachfrage dazu. Dafür fragte sie mich aber im Frage-AntwortSchema nach meinem eigenen Bildungsverlauf ab und stellte dann zum Ende des Gespräches fest, dass wir beide zwar auf dem gleichen Gymnasium
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in Frankfurt waren, aber dass sich unsere Lebensverläufe unterscheiden, weil ich im Gegensatz zu ihr gar nicht gependelt bin und nur die deutsche Schule besucht habe. Ich stimmte ihr zwar zu, kommentierte diese Anmerkung aber nicht weiter. Für das Zustandekommen des Interviews schien mir nicht unwichtig zu sein, dass ich Athina in einer Zeit nach einem Interview gefragt habe, in der sich meine eigene Lebensweise durch Mobilität auszeichnete. Ebenso erschien mir die Tatsache, dass wir beide die Erfahrung teilten, Kinder griechischer MigrantInnen zu sein, ganz zentral für das Zustandekommen des Arbeitsbündnisses zu sein. Sie konnte als Migrantentochter einer anderen Migrantentochter ihre Geschichte erzählen. Ich konnte ihr das Gefühl vermitteln, dass ihre Geschichte bei mir gut aufgehoben ist und ich ihre soziale Welt verstehe, sowohl auf der sprachlichen als auch auf der emotionalen Ebene. Für das Entstehen des Vertrauensverhältnisses war zudem mein Versprechen, ihre Angaben zu anonymisieren, ganz zentral. Die Tatsache, dass das Arbeitsbündnis aber auch durch einen Statusunterschied gekennzeichnet war, realisierte ich im Vorgespräch nicht. Ich optionierte mit Athina einen Termin für ein Interview innerhalb des nächsten Monats. Das Interview fand dann sechs Wochen nach dem Vorgespräch in Griechenland, Tausende von Kilometer weiter weg, in Deutschland statt. 6.1.2 Interviewdurchführung Das Interview mit Athina fand in einer Kleinstadt in der Nähe von Wiesbaden statt. Es dauerte mit Unterbrechungen zweieinhalb Stunden. Als Interviewort wählte Athina das Haus ihrer Eltern aus, in dem sie in einer Souterrainwohnung wohnt. Das Haus befindet sich in einer gutbürgerlichen Gegend in der Nähe eines Waldgebietes. Als ich im Haus eintraf, war Athina am Telefonieren. Das Interview konnte erst eine Stunde nach dem ursprünglich vereinbarten Termin beginnen, da wir auf ihre Mutter warten mussten, die auf die Kinder aufpassen sollte. Als die Mutter kam, ging Athina mit mir ins obere Stockwerk des Hauses. Athina wählte für die Interviewdurchführung nicht ihre eigene Wohnung, sondern das Zimmer ihres Bruders im Dachgeschoss aus, damit wir von ihren Kindern nicht während des Gesprächs gestört werden konnten. Während der Haupterzählung wurde das Interview trotzdem zweimal unterbrochen. Bei der ersten Unterbrechung kam die älteste Tochter in das Zimmer, und das Aufnahmegerät
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wurde auf Athinas Bitte für ca. 5 Minuten ausgeschaltet. Nach der ersten Unterbrechung hat Athina die Tür abgeschlossen. Das zweite Mal wurde das Interview für einige Minuten während der Haupterzählung kurz unterbrochen, als die Tochter an der Tür klopfte. Während des Interviews saß Athina auf dem Bett, mit dem Rücken an die Wand angelehnt und deckte sich mit einer Bettdecke zu. Ich nahm am Ende des Bettes Platz und lehnte mich ebenfalls an die Wand. Die Interviewsituation war sehr entspannt. Das Interview mit Athina habe ich auf Deutsch geführt. Athina beginnt zwar das Gespräch mit einer Nachfrage auf Griechisch, aber nachdem ich auf Deutsch antwortete, setzt sie ihre Erzählung in der deutschen Sprache fort. Sie wechselte nur die Sprache, wenn ihr bestimmte Wörter nicht auf Deutsch einfielen und sie meine Hilfe bei der Übersetzung ins Deutsche benötigte. In der Haupterzählung präsentiert Athina dem chronologischen Lebenslauf entsprechend ihre Lebensgeschichte vor der Folie ihres transnationalen Schul- und Bildungswegs. Im Verlauf des Gesprächs kristallisierte sich heraus, dass ich der Vergleichspunkt für eine erfolgreiche Karriere für sie war. Denn trotz unserer geteilten biographischen Erfahrung, als Kinder griechischer MigrantInnen in Deutschland geboren und sozialisiert worden zu sein, gab es auch Statusunterschiede zwischen uns. Ich arbeitete nach einem sozialwissenschaftlichen Studium in einem europäischen Forschungsprojekt. Athina dagegen war eine nicht berufstätige Mutter, mit einem Hochschulabschluss, der ihr bisher keine adäquate berufliche Positionierung ermöglicht hatte. Für die thematische Gestaltung des Interviews scheint diese Tatsache eine gewisse Rolle gespielt zu haben, denn Athina fokussiert nicht nur sehr stark auf ihre Bildungsgeschichte, sondern vergleicht sich an einigen Stellen im Interview in besonderer Weise mit mir. Im Verlauf der Haupterzählung umkreist sie neben ihrer Bildungsgeschichte die thematischen Felder Rückkehr, Heirat, Familie und Mutterschaft. Athina beendet die Haupterzählung, indem sie mich auffordert, mit Fragen in die Interviewsituation einzugreifen. Im Nachfrageteil stelle ich zunächst interne Nachfragen, zu Themenbereichen, die während der Haupterzählung erwähnt wurden. Es werden die Themen Zweisprachigkeit, Geburt und Mutterschaft, soziale Kontakte in Deutschland, Rückkehr, Zuhause und Heimat von mir aufgegriffen und von Athina entfaltet. Im externen Nachfrageteil stelle ich dann noch Nachfragen zu Ausgrenzungserfahrungen und zu ihrer Zukunftsplanung. Nach dem Interview habe ich einige
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Monate später noch ein weiteres Gespräch mit Athina geführt, um einige für mich noch offene Fragen im Zusammenhang mit ihren biographischen Daten zu klären. 6.1.3 Biographisches Portrait Athina wurde in den 1970er Jahren als Kind griechischer ArbeitsmigrantInnen in Deutschland geboren. Ihre Mutter und ihr Vater kamen in den 1960er Jahren im Rahmen des Anwerbeverfahrens nach Deutschland. Beide arbeiten zunächst in einer Fabrik, wo sie sich auch kennenlernen. Sie heiraten Ende der 1960er Jahre in einer deutschen Großstadt. Das Arbeitsmigrationsprojekt von Athinas Eltern verläuft aus ökonomischer Sicht sehr erfolgreich, und die Familie erfährt einen Statusgewinn in der Migration. Der Vater macht sich nach Athinas Geburt zunächst als Taxifahrer selbstständig und gründet in den 1990er Jahren zusammen mit seiner Frau ein kleines Taxiunternehmen. Athina verbringt die ersten vier Lebensjahre getrennt von ihren Eltern. Bereits kurz nach der Geburt geben die Eltern sie als Säugling in die Obhut der Großmutter in das Herkunftsdorf des Vaters nach Mittelgriechenland. Im Alter von zwei Jahren nimmt ihre Tante sie in Athen bei sich auf, damit die Großmutter sich um Athinas jüngeren Bruder kümmern kann. Athinas Eltern entscheiden sich dann aber doch nach einiger Zeit, Athina wieder zu sich nach Deutschland zu holen. Der Versuch der Eltern, Athina in einen griechischen Kindergarten zu schicken, scheitert, da Athina erkrankt. Nach Absprache mit der Erzieherin melden die Eltern sie wieder vom Kindergarten ab. Athinas Mutter steigt dann aus dem Berufsleben aus, um sich um die Kinder zu kümmern. Auch der Sohn, der von der Großmutter väterlicherseits versorgt wurde, wird nach Deutschland geholt. Athina durchläuft einen transnationalen Bildungsweg. Sie besucht zunächst die erste Grundschulklasse in einer griechischen Grundschule in Athen. In der zweiten Klasse setzt Athina dann ihre Schulkarriere im deutschen Schulsystem fort. Als sie in der zweiten Klasse ist, wird ihr jüngster Bruder Kosta geboren. Athina besucht bis zur sechsten Klasse ein deutsches Gymnasium. Als sie in der siebten Klasse ist, entscheiden sich die Eltern, die Familie zu fragmentieren, damit Athina und ihre Brüder, begleitet von der Mutter, im griechischen Schulsystem in Griechenland ihre Schulkarrieren fortsetzen können. Athina besucht in Athen
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neben der regulären griechischen Schule auch eine Sprachschule, an der sie Deutschunterricht erhält. Nach Athinas dreijährigem Besuch des griechischen Gymnasiums in Athen entscheiden sich die Eltern gegen eine endgültige Rückkehr nach Athen und für den Verbleib in Deutschland. Als Athina fünfzehn Jahre alt ist, geht die Mutter mit ihr und den zwei Söhnen wieder zurück nach Deutschland. Nach der Rückkehr besucht der zweitjüngste Bruder ein deutsches Gymnasium. Athina dagegen besucht mit dem jüngeren Bruder die griechische Schule. Athinas Schulkarriere auf der griechischen Schule verläuft erfolgreich. Sie absolviert das griechische Abitur mit Auszeichnung und nimmt an den griechischen Hochschulzulassungsprüfungen teil. Sie erhält einen Studienplatz in Athen und zieht im Alter von 18 Jahren nach Athen, um ihr Studium der Philologie zu beginnen. Während der Studienzeit lernt sie an der Universität ihren zukünftigen Mann Alex kennen, der ebenfalls wie sie ein Migrantenkind der zweiten Generation ist. Nachdem Alex sein wirtschaftswissenschaftliches Studium in Athen abgeschlossen hat, nimmt er ein Stellenangebot in Deutschland an. Athina verlagert während ihrer Hauptstudiumphase ihren Hauptwohnsitz nach Deutschland und pendelt in den letzten zwei Jahren ihres Studiums zwischen Deutschland und Griechenland. Nachdem sie ihr Studium erfolgreich abgeschlossen hat, heiratet sie im gleichen Jahr Alex im Herkunftsdorf ihrer Mutter in Mittelgriechenland. Nach der Heirat entschließt sich Athina, ihre Bildungskarriere in Deutschland fortzusetzen. Während Alex bei einer Bank in Frankfurt arbeitet, beginnt sie ein zweites sozialwissenschaftliches Studium und arbeitet Teilzeit in der Verwaltung eines Kommunikationsunternehmens. Nach einem Jahr bricht sie das Studium ab, als sie schwanger wird. Ein Jahr nach der Geburt ihrer ersten Tochter entschließt sich Athina mit ihrem Mann, ihren Hauptwohnsitz wieder nach Athen zu verlagern. Dort bringt sie ihre zweite Tochter zur Welt. Als sie kurz nach der Geburt der zweiten Tochter wieder schwanger wird, verlagert sie ihren Wohnsitz wieder nach Deutschland und bringt dort ihre dritte Tochter zur Welt. Seitdem hat die Familie zwar nach wie vor ihren Hauptwohnsitz in Athen, aber Athina pendelt mit ihren Töchtern regelmäßig zwischen Deutschland und Griechenland.
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6.1.4 Biographische Fallanalyse Die Trennungserfahrungen in der Kindheit Athina erfährt bereits in ihrer Kindheit das elterliche Projekt der Migration als eine Prozessstruktur, die sie nicht steuern kann. Sie beginnt ihre Haupterzählung, indem sie das Krankenhaus und den Ort ihrer Geburt benennt. Das Krankenhaus als erster Ort der Versorgung ist der einzige fixe Punkt, den es in den ersten Lebensjahren in ihrer Biographie gibt, denn Athina musste ihren Geburtsort und ihre Familie bereits kurz nach ihrer Geburt verlassen: „Aber gleich nach vierzig Tagen, War das. Aber gleich nach vierzig Tagen wurde ich gleich zur Oma geschickt nach Griechenland. Ehm, in einem Dorf in der Nähe von Thessaloniki. War das, die Oma Vaterseits. Ehm, dann also zwei Jahre.“ „Also, zwei Jahre“. Bis ich zwei wurde, glaube ich. Ja, o.k. das war dies alles von meinen Eltern eben, was die erzählen . Also, bis ich (überlegt) Mein zweites Lebensjahr habe ich dann (Stimme wird leise). Also, bis zu meinem zweiten Lebensjahr (laut) Also, in Athen, hmh (lacht) In Athen, also von zwei bis vier habe ich dann in Athen gelebt. (6. Sek.) Moment, also da war ich nur, also nur bei meiner Tante und zwar kein Kindergarten oder so nur zuhause bei meiner Tante und dann wollten mich meine Eltern natürlich wieder haben (lacht).“ (Z 18-34) Athina schildert ihre Kindheit, indem sie das Leben außerhalb der Familie und ihre in der Kindheit bereits angelegt geographische Mobilität anhand der durchlaufenen Aufenthaltsorte und Bezugspersonen thematisiert. Athina betont, dass sie keine Erinnerungen an diese Zeit hat und dass sie ihre Aussagen nur aufgrund der Erzählungen der Eltern machen kann, „dies alles von meinen Eltern eben, was die erzählen“. Die Erfahrungen der Kindheit werden als durch die Eltern vermittelt dargestellt. Athina berichtet, dass sie nach dem zweijährigen Aufenthalt bei der Großmutter erneut die
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Bezugsperson und den Aufenthaltsort innerhalb Griechenlands gewechselt hat und dass ihre Eltern sie dann im Alter von vier Jahren nach Deutschland zurückgeholt haben. Die Rückkehr nach Deutschland gestaltete sich sehr problematisch. Obwohl Athina nur wenige Erinnerung an die Zeit der Familienzusammenführung hat, legt ihre Aussage „Das wollte ich gar nicht. Ich hab’ geweint am Anfang“ die Vermutung nahe, dass sich Athina in Griechenland bei der Tante wohlgefühlt hat und sich mit der Tante identifiziert hat. Athina berichtet, dass sie zusammen mit der Tante nach Deutschland zurückgekehrt ist. Ihre Tante verbleibt für einen längeren Zeitraum mit ihr in Deutschland und unterstützt die Familie in dieser Phase der Zusammenführung. Als die Tante aber wieder nach Griechenland zurückkehrt, erkrankt Athina, und der Versuch ihrer Eltern sie in den griechischen Kindergarten zu schicken, scheitert in der Eingewöhnungsphase. Die von der Erzieherin initiierte Entscheidung zum Abbruch des Kindergartenbesuches aufgrund Athinas psychischer und physischer Verfassung hat die Konsequenz, dass die Mutter aus dem Berufsleben aussteigen und zu Hause bleiben muss. Der Bruder, den die Eltern ebenfalls kurz nach der Geburt in die Obhut der Großmutter nach Griechenland gegeben haben, kommt ebenfalls zu den Eltern nach Deutschland zurück. Die Mutter bleibt dann zwei Jahre mit den Kindern zu Hause. Athina hat kaum Erinnerungen an ihre Kindheit, was ein Indiz dafür sein kann, dass sie diese biographische Phase ausblenden will. Athina hat durch die Trennung von der Familie eine Verlaufskurvenerfahrung gemacht hat, über die sie zwar nicht detailliert erzählen kann, aber sie verdeutlicht in einer sehr emotionalen Schilderung die Belastungen, die für alle Familienmitglieder mit der Trennung einhergegangen sind. „Am Anfang war’s wohl schwierig, wo ich in Griechenland war, mit drei, vier Jahren. Mit drei, mit drei. Wo mich meine Mutter, mich dann immer besucht hat und ich hab’ immer dann die Photoalben aufgemacht und hab’ gemeint, ah Du bist meine Mutter. Ja, das steht ja hier, so ungefähr. Also, da bin ich ja mit Dir hier auf den Photos. Und sie erzählt es mir immer dann und sie ist so traurig darüber. Weil ich hab’ da mal. Also, weil ich hab’ da mal, als sie mal kam, die Tür aufgemacht, hat sie mir erzählt, bei meiner Tante wo sie gekommen ist im Sommer. Sie hat sich so
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gefreut und gesagt, ich bin deine Mutter und so. Und ich habe gesagt, ne warte. Ich weiß nicht, ob Du das bist und habe die Tür zugeknallt. Es hätte ja auch jemand Fremdes sein können. Und dann bin ich die Treppe hochgelaufen. Ja, ja. Dann hab ich ein Photoalbum aufgemacht. Daran kann ich mich auch noch erinnern. Weil, meine Tante hatte viele Photos und hat mir gesagt, dass ist deine Mutter, das ist-. Dann habe ich geguckt. Hab’s gesehen und hab gesagt. Ach ja, doch das bist Du. Ich hab zu meiner Tante-. Ich hab meine Mutter nicht reingelassen. Bin dann wieder runter gelaufen mit dem Album in der Hand und habe gesagt, ja das bist Du. Du bist die Frau auf dem Photo, eine andere Frisur, aber das bist Du. Du darfst rein kommen und dann erst habe ich sie reingelassen. So und meine Mutter hat immer gesagt, sie ist so traurig. Sie war so traurig, erst mal, dass ich das gemacht hab, dass sie das gemacht hat. Die Kinder da-, da weggeschickt hat, aber ok. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich eben traurig war. Die Erinnerungen sind bei mir so angenehm. Keine Spur von Traurigkeit.“ (Z 1088-1113) In der szenischen Darstellung wird die Belastung des Verhältnisses zwischen Mutter und Tochter deutlich, aber auch die besondere Bindung zu der Tante, die über Jahre hinweg die Rolle der „Ersatz“-Mutter übernommen hat und eine feste Bezugsperson für Athina war. Immer wieder betont Athina in ihrer biographischen Erzählung, dass ihre Darstellungen über die ersten Lebensjahre nicht primär auf ihren eigenen Kindheitserinnerungen beruhen, sondern mittels Erzählungen vermittelt sind. Dadurch bringt sie einerseits zum Ausdruck, dass sie die Erzählungen der Eltern nicht zwingend teilt, zeitgleich verdeutlicht sich dadurch aber auch, dass in der Familie über die Trennungsjahre gesprochen worden ist. Wie sich im weiteren Verlauf der biographischen Erzählung zeigt, hat in dem Zusammenhang die Kommunikationsform des Erzählens eine zentrale Rolle für den interfamiliären Dialog in der Familie und die biographische Verarbeitung der Tren-
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nungsjahre gespielt. Es hat insbesondere zwischen Tochter und Mutter ein Dialog stattgefunden. Dieser Dialog stellt nicht nur eine Ressource für die Bewältigung der Trennungserfahrungen in der Kindheit dar, sondern auch für die transnationale Schulkarriere von Athina, die sehr positiv verläuft. Die Schulzeit: Pendeln zwischen zwei Ländern und zwei Bildungssystemen Athina erzählt ihre Lebensgeschichte vor der Folie ihres transnationalen Bildungsweges. Die elterlichen Migrationsbewältigungsstrategien, die Rückkehrorientierung und das Interesse der Eltern an der Bildung ihrer Kinder führen dazu, dass Athina auch während ihrer Schulzeit ihren gewohnten Lebensraum verlassen muss, damit sie frühzeitig in Griechenland eingeschult wird, um anschließend ihre Schulkarriere in Deutschland fortzusetzen. Als Athina in Deutschland eingeschult werden soll, schlagen die Behörden Athinas Eltern eine Zurückstellung der Einschulung vor, die mit Defiziten in der deutschen Sprache begründet wird: „Dann hatte ich natürlich das Problem, ich konnte kein Deutsch und als das Jahr kam, wo ich zur Schule gehen sollte, also erste, erste Klasse konnte ich kein Deutsch. Da habe ich so einen Test gemacht, kann ich mich noch erinnern in der Franziskus Schule war das und= eh, da bin ich natürlich. Hab’ ich nicht geschafft. Und wegen den Deutschkenntnissen damals und da wurde mir gesagt, Ich soll noch’ n Jahr warten. Also, bis ich-, also, in die erste Klasse gehe. Und das wollten meine Eltern irgendwie nicht. Und ich selber nicht. So erzählt mir meine Mutter, Dass ich da selber gesagt haben soll, Nein, ich will das nicht und dann wurde ich wieder nach Griechenland geschickt. Also, für die erste, jetzt Klasse, Grundschulklasse, wieder zur gleichen Tante. Das ist die Schwester meiner Mutter. Mit der bin ich auch mein halbes Leben Irgendwie aufgewachsen. Also, die haben auch keine Kinder. Also, meine Tante und mein Onkel eben haben keine, haben keine Und dann, dann bin ich da, für ein Jahr. Also, die erste
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Klasse, Grundschulklasse habe ich dann bei meiner Tante gelebt.“ (Z 58-71) Athina besteht aufgrund ihrer mangelnden Deutschkenntnisse den Einschulungstest nicht. Ihre bildungsmotivierten Eltern möchten, dass sie eingeschult wird und entscheiden sich, sie zur Einschulung erneut nach Griechenland zur Tante zu schicken. Interessanterweise vermittelt Athina an dieser Stelle der biographischen Selbstpräsentation, dass es keineswegs nur die Entscheidung der Eltern war, sondern auch ihre eigene Entscheidung. Sie leitet somit die Schulzeit und das Lernen als ein biographisch wichtiges Thema ein und präsentiert im weiteren Verlauf der Erzählung ihre Lebensgeschichte vor der Folie ihres Bildungsweges, der durch einen transnationalen Charakter gekennzeichnet ist. Nachdem Athina das erste Schuljahr eine griechische Grundschule in Athen besucht hat, fliegt sie nach einem Jahr wieder zurück nach Deutschland, um ihre Schulkarriere im deutschen Schulsystem fortzusetzen. Sie steht aber dann wieder vor dem gleichen Problem wie beim Einschulungstest: „Dann kam ich wieder hierher, zweite Grundschulklasse jetzt. Wieder der Test. Und mir wurde gesagt o.k. Aber natürlich konnte ich wieder kein Deutsch (lacht) Das war doch klar. Aber ich glaube es gibt so’n Gesetz. Ich weiß nicht, wie das war. Die mussten mich dann annehmen, weil ich bereits die erste Klasse besucht hatte, so war’s und da hatte ich so’n Mathetest gemacht. Und es hieß, wenn ich in Mathe gut wäre, dann gibt’s kein Problem. Die Sprache lernt man eben, so und ok, da hatte ich aber.Ja. Mathe hab’ ich gut durch-, bestanden und dann ging’s.“ (Z 95-108) Athina besteht den Test, obwohl sie immer noch kein Deutsch sprechen kann, und darf die zweite Klasse einer deutschen Grundschule besuchen. Sie kann zwar nur sehr wenige Deutschkenntnisse aufweisen, aber sie schafft es durch die Unterstützung ihres Grundschullehrers und ihrer Mut-
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ter, die anfänglichen Sprach- und Anpassungsschwierigkeiten zu überwinden. „Da hatte ich einen sehr guten Lehrer kann ich mich noch erinnern .Herr Schmidt, ich kenn’ noch den Namen, Und er hat mir sehr geholfen, Also in der Grundschule, weil ich konnte ja kein Deutsch. Also, es ging, es war schwer, aber es ging. In der Grundschule und ich hab’ es geschafft ah dann mit der Unterstützung von meinem Lehrer, dass ich also nach der vierten ins Gymnasium kommen konnte.“ (Z 109-114) Die Mutter setzt die vom Lehrer empfohlenen Maßnahmen um, damit Athina schnellstmöglich Deutsch lernt. Durch die Unterstützung ihres Lehrers und ihrer Mutter kann Athina dann auch die anfängliche Sprachbarriere überwinden. Ihre Schulleistungen entwickeln sich in den darauffolgenden Schuljahren sehr gut und sie erhält in der vierten Klasse eine Gymnasialschulempfehlung. Athina besucht ab der fünften Klasse ein Gymnasium in einer bürgerlichen Gegend einer deutschen Großstadt. Ihre Schulkarriere erfährt allerdings nach der sechsten Klasse wieder einen Bruch, da sich die bildungs- und rückkehrorientierten Eltern entscheiden, die Familie zu fragmentieren, damit die Kinder im griechischen Schulsystem in Griechenland ihre Schulkarriere in der Mittelstufe fortsetzen können. Der Vater bleibt in Deutschland und die Mutter geht zunächst mit den Kindern nach Griechenland. Durch die Fragmentierung der Familie werden sowohl die Option der Remigration nach Griechenland als auch der Verbleib in Deutschland und somit die Lebensmöglichkeiten in zwei Ländern aufrechterhalten. Athina besucht in Griechenland in Athen neben der regulären griechischen Schule auch eine Sprachschule, an der sie Deutschunterricht erhält. „In der Schule war ich dann also am Anfang. War in der Schule ‘n mittlere Schülerin eigentlich. So wegen der griechischen Kenntnisse. Ok., ich hatte eigentlich gute griechisch Kenntnisse, Weil ich hab’ immer. Auch hier die
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griechische Schule besucht nachmittags. Aber, o.k. Ich war halt nicht wie die Kinder in Griechenland. Also, manchmal haben die mich im Unterricht ausgelacht-.Also, ich hab’ da manchmal so was erzählt und so-. Also die Wörter, die griechische Wörter-.Es war eigentlich am Anfang, war’s ein bisschen so schwer-. Aber es ging, es ging. Und von der mittleren Schülerin. Hab’ ich mich danach sehr gut entwickelt. Also, in der dritten Klasse vom Gymnasium. Hatte ich auch so ganz gute Noten und ich hab’s eigentlich gut geschafft damals. Ja, und dann hieß es wieder, Ne wir bleiben in Deutschland (lacht) und= eh wir machen da weiter.“ (Z 153-167) Der Übergang vom deutschen auf das griechische Gymnasium hat sich nicht unkompliziert gestaltet hat. Athina macht Differenzerfahrungen in der Klasse: „Ich war halt nicht wie die Kinder in Griechenland“. Sie führt weiter aus, dass ihre griechischen Sprachkenntnisse zwar dafür, dass sie in Deutschland nur nachmittags den muttersprachlichen Unterricht besucht hat, „eigentlich gut“ waren, deutet aber an, dass sie nicht auf dem gleichen Niveau der griechischen MitschülerInnen war. Sie startet den Versuch, die anfänglichen Schwierigkeiten darzustellen, stockt aber und führt die Sätze nicht weiter aus. Es lässt sich vermuten, dass Athina eine marginalisierte Position in der Klassengemeinschaft innehatte, die sie aber nicht als weiter belastend empfindet, weil sie sich im weiteren Verlauf der Gymnasialzeit „von einer mittleren Schülerin, zu einer sehr guten Schülerin entwickelt“. Eine Ressource für die Bewältigung der anfänglichen Schwierigkeiten im griechischen Gymnasium stellt aber auch der Besuch der deutschen Sprachschule dar, die für sie im Hinblick auf die Schulleistung ein Erfolgserlebnis war: „Im Deutschunterricht da habe ich die Mittelstufe besucht. Mit zehn Jahre Mittelstufe. Die anderen waren alle zwanzig, da drinne. (laut) Ich hab’ so ‘n Test gemacht. Weißt de, weil ich war doch zu klein. Aber-, weil in Griechenland gehen ja natürlich die Kinder-, fangen an mit ehm zehn
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eben die erste deutsche Grundschulklasse zu besuchen in-, in Nachmittagsschulen. Ja, in Sprachschulen und ich war ja eher. Irgendwie-, ne-, elf war ich. Mit elf und da habe ich einen Test gemacht. Mit Grammatikübungen, was ich da alles kannte und so. Damit sie mich einstufen konnten, wo ich dann da hin sollte und das war dann eben die Mittelstufe und ich kann mich noch erinnern, ich war da mit elf und zwölf, und die anderen waren alle zwanzig, so zweiundzwanzig (lacht) Jaa, und ich war die Klassenbeste und so voll, so voll klein da. Die jüngste in der Klasse und das war toll.“(Z 680-699) Nach dem Abschluss der dritten Gymnasialklasse wird ihr Schulweg durch die elterlichen Entscheidungen wieder unterbrochen „Ja, und dann (lacht) hieß es wieder, ne wir bleiben doch in Deutschland (lacht) [..] wir machen da weiter“. Athina verdeutlicht, dass sie, ohne von den Eltern vorgewarnt zu werden, mit der elterlichen Entscheidung über den weiteren Verlauf des Familienprojektes der Migration konfrontiert wird. Die Eltern entscheiden sich gegen eine endgültige Rückkehr der gesamten Familie nach Griechenland und für den Verbleib in Deutschland. „Die Eltern haben sich dann hier das Haus gekauft und entschieden, wir bleiben in Deutschland. Ihr lebt wo ihr wollt.“ (Z 1199-1201) Der Hauskauf stellt nicht nur symbolisch den Statusgewinn dar, sondern auch eine Ressource für das Offenhalten der Option, in zwei Ländern leben zu können. Die Eltern überlassen der Tochter die Entscheidung über den weiteren Verlauf des Bildungsweges in Deutschland. „und dann wurde ich natürlich gefragt, will ich jetzt in ‘ne deutsche Schule oder in ‘ne griechische. Aber dann wollte ich nicht in ‘ne deutsche Schule.“ (Z 167-169)
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Athina stellt die Entscheidung für den griechischen Schulweg in Deutschland als selbstbestimmte biographische Entscheidung dar, die sie als Gegenentwurf zu den elterlichen Verbleibabsichten in Deutschland konzipiert. „Nach der dritten Klasse des Gymnasiums hab’ ich dann immer gesagt Nö ich werde mal wieder zurück nach Griechenland für immer, also. Wieder zurück gehen und deshalb hab’ ich meinen Eltern gesagt ‘nö ich besuche das. Ich werde das eh griechische Lyzeum besuchen. Eben in Deutschland. Auch wenn ihr jetzt behauptet, ihr wollt in Deutschland bleiben und nicht nach Griechenland zurückgehen.“ (Z 176-181) Athina legitimiert aus dem Wunsch der Rückkehr die Entscheidung, das griechische Lyzeum in Deutschland zu besuchen. Aus der Retrospektive wird die Lyzeumszeit auch als biographischer Fixpunkt markiert, an dem die Idee der Rückkehr nach Griechenland als selbstbestimmter biographischer Entwurf entstanden ist. Inwieweit die Eltern ihr tatsächlich den Entscheidungsfreiraum überlassen haben, lässt sich zwar nicht eindeutig sagen, aber es lässt sich festhalten, dass Athinas Entscheidung auch der elterlichen Vorstellung entsprochen haben muss, denn sonst hätten die Eltern sie nicht auf das griechische Lyzeum geschickt, sondern ebenso wie den jüngeren Bruder auf eine deutsche Schule. Wenn man annehmen würde, dass die Eltern ein besonderes Interesse daran haben, die Tochter studieren zu lassen, impliziert die Entscheidung der Eltern, die Tochter auf ein griechisches Lyzeum nach Deutschland zu schicken, dass sie ein besonderes Interesse daran hatten, dass ihre Tochter die formalrechtlichen Bedingungen zur Teilnahme an den griechischen Hochschulzulassungsprüfungen für Auslandsgriechen erfüllt. Damit erhöhen sich Athinas Chancen, die griechischen Hochschulzulassungsprüfungen zu bestehen, um tatsächlich eines Tages studieren zu können. Athina kehrt dann mit ihrer Mutter und den Brüdern nach Deutschland zurück und besucht nach ihrer Rückkehr das griechische Lyzeum in Frankfurt. Der Übergang vom griechischen Gymnasium in Athen zum griechi-
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schen Lyzeum in Frankfurt bereitet Athina keine Schwierigkeiten, da sie das Land, aber nicht das Schulsystem wechselt. „Weil ich in Griechenland das Gymnasium besucht habe. Dann war das Lyzeum für mich hier sehr einfach wieder. Das war dann sehr gut. Also, das Gymnasium in Griechenland war für mich ‘n bisschen schwer am Anfang. Wegen der fünften, sechsten hier und die ganze Grundschule eben, die deutsche. Aber dann, das Lyzeum war-. Das war dann toll. Ich fand’s sehr einfach.“ (Z 185-191) Während der Lyzeumszeit entwickelt Athina den berufsbiographischen Wunsch, Lehrerin zu werden. Dieser wird in der dritten Lyzeumsklasse mit der expliziten Bildungsidee, Philologie zu studieren und nach Griechenland zurückzugehen, verknüpft. Bei der Entwicklung ihres berufsbiographischen Entwurfs spielt die Vorbildfunktion der Lehrerin auf dem griechischen Lyzeum eine wichtige Rolle. Athina erläutert im Zusammenhang mit ihrem Studienwunsch „sie war so’n Vorbild von mir“ (Z 202). Nachdem Athina das griechische Abitur absolviert hat, nimmt sie ohne Vorbereitungskurs an den griechischen Zulassungsprüfungen teil und besteht die Prüfungen. Die Tatsache, dass Athina keinen intensiven Vorbereitungskurs für die Zulassungsprüfungen gemacht hat, ist bemerkenswert und impliziert, dass Athina eine sehr gute Schülerin gewesen sein muss, der das Lernen und insbesondere die Form des Auswendiglernens, die bei den Prüfungen abverlangt wird, besonders leicht gefallen ist. Athina spricht zwar in ihrer biographischen Erzählung nicht darüber, was als Zeichen von Bescheidenheit interpretiert werden kann, aber aus den Jahrgangsbüchern des griechischen Lyzeums geht hervor, dass sie als Jahrgangbeste Schülerin des griechischen Lyzeums das Abitur gemacht hat. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sie an den Hochschulzulassungsprüfungen ohne die üblichen Intensivvorbereitungskurse, die die griechischen SchülerInnen absolvieren, teilnimmt und auch besteht. Sie erhält einen Studienplatz für ihre Erstwahl an der Universität Athen.
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Die transnationale Studienzeit Im Alter von 18 Jahren geht Athina nach Athen und beginnt ihr Philologiestudium. Der Migrationsschritt wird als Ortswechsel vor der Folie des Studienbeginns eingeführt. Offensichtlich hat Athina den Wechsel von einem Land in das andere nicht als erneuten Migrationsschritt wahrgenommen, sondern als Fortsetzung ihres Bildungsgangs. Athina markiert die biographische Phase des Studienbeginns als eine Auszeit. Sie berichtet, dass sie im ersten Semester sehr entspannt ins Studium eingestiegen ist und kein besonderes Interesse an dem Studienfach hatte. „Also, ich kann mich erinnern, das erste Semester hab’ ich in keinem Fach was geschafft. Also, nichts, null, gar nichts. (lacht) Aber, ich habe es irgendwie, so-, erst mal so genossen, das Leben, dolce vita. So, das erste Semester, also ich ging mal zur Uni, mal nicht, so-, so total, so wie die ehm, wie soll ich das sagen. Also, gar nicht als Studentin. Also, ich hab’ mich da nicht so als Studentin gefühlt, die irgendwie am Anfang. Ne, gefühlt schon, aber ich hab’ das nicht so gelebt. Also, da-, dass ich jeden Tag zur Uni muss und so. Ich hab’ gemacht, was ich wollte. Das war so ganz der Anfang.“ (Z 276-284) Athina hat im ersten Semester die Freiheit „Ich hab’ gemacht, was ich wollte“ genossen, die ihr durch die Aufnahme des Studiums ermöglicht wurde. Es deutet sich in der Darstellung an, dass die biographische Phase der Studienzeit einen Wandel in Athinas Wahrnehmung ihrer sozialen Umwelt markiert. Sie wohnt nicht mehr bei ihren Eltern und hat größere Spielräume zur selbstbestimmten Zeitplanung und Gestaltung ihres Alltags. Auffällig an der Darstellung zum Studieneinstieg ist, dass Athina keine weiteren Informationen über das Studium und ihren Zugang zur Universität gibt. Es werden weder der Studienort noch der Fachbereich oder soziale Beziehungen an der Universität thematisiert. Nach dem ersten Semester, in dem sie sich eine Auszeit gegönnt und nicht gelernt hat, wird sie zum Ende des Semesters mit der Prüfungsphase konfrontiert. Sie nimmt an fünf Prüfungen
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teil und besteht keine. Daraufhin sieht sie ein, dass sie ihre Lern- und Studieneinstellung ändern muss. „Aber dann kam eben der Februar und dann hab’ ich Prüfungen abgegeben für ‘s Semester und da hab’ ich-, bin ich in allen, es waren fünf Fächer, glaube ich die wir jedes Semester
hatten
in
Griechen-,
also
in
diesem
Philologiestudium. In allen durchgefallen, in allen fünf und dann hab’ ich das erfahren und dann hab’ ich gemeint, ne so geht ‘s doch nicht. Also, das geht ja nicht. Weil, die hab’ ich dann-, eben vor mir, natürlich und dann ging ‘s also.“ (Z 284-289) Die biographische Darstellung der Studienzeit ist von Diffusität durchsetzt. „Also, das geht ja nicht. Weil, die hab’ ich dann-, eben vor mir, natürlich und dann ging ‘s also“. Athina setzt an, um etwas darzustellen und bricht den Versuch wieder ab. In der Schwierigkeit, den angefangenen Satz fortzusetzen, könnten sich die Schwierigkeiten, mit denen sie nach dem ersten Semester in der Prüfungsphase konfrontiert war, widerspiegeln. Die anfänglichen Schwierigkeiten überwindet sie allerdings schnell, und in den darauffolgenden Semestern besteht sie alle Prüfungen. „Im zweiten Semester habe ich dann-, glaube ich-. Bin ich in allen eben-, habe ich alles das geschafft, die fünf und vier eben. Aber das war ganz gut. Ja, dann hab’ ich angefangen, also mehr, dann ging’s. Ja, okay manchmal ging’s eben schlechter, manchmal besser, aber es ging durch das Studium eigentlich ganz gut. Also, das waren auch meine besten Jahre bis jetzt (lacht laut) glaube ich. Ja, leider (laut) war das wenig. Also, ich hatte immer vor, so vier, fünf Jahre zu studieren und so und dass war bei mir nicht der Fall.“ (Z 289-296) Die Studienzeit erfährt von Athina in der Bilanzierung ihrer Biographie eine positive Evaluation, da die Studienphase die Lebensphase mit den
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größtmöglichen subjektiven Freiheiten ist. Während der Hauptstudienzeit lernt sie an der Universität ihren zukünftigen Mann kennen, der ebenfalls wie sie ein Migrantenkind der zweiten Generation ist. Nachdem sie ein Jahr mit ihm zusammen ist und er nach seinem Studienabschluss ein Jobangebot bei einer Bank in Frankfurt erhält, entscheidet sich Athina, mit ihm ihren Lebensmittelpunkt wieder nach Deutschland zu verlagern. „Da hat er mich gefragt, also kommst Du mit nach Deutschland, wenn ich da hin gehe (fragend). Wenn-, wenn ich die Arbeit annehme und ich denk natürlich nie über was nach und dann hab’ ich gleich gesagt, gehen wir wieder zurück.“ (Z 308-311) Da für Athina die Möglichkeit, die Beziehung fortzusetzen, ohne dass beide am gleichen Ort leben, nicht als eine Möglichkeit infrage kommt, entscheidet sie sich ihrem Freund zu folgen. Mit ihrem eigentheoretischen Kommentar „und ich denk natürlich nie über was nach“ bringt sie zum Ausdruck, dass sie die Frage sehr spontan beantwortet hat, ohne sich zu dem Zeitpunkt klar darüber zu sein, welche Konsequenzen die Entscheidung für ihren weiteren Lebensweg haben könnte. Sowohl bei Athina als auch bei den Eltern kommt Skepsis auf, ob sich unter den Pendelbedingungen tatsächlich das Studium erfolgreich abschließen kann. Athina deutet an, dass die Eltern ihre Entscheidung als zu überstürzt empfunden haben. „die haben das, glaube ich nicht so gut gesehen, dass ich mit dem Alex hier her gezogen bin, bevor das Studium zu Ende war, so.“ (Z 367-368) Die Sorge der Eltern, die ein großes Interesse an der Hochschulbildung der Tochter und insbesondere am Hochschulabschluss haben, dass das „Bildungsmigrationsprojekt“ an der Entfernung scheitern könnte, kann Athina schnell aus dem Weg räumen. Athinas biographischer Entwurf der „Gleichzeitigkeit“ an zwei Orten scheitert faktisch in der Lebenspraxis nicht. Die letzten zwei Jahre wohnt sie mit ihrem Mann in Frankfurt und studiert in Athen. Athina schafft es ohne große Mühe, durch ihre sozialen Netzwerke
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die Prüfungsphasen bis zum Abschluss des Studiums erfolgreich zu bewältigen. Sie verdeutlicht in ihrer biographischen Erzählung, dass es ihr leicht gefallen ist, das Studium zu bewältigen, da es keine Anwesenheitspflicht in den Lehrveranstaltungen gab. Athina hatte neben der prüfungsrelevanten Literatur, für die keine besondere Kommunikation an der Universität erforderlich war und die ihr zu Beginn des Semesters bei der Anmeldung der Kurse von ihren Professoren ausgehändigt worden ist, auch die schriftlichen Notizen von ihren Kommilitoninnen erhalten, die während des Semesters in den Seminaren waren und mitgeschrieben haben. Für die Bewältigung des Studiums war es ausreichend, dass sie den „Lernstoff“ auswendig gelernt und sich in der Prüfungsphase dreimal im Jahr auf die Prüfungen vorbereitet hat. „Also ich muss die Wahrheit sagen, also für mich hat es immer gereicht. Den einen Monat, wo wir Prüfungen hatten zu lesen, zu schuften irgendwie. Aber da hab’ ich so fünfzehn Stunden am Tag gelesen. Den ganzen Tag aber das ganze Semester nie. Hab’ich nie (lacht) gelesen, nie so, so doll gelesen.“(Z 348-352) Athina deutet zwar an, dass sie ein vages Gefühl dafür hat, dass das nicht die richtige akademische Auseinandersetzung gewesen ist, aber offensichtlich ist der Studienabschluss und damit einhergehend das Bildungszertifikat wesentlich wichtiger für sie als das kritische Auseinandersetzen mit den Inhalten des Studiums. Diese Tatsache ist insofern bemerkenswert, da Athinas Philologiestudium nicht primär durch eine zufällige administrative Studienplatzzuweisung zustande gekommen ist, wie das bei vielen StudentInnen in Griechenland der Fall ist, sondern durch ihr Interesse am Fach motiviert war, das sie während der Lyzeumszeit entwickelt hat. Die Erlangung des formalen Studienabschlusses ist aber nicht nur ein individueller biographischer Entwurf von Athina, sondern stellt auch das erfolgreiche Fortsetzen des Migrationsprojektes der Eltern dar, die sie sowohl ökonomisch als auch emotional während der gesamten Studienzeit unterstützt haben. Athina ist das erstgeborene Kind der Familie und auch das einzige Kind, das ein Hochschulstudium abgeschlossen hat. Ihre Brüder
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haben nicht studiert. Der jüngste Bruder hat das Fachabitur gemacht und eine kaufmännische Ausbildung in Deutschland abgeschlossen, währende der andere Bruder seit dem Abitur freiberuflichen Tätigkeiten nachgeht und auch keine Ausbildung gemacht hat. Athinas Interesse ist dagegen auch nach dem ersten Abschluss weiterhin auf ein Hochschulstudium gerichtet. Nach dem Hochschulabschluss und der Heirat direkt im Anschluss an das erste Studium entschließt sich Athina, ihre Bildungskarriere in Deutschland fortzusetzen. Die Heirat stellt für sie eine biographische Entscheidung dar, die vom sozialen Umfeld der griechischen Community determiniert ist, und sie widmet dem Thema Heirat außer in einem Nebensatz, indem sie beiläufig erwähnt, dass sie im Sommer zwischen der letzten Prüfung und der Diplomfeier geheiratet hat, keine weitere Beachtung in der biographischen Haupterzählung. Nach der Hochzeit beginnt Athina in Deutschland ein zweites Studium an einer sozialwissenschaftlichen Fakultät in der Nähe ihres Wohnortes und arbeitet Teilzeit in einem Telekommunikationsunternehmen. In dieser Phase ihres Lebens kehrt eine Zeit der Sesshaftigkeit ein, die fünf Jahre anhält. Athina beginnt in der Zeit ein zweites Studium, erfährt eine Dequalifizierung auf dem Arbeitsmarkt und bringt ihr erstes Kind auf die Welt. In ihrer biographischen Erzählung leitet sie die Zeit der Sesshaftigkeit mit dem zweiten Studium mit den Worten ein „das habe ich ja gar nicht erwähnt“. Sie fühlt sich in der Erzählsituation gezwungen, im Rahmen des Subzwangs der Detaillierung und der Gestaltschließung das Thema des zweiten Studiums biographisch einzuführen. Athina berichtet, wie sie zunächst die bürokratischen Hürden überwinden musste, um sich an der deutschen Universität einzuschreiben. Nach einer längeren Wartezeit erhält sie dann die Zulassung für das Studium der Pädagogik an einer deutschen Universität. „Nach drei Monaten oder so und dann hab’ ich den Brief bekommen, ja sie dürfen an der Uni studieren und so weiter. Das war am Anfang so ‘ne frohe Nachricht für mich, aber danach später, war das total. So ‘n Luftballon der ha (lacht / macht eine Handbewegung) geplatzt ist, genau.“ (Z 443-447)
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Athina bricht, trotz der primären Motivation zur Aufnahme eines zweiten Studiums wegen des inhaltlichen Interesses an dem Studiengang und intensiver Bemühungen zu Beginn des Studiums, das zweite Studium ab. Für Athina ist immer noch sehr rätselhaft, warum das zweite Studium nicht erfolgreich war. In ihrer Darstellung wird deutlich, dass da etwas schwierig war im Prozess des Kompetenzerwerbs der akademischen Arbeit an der deutschen Universität. Sie hat aber noch nicht kognitiv durchdrungen, was da passiert ist: „ich fand das Studium so schwer. (laut) Weil, nicht so schwer wegen den Kenntnissen irgendwie, aber wegen dieses ganzen System. Alleine, und wo willst Du hin, und das war irgendwie alles, so. Ich kam damit nicht klar. Ich musste-. Du kennst das ja. Ich muss suchen, welche Seminare, und-, das konnte-, das kannte ich nicht von Griechenland aus, ja. Am Anfang war es o.k., und dann kam eine Zeit, da fand ich ’s sehr schwer. Ich weiß nicht warum, also ich dachte, ich schaff ’s sowieso nicht. Da habe ich gemeint und irgendwie kam dann auch, glaube ich, so in den Kopf. Du hast ja schon ein Studium, also wenn es das erste wäre, würde ich ‘s sicher schaffen ja. Ich würde kämpfen. Ich weiß nicht, ob ich ’s schaffen würde, aber ich würde kämpfen. Aber da, hab’ ich irgendwie dann- da hab’ ich- da war ich auch verheiratet. Hab’ ich ’s so gesehen, dass ich jetzt ein Studium schon abgeschlossen habe und jetzt mache ich mir mein Leben nicht mehr schwerer, so irgendwie und dann hab’ ich ’s eben gelassen. Ja, genau, genau (überlegt).“ (Z 464-477) Athina scheitert an den Strukturen des deutschen Hochschulsystems und kann ihre biographischen Erfahrungen im griechischen Bildungssystem nicht als Ressource für das zweite Studium mobilisieren. Athina, die in Athen einen modularisierten Studiengang abgeschlossen hat, hat Schwierigkeiten, mit der Offenheit des Studiengangs in Gießen angemessen umzu-
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gehen. Ihre Äußerung „Ich muss suchen, welche Seminare, und-, das konnte-, das kannte ich nicht von Griechenland aus, ja“ verdeutlicht, dass Athina mit der Möglichkeit, zwischen mehreren Alternativen wählen zu dürfen, insbesondere der selbstständigen Zusammensetzung des Studienplans, überfordert war. Zudem bringen sie die suboptimalen Bewältigungsstrategien, die sie im Verlauf des ersten Studiums entwickelt hat, im deutschen Hochschulsystem nicht weiter. Retrospektiv kommentiert sie die Entscheidung zur Aufnahme eines zweiten Studiums selbstkritisch als zentrales Misserfolgerlebnis in ihrem Leben. „Aber das war alles ein Fehler. Weil ich konnte hier em-. Es gibt hier auch in Frankfurt ein Philologiestudium, da hätte ich einen Magister, eh Masters oder ’ne Doktorarbeit eben machen können. Das habe ich aber nicht gewollt, das war mein Fehler.“ (Z 434-437) Sie vermutet, dass es für ihre Bildungskarriere besser gewesen wäre, wenn sie nicht ein neues Studium aufgenommen hätte, sondern einen höheren Abschluss in der gleichen Fachrichtung gemacht hätte. Damit hätte sie womöglich bessere Chancen gehabt, sich professionell zu verselbstständigen. Die Anerkennung ihres griechischen Schulabschlusses auf dem deutschen Arbeitsmarkt entpuppt sich als komplizierter Prozess, der in der Dequalifizierung in der Arbeitswelt mündet. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der nach dem Mathematikstudium in Griechenland ins Berufsleben eingestiegen ist und einen Arbeitsplatz in Deutschland gefunden hat, hat Athina in Deutschland keine Möglichkeit gefunden, ihr Philologiestudium in ihre beruflichen Tätigkeiten einzubinden. Bei dem Versuch, ins Arbeitsleben einzusteigen, findet sie keine berufliche Tätigkeit, in der sie ihre Kenntnisse einbringen kann. Sie erhält nur Jobangebote als Sekretärin und gibt sich zufrieden mit Bürotätigkeiten und befristeten Arbeitsverträgen, was darauf hindeuten könnte, dass sie die Arbeitsstellen als Übergangslösung wahrnimmt. Vermutlich hat es Athina nach dem Scheitern des Studienplans nicht darauf angelegt, eine berufliche Karriere zu machen. Daraus könnte man schließen, dass sie nicht im beruflichen Bereich ihr Gelingen sucht, sondern dass der private Bereich wichtiger ist. Auf die ökonomische Unabhängigkeit von ihrem Mann scheint sie dennoch sehr viel Wert zu legen. Ihre ökonomische Unabhängigkeit erfährt allerdings durch die erste Schwan-
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gerschaft einen Bruch, da ihr Arbeitgeber den befristeten Arbeitsvertrag nicht verlängern will, als er erfährt, dass Athina schwanger ist. Irritierend ist eine Aussage, die sie in dem Zusammenhang macht, welche auch den zweiten Studienabbruch in einem anderen Licht erscheinen lässt: „Dann hab’ ich das Studium-, eh wurde der Vertrag nicht verlängert“. (Z 490) Der unterbrochene Satz könnte darauf verweisen, dass Athinas das Studium zeitgleich mit der Kündigung ihres Arbeitsvertrags zu Beginn ihrer Schwangerschaft abgebrochen hat. Wäre dem so, dann könnte man daraus schließen, dass es ihr unangenehm ist, eine Schwangerschaft als einen Grund für das Scheitern ihres berufsbiographischen Handlungsschemas zu thematisieren. Wie dem auch sei, Athina möchte nach der Geburt ihrer Tochter ihren Lebensmittelpunkt unbedingt wieder nach Athen verlagern. Das biographische Projekt der Rückkehr Das Thema der Rückkehr nach Griechenland begleitet Athina von Kleinkind auf. Zunächst ist sie dem Rückkehrprojekt der Eltern als Pendelkind passiv ausgesetzt und entwickelt dann im Laufe ihres transnationalen Bildungswegs selbst ein weitragendes Handlungsschema, bei dem die Rückkehrorientierung zentral ist. „Ich wollte immer zurück, immer. Mein ganzes Leben lang, soweit-, wie ich mich erinnern kann. Ehm wollte ich immer wieder zurück, immer wieder nach Griechenland (…) Das war immer ein Traum von mir, und ich hab’ immer, also zu meinem Mann gesagt ne wir müssen, wir müssen jetzt weg, wir müssen jetzt weg, wir müssen jetzt weg.“ (Z 498-499) Sie setzt ihren Mann unter Druck, dass sie wieder nach Griechenland gehen.
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„Ich hab’mal zum Alex gesagt, wenn Du keine Arbeit in Athen findest, gehe ich allein (lacht). Entweder Du kommst oder nicht. Egal. Ich gehe weg. So’n Drang hatte ich.“ (Z 1280-1283) Nachdem ihr Mann mit seiner Bewerbung bei einem internationalen Wirtschaftsunternehmen in Athen Erfolg hat, kann Athina mit ihrer Familie ihr biographisches Projekt der Rückkehr umsetzen. „Da war ich so froh, dass wir wieder nach Griechenland zurückgehen und mein Traum ist in Erfüllung gegangen und so weiter, da war ich und da hab’ ich auch erfahren, dass ich schwanger war“. (Z 508-510) Die Umsetzung der Rückkehr nach Griechenland ist ein zentraler Bestandteil von Athinas Biographie. Der Zustand des Zurückgehen Wollens stellt den Wunsch nach der Fortsetzung der früheren Kindheitserfahrungen und ihrer Studentenzeit dar. „Soweit ich mich erinnern kann, sagte ich immer, ich will nach Griechenland, aber eben weil ich als Studentin in Griechenland gelebt habe“. (Z 719-721) Athina möchte an den Ort und die Zeit anknüpfen, in der sie sich auf dem Weg der Verwirklichung ihrer biographischen Entwürfe befand. Nachdem sie das Rückkehrmigrationsprojekt mit ihrem Ehemann umsetzt, realisiert sie, dass ihr Alltag nicht der Vorstellung entspricht. Athina nimmt das Leben in Griechenland aus der Perspektive der schwangeren Ehefrau und Mutter war: „Also als Studentin ist es Traumland, ja. Aber wenn ich jetzt mit den drei Kindern da lebe ja und ich sehe von Griechenland nur meine Wohnung und ’n Spielplatz“. (Z 746-748)
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Zudem verschlechtert sich in Athen in der Übergangsphase ihre Wohnsituation. Sie zieht mit ihrem Mann in eine kleine Mietwohnung und danach in die Eigentumswohnung ihres Mannes, die sich im mehrstöckigen Haus der Schwiegereltern befindet. Diese Umstellung in ihrer Lebenssituation nimmt sie als eine Eingrenzung ihrer Freiräume wahr. In der Übergangsphase wird sie ständig von dem Gefühl begleitet, „wieder nach Deutschland zu gehen“. Aus der Perspektive der Mutter und Ehefrau sieht sie das Leben in Griechenland nach der Migration ständig vor einer negativen Hintergrundsfolie. Sie verfällt einem Mechanismus, indem sie alles, was sie in Griechenland erlebt, in Erinnerung an und im Vergleich zu Deutschland abwertet. In der Erzählung verdeutlicht sie dies insbesondere in einer längeren Passage, in der sie in kritischer Auseinandersetzung mit dem griechischen Gesundheitssystem die Erfahrungen in einem griechischen Krankenhaus schildert, die sie permanent mit ihren Erfahrungen im deutschen Gesundheitssystem vergleicht. Athina realisiert, dass sie ihre gemeinsame Zeit mit ihrem Ehemann und ihrer ersten Tochter in Deutschland, als sie aktuell ablief, immer unter dem Gesichtspunkt erlebt hat, eigentlich möchte ich ja in Griechenland sein. Dadurch war sie nicht in der Lage, ihr Leben in Deutschland hinreichend zu erleben und auch zu genießen. Erst nachträglich sieht sie das ein und erkennt, dass dieser Mechanismus, alles nur als Kippfigur zu sehen, eine Weise ist, sich selbst zu marginalisieren. Athina erkennt im Prozess der biographischen Arbeit aber auch, dass sie die Fähigkeit hat, verschiedene Perspektiven einzunehmen, und dass es für die Gestaltung ihres Lebens eine Ressource darstellen kann, auf Lebensmöglichkeiten in einem anderen Land zurückgreifen zu können. Daher erscheint ihr die Möglichkeit, jederzeit wieder in Deutschland leben zu können, als eine Option, die ihr hilft, die Übergangsphase in Athen zu überstehen. Als sie diese anfänglichen Schwierigkeiten überwindet, gerät Athina aber erneut in eine Verlaufskurvensituation, da sie ein Jahr nach der Geburt der zweiten Tochter ungeplant schwanger wird. Die biographische Krise: die Vereinbarkeitsproblematik von Familie und Berufstätigkeit nach der dritten Schwangerschaft In ihrer biographischen Erzählung stellt die Darstellung der biographischen Phase, in der sie die Nachricht von der dritten Schwangerschaft in einem
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Athener Krankenhaus erhält, nachdem sie unter Schmerzen in die Notaufnahme gegangen ist, die dichteste Episodenerzählung in dem ganzen Interview dar. Athina bringt damit den Stellenwert dieser Erfahrung für ihr Leben zum Ausdruck, den sie folgendermaßen kommentiert: „Wo ich’s gehört habe, hat die mich gerufen. Ich kann mich noch erinnern-, weil das war der schrecklichste Moment in meinem Leben. Also ich will es nicht so sagen (laut) .Aber das war eben mein schrecklichster Moment in meinem Leben. Ok, jetzt wo ich meine Tochter habe, natürlich ist es sehr schön. Aber damals wo ich da war und ich war soo sicher, ich war nicht schwanger, ja. Da wurde mir der Test gemacht ja, und dann nach zehn Minuten wurde ich gerufen, Frau K., der Test ist positiv und als ich das gehört habe, da habe ich so, so einen Weinkrampf-, eh Anfall bekommen (…) und ich konnte nicht aufhören. Ich hab’ nur noch geweint. Ich hab ’um mein Leben geweint.“ (Z 989-996/1004) In Athinas biographischen Zukunftsplan stand nach der Geburt der zweiten Tochter die Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit im Mittelpunkt, da für ihre innenweltliche Bewährung neben der Mutterschaft auch der Wiedereinstieg in das Arbeitsleben eine zentrale Rolle gespielt hat. „Ne Karriere wollte ich eigentlich nie machen, aber arbeiten. Das war und ist mir sehr wichtig.“ (Z 1469-1476) Die dritte ungeplante Schwangerschaft nimmt Athina als eine von außen einbrechende Krise wahr. Die Entscheidung, das Kind auszutragen, stellt einen schwierigen, konfliktreichen Entscheidungsprozess in ihrer Biographie dar: „Das war so ein tragischer Moment in meinem Leben, wo ich erfahren habe, ich bin wieder schwanger, ob-.Ich war ja auch ganz nah dran ne ek, (schnipselt mit der Hand) ‘ne
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Abtreibung zu machen genau. Also ganz nah. Ich hatte schon einen Termin. Weil ich war mir sicher, ich will das nicht. Aber dann, hab’ich’ s mir anders überlegt und dann gemeint, ne ich behalt’s doch im Bauch. Aber-, und deshalb war ich die ersten drei Monate so schlimm-,also ich war schon schlimm drauf, weil-, ’ne Abtreibung ist ja auch-. Ich hab’ immer da, da-, also da hab ich mir überlegt behalte ich es, schlimm. Abtreibung schlimm. Es war so’ n hin und her emotional, óʌȦȢ ȞĮ IJȠ ʌİιȢ (dt. ganz gleich wie du es sagst) wie wir das sagen, weißt de, so oder so ist es schlimm.“ (Z 1028-1041) In der narrativen Darstellung deutet sich ein Verlaufskurvenpotential an, das aber im weiteren Verlauf der Schwangerschaft überwunden wird. Athina findet einen Weg, ihr Bedürfnis nach „subjektivem Freiraum“ und Unabhängigkeit auf der berufsbiographischen Ebene symbolisch auf die flächenräumliche Ebene zu übertragen. Sie kauft sich mit der finanziellen Unterstützung ihres Vaters mit ihrem Mann eine größere Wohnung und entzieht sich der sozialen Kontrolle des familiären Umfeldes ihres Mannes. Der Umzug trägt maßgeblich dazu bei, dass „wieder ’ne bessere Zeit“ in ihrem Leben eingeleitet wurde. Athina realisiert nach dem Umzug, dass sie ihre eigenen transnationalen familiären Netzwerke als Ressource für die Gestaltung ihrer Biographie mobilisieren kann. In dieser biographischen Phase nutzt sie den transnationalen Raum als Ressource und geht für die Geburt des dritten Kindes wieder nach Deutschland, weil sie dort ihr familiäres Netzwerk zur Unterstützung der Kinderbetreuung mobilisieren kann. Nach der Geburt ihrer dritten Tochter in Deutschland befindet sie sich in der „Genderfalle“, da sie wegen der Kinder nicht berufstätig sein kann. „Ich bin mit drei zu Hause, leider. Als Hausfrau eben. Das was ich nie wollte aber, naja. Ich hoffe es wird mal besser.“ (Z 583-584)
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Das Handlungsschema der geographisch mobilen Mutter Athinas Strategie, dieser Falle zu entgehen, besteht darin, dass sie ein biographisches Handlungsschema der „geographisch mobilen Mutter“ in transnationalen Räumen entwirft. Nachdem sie die dritte Tochter in Deutschland zur Welt bringt, setzt in ihrer Lebensgestaltung eine ausgeprägte Disposition zur geographischen Mobilität ein. „Jetzt mache ich immer das. Jede sechs, sieben, acht Wochen, alle paar Monate komme ich immer her, meine Eltern besuchen und lebe dann ne Zeitlang hier und dann wieder ne zeitlang dort“. (Z 585-588) Wie auch während der Studienzeit gestaltet sie ihr Leben trotz familiärer Verpflichtungen in zwei Ländern. Sie hat zwei Wohnsitze und pendelt zwischen Deutschland und Griechenland mit ihren drei Töchtern hin und her. Aus der eigenen biographischen Erfahrung heraus, als Kind weggeben worden zu sein, möchte sie für ihre drei Kinder ganz persönlich sorgen. Für Athina kommt daher auch die Möglichkeit nicht infrage, die Töchter in der Firma ihres Mannes in der Kindertagesstätte abzugeben und wieder ins Berufsleben einzusteigen, auch wenn sie gerne arbeiten gehen würde. Um sich aber dennoch ihre Freiräume schaffen zu können, entscheidet sie sich für die Pendelstrategie, weil sie dadurch auch ihre Eltern als Ressource für die Erweiterung ihrer Handlungsräume mobilisieren kann. Während die in der Kindheit angelegte Pendelmigration im Laufe ihrer biographischen Entwicklung zu einem biographischen Plan geführt hat, in dem die Rückkehrorientierung nach Griechenland im Vordergrund stand und faktisch- biographisch auch zusammen mit dem Mann umgesetzt wurde, besteht der biographische Zukunftsplan, den sie als verheiratete Frau und Mutter entwickelt, darin, eine Form von geographischer Mobilität weiterzuleben, durch die sie lebenspraktisch sowohl Herkunfts- als auch Ankunftsgesellschaft verbinden kann. Für die lebenspraktische Umsetzung des Handlungsschemas der geographisch mobilen Mutter ist neben dem ökonomischen Kapital auch das Vorhandensein mehrerer Wohnsitze ganz zentral. Athina hat sowohl einen Wohnsitz in Griechenland als auch in Deutschland. Sie ist in beiden Wohnsitzen fest verankert. Die Familie hat zwei Staatsangehörigkeiten und durch
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ihren rechtlichen Status als EU-Bürgerin ist Athina als privilegierte Migrantin in der faktischen Umsetzung ihres geographisch mobilen Lebensmusters nicht eingeschränkt. Sie kann sich freizügig innerhalb der EU bewegen, und ihr stehen fortwährend mehrere Wohnsitze für die Lebensgestaltung zur Verfügung. Athina ist auch an beiden Wohnsitzen fest verankert. Sie fühlt sich an beiden Orten „zu Hause“, und ihre Lebensgestaltung ist transnational ausgerichtet. Athina verdeutlicht, dass „zu Hause“ für sie in verschiedenen Lebensphasen Unterschiedliches bedeuten kann. Während sie in ihrer Jugendzeit Athen als ihr zu Hause bezeichnet hat, fühlt sie sich heute sowohl in Griechenland als auch in Deutschland zu Hause. Athina entzieht sich einer „entweder oder“ Position, die nationalen Kategorie verhaftet ist, und weist Fremdzuschreibungen zurück, die eine mononationale Positionierung einfordern. „Zuhause ist irgendwie beides. Beides. Ich kann nicht sagen, Griechenland oder Deutschland. Und das ist das Problem, was nicht ich damit hab’ sondern die, die mich das fragen. Lehrer, Sozialwissenschaftler, Freunde. Ich erleb’ das oft in Athen. Die wollen dann hören, entweder das eine oder das Andere. Aber es ist für viele nicht vorzustellen, dass beides geht. Dass ich als Athina zwei Zuhause habe und das sage ich nicht einfach so, das fühle ich auch so.“ (Z 1348-1355) Die Transformation der Rückkehrorientierung zur transnationalen Lebensorientierung Athina konstruiert in ihrer biographischen Erzählung das im Jugendalter von den Eltern intendierte Handlungsschema der Remigration als biographischen Gegenentwurf zu den elterlichen Verbleibesabsichten in Deutschland. Es ist aber nicht nur Athinas eigentheoretischer Gegenentwurf, sondern das Aufrechterhalten von Optionen, das ein ebenso starkes Motiv mit „strukturerzeugender“ Kraft darstellt. Athinas Eltern, deren Migrationsprojekt aus ökonomischer Sicht sehr erfolgreich verläuft, erfahren in der Migration einen Statusgewinn, der symbolisch durch die Investition von mehre-
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ren Immobilien in Griechenland und Deutschland sichtbar wird. Durch die Wohnsitze in beiden Ländern erhalten sie sich und ihren Kindern die Lebensmöglichkeiten sowohl in Deutschland als auch in Griechenland. Das Migrationsprojekt der Eltern war über mehrere Jahre durch eine Offenheit bzw. Unentschiedenheit gekennzeichnet, die sich insbesondere darin ausgedrückt hat, dass die Schulbesuchsentscheidungen für die Kinder vor dem Hintergrund der Frage „Gehen wir zurück oder bleiben wir hier?“ getroffen wurden. Für Athinas biographischen Verlauf stellt in dem Zusammenhang die Entscheidung für den griechischen Bildungsweg ein strukturerzeugendes Moment dar, sowohl für den Bildungsaufstiegsprozess als auch für die Entstehung einer transnationalen Pendelmigration. Athina modifiziert den biographischen Entwurf der endgültigen Rückkehr im Verlauf ihrer Biographie. Der Rückkehrgedanke wandelt sich im Verlauf des biographischen Prozesses zu einer transnationalen Lebensorientierung. 6.1.5 Zusammenfassung Zur Strukturiertheit von Athinas Biographie lässt sich konstatieren, dass die bereits in der Kindheitsphase ausgeprägte geographische Mobilität den Ausgangspunkt einer biographischen Eigenlogik darstellt, bei der die geographische Mobilität einen immer wiederkehrenden Bestandteil der Biographie darstellt, die sich im biographischen Prozess zu einer transnationalen biographischen Struktur verfestigt. Athinas Lebensgestaltung ist bereits im Kleinkindalter durch das Hinund Herpendeln zwischen Deutschland und Griechenland strukturiert. Athina ist dem elterlichen Arbeitsmigrationsprojekt passiv ausgesetzt. Seit ihrem Kleinkindalter erfährt sie das elterliche Projekt der Migration als Prozessstruktur, die sie nicht steuern kann. Obwohl in der Ausgangslage von Athinas Biographie durch die migrationsbedingten Trennungserfahrungen als Kind und das Pendeln zwischen zwei Ländern und Bildungssystemen ein großes Potential für eine verlaufskurvige Entwicklung der Biographie vorhanden ist, kommt es nicht zu einem negativen Verlauf. Ausschlaggebend für die Überwindung der Verlaufskurvenerfahrungen ist ein Geflecht von Faktoren, das dazu führt, dass es zu einer Stärkung der Identitätsfigur kommt. Dazu gehört neben der Verarbeitung der Trennungserfahrungen und der Generationenarbeit die institutionelle Unterstützung durch
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bedeutsame signifikante Andere, die Athina emotional unterstützen und fördern. Athina kann dadurch die Prozessierung soweit emotional und intellektuell verarbeiten, das es ihr gelingt ihr, die Prozessierung in ihrer Biographie so umzuwandeln, dass sie kreativ eigenes Handeln anschließen kann. Sie durchläuft trotz der Trennungs- und Pendelmigrationserfahrung in der Kindheit und Jugend eine erfolgreiche Bildungslaufbahn, die durch einen transnationalen Charakter gekennzeichnet ist. Während ihrer Schulzeit wechselt sie migrationsbedingt fünf verschiedene Schulen. Sprach- und Anpassungsschwierigkeiten in der Schulzeit, sowohl in Griechenland als auch in Deutschland, werden gut überwunden. Das akkumulierte transnationale biographische Wissen stellt eine zentrale Ressource für den Bildungsaufstieg in der Migration dar. Der transnationale Bildungsverlauf führt nicht nur zu einem Bildungsaufstieg, sondern zu einer transnationalen Lebensweise, die sich nationalen Einteilungsmustern entzieht und durch eine geographische Mobilität gekennzeichnet ist. Die biographischen Erfahrungen aus unterschiedlichen nationalen und kulturellen Kontexten verdichten sich zu transnationalen sozialen Räumen, die biographisch hergestellt werden und eine zentrale biographische Ressource für Athinas biographische Projekte darstellen.
6.2 D ER F ALL J ANNIS 6.2.1 Kontaktaufnahme Jannis ist zum Zeitpunkt des Interviews 41 Jahre alt. Er ist Professor an einem sozialwissenschaftlichen Fachbereich einer griechischen Universität. Er lebt mit seiner Freundin in einer Kleinstadt auf der griechischen Insel Rhodos, wo er auch seinen Hauptwohnsitz in Griechenland hat. Ich lernte Jannis über gemeinsame Bekannte während eines Forschungsaufenthaltes an der Universität von Rhodos kennen. Ich traf ihn einige Male bei Feiern von Freunden und habe auch Veranstaltungen in einem Forschungszentrum besucht, die er organisiert hat. Jannis zeigte sich von Anfang an sehr interessiert an meinem Forschungsthema über Grenzüberschreitungen bei der zweiten Generation. Als ich ihn eines Tages zusammen mit seiner Freundin bei einer Feier von Freunden traf, fragte ich ihn, ob ich ihn für meine Forschung interviewen dürfe. Er willigte sofort
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ein, stellte aber auch gleich eine Bedingung. Ich sollte ihm den Kontakt zu einer befreundeten Künstlerin vermitteln, die zeitgleich wie ich auf Rhodos war, und mit ihr und einigen Schülern zusammen eine Wand in einem Beratungszentrum mit einem Wandbild gestalten. Ich willigte dem Arbeitsbündnis „Lebensgeschichte gegen Wandbild“ ein, und wir vereinbarten gleich einen Termin für ein Vorgespräch. Das Vorgespräch fand ein paar Tage später in Jannis’ Büro an der Universität statt. Er wollte von mir wissen, mit welchen Konzepten ich arbeite, und fragte mich sehr ausführlich nach meiner methodischen Vorgehensweise ab. Ich gab ihm bereitwillig Auskunft und sagte ihm, dass ich mit einem sehr offenen Konzept arbeite, das unter dem Forschungsstil „Grounded Theory“ bekannt ist, und dass ich gerne ein Interview mit ihm durchführen würde, das in der Literatur als narrativ- biographisches Interview bezeichnet wird. Da er mit dem Verfahren nicht vertraut war, erzählte ich ihm, dass dies eine besondere Interviewform sei, die dadurch gekennzeichnet ist, dass ich ihn zu Beginn des Gespräches nach seiner Lebensgeschichte fragen werde und erst, nachdem er mir seine Lebensgeschichte erzählt hat, einige Nachfragen stellen werde, die sich aus dem Gespräch ergeben werden. Er erzählte mir, dass er bisher nur mit strukturierten Interviews gearbeitet habe. Nachdem wir ca. eine halbe Stunde Small Talk über Methodenbücher gehalten hatten, lud er mich dann noch auf einen Kaffee in der Uni-Cafeteria ein. Auf dem Weg dorthin frage ich ihn, wo er denn interviewt werden wolle und er schlug seine Wohnung als Interviewort vor, damit wir während des Interviews nicht gestört werden. Er gab mir dann noch eine Wegbeschreibung mit, und nachdem ich mich verabschiedet hatte, rief er mir lachend hinterher, dass er „stundenlang erzählen“ werde. Ich hatte nach dem Gespräch den Eindruck, dass Jannis ein ernsthaftes Interesse an meiner Forschung hatte und dass er gerne bereit war, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Für das Zustandekommen des Arbeitsbündnisses schien mir weniger die Tatsache von Bedeutung, dass ich selbst auch einen griechischen Migrationshintergrund hatte, sondern vielmehr, dass ich als Studentin einer deutschen Universität auf der Insel forschte. 6.2.2 Interviewdurchführung Das Interview mit Jannis fand in seiner Wohnung in einer Kleinstadt auf der griechischen Insel Rhodos statt. Die Wohnung befindet sich mitten in
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der Stadt in einer Nebengasse nahe der Küste. Als ich dort eintraf, war die Haustür bereits offen und Jannis stand im Jogginganzug in der Wohnküche und war am Telefonieren. Er sagte mir, dass ich reinkommen solle, und telefonierte weiter. Ich wartete ca. 5 Minuten, bis er das Gespräch beendet hatte, und betrachtete in der Zwischenzeit zwei sehr große abstrakte Gemälde, die in der Wohnung hingen. Nachdem Jannis aufgelegt hatte, begrüßte er mich und fragte mich, ob ich den Weg leicht gefunden habe. Da ich bisher noch nicht in seiner Wohnung war, führte er mich herum und erzählte mir, dass die Bilder an der Wand von seinem besten Freund, einem Künstler, seien, mit dem er seit seiner Kindheit befreundet ist. Jannis fragte mich, was ich trinken möchte. Während er mir ein Glas Wasser holte, schaute ich mir seine Bücherregale an. Ich stellte fest, dass er kaum griechischsprachige Literatur im Bücherregal hatte, was mich zu der Frage veranlasste, ob er denn nur deutsche Bücher lese. Er erwiderte lachend, dass die griechische Psychologiefachliteratur nicht lesenswert sei. Jannis holte mir einen Stuhl aus der Küche und nahm selbst auf der Récamière neben dem Bücherregal Platz. Dann stand er noch einmal auf und machte die Eingangstür zu. Während ich mein Aufnahmegerät herausholte, sortierte er noch einige Unterlagen, und wir unterhielten uns über das Wetter. Jannis zog dann seine Birkenstock-Hausschuhe aus und setzte sich so auf die Récamière, dass er halb liegend mit angewinkelten Knien mir schräg gegenübersaß. Er nahm ein Kissen und legte es hinter seinen Rücken. Zunächst legte er sich gerade hin, dann zog er die Beine wieder an. Ich war zunächst sehr irritiert, weil ich das Gefühl hatte, dass er ein psychotherapeutisches Setting inszeniert. Er brauchte einige Minuten, um die richtige Position auf der Récamière zu finden. Dann schaute er auf die Uhr und sagte mir, dass wir anfangen könnten. Während des Interviews schaute er mich kaum an. Ich stellte meine Eingangsfrage auf Deutsch, da wir meistens deutsch miteinander sprachen, wenn wir uns begegneten. Jannis erzählt mir seine Lebensgeschichte auch auf Deutsch. Die Wahl der Sprache wurde weder beim Vorgespräch noch während der Interviewsituation thematisiert. Jannis sprach sehr langsam und deutlich. Er brach aber oft auch Sätze ab und stotterte ab und zu während seiner biographischen Erzählung. Er begann die Erzählung der Lebensgeschichte mit der Beschreibung einer Szene aus der Erinnerung seiner Kindheitsjahre. In der Haupterzählung präsentierte er seine Lebensgeschichte chronologisch und stellte dabei die aus seiner Sicht besonderen Ereignisse in den Mittelpunkt, die er auch als besonders
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erzählenswert einführte, meistens mit den Worten „das Besondere war“. Er lachte sehr oft während des Interviews, vor allem an Stellen, die sehr problematisch sind, um sich dadurch von dem Gesagten zu distanzieren. Jannis erzählte seine Lebensgeschichte sehr „bildhaft“, führte viele sozialkritische Aspekte ein und stellte die Erfahrungen, über die er berichtete, stets in einen sozialpolitischen Kontext. Nach längeren narrativen Passagen folgte oft eine Evaluation der thematisierten Lebensphase. Er beendete die Haupterzählung mit einer sehr eindeutigen Koda, indem er sagt „machen wir Pause“ und das Aufnahmegerät ausschaltete. Ich hatte den Eindruck, dass Jannis trotz seiner sehr offenen Art zu erzählen sehr bemüht war, die Interviewsituation zu kontrollieren. Das Bedürfnis nach Kontrolle hat sich während der biographischen Erzählung sprachlich einerseits darin gezeigt, dass es oft zu Wortabbrüchen kam und dass er Evaluationen einführte und Erklärungen einschob. Auf der non-verbalen Ebene ist dies insbesondere dadurch vermittelt worden, dass er zwei Mal nach meinem Aufnahmegerät gegriffen und es ausgeschaltet hat: einmal während der Haupterzählung, bevor er die Migration nach Griechenland thematisch eingeführt hat (Z 1051), und einmal zum Ende der Haupterzählung (Z 1252). Das Ende des Interviews wurde durch ein Telefongespräch unterbrochen, nach dem Jannis umgehend an die Universität gefahren ist. Er nahm mich auf dem Weg dorthin im Auto mit, um mir zu zeigen, wo sich das Gebäude befindet, für das ich zusammen mit einer Freundin das Wandbild anfertigen sollte. Ein weiteres Interview, in dem ich gerne noch Nachfragen gestellt hätte, konnte ich nicht mehr mit ihm führen, weil sich das zeitlich während meines Forschungsaufenthaltes nicht mehr einrichten ließ. Aber Jannis war nach dem Interview bereit, mir für Nachfragen zu seinem Lebensverlauf auch weiterhin zur Verfügung zu stehen. 6.2.3 Biographisches Portrait Jannis wurde 1962 in einem Dorf in Nordgriechenland geboren. Seine Eltern verlassen ein Jahr nach seiner Geburt ihr Herkunftsdorf und gehen im Rahmen des Anwerbeverfahrens nach Deutschland. Seine ersten fünf Lebensjahre verbringt Jannis mit seiner Schwester, die ein paar Jahre älter ist als er, bei seiner Tante im Dorf. Die Eltern sieht er nur im Sommer, wenn sie nach Griechenland fahren, um ihren Urlaub mit den Kindern zu verbringen. Jannis’ Eltern kehren Anfang April 1967 wieder nach Griechenland in
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ihr Herkunftsdorf zurück, weil Jannis’ Vater einen Arbeitsunfall in Deutschland hat. Die Eltern müssen das Land aber nach dem Militärputsch 1967 wieder verlassen, da sie beide politisch links sind und als Kommunisten im Dorf bekannt sind. Jannis’ Mutter, die noch ein gültiges Visum hat, geht wieder zurück nach Deutschland. Sein Vater muss in Griechenland zurückbleiben, da er keine gültigen Papiere hat, um auszureisen. Er versorgt ein paar Monate Jannis und seine Schwester. Nachdem er sich einen gültigen Ausweis organisiert hat, hinterlässt er die Kinder bei einer Tante und flüchtet nach Deutschland. Von seinem fünften bis zu seinem achten Lebensjahr lebt Jannis dann mit seiner Schwester bei der Großtante, die auch noch weitere Kinder aus der Verwandtschaft auf ihrem Bauernhof hütet. Als sich die politische Lage in Griechenland zuspitzt, nimmt die Mutter die Kinder während eines Kurzurlaubs im Herbst 1970 mit nach Deutschland, und die Familie wird wieder zusammengeführt. Jannis wird in einer griechischen Grundschule in Freiburg eingeschult und besucht parallel dazu auch eine Vorbereitungsklasse in einer deutschen Schule, um die deutsche Sprache zu lernen. Nach kurzer Zeit erkrankt er und hat einen längeren Aufenthalt in einer Kinderklinik. Er besucht nach seiner Entlassung weiterhin die griechische Schule bis zur vierten Klasse. Als Jannis in der vierten Klasse ist, entscheiden sich seine Eltern mitten im Schuljahr, die Kinder auf eine deutsche Schule zu schicken. Jannis wechselt dann nach der vierten Klasse auf eine Hauptschule. Er nimmt aber nach kurzer Zeit an den Aufnahmeprüfungen für das Gymnasium teil und wechselt von der Hauptschule auf das Gymnasium. Zeitgleich wird seine Schwester von den Eltern auf ein deutsches Internat geschickt. Während der Schulzeit ist Jannis politisch aktiv und gründet kurz vor dem Abitur mit Freunden einen Dritte-WeltLaden. Nachdem er im Jahr 1982 das Abitur gemacht hat, bewirbt er sich in Deutschland für einen Studienplatz in Medizin, nimmt aber auch im gleichen Jahr an den griechischen Hochschulzulassungsprüfungen für AuslandsgriechInnen teil und bewirbt sich auch an Universitäten in Italien und in Jugoslawien. Nach einem Jahr Wartezeit, in dem er in einer Bäckerei jobbt und durch Europa reist, erhält er einen Studienplatz für Psychologie an der Universität in Heidelberg. Nach dem Vordiplom in Psychologie beginnt er ein weiteres Studium in Sozialarbeit. Er schließt das Doppelstudium nach sechs Jahren erfolgreich ab und arbeitet dann fünf Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt an einer deutschen Universität, wo er auch in den Sozialwissenschaften promoviert. Als
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seine Stelle an der Universität ausläuft, wird er arbeitslos. Er nutzt die Arbeitslosigkeit, um seine Doktorarbeit abzuschließen. Im Anschluss bewirbt er sich an einer griechischen Universität für eine Professur und sucht in Deutschland nach einer Finanzierungsmöglichkeit und einem Betreuer für seine Habilitation. Als der Forschungsantrag für sein geplantes Habilitationsprojekt nicht genehmigt wird, zieht er Anfang 1997 zu seinen Eltern nach Griechenland ins Dorf und absolviert seinen Militärdienst. Er erhält zunächst eine Stelle als Lektor an einer griechischen Universität in Mittelgriechenland, bevor er 1998 einen Ruf an die Universität Rhodos annimmt. Die ersten zwei Jahre nach seinem Umzug von Deutschland nach Griechenland pendelt er zunächst zwischen mehreren Wohnorten in Griechenland und Deutschland, bis er Ende des Jahres 1999 seinen Hauptwohnsitz nach Rhodos verlagert. 6.2.4 Biographische Fallanalyse Die Kindheitsjahre im Dorf Jannis beginnt die Erzählung seiner Lebensgeschichte nach einer Denkpause von über einer Minute mit dem Kommentar „(84 Sek.) Ist gar nicht so einfach, wo man anfangen-, der Anfang ist schwierig (lacht).“ (Z 3-4) Damit verdeutlicht er nicht nur, dass er sich schwer tut, meine Eingangsfrage nach der Erzählung der Lebensgeschichte zu ratifizieren, sondern auch, dass die ersten Jahre seiner Lebensgeschichte nicht einfach zu thematisieren sind. Er führt dann seine Lebensgeschichte vor der Folie einer Schlüsselerinnerung aus seiner frühen Kindheit ein, die er auf dem Land bei seiner Tante verbracht hat. „Der Anfang (5 Sek.). Der Anfang ist eine große runde Melone (lacht leise) auf einem blauen Traktor (7Sek).“ (Z 7) Die Eröffnungssequenz ist sehr literarisch und erinnert an einen autobiographischen Roman. Allerdings ist Jannis als Biograph nicht präsent zu Beginn der Lebensgeschichte. Die Bilder existieren schon, bevor er sich mit seiner Lebensgeschichte als Biograph einführt. Er setzt in seiner biographischen Erzählung die szenische Darstellung fort und führt sich als Person ein
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beim Versuch, die Kindheitserinnerung chronologisch zu verorten. Dabei leitet er die Abwesenheit der Eltern in den Kindheitsjahren als thematisches Feld ein: „Wann das war, weiß ich nicht. Irgendwann vor 67 und nach 62. Weil meine-, meine Eltern sind ja-, nach-, nach 63 sicher. Das heißt, nachdem meine Eltern nach Deutschland sind.“ (Z 9-11) Bei dem Versuch, die szenische Erinnerung biographisch zu verorten, markiert er das Jahr 1967 als Anfangspunkt. Im Jahr 1967 fand in Griechenland der Militärputsch statt, und das ist das Jahr des Beginns der Militärdiktatur. Jannis verdeutlicht durch die Benennung des Jahres als Anfangspunkt seiner Erinnerung die zentrale Bedeutung der Militärdiktatur für sein Leben. Bevor er das Thema weiter entfaltet, führt er aber seine Tante und seinen Onkel als Ersatzeltern ein. Dabei verspricht er sich und bezeichnet seine Tante als Mutter: „Eh wir waren bei der Mutter-, eh also die Mutter meines, eh die Schwester meiner Mutter, die hat auf uns dann aufgepasst.“ (Z 15) Jannis korrigiert sich und berichtet, dass die Erinnerungen an die frühen Kindheitsjahre mit der Tante und dem Onkel verbunden sind. Der Onkel ist auch die erste biographisch relevante Person, die in seinen Bildern aus den Kindheitsjahren präsent ist: „eins der ersten Dinge, wo ich mich erinnern kann, ist eine große eh, ein-, mein Onkel der mit dem blauen Traktor gekommen ist. Vorbei gekommen ist und seine große blaue Melone drauf hatte. Aber die runde Melone, nicht diese, die später dann, die amerikanischen. Ja, das ist dann (hustet) das ist ungefähr der Anfang (5 Sek.).“ (Z 17-21) Jannis beginnt die Erzählung seiner Lebensgeschichte mit einer szenischen Darstellung, so muss er sich nicht als das von den Eltern verlassene Kind
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präsentieren. Die szenische Darstellung der Bilder zu Beginn seiner biographischen Erzählung führt zu einer Distanz mit sich selbst. Sind es tatsächlich Fragmente von Kindheitserinnerungen, die er zu Beginn schildert, oder sind die szenische Darstellung der Bilder zu Beginn seiner biographischen Erzählung und die blaue Melone eine Metapher? Normalerweise sind Melonen grün und nicht blau. Es könnte sich womöglich um einen von Natur aus blauen Kürbis gehandelt haben, den Jannis als Melone wahrgenommen hat. Aber da es sehr unwahrscheinlich ist, dass Anfang der 1960er Jahre in einem Dorf in Nordgriechenland blaue Kürbisse aus Ungarn angebaut wurden, liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei der blauen Melone um eine Metapher handeln könnte. Für was könnte die Melonenszene stehen? Sie könnte für die vom Vater übernommene Phantasie der Verwurzelung mit dem Ort stehen, den er verlassen musste. Denn die Migrationsgeschichte von Jannis’ Familie ist auch die Geschichte der politischen Verfolgung seines Vaters, eines kommunistischen Widerstandskämpfers. Der Vater wurde von den Rechten verfolgt, verhaftet und gefoltert und musste Griechenland bereits Anfang der 1960er Jahre verlassen. Nachdem er während der Militärdiktatur illegal aus Griechenland geflüchtet war, konnte er mehrere Jahre nicht nach Griechenland einreisen. Nachdem die Eltern Jannis im Alter von einem Jahr mit seiner größeren Schwester der Verwandtschaft übergeben haben, gehen sie 1963 im Rahmen des Anwerbeverfahrens nach Deutschland und bleiben dort für vier Jahre. Die Eltern kehren im April 1967 wieder nach Griechenland zurück mit der Perspektive, im Dorf zu bleiben. Sie pflanzen Tabak an und bauen die alte Lehmhütte, in der sie vor der Auswanderung gewohnt haben, in ein Haus um, damit sie dort mit ihren Kindern leben können. Allerdings spitzt sich die politische Lage in Griechenland so zu, dass die Eltern ihre Bleibeabsicht nicht umsetzen können: „Aber meine Eltern sind nicht lange geblieben, die sind dann wieder gegangen, weil E- Ende April gab es den Militärputsch in Griechenland. Was für meine Eltern, für mein-, für die Eltern gefährlich war, weil sie politisch, eh nicht gemäß waren und mein Vater war auch krank. Das war dann auch der Grund, warum sie aus Deutschland weg sind eigentlich. Weil er krank wurde, dass man wohl, eh Gefallen hat’s ihm nie da oben. Nie in Deutschland,
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aber er muss wohl (…) Also er hat einen Unfall gehabt einen Arbeitsunfall. Wobei dieser Unfall was mit-, mit seinem Zustand zu tun hatte. Er ist , er ist umgefallen und hat sich- hat sich- hat sich den Kopf eingeschlagen und=eh war. Er sagt wohl, das hat was mit dem-, was man in d-der Literatur als eh, Melancholie nennt. Eh bezeichnet Migrantenmelancholie.“ (Z 31-35) Jannis führt einen Arbeitsunfall des Vaters als Grund für die Rückkehr nach Griechenland ein. Interessant ist dabei, dass er die Krankheit seines Vaters mit seiner Somatisierung, seinem seelischen Befinden und im Grunde mit seiner ganzen Existenz in der Migration sofort in einen Zusammenhang bringt und ihm eine „Migrantenmelancholie“ diagnostiziert. Er umschreibt damit den Verlust der Heimat als Grund für die Erkrankung des Vaters. Zeitgleich zweifelt er aber selbst an der Diagnose aus der Fachliteratur: „Wie weit das wahr ist, weiß ich nicht. Eh je nachdem wie, wann-, in welcher Stimmung er darüber erzählt, ist es dann so ein bißchen anders immer. Wahr ist, dass es in-, dass es meinen Eltern nicht gefallen hat alleine und wahr ist auch, dass sie nicht wollten, dass wir in Griechenland, also getrennt und die sind dann gekommen und mein Vater war eben nicht bei Sinnen, in Anführungszeichen als sie gekommen sind und im Lauf der Monate ist er wohl zu Sinnen gekommen, hat dann wohl registriert oder realisiert, wo sie sind und was passiert ist. Also, die Konsequenzen vom Putsch und hat dann meine Mutter wieder nach Deutschland geschickt. Weil, sie hat noch ein Visum gehabt. Was ja damals eh wichtig war.“ (Z 42-49) Die elterliche Entscheidung, dass sie wieder nach Griechenland zurückgehen, wird plötzlich zu einem Ausbruch eines Symptoms. Jannis erlebt den an Depressionen leidenden Vater als jemanden, der nicht ganz bei sich ist. Der Vater verliert nach dem Arbeitsunfall seinen Zeitsinn und braucht meh-
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rere Monate, um sich wieder zu erholen. Jannis verdeutlicht durch seine Zweifel an der Darstellung, dass für ihn die elterlichen Entscheidungen in der Zeit nicht rational nachzuvollziehen gewesen sind. Er versucht aber in der Retrospektive, die Entscheidung der Eltern zu rationalisieren, und führt den eigentheoretischen Entwurf ein, dass die Eltern nicht wollten, dass sie getrennt von den Kindern leben. Daraus könnte auch eine Traumatisierung des Getrenntseins sprechen. Die Familie muss sich nach der kurzen Zusammenführung im Frühjahr 1967 wieder trennen. Jannis’ Mutter, die noch ein gültiges Visum und eine Arbeitserlaubnis für Deutschland hat, geht wieder zurück nach Deutschland, und der Vater verbleibt bei den Kindern: „Aber im Sommer mitten in der Ernte hat mein Vater meine Mutter weg-, wieder weggeschickt und der hat dann auf uns-, weil er kein Visum hatte, konnte er nicht weg und er konnte nicht nach Deutschland zurück und dann ist er geblieben, hat auf uns Kinder aufgepasst. Da habe ich auch so Bilder, Erinnerungen, wie er da so versucht, uns zu füttern und was auch immer (lacht) und=eh am Ende vom Jahr ist dann auch er gegangen Ende 1967 (hustet).“ (Z 54-59) Der Versuch der Darstellung der gemeinsamen Zeit mit dem Vater unterstreicht die These der Traumatisierung. Die Darstellung ist nicht plausibel, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass der Vater ein fünfjähriges Kind noch füttern muss. Wahrscheinlich ist dagegen, dass Jannis versucht, die Lücke der Kindheit zu füllen mit dem Bild des fürsorglichen Vaters. Mit der Floskel „Wie auch immer“ signalisiert er, dass im Grunde das Bild des fütternden Vaters nicht mit seiner Erinnerung übereinstimmen kann und dass es eine Denk- bzw. Wunscherinnerung ist. Er will damit sagen, dass der Vater in der kurzen Zeit, die er mit den Kindern zusammengelebt hat, das Verhältnis zu den Kindern nachholen wollte. Der Vater muss allerdings Griechenland verlassen, da sich die politische Lage weiter zuspitzt und er als bekennender Kommunist und Regimegegner in Lebensgefahr ist, und dies nicht zum ersten Mal in seinem Leben. Vor der Militärdiktatur wurde er bereits Anfang der 1960er Jahre verfolgt, bevor er das erste Mal nach Deutschland ausgewandert ist. Mit der Hilfe eines alten Bekannten, der
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Kontakte zum royalistischen Lager hat, erhält Jannis’ Vater gefälschte Papiere und flüchtet aus Griechenland nach Deutschland. Die Kinder werden von der Tante des Vaters aufgenommen, einer älteren Frau, die aus Verpflichtung auf sie aufpasst. Bei der Großtante verbringt Jannis zusammen mit seiner Schwester und weiteren Kindern die nächsten Jahre in einer Mehrgenerationenfamilie in der Dorfgemeinschaft in den Bergen. Jannis schildert diese Zeit als „richtiges Landleben“ in der Natur, das für ihn mit der Erinnerung an schöne Landschaftsbilder und einem beeindruckenden Erlebnis jedes Jahr verbunden ist: „jeden, immer im Sommer kam meine Mutter aus Deutschland. Also mein Vater konnte nicht mehr, weil er ist ja quasi halb illegal raus und konnte nicht mehr einreisen und meine Mutter konnte aber.“ (Z 100-103) Den Vater sehen die Kinder mehrere Jahre nicht, da er während der Militärdiktatur nicht mehr einreisen kann. Er stellt in der Zeit als politisch Verfolgter einen Asylantrag in Deutschland, der allerdings nicht genehmigt wird. Die Mutter kommt zwar einmal im Jahr in den Sommermonaten zu Besuch, aber Jannis kann keine emotionale Bindung zu ihr aufbauen, da sie für ihn weitgehend eine fremde Frau ist: „Beeindruckend war, das ist-, daran kann ich mich auch sehr gut erinnern, dass wir da gespielt haben, also mit sieben Jahren, wir haben da Sommer-, da in (…) irgendeinem Garten (lacht), das heißt, es war Sommer, heiß, sehr hell und dass da eine Frau kommt mit einem Kleid aus den 60’er Jahren. Also es muss was rötliches gewesen sein, was die Frauen damals anhatten und ’n Koffer, des- ehsie trug, und sie kam dann quasi von der Hauptstrasse in die Gasse und dann sagt der-, der Junge, mit dem wir gespielt haben, guck mal, deine Mama und punkt. Und dann sag ich, hallo Tante. Weil ich-, ich-, eh mir war also-, und dann, aber für meine Mutter war das nicht so nett (lacht), dass ich sie Tante nannte. Aber es war halt so-, hat am An-
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fang geheult, aber hat’s dann bitter getragen, sozusagen und dann war sie halt da eh’n Monat und hat dann, ist dann wieder gegangen, und die Kinder-, wir sind dann halt bei der Tante geblieben und (5 Sek.).“ (Z 108-120) Obwohl die ersten Lebensjahre von Jannis durch die Trennungserfahrung von den Eltern und deren politischer Verfolgung gekennzeichnet sind, stellt Jannis sich in seiner biographischen Selbstpräsentation während der Kindheitsjahre im Dorf in Griechenland nicht als leidendes Kind dar, sondern als ein Kind, das unter einfachen Verhältnissen auf dem Land in einer Mehrgenerationenfamilie aufgewachsen ist und eine glückliche Kindheit erlebt hat. Nachdem er in der Grundschule im Dorf eingeschult wird, wird seine Schullaufbahn allerdings unterbrochen, weil Jannis seine Dorfgemeinschaft verlassen muss. Die Migration nach Deutschland als getarnte Urlaubsreise nach Thessaloniki Als Jannis acht Jahre alt ist, kommt die Mutter während des Sommerurlaubs ins Dorf und nimmt die Kinder mit, weil die Familie Angst hat, dass das Regime die Kinder als Geisel benutzen könnte. Mithilfe eines Bekannten, der ihr Kontakte zum gegnerischen Lager verschafft, organisiert die Mutter für die Kinder Reisepässe und verlässt mit ihnen das Dorf. Aber sie erzählt den Kindern nicht, dass sie nach Deutschland gehen werden. „Wir Kinder durften das nicht wissen. Ich weiß das im Nachhinein (laut). Wir durften das nicht wissen-, eh damit wir nicht plappern halt. Weil wenn wir einfach plappern. Wir gehen nach Deutschland, wir gehen nach Deutschland, wir gehen nach Deutschland zu Pappa, dann erfahren das andere Kinder-, eh dann erfahren’s ihre Eltern, und dann weiß man nicht, w-, welche Maschine dann halt arbeitet. Und die offizielle Version, dass wir nach Thessaloniki fahren zur Messe. Zu der Internationalen Messe, die jeden September stattfindet.“ (Z 153-159)
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Jannis erlebt die Zugfahrt nach Deutschland als aufregende Reise. Erst als er die verschneiten Alpen sieht und sie bereits in Österreich sind, erzählt die Mutter den Kindern, dass sie auf dem Weg nach Deutschland zum Vater sind. Nachdem die Kinder drei Jahre lang den Vater nicht gesehen haben, findet die Familie im September 1970 in Freiburg wieder zusammen. Jannis lebt nach seiner Ankunft in Deutschland in einer Wohngegend mit einem hohen Migrantenanteil, wo er nur Kontakt mit anderen Migrantenkindern hat. Die Eltern arbeiten beide in einer Fabrik, ihr Arbeitsalltag besteht aus Arbeit und Schlaf. Ihr soziales Leben findet weitgehend in der griechischen Gemeinde statt, wo sie auch politisch aktiv sind. Die Familie wohnt in einer Sammelunterkunft in einem alten Haus auf engstem Raum in einer eineinhalb Zimmerwohnung: „Das war 1970 bevor die Altstädte renoviert wurden, wo die Toiletten draußen waren oder der Saugwagen, wo der die ganze Scheiße quasi abgesogen hat, bevor die Kanalisation richtig gemacht wurde und so weiter“ (Z196-199) Der Zusammenbruch und der Aufenthalt in der Kinderklinik Für Jannis ist die Migration nach Deutschland aber nicht nur mit Abenteuern, sondern auch mit einer extremen emotionalen Stresssituation verbunden. Er muss sich an sein neues Umfeld gewöhnen und spricht kein Deutsch. Er wird in der griechischen Schule eingeschult und besucht zeitgleich mit acht Jahren auch eine deutsche Sprachvorbereitungsklasse, damit er deutsch lernen kann. In der Anfangszeit geht es im gesundheitlich nicht gut, er verweigert das Essen, und die Mutter bringt ihn täglich zum Arzt. Obwohl Jannis in seiner biographischen Erzählung die schwierige Situation „als ein kleines Abenteuer“ bezeichnet, deutet sich eine Verlaufskurve an: „Tja das Besondere war in der Zeit, war das mit dem Kinderarzt (Stimme wird leiser). Da war was los und ‘n halbes Jahr später habe ich angefangen zu bluten. Also meine Nase blutete und die hat nicht aufgehört und meine, meine Mutter, also meine Schwester ist nach Hause gekommen, hat mich in eine Decke-, in einen Teppich, ich weiß nicht
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mehr genau, gewickelt und mich dann zum Arzt getragen. So wie ein Stück (lacht), wie so’ne Entführung und dann hat der Kinderarzt, der ( Stimme wird lauter), scheinbar im Nachhinein rekonstruiere ich das-, der das einfach, das nicht ernst genommen hat die Besuche. Ich war schließlich ein Ausländerkind-, und er hat dann nichts gemacht (laut) und erst, als ich dann dahin getragen worden bin, hat er einen Krankenwagen gerufen. Da bin ich in eine Kreiskinderklinik gekommen, bin nach Ludwigsburg (hustet) ich weiß nicht wie lange, zwei Monate glaube ich und dann haben die mich auf-, erst gründlich untersucht, alles. Darm, und was ich jetzt habe und alles (…).“ (Z 235-248) Im Kontext der Darstellung des Zusammenbruchs präsentiert sich Jannis das erste Mal in seiner Erzählung nicht als aktiv handelnder Junge. Das Bild des im Teppich eingewickelten Kindes verweist darauf, dass er nicht mehr selbst in der Lage war zu agieren. Er ist der „Entführung“ zum Kinderarzt passiv ausgesetzt, so wie er auch der Migrationsentscheidung der Mutter passiv ausgesetzt war, als diese entschieden hat, die Kinder nach Deutschland zu bringen. Aus der Retrospektive führt Jannis die Tatsache, dass der Arzt sein Krankheitsbild nicht ernst genommen hat, darauf zurück, dass er ein „Ausländerkind“ war. Dadurch verdeutlicht er, dass er aufgrund seiner Herkunft durch den Arzt diskriminiert wurde. In der Kinderklinik wird sein Krankheitsbild ernst genommen, und die Ärzte versuchen herauszufinden, ob die Essstörung auch organische Ursachen hat. Seine Mutter reagiert mit Entsetzen auf die Nachricht, dass der Sohn unterernährt ist und an Vitaminmangel leidet. Jannis präsentiert sich selbst nicht als leidend in der Kinderklinik. Er erzählt auch nicht seine Krankengeschichte auf der Folie seines eigenen Leides, sondern er stellt das Positive an dem Krankenhausaufenthalt in den Mittelpunkt seiner biographischen Darstellung. „Das Lustige und das Gute und das Interessante war, abgesehen davon, dass da tausend Leute Untersuchungen und gucken und machen, weil es neu war, dass ich als erstes manche Wörter Deutsch gelernt habe. Ich kann mich
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erinnern. Ich weiß noch, dass halt meine Mutter-, meine Schwester dann kam. Da habe ich ihnen gesagt, was Kissen auf Deutsch heißt. Weil das wussten sie nicht, woher auch. Ich wusste es ja, weil ich den ganzen Tag auf dem Kissen lag. Da habe ich das sicher auch behalten, das deutsche Wort. Aber da war ich ganz stolz drauf, dass ich mir einfach merken konnte, was Kissen war (…).“ (Z 263-268) Nachdem er während des Klinikaufenthaltes seine ersten Wörter auf Deutsch lernt, verbringt Jannis nach seiner Entlassung viel Zeit in der Natur mit einer „Meute von ausländischen Kindern“. Er schildert die Natur und den Spielplatz als Ort der Kindheit, die für ihn mit Abenteuern verbunden war: „Wir haben ne Hütte gebaut und dann Schnecken gesammelt und irgendwann gab es dann (…) und dann haben wir unsere eigene Schnecken gekocht und dann musste der eine Streichhölzer von zu Hause klauen und der andere Salz klauen, damit wir in unserer eigenen Hütte unsere Schnecken kochen. Also, solche Geschichten, dann also Abenteuer.“ (Z 287-291) Das Leiden der Anderen Jannis kann in seiner biographischen Erzählung das eigene Leid nur auf der Folie des Leids der Anderen vermitteln. Dadurch, dass er die anderen Familienmitglieder als leidend darstellt, relativiert er nicht nur sein eigenes Leid, sondern er erhält auch das Bild des „starken Jungen“ aufrecht, der in allen Lebensphasen mit Neugier durch das Leben geht, was er als Abenteuer empfindet. Während in den Kindheitsjahren noch der Vater der Leidende ist, der seit seinen jungen Jahren politisch verfolgt wurde und seine Heimat verlassen musste, sind dann die Mutter und die Schwester die Leitragenden seiner Lebensgeschichte. Insbesondere seine Schwester wird als Leitragen-
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de der Trennungsjahre und auch der Auswanderung nach Deutschland dargestellt: „Ich hab wohl für mich war das, diese Zeit war für mich eher ja Kinderglück auf dem dem Land. Ich kann mich zwar an viele Dinge erinnern. Also eh Bilder oder (…) aber ich hab’ da nicht so groß einordnen können die Zusammenhänge. Im Gegensatz zu meiner Schwester, die älter war und viele Dinge kapiert hat und auch dieses viel mehr kapieren war für sie dann auch dramatischer dann halt oder schlecht. Das heißt wenn jemand die Zeche bezahlt hat dafür, dass die Eltern uns verlassen haben, dann hat sie die Zeche bezahlt. Für mich war es einfacher (5 Sek.) es war halt wie es war. Es war halt für die kleinen Kinder interessant und so lang man Platz zum Spielen hat.“ (Z 120-128) Jannis durfte der Glückliche sein, weil die Schwester die Unglückliche war. Jannis kann das eigene Leid nur auf der Folie des Leids der Schwester thematisieren. Die Schwester leidet nicht nur unter der Trennung der Eltern, sondern auch unter den rechtskonservativen Lehrern in der Schule: „Aber für meine Schwester war das-, war das schon sehr tragisch sozusagen zum Teil. Weil-, weil sie während der Junta auch von den Lehrer malträtiert wurde, weil wegen-, um sozusagen gutes politisches Verhalten zu zeigen, hat der Lehrer sie dann quasi geärgert ja bestraft. Bestraft, weiß ich nicht, tja doch bestraft letztlich schlecht behandelt. Schlicht und einfach. Bezüglich der Noten. Bezüglich auf andere Sachen und so.“ (Z 131-135) Auch nach der Migration nach Deutschland ist Jannis, obwohl er offensichtlich leidet, durch den Ausbruch seiner Erkrankung nicht der Leidtragende der Geschichte, sondern die Schwester, für die die Auswanderung
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nach Deutschland „tragisch“ war und einen Bruch für ihre erfolgreiche Schulkarriere darstellt: „Für mich als kleines Kind war es Abenteuer. Also, eher erleben und nicht viel kapieren. Alles-, war eher neugierig, im Gegensatz zu meiner Schwester (lacht) die, wie gesagt Probleme hatte, weil sie-, wie gesagt, die Prüfung bestanden hat und somit ein gewisser Erfolg, es war-, war’ n Erfolg im Dorf, auf das Gymnasium zu kommen und eh (5 Sek.) da war sie nichts. Da musste sie die Sprache lernen. Kein Wort Deutsch, eh nichts mit Gymnasium und das ging weiter (hustet) und ansonsten ein Rückschlag oder ein-, drei Schritte zurück.“ (Z 204-211) Dass es nicht nur für die Schwester ein Rückschlag war, sondern auch für ihn selbst, weil er aufgrund der nicht vorhandenen Deutschkenntnisse im deutschen Schulsystem hätte zurück gestuft werden sollen, davon erzählt Jannis zunächst nichts. Aber er geht auf diese Problematik im Rahmen einer recht diffusen Darstellung der Schulzeit in Deutschland ein, die er in der Erzählung des Öfteren durch Hintergrundskonstruktionen unterbricht. Dies wiederum verdeutlicht auch die Brüche in der Schulkarriere. Die transnationale Grundschulzeit Jannis wird in der Grundschule in Griechenland eingeschult. In Deutschland angekommen, kann er seine Schulkarriere im deutschen Schulsystem zunächst nicht fortsetzen, da er keine Deutschkenntnisse aufweist. Jannis und seine Schwester besuchen in Deutschland zunächst im Sommer nach ihrer Ankunft einen Sprachkurs. Sie werden dann in der griechischen Schule angemeldet: „Wir sind in die Schule gegangen, in die Sprachschule, in die Deutschsprachvorbereitungsklassen und in die griechische Grundschule, Volkschule oder wie es auch immer heißen mag.“ (Z 214-217)
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Dadurch versuchen die Eltern, der Zurückstufung der Kinder im deutschen Schulsystem zu entgehen, und die Kinder können ihre im griechischen Schulsystem begonnenen Schulkarrieren fortsetzen. Zeitgleich sind die Eltern aber auch bemüht, den Kindern Deutschkenntnisse zu vermitteln. Da sie selbst kaum Deutschkenntnisse haben, schicken sie die Kinder auch in Sprachvorbereitungsklassen an einer deutschen Schule. Die Eltern halten aber während der Militärdiktatur am griechischen Bildungsweg der Kinder fest, obwohl sie politisch links orientiert sind und die an die griechischen Schulen entsendeten LehrerInnen rechtskonservativ sind. Jannis begründet die elterliche Entscheidung für den griechischen Bildungsweg mit der Tatsache, dass er kein deutsch sprach. Aber es spielt sicherlich auch eine Rolle, dass die Eltern den Kindern bei einer Rückkehr nach Griechenland den Wiedereinstieg ins griechische Bildungssystem ermöglichen wollten und zu der Zeit trotz der Verfolgung des Vaters den Rückkehrgedanken nicht aufgegeben haben. Jannis erzählt, dass er seine Schulzeit als nicht besonders erzählenswert erachtet. Es war seinerseits „weder große Mühe noch großes Interesse da“ (Z 295). Er stellt sich als frechen Schüler dar, der die LehrerInnen an der griechischen Schule durch sein Verhalten provoziert und sie dazu gebracht hat, dass sie die Grenzen ihrer Toleranz überschreiten: „Einer hat mir dann mal eine Ohrfeige gegeben, aber nur weil er es nicht aushalten konnte (lacht). Also nicht aus Bosheit, sondern er wusste nicht mehr weiter, da hat er mir eine geschmiert (lacht laut). Aber es tat ihm dann hinterher mehr Leid, als dass es mir wehgetan hat und in der griechischen Schule war es auch normal. Ich bin einfach in die Schule gegangen.“ (Z 295-301) Jannis bewertet diese negative Erfahrung in der griechischen Schule als „normal“. Die negativen Erfahrungen in der griechischen Schule hängen womöglich auch damit zusammen, dass er als Kinder linker Eltern unter den rechtskonservativen LehrerInnen zu leiden hatte und diskriminiert wurde. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Jannis an der griechischen Schule von den LehrerInnen wegen des Vaters, der ein Gegner der Diktatur war, schlecht behandelt worden ist:
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„Also, es gab da schon auch schlimme Geschichten. Ein paar, die wichtig waren damals, die ich mir gemerkt habe oder an die ich mich noch erinnere ist-, dass zum Beispiel Kinder die, naja-, wegegeschoben wurden, dass die sozusagen, damals war ja noch die Diktatur, man musste ja sozusagen eine-, das Vaterunser, irgendeine christliche Geschichte, irgendwann in der Stunde oder im Laufe des Tages dann aufsagen und da musste man sich bekreuzigen und das haben manche Kinder nicht gemacht, es wurde schlecht geredet über sie und so weiter (…).“ ( Z 302-310) An den Schulalltag kann sich Jannis nicht mehr erinnern, es sind nur wenige Erinnerungen an die Schulzeit noch präsent: „Gut erinnern kann ich mich auch an die Feiertage, an die Nationalfeiertage, wo wir dann irgendwelche Gedichte oder Geschichten aufsagen mussten oder die Geschichten, kleine Stücklein, Nationaltheaterstücklein aufspielen musste, und ich hab’ dann immer eine Brille aufgekriegt, weil ich gut war im Auswendiglernen wohl (lacht) oder was-, musste ich ein-, ich ein Gedicht aufsagen und eine große Rolle in einem Dings-, in einem Stück. Das war dann eine Abwechslung im Jahrgang, und ich kann mich erinnern, dass das dann irgendwann auch Querelen gab, also was ich damals ja nicht verstanden habe, richtig Streit sozusagen zwischen Leuten, zwischen Lehrern zum Teil oder (...) und dann Leute, die dort waren wie meine Eltern, Widerstand oder halt gegen Diktatur, und dann gab’s dann Streit manchmal, also hin und wieder war das dann offensichtlich. Dann gab es dann auch manchmal eine Schlägerei. Selten wohl, aber es gab auch Schlägereien, provoziert von bestimmten Leuten aus der Diktatur und dann-, dann ist was passiert. Also, solche Geschichten.“ (Z 311-320)
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Die Auseinandersetzung mit den LehrerInnen führt letztendlich dazu, dass Jannis’ Eltern sich gegen den weiteren Verbleib der Kinder in der griechischen Schule entscheiden. Der Wechsel von der Hauptschule auf das Gymnasium Jannis wechselt in der vierten Klasse auf eine deutsche Grundschule, wo es außer ihm und einem Kind italienischer Herkunft keine weiteren Kinder mit Migrationshintergrund gibt. Nach der vierten Klasse erhält er eine Hauptschulempfehlung und besucht für ein halbes Jahr eine Hauptschule. In der Hauptschule fällt Jannis durch sein Verhalten auf: „Ich hab’ mir dann nie-, nie was, also nie was gefallen lassen, dass ich-, ne weder Beleidigungen noch sonst was und ich war sehr wohl, na aufgeweckt ist ’n bisschen sehr (lachend) gut formuliert. Wie auch immer. Ich weiß, dass es halt oft Zoff gab. Also, Schlägereien zum Teil auch (Stimme wird leiser/lehnt sich zurück auf der Couch). Also, damals habe ich mich noch geschlagen mit den Kindern.“ (Z 401-406) Jannis beschreibt sich als ein Schulkind, das sich zur Wehr setzt, notfalls auch mit physischer Gewalt, wenn es keine Möglichkeit gibt, einen Dialog zu führen. Jannis berichtet in seiner biographischen Erzählung, dass es während der Hauptschulzeit in der fünften Klasse öfters zu Schlägereinen kam, in der die „die soziale Position der Eltern, dann eine Rolle gespielt hat auch zum Leid für die Kinder“ (Z 440). Obwohl er von anderen Kindern provoziert und angegriffen wird, gerät er in Streitsituationen immer unter Generalverdacht, was er darauf zurückführt, dass er ein Arbeiter- und Ausländerkind ist. Während der fünften Klasse in der Hauptschule zieht Jannis mit seiner Familie in eine Betriebswohnung der Firma, in der die Eltern arbeiten. Die Eltern realisieren in dieser Phase, dass sich das deutsche Bildungssystem wesentlich vom griechischen Bildungssystem unterscheidet:
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„Meine Eltern wollten-, haben schon damals irgendwie registriert, dass die Schule-, dass die Hauptschule nicht weiterführt. Also, irgendwann aufhört halt und die wollten dass ich eh die Schule noch weitermache, haben sich dann informiert, soweit sie sich dann informieren konnten und das Einzige was man ihnen gesagt hat, dass es Realschulen gibt. Neben der einen Schule wo ich war, die Realschule und dann hat sich meine Mama, dann hat die sich fein angezogen, hat dann glaube ich frei genommen von der-, sie war Facharbeiterin, von der Arbeit freigenommen ist mit mir da hingegangen um mich dann einzuschreiben (…) gut in diese Schule sollte ich dann wechseln um zu studieren.“ ( Z 443- 452) Die bildungsmotivierten Eltern entscheiden sich, den Sohn von der Schule zu nehmen und an einer weiterführenden Schule anzumelden. Sie scheinen aber nicht richtig informiert worden zu sein, denn Jannis muss sie erst darüber aufklären, dass auch die Realschule in Deutschland nicht zum Abitur führt: „Aber dann hab’ ich dann rausgekriegt, dass die Realschule irgendwann aufhört. Ich weiß aber nicht woher. Dann habe ich meinen Eltern gesagt, ja aber diese Schule geht nicht weiter. Die ist nicht so weit hier und dann hab’ ich gesagt, hm und dann weiß ich nicht mehr, wie wir rausbekommen haben, dass es Gymnasien gibt und solche Geschichten (5 Sek.).“ (Z 451-457) Nachdem Jannis die Eltern darüber informiert, dass er durch den Realschulbesuch nicht zum Abitur gelangen kann, suchen die Eltern mit Jannis das Gespräch mit dem Schuldirektor: „Aber ich weiß, dass ich dann zum Rektor von der Hauptschule bin oder zu dem, je -, jemand, und dass ich-, aber
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ich will da nicht. Ich will, Ich will-, und dann hat er gesagt, ja aber das geht nicht, du musst da Prüfungen machen. Weil in die fünfte Klasse, ko-, konnte man damals nur mit Prüfungen springen. Da hab’ ich gesagt oh ja. Also, bitte. Dann hieß es, ja-, Du schaffst es nicht. Du schaffst es nicht. Ne schwierige Prüfung, ’ne schwierige Prüfung. Wie gesagt damals gab es kaum Ausländerkinder, eh in den Schulen, also schon gar nicht 73, um Gotteswillen, und dann haben-, meine-, meine Eltern haben mich unterstützt. Also, ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wie. Weil (...) Ich weiß nicht ob im Grunde die Präsenz von ihnen da war oder das Interesse, das sie bekundet haben. Auf alle Fälle habe ich dann geschafft, dass ich mich in die Prüfung-, also für ’s Gymnasium eingeschrieben habe.“ (Z 457-468) Der Schuldirektor klärt Jannis und seine Familie auf, dass er für einen Wechsel zum Gymnasium eine Aufnahmeprüfung bestehen muss. Er macht Jannis aber wenig Mut, dass er diese tatsächlich schaffen wird, und versucht ihn zunächst davon abzubringen. Die bildungsmotivierten Eltern unterstützen jedoch den Sohn durch ihre positive bildungsbezogene Haltung und durch ihre Präsenz, sodass der Direktor letztendlich einwilligt, dass Jannis die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium macht. Jannis führt das zunächst abwehrende Verhalten des Direktors auf die soziale Lage seiner Familie zurück. Er begründet in einem eigentheoretischen Kommentar das Verhalten des Direktors damit, dass es Anfang der 1970er Jahre kaum „Ausländerkinder“ an den Gymnasien gab. Er verdeutlicht mit dieser Positionierung, dass er ein Außenseiter war. Als Jannis sich für die Prüfung anmeldet, stellt er fest, dass er von zwölf Kindern das einzige „Ausländerkind“ ist. Jannis Eltern haben, obwohl sie in ihren Entscheidungen im Zusammenhang mit der Schulauswahl nicht sehr strategisch sind, ein ausgeprägtes Interesse an einer Hochschulbildung ihrer Kinder. Der Tag, an dem Jannis die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium absolviert, stellt für Jannis’ Familie einen besonderen Tag dar, denn es ist der Tag, an dem das Tor für die
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Aufstiegskarriere des Sohnes eröffnet wird. Die Mutter kauft Jannis neue Kleidung, und er erhält sogar „zwei Mark“ Taschengeld für den Prüfungstag. Jannis besteht die Aufnahmeprüfung, allerdings nur durch die Unterstützung seiner ehemaligen Hauptschullehrerin: „Dann haben wir dann geschrieben, also die Klausur, was man da schreibt. Aber dann, ich kann mich erinnern, dass da bei Mathematik oder ich weiß nicht was das war. Da waren zwei, vier Aufgaben und zwei davon, haben wir nie behandelt. Da war ich so frech. Da bin ich zur Prüfkorrektur-, zur Korrektorin gegangen, da habe ich gesagt, wissen Sie was, wir haben das nie behandelt in der Schule, und das war die Lehrerin von der früheren Hauptschule, wo ich gerne hatte. Das war eine ältere Frau, eine souveräne Frau und auch gegenüber meiner Schwester hatte sie sich gut verhalten und die hat die einfach gestrichen und somit hatte ich dann zwei-, zwei von zwei. Ich kam dann rein. Ich war das einzige Kind von den zwölf, die die Prüfung bestanden hat und eh, also das hab’ ich dann hinterher gespürt.“ (Z 479-485) Die Lehrerin spielt als biographische Helferin nicht nur für Jannis’ weiteren Schulverlauf eine zentrale Rolle, sondern auch für seine Schwester. Sie erkennt die Begabung der Schwester und gibt ihr nach der Schule Fremdsprachenunterricht, damit sie die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium bestehen kann. Die Eltern entscheiden sich dann auf Empfehlung der Lehrerin, die Tochter auf ein deutsches Internat zu schicken, wo sie ihr Abitur machen kann. Dass Jannis im Zusammenhang mit der bestandenen Aufnahmeprüfung darauf verweist, dass die Lehrerin auch der Schwester geholfen hat, verdeutlicht, dass die Schwester nicht nur eine konstante Bezugsperson für Jannis während seiner Kindheitsjahre ist, sondern auch eine Orientierungsperson im Hinblick auf den Bildungsaufstieg. Die ältere Schwester nimmt eine Vorbildfunktion ein. Während die Schwester ins Internat geht, verbleibt Jannis unter der Obhut der Eltern und besucht das Gymnasium. Als Jannis die fünfte Klasse des Gymnasiums besucht, realisiert er, dass es
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in seiner Jahrgangsstufe nur vier „ausländische Kinder“ gab. Er findet im Gymnasium zwar den Zugang zu deutschen Kindern, aber er hat nur Kontakt zu deutschen Arbeiterkindern. In seiner biographischen Erzählung widmet er der Schulphase wenig Raum. Das Schulleben ist charakterisiert durch Konflikte mit LehrerInnen. Jannis’ unangepasstes Verhalten führt immer wieder zu Konflikten in der Schule: „Also, meine Eltern-. mein Vater, meine Mutter nicht-, mein Vater musste glaube ich jeden Monat auftauchen. Beim Rektor oder bei der Klassenlehrerin.“ (Z 516-518) Während der Schulzeit orientiert sich Jannis in der Pubertät an Peer Groups außerhalb der Familie und verbringt viel Zeit mit seiner Clique, einer Gruppe von fünf Arbeiterkindern: „Es gab die ersten Jahre, große disziplinarische Probleme (lachend) mit-, mit uns. Also wir haben da, viele viele Sachen gemacht, die dann nicht so sehr den, den sozusagen Schulalltag, den unproblematischen Schulalltag entsprechen. Von den Schulkameraden den Kopf in die-, in das Waschbecken tunken bis sonst was. Aber wir waren noch klein, als 12, 13 soweit. Wir-. Rauchen. Alle Zigaretten haben wir durchprobiert, das sind-. Am Geldautomaten-, Geld gesammelt bis wir n’bissle zwei Mark zusammen hatten. Eh und dann alle möglichen Zigaretten geraucht. Auch Abenteuer, also auf dem Weg von der Schule. Das ganze Gelände durchforstet und alles Mögliche-, von-, von den Holunderstäbchen gequalmt bis Maiskolben. Also, alles Blödsinn, viel Blödsinn gemacht. Weiß nicht ob’s Blödsinn war aber solche Geschichten halt.“ (Z 532-543)
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Die Politisierung in der Jugend Während der Schulzeit hebt Jannis insbesondere eine biographisch bedeutsame Erfahrung heraus, die Begegnung mit Gil, einem deutschen Arbeiterkind, mit dem er seit seiner Schulzeit eine sehr enge Bindung hat: „Und wichtig ist, dass ich in dieser einen fünften Klasse habe ich ein Kind, auch ein deutsches Arbeiterkind aus der Nachbarschaft von der-, also in der Nähe wo wir gewohnt haben, 68’er Eltern, junge Eltern auch fortschrittlich und engagiert und die hab’ ich dann auch-, den hab’ ich dann kennengelernt. Und=eh seither sozusagen waren wir ständig zusammen. Also früh morgens, vor der Schule, nach der Schule, in der Schule.“ (Z 519-524) Die Begegnung und die Freundschaft mit Gil und seinen Eltern verändert Jannis’ Leben. Er hat mit Gil einen Weggefährten gefunden, mit dem er nicht nur die Abenteuer im Schulalltag und in der Freizeit teilt, sondern mit dem er auch gemeinsam in der Mittelstufe ein Interesse an Politik entwickelt. Jannis führt das Interesse an politische Themen biographisch auf die Politisierung der Eltern zurück: „Weil meine Eltern engagiert waren und dem Gil seine Eltern auch engagiert waren, obwohl sie uns nie gedrängelt, gedrängelt haben“ (Z 547- 548). Der Unterricht stellt ein Forum dar, in dem sich Jannis mit Gil sozialen und politischen Fragen widmen. Sie setzen dieses Interesse aber dann über den Unterricht hinaus auch in ihrer Freizeit um und gründen eine Gruppe von Jugendlichen, die politisch interessiert sind. Jannis ist in der „Jugendhausbewegung“ aktiv, er beteiligt sich an Hausbesetzungen und bringt mit Freunden eine Zeitung heraus: „Da haben wir uns so eh an der Grauzone zu, zu polizeilich, relevanten, eh polizeilich gesuchten Szenen da bewegt. Also im Nachhinein habe ich dann erfahren, dass bestimmte Häuser. Wo wir dann verkehrt haben von der-, von der Terror-, eh Antiterrorpolizei dann aufgenommen wurden oder solche, solche Geschichten. Oder die Dru-
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ckerei, wo wir unsere Zeitung gedruckt hatten, eh in XStadt dass die von dem Bundeskriminalamt eh strafgeräumt wurde, so sind wir dann, sind die Schulden beglichen worden die wir dann hatten (lachend).“ (Z 579-586) In der biographischen Rekonstruktion führt Jannis die Politisierung auch mit der „disziplinarischen Geschichte“ (Z 601) in der Schule in Verbindung: „Das war nicht nur kindlich und pubertierend sondern zunehmend auch politisch“ (Z 602-603). Neben LehrerInnen, die versucht haben, ihn wegen seines Verhaltens vom Gymnasium zu verweisen, gab es aber auch solche, die Jannis’ Engagement anerkannt haben: „Manche Lehrer haben das auch geschätzt, haben gesagt, das ist-, ham dann gesagt gut. Das ist-, eh ein kluges Kind oder was auch immer, aber besonders frech halt oder besonders undiszipliniert.“ (Z 617-620) Nach der zehnten Klasse beruhigt sich Jannis dann zunehmend in der Schule. Er fällt nicht mehr durch sein Verhalten auf und trägt sein politisches Engagement „nach außen“. Kurz vor dem Abitur gründet Jannis mit Freunden die Initiativgruppe „Soziale Gerechtigkeit“ und eröffnet mit Gil einen Dritte-Welt-Laden in Freiburg. Das soziale und politische Engagement, das Jannis während seiner Schulzeit entwickelt hat, begleitet ihn ein ganzes Leben lang und mündet im Erwachsenenalter in einen politischen Aktivismus. Jannis setzt sich für Flüchtlinge, Verfolgte und MigrantInnen ein. Er gründet mehrere Initiativen und Vereine, die sich mit der Betreuung von MigrantInnen und insbesondere von Migrantenkindern beschäftigen. In der biographischen Rekonstruktion sieht er in der Politisierung auch einen Ersatz für Beziehungen, mit denen er sich schwer getan hat. Jannis spricht während seiner biographischen Erzählung sehr wenig über die Beziehungen in seinem Leben. Er tut sich schwer damit, sich diesem Thema narrativ zu nähern.
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Die familiäre Situation: Bildungsmotivation der Eltern und Angst vor Entfremdung Die Beziehung zu seiner Familie empfindet Jannis insbesondere in der Pubertät als belastend, nachdem seine Schwester die Familie verlässt und ins Internat geht. Die Gesprächskultur in der Familie war seit Jannis’ Kindheit von der Angst des Vaters geprägt. Vermutlich hat es in der Familie auch keine kommunikative Auseinandersetzung über die Trennungsjahre gegeben. Sowohl in der Kindheit in Griechenland als auch später in Deutschland haben sich die Eltern oft in Schweigen gehüllt: „Ich weiß auch dass mein-, dass-, eh, dass mein Vater sehr aufgepasst hat-, dass wir Kinder also nicht von Sachen-, also nicht die Zeitungen, die er hatte, oder Papiere, die er hatte, nicht zur Hand nehmen, das, das ist sicher, das ist,das war kein Geheimnis, aber es war nicht so wie jetzt, dass man alles offen legt und redet, weil die auch Angst hatten, dass wir Kinder halt dann plappern.“ (Z 325-330) Als Jannis in der Pubertät ist, wird die familiäre Situation immer schwieriger: „Mit dreizehn, vierzehn, so ungefähr, weiß ich, dass es dann zu Hause große Probleme gab. Ich erinnere mich ungern daran, weil es (atmet aus) bittere Sachen sind.“ (Z 656-657) Jannis fällt es sehr schwer, über die Probleme in der Familie zu sprechen. Er führt zunächst das Verlassenwerden durch die Schwester auf, die ins Internat geschickt wird, damit sie dort ihr Abitur machen kann. Die Tatsache, dass er die Schwester nur an den Wochenenden sieht, belastet ihn sehr, da er unter der Woche mit den Eltern allein ist. In der Pubertät hält er auch die räumliche Nähe zu den Eltern kaum aus – „das war sehr eng, also zwei Zimmer unter dem Dach“ (Z 659) –, sodass er sehr viel Zeit im Jugendhaus mit seinen Freunden verbringt. Die größten Probleme hat er aber mit dem Vater, der zwar einerseits ein großes Interesse daran hat, dass die Kinder die deutschen Schulen besuchen und eines Tages studieren. Zeitgleich hat er aber auch große Angst davor, dass sich die Kinder von ihrem Herkunftsmilieu entfernen:
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„Mein Vater vor allem hat immer große Panik gehabt, also das hat er so auch gesagt. Ja, es war keine Frage für sie, dass sie uns auf die Schule schicken und die besten Schulen sind eben nicht die griechischen Schulen sondern die deutschen Schulen. Also, da gab es nie Diskussionen, hm, das war-, also deren politische Einstellung hat da eine Rolle gespielt. Also, mein-, wenn man die Diskussion in Deutschland betrachtet, in den siebziger Jahren, in der Mi-, bei den Migranten. Weil die Diskussion, eh nicht Migrantenschulen sondern die besten Schulen-, die Kinder sollen in den deutschen Schulen eh integriert werden und dann bestimmte Sachen, eh zusätzlich machen. Also, Griechisch. Mein Vater hat dann gesagt Mathematik ist Mathematik und wenn die Schule besser ist, dann soll das Kind, das dort lernen, halt. Aber parallel dazu, ham sie-, hat er Panik gehabt, dass-, dass sie uns Kinder verlieren.“ (Z 684- 695) Der Vater möchte den Kindern die bestmögliche Bildung ermöglichen, aber der angestrebte Bildungsaufstieg für die Kinder ist auch mit Ambivalenzen verbunden, die innerfamiliär zu Konflikten führen. Er hat Angst vor dem Verlust der Nähe zu den Kindern, die sich durch den Aufstieg und die erfolgreiche Integration in der deutschen Gesellschaft sozial und auch kulturell von ihm entfernen. Jannis verdeutlicht die Angst des Vaters an einem Beispiel, das der Vater immer wieder aufgeführt hat: „Also, das Klassische-, was er da-, ist halt-, dass die Kinder nicht Janitscharen werden. Die Janitscharen -, für Griechen ist das klar, was ein Janitschar ist, eh das war in der Zeit der osmanischen Herrschaft-, haben die-, wurden sozusagen von verschiedenen Gegenden Kinder entführt oder genommen. Mein Gott, das war ja Feudalsystem-, genommen und die wurden von der Familie, von den Dörfern weg und zu bestimmten Kadettenschulen geschickt
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und die waren dann eh, ihren kulturellen-, eh,- würde man heute sagen, Wurzeln entrissen. Eh weggebracht und wurden dann zu Spezialschulen oder oft zu Söldnern d-, der-, des Sultans und konnten dann später nicht, auch gegen ihre Eltern oder ihre Landsleute, wie auch immer eingesetzt werden. Also, das ist-, das eh Bild des Janitscharen und das war die Panik meines Vaters, der hat dann auch gesagt įȑȞ șȑȜȦ ȞĮ ȖȓȞȠȣȞİ ȖİȞȚIJıȐȡȠȚ Ȓ șĮ ȖȓȞȠȣȞİ ȖİȞȚIJıȐȡȠȚ (dt. ich möchte nicht, dass sie Janitscharen werden oder sie werden Janitscharen). Also, weil das Gymnasium ist eine ganz andere Welt für sie.“ (Z 696707) Der Gedanke, dass die Kinder kulturell entwurzelt werden, versetzt den Vater in einen Zustand äußerster Angst, den Jannis als Panik bezeichnet. Jannis verdeutlicht dies in der Erzählung, indem er eine panische Situation seines Vaters nachstellt, in der der Vater auf Griechisch ausruft, dass er nicht möchte, dass die Kinder Janitscharen werden. Besonders interessant ist in dem Zusammenhang, dass Jannis das einzige Mal im Interview die Sprache wechselt, um den Vater wörtlich wiederzugeben. Indem er sich auf Griechisch- artikuliert, stellt er in der Erzählsituation die Nähe zum Vater her. Die Vaterfigur stellt für Jannis eine wichtige Orientierungsperson dar. In der biographischen Rekonstruktion zeigt er auch Verständnis für die Ängste seines Vaters: „Die Eltern konnten uns Kindern nichts geben. Nichts geben was die deutsche Gesellschaft betrifft, nichts. Weder Wörter. Weil sie die deutsche Sprache auch nicht beherrscht haben, noch Wissen über die, was da passiert ist. Sie konnten uns nur sozusagen füttern und eh, aufpassen auf uns, aber letztendlich haben sie bewußt gehabt, dass sie nix von dieser Gesellschaft wissen eigentlich. Also, nix auf dem Weg geben können und damit auch, dadurch auch nicht kontrollieren können, in Anführungszeichen, was da
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passiert, und deshalb, mein Vater, hat es dann explizit auch so gesagt, dann halt und ganz viele andere sind dann halt auch-,dass die Kinder zwar ja-, sie gehen auf das Gymnasium oder sie machen irgendetwas, was für sie individuell gut ist oder das sie weiterbringt, sozial, auch Aufstieg und alles Mögliche, aber das-, aber diese Geschichte bricht die Familie halt auch. Oder da-, eh und des, des war glaub’ ich das was mein Vater panisch gemacht hat.“ (Z 710-721) Ein weiteres zentrales Thema in der Familie ist die Bildung der Kinder. Für Jannis’ Eltern ist die Migration mit dem Ziel verbunden, dass die Kinder erfolgreiche Bildungsbahnen durchlaufen, damit sie studieren können. Die Eltern sind aktiv in der griechischen Elternbewegung, die sich für die Bildungssituation von griechischen Migrantenkindern einsetzt. Während sie zu Beginn der Migration die Kinder noch auf griechische Schulen schicken, werden die Kinder, als sich herauskristallisiert, dass die Familie länger in Deutschland bleibt, im Verlauf des Migrationsprozesses auf deutsche Schulen geschickt. Die Eltern legen aber großen Wert darauf, dass die Kinder auch weiterhin den muttersprachlichen Unterricht besuchen. Eine Entscheidung, die, wie Jannis verdeutlicht, sehr stark politisch motiviert ist, da die Eltern in der linken Szene in der griechischen Gemeinde aktiv waren, die in den 1970er Jahren, im Gegensatz zu der rechtskonservativen Szene, für das reguläre deutsche Beschulungsmodell und muttersprachlichen Nachmittagsunterricht plädiert hat. Die starke Bildungsorientierung der Eltern ist auf beide Kinder gerichtet. Beide Kinder setzen die hohen Bildungserwartungen der Eltern biographisch um, die Tochter studiert Literaturwissenschaften und der Sohn Psychologie. Die Studienzeit und das Rückkehrprojekt der Eltern Nachdem Jannis sein Abitur bestanden hat, ist seine Zukunftsplanung auf ein Medizin- und Psychologiestudium gerichtet. Um diesen Studienwunsch biographisch umzusetzen, greift Jannis auf alle sozialen Netzwerke zurück, die ihm zur Verfügung stehen, und gestaltet seine Bewerbungsphase transnational. Er bewirbt sich sowohl in Deutschland über die ZVS für einen
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Studienplatz als auch in Griechenland, Italien und Jugoslawien. Die transnationale Orientierung begründet er damit, dass er einen „Abischnitt von drei“ hatte und die Wahrscheinlichkeit gering war, dass er für seine Erstwahl in Deutschland einen Studienplatz erhält. Zunächst geht er nach Griechenland, wo er in Athen an den Hochschulzulassungs-prüfungen teilnimmt, in der Hoffnung, über „die Migrantenquote“ einen Studienplatz zu erhalten. Dort nimmt er allerdings nur an einer Prüfung im Fach Biologie teil und macht sich dann auf den Weg nach Italien und Jugoslawien, wo er sich ebenfalls bewirbt. Er kehrt wieder zurück nach Deutschland und wartet auf eine Benachrichtigung von den Universitäten: „So wusste ich, wie gesagt im Oktober garnicht was los ist und im Oktober ist mein Vater arbeitslos geworden. 58 und große, große Krise (lacht). Einbruch für sein Leben. Er hat von seinem achten Lebensjahr bis zum achtundfünfzigsten hat er durchgehend gearbeitet und konnte nicht damit umgehen und dann-, und dann hat er Druck gemacht, auf mich. Wenn ich-, ich soll dann arbeiten, ich soll dann arbeiten. Ich soll arbeiten. Also, wenn ich nicht-, da ich den Studienplatz noch nicht hatte. In Jugoslawien hat’s nicht geklappt, in Italien bin ich wieder gegangen (lacht). In Griechenland hat’s auch nicht geklappt im Sommer, also sollte ich arbeiten.“ (Z 834-843) Jannis’ Vater fordert ihn auf, sich umgehend eine Arbeit zu suchen, bis sich herausstellt, an welcher Universität er studieren kann. Jannis überbrückt die Wartezeit auf den Studienplatz mit einem Job in einer Bäckerei, bis er die Zulassung erhält: „Dann kam eines Samstags, als ich nach dem Putzen der Bäckerei dann nach Hause kam, kam dann meine Mutter, hat mir’n Brief gezeigt, das war dann die Immatrikulations -, ehm Wisch, von der Uni, wo das Semester schon rum war, aber und das lief schon.“ (Z 846-849)
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Jannis erhält einen Studienplatz in Psychologie in Heidelberg, wo er sich dann mitten im Semester immatrikuliert. Während er in der Anfangsphase noch zwischen Wohn- und Studienort pendelt, zieht er nach ein paar Monaten zu Hause aus und verlagert seinen Wohnsitz nach Heidelberg. Der Auszug wird überschattet von der Arbeitslosigkeit des Vaters, der in eine tiefe Depression verfällt: „Mein Vater saß zu Hause und wusste nicht, was er anfangen soll und ich hab dann-, das ging ihm dann immer schlechter und schlechter, bis er dann irgendwann umgefallen ist. Also, richtig, wörtlich, den-, den-, er hat den Stand verloren sozusagen. Dann ist er ins Krankenhaus und da haben sie ihn untersucht, alles Mögliche und nichts gefunden und dann ham wa beschlossen, dass meine Eltern umziehen. Also, dass meine Mutter ihre Kündigung einreicht und dass sie dann nach Griechenland ziehen, nach zwanzig Jahren. Aus gesundheitlichen Gründen, was meine Mutter nicht wollte. Sie für sich nicht wollte. Erstens weil-, weil sie von uns weg wäre und zweitens für sie-, sie hat da keine große Perspektive im Dorf dann-, also, das hat sie sich nicht so gut und schön vorgestellt im Dorf. Zum-, weil sie da halt Arbeit hatte, Kontakte und-, eh-, mit uns Kindern soweit, also, dass war für sie eher ein, eh ein Schritt zurück. Auch für meinen Vater, denk ich mir. Eh, aber das ist o.k., zum Erholen, was sie dann auch gemacht haben.“ (Z 861- 874) Mit dem Studium beginnt für Jannis auch eine neue Lebensphase, die nicht nur mit dem Auszug aus dem Elternhaus einhergeht, sondern auch mit Rückkehr der Eltern nach Griechenland. In Jannis’ Darstellung erscheint die Umsetzung des elterlichen Rückkehrprojektes als Familienprojekt. Es sind nicht die Eltern, die die Entscheidung treffen, sondern die Kinder zusammen mit den Eltern, um die gesundheitliche Genesung des Vaters voranzubringen. Interessant ist, dass Jannis die Mutter wie bereits bei der
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Darstellung der Migration aus Deutschland als eine Person darstellt, die passiv den Entscheidungen der anderen Familienmitglieder ausgesetzt ist. Damit vermittelt er ein Bild von der Mutter als leidende Migrantin, die nicht ihre eigenen Handlungsschemata biographisch durchsetzten kann. Auch wenn es zutreffen mag, dass die Mutter lieber in Deutschland geblieben wäre, so war Jannis’ Mutter doch auch immer aktiv am Migrationsprojekt beteiligt. Sie ist Anfang der 1960er Jahre mit dem Mann zusammen ausgewandert und war auch diejenige, die aktiv die Zusammenführung der fragmentierten Familie in den 1970er Jahren initiiert hat, als sie ohne vorherige Absprache mit dem Mann die Kinder während des Sommerurlaubs einfach mit nach Deutschland genommen hat. Sie hat gearbeitet und hat auch die Kinder bei ihren Bildungswegen, soweit es ihr möglich war, aktiv unterstützt. Der biographische Verlauf der Migrationsgeschichte von Jannis’ Mutter erweckt alles andere als den Eindruck, dass es sich bei der Mutter um eine Frau handelt, die ihre Interessen nicht durchsetzen kann und nicht aktiv am Familienmigrationsprojekt beteiligt war. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass er im Kontrast zu seiner Mutter seine deutsche Lehrerin als starke Persönlichkeit charakterisiert, die souverän ist und eigenmächtig handelt. Die Frauen, die einen Migrationshintergrund haben, sind in Jannis’ Wahrnehmung im Migrationsprozess dagegen ihrem sozialen Umfeld passiv ausgesetzt. Neben der Mutter und der Schwester auch die „importierten chinesischen Krankenschwestern“, an die er sich während seiner Kindheit erinnern kann. Durch diese Art der Darstellung deutet sich an, dass das Verhältnis sowohl zu der Mutter als auch grundsätzlich zu Frauen sich sehr schwierig gestaltet. Nachdem seine Eltern remigrieren, unterstützt Jannis mit seiner Schwester die Eltern bei der Bewältigung ihres Remigrationsprojektes. Jannis und seine Schwester spannen ihre Lebensprojekte transnational aus. Sie sind nicht nur eine mentale Stütze für die Eltern, sondern Jannis besucht seine Eltern auch sehr oft in Griechenland in ihrem Dorfhaus während der Studienzeit: „Wir waren zwar in Deutschland und die in Griechenland. Aber ich bin immer runter, mal gucken was sie machen.“ (Z 884-885)
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Die Vereinbarkeit von transnationalem Familienleben und Studium gestaltet sich für Jannis nicht einfach, denn der Vater wird im Alter zunehmend depressiver und aggressiver, was oft zu „Zoff“ führt, wenn er die Eltern besucht. Die Kinder versuchen in den ersten zwei Jahren, die Eltern zu erziehen und ihre Ernährung umzustellen, was ihnen dann letztendlich auch gelingt. Jannis findet während der Studienzeit auch einen besonderen Zugang zu seinem Vater: „Bei meinem Vater hat ‘s dann zur Konsequenz gehabt oder zu -, dass ich dann immer Bücher geschickt habenach Griechenland. Keine Ahnung von griechischer Literatur, aber bin dann da-, und da in Saloniki und hab’ geguckt, wo ich da Geld aufstöbere und hab’ ihm Tüten Bücher gebracht. Gekauft, sozusagen, eben dass sie anfangen zu lesen. Was macht jemand, der von seinem achten Lebensjahr arbeitet bis zu seinem 58’sten und-, eh-, also, dass er irgendwas macht und nicht zu Hause auf ‘m Sessel hockt oder draußen auf der Veranda und eh den ganzen Tag immer nur trübselt, also ja. Das hat zum Glück die Konsequenz gehabt, dass er gelesen hat und jetzt schreibt er selber. Jetzt wieder-, jetzt kann er sein Zeug lesen, he, he (lacht). Jetzt schreibt er Gedichte, furchtbar aber nu. (7 Sek.).“ (Z 917-927) Jannis findet über die Literatur einen Weg, den Vater dazu zu bringen, die Lebenserfahrungen, über die er nicht sprechen kann, literarisch zu verarbeiten. Auf diese Art und Weise können Vater und Sohn das Unaussprechliche gestalten. Während der Vater in seinem Dorfhaus Gedichte schreibt, versucht Jannis in Heidelberg einen Weg zu finden, das Psychologiestudium und seine politische Arbeit in Einklang zu bringen. Er ist in der Fachschaft aktiv, engagiert sich in der Friedensbewegung und im griechischen Studentenverein und beginnt auch noch ein weiteres Studium in Sozialer Arbeit. Während des Studiums wohnt er im Studentenwohnheim, und in der Hauptstudiumphase arbeitet er an einem Lehrstuhl und beteiligt sich kurz vor seinem Studienabschluss auch an mehreren Anträgen für Forschungs-
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projekte. In der Endphase des Studiums hat er einen längeren Forschungsaufenthalt an einer griechischen Universität und knüpft erste Kontakte zur griechischen Wissenschaftslandschaft, die er dann nach dem Diplomabschluss im Rahmen seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem internationalen Forschungsprojekt intensiviert: „irgendwann haben wir Glück gehabt eh mit dem Forschungsprojekt, das dann genehmigt wurde, ehm. Glück im Unglück, und eigentlich ja-, Glück eigentlich gehabt und dadurch konnte ich sozusagen in den 90 ‘er Jahren, dann nach dem Diplom- ehm- zumindest eine Zeit lang, als wissenschaftlicher Mitarbeiter arbeiten und eh in der Zeit haben wir auch Kontakte gehabt, auch zu Griechenland, also das war Teil des Forschungsprojektes.“ (Z 1004-1008) Die transnationalen Netzwerke als Ressource für die Karriere in der Wissenschaft
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Die transnationalen Netzwerke im Wissenschaftsbetrieb stellen für Jannis eine biographische Ressource für seine Karriere in der Wissenschaft dar. Während des laufenden Forschungsprojekts kooperiert Jannis mit einem Forschungsteam an einer griechischen Universität, an dem auch ein sehr renommierter griechischer Professor beteiligt ist, der selbst in Deutschland seine Wissenschaftskarriere begonnen hat. Als das Forschungsprojekt ausläuft, signalisiert er Interesse an Jannis’ wissenschaftlicher Arbeit: „und einer von diesen Kollegen aus Griechenland hat dann sozusagen gefragt, dann. Also, der hat dann gesehen, der konnte lesen-, meine Sachen lesen, weil er auch in Deutschland, eh in der Uni da gearbeitet hat und dann hat er meine Sachen gelesen und dann gesehen wie ich da arbeite und da hat er dann gefragt, ob ich nicht nach Griechenland kommen will. O.k., er hat dann gefragt, wie viel ich dann will, dass ich dann komme. Aber, es war ja so, Spaß nicht, aber es war ja-, nach dem Motto guck und
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aber bis dahin hab’ ich mich nicht angeboten.“ (Z 10091116) Der Professor stellt Jannis an seinem Institut an einer griechischen Universität in Mittelgriechenland eine Stelle in Aussicht. Jannis stellt dies in seiner biographischen Erzählung als ein Abwerbeangebot dar und betont, dass er sich selbst vorher nicht auf dem Arbeitsmarkt angeboten hat. Zwar hat er während seines Studiums versucht, mit griechischen Universitäten zu kooperieren und seine Netzwerke auszubauen, aber nicht mit dem Gedanken gespielt, eines Tages in Griechenland zu leben: „Aber letztlich-, hab’ ich-, hab’ ich mir nie Gedanken gemacht, wie es wäre hierher zu kommen. Nach Griechenland zu kommen-. Nach Griechenland zu kommen. Auszuwandern sozusagen hierher, auch weil es-. Weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass ich das hier-,dass ich (laut) das hier schaffe. Das ich, aufgewachsen in Deutschland das hier schaffen würde, nicht jetzt schaffe im Sinn von was weiß ich jetzt was, sondern (7 Sek.) sondern die-, die Alltagsorganisation. So mit den Erfahrungen, die ich hatte-,in den Ferien oder mit dem Reisen.“ (Z 1024-1027) Die Idee, dass Griechenland als Lebens- und Arbeitsort tatsächlich eine Option darstellt, um seine Handlungsräume zu erweitern, entfaltet Jannis biographisch erst, nachdem er das Angebot aus Griechenland erhält: „Erst als der-, als der gesagt hat, ja wie viel du willst, hab’ ich das erst mal überlegt. Was mache ich denn hier. (fragend) Hab’ s dann auch -, mir dann auch überlegt, weil es auch in Deutschland eine Umbruchszeit war, also weil die Forschungsprojekte waren ausgelaufen. Ich musste mir überlegen, was mach ich denn (fragend) ein Habilitationsprojektantrag stellen. Eh Geld auftreiben, in der Uni bleiben oder nicht (fragend). In der Uni bleiben ist ja
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genau so schwierig, also als Arbeitsplatz sozusagen. Ich musste aber arbeiten, um-, um-,weil ich sonst kein Einkommen hatte. Also, war dann dort. Ich hab’ dann nicht was verlassen, was Gutes verlassen, um herzukommen, sondern es war ‘ne Zeit, wo dann-, eh-, (5 Sek.) offen war, und da hab’ ich beschlossen, komm mach das und hab’ dann wirklich 96 im Sommer, ‘n Umzug geplant und bin her gekommen.“ (Z 1039-1050) Als ihm eine Stelle an einer griechischen Universität in Aussicht gestellt wird, befindet sich Jannis nach dem Abschluss des Forschungsprojektes in einer biographischen Umbruchssituation. Er hat keine Anschlussfinanzierung, um die Dissertation fertig zu schreiben und lebt von Arbeitslosengeld. Als er die Dissertation abschließt, hat er weder als promovierter Psychologe Stellenangebote erhalten, noch hat er sein geplantes Habilitationsprojekt von Forschungsgeldern finanzieren können. In dieser prekären Situation stellen die transnationalen Netzwerke eine zentrale Ressource zur Überwindung von Ausschlussmechanismen des deutschen Arbeitsmarktes dar. Jannis nimmt das Angebot aus Griechenland an, um damit die Übergangszeit zu überbrücken und entscheidet sich, im griechischen Wissenschaftsbetrieb einen Versuch zu starten. Die Migration nach Griechenland Da Jannis nicht die ökonomischen Ressourcen hat, zwei Haushalte in zwei Ländern zu führen, zieht er zunächst ins Haus seiner Eltern ins Dorf nach Griechenland und bringt dort auch seine Sachen unter. Das erste Jahr pendelt er zwischen Deutschland und Griechenland und wohnt bei Freunden und bei seiner Schwester. Jannis entscheidet sich dann auch, den Militärdienst in Griechenland zu absolvieren, was bei seinen Freunden in Deutschland zu Unverständnis führt: „Alle meine Freunde und also-, meine ganze. Also, ich bin aufgewachsen in einem Kreis von Leuten, die alle den Kriegsdienst verweigert haben. So, schon nur das erwähnen dessen, dass ich ins Militär, den Militärdienst hier ab-
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solvieren muss, hat in Deutschland ein bisschen ein Ö hervorgerufen, weil, warum ich das mache und für mich auch. Also, wenn-, und ich wäre nicht nach Griechenland gezogen unter keiner Bedingung, wenn ich regulär eineinhalb Jahre zum Militärdienst müsste.“ (Z 1063-1069) Jannis begründet seine Entscheidung damit, dass er sich dafür entschieden hat, weil er nach Griechenland gezogen ist. Vermutlich sind es die sozialen Zwänge in Griechenland, die ihn dazu veranlassen. Womöglich glaubt er auch, dass er den Militärdienst absolvieren muss, um sich für eine spätere Verbeamtung an einer griechischen Universität damit den Weg zu ebnen. Da er im Ausland aufgewachsen ist, kann er den Militärdienst in sechs Monaten in Griechenland absolvieren. In seiner biographischen Erzählung geht er nicht weiter auf diese Zeit ein, aber er resümiert, „das war keine gute-, das war ‘ne schreckliche Zeit“ (Z 1113-1114). Dennoch empfindet er die Erfahrung als solches als interessant, „weil es einen Teil der Gesellschaft abgibt, den man sonst nicht einsieht“ (1020-1021). Sowohl vor als auch nach dem Militärdienst bewirbt er sich auf mehrere Stellen an unterschiedlichen Universitäten. Jannis bewirbt sich in Griechenland als Lektor an einer Universität in Mittelgriechenland, zeitgleich bemüht er sich aber auch in Deutschland um eine Stelle, damit er seine Habilitation schreiben kann. Da er in Deutschland keine Stelle erhält, nimmt er die Stelle an der griechischen Universität an und verlagert dann, als er den Ruf nach Rhodos erhält, auch seinen Lebensmittepunkt dorthin. In seiner biographischen Erzählung stellt er die Migration nach Griechenland nicht als biographisches Handlungsschema der Remigration dar, sondern als eine grenzüberschreitende Entscheidung, die wirtschaftlich bedingt war. Er interpretiert diese Entscheidung als Reaktion auf den deutschen Arbeitsmarkt: „Ich bin ein Wirtschaftsflüchtling aus Deutschland und bin drei Jahre lang unterwegs gewesen und bin seit Ende 99 bin ich angekommen. So angekommen aber im Sinn, da ist ‘ne Möglichkeit. Ich hab’ angefangen Wurzeln zu schlagen aber nicht ‘ne Wurzel geschlagen.“ (Z 1250-1254)
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Für Jannis stellt die Entscheidung, den Lebensort von Deutschland nach Griechenland zu verlagern, ein biographisches Projekt zur Überwindung von Ausschlussmechanismen in der deutschen Gesellschaft und zur Verbesserung sowohl seiner wirtschaftlichen als auch seiner beruflichen Position dar. Er verdeutlicht dies, indem er sich selbst als „Wirtschaftsflüchtling“ bezeichnet. Ein weiteres biographisches Motiv für die Entscheidung, nach Griechenland zu gehen, stellt aber auch die dadurch wiederhergestellte geographische und emotionale Nähe zu seinem Vater dar, dessen Aufstiegsdelegat er übernommen und erfüllt hat. Während Jannis’ Vater sich aber auch viele Jahre nach seiner Auswanderung nach Deutschland in Deutschland „nicht heimisch“ fühlen konnte und stets mit seinem Herkunftsdorf verwurzelt war, das er verlassen hat und in das er im Rentenalter wieder zurückgekehrt ist, ist Jannis’ biographische Verortungsstrategie durch PluriLokalität gekennzeichnet. Die Ent-Nationalisierung und die Pluri-Lokalität In Jannis’ biographischer Erzählungen haben die nationalstaatlichen Grenzen keine Bedeutung. Die Erfahrung in der Kindheit mit der politischen Realität zeigt ihm, dass es keinen Sinn macht, sich an nationale Identitäten zu halten. Sein Vater musste symbolisch expatriieren, da er als Kommunist von den Rechten als Vaterlandsverräter verfolgt wurde. Diese Erfahrung prägt Jannis’ Biographie ein Leben lang, und so führt er auch auf meine Nachfrage aus: „Heimat im symbolischen Sinne, da wüsste ich nicht was ich sagen könnte“ (Z1311-1312). Während die nationale Dimension keine Bedeutung spielt, spielt für Jannis’ biographische Konstruktion die plurilokale Verortung eine zentrale Rolle aufgrund seiner biographischen Erfahrungen an mehreren Orten. Er ist aufgrund seiner Kindheitserfahrungen und Erinnerungen, aber auch aufgrund politischer, familiärer und auch wissenschaftlicher Aktivitäten mit bestimmten Orten und Regionen verbunden. „Ich reise nicht-, nicht nach Deutschland. Ich reise nach Heidelberg, da habe ich Jahre lang gelebt, da habe ich Bilder, Erinnerung oder irgendeine Bindung und ich reise nicht nach Griechenland, sondern ich reise in die Gegend,
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wo ich gelebt und erfahren habe und wo ich zur Zeit lebe.“ (Z 1313 -1317) 6.2.5 Zusammenfassung Jannis’ Biographie ist geprägt von Trennungserfahrungen in der Kindheit, Brüchen und Krisen. Die strukturellen Bedingungen beeinflussen sein Leben stark, und er ist sehr oft Verlaufskurven ausgesetzt. Seine Biographie ist geprägt von der starken Politisierung seiner Eltern, deren Arbeitsmigrationsprojekt aufgrund der politischen Verfolgung des Vaters zeitweise den Charakter einer Exilsituation annimmt. Trotz der vielfältig benachteiligten Ausgangslage in seiner Biographie gelingt Jannis aber unter den schwierigen Migrationsbedingungen der Bildungsaufstieg in der Migration, der im Laufe seiner Biographie auch zu einer beruflich adäquaten Positionierung als Professor an einer griechischen Universität führt. Jannis besitzt die erstaunliche Fähigkeit, durch die überwundenen Krisenerfahrungen in der Kindheit eine psychische Widerstandsfähigkeit zu entwickeln, durch die er aktiv eigenes kreatives und politisches Handeln einsetzen kann. Die biographische Ressource für den Bildungsaufstieg bildet das ausgeprägte Bildungsinteresse seiner Eltern sowie die Vorbildfunktion der Schwester als auch die Unterstützung seiner Lehrerin als biographischer Helferin. Jannis präsentiert seine Biographie aber nicht als Erfolgsgeschichte eines sozialen Aufsteigers, sondern als die Überlebensbiographie eines Ausländerkindes in Deutschland, die in der Kindheit und Schulzeit von sozialer Benachteiligung, Diskriminierung und Krisenerfahrungen geprägt ist. Die Positionierung als Ausländerkind deutet nicht nur auf eine Etablierten-AußenseiterFiguration, durch die seine biographischen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend zum Ausdruck kommen, sie stellt auch ein sozialkritisches Moment dar. Das biographische relevante Thema stellt die Politisierung dar, dabei ist die Vaterfigur von zentraler biographischer Bedeutung. Jannis übernimmt das Aufstiegsdelegat des Vaters, dessen Biographie geprägt ist durch die Erfahrung des Verlusts der Heimat, in die er erst im Rentenalter heimkehrt, nachdem sich die politische Lage in Griechenland in den 1980er Jahren stabilisiert hat. Jannis’ Biographie ist dagegen von einer transnationalen Lebensorientierung gekennzeichnet, für die das Konstrukt der Heimat biographisch keine Bedeutung spielt. Für die Entstehung der transnationalen Lebensorientierung ist neben der biographischen Erfahrung, an mehreren
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Orten gelebt zu haben, auch die Universität als Ort des transnationalen Wissentransfers zentral. Durch die transnationalen Netzwerke, die er im Laufe des Studiums, der Promotion und der Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter entwickelt, kann er die Ausschlussmechanismen des deutschen Arbeitsmarktes überwinden und den biographisch konstruierten transnationalen Raum als Ressource nutzen. Für seine wissenschaftliche Karriere sind sie von zentraler Bedeutung, denn sie ermöglichen ihm eine transnationale Universitätskarriere, die auch in einer adäquaten beruflichen Position mündet, als er den Ruf an eine Professur an einer griechischen Universität erhält. Jannis bewegt sich nach der Migration nach Griechenland in einem transnationalen Beziehungsgeflecht. Während seine Biographie in der Anfangszeit nach der Migration nach Griechenland durch eine geographische Mobilität gekennzeichnet ist, wandelt sich diese im Laufe der Zeit zu einer mentalen Mobilität. Sein Lebensalltag ist eingebunden in transnationale, politische und auch wissenschaftliche Netzwerke und Sozialräume, und seine biographische Verortungsstrategie ist durch Pluri-Lokalität gekennzeichnet.
6.3 D ER F ALL M ARIA 6.3.1 Kontaktaufnahme Ich habe Maria während eines Forschungsaufenthaltes in der Klinik, in der sie arbeitete, kennengelernt. Maria ist zum Zeitpunkt des Interviews 26 Jahre alt und lebt auf der griechischen Insel Kreta. Sie arbeitet als Verwaltungsangestellte in einer kretischen Kleinstadt, wo sie auch mit ihrer Familie in einem Mehrfamilienhaus lebt. Sie hatte zum Zeitpunkt des Interviews aber eine Zusage für eine Bewerbung für einen Masterstudiengang an einer deutschen Universität erhalten und war dabei, ihren Lebensmittelpunkt wieder nach Deutschland zu verlagern. Die erste Begegnung mit Maria hatte ich in ihrem Büro, als ich auf dem Weg zu einem Termin mit einem Bekannten war. Ich musste die Wartezeit zu meinem Termin überbrücken und fing ein Gespräch mit ihr an, in dessen Verlauf ich ihr erzählte, dass ich aus Deutschland komme und gerade einen Forschungsaufenthalt auf Kreta habe. Wir kamen so ins Gespräch und sie zeigte sich auf Anhieb sehr interessiert an meiner Forschung und erzählte
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mir, dass sie ein Migrantenkind aus Ludwigshafen ist, aber seit ein paar Jahren auf Kreta lebt und gerade wieder dabei ist, nach Deutschland zurückzugehen. Nach dieser Begegnung traf ich Maria ein paar Tage später in der Bibliothek an der Universität wieder. Sie lud mich zu einem Kaffee ein, und dort fragte ich sie, ob sie sich an meiner Studie beteiligen und mir in dem Zusammenhang ihre Lebensgeschichte erzählen wolle. Sie willigte sofort ein und vermittelte mir auch noch am gleichen Tag zwei weitere Interviewpartner. Im Vorgespräch erklärte ich ihr noch, dass ich ihre Daten anonymisieren und dass ich das Gespräch aufnehmen würde. Ich informierte sie über die Interviewform des narrativen Interviews und erzählte ihr, dass ich zunächst nach ihrer Lebensgeschichte fragen und erst im Verlauf des Interviews nach Beendigung der Erzählung mit weiteren Nachfragen eingreifen würde. Die Interviewsprache wurde in den Vorgesprächen nicht thematisiert, aber wir unterhielten uns bei unseren ersten Begegnungen auf Griechisch. Maria schlug als Interviewort ihr Büro vor und hatte den Wunsch, am späten Nachmittag interviewt zu werden. Ich hatte den Eindruck, dass Maria gerne interviewt werden wollte, weil sie in dem lebensgeschichtlichen Interview eine Möglichkeit sah, über ihr Leben nachzudenken, und die Hoffnung hatte, dass ihr das Gespräch helfen würde, bei der Entscheidungsfindung im Hinblick auf die Frage, ob sie ihre Stelle in der Klinik kündigen oder sich beurlauben lassen solle. 6.3.2 Interviewdurchführung Das Interview fand zum vereinbarten Termin nachmittags in Marias Büro in einer kretischen Kleinstadt statt. Maria hat, gleich, nachdem sie mich begrüßt hat, ihr Büro abgeschlossen, damit das Interview ungestört ablaufen kann. Sie wirkte sehr angespannt und auch nervös. Die Anspannung und Unsicherheit spiegelt sich auch zu Beginn des Interviews wider. Sie ist sich zunächst unsicher, welche Sprache sie für das Interview wählen soll, entscheidet sich dann aber, auf Deutsch zu sprechen. Maria kann während des ersten Interviews den narrativen Erzählstrom kaum entfalten. Ihre Sprechweise ist distanziert und kontrolliert. Das unpersönliche Beschreiben und Darstellen einzelner Situationen nimmt in ihrer Erzählung sehr viel Platz ein. Gefühle und innere Zustände werden nicht thematisiert. Sie vermeidet es auch, über ihre Familie und ihre Partnerschaft zu sprechen. Maria spricht während des Interviews sehr langsam und verwendet ein einfaches Satz-
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schema. In ihrer Ausdrucksweise ist sie sehr sorgfältig und macht kaum Fehler. Sie wechselt während des Interviews nicht über längere Passagen die Sprache. Sie präsentiert ihre Lebensgeschichte auf der Folie ihrer Bildungsstationen. Nachdem sie die Eingangserzählung mit einem griechischen Ausdruck und einer kurzen Pause zunächst beendet, fährt sie mit dem zweiten Teil der Haupterzählung fort. Nach der „gebrochenen Koda“ setzt sie die Darstellung der Migration nach Griechenland im Alter von achtzehn Jahren auf der Folie der Aufnahme des Studiums fort und taucht auch in Narrationen ein. Den Hauptteil des Interviews beendet Maria, indem sie mich auffordert, in den Interviewverlauf durch Nachfragen einzugreifen. Nach dem Interview hatte ich den Eindruck, dass sich Maria in einer krisenhaften biographischen Umbruchsituation befindet und sie sich schwer getan hat, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Ich blieb mit ihr per e-mail in Kontakt, und sie meldete sich sehr bald nach dem Interview bei mir. Wir vereinbarten einen Termin für ein weiteres Gespräch, weil ich noch viele offene Fragen im Zusammenhang mit ihren Lebensverlaufsdaten hatte. Einige Wochen später führte ich dann auch noch ein weiteres Interview mit ihr, um ihr meine Nachfragen zu stellen. Maria lebte zu der Zeit bereits in München, und das Gespräch fand auf der Durchreise statt. Beim zweiten Interview war Maria wesentlich entspannter, da sie nicht in einer akuten Entscheidungssituation war und auch den Umzug hinter sich gebracht hatte. Sie erzählte mir, dass sie letztendlich in der Klinik gekündigt hat und in München im Studentenwohnheim wohnt. Sie machte einen zufriedenen Eindruck und war sehr begeistert von ihren ersten Eindrücken und Begegnungen in München. Während des Gesprächs entfaltete sie thematische Felder, auf die sie im ersten Interview nicht eingegangen war. Sie erzählte über ihre Kindheitserinnerungen und ihre Jugend in Deutschland und ihre Beziehungen. Das Gespräch fand auf Griechisch statt, und ich hatte den Eindruck, dass es Maria wesentlich leichter fiel, ihre Gefühle in der Muttersprache zu entfalten. Womöglich war es aber nicht nur die Sprache, sondern auch die Distanz zu Kreta, wo sie sich durch die soziale Kontrolle der Großfamilie in ihren Möglichkeitsräumen eingeschränkt gefühlt hat.
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6.3.3 Biographisches Portrait Maria wurde Ende der 1970er Jahre als Tochter einer griechischen Arbeitsmigrantenfamilie in Deutschland geboren. Sie hat noch einen vier Jahre jüngeren Bruder. Zum Zeitpunkt ihrer Geburt leben ihre Eltern bereits seit sechs Jahren in Deutschland. Sie sind im Rahmen des Anwerbeverfahrens Ende der 1960er Jahre nach Deutschland eingewandert und arbeiten beide in einer Fabrik. Maria verbringt ihre Kindheit in Ludwigshafen und besucht keinen Kindergarten. Sie wird in eine bilinguale Klasse eingeschult und besucht nach der vierten Klasse eine Hauptschule, der ein spezifisches Bildungskonzept zugrunde liegt, bei dem der Unterricht überwiegend auf Griechisch stattfindet. Im Anschluss an die Hauptschule wechselt sie an eine griechische Nationalschule in der gleichen Stadt, wo sie auch das griechische Abitur macht. Nach dem Abitur geht sie für drei Monate nach Athen und besucht einen Vorbereitungskurs für die Teilnahme an den griechischen Hochschulzulassungsprüfungen. Sie besteht die Hochschulzulassungsprüfungen und geht dann im Alter von achtzehn Jahren nach Griechenland, um an der Universität Kreta Volks- und Betriebswirtschaft zu studieren. Während der Studienzeit wohnt sie im Mehrfamilienhaus ihrer Eltern in einer eigenen Wohnung. Ihre Eltern remigrieren nach Kreta, kurz bevor sie ihr Studium abschließt. Seitdem lebt sie wieder mit den Eltern in einer Wohnung zusammen und arbeitet als Sekretärin in einer Klinik. Nachdem sie zwei Jahre berufstätig ist, bewirbt sie sich für ein weiterführendes Studium an einer kultur- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an einer deutschen Universität. Ihre Bewerbung wird angenommen, und Maria entscheidet sich, Kreta zu verlassen und ihr zweites Studium aufzunehmen. 6.3.4 Biographische Fallanalyse Die Kindheitsjahre in Ludwigshafen Maria wird Mitte der siebziger Jahre in Ludwigshafen als erste Tochter einer griechischen Arbeitsmigrantenfamilie aus Kreta geboren. Ihr Vater ist vor der Heirat mit ihrer Mutter als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen. Er stammt aus bäuerlichen Verhältnissen und musste nach dem Tod seines Vaters als einziger Sohn der Familie die Mutter und seine Schwes-
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tern versorgen. Er ist im Sommer 1969 nach Kreta gefahren, um zu heiraten. Entgegen der ursprünglichen Planung für eine arrangierte Ehe durch seinen Onkel heiratet er Marias Mutter und nimmt sie mit nach Deutschland: „Also, es ist eigentlich einem Zufall zu verdanken, dass meine Eltern geheiratet haben. Meine Onkel hatte meinem Vater schon eine andere Frau ausgesucht und sie waren auf dem Weg zur Familie, um das zu besiegeln mit ihrem Vater. Da haben sie unterwegs Hunger bekommen und wollten etwas essen, so wollte es der Zufall, dass sie in der Taverna meines Großvaters gelandet sind. Meine Mutter hat dort geholfen und als mein Vater sie gesehen hat, hat er sich Hals über Kopf in sie verliebt. Er hat zu meinem Onkel gesagt, kehren wir zurück. Als sie dann wieder zu Hause waren musste mein Onkel meinen Großvater anrufen und gleich ein Treffen vereinbaren, damit er um ihre Hand anhalten kann. Ja und dann ist er nochmal dort hin und dann hat mein Opa, meine Mutter gefragt und die hat gleich ja gesagt (lachend) unvorstellbar. Aber so war es, dass ging dann ganz schnell, die haben sich dann verlobt und geheiratet und sind dann nach Deutschland gegangen, ja meine Mutter war damals erst zwanzig und sie wollte weg aus dem Dorf.“ (2/Z 25-38) Maria verdeutlicht, dass die Ehe ihrer Eltern nicht auf einer vorherigen Liebesbeziehung entstanden ist, aber dass die Mutter an der Eheschließung aktiv beteiligt war. Die Heirat stellt für die Mutter die einzige Möglichkeit dar, die Enge ihres sozialen Raumes zu verlassen. Nachdem ihre Eltern geheiratet haben, gehen sie zusammen nach Ludwigshafen und arbeiten beide in der Industrie. Nach Marias Geburt bleibt die Mutter zu Hause und beschäftigt sich mit traditioneller Handarbeit und der Erziehung der Tochter. Die Mutter ist während der Kindheitsjahre die engste Bezugsperson von
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Maria. Sie verbringt die meiste Zeit ihrer Kindheit mit der Mutter. Der Vater arbeitet in einer Fabrik, und sie sieht ihn kaum: „Meine Eltern haben viel gearbeitet- eh vor allem mein Vater hat sehr viel gearbeitet, Akkord, alle möglichen Schichten, meine Eltern sind von Anfang an mit dem Ziel nach Deutschland zu sparen für ein besseres Leben in Griechenland. Sie haben ihr ganzes Geld gespart und ein Haus gebaut in Griechenland für die Rückkehr, aber zurückgegangen sind sie erst als Rentner.“ (2/Z 73-77) Die ganze Lebensweise von Marias Eltern, die zur ersten Generation griechischer ArbeitsmigrantInnen gehören, war darauf abgestimmt zu sparen, um die Ersparnisse in der Heimat zu investieren. Ihr Migrationsziel war es, über das in Deutschland erworbene Arbeitseinkommen ihre Existenzmöglichkeiten auf Kreta zu verbessern und wieder zurückzukehren. Diese scheinbar instrumentelle Migration nach Deutschland führt aber bei ihren Eltern, wie bei vielen anderen MigrantInnen auch, dazu, dass sie ihr ganzes Arbeitsleben in Deutschland verbringen und erst im Rentenalter wieder zurückehren, wo sie in der Nähe ihres Herkunftsdorfes in einer Kleinstadt ein Mehrfamilienhaus gebaut haben, in das sie nach der Rückkehr auch selbst eingezogen sind. Maria wächst in Deutschland in Ludwigshafen in einer „griechischen Gemeinde im Herzen Deutschlands. Eh, mit griechischen Schulen“ (Z 174) auf. Ihre Kindheitsjahre sind geprägt durch die strenge Erziehung ihrer Eltern und die soziale Kontrolle in der griechischen Gemeinde, in die ihre Eltern integriert sind: „Meine Eltern sind Griechen aus Kreta (laut). Man sagt immer dass die Kreter ein bisschen sehr streng sind, eh, und das war-. Ich hatte ein bisschen eine strenge Kindheit. Man hat auf alles geguckt, was ich gemacht habe. Das ist o.k.. Das war o.k. damals, jetzt ist es nicht mehr o.k. Eh, ich denke, das war eine schöne Kindheit.“ (Z 137-141)
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Maria besucht keinen Kindergarten, aber sie ist seit ihrer Kindheit in mehreren griechischen Tanzvereinen in der griechischen Gemeinde aktiv. Ihre Eltern haben zwar einen sehr großen Bekanntenkreis in Ludwigshafen, aber sie sind die Einzigen aus der Familie, die ausgewandert sind. Maria sieht die Großfamilie immer in den Sommermonaten auf Kreta: „Ich habe über fünfundzwanzig Cousins und Cousinen, die habe ich nicht jeden Tag gesehen, weil die leben auf Kreta. Aber bei den Familienfeiern im Sommer. Da ist dann aber auch was los gewesen. Meine Eltern hatten in Deutschland aber viele Bekannte, griechische Freunde, das waren nicht nur Kreter. Die haben wir auch oft besucht und auch getroffen auf den Tanz-Kulturveranstaltungen. Aber ich habe sie nie allein besucht. Ich durfte als Kind nie allein auf die Straße in Deutschland, immer war ich nur zusammen mit meinen Eltern unterwegs, auch später während der Schulzeit. Ich bin auch nie allein zu Kindergeburtstagen gegangen. Die haben immer sehr gut auf mich aufgepasst und mich immer begleitet. Sie hatten immer große Angst, dass mir etwas passieren könnte alleine.“ (2/ Z 55-64) Maria widmet ihren Kindheitsjahren in ihrer biographischen Erzählung nur wenig Raum, erst auf meine Nachfragen geht sie auf ihre Kindheitsjahre ein und betont, dass sie „keine Erinnerungen“ an die Kindheit in Deutschland hat. Für den Verlust der Erinnerungen an die Kindheitsjahre hat sie einen interessanten eigentheoretischen Kommentar: „Wenn, wenn jemand zurückkehrt, eh, und die Eltern auch zurückkommen, hat man automatisch irgendwie keine Kindheit mehr. Man-, man denkt, man ist achtzehn Jahre, mit achtzehn geboren worden.“ (Z 44-48) Die Vermutung liegt nahe, dass Maria die Kindheitsjahre, die durch die strenge geschlechtsspezifische Erziehung und soziale Kontrolle geprägt waren, ausblenden will. In dem Zusammenhang lässt sich auch erklären, dass
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sie ihren jüngeren Bruder, mit dem sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hat, in ihrer biographischen Erzählung überhaupt nicht erwähnt. Erst in einem Nachgespräch erwähnt sie den Bruder in einem Nebensatz. Sie charakterisiert ihre Beziehung zu ihrem Bruder zwar als „gut“, verdeutlicht aber mit einem kurzen Kommentar, dass der Bruder auch in einer Konkurrenzsituation zu ihr steht, weil er sich im Gegensatz zu ihr für eine Lebensform entschieden hat, die den traditionellen Vorstellungen des Vaters entspricht: „Ja, mein Bruder. Also, ich habe einen jüngeren Bruder, der ist Pfarrer. Ja, er hat Theologie studiert in Griechenland und ist dann hier geblieben. Er hat jetzt schon mit Anfang zwanzig eine Frau geheiratet aus dem Dorf, die keine Ausbildung hat, hat gleich eine Familie gegründet. Ein Haus gebaut. Also, mein Vater hat ihm das Haus gebaut, ihm sein ganzes gespartes Geld aus Deutschland dafür gegeben.“ (2/ Z 238 -343) Der „zwiesprachige“ Schulweg in Deutschland Maria durchläuft in Deutschland eine Variante des griechischen Schulwegs. Als Maria eingeschult werden soll, entscheiden sich ihre Eltern, sie zunächst in einer Schule anzumelden, in der sie eine bilinguale Klasse besuchen kann, in der Griechisch unterrichtet wird: „Also, ich bin in Ludwigshafen geboren, meine Eltern sind Griechen, eh ich bin dort in eine zwiesprachige Schule gegangen. Also, Grundschule und dann zur Hauptschule, eh, das ging automatisch. Alle Griechen aus meiner Klasse sind automatisch in die Hauptschule gegangen, weil dort Griechisch unterrichtet wurde und danach bin ich drei Jahre ins Lyzeum, ins griechische Lyzeum gegangen.“ (Z 10-15) Den Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule beschreibt sie mit den Worten „Das ging automatisch“. Einerseits könnte die Ver-
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wendung des Wortes „automatisch“ darauf hindeuten, dass sich die Schule, die sie besucht hat, aus einer Grund- und Hauptschule zusammensetzt, die im gleichen Gebäude war. Diese Art der Schulform, die nur eine stufenförmige, aber nicht instrumentelle Trennung kennzeichnet, würde an die Volksschule erinnern. Automatisch deutet aber auch auf eine nicht aktive Handlung in Bezug auf den Schulbesuch und impliziert eine Passivität. Maria begründet den Schulbesuch mit der Rechtfertigung einer kollektiven Entscheidung. Dadurch subsumiert sie sich in ein Schema, das sie als kollektives Schicksal darstellt und dem sie ausgesetzt war. Die Passivität an der Entscheidung über den Schulbesuch vermittelt sie erneut durch die Verwendung des Wortes „automatisch“, das sich an dieser Stelle nicht auf das Schulgebäude bezieht, sondern auf den Besuch der griechischen Hauptschule. Der Besuch einer Hauptschule, in der Griechisch unterrichtet wird, deutet aber trotzdem auf eine konkrete Entscheidung hin. Denn wenn jemand eine griechische Hauptschule besucht, entscheidet diese Person, dass sie keine andere und somit keine deutsche Schule besucht. Maria möchte an dieser Stelle rhetorisch sagen, dass „alle Griechen und da gehöre ich dazu“ die Hauptschule besucht haben. Die griechischen Kinder, die nicht wie sie eine zweisprachige Schule, sondern eine monosprachige Schule besucht haben, existieren in ihrer Darstellung nicht. In Anbetracht der Tatsache, dass die Entscheidung über den Schulbesuch der Kinder von den Eltern getroffen wird, erscheint die Offenheit der Entscheidung in Marias Darstellung geschlossen, da die GriechInnen, die eine monosprachige Schule besucht haben, nicht als Kontrast vorkommen. Sie rechtfertigt durch diesen sprachlichen Ausdruck in ihrer Darstellung den Elternwillen, der nicht auf einer Kontrastfolie als konkurrierend in Erscheinung treten kann. Maria beschreibt sich somit als konform mit „allen Griechen“, die in sich schon konform sind durch die Entscheidung, ihre Kinder auf eine bilinguale Schule zu schicken, in der griechisch unterrichtet wird. Demzufolge scheint die Verantwortlichkeit für den „griechischen Schulweg“ nicht bei den Eltern, sondern in der nationalen Zugehörigkeit der Eltern zu liegen. Dabei spielt das Motiv der kulturellen Entfremdung eine zentrale Rolle: „Meine Eltern hatten Angst, dass ich eh-. Alle hatten die gleiche Angst, dass ich irgendwie vergesse, dass ich auch Griechin bin und die wollten dass ich in eine Griechische Schule-, Griechisch - deutsche Schule und es gab zufällig
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in unserer Stadt, in Ludwigshafen eine zwiesprachige Hauptschule.“ (Z 163-167) Den Besuch der griechischen Hauptschule begründet sie mit der Angst der Eltern vor der kulturellen Entfremdung der Tochter. Diese Angst wird als kollektive Angst legitimiert, womit Maria verdeutlichen will, dass es strukturelle Bedingungen waren, die dazu geführt haben, dass sie diesen und keinen anderen Schulweg gegangen ist. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass sie den Versuch, ihren Eltern die Verantwortlichkeit zu übertragen, wieder abbricht. Der Abbruch des Satzes ist bezeichnend für die Schwierigkeit Marias, den Elternwillen im Zusammenhang mit ihrer Schulkarriere in Deutschland in ihrer Darstellung zuzulassen. Würde sie es zulassen, müsste sie die Eltern verantwortlich machen für ihre bereits in der Kindheit vorprogrammierte Rückkehr nach Griechenland. Denn die Entscheidung der Eltern, dass Maria den griechischen Bildungsweg in Deutschland durchläuft, ist nicht nur mit der Angst vor Entfremdung begründet, sondern auch mit der Orientierung an Griechenland und der Aufrechterhaltung des Rückkehrwunsches, da der Besuch einer griechischen Schule und das griechische Abitur nur funktional sind, wenn man plant, an einem griechischsprachigen Ort zu leben. Maria stellt aber ihre Migration im Alter von achtzehn Jahren zur Aufnahme des Studiums nicht als fremdbestimmte Entscheidung dar, sondern als biographisches Handlungsschema. Bevor ich mich ihrem Bildungsremigrationsprojekt widmen werde, möchte ich noch auf ein Detail im Zusammenhang mit der Darstellung des Schulwegs eingehen, das besonders interessant ist. Maria bezeichnet die Schule, die sie besucht, als „zwiesprachig“. Auch wenn die Vermutung nahe liegt, handelt es sich dabei nicht nur um einen Versprecher, denn sie verwendet während ihrer biographischen Erzählung durchgängig die Wörter „zwiesprachig“ und „Zwiesprachigkeit“. Was könnte sie damit zum Ausdruck bringen wollen? Zunächst lässt sich festhalten, dass „zwie“ eine altertümliche Form von zwei ist. Interessanterweise hat sich diese Form in der Vokabel „Zwielicht“ und „Zwiespalt“ erhalten. Zwielicht ist genau die Situation zwischen Nacht und Tagdämmerung, wo es um unangenehme Situationen geht. Bei einem Zwiespalt ist spezifisch, dass man vor einer Entscheidungssituation steht und sich für die eine oder andere Seite entscheiden muss. Durch die Verwendung von „zwiesprachig“ im Sinne einer assoziativen Verknüpfung könnte Maria zum Ausdruck bringen wollen, dass
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sie dem bilingualen Beschulungsmodell, das sie in ihrer Kindheit besucht hat, negativ entgegensteht. Für diese Lesart spricht auch, dass sie in ihrer biographischen Rekonstruktion den Schulweg, den sie durchlaufen hat, negativ evaluiert. Dabei bringt Maria auf der Folie der Figur des „zweiten Lebens“ zum Ausdruck, dass sie selbst in Deutschland den deutschen Bildungsweg gewählt hätte und sich nur in Griechenland für den griechischen Bildungsweg entschieden hätte. „M.: Wenn ich eine zweite Gelegenheit hätte, also in meinem nächsten Leben, (lacht) Int.: heh (lächelt) M.:
würde ich gern nur-, wenn ich
in Deutschland aufgewachsen wäre, hätte ich nur eine deutsche Schule besucht -. Ich, ehm. Also, in Deutschland, deutsche Schule. Wenn ich in Griechenland wäre, dann die griechische Schule. Nicht dieses, eh. Ich glaub’ das war ein
Fehler
(4
Sek.)
von
dem
Ministerium,
das
zwiesprachige. Int.:
Diese zweisprachigen Schulen?
M.:
Ja. Das
ideale ist, eh-,die griechische eh, deutsche Schule eh-,mit dem ganz normalen Lehrplan, wie für alle. Keine Unterschiede und dann nachmittags wer griechisch lernen will eh, diese Nachmittagsschule, für den Griechisch Unterricht. Das finde ich, das wäre das Beste. Na ja (laut), damals war es so üblich. Ich bin so, eh in die Schule gegangen. Genau (..). Also, die halben Stunden waren griechisch und die halben Stunden waren deutsch. Bis zur neunten Klasse.“ (Z 146-161)
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Dabei ist die Art und Weise interessant, wie sie aus ihrer biographischen Perspektive die Evaluation einleitet. Sie kritisiert zunächst nicht explizit den durchlaufenen Schulweg, sondern führt durch ein Gedankenexperiment ein, dass sie andere Entscheidungen als ihre Eltern getroffen hätte. Dabei macht sie erneut nicht die Eltern für die Entscheidung verantwortlich, sondern delegiert sie auf die Migrations- und Bildungspolitik. Sie wechselt die Sprache, um auf Griechisch die Bildungspolitik und das spezifische Konzept des Bilingualismus zu kritisieren, das ihrer Schule in Deutschland zugrunde lag. Dabei reproduziert Maria in ihrer biographischen Evaluation eine Position, in der sie für ein Schulmodell plädiert, in dem die Sprache des Einwanderungslandes im Mittelpunkt steht und der herkunftssprachliche Unterricht an Nachmittagsschulen vermittelt werden soll. In der biographischen Darstellung des Schulwegs präsentiert sich Maria nicht als handelnde Person, die aktiv ihre Schulkarriere in Deutschland gestaltet hat, sondern als eine von Umständen in den griechischen Bildungsweg getriebene Person. Die Motivation zum Studium dagegen wird im Gegensatz zum Schulweg, als ihr eigener Wille und ihre autonome Entscheidung dargestellt: „Ich wollte weiter, ich wollte studieren“ (Z 170). Die Studienzeit in Griechenland Die erste Migration nach Griechenland im Alter von achtzehn Jahren wird in ihrer Erzählung als biographisches Bildungs(re)migrationsprojekt auf der Folie des Zugangs zur Universität dargestellt. Dabei verdeutlicht Maria, dass sowohl die Wahl des Studienorts als auch des Studienfachs ihr eigenes biographisches Handlungsschema war: „Ich wollte auf jeden Fall studieren, ich wollte Ökonomie studieren an der Uni in Kreta. Das war für mich ganz klar, dass ich studieren will. Ich wusste auch ziemlich früh-, gut ich musste ja ziemlich früh ein Fach wählen, aber es war schon klar-. Ich wollte Ökonomie studieren. Das war auch für meine Eltern sehr, sehr wichtig. Sie haben dafür auch alles geopfert-.Mein Studium in Kreta bezahlt und jetzt finanzieren sie mich auch. Das ist mir unangenehm, aber
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ich-, leider-, da ich bisher kein Stipendium bekommen habe, muss ich das akzeptieren.“ (2/ Z 133-140) Die Bildungsaspirationen in Marias Familie waren groß, und ihre Eltern haben auf ein Hochschulstudium der Tochter hingearbeitet. Maria hat die Entscheidung für ihren späteren Studiengang bereits sehr früh getroffen, was sicherlich darauf zurückzuführen ist, dass im griechischen Schulsystem bereits in der ersten Klasse des Lyzeums Leistungsschwerpunkte gewählt werden müssen, die konstitutiv sind für den fachorientierten Zugang zu den Hochschulzulassungsprüfungen. Hätte Maria im Lyzeum einen anderen Leistungsschwerpunkt gewählt, wäre es für sie nicht auf Anhieb möglich gewesen, einen anderen Studiengang zu wählen. Die Tatsache, dass sie sich sehr früh für einen funktionalen, strukturierten Studiengang der Ökonomie entschieden hat, deutet darauf hin, dass sie aufstiegsorientiert ist. Nachdem Maria ihr Abitur in Deutschland macht, geht sie nach Athen und nimmt nach einem dreimonatigen Intensivvorbereitungskurs an den griechischen Hochschulzulassungsprüfungen teil: „Danach habe ich diese Prüfungen, ehm Panelinies durchgemacht und bin ins Wirtschaftsdepartment dieser Universität gekommen.“ (Z 15-16) Maria transzendiert interessanterweise an der Textstelle sprachlich, die faktisch- biographisch eine Grenzüberschreitung darstellt. Denn das griechische Lyzeum hat Maria in Deutschland besucht, und die Teilnahme an den griechischen Hochschulzulassungsprüfungen hat in Griechenland stattgefunden. Sie verwendet den indexikalen Ausdrucks „Panelinies“, aber anscheinend greift an dieser Stelle kein Detaillierungszwang, da sie davon ausgeht, dass mir bekannt ist, dass in Griechenland die Hochschulzulassungsprüfungen als Panelinies bezeichnet werden. Maria präsentiert ihren transnationalen Bildungsweg auf eine Art und Weise, in der sie die Kontinuität des griechischen Bildungssystems unabhängig von den nationalen Grenzen wiederspiegelt. Auffällig ist auch, dass die Explikation der Entscheidungssituation vermieden wird. Lediglich die Verwendung des Ausdrucks „durchgemacht“ deutet auf eine unangenehme, schwierige Situation hin. Sie macht dann im Anschluss noch Urlaub und kehrt wieder nach Deutschland zurück, um auf ihre Prüfungsergebnisse zu warten. Das grie-
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chische Bildungsministerium informiert sie nicht persönlich über ihre Hochschulzulassung: „Ich hatte es in der Zeitung gelesen, dass ich in die Universität gekommen bin und in den Zeitungen stand bis Ende Oktober könnte man sich anmelden und ich dachte, das geht so. Ende Oktober fangen die, ehm Vorlesungen, Vorlesungen ja der Unterricht an. Das war aber nicht so. Der Unterricht fing im September an und man hatte so eine Vorbereitungszeit, ehm um zu wählen, was für Fächer man belegen will. Das wusste ich nich.“ (Z 87-97) Die Informationspolitik des griechischen Bildungsministeriums und ihre Unkenntnis über das griechische Universitätssystem führen dazu, dass Maria nicht an den Informationsveranstaltungen für Erstsemester teilnehmen kann und erst mitten im laufenden Semester in das Studium einsteigen kann. Maria hat zu Beginn der Studienzeit Orientierungsprobleme in der Universität, sowohl auf der sozialen, als auch auf der sprachlichen und inhaltlichen Ebene: „Der Unterricht fing im September an und man hatte so eine Vorbereitungszeit, ehm, um zu wählen, was für Fächer man belegen will. Das wusste ich nicht. Ich kam Ende Oktober, ging in eine Vorlesung rein. Statistik. Ein sehr schwieriges Fach. Ich hatte nie Statistik in meinen vorherigen Jahren gehabt und das war der zweite Schock. Schlimm, ha, ha (lacht). Ich habe nichts verstanden. Eh (4 Sek.) durch diesen (3 Sek.) Durch diesen zwiesprachigen Mischmasch, den ich gesprochen habe, konnte ich mich auch nicht sehr gut mit den Anderen ehm, eh verständigen, weil immer wenn ich eine Lücke im Griechischen hatte, eh in der griechischen Sprache hatte, war ich gewohnt, das Deutsche reinzusetzen und alle haben mich bis dahin verstanden. Eh, jetzt musste ich nur Gr- Griechisch sprechen.
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Ich hab’ mich anfangs, eh, ich hatte eine Freundin-, die ist aus Australien gekommen, die hat also Englisch gesprochen. Die hat man aber verstanden, weil alle sprechen ja Englisch in Griechenland. Da habe ich angefangen Griechisch, Englisch zu sprechen. (ha, ha) und nicht griechisch, ach das war schlimm am Anfang. Eh, wie gesagt-, der Unterricht war schwer und ich hatte auch keine Bekannten. Ich, eh-, (4 Sek.), von dieser Seite war es auch schwer. Danach aber hat sich alles gelegt.“ (Z 97- 112) Die anfänglichen Schwierigkeiten an der Universität führt sie auf ihre muttersprachliche Sprachkompetenz zurück, die sich trotz des Besuchs des griechischen Lyzeums in Deutschland und obwohl sie in der Familie und im Bekanntenkreis griechisch gesprochen hat, als unzureichend erlebt hat. Zudem war ihre Alltagskommunikation mit anderen griechischen Kindern, die ebenso wie sie zweisprachig aufgewachsen sind, durch das Code Switching charakterisiert. Dies kommentiert sie abwertend „als zwiesprachigen Mischmasch.“ Marias deutsche Sprachkenntnisse fungieren an der griechischen Universität nicht als Ressource, um sich mit ihren KommilitonInnen zu verständigen. Um diese Situation zu bewältigen, entwickelt sie eine kreative Handlungsstrategie, als sie realisiert, dass sie mit ihren englischen Sprachkenntnissen wesentlich weiter kommt. Sie fängt an, englisch zu sprechen und entwickelt mit einer Kommilitonin, die aus Australien kommt, eine Übergangsprache, in der sie griechische und englische Sprachelemente verbindet. Obwohl diese Strategie offensichtlich eine Ressource für die Überbrückung der anfänglichen Probleme darstellt, empfindet Maria ihre Mehrsprachigkeit aber nicht als Ressource. Sie tut sich schwer damit, eine positive Haltung zu ihrer Mehrsprachigkeit zu entwickeln und hat im Hinblick auf das Niveau ihrer Sprachkenntnisse sehr hohe Ansprüche an sich selbst. Sie möchte beide Sprachen perfekt sprechen. Dass ihr das nicht gelingt, führt sie auf ihre Code Switching-Erfahrungen während der Schulzeit in Deutschland zurück: „Man sprach nicht Deutsch oder nur Griechisch. Sondern diese Mischmasch Eh, also kann ich die griechische Sprache nicht perfekt, aber auch nicht die deutsche Sprache
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ganz perfekt. Ich kann beide gut, aber nicht perfekt.“ (Z 22-25) Im Bedürfnis, beide Sprachen perfekt zu sprechen, spiegelt sich der Wunsch wider, die sprachlichen und kulturellen Welten biographisch zu verbinden. Denn zu Beginn der Studienzeit fühlt sich Maria an der Universität nicht nur sprachlich, sondern auch sozio-kulturell ausgeschlossen durch die soziale Zuschreibung als „Auslandsgriechin“ durch ihre KommilitonInnen und ProfessorInnen. Sie führt den Stigmatisierungsprozess darauf zurück, dass sie nicht die gleichen Erfahrungsräume geteilt hat wie ihre griechischen KommilitonInnen, die keine Migrationserfahrung haben: „wie soll ich es sagen, was mich ein bisschen mehr Zeit gekostet hat, ist eh, dass (4 Sek.) ich und die anderen, die Mitstudenten, die hier aufgewachsen sind, eh hatten nicht die gleichen Erfahrungen. Man hat nicht die gleiche Musik gehört. Man hat nicht die gleichen, eh, eh Vorlieben. Das war ganz anders.“ ( Z 116-122) Es ist darüber hinaus aber auch die Tatsache, dass sie ihren Studienplatz über die sogenannte Quote für Auslandgriechen bekommen hat, die die Konkurrenzsituation zu den Kommilitonen verschärft und zu Ausschlussmechanismen in der studentischen Community führt. Dennoch überwindet Maria das Verlaufskurvenpotential zu Beginn ihres Studiums nach dem ersten Studienjahr. Die anfänglichen sprachlichen Barrieren stellen nur ein vorübergehendes Problem dar: „Danach hat sich alles gelegt. Eh ich habe Freunde gefunden. Als Student findet man sehr viele Freunde. Eh die Sprache hat sich irgendwie verbessert. Durch das griechisch sprechen und griechisch Fernsehen gucken.“ (Z 112- 115) Eine zentrale biographische Ressource stellt in dem Zusammenhang ihre Clique an der Universität dar, die sich aus Studierenden zusammensetzt, die
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wie sie auch als Kinder griechischer MigrantInnen außerhalb Griechenlands sozialisiert worden sind: „Wir haben alles zusammen gemacht, zusammen gelernt, zusammen unsere Freizeit verbracht und wir waren alles Kinder-, wie ich-, alles Kinder von Griechen aus der ganzen Welt. Die konnten genau nachvollziehen wie ich mich gefühlt habe.“ (2/ Z 115-118) Dabei stellt auch ein Professor an der Universität, der sie unterstützt und ihren Bildungsweg fördert, einen wichtigen biographischen Helfer dar. Er zeigt Verständnis für Marias anfängliche Probleme und unterstützt sie auch nach dem Studium mit Gutachten für ihre Bewerbungen: „Der Herr Professor Savrakis der hat mir sehr geholfen, immer wenn ich nicht weiter wusste bin ich mit meiner Freundin zu ihm hingegangen habe ihn gefragt, was soll ich jetzt machen?“ (2/ Z 129-132) Trotz der anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten stellt Maria ihre Studienzeit retrospektiv als positiv dar: „Im Nachhinein ich kann nicht sagen, dass es schlimme Jahre waren. Es gab Probleme-, am Anfang ja, schlimm-, Aber dann habe ich Freunde gefunden, ich habe den Unterricht gut überstanden, ich habe mich verliebt und hatte dann meinen ersten Freund-. Ja, das ist dann eine andere Geschichte-, ist nicht gut ausgegangen-, der hat mich sehr verletzt, aber im Nachhinein, im Vergleich zu dem Leben nach dem Studium war, das eine wirklich schöne Zeit. Ich war viel unterwegs.“ (2/ Z 139-145) Die Studienzeit ist auch begleitet von regelmäßigen Besuchen bei den Eltern, die noch in Deutschland leben. Die Eltern remigrieren allerdings nach Kreta, als Maria ihr Studium abschließt. Die Rückkehr der Eltern erlebt
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Maria als Einschränkung in ihren Handlungsräumen. Einerseits weil sie dadurch keine Zweitwohnung mehr in Deutschland hat und zu regelmäßigen Besuchen nach Ludwigshafen fliegen kann, andererseits weil sie ihre Wohnung im Mehrfamilienhaus aufgeben muss und wieder mit ihren Eltern zusammen in einer Wohnung lebt. Der biographische Entwurf des Bildungs(re)migrationsprojekts nach Deutschland Maria entwickelt, nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hat, den biographischen Entwurf der Rückkehr nach Deutschland. Ihr Rückkehrwunsch ist damit verbunden, sich weiterzubilden. Sie möchte in Deutschland einen weiteren Bildungsabschluss machen, von dem sie sich bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhofft. Denn beim Übergang vom Studium in den Arbeitsmarkt realisiert Maria, dass es für sie sehr schwierig ist, auf dem regionalen Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden, in der sie adäquat ihre Qualifikationen einsetzen kann. Sie jobbt nach dem Studium in einer Boutique und macht auch einen Weiterbildungskurs, um ihren akademischen Abschluss durch Zusatzqualifikationen aufzuwerten und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Zeitgleich versucht sie sich für einen Sprachkurs in Japanisch anzumelden. Als sie feststellt, dass dies auf Kreta nicht möglich ist, besucht sie einen Sprachkurs in Türkisch. Durch ihre sozialen Netzwerke erfährt Maria dann von einer ausgeschriebenen Stelle als Verwaltungsangestellte in einer Klinik in Chania, auf die sie sich bewirbt. Maria erhält unter vielen Bewerberinnen die Stelle und arbeitet seitdem als Angestellte in der Verwaltung der Klinik. Die Atmosphäre bei der Arbeit empfindet sie als angenehm, da in der Klinik sehr viele Ärzte arbeiten, die viele Jahre im Ausland studiert und gearbeitet haben. Die angenehme Arbeitsatmosphäre tröstet Maria aber nicht darüber hinweg, dass sie ihre Arbeit inhaltlich nicht erfüllt. Die Einstellungsvoraussetzung für ihre Tätigkeit war zwar ein betriebswissenschaftliches Studium, aber Maria nimmt ihre Tätigkeit als Dequalifizierung war: „Ich bin, ich bin hier sozusagen Sekretärin. Ich habe einen Universitätsabschluss. Als ich mich auf die Stelle beworben habe, haben sie jemand mit einem Wirtschaftsabschluss gesucht für diese Aufgabe. Das ist ein bisschen
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verrückt (4 Sek.). Alle sagen, dass ich eine gute Arbeit habe und für Griechenland ist es auch gut. Aber ich möchte mehr von meinem Leben. Ich möchte weiter kommen.“ (Z 197-202) Mit dem Kommentar „das ist ein bisschen verrückt“, bringt Maria ihren Unmut darüber zum Ausdruck, dass sie sich als Akademikerin in einer strukturell bedingten dequalifizierten beruflichen Position befindet. Ihre berufliche Position stellt, obwohl sie für Wirtschaftswissenschaftler ausgeschrieben war, keine ausbildungsadäquate Berufstätigkeit dar. Als Sekretärin tätig zu sein, nimmt Maria als Abwertung ihrer Qualifikationen wahr. Sie verdeutlicht, dass sie in ihrer Arbeitssituation kein vorwärtstreibendes Moment der biographischen Entwicklung sieht: „Ich möchte weiter kommen (...) nicht stehen bleiben.“ (Z 204) Ihre soziale Welt, ihre Reise- und Berufsmöglichkeiten werden immer enger. Maria betont zwar, dass ihre Arbeitssituation, unter den objektiven Bedingungen einer Kleinstadt durchaus gut ist: „Chania. Das ist eine Kleinstadt, da findet man sehr schwer Arbeit. Ich glaube, ich war von den IJȣȤİȡȠȪȢ (dt.: Glücklichen). Ich muss mich glücklich schätzen (6 Sek.).“ (Z135-137) Aber ihr soziales Leben entspricht nicht ihren Vorstellungen, und da sie ihr „Leben nicht als Sekretärin verbringen möchte“, entwickelt Maria das biographische Handlungsschema der Rückkehr nach Deutschland, das sie mit dem biographischen Entwurf eines Bildungsmigrationsprojekts verbindet. Sie möchte sich in Deutschland beruflich weiterqualifizieren, „um noch einen Masters“ zu machen. Auslöser des Wunsches der Rückkehr ist aber nicht nur der Studienwunsch, sondern auch die mit einer erneuten Migration einhergehende Möglichkeit, ein vorhandenes Potential an „Ungelebtem Leben“ zu entfalten und für sich selbst herauszufinden, in welchem Land sie leben will. Im Zusammenhang mit der geplanten Remigration nach
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Deutschland bezeichnet sie auch die Studienzeit in Griechenland als Traum der Remigration, den sie sich verwirklicht hat. Während der Studienzeit in Griechenland hat Maria im Alltagsleben realisiert, dass sie sich nur Illusionen über das Leben in Griechenland gemacht hat: „Mein Traum war mal hier wieder zurückzukehren, aber ich wusste nicht, wie es ist hier zu leben. Richtig das Leben. Wir kamen immer im Sommer her, also wusste ich nur wie es ist im Sommer hier ist und nicht wie es hier im ganzen-,wie es ist das ganze Jahr hier zu leben.“ (Z 40-43) Ihre Erwartungshaltung hat sie aufgrund regelmäßiger Sommerurlaubserfahrungen entwickelt, die sie im Grunde als Touristin gemacht hatte und die mit keiner konkreten Erfahrung über das Leben auf Kreta in den Wintermonaten verbunden war. Ihr biographisches Projekt der Rückkehr nach Deutschland stellt sie als Strategie dar, der Perspektivlosigkeit zu entkommen und die Lebensgestaltung neu zu überdenken: „Ich will zurück (laut und lachend), eh ich will nicht zurück, weil ich hier nicht leben kann, sondern mir gefallen einpaar, ehm sag ich es mal so, ich will zurück um vielleicht- um noch einen Masters in Deutschland zu machen und will dann sehen wo ich besser leben kann.“ (Z 35-39) Obwohl Maria sagt, dass der Wunsch der Rückkehr mit der Ganzheit ihres Lebens zusammenhängt, unternimmt sie den Versuch, den angestrebten Bildungsabschluss als zentrales Motiv in den Mittelpunkt zu setzen und den Rückkehrwunsch nach Deutschland primär als WeiterbildungsEntscheidung darzustellen und durch Bildung zu legitimieren. Das Motiv wegzugehen, um sich zu bilden, spiegelt aber nicht nur ihr eigenes Bildungsbestreben wider, sondern fungiert auch als Legitimationsressource gegenüber ihrem sozialen Umfeld, damit sie die Familie verlassen kann. Denn Marias Handlungsräume werden nach dem Abschluss des Studiums immer eingeschränkter. Sie wiedersetzt sich den Erwartungshaltungen in der Familie und heiratet nicht ihren ersten Freund, den sie während des Studiums kennengelernt hat. Sie zieht nach der Rückkehr der Eltern nach
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dem Studienabschluss wieder mit ihren Eltern zusammen, was ihre Freiräume einschränkt. Zudem ist sie permanent dem sozialen Druck ihres Herkunftsmilieus ausgesetzt, das die Erwartungshaltung an sie trägt, dass eine Frau mit Mitte zwanzig heiraten sollte. Sie stellt zwar dar, dass ihr die Eltern diese Entscheidung überlassen, zeitgleich verdeutlicht sie aber auch, dass ihr Lebensentwurf nicht den Vorstellungen des Milieus ihrer Eltern entspricht: „Meine Eltern haben gesagt, ich soll das machen, was ich für richtig halte. Aber, auch wenn sie es nicht sagen, weiß ich doch, dass sie auch denken, wo soll ich nur hin allein in Deutschland. Ich bin zwar (…) aber für sie bin ich noch ein Kind. Erst wenn ich verheiratet bin, bin ich erwachsen und alle in meinem Alter sind in Kreta meistens schon verheiratet. Die haben schon Kinder und ich denke, da sieht man die Differenz. Ich bin, ich habe eh-, eine andere Vorstellung von meinem Leben. Ich möchte was aus meinem Leben machen.“ (Z 247-254) Ihre Eltern intervenieren zwar nicht in ihre Lebensplanung, aber Maria verspürt den sozialen Druck, der auf ihren Schultern lastet. Sie äußert die Vermutung, dass ihre Eltern eher eine Heirat befürworten würden, da eine Heirat in dem Alter, in dem sie sich befindet, den Normalitätsvorstellungen auf Kreta entspricht. Maria distanziert sich von dieser Vorstellung „Ich bin, ich habe eine andere Vorstellung von meinem Leben“, und um diese Vorstellung biographisch umsetzen zu können, ohne unter der Kontrolle der Eltern zu stehen, greift sie auf die Ressource des transnationalen Raumes zurück, um ihre Handlungsräume zu erweitern. Der Einfluss des Internet als Forum für eine transnationale Lebensorientierung Der biographisch konstruierte transnationale Raum wird in Marias Biographie einerseits durch die transnationalen familiären Netzwerke nach Deutschland und die Reisen während der Studienzeit aufrecht erhalten, anderseits durch die Kommunikationstechnologien, die ihr insbesondere nach
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dem Studium ermöglichen, dass sie ihre transnationalen Netzwerke mit ihren FreundInnen aufrecht erhalten kann, die außerhalb Griechenlands leben. „Ja, ich bin süchtig nach dem Internet. Jeden Tag treffe ich meine Freunde im Netz und telefoniere auch stundenlang mit Ihnen.“ (2/Z 124-125) Das Internet ist nicht nur für die Aufrechterhaltung der Kommunikation in Echtzeitübertragung für Maria von zentraler Bedeutung, sondern stellt auch ein Forum für ihre Suche nach Weiterbildungsmöglichkeiten dar: „Ich habe mir sehr viel Gedanken über meine Zukunft gemacht und ich möchte nicht mein Leben als Sekretärin verbringen. Ich möchte mich weiterbilden und ich habe überlegt, was habe ich für Möglichkeiten, eh, ich kann Deutsch. Dann habe ich über das Internet nach Möglichkeiten gesucht. Ich dachte, weil mein griechischer Abschluss -, nicht als Masters anerkannt wird, an einen Masters. Dann habe ich etwas sehr Interessantes gefunden. Ein Aufbaustudium an der Universität in München für Kultur und Wirtschaftswissenschaften und ich dachte mir, das ist es genau. Wirtschaft, das habe ich bereits und mit Kultur das zu verbinden, das ist interessant. Ich habe mich informiert und habe mich beworben. Sie haben mich auch genommen.“ (Z 233-241) Über das Internet entdeckt sie einen Studiengang an einer deutschen Universität, für den sie sich bewirbt. Während sie zu Beginn ihrer Studienzeit ihrer Mehrsprachigkeit noch kritisch gegenüberstand, stellt ihre Mehrsprachigkeit während der Arbeitssuche und der Suche nach Weiterbildungsmöglichkeiten eine zentrale biographische Ressource dar, da sie ihre deutschen Sprachkenntnisse als Kapital einsetzt, um im deutschsprachigen Raum eine Weiterbildungsmöglichkeit zu finden. Dabei ist das Internet als Fenster zur Welt für Marias Biographie von zentraler biographischer Bedeutung:
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„M.: Also, ich gehe jeden Tag ins Internet. Jeden Morgen lese ich die Focus-Nachrichten. Das ist eh-, da habe ich das Gefühl ich bin zuhause. Das ist der Vorteil. Man sitzt im Dorf und ist doch in der ganzen Welt zuhause. Int.:
zuhause?
M.:
(lacht), Ja überall und nirgendwo und
doch. Also, ich brauch das, dass ich die deutschen Nachrichten lese. Eh, das gibt mir das Gefühl, dass ich doch gut informiert bin und wenn ich-, ja wenn ich im Büro sitze und sie lese, da-, dann vergesse ich das alles. Eh, Ich bin da draußen in der weiten Welt.“ (Z 183-188) Das Internet nimmt in Marias Biographie eine Funktion ein, die weit über die Informationsbeschaffung hinausgeht. Es stellt einen symbolischen Ort dar, der in Marias Biographie eine Möglichkeit darstellt, sich aus der Lokalität zu lösen und in die globalisierte Welt zu flüchten „Da bin ich da draußen in der weiten Welt“. Das Internet steht dabei symbolisch für Offenheit. Es ermöglicht Maria zeitweise eine Loslösung aus ihrem Alltag und dem Ort, an dem sie lebt, den sie als einengend wahrnimmt. Die „Heimat“ im transnationalen Raum Marias Vorstellung von Heimat wandelt sich im transnationalen biographischen Prozess. Während sie vor der Aufnahme des Studiums in Griechenland eine Vorstellung von Heimat hatte, bei der das Kriterium der nationalen Herkunft ausschlaggebend war und sie das Herkunftsland ihrer Eltern als Heimat erklärt hätte, hat sie ihre Vorstellung von Heimat revidiert: M.:
Heimat, das frage ich mich auch, ehr-
lich. (5 Sek.). Ich habe mir immer gedacht, dass Heimat das ist (laut), eh wo die Wurzeln sind. Ich dachte immer das ist Heimat und die ganzen Verwandten sind, die Blutsverwandten also, die Cousins und so und-, aber letzten
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Endes ist Heimat das, wo man sich wohl fühlt, finde ich. Dieses Land, wo man sich wohl fühlt und gut leben kann. Gut leben nicht vom Finanziellen her, sondern wo man glücklich ist. Das ist Heimat glaube ich, nicht da wo die ganzen Verwandten sind.“ (Z 287-293) Marias Vorstellung von Heimat ist nicht auf einen konkreten Ort fixiert. Sie verbindet den Begriff Heimat mit einem offenen Ort und dem Gefühl des „Glücklich seins“. Maria betont aber auch, dass sie diesen Ort in ihrem Leben bisher nicht gefunden hat: „Also, ich bin noch am suchen“. Sie hofft, diesen Ort durch das Offenhalten von Optionen im transnationalen Raum eines Tages zu finden. 6.3.5 Zusammenfassung In Marias Biographie stellt die Bildungsmigration ins Herkunftsland ihrer Eltern die Fortsetzung ihres transnationalen Bildungsweges dar. Das Bildungs(re)migrationsprojekt führt zum Bildungsaufstieg in der Migration und im Verlauf des biographischen Prozesses zu einer transnationalen Lebensorientierung. Die transnationale Lebensorientierung ist gekennzeichnet durch das Aufrechterhalten von Lebensoptionen sowohl in Deutschland als auch in Griechenland. Marias biographischer Zukunftsentwurf ist charakterisiert durch ausgeprägte weitere Bildungsbestrebungen. Im Zentrum der biographischen Planung steht die Akkumulation von Bildungskapital als Möglichkeit der Verbesserung der Berufs- und Lebenssituation. Um die berufliche Disqualifizierung, die strukturell durch die hohe Akademikerarbeitslosigkeit in der Region, in der sie lebt, bedingt ist, zu überwinden, nutzt sie den transnationalen Raum, um ihre Handlungsressourcen zu erweitern. Nach der ersten Migration setzt ein autobiographischer Selbstverständigungsprozess ein, in dem Maria beginnt, ihre transnationalen Wissensbestände als biographische Ressource anzuerkennen und zur Bewältigung von Verlaufskurvenpotentialen einzusetzen. Dabei wird ein Prozess der innerpsychischen Vereinbarkeit der Erfahrung und Erkenntnis der Zugehörigkeit zu mehreren nationalen und kulturellen Kontexten in Marias Biographie in Form von biographischer Arbeit eingeleitet.
7.
Transmigration und Biographie: Abschließende Betrachtung der Forschungsergebnisse
Das Ziel der vorgelegten empirischen Studie war es, über einen biographieanalytischen Zugang Erkenntnisse über die Konstitution von Transmigrationsprozessen bei der Nachfolgegeneration von ArbeitsmigrantInnen zu erhalten. Am Beispiel der griechischen Arbeitsmigration bin ich der Frage nach der Entstehung von transnationalen Biographien und Lebensweisen im Prozess der Migration nachgegangen. In meiner Studie habe ich die Ansätze der Transnationalisierungsforschung mit der Biographieforschung verknüpft, um das Phänomen der Transmigration empirisch zu erschließen und theoretisch weiter auszudifferenzieren. Obwohl das Konzept der Transmigration (vgl. Glick Schiller u.a. 1992, Pries 1996, 2010) seit einigen Jahren Eingang in den deutschsprachigen migrationssoziologischen Diskurs gefunden hat, ist die Entstehung transnationaler Biographien und Lebensweisen bei den Kindern der ArbeitsmigrantInnen, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland eingewandert sind, als soziales Phänomen in der Migrationssoziologie bisher nicht empirisch untersucht worden. Mit meiner empirischen Studie habe ich versucht diese Forschungslücke zu schließen und einen Beitrag für die Transmigrationsforschung im europäischen Raum zu leisten. Im Folgenden möchte ich die zentralen Forschungsergebnisse abschließend zusammenfassend diskutieren und das Verhältnis von Transnationalisierung und Biographie theoretisch reflektieren.
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7.1 D IE E NTSTEHUNG DER T RANSMIGRATION ALS NICHT - INTENDIERTE F OLGE VON BIOGRAPHISCHEN B EWÄLTIGUNGSSTRATEGIEN Die empirische Grundlage der Arbeit bildeten transnationale Migrationsbiographien der Nachfolgegeneration griechischer ArbeitsmigrantInnen, die mehrfache Migrationsbewegungen zwischen Griechenland und Deutschland aufweisen, und in einer dreijährigen transnationalen Feldforschung erhoben und rekonstruktiv-biographieanalytisch ausgewertet worden sind. Die rekonstruktive Analyse des empirischen Materials hat aufgezeigt, dass sich die griechische Gastarbeitsmigration in Europa in den letzten fünfzig Jahren in der Nachfolgegeneration in Transmigration verwandelt hat. Es konnte aufgezeigt werden, dass die sowohl von familienbiographischer als auch von migrationspolitischer Seite intendierte Remigration, die zeitweise biographisch von der Nachfolgegeneration umgesetzt wurde, eine Momentaufnahme des Transmigrationsprozess darstellt. Die Rückkehrorientierung der Elterngeneration hat sich im Verlauf des Migrationsprozesses bei der Nachfolgegeneration zu einer transnationalen Lebensorientierung transformiert, die keineswegs, wie in der klassischen Remigrationsforschung angenommen wurde, zum Scheitern des Migrationsprozesses geführt hat. Die abduktive Forschungslogik im Sinne von Peirce (1933), die ich im Forschungsprozess mit dem methodologischen Rahmenkonzept der Grounded Theory (vgl. dazu Glaser/Strauss 1967) umgesetzt habe, hat zur Forschungsentdeckung geführt, dass die Entstehung und Entfaltung der Transmigration als Lebensform mit Bildungs- und sozialen Aufstiegsprozessen in der Migration verschränkt ist. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird der Typus der Transmigration als eine neue Migrationsform im Zeitalter der Globalisierung diskutiert (vgl. dazu Glick Schiller u.a. 1992, Pries 1996, 2010). Als Faktoren, die zur Entstehung dieses Migrationstypus geführt haben, werden der fortschreitende Globalisierungsprozess und neuere Kommunikationstechnologien aufgeführt. Kulturanthropologische, ethnologischen und soziologische Studien, die mithilfe ethnographischer Methoden transmigratorische Phänomene untersuchen, konzentrieren sich weitgehend auf die Alltagspraxen, die Identitätskonstruktionen der TransmigrantInnen und ihre transnationalen Netzwerke (Pries 2008: 189). Im Unterschied zu diesen Studien, die im Rahmen von ethnographischen Feldbeobachtungen ihr Augenmerk haupt-
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sächlich auf die Aktivitäten und Alltagspraxen der Transmigranten richten, habe ich in meiner Arbeit den Fokus auf die Entstehungsbedingungen von Transmigration und die biographischen Prozesse gerichtet. Dabei habe ich den biographischen Ansatz nicht nur als theoretischen, sondern als zentralen methodischen Zugang gewählt (vgl. dazu Kap. 2). Durch den methodische Zugang über das Schlüsselkonzept der Biographie, das ich zur Erforschung von unsichtbaren Strukturen transnationaler Migrationsräume eingesetzt habe, konnte die Bedeutung der lebensgeschichtlichen Erfahrungsdimension für die Entstehung von Transnationalität ins Blickfeld der Analyse gelangen. Der Prozess der Transmigration konnte in seiner historischen Entwicklung rekonstruiert werden und das Zusammenwirken verschiedener Ebenen identifiziert werden, die die Entstehung und dynamische Entwicklung der Transmigration im Gefolge der Gastarbeitsmigration bedingen. Der rekonstruktiv-biographieanalytische Zugang hat aufgezeigt, dass die Transmigration im Kontext der Gastarbeitsmigration nicht nur eine Migrationsform im Zeitalter der Globalisierung ist, sondern einen biographischen Entwicklungs- und Transformationsprozess darstellt. Aus biographischer Perspektive stellt die Entstehung der Transmigration eine nicht-intendierte Folge von Bewältigungsstrategien dar, die beim Bildungs- und sozialen Aufstieg von den Nachkommen griechischer ArbeitsmigrantInnen entwickelt wurden und mit der Generierung von transnationalen Biographien einhergehen. Die Entstehung und Aufrechterhaltung von transmigrantischen Lebensweisen bringt biographische Belastungen mit sich, die überwunden werden und kreativ durch Prozesse biographischer Arbeit verarbeitet werden. Die untersuchten Fallbiographien haben das Arbeitsmigrationsprojekt der Elterngeneration als eine biographische Prozessstruktur erfahren, der sie passiv ausgesetzt waren. Die Kinder griechischer ArbeitsmigrantInnen haben aufgrund problematischer Kindheits- und Trennungserfahrungen im Vorschulalter, die durch die strukturellen Bedingungen der Arbeitsmigration bedingt waren, bereits in den Kindheitsjahren eine psychische Widerstandsfähigkeit entwickeln müssen. Bei der Einschulung waren sie mit Sprachschwierigkeiten in der deutschen Sprache konfrontiert. Während der Schulzeit mussten sie zwischen dem deutschen und griechischen Schulsystem wechseln. Sie haben Fremdheitserfahrungen im Ankunfts- und Herkunftsland gemacht und mussten den Monopolisierungsansprüchen der Ankunftsländer und den natio-kulturellen Fremdzuschreibungen begegnen. Das Verlaufskurvenpotential wurde überwunden durch die
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Entwicklung biographischer Bewältigungsstrategien und Handlungsmöglichkeiten, die den nationalstaatlichen Raum überschreiten und für die Erfahrungspraxen der TransmigrantInnen konstitutiv geworden sind. Die biographischen Erfahrungen der Sozialisation in transkulturellen und transnationalen Räumen, die transnationalen Beziehungen und Netzwerke, das lebensgeschichtliche Pendeln in zwei Ländern, der Besuch des griechischen und des deutschen Bildungssystems, die Mehrsprachigkeit, die Unterstützungsleistungen durch signifikante Andere während der transnationalen Schul- und Studienzeit sowie die Generationen-Arbeit in den Familien stellen zentrale Ressourcen zur kreativen Bewältigung der Verlaufskurvenerfahrungen dar. Die strukturellen Probleme der (Trans)Migration wurden konstruktiv verarbeitet durch biographische Arbeit. Im Verlauf des biographischen Prozesses entstehen transnationale Biographien, die durch MultiLokalität und Mehrfachzugehörigkeiten charakterisiert sind (vgl. dazu Kap. 2.4 und Kap.6). Die entdeckten Transmigrationsphänomene lassen sich aus biographietheoretischer Sicht mit dem Konzept des transnationalen biographischen Wissens durchdringen. Die transnationalen sozialen Räume die im Prozess der Transmigration entstehen, konkretisieren sich in der Struktur der Migrationsbiographie, die durch biographische Arbeit von den TransmigrantInnen biographisch hergestellt und fortwährend (re-)konstruiert wird (vgl. dazu auch Apitzsch/Siouti 2008). Die im Laufe der Lebensgeschichte erworbenen biographischen Erfahrungen lagern sich als transnationales biographisches Wissen ab und stellen das Kapital bereit, welches fortlaufend für die Konstruktion der transnationalen Biographie verwertet wird. Die biographischen Erfahrungen verdichten sich im biographischen Verlauf als transnationale Wissensbestände zu einem transnationalen Handlungsmuster, das von der Nachfolgegeneration zur Erweiterung von Handlungsräumen eingesetzt worden ist. Dadurch konnten die durch gesellschaftliche Exklusionsmechanismen verursachten Verlaufskurvenerfahrungen im Ankunfts- und Herkunftsland überwunden werden: die Ausschlussmechanismen im deutschen Bildungssystem ebenso wie das Ausbleiben von beruflich adäquaten Positionen nach dem Eintritt in das Berufsleben. Die im Verlauf des biographischen Prozesses entstandenen transnationalen sozialen Räume stellen für die biographischen Projekte eine zentrale Ressource zur sozialen Absicherung dar. Die Kinder der ehemaligen griechischen ArbeitsmigrantInnen können alternative Optionen in dem jeweils an-
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deren Land wahrnehmen, um adäquate berufliche Positionen zu erhalten, ihre beruflichen Qualifikationen zu erweitern und ihre biographischen Entwürfe umzusetzen. Die biographische Entfaltung der transnationalen Lebensführung unterliegt dabei allerdings konkreten strukturellen und politischen Bedingungen, die die Entstehung transnationaler sozialer Räume überformen. Dazu gehören die Einwanderungs- und Bildungspolitik der deutschen Gesellschaft, die Diasporapolitik des griechischen Staates und insbesondere die zwischenstaatlichen Regelungen auf dem Bildungssektor (vgl. dazu Kap. 3). Eine zentrale Rolle nimmt freilich die EU als sich formierender neuer „Suprastaat“ ein, der der Nachfolgegeneration griechischer ArbeitsmigrantInnen in Europa ein grenzenloses Recht auf Freizügigkeit garantiert. Als EU- BürgerInnen können sie innerhalb Europas problemlos ihren Wohn- und Arbeitsort wechseln und visumsfrei die nationalen Grenzen überschreiten. Sie können ihre Sozial-, Kranken- und Rentenversicherungsrechte in beiden Ländern nutzen und von einem in das andere Land übertragen lassen. Sie können sich ihre Bildungsabschlüsse in beiden Ländern anerkennen lassen und profitieren von bilateralen Vereinbarungen auf dem Bildungssektor, so erhalten beispielsweise AbsolventInnen der bilingualen griechischen Schulen in Deutschland einen Bewerbungsbonus bei den Studienzulassungsprüfungen an den griechischen Universitäten. Diese strukturellen Bedingungen haben spezifische Transmigrationsformen und Mobilitätsmuster im Kontext der griechischen Arbeitsmigration hervorgebracht, die mit Bildungsaufstiegsprozessen einhergehen.
7.2 T RANSNATIONALES BIOGRAPHISCHES K APITAL ALS ZENTRALE R ESSOURCE FÜR DEN B ILDUNGSAUFSTIEG UNTER DEN B EDINGUNGEN VON M IGRATION In der empirischen Untersuchung ist im Verlauf des Forschungsprozesses die Verschränktheit von Transmigration mit anderen sozialen Prozessen deutlich geworden, und es hat sich herauskristallisiert, dass für die Nachfolgegeneration von griechischen ArbeitsmigrantInnen nicht nur eine geographische Mobilität charakteristisch ist, sondern dass diese auch mit einer sozialen Aufstiegsmobilität durch Bildung einhergeht. Es konnte aufgezeigt werden, dass bei der Nachfolgegeneration griechischer ArbeitsmigrantIn-
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nen Bildungsaufstiegsprozesse existieren, die einen transnationalen Charakter aufweisen. Die entdeckten Formen von Bildungsmigration und beruflicher Mobilität sind nicht im nationalen Horizont der Einwanderungsgesellschaft erklärbar, sondern nur im Rahmen transnationaler Perspektiven, die über den mononationalen Blick der um die Ankunftsnation zentrierten Migrationsforschung hinausgehen (vgl. dazu auch Apitzsch/Siouti 2008). Sie können und sollten daher auch nicht unter dem Typus der Remigration subsumiert werden, sondern als Formen von bildungserfolgreicher Transmigration betrachtet werden. Den Kindern griechischer ArbeitsmigrantInnen ist der Bildungsaufstieg unter den schwierigen Bedingungen von Migration gelungen. Entgegen der Annahme der klassischen Migrationsforschung, dass Trennungserfahrungen in der Kindheit und Pendelmigration bei der Nachfolgegeneration zu gescheiterten Bildungskarrieren führen (vgl. Auernheimer 2006; Diehl 2002), konnte anhand der biographischen Fallrekonstruktionen aufgezeigt werden, dass das Pendeln zwischen dem griechischen und dem deutschen Bildungssystem eine zentrale Ressource für den Bildungsaufstieg darstellt. Die Nutzung der (bi)nationalen Schulmodelle in Deutschland hat für die Kinder der griechische ArbeitsmigrantInnen eine Ressource dargestellt, um die Selektionsmechanismen des deutschen Bildungssystems zu umgehen. Durch den Besuch griechischer Schulen konnten sie ihre Bildungsmöglichkeiten in Deutschland erweitern und einen vereinfachten Zugang zu einem Universitätsstudium in Griechenland erhalten, der ihnen auch die Fortsetzung ihrer transnationalen Bildungskarrieren an deutschen Hochschulen ermöglicht hat. Durch die Nutzung eines transnationalen europäischen Bildungsraumes haben die Nachkommen griechischer ArbeitsmigrantInnen die Ausschlussmechanismen des deutschen Bildungssystems somit vielfach erfolgreicher unterlaufen als dies durch bedingungslose Assimilation an das deutsche Bildungssystem möglich gewesen wäre. Im Hinblick auf die Frage, welche Faktoren den Bildungsaufstieg positiv beeinflusst haben, kann festgehalten werden, dass es sich um ein Geflecht von Faktoren jenseits des sozio-ökonomischen Status der Herkunftsfamilie handelt. Die biographischen Analysen verweisen auf die zentrale Bedeutung von innerfamiliären Ressourcen. Die in der Migrationsforschung weitverbreitete These, dass die griechischen Eltern als besonders bildungsmotiviert gelten und ihre Bildungsaspiration an die Nachfolgege-
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neration vermitteln (Dietzel-Papakyriakou 2001, Kontos 1997, Paraschou 2001), konnte auch in der vorgelegten Studie bestätigt werden. Die Transmission der ausgeprägten Bildungsaspirationen der Eltern hat den Verlauf der Bildungskarrieren der Kinder nachhaltig positiv beeinflusst, ebenso aber auch die engagierte Unterstützung durch VertreterInnen der institutionellen Seite. In allen fünfzehn biographischen Fallstudien ist deutlich geworden, dass das Zusammenwirken von Unterstützungsleistungen auf institutioneller und familiärer Ebene den positiven Verlauf der Bildungsbiographien begünstigt hat, insbesondere die biographische Konstellation von Eltern als Motivatoren einerseits und den LehrerInnen als biographischen HelferInnen andererseits. Zudem hat die Mehrsprachigkeit eine weitere zentrale Rolle gespielt, weil dadurch die Möglichkeit des Wechsels zwischen verschieden Schulsystemen erst ermöglicht worden ist. Die Mehrsprachigkeit stellt als besonderes Bildungskapital eine zentrale biographische Ressource für die Entfaltung eines transnationalen Bildungs- und Lebensweges dar. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die biographischen Erfahrungen in verschiedenen Schulsystemen und transnationalen sozialen Räumen, die im Verlauf des biographischen Prozesses als Wissensbestände verdichtet wurden, als transnationales biographisches Kapital1 eine zentrale Ressource für den Bildungsaufstieg unter den Bedingungen von Migration darstellen.
7.3 D IE E NTWICKLUNG VERGESCHLECHTLICHTER BIOGRAPHISCHER T RANSMIGRATIONSPROZESSE Die rekonstruktive Biographieanalyse der untersuchten Migrationsbewegungen bei der Nachfolgegeneration griechischer ArbeitsmigrantInnen hat die Entstehung vergeschlechtlichter biographischer Transmigrationsprozesse ans Licht geführt. Die Ausprägung der transmigratorischen Lebensmuster ist vielfältig und variiert aufgrund des Geschlechts, des sozialen, kultu-
1
Zum Begriff des biographischen Kapitals vgl. Hoerning (1995), Lutz (2000) und Kontos (2000). Im Anschluss an Hoerning (1995) verstehe ich darunter eine Kapitalsorte, die sich sowohl aus dem sozialen und kulturellen Kapital im Sinne Bourdieus als auch über die im transnationalen Lebensverlauf erworbenen Wissensbestände zusammensetzt.
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rellen und ökonomischen Kapitals (Bourdieu 1983) und der psychosozialen Dispositionen. Die Kategorie Geschlecht spielt sowohl bei den Entstehungsbedingungen als auch bei der Entfaltung von transmigratorischen Lebensweisen eine zentrale Rolle. Im Hinblick auf die entdeckten Transmigrationsmuster kann festgehalten werden, dass sich bei der Nachfolgegeneration griechischer MigrantInnen zwei Formen von Transmigration unterscheiden: TransmigrantInnen, die physisch mobil sind und deren Lebensprojekte durch permanente Pendelmigration gekennzeichnet sind, und TransmigrantInnen, die zwar nicht physisch, aber mental mobil sind, die insbesondere durch die Kommunikation in Beziehungsnetzwerken ihre sozialen Räume transnational aufspannen (vgl. dazu Kap. 6). Jedoch zeichnet sich in den untersuchten Fallbiographien auf der Basis des theoretischen Samplings ab, dass es im Hinblick auf die Ausprägung der Mobilitätsmuster Geschlechterdifferenzen gibt. Es kann aufgrund des theoretischen Samplings festgehalten werden, dass die Mobilitätsmuster vergeschlechtlicht sind. Migrantinnen nutzen das transnationale Pendelmigrationsmuster weit verbreiteter als Migranten, um den sozialen Aufstieg durch Bildung zu erreichen und die Vereinbarkeitsproblematik von Familie und Beruf biographisch zu bewältigen. In diesem Zusammenhang konnte ein Phänomen identifiziert werden, das in dieser Ausprägung nicht zu erwarten war, die Handlungsstrategie der „geographisch mobilen Mutterschaft“, die eingebettet ist in Prozesse des transnationalen Familienlebens. Aus Studien über die erste Generation von ArbeitsmigrantInnen ist bekannt, dass die ehemaligen Gastarbeiterinnen, die Kinder hatten, vor allem zu Beginn der Arbeitsmigration ihre Kinder zur Betreuung bei Verwandten in den Herkunftsländern hinterlassen haben, um ihrer Erwerbstätigkeit in den Anwerbeländern nachzugehen. Die Mutterschaftskonzepte der Migrantinnen waren schon zu Beginn der Arbeitsmigration damit verbunden, dass die lebenspraktische Umsetzung der Mutterschaft mit der Trennung von den Kindern oder anderen Familienmitgliedern einherging (vgl. dazu Herwartz-Emden 1995, Herwartz-Emden/Waburg 2008). Das Betreuungsmuster in den griechischen Migrantenfamilien war bereits in den Anfängen der Arbeitsmigration transnational ausgerichtet. In der Literatur wurde das Phänomen unter dem Stichwort „Fragmentierung der Familien“ meist aus
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einer problemzentrierten Perspektive diskutiert (vgl. dazu Kontos 1997).2 Vor allem die Trennungserfahrungen und damit einhergehende Probleme für die Identitätsentwicklung der so genannten „Kofferkinder“ wurden in den Mittelpunkt gestellt (vgl. Gaitanides 1996). Eine transnationale Ausrichtung des Familienlebens lässt sich auch in den von mir untersuchten Migrationsbiographien nachweisen. Es hat sich jedoch im Unterschied zur ersten Generation angeworbener griechischer ArbeitsmigrantInnen bei der Nachfolgegeneration ein neues transnational ausgerichtetes Betreuungsmuster etabliert, das die Frage nach den Geschlechterarrangements neu stellt. Die Töchter ehemaliger griechischer Arbeitsmigrantinnen leben eine „geographisch mobile Mutterschaft“ in transnationalen Räumen. Die jungen, gut ausgebildeten Mütter trennen sich nicht von ihren Kindern, sondern pendeln mit ihren Kindern zwischen Griechenland und Deutschland. Dabei mobilisieren sie die familiären Beziehungen für die Unterstützung bei der Kinderbetreuung. In ihren Arrangements von Mutterschaft ist die physische Nähe zu ihren Kindern und gleichzeitig die geographische Mobilität von zentraler Bedeutung. Sie leben zeitweise eine Partnerschaft auf Distanz und pendeln zwischen Griechenland und Deutschland, um ihre Kinder in transnationalen sozialen Räumen zu sozialisieren und ihnen dadurch die Lebensmöglichkeiten in beiden Ländern auch weiterhin aufrecht zu erhalten. Das soziale Phänomen der „geographisch mobilen Mutterschaft“ ist insofern von besonderer Bedeutung für die Migrationsforschung, weil es einerseits die Diskussion um „transnationale Mutter- und Elternschaft “3 (vgl.
2
In der Geschlechterforschung wird in empirischen Studien über die transnationale Lebensführung von Arbeitsmigrantinnen das Zurücklassen der Kinder unter dem Begriff „transnationale Mutterschaft“ oder „Mutterschaft auf Distanz“ zum Gegenstand empirischer Untersuchungen gemacht (vgl. dazu u.a. HondagneuSotelo/Avila 1997, Hondagneu-Sotelo 2001, Lutz 2007, Parreñas 2001). Im Mittelpunkt der sozialwissenschaftlichen Studien stehen dabei die emotionalen Probleme und Belastungen der arbeitenden Mütter und ihrer in den Herkunftsländern zurückgelassenen Kinder (vgl. dazu Lutz 2007: 127).
3
Der Begriff „transnationale Mutterschaft“ wird in der Geschlechterforschung „als beschreibender Terminus verstanden, der die Anstrengungen biologischer Mütter charakterisiert, über weite geographische Distanzen hinweg ihre soziale Mutterschaft mit allen damit verbundenen Einschränkungen wahrzunehmen und
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dazu u.a. Hondagneu-Sotelo/Avila 1997, Hondagneu-Sotelo 2001, Lutz 2007, Parreñas 2000, Shinozaki 2003) um eine neue Variante erweitert, die in weiterführenden Untersuchungen genauer erforscht werden sollte. Andererseits, weil es darauf aufmerksam macht, dass im Zuge der Gastarbeitsmigration in Europa die Nachfolgegeneration von ehemaligen griechischen ArbeitsmigrantInnen nicht nur ihr eigenes Leben transnational ausrichtet, sondern auch ihre Kinder in transnationalen Räumen sozialisiert. Eine nicht nur soziologisch, sondern auch gesellschaftspolitisch hochaktuelle Frage ist die Frage nach der Aufrechterhaltung von transnationalen Lebensformen über mehrere Generationen hinweg. Ist die Transmigration als Lebens- und Daseinsform nur eine vorübergehende Erscheinung auf dem Weg zur Integration oder könnte sie das zukünftige Lebensmodell in der EU sein? Inwieweit die transnationalen Lebensformen bei den nachfolgenden Generationen über ein ganzes Leben hinweg aufrecht erhalten werden können, kann an dieser Stelle nicht gesagt werden, aber es kann festgehalten werden, dass sich im Zuge der griechischen Gastarbeitsmigration transnationale Familienformen konstituiert haben, die in dieser Form nicht zu erwarten waren und nicht nur die empirische Migrationsforschung, sondern auch die beteiligten Einwanderungsländer und die Europäische Union vor neue Herausforderungen stellen. Denn um den transnationalen Lebensweisen einer nicht geringen Anzahl von transnationalen Familien gerecht zu werden, bedarf es einer Politik, die die transnationalen mobilen Lebensmuster in ehemaligen Gastarbeiterfamilien als gleichwertig zu nicht-mobilen Lebensformen anerkennt. Die im familienbiographischen Prozess entstandenen Transmigrationsformen stellen keinen Ausnahmezustand dar, sondern sind für viele Familien in der Migration – auch über den griechischen und europäischen Arbeitsmigrationskontext hinaus – eine Daseins- und Lebensform (vgl. dazu Pries 2010: 35).
so die Sorge um mit der Sorge für ihre Kinder zu verbringen“ (Lutz 2007: 128). Das Phänomen der „transnationalen Mutter- und Elternschaft“ ist historisch kein neues Phänomen. Im Zuge der Feminisierung der Migration findet es aber zunehmend in der empirischen Forschung Beachtung, da sich die empirische Forschung im europäischen Raum im Kontext der „Care-Debatte“ insbesondere auf die Migration allein reisender Frauen aus Osteuropa konzentriert, die im Haushaltssektor tätig sind (vgl. dazu Karakayali 2010, Lutz 2007).
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Nachdem ich meine zentralen Forschungsergebnisse skizziert habe, möchte ich nun abschließend Erweiterungsmöglichkeiten des Forschungsthemas entwerfen, das in einem Folgeprojekt weiterverfolgt werden könnte. In meiner Arbeit habe ich aufgezeigt, dass die lebensgeschichtliche Erfahrungsdimension von zentraler Bedeutung ist, um die Entstehung von Transmigrationsprozessen in ihrer Komplexität zu verstehen und zu analysieren. Dabei habe ich meinen Fokus auf die Nachfolgegeneration von griechischen ArbeitsmigrantInnen gerichtet. In einer weiterführenden Studie könnte die Frage nach der Entstehung transnationaler Familien im Gefolge der europäischen Arbeitsmigration aus einer transgenerationalen Perspektive weiterverfolgt werden. Durch die Kombination der biographischen mit der ethnographischen Forschungsperspektive könnten auch die Lebenswelten der Enkelkinder erfasst werden, die in transnationalen Räumen sozialisiert werden. Darüber hinaus könnte über einen transgenerationalen Zugang auch die hochaktuelle Frage nach den Konsequenzen der Finanzkrise für die transmigrantischen Lebensweisen und die biographischen Zukunftsentwürfe der transnationalen Familien weiterverfolgt werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt, den es ebenso in weiterführenden Studien zu untersuchen gilt, ist die Frage nach dem Älterwerden in der Transmigration. Die transnationalen Familien stehen weitgehend vor der Situation, transnationale Lösungen für die Pflege der Elterngeneration zu finden, die nicht nur in transnationalen Räumen älter, sondern auch mit der Zeit pflegebedürftig werden. Hier stellt sich von neuem die Frage, inwiefern sich herkömmliche Geschlechterarrangements transformieren oder sich neue Geschlechterarrangements konstituieren.
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Transkriptionszeichen
, .
= =
? (4. sec) (lachend)
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(auf Griechisch) xyz Unterstreichung Wortabbru-
= = =
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(...) ehm, hm, eh
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kurzes Absetzen Markierung einer fallenden Intonation (Satzende) Frageintonation Dauer der Pause in Sekunden Kommentar durch die Transkribierende Markierung des Sprachwechsels emphatische Betonung eines Wortes Markierung eines Wortabbruchs innerhalb einer Wortgrenze nicht phonemische Dehnung am Wortende Inhalt der Äußerung ist unverständlich gefüllte Pause durch entsprechende Phoneme
Kultur und soziale Praxis Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.) Formationen des Politischen Anthropologie politischer Felder Juni 2013, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2263-8
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Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus April 2013, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2089-4
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Anne C. Uhlig Ethnographie der Gehörlosen Kultur – Kommunikation – Gemeinschaft 2012, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1793-1
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