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German Pages 408 [402] Year 2014
Minna-Kristiina Ruokonen-Engler »Unsichtbare« Migration?
Kultur und soziale Praxis
In Gedanken an all die Frauen, die wandern und neue Welten entdecken ...
Minna-Kristiina Ruokonen-Engler (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Migrations- und Biographieforschung sowie der Bildungs- und Geschlechterforschung.
Minna-Kristiina Ruokonen-Engler
»Unsichtbare« Migration? Transnationale Positionierungen finnischer Migrantinnen. Eine biographieanalytische Studie
D.30 Titel der Dissertation: »Uns sieht man es nicht unbedingt an ...«. Eine biographieanalytische Untersuchung von Migrationsprozessen und Subjektkonstruktionen in Biographien von Migrantinnen finnischer Herkunft Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität zu Frankfurt am Main (eingereicht 2008, verteidigt 2009)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Danksagung | 9 Vorwort | 13 Einleitung | 15
I.
ANNÄHERUNGEN UND DENKANSTÖSSE: FORSCHUNGSSTAND 1. Frauenmigration | 29
1.1. Konzeptualisierung der Frauenmigration als Feminisierung | 31 1.2. Unbeachtete Formen der Feminisierung | 36 1.2.1. Feminisierte Migration aus Finnland in die Bundesrepublik | 38 2. Das Bild der Migrantin: Eine De/Konstruktion | 43
2.1. Von der Frau zur fremden Frau und Migrantin: Ein Beispiel von Vergeschlechtlichung und Ethnisierung | 43 2.2. »Frau ist nicht gleich Frau«: Differenzen und Hierarchien | 54 2.2.1. Werden Finninnen als Migrantinnen wahrgenommen? | 59
II. THEORETISCHE ZUGÄNGE – DIFFERENZ, BIOGRAPHIE UND MIGRATION 3. In Differenzen denken: Struktur, Konstruktion und Intersektionalität | 63 3.1. Herstellung von Differenz entlang von Geschlecht und Ethnizität | 63 3.2. Intersektionalität von Differenzen | 70
4. Differenzen anders denken | 75 4.1. Von den Dichotomien zu ihren Verschiebungen | 76 4.2. Transnationale Verstrickungen | 84
5. Migration und Differenzen aus der biographischen Perspektive | 93 5.1. Biographietheoretische Perspektive | 94 5.1.1. Biographie als gesellschaftliche Wissens- und Deutungskategorie | 95 5.1.2. Gesellschaftliche Struktur und das biographische Subjekt | 98
5.2. Differenzen als biographische Konstruktionen | 102 5.3. Biographische Konzeptualisierungen von Migration | 106 5.4. Transnationale Migrationsbiographien: biographische Konstruktionen von transnationalen Sozialräumen | 114
III. AUFBRÜCHE – EMPIRISCHE STUDIE 6. Methodologisches und methodisches Verfahren | 125
6.1. Forschung als Entdeckungsreise: Die Grounded Theory und das abduktive Verfahren | 125 6.2. Die Kunst der Erzählgenerierung: Das biographisch-narrative Interview | 127 6.3. Kontextualisierung: Das situierte Wissen | 131 6.4. Arbeitsbündnis: Die Forscherin als »Betroffene« | 132 6.5. Forschungsethik: Das Vertrauen | 135 6.6. Soziales Feld und theoretisches Sampling | 139 6.7. Erhebung: Die Gestaltung der Interviewführung | 146 6.8. Auswertung: Biographieanalytische Rekonstruktion | 151 6.8.1. Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens | 152 6.8.2. Biographische Konstruktion von Differenz | 154 6.8.3. Diskurse als Deutungsmuster | 156 6.8.4. Zur Auswahl der Fälle für eine exemplarische Fallrekonstruktion | 157 7. Biographische Rekonstruktionen: Einige exemplarische Fallanalysen | 161
7.1. Saara: »Es kann sein, dass ich ins Ausland gehe.« | 163 7.1.1. Unsere Begegnungen: Anmerkungen zum Interview | 163 7.1.2. Das biographische Portrait | 166 7.1.3. Biographieanalytische Falldarstellung | 168 7.1.3.1.Herkunft als »Anderssein« | 169 7.1.3.2. Individuierung, Bildung und geographische Mobilität | 181 7.1.3.3. Migration als neue Statuspassage | 200 7.1.3.4. Dreifache Vergesellschaftung durch Beruf, Familie und Nation | 208 7.1.3.5. Eine Verortung in der Entortung: »es ist so, als wenn man überall AusländerIn wäre« | 224 7.1.3.6. Zusammenfassende Betrachtungen | 230
7.2. Katri: »Ich habe die Rückkehr immer wieder verschoben.« | 237
7.2.1. Unsere Begegnungen: Anmerkungen zum Interview | 237 7.2.2. Das biographische Portrait | 240 7.2.3. Biographieanalytische Falldarstellung | 241 7.2.3.1.Emigration als Begehren des Ausländischen | 242 7.2.3.2.Immigration als individuelles Bildungsprojekt | 249 7.2.3.3.Eventuelle Rückkehr als Familienprojekt | 256 7.2.3.4.Eine Verortung in der Mobilität und der Vielfalt: »Ich bin nie hier in Deutschland geblieben. Ich bin immer auf dem Sprung gewesen.« | 259 7.2.3.5.Die Positionierung als eine »unsichtbare«, privilegierte Ausländerin und Migrantin | 261 7.2.3.6.Zusammenfassende Betrachtungen | 272
7.3. Seija »First day of my new life begins now.« | 276 7.3.1. Unsere Begegnungen: Anmerkungen zum Interview | 276 7.3.2. Das biographische Portrait | 278 7.3.3. Biographieanalytische Falldarstellung | 279 7.3.3.1.Herkunft als Entwurzelung | 280 7.3.3.2.Individuierung und Bildung | 283 7.3.3.3.Individualisierung und Beziehungen | 291 7.3.3.4.Migration als »neues Leben« | 295 7.3.3.5.Eine mehrfache Verortung: »Bald hat man in jedem Land etwas …« | 302 7.3.3.6.Zusammenfassende Betrachtungen | 314 8. Biographieanalytische Vergleiche: Gemeinsamkeiten und Differenzen in Migrationsprozessen und Subjektkonstruktionen | 319
8.1. »Selbstständig werden«: Individuierung und Individualisierung | 320 8.1.1. Familiäre Sozialisations- und Ablösungsprozesse | 320 8.1.2. »Begehren« des Ausländischen | 322 8.1.3. Bildung und Mobilität | 323 8.2. »Ins Ausland gehen«: Migration als Möglichkeitsraum | 325 8.2.1. Migration als Herstellung biographischer Kontinuität | 330 8.2.2. Migration als Erweiterung des Handlungsspielraums | 332 8.2.3. Migration als »zweite Möglichkeit« | 333 8.3. »Migrantin werden« – Vergesellschaftungsprozesse und die Konstitution des Transnationalen | 336 8.3.1. Positionierung als emanzipierte Migrantin in Deutschland | 338 8.3.2. Positionierung als kämpfende Migrantin im ethnisierten Geschlechterund Generationenverhältnis | 342 8.3.3. Positionierung als »unsichtbare«, »privilegierte« Migrantin in einer multikulturellen Gesellschaft | 344 8.3.4. Zur Konstituierung von transnationaler Positionierung/Verortung als eine biographische Ressource und Bewältigungsstrategie in der Migration | 347
9. Abschließende Betrachtungen | 355
9.1. Migration als biographischer Prozess | 356 9.2. Migration als Teil des biographischen Transformationsprozesses | 357 9.3. Biographische Konstruktionen von Differenzen und Intersektionalitäten | 358 9.4. Grenzüberschreitungen und biographische Verortungen als transnationale Positionierungen | 359 Literatur | 363 Transkriptionsnotationen | 397 Segmentierung der exemplarischen Interviews | 399
Danksagung
Ich möchte mich bei all den Migrantinnen finnischer Herkunft bedanken, die bereit waren, mir – einer Forscherin und selbst Migrantin finnischer Herkunft – ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Ihr Vertrauen, ihre Bereitschaft und ihre Offenheit haben diese Untersuchung überhaupt erst ermöglicht. Die ausführlichen Interviews, die häufig in intensive persönliche Gespräche mündeten, haben mich tief beeindruckt, nicht nur als Forschende, sondern auch als private Person. Außerdem geht mein besonderer Dank an Frau Prof. Dr. Ursula Apitzsch, die die Entwicklung meiner Arbeit während all dieser Jahre mit großer Geduld begleitet und gefördert hat. Des Weiteren möchte ich mich bei den Professorinnen und früheren Kollegiatinnen des interdisziplinären DFG-Graduiertenkollegs »Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen und Erfahrungen« sowie des Internationalen Promotionsprogramms der Gesellschaftswissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität bedanken. Im Rahmen dieser Promotionsprogramme wurde meine Arbeit nicht nur finanziell unterstützt, sondern sie ermöglichten mir einen wissenschaftlichen und institutionellen Arbeitsrahmen, der für das wissenschaftliche Arbeiten äußerst wichtig ist. Zudem geht mein besonderer Dank an Prof. Dr. Helma Lutz, Prof. Dr. Christel Eckart, Prof. Dr. Fritz Schütze, Prof. Dr. Bettina Dausien, Prof. Dr. Lena Inowlocki, Dr. Maria Kontos, Irini Siouti, Dr. Eva Sänger, Dr. Karen Nolte, Dr. Katja Sarkowsky und Dr. Yvonne Wiser, die mir während des Forschungsprozesses wichtige Impulse gegeben haben sowie meine Gedanken und schriftliche Ausdrucksweise verfeinerten. Ewa Reichow, Inge Jensen-Papaioannou, Kirsten Hellmich, Birgit Klöpfer und Henry Engler danke ich für die Hilfe bei der Korrektur und der Fertigstellung des Manuskriptes. Den TeilnehmerInnen von verschiedenen Seminaren und Arbeitsgruppen zur biographischen Migrationsforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität danke ich für wichtige Diskussionen und Hinweise für die Weiterentwicklung meiner Arbeit. Auch den engagierten Mitgliedern der IPC-Arbeitsgruppe »Transdisziplinäre Migrations- und Biographieforschung« gilt mein Dank für innovative Arbeitszusammenkünfte! Außerdem möchte ich
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mich an der Stelle bei all denen bedanken, die ich während des Forschungsprozesses in unterschiedlichen deutschen und internationalen universitären Kreisen kennengelernt habe. Die Begegnungen mit engagierten WissenschaftlerInnen haben mir immer wieder gezeigt, dass das Staunen und das in Frage stellen uns WissenschaftlerInnen auf neue und unendlich interessante Wege begleiten kann. Dieses Buch ist Resultat eines intensiven Forschungsprozesses zur Erstellung einer Dissertation. Meistens bleiben die unterschiedlichen Schritte eines Dissertationsprojeks wie Vorträge, Forschungsberichte und Arbeitsdokumentationen in den Schubläden des Schreibtisches oder besser gesagt in den Ordnern des Computers liegen. Ich hatte das Glück, einige von mir gehaltene Vorträge zu Publikationen ausarbeiten zu können. Somit sind Auszüge aus diesem Buch in unterschiedlichen wissenschaftlichen Publikationen erschienen: »De/Constructing Difference: A Biographical Perspective on Constructions of Ethnicity as Transnational Positionality«, in: Gabriele Rosenthal/Artur Bogner (Hg.) (2009): Ethnicity, Belonging and Biography. Ethnographical and Biographical Perspectives. Münster: LIT, S. 251-265, »Differenzen im Kontext. Biographieanalytische Perspektiven auf Intersektionalität und Subjektpositionen«, in: Helga Bilden/Bettina Dausien (Hg.) (2006): Sozialisation und Geschlecht. Leverkusen-Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 199-218, »Grenzüberschreitungen und biographische Verortungen: Überlegungen zur Konstitution von Transnationalen Sozialen Räumen und Öffentlichkeiten«, in: Susanne Lettow/Ulrike Manz/Katja Sarkowsky (Hg.) (2005): Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Erfahrungen, Politiken, Subjekte. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer, S. 57-71, »›Familien in Bewegung‹: Gedanken zur Mobilität und zum Familienarrangement in Migrationsprozessen«, in: beiträge zur feministischen theorie und praxis, 2003, 26. Jahrgang, Heft 62, S. 55-65, »Kontinuitäten und Brüche: Mobilität und Familienarrangement in der transnationalen Migration«, in: Deutsche Gesellschaft für Soziologie, 2002, Soziologiekongress in Leipzig. CD-ROM-Tagungsband, »Cartography of a Border-Crosser. The Intersection of Gender and Ethnicity in the Biography of a Finnish Migrant«, in: Olavi Koivukangas (Hg.) (2002): Entering Multiculturalism: Finnish Experience Abroad. Papers from FinnForum VI, S. 188-198, »Transnationale Transformationen von Öffentlichkeiten« gemeinsam mit Anja Weckwert, in: Cornelia Goethe Centrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse/Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a.M. und Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Frauenforschung/Universität Gesamthochschule Kassel (Hg.) (2001): Dokumentation des Internationalen Symposiums »Erfahrungen des Selbst – Kulturen des Widerspruchs« des Graduiertenkollegs »Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung«, S. 249-258, »›… ich glaube, Zuhause ist da, wo das Herz schlägt‹.
D ANKSAGUNG | 11
Zwischen Haus und Heim. Zur Rekonstruktion des ›häuslichen‹ in der biographischen Erzählung einer Migrantin«, in: Cornelia Goethe Centrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse/Johann-WolfgangGoethe-Universität Frankfurt a.M. und Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Frauenforschung/Universität Gesamthochschule Kassel (Hg.) (2001): Dokumentation des Studientages »Das ›Haus‹ im Grenzbereich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit« des Graduiertenkollegs »Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung, S. 77-87. Ich bedanke mich bei allen, die bei der Veröffentlichung dieser Beiträge mitgewirkt haben. Last but not least möchte ich mich bei allen meinen Lieben ganz herzlich bedanken. Eure aufmunternden Worte sowie liebevolle Unterstützung haben erheblich dazu beigetragen, dass diese Arbeit entstanden ist.
Vorwort
Am Anfang war die Erfahrung und danach kam die Irritation. Diese Studie, wie wahrscheinlich viele wissenschaftliche Arbeiten, wurde durch persönliche Erfahrungen auf den Weg gebracht. Ein Schlüsselerlebnis dabei stellte meine Antragstellung für die Aufenthaltserlaubnis beim Ordnungsamt dar. Mich überwältigten dabei nicht nur die deutsche Bürokratie, sondern auch die Ereignisse, die diesen Antragsprozess begleiteten. Im Ordnungsamt angekommen, landete ich ziemlich orientierungslos am Schalter der Nicht-EU-BürgerInnen und erkundigte mich in meinem gebrochenen Deutsch nach Möglichkeiten, eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Eine Antwort auf meine Frage bekam ich nicht, sondern eine strikte Anweisung, meinen Pass zu überreichen, was mich an Grenzkontrollen erinnerte. Kaum hatte der Beamte meinen Pass in seinen Händen, hob er seinen Kopf und sprach mit einem Lächeln: »Finnland!«. In dem Moment stellte sich heraus, dass dieser Beamte sogar freundlich sein konnte und mir Antworten auf meine Fragen gab. Dieses Schlüsselerlebnis ist nur ein Tropfen im Meer der alltäglichen Irritationen, mit denen man als AusländerIn oder als nicht »deutsch« wahrgenommener Mensch in Deutschland konfrontiert wird. Das Verhalten des Beamten verdeutlichte auch zugleich die nicht ausgesprochene, aber tatsächlich existierende hierarchische Rangordnung bei AusländerInnen. In dieser Rangordnung werden AusländerInnen in Willkommene und Nicht-Willkommene unterteilt. Seit diesem Erlebnis im Ordnungsamt denke ich über diese Ungerechtigkeit nach. Und wie es so ist, findet das Denken seine Wege, sich auszudrücken. Diese Wege haben mich in der Wissenschaft begleitet, die mir eine Möglichkeit bot, Migrationserfahrungen aufzuarbeiten. Die biographische Migrationsforschung, die ich an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt a.M. unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Ursula Apitzsch kennenlernte, öffnete mir eine erfahrungsbezogene, biographieanalytische Perspektive, wissenschaftlich die Migrationser-
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fahrungen und deren biographische Bearbeitung zu untersuchen. Dieser Ansatz gab mir die Möglichkeit, durch die Rekonstruktion der Erfahrungsaufschichtungen auf die Spuren der biographischen Wirkungsmächtigkeit der Migrationprozesse zu gelangen. Die vorliegende Arbeit legt dar, dass die biographieanalytische Perspektive nicht nur die Migrationserfahrungen zum Vorschein bringt, sondern Einblicke in ihre gesamtbiographische Einbettung ermöglicht. Dies ist die Stärke der biographischen Migrationsforschung. Sie ermöglicht die Erfahrungen und Erinnerungen aus ihrem gesamtbiographischen Zusammenhang zu interpretieren. Obwohl man sich in der Biographieanalyse mit einzelnen Biographien beschäftigt, bleibt die Analyse jedoch nicht nur auf der subjektiven Ebene, sondern thematisiert immer auch die gesellschaftlichen Strukturen. Somit können die biographischen Subjekte und die biographischen Prozesse, die sie durchlaufen haben und mit denen sie sich auseinandersetzten, in ihrem gesellschaftlichen Kontext untersucht werden. Die biographieanalytische Perspektive eröffnet uns also Wege, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zu erkunden, und ermöglicht, beides in ihrer Verstricktheit zu untersuchen. Das kleine Ereignis im Ordnungsamt eröffnete mir eine gelebte Perspektive auf die Einwanderungsgesellschaft Deutschland. Diese Erfahrung hat biographische Spuren mit Struktur gebender Wirkung in meiner biographischen Orientierung hinterlassen und mir schließlich die faszinierende Welt der biographischen Migrationsforschung eröffnet. Die vorliegende Studie ist das Ergebnis dieser Migration und wurde 2008 unter dem Titel »›Uns sieht man es nicht unbedingt an …‹ Eine biographieanalytische Untersuchung von Migrationsprozessen und Subjektkonstruktionen in Biographien von Migrantinnen finnischer Herkunft« als Dissertation im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt a.M. eingereicht und 2009 mündlich verteidigt. Für die Veröffentlichung wurde die Studie nur leicht überarbeitet.
Einleitung »Er [der Nachbarmann] von oben senkt seine Stimme und fragt, ob ich auch der Meinung bin, dass man die türkische Familie, die in unserem Haus wohnt, möglichst bald loswerden sollte. - Unsere Wohnungspreise sinken, wenn hier mehr AusländerInnen zu hausen beginnen. Mit offenem Mund starre ich den Mann an. - Also, ich meine, dass Sie keine Ausländerin sind, in der Hinsicht…AusländerInnen gibt es zweierlei, das verstehen Sie doch! Der Mann beginnt zu stottern und will mich unbedingt über die Unterschiede zwischen den ›guten‹ und den ›schlechten‹ AusländerInnen belehren. Ich will nicht hören, in welche Gruppe ich zugeordnet werde und warum. Warum darf ich nicht einfach eine ganz gewöhnliche Ausländerin sein? « (Pedersen 2006)1.
Problemaufriss
Die vorliegende empirische Studie beschäftigt sich aus einer biographieanalytischen Perspektive mit der Konstitution von Migrationsprozessen und den Kon-
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Dieses Zitat stammt aus der Novelle »Outo lintu«/»Ein seltsamer Vogel« (2006), in der Tarja Pedersen, eine Migrantin finnischer Herkunft, ihre autobiographischen Erfahrungen als Migrantin in der Bundesrepublik bearbeitet. Tarja Pedersen ist Mitglied eines Schreibzirkels, der aus in der Bundesrepublik lebenden finnischen Migrantinnen besteht. Das oben wiedergegebene Zitat ist eine Übersetzung von Ruokonen-Engler.
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struktionen von Migrantinsein. Sie untersucht die Prozesshaftigkeit der Migrationen sowie das gesellschaftliche Gewordensein von Subjekten im Spannungsfeld von Struktur und Handeln (vgl. Knapp 1997, Dausien 2000). Traditionell hat sich die interdisziplinär angelegte Migrationsforschung mit verschiedenen Migrationsbewegungen sowie den Eingliederungsprozessen von MigrantInnen2 in die Aufnahmegesellschaft beschäftigt. Es sind Kategorisierungen von Migrationstypen vorgenommen und die Identitäten und Zugehörigkeiten der MigrantInnen anhand von Assimilations-, Akkulturations- und Integrationsprozessen untersucht worden. Dabei wurde die gesellschaftliche Eingliederung von MigrantInnen in das jeweilige Nationsgebilde u.a. als psychosozialer Veränderungsprozess (zum Beispiel Esser 1980) oder als sozio-strukturelle Eingliederung erklärt (zum Beispiel Hoffmann-Nowotny 1970). Diese Theorien stellen Integration als einen stufenartigen Entwicklungsprozess dar, den MigrantInnen zu bewältigen haben und infolgedessen sie entlang eines dichotomen Modells entweder als »integriert« oder »desintegriert« gelten und im schlimmsten Fall unter »doppelte[r] existentieller Unsicherheit und Orientierungsstörung« (Han 2000: 194) als Folge migrationsbedingter Entwurzelung und Desozialisierung leiden. Dabei wird häufig der kulturellen Herkunft als ein Integrationsfaktor eine bedeutendere Rolle beigemessen als den gesellschaftlichen Umständen und strukturellen Bedingungen der Ankunftsgesellschaft. Solche Theoretisierungen sind problematisch insoweit, da sie eine identifikative Assimilation in die Ankunftsgesellschaft als ein Ziel definieren und in ihrem Licht die MigrantInnen schon von vornherein als defizitär und abweichend betrachtet und definiert werden. Zugleich wird die Ankunftsgesellschaft selbst als einheitlich und homogen wahrgenommen und die schon vorgegebene Vielfalt negiert. Am Beispiel der traditionellen Einwanderungsländer der westlichen Welt wie zum Beispiel die USA, Kanada und Australien als auch der europäischen Industrie- und Exkolonialländer zeigt sich jedoch, dass sich nicht nur die MigrantInnen, sondern die Gesellschaften selbst durch die Migrationsbewegungen verändert haben und immer verändern (vgl. Han 2000). Während in den traditionellen Einwanderungsländern die Immigration und die Eingliederung der MigrantInnen integrale Bestandteile ihrer Nationalstaatsbildung gewesen sind, haben die europäischen Industrie- und Exkolonialländer eher eine problematische und
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Ich benutze die Schreibweise »MigrantInnen«, wenn sowohl Männer als auch Frauen mit Migrationshintergrund gemeint sind.
E INLEITUNG | 17
konfliktreiche Beziehung zur Immigration (Han 2000: 151)3. In Deutschland führte das lange Beharren auf dem Selbstverständnis, kein Einwanderungsland4 zu sein, sogar dazu, dass es lange Zeit keine explizite »Einwanderungspolitik« gab. Dementsprechend wurden MigrantInnen entlang der nationalstaatlichen Kategorisierung als »das Andere des deutschen Selbst« (Heidenreich 1999: 10) als AusländerInnen und somit auch als Objekte des »Ausländerdiskurses« (a.a.O.: 9) konstruiert. Der »Ausländerdiskurs«, der auf einer nationalstaatlichen Logik basiert, legte nicht nur die Zweiteilung in Deutsche und AusländerInnen fest, sondern implizierte ebenfalls die Diskriminierung und den Ausschluss der AusländerInnen aus dem deutschen Volk. Dennoch sind nicht alle in der Bundesrepublik Deutschland lebenden AusländerInnen in ähnlicher Weise von der Ausschließung und Diskriminierung betroffen. Vielmehr kann von einer Art Ausländerhierarchie (vgl. Dittrich 1991: 52), die durch verschiedene ethnische und rassistische Einteilungskriterien wie Nationalität, Hautfarbe, Religion usw. bestimmt wird, gesprochen werden. Diesen Einteilungskriterien zufolge werden auch Menschen, die keine AusländerInnen sind, als AusländerInnen konstruiert, wie zum Beispiel Schwarze5 Deutsche. Umgekehrt werden wiederum einige Auslän-
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Vgl. zum Beispiel mit den unterschiedlichen konservativen Konzeptionen von Migration in Bezug auf die Nation: »America is a Nation of Immigrants« und »Deutschland ist kein Einwanderungsland« (Heckmann 2004: 206).
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Die Tatsache, dass die BRD der unmittelbaren Nachkriegszeit so gut wie von Beginn an ein Einwanderungsland war, wurde lange Zeit verleugnet. In den 1980er Jahren wurde in der wissenschaftlichen Literatur das erste Mal über Deutschland als ein »Einwanderungsland« (Heckmann 1981) gesprochen. Einen politisch-rechtlichen Wendepunkt markierte das Jahr 2000, als das neue Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft trat. Klaus J. Bade und Rainer Münz notierten im Migrationsreport 2000, dass »Deutschland […] an einer Wende in Sachen Migration und Integration [steht], in der öffentlichen Diskussion noch mehr als in der politischen Gestaltung. Erstmals erleben wir in Deutschland im Ansatz eine positive Migrationsdiskussion. Es geht dabei weniger um die Eindämmung als um die Förderung von Zuwanderung. Herkömmliche oder nur semantisch veränderte Positionen treffen auf tiefgreifende rechtliche Veränderungen, auf erst schwer einschätzbare politische Initiativen und institutionelle Überlegungen« (Bade/Münz 2000: 7).
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»Schwarz« wird hier groß geschrieben, um die Konstruktion von Hautfarbe als gesellschaftliches Differenzierungs- und Hierarchisierungsmerkmal zu betonen (siehe zum Beispiel Gutiérrez Rodríguez 1999a: 11). Im politischen Sinne wird »Schwarz« als ein Zeichen der Unterdrückungserfahrungen, die alle Gruppen von people of color einschließt (Piesche 1999: 204, Hervorh.i.O.), angewandt.
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derInnen nicht als solche wahrgenommen. Das Beispiel der rassistisch motivierten gewalttätigen Misshandlung eines Schwarzen Deutschen eritreischer Herkunft (2006) zeigt, dass das Stereotyp des Weißseins von Deutschen weiterhin hartnäckig besteht. Und dies trotz des neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes, das das auf dem Blutprinzip basierende Gesetz als Grundlage der Staatsangehörigkeit ablöste und somit das stereotype Bild eines deutschen Staatsangehörigen als ein Weißer Mann/eine Weiße Frau6 auf der gesetzlichen Ebene dekonstruierte. Vielmehr scheinen nationalistische und rassistische Tendenzen neben den sich immer mehr formierenden transnationalen gesellschaftlichen Strukturen und Lebenswelten weiter zu existieren, mitunter sogar zu verstärken. Diese Dynamik stellt eine Herausforderung für die kritische soziologische Migrationsforschung dar, die bei der Untersuchung von gesellschaftlicher Subjektivierung nicht nur die Diskriminierungserfahrungen, sondern auch die »strukturelle Privilegierung« (Frankenberg 1993, 1996), die aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Ethnizität, Nation usw. erfolgt, in Betracht ziehen soll. Das Einbeziehen der strukturellen Diskriminierung bzw. Privilegierung ermöglicht es, das Soziale, die Vergesellschaftungsprozesse, die Ungleichheitsstrukturen, Macht- und Hierarchieverhältnisse, die die Subjektivierungs- und Identitätsbildungsprozesse aller Menschen in einer Einwanderungsgesellschaft beeinflussen, zu untersuchen, anstatt sich nur auf die Untersuchung von MigrantInnen als das »kulturelle Andere« und Fremde7 zu konzentrieren.
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In Anlehnung an Eske Wollrad schreibe ich hier und im weiteren Text »Weiß« groß. Dadurch soll »Weiß« und »Weißsein« als eine politische Kategorie, die die »genuin deutsche« Dominanzstruktur und Rassifizierungprozesse thematisiert (Wollrad 2005: 21f, Hervorh. i.O.), verstanden werden.
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Soziologie hat erheblich dazu beigetragen, dass MigrantInnen als Fremde betrachtet und definiert werden. Insbesondere klassische soziologische Theoretisierungen über den Fremden werden herangetragen, um die Position des Migranten/der Migrantin in der Einwanderungsgesellschaft zu erklären. Zum Beispiel sah Georg Simmel (1900, 1908) im Juden den klassischen Typus vom Fremden, Robert E. Park (1928) bezeichnete den Migranten als einen Randseiter (»marginal man«) und Alfred Schütz (1944, 1945) stellte den Migranten als Fremden dar. Meines Erachtens ist das Konzept des Fremden nicht nur eine historisch-kontextuelle Beschreibung, sondern ist tief in der Konzeptualisierung der Nation und des nationalstaatlichen Integrationsparadigmas verankert. Das Konzept des Fremden ist eine Konzeption, die den Nationalstaat als unreflektierten, normativen Deutungsrahmen voraussetzt. Vgl. dazu »Methodischer Nationalismus« (Wimmer/Glick-Schiller 2003).
E INLEITUNG | 19
Da nun die innergesellschaftlichen sozialen Verhältnisse und Lebenswelten sich nicht nur durch die internationale Migration, sondern auch durch EU, Globalisierung, Transnationalisierung und -kulturalisierung der gesellschaftlichen Strukturen verändern, werden weitere Herausforderungen an das Verstehen und die Konzeption von Subjektivierung, Identitätsformation und Zugehörigkeit in Einwanderungsgesellschaften gestellt. Dabei formen sich die Identitäten nicht mehr nur kulturell und spezifisch ethnisch, sondern in zunehmendem Maß auch transkulturell, translokal und multipel (vgl. Schlehe 2000: 7). Insbesondere eröffnen die seit den 1990er Jahren im US-amerikanischen Kontext entwickelten Transnationalitäts- und Transkulturalitätsansätze8 neue Perspektiven für die Untersuchung von Migrations- und Zugehörigkeitsprozessen in einer globalisierten Welt.9 Demzufolge können soziale Wirklichkeiten, Zugehörigkeiten und Handlungspraxen nicht allein im Rahmen eines Nationalstaates und einer eindeutigen nationalstaatlichen Integration und Zugehörigkeit adäquat untersucht werden. Vielmehr müssen sie im Kontext von komplexen Migrationsprozessen, vielfältigen sozialen Wirklichkeiten, transnationaler Vergesellschaftung, Handlungsbedingungen und Zugehörigkeiten, die auf gleichzeitige und synthetisierende Verortungen und Netzwerke über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus verweisen, betrachtet werden. Die Frage ist jedoch, wie nun diese komplexen transnationalen Wirklichkeiten und Handlungsräume hergestellt und erlebt werden und mit welchen Machtverhältnissen, Ungleichheiten, welcher strukturellen Diskriminierung und Privilegierung diese verbunden sind. Fragestellung
Diese Studie knüpft an die Transnationalitätsperspektive an, um Migrationsprozesse und Subjektkonstruktionen in ihrer Komplexität jenseits der kulturalisierenden und nationalstaatlich begrenzten Assimilations- und Akkulturationsvorstellungen untersuchen zu können. Dazu wurde eine biographietheoretische Perspektive herangezogen, die es ermöglicht, die Prozesshaftigkeit der Migration sowie das gesellschaftliche Gewordensein von Subjekten in verschiedenen historisch-gesellschaftlichen Kontexten aus der Perspektive der Migrantinnen selbst
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Siehe dazu zum Beispiel Hannerz 1996, Glick Schiller/Basch 1998, Pries 1997, 1998 und Faist 2000a/b.
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Es kann sogar behauptet werden, dass die Transnationalitätsansätze im Bereich der kultur- und sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung einen Paradigmenwechsel in der Konzeptualisierung von Migrations- und Identitätsprozessen hervorgebracht haben.
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zu untersuchen.10 Mit dieser Perspektive wurde ein verzeitlichter, erfahrungsbezogener Zugang auf biographische Selbstdeutungen in einer Verschränkung von Struktur und individuellem Handeln erreicht, ohne Migrantinnen von vornherein zu kulturalisieren. Um eine Determinierung der Forschungsergebnisse durch zu eng gefasste theoretische Vorannahmen zu vermeiden, wurde die Forschungsfrage zunächst möglichst allgemein formuliert und im Laufe des Forschungsprozesses im Umgang mit dem empirischen Material spezifiziert. Die übergeordnete Fragestellung der vorliegenden Studie lautete: Wie beschreiben sich die Frauen in der Migration aus einer biographischen Perspektive? Auf welche gesellschaftlichen Zusammenhänge und Diskurse weisen ihre Selbstdarstellungen hin? Welche Art von Migrationsprozessen können dabei festgestellt werden? In welcher Weise lassen sich die Differenzkonstruktionen zum Beispiel in Bezug auf Geschlecht und Ethnizität in den Biographien rekonstruieren? Welche »biographische Haftung« (Knapp 1997: 503) bzw. biographische Relevanz, handlungsableitende und -verhindernde Bedeutung haben diese Konstruktionen im konkreten Fall? Und schließlich: Welche biographischen Handlungs- und Verortungsstrategie folgen daraus? Hintergrund dieser Fragestellung war die Annahme, dass Migration einen Transformationsprozess im Lebensarrangement der Frauen hervorruft und somit auch ihre Subjektivitäts- und Identitätskonstruktionen beeinflusst. Auf Grundlage einiger Untersuchungen kann angenommen werden, dass Migration als Übergang aus einer Gesellschaft in eine andere einen Transformationsprozess bzw. eine zweite Sozialisation im Lebensarrangement der Frauen hervorruft und somit auch die Subjektivierung und Selbstpositionierung beeinflussen kann (siehe dazu zum Beispiel Philipper 1997, Gutierrez Rodriguez 1999a). Außerdem kann davon ausgegangen werden, dass Identität und Subjektivität als ein ständiges »Werden« zu verstehen ist (Hall 1994b: 29), so dass in der Migration zwangsläufig Änderungen der Subjekt- und Identitätskonstruktion stattfinden. Zu fragen war jedoch, in welchem Zusammenhang diese Veränderungen und biographischen Transformationen zu dem Migrationsprojekt standen. Denn die Migration an sich führt nicht zwangsläufig zu neuen Identitätskonstellationen, vielmehr kann aus einer biographietheoretischen Perspektive argumentiert werden, dass die Veränderungen auch mit anderen lebensgeschichtlichen Ereignissen sowie strukturellen Bedingungen zusammenhängen können. Ob dem so ist und falls ja, inwieweit und in welcher Art und Weise Migrationsprozesse dann biographische Transformationsprozesse verursachen bzw. Folge von biographischen Transfor-
10 Vgl. Knapp 1997, Dausien 2000.
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mationsprozessen sind,11 wurde in der vorliegenden Studie anhand von biographischen Fallanalysen untersucht. Den empirischen Gegenstand dieser Studie bildeten die Biographien von Migrantinnen finnischer Herkunft12, die als solche von der Öffentlichkeit sowie von der Wissenschaft kaum wahrgenommen werden. Denn sie gelten als »religiös und ethnisch unauffällig« (Schmalz-Jacobsen/Hansen 1997: 55f.) sowie als erfolgreich integriert. Meistens verschwinden sie in der Statistik über AusländerInnen unter der Kategorie der »Reste«, sind mehrheitlich Frauen und werden meistens auf der Straße auf den ersten Blick nicht als Ausländerinnen13 und Migrantinnen identifiziert. Sie sind da, aber sie sind »unsichtbar« und werden nicht als Migrantinnen wahrgenommen14, da sie nicht den vorherrschenden und stereotypen Klassifizierungen und Bildern von Migrantinnen entsprechen. Somit erschien es mir vielversprechend, subjektiven Erfahrungen und Deutungen der Konstruktion der oben erwähnten »Unauffälligkeit« bzw. der »Unsichtbarkeit« im Zusammenhang der Migrationsprozesse und Subjektkonstruktionen in den Biographien Migrantinnen finnischer Herkunft nachzugehen. Außerdem stellte sich dabei die Frage, wie sich die feminisierte Migration aus Finnland in die Bundesrepublik Deutschland aus einer biographischen Perspektive betrachtet erklären lässt. Dabei versprach ich mir, anhand der Biographien eventuelle biographische Transformationsprozesse aufzuspüren. Vor allem vermutete ich hier, dass die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Finnland und der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf die Stellung der Frau sowie auf die Möglichkeit, Familie und Berufstätigkeit miteinander zu vereinbaren, eine biographische, handlungsableitende Relevanz für die Migrantinnen finnischer Herkunft darstellen können.
11 Siehe dazu zum Beispiel Morokvasic 1987. 12 Mit der Bezeichnung »finnischer Herkunft« wird Bezug auf das Herkunftsland der Migrantinnen genommen. Selbstwahrnehmung, Zugehörigkeit sowie jeweilige Staatsangehörigkeit stehen jedoch nicht unbedingt mit dieser Bezeichnung im Einklang, wie die vorliegende Studie zeigt. Die Bezeichnung »finnische Migrantinnen«, die im Titel dieses Buches benutzt wird, bezieht sich auf die Zuschreibung »unsichtbare« finnische Migrantin. 13 Siehe dazu zum Beispiel die Fallanalyse von Seijas Biographie (Kapitel 7.3). 14 Vgl. Anne Marie Fortiers (2000) Studie über ItalienerInnen in UK als »invisible immigrants«. Ich verwende die Begriffe »unsichtbar« und »sichtbar« in Klammern, um zu betonen, dass es sich bei diesen Begrifflichkeiten um soziale Konstruktionen handelt.
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In der vorliegenden Studie habe ich den Blick auf die Migrantinnen finnischer Herkunft im Kontext einer »Individualwanderung« (Treibel 1990)15 bzw. Individualmigration gerichtet. Es handelt sich dabei um Migrantinnen, die als Einzelwandernde und aus »individuellen« Gründen nach Deutschland kamen, im Unterschied zu der Gruppe von Migrantinnen finnischer Herkunft, die zum Beispiel von Arbeitgebern in die Bundesrepublik Deutschland entsandt worden sind (Auslandsentsandten bzw. Expatriates). Durch die Konzentration auf die Untersuchung von »Individualwanderung« beabsichtigte ich, eine biographietheoretisch begründete innere Differenzierung der Migrationsprozesse und Subjektkonstruktionen zu erreichen, die Vielfältigkeit und Komplexität der Migrationsprozesse und der Subjektkonstruktionen ans Licht zu bringen, um damit zu einer Erweiterung des Bildes über Migrantinnen in Deutschland beizutragen. Das theoretische Interesse der Arbeit lag somit in der Untersuchung und Differenzierung von Migrationsprozessen und Subjektkonstruktionen aus der biographieanalytischen Perspektive. Dabei wollte ich der Bedeutung der gesellschaftlichen und diskursiven Differenzen für biographische Subjektkonstruktionen nachgehen. Von zentralem Interesse war außerdem, Migrationsprozesse sowie Differenzen in Bezug auf Geschlecht und Ethnizität biographieanalytisch zu fassen und schließlich zu erörtern, was diese Perspektive für die weitere Theoretisierung von Migration, Geschlecht und Ethnizität bedeutet. Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Arbeit ist in drei Teile unterteilt. Im ersten Teil »Denkanstöße« beginnt die Annäherung an den Forschungsgegenstand dieser Studie. Da ich mich in dieser Arbeit insbesondere für die Migrations- und Subjektivierungsprozesse von Frauen als Migrantinnen interessiert habe, diskutiere ich zunächst das in der soziologischen Migrationsforschung lange Zeit wenig beachtete Thema der Migration von Frauen im Zusammenhang der Feminisierung der Migration (Kapitel 1). Nach den Überlegungen zur Konzeptualisierung von Frauenmigration als Feminisierung (Kapitel 1.1) wird der Blick auf die unbeachteten Formen der Feminisierung gerichtet (Kapitel 1.2). An diese Gedanken schließt sich dann
15 Annette Treibel (1990: 19f.) weist auf die Problematik dieses Begriffes hin, da auch Einzelwandernde Bestandteil der sogenannten Kettenwanderung einer Gruppe von Verwandten oder Bekannten sind, die nach und nach die Herkunftsregion verlassen und sich in der Zielregion den früher Gewanderten wieder anschließen. Obwohl ich mir für mein Sample Einzelwandernde ausgesucht hatte, stellte sich heraus, dass diese tatsächlich Verwandte oder Freunde hatten, welche entweder früher oder später als meine Interviewten ausgewandert waren, jedoch selten in die gleichen Zielregionen.
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die Frage an, inwieweit in Bezug auf Migrantinnen finnischer Herkunft in der Bundesrepublik Deutschland von einer Feminisierung von Migration gesprochen werden kann (Kapitel 1.2.1). Im Kapitel 2 wird die Frage der wissenschaftlichen Wahrnehmung von Migrantinnen entlang der Perspektive von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Es wird dabei aufgezeigt, wie Frauen als Migrantinnen in einigen wissenschaftlichen Diskursen wahrgenommen wurden und wie diese Feststellungen zur Stereotypisierung und somit zur Ausblendung der Differenziertheit der Frauenmigration geführt haben (Kapitel 2.1). Unter dem Motto »Frau ist nicht gleich Frau« (Kapitel 2.2) nehme ich dann einen Perspektivenwechsel vor und rücke die Differenzierung, Hierarchisierung und strukturelle Privilegierung unter Frauen in der Einwanderungsgesellschaft ins Zentrum der Betrachtung, um somit einen weiteren Zugang zum Verständnis des Phänomens der Migration und des Migrantinseins zu eröffnen. Vor diesem Hintergrund frage ich dann im Folgenden, inwieweit die in die Bundesrepublik Deutschland eingewanderten Finninnen als Migrantinnen wahrgenommen werden (Kapitel 2.2.1). Im zweiten Teil »Theoretische Zugänge« beschäftige ich mich mit den theoretischen Zugängen und Konzeptionen, die sich während des Forschungsprozesses als besonders geeignet erwiesen, um die Subjektivierung und die gesellschaftliche Differenzierung im Zusammenhang von Transformationsprozessen zu untersuchen. Es geht dabei um die Diskussion der Konstruktion und die Herstellung von Differenzen (Kapitel 3), deren Verschiebungen (Kapitel 4) sowie um die biographietheoretische Perspektive auf die Migrationsprozesse (Kapitel 5). Im Kapitel 3 gehe ich der Frage nach, welche strukturellen Dimensionen und Differenzen die Subjektivierung beeinflussen und wie diese theoretisch zu fassen sind. Dabei betrachte ich zunächst die Konstruktion von Differenzen in Bezug auf Geschlecht und Ethnizität in Migrationskontexten und unternehme diesbezüglich eine kategoriale Spezifizierung (Kapitel 3.1). Daran schließt sich die Diskussion über die Verschränkung und Intersektionalität von Differenzen an (Kapitel 3.2). Eine theoretische Erweiterung dieser Perspektiven stellt dann das nächste Kapitel (4) dar, in dem ich versuche, durch die Betrachtung von Verschränkung und Verschiebungen von Differenzen (4.1) über die Differenzen »anders« zu denken und damit die Perspektive auf die transkulturellen und transnationalen Verstrickungen als Dimensionen von gesellschaftlicher Subjektivierung zu eröffnen (4.2). Um Differenzen und hybride Vermischungen in ihrer Prozesshaftigkeit sowie in ihrer sozialen Wirksamkeit untersuchen zu können, wird dann der biographietheoretische Ansatz als theoretischer Zugang zur Erklärung von sozialer Wirklichkeit im Spannungsfeld von Struktur und Handlung vorgestellt (Kapitel 5).
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Anhand einiger zentraler biographietheoretischer Konzeptualisierungen (Kapitel 5.1) werde ich der Frage nachgehen, wie Differenzen sowie die Migrationsprozesse mit einem biographischen Ansatz zu untersuchen sind (Kapitel 5.2 und 5.3). Diese Überlegungen schließen dann an die Gedanken zur Globalisierung von Biographie und transnationalen Migrationsbiographien als biographische Konstruktionen in transnationalen Sozialräumen an (Kapitel 5.4). Im dritten, empirischen Teil dieser Arbeit mit dem Titel »Aufbrüche« erfolgen dann die Erläuterung des methodologischen und methodischen Verfahrens, die Reflektion des Forschungsprozesses (Kapitel 6) sowie die Darstellung der empirischen Ergebnisse (Kapitel 7 und 8). Zunächst werden die methodologischen und methodischen Verfahren entlang der Grounded Theory als ein spiralförmiges, gegenstandsbezogenes Verfahren zwischen dem erhobenen Material und den herangezogenen theoretischen Konzepten erläutert (Kapitel 6.1). Danach wird durch die Erläuterung des biographisch-narrativen Interviews als einer Erhebungsmethode von Biographien der Frage nachgegangen, wie Erfahrungsaufschichtungen in Form von Erzählungen generiert werden (Kapitel 6.2). Daran schließen dann die reflexiven Überlegungen zur Wissensproduktion in Bezug auf die Kontextualisierung (Kapitel 6.3), auf das Arbeitsbündnis (Kapitel 6.4) und die Forschungsethik an (6.5). In weiteren Kapiteln wird dann der Forschungsprozess ausführlich beschrieben. Zunächst werden die Untersuchungsgruppe, das soziale Feld und das Sample erläutert (Kapitel 6.6). Dabei mache ich einen Exkurs auf die finnische Gesellschaft und auf die Stellung der Frau in Finnland, da sich bei der Interpretation der Interviews gezeigt hat, dass durch diese Hintergrundinformation die biographischen Verläufe der Interviewten verständlicher werden. Die Praxis der Erhebung und Auswertung von biographisch-narrativen Interviews erläutere ich zunächst durch die Diskussion über die Gestaltung der Interviewführung (Kapitel 6.7) und danach durch die Erklärung von biographieanalytischer Rekonstruktion (Kapitel 6.8). Im Kapitel 7 erfolgen dann die biographischen Falldarstellungen. Ich habe drei biographische Einzelfallstudien aus 16 durchgeführten Interviews für die Präsentation des empirisch-analytischen Teils ausgewählt. Diese exemplarischen Biographien sind nach dem Prinzip der maximalen Kontrastierung in Bezug auf unterschiedliche biographische Migrationsprozesse und Positionierungen als eine ethnisierte Frau und Migrantin in einem transnationalen sozialen Raum ausgewählt worden. Somit repräsentieren sie besondere biographische Verläufe, an denen sich verschiedene biographische Transformationsprozesse aufzeichnen lassen, die sich als typisch für das soziale Feld der »Individualwanderung« dieser Studie erwiesen haben. Dabei wird der Frage der biographischen Einbettung der Migrationsprozesse, des Zusammenhangs zwischen Migration und Individuierungsprozessen sowie den Vergesell-
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schaftungsprozessen und biographischen Transformationen nachgegangen. Die Darstellung der einzelnen exemplarischen Fallanalysen beginnt jeweils mit einem einführenden biographischen Portrait, an das sich eine biographieanalytische Falldarstellung anschließt. Im Kapitel 8 werden die Ergebnisse der biographieanalytischen Fallstudien zusammenfassend dargestellt. In einer vergleichenden Diskussion der vorgestellten biographischen Fallanalysen werde ich dann den Bezug zu dem Gesamtsample anhand einiger exemplarischer Fallvignetten und Auszüge aus den weiteren Interviews herstellen. Die Präsentation der Ergebnisse gliedert sich anhand der aus den Interviews herausgearbeiteten biographischen Transformationsprozesse, die das Zusammenwirken von Struktur und Handlung verdeutlichen sollen. Als erstes werden unter dem Transformationsprozess von »Selbstständig werden« (Kapitel 8.1) typische Aspekte beschrieben, die sich für die Entwicklung eines selbstständigen biographischen Handlungsschemas als ausschlaggebend herausstellten. Es wird dabei deutlich, wie sich der Individuierungsprozess in Verschränkung von Vergesellschaftung und familiärem Ablösungsprozess zu einem biographischen Handlungsschema aufgrund der Bildungsorientierung entwickelt. Danach folgen die Erläuterungen von unterschiedlichen Migrationsprozessen unter der Rubrik »Ins Ausland gehen« (Kapitel 8.2). Sie verdeutlichen jeweils den Zusammenhang zwischen Individuierungs- und Migrationsprozessen und weisen darauf hin, dass die Migrationsentscheidung nicht nur bezüglich der äußeren Umstände und soziostrukturellen Bedingungen einzuordnen, sondern dass sie immer auch biographisch eingebettet ist. Das Kapitel »Migrantin werden« (Kapitel 8.3) rückt dann den Transformationsprozess zur Migrantin durch verschiedene migrationsspezifische Bedingungen ins Zentrum der Betrachtung. Die Diskussion erfolgt durch die Rekapitulation von verschiedenen ethnisierten und vergeschlechtlichten Positionierungen als Migrantin. Diese verdeutlichen jeweils das Spezifische dieser Erfahrungen in einer Verschränkung von gesellschaftlicher Struktur bezüglich der Differenzierung und Hierarchisierung einerseits und der individuellen Handlung andererseits. Als Ergebnis der Rekonstruktionen von Transformationsprozessen, biographischen Positionierungen sowie Handlungsund Deutungsmustern lässt sich eine Konstituierung von transnationaler Positionierung als eine biographische Verortungsstrategie feststellen (Kapitel 8.4). Diese Positionierung besteht aus einer Vermischung von lokalen und translokalen/nationalen imaginären sowie konkreten Verortungen, die eine biographische Ressource darstellt und in Form einer Bewältigungsstrategie zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit angewandt wird. Im Kapitel 9 führe ich dann die theoretischen und empirischen Überlegungen zusammen und formuliere Gedanken, die über diese Arbeit hinausweisen. Es
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wird dabei erklärt, wie Migration als biographischer Prozess zu fassen ist, wie Migration und biographische Transformationsprozesse zusammenhängen, wie Geschlecht und Ethnizität biographieanalytisch zu verstehen sind und was die biographische Dimension für die weitere Theoretisierung von Geschlecht und Ethnizität bedeutet.
1. Frauenmigration
In den westlichen wissenschaftlichen Betrachtungen wurde der Frauenmigration lange Zeit kaum Aufmerksamkeit gewidmet, obwohl der Demograph und Kartograph Ernest George Ravenstein schon vor hundert Jahren in seinem Artikel »The Laws of Migration« (1889) auf die bedeutende Rolle der Frauen in den Wanderungsbewegungen hinwies. Vielmehr richtete sich der soziologische Blick auf den männlichen Wanderer, der als ein entwurzelter, randständiger »marginal man« (Park 1928) den Typus des »Fremden« in der Ankunftsgesellschaft verkörperte und den Wissenschaftler zugleich erschreckte, aber auch faszinierte. Da nun Frauen tatsächlich genauso wie Männer immer gewandert sind, weist die Vernachlässigung der wissenschaftlichen Thematisierung von Frauenmigration auf eine geschlechtsspezifische Wahrnehmung und Vorstellung über das handelnde Subjekt hin. Während Männer als Akteure und Initiatoren der Migrationsbewegungen angesehen wurden, wurden Frauen als selbstständig Handelnde nicht wahrgenommen, sondern ganz im Gegenteil in die Rolle des mitreisenden Familienmitgliedes gedrängt (Treibel 1988, Apitzsch 1994a: 240, Westphal 1996: 17). Demzufolge blieb die Thematisierung der Frauenmigration bis Ende der 1970er Jahre weitgehend »unsichtbar«, nicht nur in der weltweiten, sondern auch in der bundesdeutschen Migrationsforschung, der damaligen Ausländerforschung.1
1
Die verschiedenen Arten und Weisen, die in der Bundesrepublik geführte Migrationsforschung zu nennen, spiegeln den jeweiligen Entstehungskontext sowie die jeweilige Schwerpunktsetzung dieser Arbeit wider: »Gastarbeiterforschung«, »Minderheitenforschung«, »Ausländerpädagogik«, »Interkulturelle Pädagogik« usw. Die Tatsache, dass in diesen Namen das Wort Migration nicht auftaucht, kann auf das Selbstverständnis der BRD als kein Einwanderungsland in der Situation eines »Nicht-Einwanderungslandes mit Einwanderern« (Bade 1992: 398) zurückgeführt werden. Um eine kategoriale Verwirrung zu verhindern, habe ich mich für eine einheitliche Bezeichnung ent-
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Die Tatsache, dass Frauen genauso wie Männer Akteure in den Migrationsprozessen sind und aus verschiedenen Motiven ein Migrationsprojekt aufgreifen können, wurde insbesondere im Bereich der Frauenmigrationsforschung bzw. der »interkulturellen Frauenforschung« (Gümen 1996) in Betracht gezogen. Dabei wurde die Perspektive auf die Migration von Frauen zunächst als Ergänzung der fehlenden Betrachtung von Frauen in den Migrationsprozessen angesehen (vgl. Hess 2005). Frauen rückten – genauso wie bis dahin Männer – als Handelnde in den Vordergrund der Betrachtung. Es wurden verschiedene Migrationsgründe und -motivationen von Frauen festgestellt, die Frauen veranlassten, eine Binnenmigration oder internationale Migration zu unternehmen. Martina Schöttes und Annette Treibel (1997: 85f.) weisen darauf hin, dass Frauen Migrationsprojekte aus existentieller Notwendigkeit, aus Lust an Abenteuer und Veränderung, auf der Suche nach einer neuen Heimat, wegen der Ausbildung und des Studiums, weil ihre Firma sie als Expertin ins Ausland schickt, weil sie verfolgt werden usw., ergreifen. Entsprechend sind Frauen an freiwilliger Migration (Arbeitsmigration), Zwangsmigration (Flucht, Vertreibung), Armutsmigraton, Expertenmigration, Binnenmigration, internationaler/interkontinentaler, temporärer und permanenter Migration beteiligt. Migrationsbewegungen2 sind jedoch nicht nur als Wanderungsbewegungen von Männern und Frauen zu sehen, vielmehr sollten sie als innerstaatliche, internationale und transnationale Wanderungen betrachtet werden, die sowohl in ihren Ursachen als auch in ihren Folgen vergeschlechtlicht sind und geschlechtsspezifische Variationen aufweisen. In diesem Sinne fordert Floya Anthias (2000: 15) dazu auf, Migrationen aus einer Perspektive zu betrachten, welche die verge-
schieden und werde über bundesdeutsche »Migrationsforschung« mit ihren jeweiligen spezifischen Ansätzen und Interessen sprechen. 2
Neval Gültekin (2003: 24) weist darauf hin, dass in Deutschland innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses mit einem unterschiedlichen Vokabular über Migrationen gesprochen wird. Die Wanderung innerhalb der Entwicklungsländer wird als Binnenmigration und von dort in die industrialisierten Staaten als Migration gefasst, während Wanderung innerhalb der Bundesrepublik unter der Kategorie Mobilität diskutiert wird (siehe dazu auch Hagemann-White et al. 1995). Dies hat zur Folge, dass Mobilität und Migration unterschiedlich aufgewertet werden. »Während bei den Immigrantinnen Defizite den Ausgangspunkt und Verluste sowie Störung des körperlichen und seelischen Gleichgewichts das Resultat (vgl. Brucks 1994) der Migrationshandlung markieren, werden Binnenwanderer mit Attributen wie Beweglichkeit, Flexibilität, Dynamik, sozialem Aufstieg in Zusammenhang gebracht (vgl. Hagemann-White et al., ebd.).« (Gültekin 2003: 24)
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schlechtlichten Dimensionen der Migration aufzeigt (»gendering migration«). Dies kommt zum Beispiel darin zum Ausdruck, dass bei der Frauenmigration geschlechtsspezifische Wanderungsmotive wie verschärfte Mittellosigkeit, strukturelle Diskriminierung und besondere Verfolgungssituationen erkennbar sind (Schöttes/Treibel 1997: 85f.). Die verschärfte Mittellosigkeit von Frauen in den Herkunftsländern lässt sich heute am Beispiel der »Neuen Migration« aus Osteuropa feststellen, während die hohe Anzahl der Frauen in den Fluchtbewegungen3 auf die besonderen Verfolgungssituationen, denen Frauen ausgesetzt sind, hinweist. Somit sind Migrationsbewegungen nicht nur vergeschlechtlicht, sondern immer auch mit gesellschaftlichen Hierarchien, Ungleichheiten und Differenzierungen sowohl in der Herkunfts- als auch in der Aufnahmegesellschaft verbunden.4 Da nun in den letzten Jahren die Zunahme der Frauenmigration als Feminisierung der Migration diskutiert worden ist, stellt sich im Weiteren die Frage, wie diese zu verstehen ist.
1.1.
K ONZEPTUALISIERUNG ALS F EMINISIERUNG
DER
F RAUENMIGRATION
Es waren Stephen Castles und Mark K. Miller (1993), die den Begriff Feminisierung der Migration (feminization of migration) in ihrem Buch »The Age of Migration« zur weltweiten Migration Anfang der 1990er Jahre in die wissenschaftlichen Debatten einführten. Mit der Betonung der Feminisierung der Migrationsbewegungen machten sie auf die weltweite, rapide Zunahme des Frauenanteils an der internationalen Migration aufmerksam. Die Feminisierung, so Castles und Miller (a.a.O.), stellt neben der Globalisierung, der Beschleunigung und der Vielfältigkeit/Differenzierung der weltweiten Migrationen einen bedeutenden Entwicklungstrend der Migrationsbewegungen im Zeitalter der Migration dar. In seinem historisch-soziologischen Abriss zu »Frauen und Migration« sieht Petrus Han (2003: 77) die Zunahme der Frauenmigration als eine Folge des wirtschaftlichen Strukturwandels an, der sich zu Beginn der 1970er Jahre im Zuge der weltweiten Energiekrise vollzogen habe. Infolgedessen war zu diesem Zeit-
3
Bei der Migration ohne Fluchtbewegung stellen Frauen 50 Prozent dar, während sie bei den Fluchtbewegungen die Mehrheit darstellen (Schöttes/Treibel 1997: 85).
4
Einen Bezug auf diese Hierarchisierungsprozesse nimmt zum Beispiel Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (1973) in seiner Schichtungstheorie, wonach Migrationen aus den Schichtungs- und Strukturmerkmalen der einzelnen Gesellschaften sowie der Weltgesellschaft resultieren.
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punkt ein Billiglohnsektor mit erstaunlicher Wachstumsdynamik entstanden, was zu einer steigenden Nachfrage nach Frauenarbeitskräften in Produktion und Dienstleistungsbereichen führte.5 Der Bedarf an Frauenarbeitskraft führte in den westlichen Konsumgesellschaften zu der Entstehung eines neuen vergeschlechtlichten, ethnisierten und rassifizierten »Proletariats«, das aus den Arbeitsmigrantinnen bestand.6 Auch in der Bundesrepublik Deutschland kann die Zunahme der Frauenmigration festgestellt werden. Ein Blick auf die statistischen Entwicklungen der Zuwanderung in die Bundesrepublik verdeutlicht, dass die reguläre Migration von Frauen seit den 1980er Jahren ständig zugenommen hat. Schon in den 1970er Jahren führte die zunehmende Migration von Frauen als weibliche Arbeitskräfte bei der gleichzeitig niedrigen Erwerbsquote von einheimischen Frauen zu einer Situation, in der die Erwerbsbeteiligungsquote von Migrantinnen fast doppelt so hoch war wie die der einheimischen Frauen (Morokvasic 1993: 460).7 Jedoch brachte der langsame Strukturwandel zusammen mit dem Anwerbestopp für Gastarbeiter im Jahr 1973 eine Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation für ausländische ArbeitnehmerInnen. Eine zentrale Folge davon war die Verdrängung ausländischer Arbeitskräfte aus den gesicherten Beschäftigungsverhältnissen. Die Zunahme der Erwerbsbeteiligung von einheimischen Frauen ging mit der gleichzeitigen Abnahme der Berufstätigkeit von Migrantinnen einher. Jedoch stellen die Migrantinnen heute weiterhin einen erheblichen Teil der weiblichen Arbeitskräfte.8 Sie formen die Mehrheit in prekären Arbeitsverhältnissen, haben oft befristete Arbeitsverhältnisse und sind häufig als Teilzeitarbeitskräfte tätig (Gutíerrez Rodríguez 1999a: 25). Außerdem stellen sie einen erheblichen Anteil der irregulär und illegal Beschäftigten dar (vgl. Apitzsch 2006, Lutz 2007a). Auf jeden Fall kann festgestellt werden, dass der Strukturwandel des Arbeitsmarktes dazu führte, dass ausländische Beschäftigte im Gegensatz zu den
5
Siehe dazu auch Morokvasic 1983: 19.
6
Vgl. hierzu die Unterschichtungsthese von Hoffman-Nowotny 1977.
7
Während im Jahre 1970 der Anteil der erwerbstätigen ausländischen Frauen bei 71,6 % lag, betrug dieser bei den einheimischen Frauen 37,7 % (Morokvasic 1993: 460).
8
Rainer Münz et al. stellen fest, dass die Unterschiede bei ausländischen Frauen noch deutlicher ausgeprägt sind. Bei spanischen Frauen stieg die Erwerbsquote von 41 % (1976) auf 48 % (1993). Bei Italienerinnen war die Tendenz steigend (1993: 44 %) und Migrantinnen aus Griechenland (1993: 43 %) haben vergleichsweise hohe Erwerbstätigenquoten. Die niedrigsten Erwerbsquoten haben türkische Frauen. 1976 waren 32 % der Frauen türkischer Herkunft erwerbstätig, 1993 waren es 24 %. Dies ist deutlich niedriger als die Erwerbsbeteiligung westdeutscher Frauen. (Münz u.a. 1997: 72)
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einheimischen Frauen als Beschäftigungsverliererinnen anzusehen sind (Westphal 1996: 21). Ein Zeichen dieser Segregation des Arbeitsfeldes zwischen den MigrantInnen und Einheimischen ist, dass MigrantInnen seltener als Einheimische in besser bezahlten und sicheren Arbeitsplätzen, zum Beispiel im Kreditund Versicherungswesen, Immobilienhandel oder in den höheren Verwaltungsund Dispositionstätigkeiten, tätig sind (Bieling 1993: 112). Insgesamt lässt sich eine Dequalifikation von hochqualifizierten MigrantInnen auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt feststellen (Baringhorst 1995, Gutiérrez Rodríguez 1999a). In ihrer Studie zu Gastarbeiterinnen der ersten Generation stellt Monika Mattes (2005: 194f.) fest, dass der Einsatz ausländischer Beschäftigter nicht nur zur »ethnischen Unterschichtung«, die aus einem »deutsch-ausländischen Substituierungsprozess« erfolgte, sondern auch zur geschlechtsspezifischen Segmentierung und Segregation der Erwerbswelt führte. Heute haben der Strukturwandel und die Globalisierung des Arbeitsmarktes in der Bundesrepublik dazu geführt, dass die Massenarbeitslosigkeit mit einem gleichzeitig bestehenden Arbeitskräftemangel in bestimmten Bereichen, wie dem der Informations-Technologien (IT)9 und der Pflege, einhergeht. Daher werden seit dem Jahre 2000 hochqualifizierte Arbeitskräfte im Rahmen der Green Card Regelung aus dem Ausland angeworben.10 Dass in diesem Zusammenhang erstmals weniger über Einwanderung als Belastung, sondern als Chance diskutiert wurde, ist darauf zurückzuführen, dass diese Fachkräfte »über eine hohe soziale Akzeptanz verfügen und als ›Repräsentanten des internationalen Wirtschaftssystems‹ (Grebe) betrachtet werden« (Angenendt 2002: 35). Während im Bereich der Informationstechnologien der Zuzug durch das Green-Card-Verfahren gesetzlich geregelt wurde, ist der Bereich der Pflege und der Reproduktionsarbeit gesetzlich und arbeitsrechtlich wenig reglementiert worden und findet häufig im grauen Sektor des Arbeitsmarktes statt.11 Dort hat sich ein informeller Arbeits-
9
Im Jahr 2000 erteilte Deutschland sogenannte Green Cards für hochqualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland im Bereich der Information Technologies (IT).
10 Dieter Oberndörfer weist darauf hin, dass die Ausführungsbestimmungen zur »Green Card« dem Gastarbeitermodell entsprechen: »Der Aufenthalt der ausländischen Experten wird zeitlich befristet. Bei Verlängerung des Arbeitsvertrags und der Aufenthaltsgenehmigung ist zwar nach dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht eine Einbürgerung nach achtjährigem Aufenthalt in Deutschland möglich. Dennoch wird auch hier bei der Einreise keine sichere langfristige Perspektive für soziale Verwurzelung und Identifikation mit der neuen Heimat geboten. Sie wird vielmehr auf weite Sicht als bloßes Gastland vorgestellt und entsprechend wahrgenommen« (Oberndörfer 2000: 214). 11 Viele reisen mit einem Touristenvisum ohne Arbeitserlaubnis nach Deutschland ein.
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markt etabliert, auf dem insbesondere Migrantinnen aus dem ehemaligen Ostblock12 tätig sind. Es zeichnet sich hier eine allgemeine Tendenz dahingehend ab, dass die Feminisierung der Migration im 21. Jahrhundert zunehmend mit einer Irregularisierung und Präkarisierung der Arbeitsverhältnisse einhergeht (vgl. Anderson 1999, Apitzsch 2006). Auch Eleanore Koffman und Rosemary Sales (1998) weisen darauf hin, dass die wenigen legalen Arbeitsmigrationsformen, die in der EU für DrittstaatlerInnen existieren, hauptsächlich auf Migrationen von Männern ausgerichtet sind. Obwohl sich die EU-Binnenmigration nicht so stark entwickelt hat, wie ursprünglich vermutet (Morokvasic-Müller 2002), haben die EU-Länder an Attraktivität, zum Beispiel bei MigrantInnen aus osteuropäischen Ländern, gewonnen. Es sind sogenannte »Neue Migrationen«, wie zum Beispiel die Ost-WestMigration, die seit den 1990er Jahren, u.a. in Folge des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums, der letzten Erweiterung der EU, aber auch der zunehmenden Transnationalisierung von gesellschaftlichen Strukturen, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt entstanden sind. Damit verbunden sind gesellschaftliche Veränderungsprozesse und veränderte strukturelle Bedingungen einerseits in den Herkunfts-, aber auch in den Zielländern. Diese drastischen Änderungen haben das Leben von Menschen verunsichert, sie zur Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten gedrängt und damit zu einer erhöhten Bevölkerungsbewegung im europäischen Raum beigetragen. An der »Neuen Migration« aus Osteuropa sind hoch qualifizierte Arbeitskräfte, illegale ZuwanderInnen und Asylsuchende beteiligt (Koser/Lutz 1998: 2). Sie sind zunehmend in den Wachstumsbranchen der Wirtschaft, im Dienstleistungssektor sowie im Bereich der Unterhaltungs- und Sexindustrie tätig (a.a.O.: 3). Jedoch gibt es nicht nur neue Migrantengruppen, die nun nach Deutschland migrieren, es sind auch neue Wanderungsformen, wie zum Beispiel die der Transmigration, entstanden.13 Dabei sind es vor allem osteuropäische, oft aka-
12 »Das Neue an der Zuwanderung läßt sich am besten mit dem Stichwort ›Ost-WestMigration‹ beschreiben; denn: nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems in den Staaten Mittel- und Osteuropas kam es Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre zu neuen Wanderungsbewegungen von Ost nach West. Die Bundesrepublik Deutschland war für die Menschen aus Mittel- und Osteuropa eines der attraktivsten Zuwanderungsländer.« (Scheib1997: 3) 13 Transnationale Migration unterscheidet sich von einer permanenten Migration dadurch, dass sie durch eine Hin- und Herbewegung zwischen der »Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft« gekennzeichnet ist. Dies ist häufig dadurch bedingt, dass der/die
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demisch ausgebildete Frauen, welche die Möglichkeit ergreifen, um ihre prekäre Lage im Herkunftsland durch die Transmigration zu verbessern. Sie reisen mit einem Besuchervisum in die Bundesrepublik ein, um ihre Lebenssituation und die ihrer Familien durch Arbeit in privaten Haushalten oder im Sozialwesen zu verbessern (vgl. Lutz 2001a, Beck-Gernsheim 2002: 341). Häufig arbeiten sie unter ihren Qualifikationen und erhalten eine niedrige Entlohnung für ihre Arbeit. Diese Frauen werden einerseits »als Opfer von staatlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen« und andererseits »als risikofreudige Pionierinnen globalisierter Wirtschaftsbeziehungen« betrachtet (Lutz 2002). Auf jeden Fall ist deutlich, dass sie, so Helma Lutz (a.a.O.), einen neuen globalen Migrationsraum gestalten und dabei die Transnationalisierung von Lebensstilen vorantreiben. Die Situation der Osteuropäerinnen ähnelt der Situation von lateinamerikanischen Frauen, die in die USA einreisen, um dort den Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen. Häufig arbeiten sie in Privathaushalten als Kinderbetreuerinnen, während ihre eigenen Kinder von der Verwandtschaft zu Hause betreut werden. Dies stellt eine neue Herausforderung für die Definition der Begriffe Fürsorge und Familie dar und führte bereits zur Diskussion über eine »transnationale Mutterschaft« (Hondagneu-Sotelo/Avila 1997, Shinozaki 2003) und »transnationale Familien« (Herrera Lima 2001). Interessant ist dabei, dass diese transnationalen Migrationsbewegungen als eine Alternative zur endgültigen Auswanderung fungieren und somit das Weiterleben zu Hause im Herkunftsland ermöglicht wird (Lutz 2001a, Morokvasic-Müller 2002: 32). Jedoch ist noch wenig untersucht worden, mit welchen Kosten und möglichen Zugewinnen diese feminisierten Migrationsprozesse verbunden sind, wie diese neuen räumlich ausgedehnten Lebensformen erlebt werden und welche Einwirkungen diese auf die Identitätskonstruktionen von Menschen haben. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Feminisierung der Migration im Kontext der Bundesrepublik Deutschland nicht nur als Zunahme des Frauenanteils an der Migration zu verstehen ist. Vielmehr geht die Feminisierung, wie am Beispiel der Arbeitsmigration dargestellt wurde, mit der ethnischen Unterschichtung, Vergeschlechtlichung bzw. geschlechtsspezifischen Segmentierung des Arbeitsmarktes, der gleichzeitigen Dequalifikation von hochqualifizierten Migrantinnen in einigen Bereichen, Irregularisierung usw. einher. Gleichzeitig jedoch ist die Feminisierung der Migration in der Tat ein Zeichen dafür, dass es zunehmend Frauen sind, die die Migration als eine Strategie aufgreifen, um dadurch ihr Leben bzw. das ihrer Familien zu verbessern. In diesem
TransmigrantIn zwischen dem Arbeitsort und der Familie, die sich in unterschiedlichen Nationalstaaten befinden, pendelt. Siehe mehr dazu in Kapitel 4 und 5.
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Zusammenhang spricht Saskia Sassen von einer »Feminisierung des Überlebens« (2000: 1). Welche Folgen diese Strategie für alle Betroffen mit sich bringt, ist eine empirisch Frage, die noch wenig untersucht ist.
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Obwohl das Konzept der Feminisierung es suggeriert, ist die Migration von Frauen, wie oben diskutiert, keineswegs neu. Schon früher haben sich geschlechtsspezifische Migrationswege und -praxen etabliert, wobei man von wenig beachteten und kaum untersuchten Formen von Feminisierung der Migration sprechen kann. Migrationen, die aus einem temporären Auslandsaufenthalt erfolgen, wie zum Beispiel Praktikum, Sommerjob, Saisonarbeit (Cyrus 2000), Studium14 oder Au-pair-Tätigkeit (Jancsó 2003, Hess 2005), hochqualifizierte Arbeitsmigration (Koser/Lutz 1998) und ebenso die transnationalen Paarbeziehungen (Schlehe 2000),15 die zur »Individualwanderungen« geführt haben, wurden bisher in der sozialwissenschaftlichen Forschung nur unzulänglich aufgegriffen. Es sind Mig-
14 Die bildungsbedingte »studentische Migration« bzw. »Bildungsmigration« im europäischen Raum ist bisher kaum untersucht worden, einen Ansatz stellt zum Beispiel das Forschungsnetzwerk »Studentische Migration in und nach Europa« dar. Während Universitäten und Hochschulen traditionell als Orte der nationalen, kulturellen und politischen Identitätsbildung angesehen worden sind, sind sie meines Erachtens auch durch die »studentische Migration« zu Orten der transnationalen Elitenvergesellschaftung geworden. Dieses Phänomen lässt sich zum Beispiel anhand der »studentischen Migration« aus den ehemaligen Kolonialländern in die Zentren und an die Universitäten der ehemaligen Kolonialmächte feststellen. 15 Der Anteil der Heiratsmigrationen sowie binationalen Ehen ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Obwohl diese Art von Migration eine deutliche Frauendominanz aufweist, werden Frauen als mögliche Protagonistinnen dieser Migrationen anhand von Deutungsmustern von Heirats- oder Familienmigration zu Anhängseln von Männern umgedeutet (vgl. Prodolliet 1999a: 97f). Die letzten öffentlichen Diskussionen zur Heiratsmigration in Form von Zwangsheirat (Kelek 2005) haben auch noch verstärkt dazu beigetragen, dass die Heiratsmigration den Frauen einen Opferstatus zuschreibt. Außerdem hat die in der Migrationsforschung angewandte analytische Trennung zwischen Arbeits- und Familienmigration dazu beigetragen, dass die Migration von Frauen nicht an erster Stelle als Arbeitsmigration, sondern zum Beispiel im Zusammenhang von Familienzusammenführung definiert worden ist (vgl. Treibel 1999: 45).
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rationsbewegungen und individuelle Migrationsformen und -prozesse, die im Vergleich zu der dominanten Migrationsform der Arbeitermigration (Gastarbeit)16 zahlenmäßig klein sind und kaum Aufmerksamkeit erweckt haben. Jedoch sind es gerade diese kurzfristigen bzw. für eine bestimmte Zeit eingeplanten Migrationen, die entweder zu permanenten oder transnationalen Migrationen führen können. Außerdem scheinen sie typische Formen von Migrationsbewegungen im Zeitalter der Globalisierung darzustellen und weisen einen hohen Frauenanteil auf (vgl. Hess 2005). Auch Studien über die Wanderungsbewegungen innerhalb der EU sowie Studien, die sich mit der Migration von Nordeuropäerinnen nach Mittel- und Südeuropa beschäftigen, sind selten (vgl. Herzberg 1999), obwohl die Migration von Frauen auch hier einen hohen Anteil ausmacht. Dieses Desinteresse, die Migrationsbewegungen von EU-AusländerInnen innerhalb der EU zu thematisieren, zeigt sich auch in der Statistik über Migrationsbewegungen, in denen häufig die Wandernden aus den EU-Ländern in einen Topf geworfen werden und dabei keine differenzierte Betrachtung in Bezug auf Nationalität und Geschlecht stattfindet. Dies ist eventuell darauf zurückzuführen, dass die Migration von Menschen innerhalb der EU einen privilegierten und gleichberechtigten Charakter hat im Vergleich zu internationalen Migrationen von Menschen aus den sogenannten Drittländern in die EU17 (vgl. Ackers 1998: 1). Ansonsten verdeutlicht der Blick auf die statistischen Entwicklungen über die reguläre Migration von Frauen in die Bundesrepublik Deutschland, dass es
16 In ihren Ursprüngen war in der Gastarbeiter-Rekrutierung keine langfristige Niederlassung der ArbeitnehmerInnen vorgesehen, sondern eine rein ökonomisch motivierte Regulierung des Arbeitsmarktes durch Arbeitskräfte aus dem Ausland (vgl. Treibel 1999: 54f.). So sollte das dem Gastarbeitersystem typische Rotationsprinzip einerseits die wirtschaftliche Ausbeutung der Arbeitskräfte ermöglichen und andererseits das Heimisch werden von AusländerInnen in Deutschland verhindern (vgl. Schulz 1992). 17 Den besten rechtlichen Status haben die EU-AusländerInnen. Ihnen gleichgestellt sind BürgerInnen von Island, Liechtenstein und Norwegen. Türkische StaatsbürgerInnen haben aufgrund des Assoziierungsabkommens von 1963 nach fünfjährigem Aufenthalt einen erleichterten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Münz et al. (1997: 53) weisen darauf hin, dass diese Gruppen weitgehend unbeschränkten Zutritt zum deutschen Arbeitsmarkt haben. Dementsprechend dürfen sie sich in Deutschland niederlassen, wenn sie über ein reguläres Einkommen oder andere Subsistenzmittel verfügen und nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind. Jedoch gab es im Laufe der EU-Osterweiterung eine Übergangsregelung bezüglich der Arbeitserlaubnisse, die auch ArbeitnehmerInnen innerhalb der EU ungleiche Positionen zuwies.
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Migrantengruppen gibt, in denen der Frauenanteil seit langem gegenüber dem Anteil der Männer überwiegt. Dies ist der Fall bei Migrantinnen zum Beispiel aus Frankreich, der Schweiz, Japan, Kenia, Korea, fast allen südamerikanischen Ländern, den Philippinen, Thailand, Finnland sowie aus anderen nordeuropäischen Staaten (Schmalz-Jacobsen/Hansen 1997). In dem Band »Kleines Lexikon der ethnischen Minderheiten in Deutschland« (Schmalz-Jacobsen/Hansen 1997: 207) wird festgestellt, dass Migrantinnen aus diesen Gruppen vor allem Bildungsmigrantinnen, qualifizierte Beschäftigte und Angehörige dieser Beschäftigten sowie Ehefrauen von Deutschen sind. Außer diesen statistischen Angaben gibt es jedoch kaum Studien, die sich mit dieser Art von vergeschlechtlichter Migration beschäftigt haben.18 1.2.1. Feminisierte Migration aus Finnland in die Bundesrepublik Wie oben festgestellt wurde, gehört auch Finnland zu den Nationen, aus denen mehrheitlich Frauen nach Deutschland einwandern. Im Vergleich zu anderen MigrantInnengruppen bilden MigrantInnen finnischer Herkunft in der Bundesrepublik Deutschland eine relativ kleine Migrantengruppe. Jedoch stellt diese Gruppe in Deutschland, gleich nach der in Schweden, die zweitgrößte Gruppe aller finnischen Emigranten innerhalb von Europa dar. Die Migration von FinnenInnen nach Mitteleuropa ist hauptsächlich ein Phänomen, das erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist. Christer Björklund (1998: 205) weist darauf hin, dass nur ein gutes halbes Prozent von den über eine Million Emigrierten ins nicht-skandinavische Europa gezogen ist. Somit stellt die Emigration in Mitteleuropa einen verhältnismäßig geringen Anteil der finnischen Migration dar. Jedoch hat sich die Situation in den letzten Jahren verändert, da das Auswandern ins europäische Ausland innerhalb der EU leichter geworden ist. Statistischen Erhebungen zufolge erreichte die Anzahl der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Finnen und Finninnen ihren bisherigen Höhepunkt im Jahr 2001, als die Anzahl von 16.059 Finnen und Finninnen registriert wurde. Davon waren 69 % Frauen (Statistisches Bundesamt 2008). Zu dem Zeitpunkt der empirischen Erhebung meiner Studie (1999-2002) bewegte sich die Zahl der
18 Ich möchte an dieser Stelle auf einige Arbeiten hinweisen: Kirsten Rickers (2000) Dissertation über die Migrationsprozesse der französischen Migrantinnen und MirjaHannele Chowdhurys (1997) Magisterarbeit über Selbstbilder von finnischen Frauen im eigenen und im fremden Land.
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finnischen EinwanderInnen zwischen 15.449 und 15.827 (Statistisches Bundesamt 2006, 2008). Der Frauenanteil stellte weiterhin etwa 69 %-70 % der gesamten Migration dar. Generell wird es jedoch so eingeschätzt, dass die Gesamtzahl der Menschen in Deutschland, die finnischer Herkunft sind (Eingebürgerte, zweite und dritte Generation usw.), etwa bei 30.000 und in der gesamten Welt bei einer Million liegt (Wilkman 2005). Aufgrund der Statistik lassen sich auch unterschiedliche Entwicklungen bei der Zahl der finnischen EinwanderInnen in Deutschland feststellen. Während im Jahr 1971 in der Bundesrepublik Deutschland 8189 finnische Staatsangehörige wohnten, lag diese Zahl zehn Jahre später bei 10.063. Bis 1990 blieb diese Zahl relativ konstant, begann dann aber zu wachsen und stieg im Jahre 2001 bis 16.059, nimmt seitdem aber wieder ab. Trotz dieser Veränderungen ist der Frauenanteil relativ stabil geblieben und schwankt zwischen 69 und 71 % (Statistisches Bundesamt 2008). Es kann vermutet werden, dass die erhöhte Zunahme der Migration in den 1990er Jahren einerseits auf die hohe Arbeitslosigkeit in Finnland, die als Folge des Zusammenbruchs des Handels mit dem Obstblock sowie der nationalen Bankenkrise zu werten ist, und andererseits auf den Beitritt Finnlands zur EU sowie die Globalisierung der Arbeitsmärkte zurückzuführen ist. Historisch gesehen erreichte die Migrationsbewegung aus Finnland nach Westdeutschland ihren bisherigen Höhepunkt zwischen 1968 und 1973. In diesen Jahren wanderten jährlich tausende FinnInnen nach Deutschland ein. Die meisten von ihnen waren Frauen, die nach ihrem Schulabschluss (Abitur oder Realschulabschluss) nach Deutschland einreisten, um hier zu arbeiten und um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Während sich der Frauenanteil bei den Migranten in den 1980er Jahren noch zwischen 75 und 85 % bewegte, und im Jahr 1990 mit 75 % sogar den höchsten Anteil von Frauen aus allen Migrantengruppen in Deutschland darstellte, war er bis Mitte der 1990er Jahre etwas gesunken und betrug nun 55-60 % (Korkiasaari 2003). In den Jahren 2000-2003 sank der Anteil von ausgewanderten Frauen weiterhin, betrug jedoch immer noch 53,8 % (Wilkman 2005). Dieser große Geschlechterunterschied ist generell typisch für die finnische Emigration innerhalb von Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.19 Nur bei der Emigration nach Russland, den früheren sowjetischen Staaten und Schweden hat der Anteil der Männer den der Frauen überwogen. Hier hat der
19 Christer Björklund (1998: 65f.) hat in Bezug auf finnische Migration festgestellt, dass zum Beispiel in den Jahren 1996-1997 der Frauenanteil der MigrantInnen nach Großbritannien 72,9 % darstellte. In die Bundesrepublik betrug der Frauenanteil 71 %, während dieser in die Schweiz bei 70 % und nach Portugal bei 52,2 % lag.
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Bedarf an Industrie- und Waldarbeitern überwiegend zu männlicher Arbeitsmigration geführt. In seiner Studie zu den in der Nachkriegszeit in die Schweiz ausgewanderten Finnen stellt Christer Björklund (1998) einen Geschlechtsunterschied bei den Migrationsmotivationen fest. Nach Björklund (1998: 117f.) sind die meisten finnischen Frauen aus persönlichen Gründen, zum Beispiel wegen der Liebe oder aus Abenteuerlust in die Schweiz eingewandert, während bei den Männern die Einwanderung ökonomische und berufliche Gründe nachweisen lässt. Björklund (a.a.O.) führt diese Unterschiede zurück auf die besseren Möglichkeiten von Mädchen und Frauen, selbstständig zu werden. Dadurch dass finnische Frauen und Mädchen generell gute Sprachkenntnisse haben (Dobler-Mikola 1979), fällt es Mädchen und jungen Frauen leichter als Jungen, einen kurzfristigen Auslandsaufenthalt mit geeigneter Arbeit zu finden (Tuomi-Nikula 1989: 49). Als häufigste Migrationsgründe aus Finnland nach Deutschland werden das Studium, die Ausbildung, die Erwerbstätigkeit und persönliche Bindungen genannt (Schmalz-Jacobsen/Hansen 1997: 55). Die finnischen Migrantinnen sind hauptsächlich als Fachkräfte (Ingenieure und leitende Angestellte) in Unternehmen und im Dienstleistungsbereich beschäftigt oder kommen als Studierende und im Falle der Frauen als junge Menschen zum Praktikum oder als Au-pairMädchen nach Deutschland (Schmalz-Jacobsen/Hansen 1997: 56). In ihrer Untersuchung zu »DeutschlandfinnInnen« Ende der 1980er Jahre stellte Outi Tuomi-Nikula (1989: 22) fest, dass die finnische Migrantengruppe im westlichen Europa hauptsächlich aus ausgebildeten Frauen, die einen ausländischen Ehepartner hatten, bestand. Obwohl die meisten finnischen Migrantinnen in Deutschland (2/3) ihre Berufsausbildung bereits in Finnland absolviert hatten, hatten sich 47 % von ihnen jedoch weitergebildet, da ihre Ausbildung nicht anerkannt wurde, bzw. es keine der Ausbildung entsprechende Arbeit zu finden war. Jedoch hatten im Jahre 1989, laut Tuomi-Nikula (a.a.O.: 38f.), 76 % aller in Deutschland lebenden Finninnen einen Abiturabschluss, und ein Drittel von ihnen war akademisch ausgebildet. Tuomi-Nikula stellte damals fest, dass der Anteil der akademisch ausgebildeten MigrantInnen im Vergleich zur akademisch ausgebildeten Bevölkerung von 3 % in Finnland relativ hoch war. In Anbetracht des hohen Ausbildungsgrades stellte Tuomi-Nikula (a.a.O.: 40) die These auf, dass es sich bei der Migration von Finninnen in die damalige Bundesrepublik um eine Art von »Brain-Drain«, also um einen »Export« von gut ausgebildeten Frauen aus Finnland nach Deutschland, handelte. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt auch Sirkku Wilkman (2005) in ihrer Studie zur finnischen Migration in die USA und nach Deutschland im 21. Jahrhundert, wenn sie die Migration aus Finnland nach Deutschland als Migration von gut ausgebilde-
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ten und insbesondere von hochqualifizierten Migrantinnen, die den Männeranteil weit übertrifft, kennzeichnet. Diese Studien weisen darauf hin, dass die finnischen Migrantinnen in Deutschland einen hohen Bildungsstand haben und dass sie meistens schon vor ihrer Migration über gute Sprachkenntnisse verfügen. Es fehlen jedoch Untersuchungen darüber, wie diese mit einem guten Bildungskapital ausgestatteten Migrantinnen letztendlich auf dem deutschen Arbeitsmarkt untergekommen sind. Forschungsstand
Insgesamt ist die Migration von FinnInnen nach Mitteleuropa wenig untersucht worden, während die Migration nach Nordamerika und Skandinavien (besonders nach Schweden) viel Aufmerksamkeit in der finnischsprachigen Migrationsforschung gefunden hat. Zu den wenigen Forschungsarbeiten über Migration in die Bundesrepublik zählen die finnischsprachige Pilotstudie von Tuomi-Nikula (1989) über die DeutschlandfinnInnen sowie einige Studienabschlussarbeiten (Kronqvist 1990, Happonen 1992). In der Schweiz hat Anja Dobler-Mikola (1979) eine empirische Studie über die sozio-kulturelle Integration und Stellung der Finninnen in der Schweiz gefertigt. Krister Björklund (1999) dagegen hat sich mit der Einwanderung aus Finnland in die Schweiz zwischen 1944 und 1996 beschäftigt. Gemeinsam ist all diesen Arbeiten die Untersuchung des Akkulturationsprozesses, dem ein statistisches Gesellschafts- und Kulturkonzept hinterlegt ist und bei dem die Akkulturations- und Integrationsprozesse als eine Aufgabe des Migranten/der Migrantin angesehen werden. Außerdem weist Telle (2000: 1) in ihrer Diplomarbeit in der Psychologie zum Thema »Bewältigungssituationen und Bewältigungshandlungen finnischer Einwanderinnen« kritisch darauf hin, dass keine differenzierten Analysen der psychosozialen Situation, von Schwierigkeiten und Bewältigungsformen des Migrationsdaseins von finnischen MigrantInnen, vorliegen. Außer einer Magisterarbeit von Mirja-Hannele Chowdhury (1996), die das Selbstbild von Finninnen in Finnland und Deutschland untersucht, sind mir keine biographieanalytischen Arbeiten über finnische Migrantinnen in der Bundesrepublik bekannt. Somit greift diese Arbeit durch die Kombination von biographieanalytischer und transnationaler Perspektive bei der Untersuchung von Migrationsprozessen und Konstruktionen von Migrantinsein eine neue, differenzierte Forschungsperspektive auf und versucht, zumindest stückweise, eine Forschungslücke in Bezug auf die feminisierte Migration in die Bundesrepublik Deutschland zu schließen. Die hier nun erfolgte allgemeine Einführung in die Migration von Frauen aus Finnland nach Deutschland werde ich in den nächsten Kapiteln mit weiteren Aspekten vertiefen. An dieser Stelle wollte ich jedoch ein Bild der feminisierten
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Form der finnischen Migration zeichnen, um auf die Spezifik der Migration aus Finnland aufmerksam zu machen. Im folgenden Kapitel nehme ich nun eine weitere Akzentuierung der Betrachtungsrichtung vor, wenn ich am Beispiel des konstruierten stereotypischen Bildes von der Migrantin die Wahrnehmung und die wissenschaftliche Konzeptualisierung von Migrantinnen in Betracht ziehe.
2. Das Bild der Migrantin: Eine De/Konstruktion
Im Folgenden werde ich nun den Blick darauf richten, wie ausländische Frauen als Gegenstand des bundesdeutschen Migrationsdiskurses als »Migrantinnen« wahrgenommen und konstruiert wurden bzw. werden. Es geht mir hierbei um das Aufspüren und Bewerten einiger spezifischer Darstellungsmuster von Migrantinsein in Bildern, die in wissenschaftlichen Studien zur Frauenmigration gezeichnet worden sind. Ich beginne mit dem Bezug auf den dominanten Diskurs über die Gastarbeitermigration, da diese den Anfang der bundesdeutschen Migrationsforschung in der Nachkriegszeit markiert und somit zur Entstehung diskursiv erzeugter, manifester und hartnäckiger Stereotypen beigetragen hat und zu einer selektiven ethnisierenden und vergeschlechtlichten Wahrnehmung von Migrantinnen geführt hat. Danach werde ich die Perspektive wechseln und Differenzierungen, Hierarchisierungen und Privilegierungen unter den Frauen in einer Einwanderungsgesellschaft ins Zentrum der Betrachtung rücken, um somit einen weiteren Zugang zum Verständnis der Phänomene Migration und Migrantinsein zu ermöglichen. An diese Diskussionen schließt sich dann eine kurze Reflexion an, inwieweit die nach Deutschland eingewanderten Frauen aus Finnland als Migrantinnen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.
2.1.
V ON DER F RAU ZUR FREMDEN F RAU UND M IGRANTIN : E IN B EISPIEL VON V ERGESCHLECHTLICHUNG UND E THNISIERUNG
Zu Beginn meiner Arbeit stellte sich die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Migrantin« sowie nach den damit verbundenen Wahrnehmungen. Diese Auseinandersetzung wurde durch die Begegnung mit einer in die Bundesrepublik ein-
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gewanderten Frau aus dem Iran, die ich Fatima nenne, ausgelöst, als ich sie im Rahmen eines Empiriepraktikums zur Selbstständigkeit von Migrantinnen interviewen wollte. In unserem Gespräch tauchte das Wort »Migrantin« auf. Es löste bei ihr eine starke Irritation aus und sie weigerte sich, als Migrantin wahrgenommen zu werden. In ihrer Ablehnung »Ich habe es satt, Migrantin genannt zu werden!« drückte sich die Empörung über die gängige Benennungs- und Zuschreibungspraxis der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund aus. Denn die Bezeichnung »Migrantin« erinnert immer an die Unterteilung von den in Deutschland lebenden Menschen in Einheimische und in Eingewanderte und unterstreicht damit die Position von Migrantinnen als »nichtdazugehörige Andere« oder als »dazugehörige Nichtdazugehörige« (Huth-Hildebrandt 1999: 189, 193). Ein Gegenmodell zu dieser Positionierung fand ich in der Lebensgeschichte von Mine, einer Migrantin türkischer Herkunft, die Encarnación Gutiérrez Rodríguez in ihrer Studie über »Intellektuelle Migrantinnen – Subjektivitäten im Zeitalter von Globalisierung« (1999a) analysiert hat. Für Mine bedeutet die Zuschreibung »Migrantin« eine politische Verortung im Kontext der Einwanderungsgesellschaft: »Heute bin ich in Deutschland eine Migrantin. Ich lebe in diesem Land. Wenn es keine Rolle gespielt hätte in diesem Land, woher man kommt, dann wäre das Wort Migrantin auch unnötig oder Türkin, hätte überhaupt keine Rolle mehr gespielt. Aber das ist nicht so, ist nicht die Realität, sei es vom Alltag, von den Menschenbeziehungen her, sei es gesetzlich gesehen, mit den Rechten. Und in diesem Zusammenhang find ތich es wichtig, sich als Migrantin zu definieren im politischen Sinne.« (Gutiérrez Rodríguez 1999a: 176; Hervorh. i.O.)
In der Benennung »Migrantin« konkretisieren sich für Mine die individuellen Erfahrungen und die Vergesellschaftungsmomente der Migration, die sie politisieren will. Diese zwei unterschiedlichen Positionierungen weisen auf die Widersprüchlichkeit des Konzepts vom »Migrantinsein« hin. Sie verdeutlichen die Unmöglichkeit einer eindeutigen Bestimmung und lassen die mögliche Vielfalt von Definitionen des »Migrantinseins« erkennen. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, welche Wahrnehmungen, Klassifizierungen und Setzungen bestimmend für das Bild von der Migrantin in Deutschland sind. Dabei geht es hier darum, einmal entstandene Setzungen, die durchaus resistent sind und im politischen Diskurs immer wieder auftauchen und genutzt werden, zu thematisieren.
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Zunächst ist festzuhalten, dass das Konzept »Migrantin« trotz seiner Widersprüchlichkeit eine wirkungsmächtige Konstruktion ist. In diesem Konzept kreuzen sich verschiedene Diskurse und es kommen selektive Wahrnehmungen und hartnäckig manifeste Stereotype zum Ausdruck. Diese Stereotype basieren auf einem selektiven Wahrnehmungsmuster und sind gegen Veränderungen außerordentlich resistent und erschweren damit die Akzeptanz »anderer Wahrheiten« (Lutz 1991: 6). »Alte Wahrheiten« (a.a.O.) haben jedoch eine lange Geschichte und sind häufig Teil des kollektiven Wissens einer Gesellschaft geworden, worauf Helma Lutz (1991: 6) hinweist. Somit lässt sich anhand der Rekonstruktion von stereotypen Wahrnehmungsmustern, die dazu beigetragen haben, dass eingewanderte Frauen zu fremden Frauen und Migrantinnen gemacht worden sind, auch ein Teil der Geschichte der Bundesrepublik als einer Einwanderungsgesellschaft rekonstruieren. In Bezug auf die Gastarbeitermigration lassen sich in der bundesdeutschen Migrationsforschung zwei manifeste Stereotype über Frauenmigration feststellen: einerseits die »defizitäre fremde Frau« und andererseits »die Pionierin der Moderne« (zum Beispiel Gümen 1996, Huth-Hildebrandt 2002a). Während die Konstruktion einer »defizitären fremden Frau« mit einer Kulturalisierung und Vergeschlechtlichung des Privaten und des Häuslichen verbunden ist, verkörpert das Stereotyp der »Pionierin der Moderne« einen emanzipatorischen Prozess im Bereich des Öffentlichen und Beruflichen. Im Folgenden möchte ich auf die Erläuterung und Kontextualisierung dieser Bilder eingehen. Wie aus den wissenschaftlichen Debatten und Studien retrospektiv herausgearbeitet worden ist, sind diese beiden Stereotypen spezifisch für den jeweiligen Zeitraum (siehe zum Beispiel Gümen 1996, Huth-Hildebrandt 2002a). Sie gehen mit der Herstellung von Expertenwissen über die »Migrantinnen« einher und können als Produkte wissenschaftlicher Deutungsmacht über Migrantinnen verstanden werden (Diehm/ Radtke 1999). Die Hauptphase der Auseinandersetzung mit Frauenmigration in der Bundesrepublik Deutschland lag zu Beginn der 1980er Jahre, als sich die allgemeine Migrationsforschung in der sogenannten »Bilanzphase« befand (Huth-Hildebrandt 2002a: 32, Treibel 1988)1. Typisch für diese Periode war die projekt- und
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Für die bundesrepublikanische Migrationsforschung kann eine phasenartige Entwicklung in der Auseinandersetzung mit der Migration festgestellt werden. Dieser zufolge kann von einer Vorlaufphase bis zum Jahr 1969, Frühphase von 1970 bis 1973, Hauptphase von 1974 bis 1983 und ab 1984 von einer Bilanzphase gesprochen werden (Huth-Hildebrandt 2002a: 23ff., Treibel 1988). In der Bilanzphase hat sich der Forschungsbereich zu einem eigenständigen Forschungsgebiet mit Wissenschaftsre-
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problemgebundene Auftragsforschung zur Frauenmigration, die sich nach den Problemvorgaben der jeweiligen Auftraggeber orientierte (a.a.O.). Somit etablierte sich die Forschung über Frauenmigration zu einem Zeitpunkt, als sich in der allgemeinen Migrationsforschung ein Perspektivenwechsel von einer politökonomischen zu einer ethnologisch-anthropologischen Betrachtungsweise vollzog und dabei die Diskussion um Kulturdifferenz und die Bewältigung von Kulturkonflikten in den Vordergrund gerückt wurde (Huth-Hildebrandt 2002a: 32). Dabei wurde Kultur in Form von Ethnizität zum Strukturmerkmal der Gesellschaften erhoben, die als gesellschaftlich-politische Konstruktion die ethnisierten Minderheiten und die Ethnisierung der Gesellschaftsstrukturen hervorbrachte (Bukow 1996: 137). Dies hatte die Kulturalisierung des Sozialen zur Folge. Einen diskursiven Nährboden für diese Betrachtungsweise bot der Multikulturalismusansatz, der die differenten Kulturen und die kulturelle Differenz ins Zentrum der Betrachtung rückte. Gleichzeitig aber verschleierte diese Perspektive die strukturell bedingte Ungleichheit zwischen Angehörigen der Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft (vgl. Radtke 1998: 142). Innerhalb dieser kulturalistischen Perspektiven verliefen anschließend die Debatten über die eingewanderten Frauen als die Differenten und Anderen entlang des Modernitäts-Differenz-Paradigmas (vgl. Gümen 1996). Diesem dichotomen und ethnozentrischen Paradigma zufolge, das auf der Grundannahme einer Differenz zwischen den traditionellen Agrargesellschaften im Süden als Auswanderungs- und den modernen Industrieländern im Norden als Einwanderungsländern beruhte, wurden Migrantinnen als Traditionalistinnen konstruiert, die erst im westlichen Aufnahmekontext mit Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen konfrontiert wurden. Diese viel kritisierte Grundannahme2 basierte auf der Vorstellung einer kulturellen Differenz zwischen dem Herkunftsund dem Ankunftsland. Dabei wurde Migration mit einem Kulturwechsel und Modernisierungsprozess gleichgesetzt und die Tatsache vernachlässigt, dass die
flexion und -kritik entwickelt (a.a.O.: 27). Bezogen auf die Frauenmigration lassen sich die verschiedenen Phasen zu unterschiedlichen Zeitpunkten als die der allgemein klassifizierten Migration feststellen. Während die Vorlaufs- und Frühphase der Thematisierung mit der Frauenmigration ungefähr in den Jahren 1977-1979 stattfand, lag die Hauptzeit der Auseinandersetzung in den 1980er Jahren und reichte in die Bilanzphase des allgemeinen Migrationsforschungsbereichs hinein und sogar über diese hinaus (Huth-Hildebrandt 2002a: 32). 2
Vgl. u.a. die Kritik von Apitzsch 1992, 1994a.
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Migrantinnen sich eventuell schon vor der Migration mit Modernisierungsprozessen auseinandergesetzt hatten (Morokvasic 1987, Apitzsch 1990: 45, 71)3. Somit wurde in den 1970er Jahren in zahlreichen Projektberichten und Veröffentlichungen anhand von klischeehaften Darstellungen über patriarchalischautoritäre Familienformen und die absolute Unterordnung der aus den Anwerbeländern zugewanderten Frauen ein Bild von der Migrantin als fremder Frau gezeichnet. Die ersten sozialpädagogischen Untersuchungen über fremde Frauen entstanden im Kontext der Familienzusammenführungsprogramme, die nach dem Anwerbestopp für Gastarbeiter im Jahre 1973 folgten (Gutiérrez Rodríguez 1999a: 23). Sie trugen zur Entstehung des stereotypen Bildes dieser Generation von Gastarbeiter-Migrantinnen als ökonomisch inaktiven Ehefrauen und Müttern erheblich bei (Gümen 1996).4 Sedef Gümen führt aus, dass »durch die Macht der Zuschreibung […] in die Intimsphäre dieser Untersuchungsobjekte eingedrungen [wurde] und aus dem strukturellen Problem der sozialen Ungleichheit ein Kulturproblem erzeugt [wurde]« (1996: 83). Zudem führte die Pädagogisierung des Migrationsphänomens nicht nur zur Ethnisierung, sondern auch zu einer Pathologisierung der MigrantInnen als »Betreuungsbedürftige« (Gutiérrez Rodríguez 1999a: 27). Das traditionelle Familienbild mit einer geschlechtsspezifischen Rollenverteilung, wonach den Männern die Arbeiter- und Ernährerrolle und den Frauen die Reproduktionsarbeit (sogar bis auf der gesetzlichen Ebene5) zugeschrieben wurde, festigte auch das Bild von der Migrantin als Bewahrerin der Tradition. Gerade dieser Aspekt wurde dann im Rahmen der staatlich geführten Integrati-
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Mirjana Morokvasic stellte in ihrer Untersuchung über jugoslawische Frauen in Deutschland fest: »Die Veränderung, die während des Auslandsaufenthaltes stattfindet, [sollte] auch eher als Fortführung eines Trends gesehen werden, der vor der Emigration begann, und als Folge der Interaktion zwischen Migrations- und Hintergrundeinflüssen, jedenfalls nicht als Phänomen, das allein dem Einfluss der neuen Umgebung zuzuschreiben ist« (Morokvasic 1987: 226).
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Siehe zur »Hausfrauisierung« im internationalen Zusammenhang Mies 1988 und im Zusammenhang der Migration aus der Türkei Benholdt-Thomsen 1987 und Firat 1987, welche die sogenannte »Hausfrauisierungsthese« vertraten.
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Die Aufenthaltserlaubnis der Gastarbeiter-Frauen, die durch die Familienzusammenführung in die BRD eingewandert waren, war mehrere Jahre lang an die Aufenthaltserlaubnis des Ehemannes geknüpft. Erst nach drei Jahren Aufenthalt konnten sie eine eigenständige Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis erhalten und in den Arbeitsmarkt eintreten. Dieser restriktive Zugang zum Arbeitsmarkt »zwang« Frauen, sich mit den Tätigkeiten im Bereich des Privaten und der Familie zu beschäftigen.
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onspolitik in den 1980er Jahren aufgegriffen, und es wurde von den migrierten Müttern verlangt, das traditionelle Denken abzulegen. Hiermit wurde ein neues Bild von der Migrantin als einer Integrationsfigur im »Modernisierungsprozess der Migrantenfamilie« geschaffen (Lutz/Huth-Hildebrandt 1998: 167f.). Es kann jedoch festgestellt werden, dass nicht nur das sozialpädagogische Expertenwissen in der Kulturalisierung und in der »Veranderung« (Othering) von eingewanderten Frauen eine Rolle spielte (vgl. Diehm/Radtke 1999), sondern auch das Verhältnis zwischen den eingewanderten und den einheimischen Frauen. Diese Relation diente vor allem »als eine Folie, um das im Verhältnis zum eigenen [angenommenen] anderen Geschlechterverhältnis des eingewanderten Bevölkerungsteils als ›das Andere‹ abzubilden und die so vorgenommene Ethnisierung sichtbar zu machen« (Huth-Hildebrandt 2002a: 18). In den Beschreibungen der Beziehung zwischen Einheimischen und MigrantInnen wurde dem heterosexuellen Geschlechterverhältnis eine weitaus größere Bedeutung zuteil als anderen sozialen Codes der jeweiligen Herkunftsgesellschaft (HuthHildebrandt 2002a: 15). Diese Überzeugung bestand nicht nur in der Annahme, dass »jede Gesellschaft ihre eigenen Konzepte davon entwickelt, was als das Wesentliche und Charakteristische den beiden Geschlechtern jeweils zugeschrieben wird« (a.a.O.: 16), sondern sie ermöglichte gleichzeitig, das Anderssein der Migrantinnen im Vergleich zum Eigenen als das Fremde abzubilden. Somit betrachtete man das Geschlechterverhältnis zwischen den eingewanderten Frauen und Männern, »um das bestehende hierarchische Verhältnis von Mehrheitsgesellschaft zu den Minderheiten erklären und festschreiben zu können« (Huth-Hildebrandt 2002a: 20). Damit hatte die Konstruktion und Zuschreibung eines ethnisierten patriarchalischen Geschlechterverhältnisses einen konstitutiven Charakter für das Bild von der Migrantin als Andere (vgl. Huth-Hildebrandt/ Lutz 1998, Huth/Hildebrand 1999, Huth/Hildebrand 2002a: 15). Die »Besonderlichung« (Gümen 1998) von Migrantinnen konzentrierte sich insbesondere auf die Beschreibung der Situation von Frauen aus der Türkei. Dies geschah nicht nur, weil sie die Mehrheit der Einwanderinnen bildeten, sondern auch wegen ihrer scheinbar »anderen« oder »fremdartigen« Kultur. Auf diese Weise wurden ethnisierende Zuschreibungen verfestigt und wurde zur gesellschaftlichen Exklusion der MigrantInnen beigetragen. Als Folge bildete sich das ethnisierte Stereotyp von der Migrantin als Problemfigur und Opfer, das als verdichteter Typus einer gesellschaftlichen Ethnisierungspraxis gedeutet werden kann. Obwohl an dieser stereotypen Zuschreibung mittlerweile Brüche sichtbar geworden sind und diese bereits durch wissenschaftliche Gegenargumente in Frage gestellt worden ist, ist sie im Ethnisierungsprozess weiterhin wirksam, wenn Fremdheitszuschreibungen konstruiert und festgeschrieben werden (Huth-
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Hildebrandt 2002a: 19, 2002b: 107). Christine Huth-Hildebrandt wundert sich noch im Jahre 2002, dass bis dato weder den möglichen Gründen der Zählebigkeit dieses Bildes nachgegangen noch sein zentraler Stellenwert im Ethnisierungprozess ausgearbeitet wurde (Huth-Hildebrandt 2002a: 19). Dass Migrantinnen aber nicht nur entlang des Stereotyps der defizitären fremden Frau wahrgenommen wurden, verdeutlicht das Gegenbild der »Pionierin«. Hierbei fand eine Verschiebung des Stereotyps der ans Haus gefesselten Migrantin hin zum Bild der berufstätigen Migrantin statt. Dabei rückten die Migrantinnen, die als weibliche Arbeitskraft angeworben wurden, ins Zentrum der Betrachtung (Ley 1979, Morokvasic 1993, Gümen et al. 1994, Herwartz-Emden 1995, Mattes 2005).6 Die wissenschaftliche Thematisierung der selbständigen Arbeitsmigration von Frauen trug dazu bei, dass das einseitige Bild von der Migrantin als eine ökonomisch inaktive Familienangehörige durch ein Bild von eigenständigen Arbeiterinnen oder gar selbständigen Kleinunternehmerinnen ergänzt wurde (vgl. Krasberg 1979, Morokvasic 1987, 1991). Somit wurde die Migrantin als »defizitäre andere Frau«, die sich im privaten Raum bewegte, durch die Figur einer berufstätigen Frau, einer »Pionierin der Moderne«, ersetzt (Gümen 1996: 96) und auf diese Weise zur Vorreiterin der Moderne und Emanzipation stilisiert. Die Herstellung dieser dichotomen und stereotypen Bilder von Migrantinnen der Gastarbeitergeneration, einerseits als Mütter und andererseits als Arbeiterinnen, ließen jedoch wenig Raum für das Verstehen der sich durch die Migration verändernden Lebenssituationen sowie der Komplexität des Alltages von Migrantinnen. Sedef Gümen (1996: 96) hat diese Stilisierungen skeptisch betrachtet und die Wahrnehmung von eingewanderten Frauen als »Pionie-
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Diese Studien thematisieren die Arbeitsmigration von Frauen in die BRD. Bernard Nauck (1993: 370) stellt fest, dass diese bereits im Jahre 1965 anfing und ihren Höhepunkt zwischen 1967 und 1973 erreichte. Seit den 1980er Jahren steigt der Anteil der Migrantinnen wieder. Seyhan weist darauf hin, dass viele türkische Migrantinnen qualifizierte Arbeiterinnen waren: »A great majority of Turkish women who immigrated on their own to West Germany in the early sixties were, unlike the men, not unskilled and illiterate workers but teachers, civil servants, craftswomen, and seamstresses. When West Germany started importing foreign labour, many women who were trapped in low-paying teaching jobs actually enlisted as factory workers to escape the confines of their dead-end lives, family circle, and work. Most picked up German with relative speed and ease. And many started writing soon afterward. Doubly marginalized in a hostile society, often alienated from their own cultural milieu and compatriots, writing became the proverbial therapy.« (Seyhan 1997: 238)
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rinnen der Moderne« als eine weitere Verobjektivierung und Stereotypisierung der Migrantinnen in der Einwanderungsgesellschaft gedeutet. Es zeigt sich, dass für die Herstellung des stereotypen Bildes der Migrantin als die Fremde die Konstruktion eines patriarchalen Geschlechterverhältnisses entlang der Sphärentrennung von Öffentlichkeit und Privatheit ausschlaggebend war. Dabei wurde durch ethnozentristische Definitionen von Migrantinnen ein Diskurs über die Migrantin als kulturell Fremde und patriarchal Unterdrückte erzeugt, der zunächst auf der Basis des sogenannten Modernitäts-DifferenzParadigmas in Bezug auf die Gastarbeitermigration diskutiert wurde. Diese problemzentrierte Betrachtungsweise produzierte nicht nur ein dominantes Bild einer essentiellen kulturellen Differenz zwischen den Einheimischen und Eingewanderten, sondern verschleierte auch die ökonomischen, politischen, rechtlichen und sozialen Unterschiede zwischen den eingewanderten und einheimischen Frauen und blendete damit auch die unterschiedlichen Machtpositionen unter Frauen und ihre jeweilige Möglichkeit, über Ressourcen zu verfügen, aus. Was in diesen Untersuchungen ebenfalls häufig vernachlässigt wurde, ist die Tatsache, dass im Zuge der Migrationsprozesse auch Traditionen und Geschlechterverhältnisse eine Bedeutungsverschiebung oder einen Wandel durchlaufen können. Der Rückgriff auf Traditionen in der Beurteilung von Migration wurde aus der kulturalistischen Perspektive heraus mit Rückständigkeit gleichgesetzt und nicht, wie dies heute häufig der Fall ist,7 auch als mögliche Ressource in der Migration gesehen (vgl. Apitzsch 1999a). Auch müssen normative Vorstellungen von Frau- bzw. Mann-Sein in Migrationsprozessen nicht zwangsläufig gefestigt werden, vielmehr können sie in Frage gestellt, verändert und abgeschwächt und somit auch die Geschlechterverhältnisse nicht nur reproduziert, sondern neu ausgehandelt und neu hergestellt werden (Westphal 2004). Jedoch war nicht nur das Geschlechterverhältnis, sondern auch die Konstruktion von ethnischen Differenzen richtunggebend für die Konstruktion des stereotypen Bildes von der Migrantin. Hierbei erfuhr die ethnische Markierung »Türkin« eine besondere Gewichtung. Während die Repräsentation der »ausländischen Frau« und Migrantin anhand des ethnisierten Stereotyps einer »Türkin«
7
»Populäre Stichwörter wie ›Tradition‹, ›Ehre‹, ›Religion‹ werden heute nicht mehr automatisch mit negativen Eigenschaften wie ›Rückständigkeit‹, ›Hilflosigkeit‹ oder Opferstatus gleichgesetzt. Sie werden eher – aus dieser neuen Perspektive – als positiv kulturelle Merkmale der ›fremden Frauen‹ interpretiert« (Gümen 1996: 84). Auch diese Perspektive beinhaltet Gefahren, da sie im Rahmen einer Kulturalisierung eine Toleranz von Praktiken erlaubt, welche Menschenrechte von Frauen verletzen können (zum Beispiel Genitalbeschneidung).
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stattfand, erweckte die Arbeitsmigration von Frauen anderer Nationalitäten, wie die von Italienerinnen, Jugoslawinnen, Griechinnen oder Spanierinnen zunächst weniger wissenschaftliches Interesse (Apitzsch 1990: 311, Huth-Hildebrandt/ Lutz 1998: 165f.). Nach Ursula Apitzsch kann die selektierende Wahrnehmung von Migrantinnen als ein Ausdruck davon gedeutet werden, dass bei den oben erwähnten Gruppen »alte traditionelle Wissensbestände biographisch überformt wurden und nicht auf ›ethnische‹ Identitäten rückführbar sind. Die Auseinandersetzung mit diesen neuen Wissensformen erscheint möglicherweise als allzu komplex und allzu nah an der Situation der einheimischen Frauen selbst« (Apitzsch 1990: 311).
Apitzsch führt das Desinteresse an der Thematisierung der Lebenslagen von Migrantinnen aus anderen Migrantengruppen auf die ethnisierende Wahrnehmung von Migrantinnen in der Einwanderungsgesellschaft zurück. Demzufolge wirkten möglicherweise Italienerinnen, Jugoslawinnen, Griechinnen oder Spanierinnen als innereuropäische Migrantinnen8 im Vergleich zu den »außereuropäischen« Türkinnen nicht so fremd, so dass eine Thematisierung der Lebenslagen dieser Migrantinnen zunächst nicht erfolgte.9 Möglicherweise wurde das Bild der offensichtlich »Fremden« und »Anderen« Frau, das seine Verkörperung in der ethnisierten Figur der »Türkin« fand, konstruiert, um die Grenzmarkierung zwischen Okzident und Orient zu verdeutlichen.10 In dieser Undifferenziertheit und Ethnisierung spiegeln sich der damalige Zeitgeist und die Wahrnehmung von Migrantinnen wider: »Das Anderssein von Migrantinnen und Migranten wurde in dieser Zeit aus der Perspektive der Aufnahmegesellschaft durch das Ausländer-Sein definiert und allgemein als kultureller Abstand zwischen Eigenem und Fremden beschrieben, indem Eigenschaften und Verhaltensweisen der aus dem Ausland kommenden einer anderen Wirklichkeitsordnung zugewiesen wurden. Dieser Idee lag die Annahme zugrunde, dass sich die Welt der Anderen von der eigenen strukturell unterscheide und sich die Migranten von daher an Regeln
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Christine Huth-Hildebrandt (2002b: 98) weist darauf hin, dass die Differenzierung der Gastarbeiter in den 1960er und frühen 1970er Jahren entlang der Achse EG- und Nicht-EG-Herkunftsstaaten lief.
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Auch Elanore Kofman et al. verweisen auf die differenzierte Wahrnehmung von Migranten: »Americans in Germany may not be considered ›real‹ migrants, whereas Turks form a minority« (Kofman et al. 2000: 12).
10 Siehe Lutz (1989, 1991) zur »Orientalisierung der Migrantin«.
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und Relevanzstrukturen orientieren, welche die eigenen allenfalls am Rande berührten. Schon zu dieser Zeit entstand die Annahme eines ›Zusammenpralls zweier Kulturen‹ in den Individuen als Folge von Migration (Maturi 1961; Pavassiliou 1961; Andrionopoulos 1973), fest gemacht [sic] am Beispiel der ganz anderen Geschlechterverhältnisse in den Herkunftsländern der Immigranten.« (Huth-Hildebrandt 2002b: 98)
Somit kulminierte in der Figur der »Türkin« die ethnisierende und undifferenzierte Wahrnehmung und führte zu einem hartnäckigen und langlebigen Stereotyp der Migrantin in der Einwanderungsgesellschaft. Dieses Bild, dessen Entstehung bis zur ersten Stunde der bundesdeutschen Migrationsforschung zurückführbar ist, leitet zu einem ethnisierten, undifferenzierten öffentlichen Bild von der Migrantin, die einerseits die Wahrnehmung der inneren Differenziertheit der Figur der »Türkin« verhinderte und andererseits die Wahrnehmung anderer Migrantinnen erschwerte oder sogar verhinderte. Die Stilisierung der eingewanderten Frau als Symbol der Fremdheit – entweder als »defizitäre fremde Frau« oder als »Pionierin der Moderne« – wird in den wissenschaftlichen Publikationen seit den 1980er Jahren kritisch hinterfragt. Insbesondere wurden im Bereich der interkulturellen Frauen- und Geschlechterforschung sowie der Biographieforschung Studien vorgelegt, die das defizitäre Bild und die gängigen Klischees über Migrantinnen kritisieren und das Leben der ersten und zweiten Generation von Migrantinnen differenziert aus der Perspektive der Betroffen selbst betrachtet haben (Apitzsch 1990, Lutz 1991, Philipper 1997, Gutíerrez Rodríguez 1999a, Boos-Nünning/Karakasoglu 2005). Sie weisen auf die Strategien hin, mit denen Migrantinnen ihr Leben selbst deuten und das ethnisierende, vergeschlechtlichte, statische und defizitäre Bild von sich selbst in Bewegung bringen. Die biographische Perspektive auf Erfahrungen von Migrantinnen hat hierbei ein weitaus vielfältigeres Bild über ihre Lebenslagen geschaffen. Jedoch weist Huth-Hildebrandt (2002a: 17) auf die Hartnäckigkeit der stereotypen Wahrnehmungen hin. Sie kritisiert, dass das stereotype und negativ besetzte Bild von der Migrantin noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wenig aufgegriffen worden ist (Huth Hildebrandt 2002a: 19f.). Es fungiert weiterhin als Zeichen der Differenz. »Eine imaginierte Migrantin dient als Folie, vor der die Spezifik des Geschlechterverhältnisses sichtbar erscheint. Diese wird in der Folge als Stereotyp genutzt, um Fremdheitszuschreibungen zu konstruieren und festigen. Fremdes wurde von daher erst gesetzt, indem es zuvor als Anderes beschrieben wurde und dadurch eigentlich schon längst zum bekannten Anderen geworden ist. Einmal festgeschrieben, wird diese Figur im gesellschaftspoli-
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tischen Diskurs aus jeweils verschiedenen Perspektiven genutzt, um zu Migration Stellung zu nehmen.« (Huth-Hildebrandt 2002b: 107)
Dies lässt sich zum Beispiel an der in den letzten Jahren geführten Kopftuchdebatte nachzeichnen. Im Kontext der Diskussionen über die Parallelgesellschaft werden Kopftuch tragende muslimische Mädchen und Frauen häufig mit dem Frauenstereotyp der unterdrückten fremden Frau assoziiert. In diesem Bild spiegelt sich die Vorstellung wider, dass das Tragen eines Kopftuches eine erzwungene religiöse Inszenierung sei. Nicht zur Kenntnis genommen wird hierbei, dass dies auch auf eine selbstbewusste religiöse Entscheidung hinweisen kann. Vielmehr zeigt die Debatte, dass das negativ beladene stereotype Bild »als Synonym für das signifikante Andere des eingewanderten Bevölkerungsteils vielfältig genutzt wird, um Phantasien zu mobilisieren und um spekulativem Denken einen Raum zu geben« (Huth-Hildebrandt 2002b:109).11 Diese neuere Debatte verweist darauf, dass dem Bild der defizitären Migrantin bzw. des Opfers als Denkfigur der »Veranderung« (Othering) weiterhin eine zentrale Bedeutung in der Einwanderungsgesellschaft zukommt. An dieser Stelle möchte ich nochmals Fatima und Mine, die am Anfang dieses Kapitels vorgestellt wurden, in meine Überlegungen mit einbeziehen. Vor dem Hintergrund der gerade analysierten Diskussion kann nun festgestellt werden, dass sich in den verschiedenen Reaktionen von Fatima und Mine auf die Benennung »Migrantin« ein implizierter Bezug auf Konstruktionen des FremdSeins auf der Basis des negativen Stereotyps der »imaginierten Migrantin« finden lässt. Sie weisen auf unterschiedliche strategische Umgangsformen mit diesen Zuschreibungen hin. Fatimas Wut lässt sich als Widerstandsmoment, als Zurückweisung des ihr dadurch zugeschriebenen Unterdrückungsaspektes, das das Stereotyp der »Migrantin« impliziert, deuten. Mines Selbstzuschreibung als Migrantin dagegen fungiert als ein bewusster Versuch, eine eigene hierarchische Positionierung als Eingewanderte in einer Gesamtgesellschaft zu definieren und sie somit auch zu politisieren. Jedoch verdeutlichen Fatimas und Mines Umgang mit der Position »Migrantin«, dass eingewanderte Frauen unterschiedlich mit dieser Stereotypisierung und Bezeichnung umgehen. Als gesetzlich angerufene »Ausländerinnen« (Interpellation/Althusser) nehmen sie selbst aktiv Stellung zu den Bezeichnungspraktiken und Diskursen, in deren Schnittpunkten oder Ver-
11 Die Gefahr dieses Stereotyps liegt darin, dass es die ethnozentrischen Annahmen und Spekulationen über die eingewanderten Frauen und insbesondere über Frauen türkischer Herkunft in den Vordergrund rückt und die strukturellen Bedingungen sowie politische und rechtliche Ausgrenzungen von AusländerInnen vernachlässigt.
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knüpfungen sie als Migrantinnen konstruiert werden. Somit führt die Zuschreibung »Migrantin« nicht unbedingt zu einer Selbstzuschreibung, vielmehr weisen Fatimas und Mines Selbstbeschreibungen und Selbstpositionierungen darauf hin, wie Subjektivität in einer Kreuzung von Machtstrukturen, Diskursen und Handlungen entsteht. Nachdem ich den Begriff der »Migrantin« problematisiert habe, möchte ich im Folgenden einen Perspektivenwechsel vornehmen. Denn es scheint mir wichtig, nicht nur auf der Ebene der Stereotypen von Migrantinnen verhaftet zu bleiben, sondern auch den gesamtgesellschaftlichen Kontext in die Betrachtung mit einzubeziehen, um die Konstruktion des Bildes der »Migrantin« besser verstehen zu können. Ich werde auf eine Perspektive eingehen, die weitere Dimensionen der Debatten über das komplexe Gefüge von Ungleichheiten, rassifizierenden Diskursen und Privilegien unter den in der Bundesrepublik lebenden Frauen thematisiert.
2.2.
»F RAU IST NICHT GLEICH F RAU «: D IFFERENZEN UND H IERARCHIEN »Die gesellschaftlichen Positionen, die Frauen voneinander unterscheiden, sind auch darüber bestimmt, welcher Klasse sie zugehören, auf welchem Kontinent und in welchem Land sie leben und wo sie herkommen.« (in Anlehnung an Spivak, FeMigra 1994: 60)
Meine folgenden Überlegungen zur Thematisierung der Differenzierungen und Hierarchisierungen unter den in der Bundesrepublik lebenden Frauen erfolgen in Bezug auf die Debatten innerhalb des Feminismus, Rassismus, der Dominanzkultur und des Weißseins. Ich ziele hierbei nicht auf eine grundlegende Darstellung dieser Theorieansätze, sondern beabsichtige, den Blick auf das Verhältnis zwischen einheimischen und eingewanderten Frauen als ein Machtverhältnis, das an der Konstitution und Konstruktion vom Migrantinsein beteiligt ist, zu schärfen. Der oben geschilderte ethnisierende und pädagogisierende Blick auf eingewanderte Frauen als »Fremde« und »Andere« wurde in den 1980er Jahren stark kritisiert und trug zur Politisierung des Migrantinseins bei. Die Zuschreibung der Migrantinnen als Fremde wurde zunehmend in Frage gestellt und das Bedürfnis, sich zu Wort zu melden, als Notwendigkeit gesehen. Der im Jahr 1984 stattge-
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fundene erste gemeinsame Kongress ausländischer und deutscher Frauen in Frankfurt a.M. unter dem Motto »Sind wir uns denn so fremd?« kann als ein öffentlicher Versuch gesehen werden, in dem westdeutsche und eingewanderte Frauen sich annähern wollten. Eigentlicher Anlass für dieses Zusammenkommen waren die politischen Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen westdeutschen Frauen, Einwanderinnen12, Afro-Deutschen, jüdischen sowie im Exil lebenden Frauen in interkulturellen Frauenprojekten und bei verschiedenen Tagungen (vgl. Huth-Hildebrandt 1992, Gümen 1993). Migrantinnen, die als Opfer bezeichnet worden waren, wehrten sich gegen das stereotype Bild von sich und richten ihre Kritik gegen den Ethnozentrismus der westdeutschen Frauen, welche die Differenzen unter den Migrantinnen nicht wahrnahmen und nicht anerkannten.13 Diese Diskrepanz löste zum ersten Mal in der Geschichte der westdeutschen Frauenbewegung eine Diskussion über den Zusammenhang zwischen Sexismus und Rassismus aus.14 In diese Debatten flossen Äußerungen aus der Rassismusdebatte der USamerikanischen Frauenbewegung ein, in der durch die Schriften der Black Feminists eine Kontroverse ausgelöst wurde, in welcher die Universalkategorie und der feministische Kampfbegriff »die Frau« in die Kritik gerieten. Diese Begrifflichkeit wurde dahingehend angegriffen, dass die Kategorie »Frau« wohl eine Differenz in Bezug auf den Mann definierte, jedoch gleichzeitig die Differenzen unter Frauen in den Bereichen Ethnizität, Klasse, sexuelle Orientierung, Behinderung usw. verschleierte. Während in dem US-amerikanischen Kontext die Debatte zwischen den Weißen und Schwarzen Frauen verlief, begann dieser Diskurs in der damaligen BRD zunächst als eine Auseinandersetzung zwischen »einheimischen« und »ausländischen« Frauen. Dabei wurde auch die Kritik der Kategorie »Frau« aufgegriffen, wobei jedoch auf die Differenzen zwischen den in der BRD lebenden Frauen hingewiesen wurde. Aber nicht nur Migrantinnen, sondern auch andere in der BRD minorisierte Frauen begannen sich in den 1980er Jahren zu Wort zu melden. Schwarze deutsche Frauen traten das erste Mal mit dem Band »Farbe bekennen: Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte« an die Öffentlichkeit und wiesen auf eine jahrhundertelange Präsenz Schwarzer Frauen in Deutschland hin (Oguntoye/Opitz/Schultz 1986). Dabei
12 Dem bundesdeutschen Feminismus wurde ein fehlendes Interesse für die Situation der eingewanderten Frauen in Deutschland vorgeworfen (siehe zum Beispiel Kalpaka/Räthzel 1985, Apostolidou 1980, Camlikbeli 1984, Lutz 1988). 13 Außerdem beklagten sie ihre marginale Position in der interkulturellen Arbeit. 14 Siehe dazu zum Beispiel »Geteilter Feminismus« in »beiträge zur feministischen theorie und praxis« (1990).
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führten sie den Begriff »afro-deutsche Frauen« ein und erschütterten das stereotype und normative Bild des Deutschseins als Weißsein. Die Kritik der Migrantinnen sowie der Afro-Deutschen richtete sich auch gegen die deutsche Frauenund Geschlechterforschung. Es wurde kritisiert, dass in der feministischen Theoretisierung ausschließlich die Erfahrungen der Weißen deutschen Frauen herangezogen wurden, während Erfahrungen von eingewanderten oder in der Bundesrepublik Deutschland geborenen, nicht-deutschen Frauen nicht berücksichtigt wurden. Die Vernachlässigung der Erfahrungen von eingewanderten und anderen minorisierten Frauen führte dazu, dass rassistische, ethnische und klassenspezifische Ungleichheiten und Privilegien nicht thematisiert wurden. Dies hatte eine weitere Polarisierung von einheimischen und eingewanderten Frauen zur Folge. Zwar sind seit den 1980er Jahren antirassistische Diskurse sowie Stimmen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen öffentlich wahrnehmbar, d.h. es gibt einen kritischen Gegendiskurs über die Wahrnehmung von minorisierten Frauen und ihre Erfahrungen in der Gesamtgesellschaft. Jedoch bedauerte Encarnación Gutiérrez Rodríguez noch im Jahr 1999 in ihrem Artikel »Fallstricke des Feminismus« (1999c), dass diese kritischen Impulse kaum in die Theoriediskussionen der klassischen Frauen- und Geschlechterforschung eingegangen sind. Auch im Bereich der antirassistischen Debatten fanden Entwicklungen statt, die zur differenzierten Wahrnehmung der Migrantinnen beitrugen. Eine von diesen Entwicklungen war die Einführung des Begriffs des »Rassismus«. Während die Diskriminierung und Ausgrenzung von MigrantInnen mit dem Begriff der »Ausländerfeindlichkeit« thematisiert wurde, fand der Rassismusbegriff lediglich in der Antisemitismus- und Holocaustforschung Gebrauch. Das Aufgreifen des Begriffs »Rassismus« anstatt »Ausländerfeindlichkeit« erschien nötig, um die strukturelle Ebene der Diskriminierung sowie die Vielfältigkeit rassistischer Praktiken wie zum Beispiel die paternalistische »Ausländerfeindlichkeit« fassen zu können (Kalpaka/Räthzel 1985, 1994). Der neu besetzte Rassismusbegriff unterscheidet sich von dem alten dadurch, dass er in Anlehnung an den im englisch- und französischsprachigen Raum gängigen Rassismusbegriff angewandt wird. Dabei bezieht sich der Begriff »Rassismus« nicht auf eine Differenz, die als eine ontologische Wesenseinheit definiert wird, wie zum Beispiel im Nationalsozialismus, sondern er weist auf die strukturelle Gewalt hin, die aus der europäischen Geschichte und der Politik resultiert. Damit lässt sich Rassismus als ein strukturelles Phänomen kennzeichnen, d.h. als ein »für die gesamte Gesellschaft geschichtlich und kulturell tradiertes und sich reproduzierendes Machtverhältnis gegenüber denjenigen, die als die »Fremden« oder die »Anderen« konstruiert werden« (Hess/Linder 1997:75).
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Demzufolge lässt sich das Verhältnis zwischen Einheimischen und Eingewanderten, wenn sie als Fremde oder Andere konstruiert werden, als ein rassifizierendes Machtverhältnis bezeichnen. Ähnlich wie der Rassismusbegriff greift der Begriff der »Dominanzkultur« (Rommelspacher 1995) die Diskriminierung als ein strukturelles Problem auf. Mit der Einführung des Konzeptes der Dominanzkultur brachte Birgit Rommelspacher (1995) eine Perspektive in die Diskussion ein, die es ermöglicht, die Herrschafts- und Dominanzverhältnisse in der Einwanderungsgesellschaft zu thematisieren. Sie verweist auf die widersprüchlichen Positionen Weißer deutscher Frauen in den Herrschafts- und Privilegiensystem der Dominanzkultur. Demzufolge ist die Position von Weißen deutschen Frauen innerhalb der Dominanzkultur von einer Spannung zwischen Diskriminierung und Dominanz geprägt, da sie einerseits Opfer eines patriarchalen Systems und andererseits Profiteure von ethnisch geprägten sozialen Ungleichheiten sind. Obwohl diese Erkenntnis auf die gesellschaftlichen Macht- und Hierarchieverhältnisse verweist, lässt sie jedoch wenig Raum für mögliche Ambivalenzen zwischen und innerhalb unterschiedlicher Subjektpositionen, wie Ilse Lenz (1996: 208) kritisch anmerkt. Dennoch bot sich mit der These von der »Dominanzkultur« eine neue Möglichkeit, das Verhältnis und die Positionierungen zwischen den einheimischen und eingewanderten Frauen analytisch zu betrachten. Dabei wird nicht die Diskriminierung, sondern die Dominanz, die grundlegend für die Herstellung der »unsichtbaren« Normalität auf der Basis von Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Strukturen ist, ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Demzufolge sind Begegnungen von Weißen Deutschen mit den »Anderen« von Dominanzverhältnissen durchdrungen: »Das bedeutet, dass unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir vom Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung gefasst sind« (Rommelspacher 1995: 22). Eine Erweiterung der Diskussionen im Bereich Rassismus und Dominanzkultur findet sich im Kontext der Weißseinsforschung. In Anlehnung an die angloamerikanischen »Critical Whiteness Studies« wurde in den bundesrepublikanischen Debatten das Weißsein als ein analytisches Konzept eingeführt, um die rassifizierende Dominanzstruktur in Bezug auf die »strukturelle[] Privilegierung« (Frankenberg 1996) in den Gesellschaften untersuchen zu können. Nach dieser Perspektive ist das Weißsein genau wie Heteronormativität, Zweigeschlechtlichkeit und das Deutschsein an der Herstellung des Allgemeinen, Normativen und »Unsichtbaren« beteiligt und läuft häufig unhinterfragt in den wissenschaftlichen Theorien und Analysen mit. Eske Wollrad betont (2005: 21), dass Weißsein nicht etwas aus einem anderen gesellschaftlichen Kontext »Über-
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setztes« bezeichnet, sondern eine »genuin deutsche« Dominanzstruktur darstellt, deren Inhalte Grundbestandteile des deutschen Rassismus und deutscher Geschichte, deutscher Philosophie und Anthropologie, deutscher Kunst und Literatur sind. Somit richtet die Forschung des Weißseins in Deutschland ihr Augenmerk auf die Verknüpfung von hegemonialer Imagination des Deutschseins mit der Konstruktion des Weißseins. Demzufolge fordert sie Weiße Deutsche dazu auf, die eigenen Verstrickungen in den gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu reflektieren (Wollrad 2005: 12). Elke Wollrad weist darauf hin, dass in der deutschsprachigen Rassismus- und Migrationsforschung die dezidierte Markierung bestimmter Menschen als Weiß im Unterschied zu Schwarz selten Verwendung findet. Häufiger ist die Rede von den »Normaldeutschen« (Beck-Gernsheim 2004), Deutschen »ohne eigenen Migrationshintergrund« (Kühnel/Schmidt 2002) oder »rassistisch Dominanten« (Weiß 2001). Anders als der Begriff »Rasse« unterliegt Weißsein in hegemonialen Diskursen jedoch einem absoluten Tabu – als wäre es »obszön«, so Wollrad (2005: 20). Die »Unsichtbarkeit« der strukturellen Dominanz, die der Begriff des Weißseins unterstreicht, stellt somit eine weitere Herausforderung für die Untersuchung von Migrationsprozessen sowie Konstruktionen von Migrantinsein dar. Sie ermöglicht eine weitere Perspektive, unterschiedliche Ebenen gesellschaftlicher Differenzierung, Rassifizierung und Privilegierung, die an der Subjektkonstituierung beteiligt sind, in Betracht zu ziehen. Es kann hier nun festgehalten werden, dass die »Migrantin« als Fremde und Andere durch das Heranziehen von Perspektiven aus den Debatten entlang des Feminismus, des Rassismus, der Dominanzkultur und des Weißseins zunehmend in Frage gestellt wird. Jedoch können diese Perspektiven dafür kritisiert werden, dass sie die dichotomische Betrachtungsweise von Eingewanderten und Einheimischen weiter reproduzieren und somit Differenzierungen ausblenden. Diese Kritik ist sicherlich berechtigt, jedoch kann das hierarchische Verhältnis, das durch den gesetzlichen Status als Ausländerin oder Inländerin entsteht, nicht außer Acht gelassen werden, da dies verschiedene materielle sowie symbolische Auswirkungen für die Betroffenen hat. In Betracht der oben geführten Anmerkungen lassen sich die zuvor diskutierten Positionierungen von Fatima und Mine als Resultat verschiedener Verstrickungen in gesellschaftlichen Macht- und Hierarchieverhältnissen deuten. Das Bild von der Migrantin entsteht nicht nur in der Auseinandersetzung mit der Zuschreibung als fremde Frau, sondern auch durch die Reflexion der angenommenen Normalität des Deutschseins als Weißsein und als »strukturelle Privilegierung«. Somit stellt sich die Aufgabe, bei der Konstituierung und den Konstruktionen des Migrantinseins diese nicht nur als fremde Frau und Migrantin zu defi-
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nieren, sondern zu fragen, unter welchen Bedingungen und zu welchen Zwecken jemand zu einer fremden Frau und Migrantin gemacht wird oder sich selbst als solche darstellt. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden die rhetorische Frage stellen, inwieweit eingewanderte Frauen aus Finnland als fremde Frauen und Migrantinnen wahrgenommen werden. 2.2.1. Werden Finninnen als Migrantinnen wahrgenommen? Im Laufe meines Forschungsprozesses fragte mich jemand, ob Finninnen Migrantinnen sind. Einerseits irritierte mich diese Frage, da sie meinen Forschungsgegenstand in Frage stellte, andererseits forderte sie mich zur Reflexion und zum Nachdenken über das Migrantinsein auf. Wenn wir nun das oben de/konstruierte Bild der Migrantin als Fremde, Andere, Türkin usw. als Interpretationsfolie heranziehen, kann zunächst angenommen werden, dass aus Finnland eingewanderte Frauen auf den ersten Blick nicht unbedingt als Migrantinnen wahrgenommen werden. Möglicherweise werden finnische Migrantinnen, ähnlich wie es für die französischen Migrantinnen festgestellt wurde, als »unauffällig«, »problemlos« und »integrationsfähig« empfunden, um überhaupt zunächst als Migrantinnen und im weiteren Sinne als Untersuchungsgegenstand in der bundesdeutschen soziologischen Migrationsforschung wahrgenommen zu werden (vgl. Ricker 2000). Demzufolge genügt es nicht, eingewandert zu sein und eine Migrationsbiographie zu haben, um als Migrantin gesehen zu werden (vgl. Ferrante 2001: 41).15 Warum dies der Fall sein könnte, werde ich noch im Weiteren im Zusammenhang der biographieanalytischen Fallanalysen diskutieren (Kapitel 7 und 8). An der Stelle möchte ich jedoch einen weiteren Denkanstoß mit dem folgenden Zitat geben, das aus einer autobiographischen Novelle von Tarja Pedersen (2006) stammt. Sie ist eine Migrantin aus Finnland, die ihre Erfahrungen in der Bundesrepublik in autobiographischen Erzählungen verarbeitet hat. Das Zitat bezieht sich auf ihre ersten Arbeitserfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland. Tarja kehrt nach dem hier geschilderten »Praktikum«, das sie in den 1960er Jahren in einem Krankenhaus absolvierte, nicht, wie ursprünglich geplant, nach Finnland zurück, um dort zu studieren, sondern beginnt eine Ausbildung zur Krankenschwester und lebt seitdem in Deutschland. »Wir haben sofort andere junge Mädchen kennen gelernt, welche die gleiche Arbeit machen wie wir. Sie sind jedoch keine Praktikantinnen, sondern Gastarbeiterinnen. […] Outi
15 Roberta Ferrante (2001: 41) weist darauf hin, dass nur diejenige, die dem konstruierten Bild von der Migrantin entspricht, als Migrantin wahrgenommen wird.
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und ich werden wie Sprachpraktikantinnen und zukünftige Studentinnen, nicht wie Gastarbeiterinnen, behandelt. Die strikte Hierarchie, die im Krankenhaus herrscht, ist spürbar.« (Tarja Pedersen 2006: 32; Übersetzung Ruokonen-Engler)16
Das Zitat verdeutlicht die Hierarchisierung und unterschiedliche Wahrnehmung von »Fremdarbeiterinnen« in der damaligen BRD der 1960er Jahre. Obwohl Tarja und Outi die gleiche Arbeit machen wie die anderen »Fremdarbeiterinnen«, werden sie gemäß einer ethnisierten Statushierarchie innerhalb des Krankenhauses unterschiedlich wahrgenommen und entsprechend behandelt. Tarja und Outi sind »Praktikantinnen«, während die anderen jungen Mädchen »Gastarbeiterinnen« sind. Dabei scheinen die finnischen Praktikantinnen in Deutschland eine Art bessere »Gastarbeiterinnen« zu sein. Für die FinnInnen war es inoffiziell seit 1952 und offiziell seit 1964 möglich, ein Praktikum in Deutschland zu absolvieren (Tuomi-Nikula 1989: 45). Die Praktikumsstellen, die in der Tat normale Arbeitsstellen waren, wurden zum Beispiel von der Deutsch-Finnischen Gesellschaft (DFG) oder von der Carl Duisberg Gesellschaft vermittelt. Die Praktika waren von unterschiedlicher Dauer, zwischen 3 und 20 Monaten, und wurden für StudentInnen sowie Schul- und BerufsabsolventInnen angeboten. Es wurden hauptsächlich Stellen im Dienstleistungssektor (Hotels, Restaurants), in Krankenhäusern, im technischen Bereich, in Büros und Banken sowie in Familien als Au-pairs vermittelt (a.a.O: 46). Wie viele von diesen PraktikantInnen dann in Deutschland blieben und zur MigrantInnen wurden, ist nicht statistisch erfasst worden. Jedoch zeigt sich, dass die hohe Zahl von PraktikantInnen mit der steigenden Zahl der eingewanderten FinnInnen stark korreliert (Tuomi-Nikula 1989: 46). Obwohl nun Tarja und Outi die gleiche Arbeit wie ihre Kolleginnen, die Gastarbeiterinnen, im Krankenhaus erledigten, wurden sie durch ihren Status als Finninnen und Praktikantinnen höher angesehen als die anderen Mädchen, die als Gastarbeiterinnen definiert wurden. Zugleich verdeutlicht dieses Beispiel, wie an der Konstituierung und Konstruktion von Migrantinsein unterschiedliche Achsen von Differenzen und Hierarchien wirksam werden. In der vorliegenden biographieanalytischen Studie stellten die Differenzdimensionen von Geschlecht, Ethnizität sowie eine rassifizierende Einteilung unter den Migrantinnen zentrale Differenzachsen der Subjektkonstruktionen dar, die ich im folgenden Kapitel theoretisch näher betrachten werde.
16 Dieses Zitat entstammt der Novelle »Rikkaruohoa« (org. »Unkraut«) (2006) von Tarja Pedersen. Sie ist Mitglied eines deutsch-finnischen Schreibzirkels, der aus in der Bundesrepublik lebenden Migrantinnen aus Finnland besteht.
3. In Differenzen denken: Struktur, Konstruktion und Intersektionalität
Im vorherigen Kapitel stellte ich dar, wie sich am Beispiel des stereotypen Bildes von der Migrantin unterschiedliche ethnisierende und vergeschlechtlichte Fremd-zuschreibungen sowie Macht- und Hierarchieverhältnisse zwischen den Eingewanderten und den Einheimischen nachweisen lassen können. Diese Darstellung diente zunächst dazu, sowohl die Kategorie der »Frau« als auch die der »Migrantin« mindestens stückweise zu problematisieren und im Weiteren auf Differenzen unter den in der Bundesrepublik lebenden Frauen hinzuweisen. Da nun dabei die Kategorien von Geschlecht und Ethnizität eine zentrale Bedeutung erhielten und außerdem als zentrale Kategorien der biographischen Fallanalysen in der vorgelegten Studie fungieren, werde ich sie im Folgenden einer theoretischen Betrachtung unterziehen. Dabei erörtere ich sie im Kontext einiger feministischer Diskurse zu Differenzen und beziehe mich auf die konstruktiven Positionierungen innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung sowie der kritischen Migrationsforschung.
3.1.
H ERSTELLUNG VON D IFFERENZ ENTLANG VON G ESCHLECHT UND E THNIZITÄT
Die Thematisierung der Differenzen unter den in der Bundesrepublik lebenden Frauen führte zu mehr oder weniger erfolgreichen theoretischen Auseinandersetzungen mit den Kategorien Geschlecht und Ethnizität als Differenzlinien sowohl in der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung als auch in der »interkulturellen
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Frauenforschung« (Gutiérrez Rodríguez 1999a)1 bzw. feministischen Migrationsforschung. Einen zentralen Stellenwert für die Verknüpfung der Diskussionen in der Frauen- und Geschlechterforschung sowie in der feministischen Migrationsforschung haben die Artikel »Die sozialpolitische Konstruktion ›kultureller‹ Differenzen in der bundesdeutschen Frauen- und Migrationsforschung« (1996) sowie »Das Soziale des Geschlechts. Frauenforschung und die Kategorie ›Ethnizität‹« (1998) von Sedef Gümen. In der Folge der US-amerikanischen Debatten zu »race, class and gender« fordert Gümen hier eine Revision der hiesigen feministischen Theoriedebatten und weist darauf hin, dass Geschlecht und Ethnizität Unterscheidungskategorien sind, die der politischen Bestimmung von sozialen Ungleichheiten und strukturellen Machtverhältnissen in den jeweiligen Gesellschaften dienen. Obwohl Gümen so den Blick auf die zentralen Berührungspunkte von Geschlecht und Ethnizität eröffnete, wurde diesen Texten jedoch wenig Aufmerksamkeit zuteil. Hauptsächlich wurden die von ihnen ausgelösten Debatten zu Differenzen unter den in der BRD lebenden Frauen an der Peripherie oder an den Rändern sozialwissenschaftlicher Frauenforschung geführt (Wartenpfuhl 2000: 74). Kritisch merkt auch Ilse Lenz (1996: 213) an, dass sich die bundesdeutsche feministische Forschung von Beginn an mit der Frage beschäftigt hatte, wie Frauen zu Frauen geformt werden (de Beauvoir), während die Frage, wie Frauen zu Deutschen oder Türkinnen gemacht werden, nicht gestellt wurde. Auch Helma Lutz und Christine Huth-Hildebrandt konstatieren in ihrem Artikel zum Stellenwert des Geschlechts im Migrationsdiskurs kritisch: »Als Teil der weiblichen Bevölkerung dieses Landes wurde die Lebenssituation von Migrantinnen nicht in die Reflexionen über den Geschlechterdiskurs einbezogen, sondern Migrantinnen wurden als eine Sondergruppe analysiert, die im Nachdenken über das Geschlechterverhältnis wenn überhaupt dann nur additiv als das ›Andere‹ in den Blick genommen und im Duktus der Besonderlichung (Gümen 1998) hinzugefügt wurde« (1998: 159f.).
Das zentrale Anliegen dieser sozialwissenschaftlichen Debatten, die insbesondere in den 1990er Jahren in der Bundesrepublik geführt wurden, war die Kritik an der Universalkategorie der Frau. Während in den sozialwissenschaftlichen feministischen Debatten Geschlecht als »Geschlechterdifferenz« zu einer primären Kategorie der sozialen Schließung und zu einer Strukturkategorie avanciert war, stellte die aus dem Bereich der interkulturellen Frauenforschung und der femi-
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Ich beziehe mich hier auf Encarnación Gutiérrez Rodríguez (1999a: 29), welche den Begriff »interkulturelle Frauenforschung« auf die in der Soziologie und in den Erziehungswissenschaften erstellten Studien zu eingewanderten Frauen anwendet.
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nistischen Migrationsforschung kommende Kritik die Kategorie Geschlecht als primäre Unterdrückungsform aller Frauen in Frage. Diese Kritik, die sich insbesondere in den Arbeiten von Gümen (1996, 1998), Lenz (1995, 1996), Lutz (1991, 2001b, 2004) und Gutiérrez Rodríguez (1996, 1999a, 1999b) feststellen lässt, lässt sich auf den Gedanken zuspitzen, dass Differenzen nicht nur in Bezug auf Geschlecht gedacht und analysiert werden dürfen, sondern dass auch andere Differenzen und Macht- und Herrschaftsverhältnisse mit einbezogen werden müssen (siehe dazu auch Kapitel 2). Jedoch wird die Forderung der Betrachtung von weiteren Differenzen nicht in einem differenztheoretischen Sinn, der von einem essentialistischen Wesensunterschied ausgeht, proklamiert, sondern Differenzen werden vor allem in Anlehnung an die sozialkonstruktivistischen Perspektiven diskutiert, auf die ich hier kurz eingehen möchte. In Anlehnung an die ethnomethodologischen und sozialkonstruktivistischen Ansätze wird die Differenz in Bezug auf das Geschlecht nicht mehr als ein statischer und ahistorischer Unterschied zwischen den Geschlechtern, sondern als eine gesellschaftliche Konstruktion in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt (West/Zimmermann 1987, 1998, Gildemeister/Wetterer 1992). Demzufolge werden Differenzen wie Geschlecht nicht als individuelle askriptive Eigenschaften, sondern als sozial hergestellte und konstruierte Differenzen, Ungleichheiten und Zugehörigkeiten betrachtet. Somit avancierte die soziale Konstruktion von Geschlecht in der Geschlechterforschung zu einem Synonym für eine aus einer interaktionstheoretischen Soziologie entstammende »doing gender«-Perspektive (Gildemeister 2004: 132). West und Zimmerman zufolge: »Doing gender means creating differences between girls and boys and women and men, differences that are not natural, essential, or biological« (West/Zimmerman 1998: 178). Somit richtet sich der Blick der »doing gender«-Perspektive auf die Interaktion und sozialen Prozesse, in denen Geschlecht als soziale Unterscheidung hergestellt und reproduziert wird. Kritisiert wurde jedoch, dass die Betrachtung der Interaktionen ausblendet, dass Geschlecht über die Interaktionen hinausgeht, sowie biographische-, macht- und strukturtheoretische Zusammenhänge ausblendet (Fenstermaker/West 2001: 241). In ihrer Antwort auf diese Kritik betonen Sarah Fenstermaker und Candace West (2001: 241f.) jedoch, dass sich das Konzept des »doing gender« nicht nur auf die Interaktionen, sondern auf das Ineinandergreifen von situativem Handeln und sozialen Strukturen stütze.2 Somit fließen in die
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Vgl. Kapitel 5 zur Biographie, wo das Zusammenkommen von Handeln und Struktur aus einer biographietheoretischen Perspektive diskutiert wird.
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interaktiven Konstruktionen von Geschlecht auch die früheren Erfahrungen, Praktiken sowie normativen Erwartungen ein.3 In Bezug auf die bundesdeutsche Geschlechterforschung führt Regina Gildemeister (2000: 216) eine Trennung von Geschlecht als »Strukturkategorie« und Geschlecht als »soziale Konstruktion« ein. Als Strukturkategorie versteht sie Geschlecht im Kontext der Forschungen zu sozialer Ungleichheit, wo Geschlecht neben anderen Kategorien der sozialen Strukturierung wie Klasse/ Schicht, Ethnizität oder auch Alter untersucht wird. Dabei ist die zentrale Frage, wie das Geschlechterverhältnis zwischen Männern und Frauen gesellschaftlich organisiert und institutionalisiert ist: »Die Grenzziehung zwischen den Geschlechtern ist in dieser Argumentation der historisch ausgebildeten Dominanz des Produktionsbereichs gegenüber der privaten Reproduktion geschuldet« (Gildemeister 2000: 216). Im Unterschied zu Geschlecht als Strukturkategorie sieht Gildemeister die »soziale Konstruktion« des Geschlechts nicht im Zusammenhang von sozialstrukturellen Auswirkungen, sondern als einen Ansatz, der Aufschluss darüber geben soll, »wie es zu der binären, wechselseitig exklusiven Klassifikation von zwei Geschlechtern kommt« (a.a.O.: 217). Eine Verknüpfung dieser beiden Perspektiven, Geschlecht als Strukturkategorie und Geschlecht als soziale Konstruktion, unternimmt u.a. Birgit Wartenpfuhl (2000) in Anlehnung an Stefan Hirschauer und die ethnomethodologische Perspektive. Nach ihnen determinieren Sozialstrukturen nicht die interaktiven Handlungen, sondern sie »disponieren« Interaktionen zur Konstruktion von Geschlechtern und ihrer Differenzierung (a.a.O.: 100, vgl. auch Hirschauer 1994: 680). Somit besteht dabei eine Verknüpfung von Sozialstrukturen und Geschlechterkonstruktion, wobei die Konstruktion von Geschlecht zugleich strukturierender Faktor sozialer und Ungleichheit erzeugender Prozesse ist (Wartenpfuhl 2000: 100). Auch Iris BednarzBraun sieht in Anlehnung an den sozialkonstruktivistischen Ansatz von Evelyn Nagano Glenn (1999) das Geschlecht als ein konstitutives gesellschaftliches Ordnungsprinzip und als eine soziale Strukturkategorie an, die »wesentliche Lebensbereiche von Männern und Frauen nach geschlechterspezifischen Distinktionsmerkmalen regelt und sich auf die Genese konfligierender Interessen, Machtunterschiede, die Herausbildung von Hierarchien, unterschiedliche Privilegien und Teilhabechancen auswirkt« (Bednarz-Braun 2004: 41 in Anlehnung an Glenn 1999: 5).
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In ihren Überlegungen zum Bündnis von Handeln und Struktur knüpfen Fenstermaker und West an die Strukturierungsstheorie von Anthony Giddens (1984) an, die das Verhältnis von Handeln und Struktur als sich gegenseitig reproduzierende Praktiken betont (Bednarz-Braun 2004: 40f.).
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Auch im Bereich der interkulturellen Frauen- und Geschlechterforschung wird u.a. aus einer konstruktivistischen Perspektive argumentiert. Differenzen werden, wie Gümen (1996: 86) und Lenz (1996: 213) konstatieren, nicht als überhistorische und gesellschaftsübergreifende Gegebenheiten angesehen, sondern im Sinne von Definitions-, Zuschreibungs- und Differenzierungsprozessen, die ihre strukturierende Bedeutung durch konkrete Ein- und Ausschließungsprozesse in historisch spezifischen Kontexten erhalten. Damit lautet die Erkenntnisfrage nicht mehr, was die Differenzen sind, sondern, wie sie als solche hergestellt und bewertet werden und schließlich, welche strukturellen Auswirkungen sie hervorrufen. Lenz (1996: 213) betont sogar, dass nicht die Differenzen an sich zentral sind, sondern »die Hierarchien, die ihre Legitimation auf Unterschiede stützen«. Beispiele für solche Differenzkonstruktionen sind Rassismus und Sexismus. Dabei werden hierarchische gesellschaftliche Verhältnisse in Bezug auf eine konstruierte Differenz naturalisiert. Beide Begriffe, Rassismus und Sexismus, weisen Individuen bestimmte Orte in der Gesellschaft zu und legitimieren über die Definition des »Andersseins« oder der Differenzen den Ausschluss bestimmter Menschengruppen. Nach Lutz ist »die Zuweisung und soziale Platzanweisung […] ein Produkt von Herrschaftsverhältnissen und deren gesellschaftlicher Akzeptanz« (Lutz 1993: 143). Aus dieser Perspektive betrachtet werden Rasse und Geschlecht zu sozialen Konstruktionen, die auf einen gesellschaftlichen Prozess der Bedeutungskonstruktionen hinweisen (vgl. Lutz 1993: 142). Entsprechend gehören Subjekte nicht »von Natur aus« einer bestimmten »Rasse«, Ethnie oder einem sozialen Geschlecht an, sondern werden als Individuen und Gruppen nach diesen Bedeutungen konstruiert und positioniert. Diese Bedeutungen sind jedoch nicht unwiderruflich, sondern sie können sich unter bestimmten gesellschaftlichen Einflüssen verändern sowie in unterschiedlichen Kontexten andere Bedeutungen erlangen. Trotzdem sind sie nicht willkürlich und haben eine materielle Auswirkung, wie Andrea Maihofer in ihrer Studie »Geschlecht als Existenzweise« (1995) unterstreicht. Vielmehr ist das Geschlecht, so Maihofer (a.a.O.: 18), als eine historisch bestimmte Denk-, Gefühls- und Körperpraxis und somit als gesellschaftlich-kulturelle Existenzweise zu verstehen. In Bezug auf die Untersuchung von Konstruktionen von Differenzen in den Bereichen Geschlecht und Ethnizität stellt Lutz (2004: 476) jedoch ein Dilemma im Bereich der bundesdeutschen Migrations- und Geschlechterforschung fest. Während Debatten zur Konstruktion von »Ethnizität« primär im Bereich der Migrationsforschung geführt worden sind, wird in den Konstruktions- und »doing gender«-Debatten im Bereich der Geschlechterforschung bislang kaum auf die Theoretisierung von Migration und Migrantinnen eingegangen. Obwohl die Differenzierung der Kategorie von Geschlecht und der Geschlechterverhält-
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nisse von der Migrationsforschung ständig4 verwendet worden ist, stellen diese Betrachtungen jedoch nach Helma Lutz und Christine Huth-Hildebrandt (1998: 159) ein merkwürdiges Paradox dar. Denn wie schon vorher in Bezug auf das Bild von der Migrantin gezeigt wurde (Kapitel 2) ist die Beschreibung des Geschlechterverhältnisses für das Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und Migrantengemeinschaft geradezu unverzichtbar gewesen (a.a.O.). Dementsprechend konstatieren Lutz und Huth-Hildebrandt: »So wie es bis heute keine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Implikationen ethnischer Differenzen bzw. der Folgen von Ethnisierungsprozessen für die Organisation der Geschlechterverhältnisse in der deutschen Frauen/Genderforschung gibt, so marginal ist bislang die Debatte über das Geschlechterverhältnis in der Migrationsforschung geblieben« (Lutz/Huth-Hildebrandt 1998: 160).
Nur wenige Arbeiten in Deutschland beschäftigen sich mit der Ko-Konstruktion von Gender und Ethnizität und der Überschneidung von »doing gender« und »doing ethnicity« (vgl. Lutz 2001b, Hess/Lenz 2001, Lenz 1995). Jedoch kann in den letzten Jahren eine Wiederaufnahme und Weiterführung und -Entwicklung dieser theoretischen Debatten u. a. in den Beiträgen zu »Achsen der Differenz« (Knapp und Wetterer 2003) und zur Intersektionalität (Knapp 2005, Klinger/Knapp/Sauer 2007) in der sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung festgestellt werden. Auch im Bereich der biographischen Migrationsforschung lassen sich weitere Versuche feststellen, die diese Perspektiven aus verschiedenen theoretischen Ansätzen verknüpfen wollen (u.a. Gutiérrez Rodríguez 1999a, Apitzsch/Jansen 2003, Lehmann 2004). Obwohl nun die sozialkonstruktivistische Perspektive von einer »ursprünglichen« Vorstellung von Geschlecht und Ethnizität abkehrt und den Schwerpunkt auf die Herstellungsprozesse legt, bleibt noch die Frage, wie diese in diesem Zusammenhang zu definieren sind. Ohne hier nun ein breites Feld der Definitionen und Debatten zu eröffnen, möchte ich in Anlehnung an Ilse Lenz (1996: 214) die Konzeptionen von Ethnizität sowie Geschlecht und »Rasse« als eine symbolische Beschreibung und Einordnung und als soziale Positionierung von Personen und Gruppen im gesellschaftlichen Feld definieren. So kann zum Beispiel Ethnizität als eine Zuordnung zu einer »Wir-Gruppe« verstanden werden, die sich auf wirkliche oder angenommene gemeinsame Merkmale stützt und sich dabei auf die Idee einer wirklichen oder fiktiven gemeinsamen Abstammung bezieht. Da
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Hervorh. von Lutz und Huth-Hildebrandt.
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nun Lenz diese Begriffe relativ allgemein definiert, müssen sie im jeweiligen historischen sozialen und kulturellen Kontext betrachtet werden: »Erst die Kontextualisierung ermöglicht ein Verständnis der sehr unterschiedlichen damit verbundenen Verhältnisse, das mit einer historischen Sichtweise verbunden werden muss. Dabei gilt es, das jeweilige Verhältnis von historischer Kontinuität und Brüchen genau zu betrachten und Kontinuität nicht einfach vorauszusetzen« (Lenz 1996: 215).
Auch Sedef Gümen hebt den kontextualisierten Charakter der Ethnizität hervor. Dabei betont sie, dass Personen mit Ausländer- und Fremdenstatus in sozialen Verhältnissen als »ethnisch« Andere markiert werden« (Gümen 1999: 235). Diese Markierung findet sowohl auf der Ebene des Subjekts (Konstruktion von Identitätsstiftenden Zugehörigkeitsgefühlen) als auch auf der Ebene von Struktur (Herausbildung und Legitimierung von sozialer Ungleichheit) als ein Grenzziehungsprozess statt (a.a.O.). Während nun Ethnizität in der interkulturellen Frauen- und Geschlechterforschung sowie in der Migrationsforschung als eine Analysekategorie in Bezug auf die »Anderen«, d.h. die Eingewanderten, als das ethnisch Differente thematisiert worden ist, lässt sich im Diskurs des Postkolonialismus eine kategoriale Neubestimmung feststellen. In seinen Schriften richtet Stuart Hall (1994a) seinen Blick auf Ethnizität als soziale Positionierung. Er versteht Ethnizität nicht als ein Merkmal von Minderheiten, sondern bezeichnet sie als »Akt des Positionierens« (Hall 1994a: 9) aller Gesellschaftsmitglieder. Dieser »Akt des Positionierens« verweist daraufhin, wie jede/r gezwungen wird, sich zu situieren und damit für sich einen Standpunkt bzw. Ort zu bestimmen, von dem sie/er spricht. Linda Supik (2005) zeigt, dass Stuart Hall die Positionierung des Subjektes als identitätspolitische und kontextualisierte Handlung ansieht: »Das Subjekt wird einerseits durch die umgebenden Verhältnisse historisch, sozial und kulturell positioniert, und andererseits positioniert es sich selbst. Positionierung hat so also immer einen aktiven und einen passiven Aspekt« (Supik 2005: 13, Hervorh. i.O.). Mit dem »Akt des Positionierens« wird Ethnizität als soziale Positionierung neu bestimmt und als ein Merkmal sozialer Differenzierung gesehen. Helma Lutz greift diesen Ansatz auf und fordert, »dass die Frage danach, was Ethnizität ist, verändert werden muss in die Frage danach, wie Ethnizität hergestellt wird« (Lutz 2004: 481; Hervorh. i.O.). Demzufolge sind alle Menschen in einer bestimmten Art und Weise ethnisch markiert, aber diese Markierung ist nur als Resultat von »doing ethnicity« zu sehen (vgl. Lutz 2004: 481). Auch Sedef Gümen weist darauf hin, wie Ethnizität oft als eine »Naturkategorie« behandelt wird, da sie »unkritisch nur auf ›fremde Frauen‹ angewandt« wird (1996: 80). Dagegen
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verstehen und präsentieren sich die Mitglieder der dominanten Gruppen als nicht-ethnisch und somit als »Unmarkierte« (vgl. Hall 1994a, Yuval-Davis 1997, 1999). Um diese »Besonderlichung« (Gümen 1998) zu vermeiden, sollen alle Frauen in ihrer ethnischen Markierung in Betracht gezogen werden, wie Nira Yuval-Davis betont: »All women have culture and ethnicity not just minority women« (1999: 15). Meines Erachtens ermöglicht diese Perspektive, den Blick auf die Herstellung einer ethnisch hierarchischen Gesellschaftsordnung zu schärfen. Somit schließe ich mich Floya Anthias an, die darauf hingewiesen hat, dass »›das ganze Gewebe‹ sozialer Ordnung vergeschlechtlicht, ethnisiert und rassifiziert ist. Damit beinhalten soziale Differenzierungen ›verschiedene Modalitäten zur Klassifizierung der Bevölkerung, unterschiedliche Behandlungen auf der Basis von Etikettierungen oder Zuschreibungen von Fähigkeiten und Bedürfnissen sowie Mechanismen der Ausschließung, die auf dieser Basis operieren und Begriffe von Zugehörigkeit und Andersheit konstruieren‹ (Anthias 1998)« (Anthias 2003:24f.).
Zusammenfassend möchte ich hier festhalten, dass aus der konstruktivistischen Perspektive Differenzen in Bezug auf die Kategorien von Geschlecht und Ethnizität nicht als gegebene natürliche Unterschiede betrachtet werden, sondern als gesellschaftlich erzeugte und hergestellte Differenzen, die jedoch Strukturen und sozialen Ungleichheiten unterliegen. Somit beansprucht die konstruktivistische Perspektive eine Kritik der Naturalisierung der Differenzen und weist auf die Herstellungsprozesse dieser Differenzen hin. Eine Erweiterung der Perspektive auf die Differenzkonstruktionen stellt die Betrachtung der Intersektionalität von Differenzen dar, die ich nun im Folgenden kurz als eine für die vorliegende Arbeit hilfreiche Analyseperspektive skizzieren möchte.
3.2.
I NTERSEKTIONALITÄT
VON
D IFFERENZEN
Wie zuvor diskutiert, ermöglicht die Betrachtung verschiedener Achsen von Differenzen, das komplexe Gefüge der Herstellung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen aus verschieden Perspektiven zu untersuchen. Während die Thematisierung von Differenzen in Bezug auf Geschlecht und Ethnizität meistens getrennt oder additiv und somit als »Rechenaufgabe« (Lutz 2001b) erfolgt, eröffnet die Betrachtung der Verschränkungen von Differenzen eine weitere Perspektive auf die Herstellung und Konstruktionen von Differenzen, wie dies zum Beispiel Nira Yuval-Davis und Floya Anthias schon in den 1980er Jahren in ihrem Arti-
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kel »Contextualizing Feminism: Gender, Ethnic and Class Divisions« (1983) forderten. Die Betonung der Verschränkung von Differenzlinien wie Geschlecht, Klasse und »Rasse« lässt sich auch schon am Beispiel der Schrift »A Black Feminist Statement« (1979) des Combahee River Collective in den USA feststellen. Durch den Bezug auf die Differenzen als Dimensionen der Erfahrungsstrukturierung verweist das Combahee River Collective auf verschiedene und gleichzeitige Unterdrückungsverhältnisse und Ausschlussmechanismen, die die gesellschaftliche Position als Schwarze Frauen entlang des dreifachen Unterdrückungsverhältnisses von »race, class & gender« kennzeichnet. Sie zeigen, dass Frauen nicht zuerst als Frauen, dann als Schwarze und schließlich als Arbeiterinnen unterdrückt wurden, sondern diese Positionen in ihrem Alltag simultan auftauchten und miteinander verzahnt sind (Gutiérrez Rodríguez 1999a: 11). In den letzten Jahren dagegen wurde die Verschränkung von Differenzen und Ungleichheitsdimensionen in der feministischen Forschung im Rahmen der Intersektionalität diskutiert. Der Begriff von Intersektionalität wurde von der amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw (1989, 1993, 1994) eingeführt, um auf die Gleichzeitigkeit und die Wechselwirkung der unterschiedlichen Differenzen aufmerksam zu machen. Demzufolge sollen die jeweiligen Differenzen in ihren Verschränkungen betrachtet werden, womit »Menschen […] im Schnittpunkt oder auf der Kreuzung (intersection) dieser Kategorien positioniert sind […] und ihre Identitäten, ihre Loyalitäten und Präferenzen entwickeln (Crenshaw 1993)« (nach Lutz 2005: 231). Die Perspektive auf die Verschränkung von Differenzen deutet Helma Lutz (2004, 2005) einerseits als eine Subjekt- und Identitätstheorie und andererseits als ein Instrument, das der Analyse der sozialen Positionierung dient. Identitäten sind, so Lutz, »auf Kreuzungen und Differenzierungslinien lokalisiert; gleichzeitig werden soziale Positionierungen untersucht, die nicht eindimensional sondern das Produkt von simultanen, sich kreuzenden Mustern von Verhältnissen und Merkmalen sind« (Lutz 2004: 482). Demzufolge wird »Gender […] immer durch Klasse ergänzt; Ethnizität ist bereits ›gendered‹ und mit Klassenmerkmalen versehen« (Lutz 2004: 482). Außerdem ermöglicht die Betrachtung der Intersektionalität der Differenzen das Verhältnis von Struktur und Handeln zu untersuchen. Somit sieht Nora Räthzel (2004: 253) hier zum einen eine Möglichkeit, die Reduktion von gesellschaftlichen Positionen auf subjektive Identitäten zu vermeiden. Zum anderen wird hier eine Betrachtungsperspektive eröffnet, die es ermöglicht, gesellschaftliche Strukturen im Zusammenhang von aktiv reproduzierenden oder ihnen widerstehenden Individuen zu untersuchen. Jedoch ist die Intersektionalitätsperspektive nicht ohne Vorsicht anzuwenden. Schon die von Crenshaw angewandte Metapher von »Intersektionalität«
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d.h. »Kreuzung« ist mit einigen Problemen behaftet. Denn die Metapher von »Kreuzung« suggeriert, nach Katharina Walgenbach und Telse S. Grohs (2006), dass Differenzen in Bezug auf verschiedene Kategorien vor dem Zusammentreffen an der »Kreuzung« voneinander getrennt waren. Diese Vorstellung unterstreicht Kategorien als getrennte und distinkte Gegebenheiten, die sich kreuzen, überschneiden und sich durch den Einfluss von anderen Kategorien verändern. Stattdessen, argumentieren Walgenbach und Grohs (2006), müssen diese Kategorien in ihrer inneren Heterogenität betrachtet werden. Sie schlagen (a.a.O.) vor, anstatt von intersektionellen, von interdependenten Kategorien zu sprechen. Auch Helma Lutz und Kathy Davis (2005: 231) unterstreichen die Nützlichkeit der Intersektionalitätsanalyse nur, wenn dabei die verschiedenen kreuzenden Differenzkategorien nicht als statische und ontologisierende Differenzkategorien5, sondern als flüssige Handlungskategorien betrachtet werden. Somit kann eine Perspektive auf die Wirkungsmächtigkeit der gesellschaftlichen Differenzierungen und deren individuelle Bearbeitung eröffnet werden, ohne dass Individuen oder sozialen Akteuren Identitätskategorien zugeordnet werden, wie Nancy Fraser dies feststellt: »Vielmehr sind die Individuen so etwas wie Schnittpunkte, an denen sich die mannigfaltigen und zueinander quer liegenden Achsen der Benachteiligung kreuzen. In der Regel auf einigen Achsen benachteiligt und zugleich auf anderen bevorzugt, führen sie im modernen Regime ihre Kämpfe um Anerkennung« (Fraser 2003: 80).
Obwohl die Intersektionalitätsanalyse im Bereich der feministischen Forschung in letzter Zeit zu einem neuen »Modeansatz« avanciert ist, erscheint es mir jedoch, dass zwar das Zusammenwirken und die Verschränkung von Geschlecht und Ethnizität in den Subjektbildungs- und Vergesellschaftungsprozessen in der Migrations- und interkulturellen Frauenforschung aus unterschiedlichen theoretischen und empirischen Perspektiven diskutiert worden ist, jedoch nicht unbedingt unter dem Label der »Intersektionalität« (vgl. Apitzsch 1990, Lenz 1996,
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Floya Anthias (2003: 27) warnt davor, dass die Kategorien »race«, Ethnizität und Klasse homogenisierend wirken können, da dabei Individuen unter Typologien subsumiert und so behandelt werden, als ob sie alle gleich sind. Dies verhindert Sensibilität bezüglich Differenz, Kontroverse und Pluralität und bildet die Grundlage für Stereotypisierung und Vereinheitlichung. Kategorisierungen und Zuschreibungen entlang von Ethnizität und Nationalität wie »Griechen«, »Türken«, »Deutsche« etc. sind gängige Beispiele für diese Praxis. Obwohl alle Individuen durch diese Kategorisierungen positioniert werden, variieren die Zuschreibungen sowie der Umgang mit ihnen.
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Herwarz-Emden 1997, Gümen 1998, Gutiérrez Rodríguez 1999a, Lutz 2001b, 2004, Lutz/Davis 2005). Auch Floya Anthias (1998) entwickelt in ihrem Artikel »Rethinking Social Divisions: Some Notes Towards a Theoretical Framework« einen Ansatz, wonach die Wirksamkeit der Kreuzungen von Differenzlinien auf vier unterschiedlichen Ebenen untersucht werden kann, ohne dass sie den Terminus einer Intersektionalitätsanalyse anwendet.6 Jedoch zeichnet sich gerade in Bezug auf die »Intersektionalitätsanalyse« eine theoretische Annäherung von feministischer Migrationsforschung mit der deutschen klassischen Frauen- und Geschlechterforschung sowie der Sozialisationsforschung ab, was auf eine neue Theorieentwicklung in diesem Forschungsbereich hinweist. Während GudrunAxeli Knapp (2005) noch fragt, ob »intersectionality« ein neues Paradigma einer feministischen Theoriebildung sei, sieht Ulrike Maihofer dies schon als eine erforderliche Erweiterung der Untersuchung von vergeschlechtlichten Identitäten. »Die Herausbildung der jeweiligen geschlechtlichen ›Identität‹ [kann] nicht mehr unabhängig von anderen Aspekten untersucht werden […]. Künftig muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass diese Entwicklung ›ethnisch‹, ›klassenspezifisch‹ und je nach ›sexueller Orientierung‹ unterschiedlich verläuft und dies jeweils individuell differenziert analysiert und rekonstruiert werden muss. Dabei wird eine zentrale Frage sein, wie das Verhältnis im Einzelnen genau gedacht werden muss. Jedenfalls reicht es, wie bereits Spelman betont, nicht aus, es additiv zu fassen (ebd., 114ff.) – wohl eher als Verschränkung, Kombination oder Verwobenheit (siehe auch Hooks 1990, Meulenbelt 1993, Rommelspacher 1995). Außerdem wird die Reihenfolge oder Hierarchie der Spezifizierung nicht prinzipiell zu bestimmen sein. Je nach Kontext sind die jeweiligen Aspekte unterschiedlich wichtig: in manchen Fällen ist möglicherweise die ethnische Zugehörigkeit entscheidender als die Frage des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung, in anderen Fällen ist es vielleicht gerade umgekehrt und in wieder anderen lassen sich die Aspekte unter Umständen gar nicht voneinander trennen. Allemal ist ein konkretes Individuum stets eine je spezifische, ganz einzigartige und unverwechselbare Kombination.« (Maihofer 2002: 24)
Aus diesen Überlegungen stellt sich im Weiteren die Frage, wie das Zusammenwirken und die Verschränkung von Differenzen empirisch zu untersuchen sind. Wie bereits am Beispiel des Combahee River Collective angedeutet wurde, ist die Konstruktion von Erfahrungsaufschichtungen ein möglicher Weg, sich dieser Perspektive anzunähern. Auch Helma Lutz und Kathy Davis (2005) ana-
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Floya Anthias (1998) unterscheidet in diesem Zusammenhang folgende vier Ebenen: 1) Ebene der (Diskriminierungs-)Erfahrung; 2) Akteurebene (intersubjektive Praxis); 3) die institutionelle Ebene und 4) die Ebene der Repräsentation.
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lysieren einen Erfahrungsbericht in Form eines biographischen Interviews und verwenden dabei die Intersektionalitätsperspektive, um Identitätskonstruktionen untersuchen zu können. Lutz und Davis nehmen dabei eine Doppelperspektive ein, um dadurch die verschiedenen Ebenen der Erzählenden und der Analysierenden in Betracht ziehen zu können. In Bezug auf ihre Biographieanalyse stellen sie die Frage: »warum eine bestimmte Kategorie – Gender, ›Rasse‹/Ethnizität, Klasse etc. – evoziert wird, wenn eine andere aus dem Blick ›unserer‹ Außenperspektive so viel näher gelegen hätte« (Lutz & Davis 2005: 241). Um diese Frage beantworten zu können, betrachten Lutz und Davis in ihrer Analyse unterschiedliche Ebenen der Bedeutungskonstruktion: interaktionelle, intersektionelle sowie die Ebene der Machtverhältnisse. Dabei stellen sie fest, wie in der biographischen Identitätskonstruktion verschiedene Identitätsaspekte im Prozess biographischer Arbeit miteinander interagieren und wie die Machtverhältnisse in diese Selbstpräsentation eingebettet sind (a.a.O.: 234).7 In ihrem späteren Artikel »›Die 24-Stunden-Polin‹ – Eine intersektionelle Analyse transnationaler Dienstleistungen« (2007b) greift Helma Lutz die von Floya Anthias (1998) vorgeschlagene Vier-Ebenen-Untersuchung von Kreuzungen von Differenzlinien auf und verwendet diese zur Weiterentwicklung der Intersektionalitätsanalyse. An dieser Stelle möchte ich nun festhalten, dass die Intersektionalitätsperspektive eine Erweiterung der Überlegungen zu Differenzkonstruktionen anbietet und einen Zugang zur Analyse der komplexen Verschränkung von Machtund Herrschaftsverhältnissen eröffnet. Nachdem ich nun Differenzen im Kontext von Strukturen, Konstruktionen und Intersektionalitäten diskutiert habe, gehe ich im Folgenden auf Differenzen im Kontext der kulturellen Identität ein.
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Für weitere Anwendungsmöglichkeiten der Intersektionalitätsanalyse siehe zum Beispiel European Journal of Women’s Studies, Jg. 13, Heft 3, 2006.
4. Differenzen anders denken
Bisher habe ich skizziert, wie die konstruktivistische Perspektive den Blick auf die Herstellung von Differenzen richtet und dadurch ermöglicht, die Prozessualität, aber auch den Zusammenhang von Struktur und Handeln, in Betracht zu ziehen. Dabei stellte ich fest, dass Differenzen zum Beispiel bezüglich Geschlecht und Ethnizität nicht im additiven Sinn, als eine bloße »Rechenaufgabe« (Lutz 2001b), von soziostrukturellen Bedingungen zu denken und zu analysieren sind, sondern in ihren Verschränkungen, Intersektionalitäten bzw. Interdependenzen im Kontext von verschiedenen Macht- und Hierarchieverhältnissen. Im Folgenden eröffne ich eine weitere Perspektive auf Differenzen durch eine Diskussion der Bedeutungsverschiebung des Differenzbegriffs selbst im Zusammenhang von Dezentrierung kultureller Identitäten und Subjektformationen. Daher erörtere ich einige Diskussionsstränge in den Debatten zur Postkolonialität und Transnationalität, in denen sich eine Verschiebung und Vermischungen von Differenzen und kulturellen Identitäten am Beispiel der Konzeption von Hybridität nachzeichnen lässt.
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4.1.
V ON
DEN D ICHOTOMIEN ZU IHREN V ERSCHIEBUNGEN »Postmoderne Theorien haben Prozesse der Globalisierung und Dezentrierung als Anzeichen eines neuen Zeitalters oder zumindest als Boten einer anderen Moderne gedeutet, in der die bisherige herrschende Bedeutung durch Transkulturalität, Grenzöffnung und globale Differenz fragmentiert werden könnte.« (Ha 1999: 171)
Das dichotome Verhältnis von Eigenem und Fremden, Identität und Alterität, ist traditionell ein zentraler Bestandteil der kulturwissenschaftlichen sowie der gesellschaftswissenschaftlichen Theoretisierungen gewesen. Kulturanthropologie kann sogar als eine Spezialwissenschaft angesehen werden, die die Thematisierung des Fremden außerhalb der eigenen Gesellschaft zu ihrem Gegenstand gemacht hat. Auch in der Soziologie ist der Fremde als ein sozialer Typus innerhalb der Gesellschaft diskutiert worden (u.a. Simmel 1908, Park 1928, Schütz 1944). Diese Annäherungen haben jedoch gemeinsam, dass sie alle aus einem »mononationalen, monokulturellen Blick« (Beck-Gernsheim 2004: 16) ihren Gegenstand betrachten und aus dieser Perspektive heraus argumentieren. Diese Perspektive führt zwangsläufig zu einer Dichotomisierung und zu Konstruktionen von Dualitäten, wie zum Beispiel das Eigene und das Fremde sowie das Begriffspaar Identität und Alterität. Für die Konstitution und das Selbstverständnis der westlichen Zivilisation sind solche dichotomen Konstruktionen von zentraler Bedeutung gewesen. Dies belegt zum Beispiel Edward Said (1979) in seiner Untersuchung des Orientalismusdiskurses, in der er die Nutzbarkeit der binären Gegenüberstellung von Orient und Okzident für die Konstruktion der westlichen Welt analysiert hat. Die dekonstruktive Perspektive stellt solche binäre Logik und dichotome Differenzen, die die westliche metaphysische Denktradition bezeichnen, ins Zentrum ihrer Kritik. Dabei werden dichotome Kategorien in Hinblick auf ihre »gewaltsamen Hierarchien« (Derrida 1988: 88) innerhalb eines Sprachsystems aufgezeigt und die zugrunde liegenden Strukturen aufgespürt.1 Das Aufspüren
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Jacques Derrida argumentiert hierzu: »When I made use of this word, I had the sense of translating two words from Heidegger at a point where I needed them in context. These two words are Destruktion, which Heidegger uses, explaining that Destruktion is not a destruction but precisely a destructuring that dismantles the structural layers in
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der »gewaltsamen Hierarchie« macht deutlich, wie in dichotomen, binären Kategorien immer ein Pol im dominanten Machtverhältnis zu seinem Gegenüber steht. Jacques Derrida weist mit dem von ihm geführten Neologismus der »différance« darauf hin, wie die Gegensätze als Relation bestimmt werden, in dem das Eine immer auf das Andere, das Verdrängte, verweist (Stötzer 2004: 119). Somit verweist der Begriff der »différance« auf die Gleichzeitigkeit von Anwesenden und Abwesenden und demzufolge stellt jeder Begriff eines Gegensatzpaares eine konstitutive Bedingung für den anderen dar. Da es jedoch keinen »natürlichen« Zusammenhang zwischen Zeichen und Sache gibt, müssen sie auf ihre Geschichte und Kontextualität hin untersucht werden (Gutiérrez Rodríguez 1999a: 54f.). Für die Untersuchung konkreter gesellschaftlicher Machtverhältnisse bietet eine dekonstruktive Perspektive eine Strategie, essentialisierende Formulierungen von Differenzen und binären Begrifflichkeiten auf ihre Strukturen, Entstehungszusammenhänge und Beziehungen zu befragen und mit der Analyse sozialer Ungleichheiten zu verbinden (Knapp 1998: 19, Stötzer 2004: 117). Somit können aus einer dekonstruktivistischen Perspektive zum Beispiel »die Kategorien Geschlecht, Kultur und ›Rasse‹ als ›Zeichen‹ verstanden werden, die innerhalb des modernen patriarchalen Nationalstaates und darüber hinaus zur Bezeichnung von ›Differenzen‹ zwischen Menschen dienen und einen scheinbar natürlichen Charakter nehmen« (Stötzer 2004: 119f.).
Auf die Subjekte bezogen stellt der dekonstruktive Ansatz die Frage danach, wie Subjekte in hegemonialen Machtverhältnissen durch Ein- und Ausschlussverfahren konstruiert und konstituiert werden (Wartenpfuhl 1996: 193). Da nun dabei die Subjekte als dezentrierte verstanden werden, kann die Dekonstruktion als eine kritische Relektüre gesellschaftlicher Phänomene verstanden werden, wobei die Frage der Subjektlogik zentral wird, wie Gayatri Chakravorty Spivak dies ausgedrückt hat: »What sort of coding has produced this subject?« (Spivak 1990d: 19, zitiert nach Gutiérrez Rodríguez 1999a: 56). Als Folge der Auseinandersetzung mit der Kritik der Dichotomien und dem Verständnis von Differenz nicht nur zwischen den Identitäten, sondern als Differenz in Identität, also innerhalb eines dezentrierten Subjekts2, sind im Bereich
the system, and so on. The other word is Abbau, which has a similar meaning: to take apart an edifice in order to see how it is constituted or deconstituted.« (Derrida 1988: 86) 2
Nach Stuart Hall (1994a, 1999a: 84f.) erfährt das cartesianische Subjekt, also die aufklärerische Vorstellung vom Mensch als Zentrum seiner Existenz, seine Dezentrie-
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der Kultur- und Sozialwissenschaften im Zuge des Postmodernismus, -strukturalismus und -kolonialismus eine ganze Reihe neuer theoretischer Konzepte und Denkfiguren entwickelt worden. Diese versuchen die dichotome, zwanghafte Identitätslogik zugunsten vielfältiger Identifikationsräume und -positionen zu vermeiden. Dabei werden die traditionellen und statischen mit dem nationalstaatlichen Raum gebundenen Vorstellungen von autochthoner Kultur als Entität, respektive kultureller Identität, verabschiedet und die Entortung von Kulturen sowie translokale und -nationale Austauschprozesse, Vernetzungen und Verschiebungen von Differenzen und die Hybridbildung in den Mittelpunkt gerückt. In den soziologischen Debatten sind die gesellschaftliche Differenzierung, Pluralisierung, »Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen« (Giddens 1995: 85), »Eröffnung des Welthorizonts« (Beck 1997: 48), aber auch die Individualisierung (Beck/Beck-Gernsheim 1990) als zentrale gesellschaftliche Prozesse gezeichnet worden, die die traditionellen Formen der Vergesellschaftung zunehmend in Frage stellen. Dabei werden Subjekte als dezentriert und als »Baumeister seines eigenen Selbst« (Eickelpasch/Rademacher 2004: 7) angesehen. In diesem Zusammenhang stellen auch die durch Migration und kulturelle Globalisierung entstandenen kulturellen Hybridisierungen sowie die »Globalisierung der Sozialbeziehungen« (Eickelspasch/Rademacher 2004: 8) neue Herausforderungen für das soziologische Verständnis und die Konzeption des Kulturellen und des Sozialen als grenzüberschreitende Phänomene dar. Lars AllolioNäcke, Britta Kalscheuer und Arne Manzeschke (2005: 9) sehen diese Situation als eine historisch signifikante Verschiebung im Verständnis von Kulturen und Identitäten. Während viele postmoderne Identitätsmodelle die postmoderne Beliebigkeit3 in den Vordergrund stellen und den strukturellen Bedingungen wenig Beachtung schenken, betont zum Beispiel Ilse Lenz (1996) die Wichtigkeit, Macht und Herrschaftsverhältnisse in der Untersuchung von Identitätskonstruktionen heranzuziehen. So schlägt sie vor, dass Identitäten im Zusammenhang von Geschlecht und Ethnizität bezüglich ihrer Konfigurationen in gesellschaftlichen Arbeitsteilungen und Herrschaftsverhältnissen zu untersuchen sind. Für die Entwicklung der persönlichen Identitäten bedeutet das, dass sich auch diese in Auseinander-
rung mit Marx ތhistorischem Materialismus, Freuds Entdeckung des Unbewussten, de Saussures Sprachwissenschaft, mit Foucaults Disziplinarmacht und mit Feminismus. Weitere Differenzierung und Dezentrierung findet sich zum Beispiel im Rahmen der postkolonialen Kritik zur Vorstellung des Subjekts als westlich und weiß. 3
Siehe insbesondere die postmodernen Zeitdiagnosen von Zygmund Bauman (1995, 1997).
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setzung mit Geschlecht, Ethnizität sowie mit anderen sozialen Faktoren entwickeln (vgl. Knapp 1987, Lenz 1996: 219). Aus einer konstruktivistischen Perspektive sieht Lenz persönliche Identitäten als offen und flexibel an, die sich in lebenslangen Lernprozessen verändern. Dabei beeinflussen die sozialstrukturellen Faktoren das individuelle Handeln, dies ist jedoch nicht nur davon abzuleiten. Diesbezüglich stellt Lenz in ihren theoretischen Überlegungen eine Hypothese dar, dass »Subjekte ›konfigurative Handlungsstrategien‹ verfolgen, d.h. dass sie einzelne Elemente der Geschlechtsrollen, ihres ethnischen Hintergrunds usw. auswählen, kombinieren oder aber herunterspielen und vermeiden. Besonders wichtig sind die Brechungen, die sich potentiell zwischen den verschiedenen Bezügen bei diesem ›konfigurativen Handeln‹ ergeben können. Ein besonders interessanter Fall ist, wenn sich in diesem konfigurativen Handeln neue kulturelle Mischformen und Synthesen bilden« (Lenz 1996: 219).
Die Betrachtung von diesen von Lenz genannten Mischformen und Synthesen eröffnet eine weitere Perspektive auf die Differenzen und kulturellen Identitäten. In seinem Artikel »Globale/lokale melange: Globalisierung und Kultur – Drei Paradigmen« unterscheidet Jan Nederveen Pieterse (1999) drei verschiedene vorherrschende paradigmatische Betrachtungsweisen kultureller Differenz. In diesem Zusammenhang spricht er (a.a.O.: 167) von dem »kulturellen Differentialismus« im Sinne der anhaltenden Differenz, von der »kulturellen Konvergenz« im Sinne der zunehmenden Angleichung und von der »kulturellen Hybridisierung« im Sinne einer fortwährenden Durchmischung. Jede von diesen unterschiedlichen paradigmatischen Positionen impliziert unterschiedliche Subjektivitäten und Standpunkte. Der »kulturelle Differentialismus« unterstellt im Sinne von Samuel Huntingtons »Kampf der Kulturen« (1996) eine Verschiedenheit von Kulturen, die zu Rivalitäten und Konflikten führt. Die »Kulturelle Konvergenz« dagegen betont, dass die globale Interdependenz und Vernetzung zu einer kulturellen Normierung, Angleichung und Homogenisierung im Sinne der »McDonaldisierung« führt. Unter der »kulturellen Hybridisierung« wird dann die postmoderne Auffassung von Kultur als »traveling culture« (Clifford 1992) gefasst. Dabei unterstreicht Nederveen Pieterse die dekonstruktive Kraft der Hybridisierung. »Sie untergräbt den Nationalismus, weil sie die Grenzüberschreitungen privilegiert. Sie untergräbt die Identitätspolitik, sei es in Bezug auf ethnische Zugehörigkeit oder auf andere Reinheits- und Authentizitätsansprüche, weil sie von der Unklarheit der Trennung ausgeht und sich über Grenzen hinwegsetzt. Steht die Moderne für ein Ethos der Ordnung, für
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klare Trennung durch feste Grenzen, so spiegelt die Hybridisierung einen postmodernen Sinn für das cutҲnҲmix, für Überschreitung und Subversion wider. Sie stellt, in Foucaultschen Begriffen, eine Wiederkehr unterdrückten Wissens dar, denn sie rückt diejenigen Effekte in den Vordergrund, die von den modernen, sei es rationalistischen oder romantischen Kosmologien nicht toleriert werden.« (Nederveen Pieterse 1999: 177, Hervorh. i.O.)
Während diese Art von kultureller Hybridisierung in den soziologischen Beschreibungen der Postmoderne durch die Vielfalt und Differenzierung der Identitäten und Kulturen gekennzeichnet ist, stellen diese den Ausgangspunkt in den postkolonialen Debatten dar, welche Differenzen, kulturelle Mischung und Zwischenräume der Identitäten thematisieren (vgl. Hall 1994a). Einen der zentralsten Begriffe in diesen Debatten stellt die Hybridität dar. Sie ist ein vielfältiges und viel benutztes Konzept, das Differenz(en) und Grenzen problematisiert und diese verflüssigt, was wiederum die Thematisierung der kulturellen Mischungen ermöglicht. »Überall entstehen kulturelle Identitäten, die nicht fixiert sind, sondern im Übergang zwischen verschiedenen Positionen schweben, die zur gleichen Zeit auf verschiedene kulturelle Traditionen zurückgreifen und die das Resultat komplizierter Kreuzungen und kultureller Verbindungen sind, die in wachsendem Maße in einer globalisierten Welt üblich werden […] Menschen, die zu solchen Kulturen der Hybridität gehören, mussten den Traum oder die Ambition aufgeben, irgendeine ›verlorene‹ kulturelle Reinheit, einen ethnischen Absolutismus, wiederentdecken zu können […]. Sie sind die Produkte der neuen Diaspora, die durch die postkoloniale Migration geschaffen wurde. Sie mussten lernen, mindestens zwei Identitäten anzunehmen, zwei kulturelle Sprachen zu sprechen, um zwischen ihnen zu übersetzen und zu vermitteln. Die in der Ära der Spätmoderne geschaffenen hybriden Kulturen sind eindeutig neue Typen der Identität und es lassen sich mehr und mehr Beispiele für sie finden.« (Hall 1994c: 218)
Stuart Hall (a.a.O.) zufolge sind kulturelle Identitäten hybride, »unreine« und synthetisierte Formen, die typisch für eine postkoloniale Lage sind. Obwohl der Begriff der kulturellen Hybridität häufig auch mit der postmodernen Fragmentierung und spielerischen Beliebigkeit zusammengebracht wird, weist Hall (Hall/Höller 1999: 106) kritisch darauf hin, dass hybride Identitäten nicht auf freier Wahl oder auf Kombinationsmöglichkeiten beruhen, sondern dass sie immer strukturell bedingt sind. Für Homi Bhabha (1994) bezeichnet Hybridität sogar den »dritten Raum« (third space). Damit bezeichnet er die Verortung der hybriden Kultur als einen Raum, der eine neue Entfaltung von Identitäten ermöglicht. Diese Konzeption ermöglicht es, in den Blick zu nehmen, wie sich
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zum Beispiel für MigrantInnen die Grenzen zwischen Heimat und Fremde auflösen und wie sie sich in einem Raum des Dazwischen und der Übersetzungen verorten. Dabei bietet das Leben im »Raum des Dazwischen« den Marginalisierten einen »privilegierten« Blick, da es die »einzigartig beidseitige Perspektive nach innen und außen« (Ha 1999: 117) ermöglicht. Im Bereich der bundesdeutschen soziologischen Migrationsforschung sind außer der Anwendung des Hybriditätskonzepts ähnliche Konzeptionen mit Interkulturalitätsperspektive kreiert worden. Konzeptionen wie »interkulturelle Zwischenwelten« (Gemende 2002) und »dritter Stuhl« (Badawia 2002) fassen die »zwischenweltliche« Erfahrung von MigrantInnen positiv und verabschieden sich von den Vorstellungen von MigrantInnen als zwischen den Kulturen Zerrissenen. Obwohl der Begriff der Interkulturalität die Kultur als Resultat menschlicher Beziehungen und Praktiken sieht, impliziert er trotzdem die Konzeption »zwischen den Kulturen«, wie Encarnación Gutiérrez Rodríguez (1999a, 2003: 91) kritisch anmerkt. Das Konzept der Transkulturalität dagegen, argumentiert Gutiérrez Rodríguez (a.a.O.), weist auf etwas Neues, das sich jenseits der Konzeptionen von dichotomen kulturellen Einheiten bewegt, hin. Somit kommt die Konzeption von Transkulturalität auch näher an den Begriff der Hybridität heran als die der Interkulturalität. Die Aneignung des Hybriditätsbegriffs als allumfassende Konzeption von postmoderner Identitätsdiffusion in den bundesdeutschen Debatten hat u.a. Kien Nghi Ha (2005) kritisiert. Er sieht darin die Gefahr, dass Macht, Marginalisierung und Dominanz nicht mehr berücksichtigt werden, sondern daraus eine Art von Diffusion erfolgt. »Merkwürdig ausgeblendet bleibt bei dieser Euphorie die Frage, wer überhaupt die Möglichkeit für anerkannte Identitätsinszenierungen hat, und welche Bedeutungen und Kontexte sie für die jeweiligen Akteure haben. Während Identitätsspiele für Mitglieder der Dominanzgesellschaft eher den Charakter lustgewinnender Experimente annehmen, werden sie von Marginalisierten erheblich ambivalenter und riskanter erlebt. Hybridisierung kann wie jede kulturelle Identitätsentwicklung auch eine schmerzliche Erfahrung sein, die aus der Notwendigkeit entstanden ist, in deklassierten Gesellschaftspositionen zu überleben und Strategien im Umgang mit Ausgrenzungen zu entwickeln. Ob hybride Identitäten eher in ihren zwanghaften und/oder befreienden Momenten erlebt werden, hängt wesentlich von der Subjektposition in den Gesellschaftsstrukturen ab, deren Zugänge und Ausschließungen durch die Überschneidungen von Gender, Ethnizität und Klasse permanent neu konstituiert werden (Bromley 2000, 194-197).« (Ha 2005: 96f., Hervorh. i.O.)
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Ha will hier die subversive Bedeutung der Hybridität für die Marginalisierten in den Gesellschaften unterstreichen und wendet sich damit von einer allumfassenden Konzeption von Hybridität ab. Jonathan Friedman (1997: 79) dagegen fragt skeptisch, für wen Hybridisierung und kulturelle Grenzüberschreitungen tatsächlich eine Realität darstellen, da in den postkolonialen Arbeiten meistens von Künstlern, Poeten, privilegierten Reisenden und Intellektuellen die Rede sei. Im Unterschied zum postkolonialen Hybriditätsbegriff haben im Bereich der Kulturwissenschaften Helmut Breinig und Klaus Lösch (2002) ein Konzept der Transdifferenz als einen Komplizen der Hybridität, der nicht an einen spezifischen Kontext rückgebunden ist, entworfen. Die Konzeption von Transdifferenz unterscheidet sich von dem vorher diskutierten Konzept der Hybridität dahingehend, dass sie die Differenz nicht dekonstruiert. Sie stellt die Gültigkeit binärer Differenzkonstrukte zwar in Frage, hebt jedoch die Differenz selbst nicht auf: »Es gibt also keine Differenz ohne Transdifferenz und keine Transdifferenz ohne Differenz« (Allolio-Näcke et al. 2005: 10). Dies bedeutet, dass Transdifferenz ein »Komplement der Differenz« ist und grundsätzlich erhalten bleibt, wobei es jedoch temporär ins Oszillieren geraten und eine Verschiebung der zuvor bestehenden Differenz veranlassen kann (Kalscheuer 2005: 71). »Transdifferenz bezeichnet damit nicht die Überwindung beziehungsweise Aufhebung von Differenz, denn das entspräche dem Denken der Einheit, sondern das Aufscheinen des in dichotomen Differenzmarkierungen Ausgeschlossenen vor dem Hintergrund des polar Differenten. Mit anderen Worten: Transdifferenz steht gleichsam in einem komplementären, nicht jedoch in einem subsitutiven Verhältnis zu Differenz.« (Lösch 2001: 27 in Kalscheuer 2005: 71)
Somit weist die Konzeption des Transdifferenten auf die Konstitution des Kulturellen als »Interaktionsräume, in denen permanent Aushandlungsprozesse stattfinden« (Kalscheuer 2005: 76) hin. Einen zentralen Stellenwert in diesen Aushandlungsprozessen nimmt die Dimension des Raumes ein. In ihrer Ausarbeitung der räumlichen Dimension des Konzepts der Transdifferenz greift Kalscheuer (2005) Martina Löws soziologische Raumtheorie und die Konzeption eines relationalen Raumbegriffes auf: »Die Relationalität wird betont, um hervorzuheben, dass Raum durch die Elemente (oder die zu einem Element zusammengefasste Relation) und durch deren relationale Beziehung entsteht. Raum ist nie nur eine Substanz und nie nur die Beziehung, sondern aus der (An)Ordnung, das heißt aus der Platzierung in Relation zu anderen Platzierungen, entsteht Raum. Dabei wird von einer (An)Ordnung gesprochen, um mit dem Ordnungsaspekt auf
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die strukturelle Dimension, mit dem Anordnen auf die Handlungsdimension der Konstitution von Raum hinzuweisen.« (Löw 2001: 224)
Somit konstituiert sich der Raum des Transdifferenten, so Kalscheuer, »infolge des Wechselspiels zwischen den konfligierenden Positionierungen und ist insofern weder nur eine (homogene und starre) Substanz, noch nur eine Beziehung (zwischen Interagierenden), sondern sie ist beides zugleich: kurz: ein Aushandlungsprozess« (Kalscheuer 2005: 78).
Dabei entsteht ein unordentlicher und chaotischer Raum, in dem Eigenes und Fremdes nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden sind, da sie als sich verändernde Relationen erscheinen (Kalscheuer 2005: 78). Ähnlich stellt Paul Mecheril (2003b: 74) fest, dass transnationale Hybriden, mehrfachzugehörige Andere, Transmigranten und postkoloniale Subjekte in ihren natio-ethnokulturellen Lebens- und Handlungswirklichkeiten auf verschiedene kulturelle Traditionen, die das Resultat komplizierter Kreuzungen und kultureller Verbindungen sind, zurückgreifen. Die hier erwähnten Konzeptionen sind einige Beispiele dafür, wie nicht die Einheit, Kontinuität und Kohärenz des Kulturellen betont wird, sondern Differenzen aufgrund ihrer Grenzüberschreitungen, kulturellen Übergänge, aber auch durch ihre innere Fragmentierung gekennzeichnet werden. Somit stellen sie einige Versuche dar, jenseits der dichotomen Identitätskonzeptionen zu denken und konzeptuelle Alternativen und Denkfiguren zu entwickeln, die der Konstitution von Subjektivitäten im Kontext von »trans-formation, trans-lation and transgression« (Boys Davis 1994: 116) verschiedener Differenzen Ausdruck verleihen. Vor diesem Hintergrund stellen die dekonstruktive Kritik der Dichotomien sowie die postkoloniale Perspektive meiner Meinung nach einen wichtigen Beitrag zur Erläuterung der Konstitution der Differenzen im Kontext von Vielfältigkeit des Kulturellen und des Sozialen. Jedoch erfährt die Konzeption der Hybridität durch die Thematisierung der Transnationalität eine Erweiterung. Denn die seit den 1990er Jahren im Zuge der Globalisierung geführten Diskussionen zur Transnationalität, insbesondere im Bereich der Migrationsforschung, stellen einen weiteren Versuch dar, die Vielschichtigkeit der Konstituierung des Kulturellen sowie des Sozialen über die nationalen Grenzen hinweg in Betracht zu ziehen. Im Folgenden möchte ich nun einige Aspekte aus diesen Debatten aufgreifen und Differenzen im Kontext transnationaler Verstrickungen diskutieren.
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4.2.
T RANSNATIONALE V ERSTRICKUNGEN »Je mehr das gesellschaftliche Leben durch die globale Vermarktung von Stilen, Räumen und Vorstellungen, durch internationale Reisen, globale vernetzte Medienbilder und Kommunikationssysteme vermittelt wird, desto mehr lösen sich Identitäten von besonderen Zeiten, Orten, Vergangenheiten und Traditionen – sie werden entbunden und erscheinen frei flottierend.« (Hall 1994c: 212)
Die Globalisierung führt nicht nur zur Vielfalt der Verbindungen zwischen den Staaten und Gesellschaften, sondern bricht »das Gefüge der Grundannahmen«, in denen die Staaten und Gesellschaften als »territoriale, gegeneinander abgegrenzte Einheiten« angesehen, organisiert und gelebt wurden, auseinander, konstatiert Ulrich Beck (1997: 46). Demzufolge zerbricht die Vorstellung einer Einheit des Nationalstaates und es bilden sich »neuartige Macht- und Konkurrenzverhältnisse, Konflikte und Überschneidungen zwischen nationalstaatlichen Einheiten und Akteuren einerseits, transnationalen Akteuren, Identitäten, sozialen Räumen, Lagen und Prozessen andererseits« (Beck 1997: 47). Diese festgestellten gesellschaftlichen Veränderungen stellen auch neue theoretische und methodische Herausforderungen für die Kultur- und Sozialwissenschaften dar, die sich traditionell mit den sozialen und kulturellen Phänomenen und ihrer Konzeptualisierung innerhalb eines Nationalstaates beschäftigt haben. Während der Globalisierungsaspekt in den letzten Jahren meistens im Zusammenhang mit politischen und ökonomischen Prozessen diskutiert worden ist, hat der Begriff der Transnationalität (Hannerz 1995: 1996) in die kultur- und sozialwissenschaftliche Migrationsforschung Eingang gefunden, um den Einfluss der Globalisierung auf der Ebene des Sozialen und Kulturellen untersuchen zu können. Die Transnationalitätsperspektive ist durch den Versuch gekennzeichnet, jene gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene zu erklären, die nationalstaatliche Bewegungs- und Deutungsräume überwinden und auf Beziehungen, Bindungen, Praktiken und Vernetzungen über die geographischen Grenzen hinaus verweisen.4 Somit sind unter dem heuristischen Begriff der Transnationalität verschiedene Ansätze entwickelt worden, die einerseits die die nationalstaatlichen Grenzen überschreitenden Vernetzungen im Sinne von Praktiken und Akt-
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Siehe zum Beispiel Pries 1997, 1998 sowie Glick Schiller/Basch/Szanton Blanc 1994.
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euren und andererseits die Wechselwirkungen zwischen globalisierten Prozessen und ihrer Lokalisierung in den Alltagswelten aus einer handlungs- und subjektorientierten Perspektive ins Zentrum der Betrachtung rücken (vgl. Hess 2005: 29, vgl. Smith/Guarnizo 1998).5 Einen zentralen Stellenwert in den Theoretisierungen des Transnationalen bekommt der Begriff des Raumes. Ludger Pries (1997: 22) wirft der Migrationsforschung vor, dass sie mit einer Vorstellung vom nationalstaatlichen Behälterraum operiere, während sich in den Sozialwissenschaften das relationale Raumkonzept weitgehend durchgesetzt habe.6 Da nun die Prozesse der Transnationalisierung vor allem mit der Entkoppelung von geographischem Flächenraum und sozialem Raum einhergehen, stellen sie die Konzeption des Nationalstaates als einen Behälterraum zunehmend in Frage. Diese Entkoppelung zieht sich durch die Prozesse der Globalisierung, global operierenden Konzerne, internationalen Migrationsprozesse, verbesserten Kommunikations- und Transportmöglichkeiten sowie den Ferntourismus, durch die nationalstaatliche, Grenzen überschreitende neue Beziehungen und Verstrickungen entstehen. Dabei findet neben der »Aufstapelung« unterschiedlicher sozialer Räume im gleichen Flächenraum eine »Ausdehnung« sozialer Räume über mehrere Flächenräume statt (Pries 1997: 17). Sie können als eine Art »transnationale Erfahrungshorizonte« bezeichnet werden, die geographisch delokalisiert, d.h. räumlich vielschichtig, sind und gleichzeitig die Lebensentwürfe, die alltägliche Lebenspraxis und die individuellen und kollektiven Identifikationsmomente von Menschen bestimmen (Pries 1997, 1998). Dabei entstehen transnationale soziale Räume und transnationale Lebenswirklichkeiten, die den klassischen Vorstellungen von in sich geschlossenen Kulturen und ebensolchen Identitäten und Biographien entkommen (Pries 1997, 1998). Unter transnationalen sozialen Räumen versteht Ludger Pries, der in seinen Untersuchungen zur Transmigration zwischen Mexiko und den USA dieses Konzept einführte, »neue ›soziale Verflechtungszusammenhänge‹ (Elias 1986), die geographisch-räumlich diffus bzw. ›de-lokalisiert‹ sind« (Pries 1998: 74f.). Dabei stützt sich Pries (a.a.O.: 75) auf Pierre Bourdieus (1982, 1985) Theorie über soziale Räume. Für Bourdieu sind soziale Räume als Kombinationen sozialer Positionen und Lebensstile, die durch Kapitalvolumen, Kapitalstruktur (ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital) sowie durch die
5
Für die theoretische und methodische Ausdifferenzierung der Transnationalitätsansätze im Bereich der Kulturanthropologie siehe zum Beispiel Appadurai 1996, 1998, Clifford 1997 und Burawoy 2000.
6
Für die Diskussion verschiedener Raumkonzeptionen siehe zum Beispiel Pries 1997 und Löw 2001.
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zeitliche Entwicklung im Lebenslauf bestimmt sind, zu verstehen. Somit stellen transnationale soziale Räume für Menschen, nach Pries (ebd.), eine wichtige Referenzstruktur sozialer Positionen und Positionierungen dar, die über den Sozialzusammenhang von Nationalgesellschaften hinausweist. Dabei bestimmt diese Referenzstruktur die alltagsweltliche Lebenspraxis, (erwerbs-)biographische Projekte und Identitäten der Menschen. Um die Konstitution transnationaler sozialer Räume im Kontext internationaler Migration untersuchen zu können, stellt Pries (1998: 75) ein analytisches Modell vor, das den politisch-legalen Rahmen, materiale Infrastruktur, soziale Strukturen und Institutionen sowie Identitäten und Lebensprojekte in Betracht zieht. Jedoch eignet sich das Konzept der transnationalen sozialen Räume nicht nur für die Untersuchung von Migrationsprozessen, sondern auch für die Analyse unterschiedlicher Formen von nationalstaatlichen, Grenzen überschreitenden Austauschprozessen, Netzwerken, Strömen (flows) usw. (vgl. Osterhammel 2001: 474ff). Diese können nach Kaelble et al. (2002: 10) zum Beispiel im Bereich der Religion, Wissenschaft, Wissensformen, kollektiver Leitbilder und sozialer Bewegungen nationale Integrationskraft transzendieren und in ihren Semantiken sogar Zivilisation prägende Wirkung haben. Die analytische Perspektive auf die Konstitution des Sozialen und Kulturellen im Zusammenhang von nationalstaatliche Grenzen überschreitenden Phänomenen stellt der kulturanthropologischen sowie soziologischen Sichtweise, die in der Regel ihren Forschungsgegenstand im nationalstaatlich eingerahmten Containerraum betrachtet hat, neue theoretische sowie methodische Herausforderungen (vgl. Pries 1997: 29). Denn aus der Transnationalitätsperspektive stellt sich zunächst die Frage, wie sich das soziale Feld des Transnationalen konstituiert und hiermit die »Feldkonstruktion selbst zum Ausgangspunkt des Erkenntnisinteresses« (Hess 2005: 30) wird. Dabei wird der Interpretationsraum in Bezug auf das Kulturelle und Soziale über die nationalstaatlichen statischen und homogenen Vorstellungen hinaus erweitert. Dies hat auf der methodologischen Ebene im Bereich der kulturanthropologischen Forschung zur Entwicklung von Forschungsansätzen geführt, die für ein mehrortiges, offenes Forschungsdesign im Sinne von »multisited ethnography« plädieren (Clifford 1997, Hess 2005). Auch im Bereich der interdisziplinären Biographieforschung sind einige Versuche unternommen worden, auf die ich später im Zusammenhang von Biographieforschung und transnationalen Biographien eingehen werde (Kapitel 5.4). Im Bereich der Migrationsforschung wurde die Transnationalisierungsperspektive in den 1990er Jahren zunächst in den karibischen und US-amerikanischen Debatten eingeführt. Dort gerieten emergente Formen grenzüberschreitender Lebenspraxen und die transnationale Vergesellschaftung ins Blick-
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feld, die neue Fragen hinsichtlich gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion von MigrantInnen, die traditionell in den Bereichen der Akkulturations-, Integrations- und Assimilationstheorien untersucht worden waren, stellten. Die Transnationalitätsperspektive wurde herangezogen, um insbesondere neue Arten von Migrationen zu thematisieren und zu definieren. Als Ergebnis empirischer Untersuchungen ließen sich die Migrationsverläufe nicht als eine unidirektionale Wanderung vom Herkunftsland ins Residenzland definieren. Dagegen wurden Migrationen als Prozesse beschrieben, in denen MigrantInnen durch ihre sozialen, ökonomischen und politischen Beziehungen und Vernetzungen im eigenen Ankunfts- und Herkunftsland sowie in den Ankunftsländern von MigrantInnen gleicher Herkunft soziale Räume schaffen, die nationalstaatliche Grenzen überschreiten (vgl. Martini 2001: 27). Somit sind sie in verschiedene gesellschaftliche Relevanzsysteme eingebunden und es können neuartige soziale, politische, wirtschaftliche oder auch symbolische Verknüpfungen, Netzwerke und Organisationen entstehen. Diese plurilokalen sozialen Wirklichkeiten sind transnationale Verbindungen, die sich zu einer eigenständigen transnationalen sozialen Wirklichkeit jenseits der geographischen Orte verdichten können. Diese Art von Migration wird in der neueren Migrationsforschung als transnationale Migration oder Transmigration bezeichnet. Als Transmigration definiert Pries »grenzüberschreitende Wanderungsprozesse als einen mehr oder weniger dauerhaften Zustand, als einen nicht nur einmaligen, unidirektionalen Ortswechsel, sondern als eine neue soziale Lebenswirklichkeit für eine wachsende Anzahl von Menschen« (Pries 1997: 32).
Transmigration führt nicht unbedingt zur Sesshaftwerdung und Integration an nur einem Wohnort, sondern lässt sich mit einer Art von Oszillation zwischen Regionen und Kulturen charakterisieren (Cyrus 2000: 95). Diese Bevölkerungsbewegungen bringen die klassischen Vorstellungen von im territorialen Rahmen des Nationalstaates in sich geschlossenen Kulturen und Räumen und die damit einhergehenden Identitätskonstruktionen und Vergesellschaftungsprozesse ins Wanken. Die zunehmende Komplexität sozialer Wirklichkeiten, transkultureller und transnationaler Veränderungen der Gesellschaften und der zivilgesellschaftlichen Strukturen im Zeitalter der Globalisierung stellen weitere Herausforderungen für das Nachdenken über die Tragweite und Konzeptualisierung des Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit dar. Es stellt sich dabei die Frage, inwieweit die Vorstellungen und Erfahrungen von tradierten Formen von Privatheit und Öffentlichkeit an der Herstellung von den die nationalstaatlichen Grenzen überschreitenden transnationalen sozialen Bindungen und Räumen beteiligt sind oder
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inwieweit sie diese reproduzieren, brechen und umwandeln. Am Beispiel von chinesischen Diasporagemeinschaften zeigt Dominique Sachsenmaier (2000: 213) wie sich unter den Überseechinesen Südostasiens transnationale Bezugsräume als zusätzliche Identitätsschicht herausbilden und zur Entstehung alternativer, zusätzlicher Formen gesellschaftlicher Anbindung mit eigenständigen grenzüberschreitenden Formen von Öffentlichkeiten führen. Insbesondere betont sie dabei, wie aus dem Bereich des Privaten eine transnationale Bindung heraustreten kann.7 Auch Helma Lutz (2002, 2007) zeigt in ihren Untersuchungen zu Transnationalität im Haushalt, wie dabei die Grenzziehung zwischen Privatem und Öffentlichem neu ausgehandelt wird und wie in diesem Zusammenhang transnationale soziale Räume entstehen. Obwohl die im Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften geführten Debatten die Neuheit der Globalisierung und Transnationalität suggerieren, kann festgestellt werden, dass in anderen Bereichen schon früher die Perspektiven von Globalisierung und Transnationalisierung ins Blickfeld geraten sind.8 In Anbe-
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Transkulturelle und transnationale Veränderungen der Gesellschaften stellen wegen der bisher einseitigen nationalstaatlichen Konzeptualisierung der Öffentlichkeiten völlig neue Anforderungen an die Theoretisierung von Öffentlichkeiten und Privatheiten. Da Nationalstaaten sich zunehmend transnational oder postnational formieren, hat Nancy Fraser (2004) eine Reformulierung des Begriffs der Öffentlichkeit gefordert. Dies ist schon das zweite Mal, dass Nancy Fraser die Revision der Öffentlichkeitstheorie von Habermas (1962/1990) fordert. Das erste Mal kritisierte sie in ihrem Artikel »Öffentlichkeit neu denken« (1996) die Ausblendung alternativer Öffentlichkeiten und die Idealisierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Dabei sollen der nationale Rahmen der Konzeptionen von Öffentlichkeiten problematisiert und somit die in den postnationalen Konstellationen existierenden Emanzipationsmöglichkeiten (emancipatory possibilities) in Betracht gezogen werden. Dieses Neudenken der transnationalen Formierung der Öffentlichkeiten stellt eine neue Herausforderung für die Tragweite in transnationalen Konstellationen dar.
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Nach Eric J. Hobsbawn (1989) stellt die Globalisierung im ideellen und ideologischen Bereich kein neues Phänomen dar. Denn das 19. und 20. Jahrhundert sind durch die grenzüberschreitenden Ideologien zu charakterisieren; die politische Ideologie des Nationalismus, die Arbeiterbewegung und die imperialistische Expansion. Auch bereits in den 1960er Jahren wurde in den Wirtschaftswissenschaften der Begriff des Transnationalismus eingeführt, von wo er sich auch in andere Disziplinen ausbreitete (Martini 2001: 27). Auf die enge Verknüpfung von Moderne und Globalisierung weist auch Jan Nederveen Pieterse (1998: 91) hin. Er sieht die Globalisierung als eine der
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tracht der Historizität der Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozesse kann man sich zwar zu Recht fragen, ob es sich hierbei tatsächlich um ein neues oder vielleicht eher um ein bisher wenig untersuchtes Phänomen zum Beispiel im Bereich der Migrationsforschung handelt (vgl. Apitzsch 2003a: 66f.). Jedoch sehe ich den Perspektivwechsel, der gegenwärtig zum Beispiel in der Migrationsforschung vollzogen wird, als notwendig an, da nun die Migrationsprozesse im Zusammenhang von Globalisierung und Transnationalisierung sowie deren Folgen für die Konstitution des Sozialen diskutiert werden. Denn die traditionellen Konzeptionen von Migration, die diese nur als unidirektionale Prozesse betrachten, haben mögliche transnationale und mehrortige Lebensweisen von MigrantInnen durch die normativen Analysen der Assimilation und Integration zwangsweise vereindeutigt bzw. eventuell als traditionell und rückkehrorientiert interpretiert (Hess 2005: 31). Die Transnationalitätsperspektive, die in der neueren transnationalen Kulturanthropologie vollzogen wird, stellt nach Sabine Hess einen »überfälligen ›Normalisierungsdiskurs‹ mehrortiger, uneindeutiger migrantischer Praktiken dar« (a.a.O.), der die Perspektive auf das »transnationale Kontinuum migrantischer Lebensstrategien« eröffnet. Während frühere Migrationsstudien den Blick auf die Assimilation und Integration von MigrantInnen richteten, rücken nun die subjektiven und kollektiven Verbindungen und Vernetzungen ins Zentrum der Betrachtung. Dabei wird das Leben von MigrantInnen »zwischen« oder besser gesagt »gleichzeitig in« unterschiedlichen Gesellschaften und Erfahrungshorizonten untersucht.9 Aus dieser Perspektive wird Migration nicht nur als Akkulturation oder Integration an einem Ort betrachtet, sondern mit verschiedenen Arten von Zugehörigkeiten, nationale Grenzen überspannenden Netzwerken und Aktivitäten in Verbindung gebracht (Glick Schiller et al. 1997a: 81). Der Blick wird darauf gerichtet, wie sich MigrantInnen »zeitlich variabel mehr auf der einen oder anderen Seite [verorten] oder […] auch über Jahre imaginative, virtuelle Verbindungen zu ihren Angehörigen, FreundInnen und sozialen Kontexten, die neben dem Herkunftsland weitere Migrationsdestinationen
Voraussetzungen der Moderne an, deren Beginn mit der imperialistischen Ausbreitung des Westens zusammenfällt. 9
Siehe zum Beispiel für die Diskussion der transnationalen Bildungswege der zweiten griechischen Migrantengeneration Siouti 2003, Apitzsch/Siouti 2007; portugiesischer Migrantinnen Fürstenau 2004a, 2004b; der osteuropäischen Transmigration Lutz 2002, 2003, Cyrus 2000, Hess 2005; der transnationalen Elternschaft Shinozaki 2003; der transstaatlichen Räume in und zwischen Deutschland und der Türkei Faist 2000b; der Transmigration der zweiten Generation zwischen Deutschland und Kroatien Goeke 2007 und der Transnationalität als Praxis Pütz 2004.
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mit einschließen können, [unterhalten]« (Hess 2005: 31, vgl. u.a. Salih 2000: 7592). Die Perspektive der Transnationalität bedeutet jedoch nicht, dass sie die traditionellen Integrationsansätze in Frage stellt, vielmehr kann sie als eine Erweiterung der Untersuchungsperspektive verstanden werden (vgl. Kivisto 2001, Bommes 2003). Aus dieser analytischen Perspektive ist es nicht nur möglich, neue Formen von Migration zu thematisieren, sondern auch, das Leben von »alten Einwanderergruppen wie das der »GastarbeiterInnen« in der Bundesrepublik aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten (vgl. Beck-Gernsheim 2002: 341, Martini 2001, Jurgens 2001, Krüger/Potts 1997). Die Studien von Martini (2001) zu italienischen MigrantInnen und die von Krüger und Potts (1997) zu türkischen Gastarbeiterinnen u.a. konzentrieren sich auf die Thematisierung des Transnationalen, transnationaler Sozialräume und familialer transnationaler Netzwerke in Bezug auf die »alten« Einwanderungsgruppen. Auch in einigen Untersuchungen zu der sogenannten »zweiten Migrantengeneration« (Siouti 2003, Goeke 2007) oder zu den »Anderen Deutschen« (Mecheril 1997) wird auf die Perspektive der Transnationalität zurückgegriffen, um multiple Zugehörigkeiten sowie transnationale Vergesellschaftungsformen beschreiben zu können (zum Beispiel Yurtsever-Kneer 2000). Indem in diesen Konzeptionen kulturelle und nationale Räume durch die Betrachtung transnationaler Erfahrungshorizonte ergänzt werden, verändern sich dabei auch die Konzeptionen von Zugehörigkeitserfahrungen und Identitäten (vgl. Mecheril 1997, Glick Schiller et al. 1997a: 81, Pries 1997, 1998). Obwohl in dem Konzept des Transnationalen die Vorsilbe »trans« eine Transformation oder eine eventuelle Vermischung des Nationalen und Lokalen sowie die Entstehung des Neuen suggeriert, bleiben die Subjekte selber körperlich und materiell mit den nationalen Orten und Territorien sowie den Zuschreibungspraxen und Diskursen verbunden. Hiermit bewahrt das Konzept der Transnationalität in bestimmtem Maß zwar das Kulturelle und das Nationale, sofern die Subjekte rechtlich in nationalstaatliche Regulationen eingebunden sind, es wird jedoch gleichzeitig auch die Herstellung von transkulturellen und transnationalen sozialen Wirklichkeiten, Erfahrungshorizonten, Wissensbeständen, Identitäten und Zugehörigkeiten innerhalb bestehender nationaler Kontexte thematisierbar. Dabei lässt sich das Konzept der Transnationalität, wie Helma Lutz konstatiert: »fast als ›Kampfbegriff‹ gegen Konzepte nationaler Homogenität mit den damit verbundenen Prämissen sozialer und kultureller Schließung verstehen, der versucht der Hetero-
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genität und dem polyphonen Charakter der durch Migrationsbewegungen veränderten Gesellschaften gerecht zu werden« (Lutz 2002: 86).
Auf jeden Fall kann festgehalten werden, dass die Debatten im Bereich des Postkolonialismus und der Transnationalität die Migrationssituation als »Raum der Übersetzung« (Eickelpasch/Rademacher 2004: 67, Hervorh. i.O.) in den Blick nehmen. Dabei verabschieden sie sich von Vorstellungen von Kultur und Identität als feste und stabile Größen und schieben stattdessen die kulturellen Differenzen in ihren Überschneidungen und Veränderungen ins Zentrum der Betrachtung. Aus dieser Perspektive sind: »Kultur und – in noch größerem Maße – Identität […] als flukturierende, durchlässige Orte zu beschreiben, die ein Denken in Differenzen, Veränderungen, Austausch ermöglichen, ein ständiges Unterwegssein, ohne jemals anzukommen« (Eickelpasch/Rademacher 2004: 67).
Demzufolge ist es Zeit, nicht mehr nach den roots, sondern den routes des kulturellen Gewordenseins zu fragen (a.a.O; vgl. Ha 1999: 122). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Differenzen und das Transnationale in der Praxis konstituiert, hergestellt und erlebt werden. In diesem Kontext muss auch darüber nachgedacht werden, wie Subjektivität, Identität und Geschlecht konstituiert und hergestellt werden, wenn sie »nicht mehr nur kulturell und spezifisch ethnisch konstruiert und analysierbar [sind], sondern in zunehmendem Maß auch transkulturell, translokal und multipel« konstruiert werden (Schlehe 2000: 7). Außerdem fordert die grenzüberschreitende Bedeutungsverschiebung dazu auf, weitere Vergesellschaftungsmodi in Betracht zu ziehen. Hiermit möchte ich mich noch auf die Konzeption der »dreifachen Vergesellschaftung« stützen, die Ilse Lenz (1995) in Anlehnung an den Begriff der »doppelten Vergesellschaftung« (Becker-Schmidt 1987) entworfen hat. Dabei ergänzt Lenz neben der subjektiven und vergeschlechtlichten Vergesellschaftung im Bereich der familiären Reproduktion und Produktion auf dem Arbeitsmarkt eine vergeschlechtlichte und ethnisierte Vergesellschaftung auf der Ebene des Nationalstaates und der internationalen Weltordnung. Dies bietet eine Möglichkeit, das geographische und politische Zusammenwirken unterschiedlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse im internationalen Kontext zu beleuchten (Gutiérrez Rodríguez 1999a: 39). Die Konstitution und Konstruktion der Differenzen und der Transnationalität ist jedoch nicht nur eine theoretische und methodische Frage, sondern vor allem auch eine empirische, die bei weitem noch nicht ausreichend untersucht worden ist. In der vorliegenden empirischen Studie, in der ich die Herstellung von Diffe-
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renzen, die nationalstaatlichen grenzüberschreitenden Migrationsprozesse und Subjektkonstruktionen untersuche, habe ich die Transnationalität als eine wichtige erkenntnistheoretische Perspektive herangezogen. Diese habe ich mit dem biographietheoretischen Ansatz verbunden. Somit möchte ich im Folgenden die bisher diskutierten Perspektiven der Herstellung von Differenzen mit dem biographietheoretischen Ansatz verknüpfen und dabei den Blick auf die Untersuchung des Transnationalen in Biographien richten.
5. Migration und Differenzen aus der biographischen Perspektive
Nachdem ich zentrale theoretische Grundbegriffe zu Differenzkonstruktionen und der Herstellung von Geschlecht und Ethnizität in transnationalen Zusammenhängen dargestellt habe, stellt sich die Frage, wie diese zu untersuchen sind. Denn die Betonung der Verquickung verschiedenartiger Differenzen »droht zum Mantra zu werden und die Diskussion zu mystifizieren« (Stötzer 2004: 148), solange unklar ist, wie sich die unterschiedlichen Differenzen konkret miteinander kreuzen. Einen möglichen Zugang zu Differenzen im Zusammenhang von Erfahrungen und deren Bearbeitung bietet die biographietheoretische Perspektive. Sie ermöglicht es, Subjektivierungsprozesse auf Grundlage der lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Konflikte im Spannungsfeld von Struktur und Handeln zu rekonstruieren und somit das gesellschaftliche Gewordensein von Subjekten zu beleuchten (vgl. Knapp 1997, Dausien 2000). Dadurch ist es möglich, den zentralen Fragen dieser Studie nachzugehen. Nämlich, in welcher Art und Weise die Differenzkonstruktionen sich zum Beispiel in Bezug auf Geschlecht und Ethnizität in den Biographien rekonstruieren lassen, welche »biographische Haftung« (Knapp 1997: 503) bzw. biographische Relevanz, handlungsableitende und -verhindernde Bedeutung diese Konstruktionen im konkreten Fall haben und welche biographische Handlungs- und Verortungsstrategien daraus erfolgen. Im Folgenden möchte ich die biographische Perspektive zunächst im Allgemeinen vorstellen und dann im Bezug auf Differenzen, Migrationsprozesse und auf transnationale Biographien konkretisieren.
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5.1.
B IOGRAPHIETHEORETISCHE P ERSPEKTIVE 1 »Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.« (García Márquez 2003)
Biographien und biographisches Material, wie Briefe, Tagebücher usw., wurden schon in den 1920er Jahren als soziologisch wertvolles Untersuchungsmaterial von den Chicago School Soziologen William I. Thomas und Florian Znaniecki entdeckt. In ihrer Studie über polnische Auswanderer »The Polish Peasant in Europe and America« (1958, Orig. 1918-1921) geben Thomas und Znaniecki aus einer biographischen Perspektive Einblicke in die Migrationserfahrungen. Dabei unterstreichen sie den Stellenwert von Biographien bei der Untersuchung des menschlichen Handelns im Zusammenhang von individuellem Bewusstsein und sozialer Realität (Apitzsch 1990: 60).2 Für Thomas und Znaniecki stellen Biographien ein geeignetes soziologisches Untersuchungsmaterial dar, um auf die Spuren der Gesetzlichkeit des menschlichen Handelns kommen zu können (a.a.O.).3 Obwohl die Weichen für die biographietheoretische sowie -analytische Forschung schon in den Arbeiten dieser Autoren gestellt wurden, gerieten die Biographien im Zuge der Entwicklung von quantitativen und positivistischen Ansätzen jedoch zunächst in Vergessenheit und tauchten erst in den 1970er Jahren, im Laufe der Einführung von qualitativen und interpretativen Methoden in der soziologischen Forschung wieder auf.4
1
Ich konzentriere mich hier ausdrücklich auf die qualitative Biographieforschung, beziehe mich aber auch auf einige Erkenntnisse aus dem Bereich der quantitativen Lebenslaufforschung. Obwohl qualitative Biographieforschung und quantitative Lebenslaufforschung in Deutschland unterschiedliche Forschungsfelder innerhalb der Soziologie darstellen, sehe ich eine Verknüpfung beider Perspektiven als empfehlenswert. In Bezug auf den konzeptuellen und forschungspragmatischen Unterschied zwischen Biographie- und Lebenslaufforschung siehe zum Beispiel Dausien (2002: 129ff.).
2
Diese Betrachtungsweise unterscheidet sich erheblich von der Auffassung von Dürkheim, der die Existenz des Sozialen jenseits des Individuums sah (Apitzsch 1990: 60).
3
Etwas später wies auch C. Wright Mills in seinem sozialwissenschaftlichen Klassiker »The Sociological Imagination« (1959) auf die Wichtigkeit der Biographien in den soziologischen Analysen hin. Nach ihm werden Biographien als Forschungsmaterial benötigt, um die Gesellschaft wirklich verstehen zu können.
4
Vgl. Kohli (1981) für die Entwicklung der Biographieforschung.
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Durch die Wiederentdeckung der Biographien hat sich in der Bundesrepublik eine interdisziplinär orientierte Biographieforschung entwickelt (vgl. Apitzsch 1990: 61, Dausien 1994: 133). Biographien wurden nicht nur als wertvolles Forschungsmaterial wiederentdeckt, sondern es wurden, insbesondere in den Sozialund Erziehungswissenschaften, unterschiedliche Herangehensweisen entwickelt, um Biographien als Erzählungen über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowohl theoretisch als auch methodisch fassen zu können.5 Heute wird sogar von einigen ein »biographical turn« innerhalb der Sozialwissenschaften diagnostiziert.6 Obwohl man dies nicht von sozialwissenschaftlicher Migrationsforschung behaupten kann, hat sich auch dort ein lebendiges Feld der biographischen Migrationsforschung etabliert. 5.1.1. Biographie als gesellschaftliche Wissens- und Deutungskategorie Im Allgemeinen stellt das Konzept der Biographie ein alltägliches Ordnungsprinzip dar, das Auskunft über die Entstehung des Sozialen im Zusammenwirken von Individuum und Gesellschaft gibt. Denn im Format der Biographie als eine mit Zeit und Raum verbundene Beschreibung des Lebens als Lebensgeschichte lassen sich nicht nur verschiedene menschliche Wahrnehmungsdimensionen, wie die des subjektiven Erlebens, des Erfahrens, der Reflexion und schließlich der Erzählung in einem zeitlichen Ablauf gebündelt rekonstruieren, es ist auch möglich, einen Zugang zur Untersuchung des Zusammenwirkens des Individuellen und des Gesellschaftlichen zu erreichen. Dies erfolgt nicht nur auf der inhaltlichen Ebene der Rekapitulation von Ereignissen und Erfahrungen, sondern kann auch in Bezug auf die Konstruktionsprinzipien der Biographien festgestellt werden. Obwohl nun die Erfahrungen und ihre Deutungen die Basis für die Konstitution und Konstruktion der Biographie darstellen, werden sie jedoch nicht zufällig, sondern nach einer gewissen Ordnung oder »Typik« sortiert und als persönliche Biographie präsentiert. Denn die narrative Zusammensetzung der Biographie erfolgt unter bestimmten geschichtlich, gesellschaftlich, politisch und kulturell formierten Erzählungs- und Darstellungsnormen bzw. Konstruktionsprinzipien, die sich zum Beispiel in der chronologischen Darstellungsform der Biographie ausdrücken. Diese Ordnungsstruktur ist ein Resultat gesellschaftlicher und
5
Siehe zum Beispiel Schütze (1981, 1984), Oevermann et al. (1979), Rosenthal (1987, 1995), Allheit (1989, 1990a, 1992), Dausien (1996, 2000, 2001, 2002a, 2002b), Apitzsch (1990, 2003) und Völter et al. (Hg.) (2005).
6
Vgl. dazu Chamberlayne et al. (Hg.) (2000).
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historischer Prozesse, deren Wirksamkeit Menschen erfahren und verarbeiten (vgl. Alheit/Hoerning 1989: 13). Entsprechend beeinflussen diese Normen das Erinnern, Vergessen sowie die Entscheidung darüber, was erzählbar bzw. erzählenswert ist sowie wer erzählen darf und kann.7 Da nun Biographien immer bestimmten Ordnungs- und Regelprinzipien unterliegen, drücken diese Konstruktionen nicht nur das Zusammenfassbare aus, sondern folgen dem dreifachen Bündnis von Erfahrung, Erinnerung und Erzählung, das als sozialisatorisch erworbene, habituell gewordene generative Struktur den Konstruktionen subjektiver Wirklichkeiten zugrunde liegt.8 Damit stellt das Konzept der Biographie kein unhistorisches und allgemeingültiges Konzept dar, sondern ist an die Herausbildung der modernen Gesellschaften gekoppelt und verändert sich somit auch in diesen Prozessen (vgl. Alheit 1990a, Alheit/Dausien 1990, Dausien 1994: 135). Im Bereich der Biographieforschung wird heute im Allgemeinen davon ausgegangen, dass das Konzept der Biographie selbst eine soziale Konstruktion ist. Diese Perspektive ermöglicht es nun, die »unangemessene und unbeantwortbare […] Frage, wie ein Leben ›wirklich‹ war« (Dausien 1994: 145, Hervorh. i.O.), zu vermeiden.9 Denn Erfahrungen werden im Bereich
7
Die Biographisierung des Lebens ist mit einer normativen Vorstellung über die Fähigkeit einer »narrativen Kompetenz« (vgl. Schütze 1976: 16ff.) verbunden, die es wiederum ermöglicht, eine Biographie zu fassen. Dies kommt zum Beispiel dadurch zum Ausdruck, dass die Anwendung von biographischen Ansätzen bei psychisch Kranken (Riemann 1987), Jugendlichen (Juhasz/Mey 2003) und Migrantinnen (Michiyazgan 1986) häufig besonderer Reflexion unterzogen wird. In diesen Reflexionen wird jedoch nicht das Konzept der Biographie als ein normatives Deutungsmuster mit bestimmter Erwartungsstruktur in Frage gestellt, vielmehr wird der Anwendbarkeit des biographisch-narrativen Interviews sowie der biographischen Perspektive in diesen Untersuchungen nachgegangen. Eine Differenzierung des Biographiekonzepts nimmt jedoch Bettina Dausien in ihrer Untersuchung »Biographie und Geschlecht« (1996) vor und weist darauf hin, dass Frauen und Männer ihre Biographie unterschiedlich erzählen. Auch Joachim Matthes (1985) fordert ein »substantiell-kultursoziologische[s] Korrektiv« (Matthes 1985: 324) in der erzählanalytischen Methodologie.
8
Rainer Kokemohr und Marek Prawda (1989) gehen davon aus, dass Individuen ihre Erfahrungen anhand von Dispositionen verarbeiten. Unter Dispositionen verstehen sie sozialisatorisch erworbene und habituell gewordene Strukturen, die die Konstruktion subjektiver Wirklichkeit beeinflussen (Kokemohr/Prawda 1989: 244).
9
Bettina Dausien konstatiert, dass »so wenig Geschlecht eine ›Natur gegebene Tatsache‹ ist, so wenig ›haben‹ Individuen eine Biographie, auch wenn sie dies […] im Alltag normalerweise unterstellen« (2004: 34).
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der rekonstruktiven Biographieforschung nicht als naives Spiegelbild des Erlebten in Form von Erzählungen angesehen, sondern als Rekonstruktionsleistung des biographischen Subjekts gedeutet. Demzufolge geht es in der Biographieforschung um die Rekonstruktionen von interpretativen Deutungen des Erfahrenen und des Erlebten, die in Bezug auf die »›Konstruktionsprinzipien‹ des Dargestellten« (Dausien 1994: 146) zu fassen sind.10 Somit lassen sich die Erfahrungen, aus der biographietheoretischen Perspektive betrachtet, nicht als reine Ablagerung des Erfahrenen konstituieren, sondern es geht um einen reflexiven Prozess der Aneignung, bei dem die Lebenserfahrungen fortlaufend überarbeitet werden und sich als biographisches Wissen verdichten. »Lebenserfahrungen prägen eine Biographie ebenso wie soziale Herkunft, Schulbildung, Geschlecht, Hautfarbe und nationale Herkunft. Lebenserfahrungen werden im Laufe einer Lebensgeschichte erworben, sie lagern sich als biographisches Wissen ab. Biographisches Wissen ist Kapital, welches für die aktuellen und zukünftigen Konstruktionen der Biographie verwertet wird (Hoerning 1989). Biographische Erfahrungen und daraus entstandene biographische Wissen sind nach dieser Vorstellung also nicht nur die Ablagerung des Erfahrenen, sondern die fortlaufende Überarbeitung des Erfahrenen […].« (Hoerning 2000: 4)
Aus dieser zeitlichen Prozesshaftigkeit der Erfahrungskonstitution, die sich als biographische Wissensstruktur aufschichtet, entsteht die Möglichkeit, eine biographische Perspektive auf das eigene Leben zu entwickeln. Das biographische Wissen fungiert dabei als Kapital oder Handlungsressource, die das Subjekt befähigt, neue Handlungssituationen zu bewältigen (vgl. Hoerning 2000: 4ff.). Das biographische Wissen konstituiert sich aber nicht nur als intentionale biographische Haltung, sondern es fließen auch unbewusste und »objektive« Dimensionen als »biographisches Hintergrundwissen« (Alheit/Dausien 2000: 274f.) ein. Das biographische Wissen als Ressource stellt jedoch einen biographischen »Wis-
10 Peter Alheit und Bettina Dausien (1985) machen darauf aufmerksam, dass die »Wahrheit« des Biographen nicht mit der des Chronisten zu verwechseln ist (siehe dazu auch Apitzsch 1990: 85f.). Meines Erachtens bezeichnet die Wahrheitsdiskussion einen Kampf um wissenschaftliche Deutungen und Wissensproduktion jener Zeit. Diese Kritik sieht aus der heutigen Perspektive überflüssig aus, da sogar in den Geschichtswissenschaften allmählich die Idee einer authentischen Wahrheit verabschiedet worden ist. Zum Beispiel betont die Historikerin Joan Scott die enge Verbindung von Erfahrung und Interpretation: »Experience is at once always already interpretation and is in need of interpretation. What counts as experience is neither self-evident nor straight forward; it is always contested, always therefore political« (Scott 1992: 37).
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sensvorrat« (Dausien 2006: 35) dar, der in bestimmten Grenzen immer wieder überarbeitet und neu zusammengesetzt wird (vgl. Alheit 1993). Die Fähigkeit, Anstöße von Außen biographisch brauchbar zu machen, d.h. die »Biographizität« (Alheit 1990b), ist ein zentraler Bestandteil der biographischen Selbstentfaltung, die einen Lernprozess in einem unpädagogischen Sinne darstellt (vgl. Alheit/Dausien 2000: 277). Somit entstehen Biographien durch die Konstruktionsleistungen sozialer Subjekte, die ihre Erfahrungen reflexiv verarbeiten und in Interaktionen mit anderen kommunizieren. 5.1.2. Gesellschaftliche Struktur und das biographische Subjekt Das Erzählte in der Darstellungsform einer Biographie gibt uns nicht nur Auskunft über die normativen Strukturen des Erzählens (vgl. Mecheril/Dausien 2006), sondern auch über die für die Soziologie zentrale Frage des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Biographien eröffnen einen äußerst wichtigen Zugang auf die prozesshaften und dialektischen Konstitutions- und Konstruktionsprozesse des Subjektiven und Gesellschaftlichen jenseits der Gegenüberstellung von gesellschaftlichen Mikro- und Makroebenen. Die biographische Perspektive eröffnet sowohl theoretisch als auch methodisch einen Zugang zum Problem der Subjektivität (vgl. Dausien 1994: 152). Da die biographische Perspektive Bezug auf die strukturelle Dimension nimmt, umgeht sie die Gefahr, auf eine individuell-psychologische Ebene einerseits und auf eine nur auf die Interaktionen verkürzte sozial-konstruktivistische Ebene andererseits reduziert zu werden (a.a.O.). Dagegen ermöglicht die biographietheoretische Perspektive es, auf die Spuren der subjektiven Aneignung und Konstruktion von Gesellschaft sowie der gesellschaftlichen Konstruktion von Subjektivität zu kommen (vgl. Dausien 1994: 152). Demnach werden Biographien im Spannungsfeld von Struktur und Handeln analysiert und sind somit nicht nur auf die Analyse des Subjekts begrenzt, sondern thematisieren immer auch die Gesellschaftsstruktur (vgl. Dausien 2000: 100ff.). In diesem Zusammenhang können Biographien im Sinne von Anthony Giddens als Prozesse der Strukturierung gelesen werden, wobei die Struktur und das Handeln sich gegenseitig bedingen (vgl. Dausien 1994: 153).11
11 Auch Wolfram Fischer-Rosenthal (2000) hat versucht, die Strukturierungstheorie mit der Biographieforschung zu verbinden. So begrüßenswert dieser Versuch ist, gelingt es jedoch Fischer-Rosenthal nicht, die Dualität von Struktur in seiner Argumentation beizubehalten. Zur Kritik von Fischer-Rosenthal siehe Juhasz/Mey (2003: 101f.).
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Die Dialektik der sozialen Strukturen und des Subjektiven in der Entstehung des Gesellschaftlichen sowie des Subjektiven drückt sich in der Biographieforschung durch die generelle Überzeugung aus, dass »das Allgemeine bereits in den Einzelfällen steckt« (Fuchs 1984: 165). Das Allgemeine drückt sich dabei in Form von biographisch bedeutend gewordenen gesellschaftlichen Strukturen aus. Peter Alheit weist darauf hin, dass der Strukturaspekt des Biographischen darin liegt, dass die Biographien sich »als sequenzielle Ordnungen gesellschaftlich vorgegebener ›Muster‹ deuten lassen, die nicht beliebig verändert werden können« (Alheit 1993: 352f.). Deshalb ist es möglich, in den Biographien zum Beispiel allgemeine historische lebenslaufbezogene Platzierungen, Statuspassagen und Generationsprägungen zu finden. Dies ermöglicht auch, kollektive Veränderungsprozesse aus einer biographietheoretischen Perspektive zu rekonstruieren (vgl. auch Riemann 1989: 253). Jedoch betont Alheit, dass sich Biographien nicht erfassen lassen, »wenn die Emergenzdimension ignoriert wird, das Eigensinnige, Individuelle im biographischen Prozeß« (Alheit 1993: 352f.). Es ist gerade diese Dialektik des Sozialen und des Individuums, die das Biographische ausmacht und die Fritz Schütze (1981, 1984) ausführlich im Zusammenhang der Prozessstrukturen des Lebensablaufes diskutiert hat. Anhand seiner aus empirischen Analysen abgeleiteten Theorie der Prozessstrukturen stellt Schütze (a.a.O.) zugleich ein analytisches Instrumentarium dar, mit dem er die Durchdringung des Sozialen und des Subjektiven und deren subjektive Entfaltung als biographische Prozesse fasst. Dabei richtet er seinen Blick nicht nur auf die Handlungsperspektive, sondern auch auf die konditionelle, nicht intentionale Gesteuertheit der lebensgeschichtlichen Ereignisse. Demzufolge stellt Schütze vier grundlegende Grundphänomene dar, die Lebensabläufe und damit auch biographische Rekapitulation strukturieren. Während die biographische Prozessstruktur »das biographische Handlungsschemata« die intendierte Handlung des Biographieträgers/der Biographieträgerin den lebensgeschichtlichen Ereignissen gegenüber verdeutlicht, stellen die drei weiteren biographischen Prozessstrukturen, (»institutionelle Ablaufsmuster«, »Verlaufskurven« und »Wandlungsprozesse«) konditionierte und nicht-intendierte Handlungen und biographische Prozesse dar (siehe mehr dazu Kapitel 6.8 dieser Studie). Gerade durch den Blick auf die Dialektik des intentionalen und des nicht-intentionalen Handelns gelingt es Schütze meines Erachtens, auf die Spuren des Zusammenwirkens von Struktur und Handeln in den Biographien zu kommen. Jedoch bedeutet dies nicht, dass dabei ein Eins-zu-eins-Verhältnis zwischen dem Erzählten und dem Erlebten vorausgesetzt wird, vielmehr geht es dabei um die Rekonstruktion von sozialen Prozessen, die an der Konstruktion des Biographischen beteiligt sind. Hiermit kann anhand der lebensgeschichtlichen Selbstdarstellung, d.h. der Biographie, der konti-
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nuierliche soziale Prozess der Entwicklung und Verwandlung einer biographischen Identität aufgezeigt werden (vgl. Schütze 1983: 286). Obwohl Schütze seine Theorie nicht als eine biographische Identitätstheorie dargestellt hat, können die Prozessstrukturen meines Erachtens als Teile der strukturell-kontextuell bedingten biographischen Identitätsformung verstanden werden. Biographie und Identität
Wie nun die Ausführungen von Schütze nahelegen, stehen die Begriffe von Identität und Biographie in einem engen Verhältnis zu einander. Während sich die klassische Identitätsforschung lange Zeit mit der essentialistischen Frage »wer bin ich«12 beschäftigt hat und erst im Zuge des Postmodernismus die Prozesshaftigkeit und Vielfältigkeit der Identitäten ins Zentrum der Betrachtung gerückt hat, hat sich die Biographieforschung von Anfang an für die Frage der Prozesshaftigkeit der Identität interessiert: also wie wurde ich zu der/dem, die/der ich bin. Denn die biographische Perspektive ermöglicht es, Identitäten in Form von Biographie als zeitliches, kontextualisiertes und prozesshaftes Konstrukt zu verstehen (vgl. Fischer-Rosenthal 1995). Die biographische Perspektive auf die Identitätsbildung rückt das Subjekt im Prozess des Werdens in den Vordergrund und gibt dadurch Auskunft über die Verstricktheit und die dialektische Verknüpfung des Individuums mit der Gesellschaft (vgl. Dausien 2002a: 82). Somit können Biographien als Entwicklungs- und Sozialisationsgeschichten gelesen werden, was jedoch in der gegenwärtigen Sozialisationsforschung oft noch nicht wirklich wahrgenommen worden ist (siehe dazu Geulen 2000: 187, Dausien 2002b: 102). Aus der biographischen Perspektive betrachtet entfaltet sich das biographische Subjekt vielmehr im Prozess einer »biographischen Sozialisation« (Hoerning 2000). Demzufolge handeln Individuen mit unterschiedlichen interpretativen Kompetenzen in einem (Interaktions-)Prozess ihre jeweiligen Identitäten und biographischen Perspektiven aus (Hoerning 2000: 7). Dies bedeutet, dass der biographische Sozialisationsprozess zu keinem Zeitpunkt abgeschlossen ist, sondern im Rahmen einer lebenslangen Sozialisation verstanden werden muss. Diese Perspektive erkennt, dass sich die Entwicklung und Entfaltung der Biographie nicht nur als Lebenslauf durch zentrale Instanzen der Sozialisation prozessiert (Familie, Schule, Peers, Beruf, Betrieb, Massenmedien und andere) und sich dabei Kognition, Sprache, Emotionen, kulturelle Identität, Moral und anderes entwickeln (vgl. Hurrelmann/Ulich 1991), sondern dass die Entwicklungsabfolgen im Lebenslauf individuelle Entscheidungen beinhalten, in denen Erfah-
12 Für die klassischen und aktuellen Ansätze der Identitätsforschung siehe zum Beispiel Keupp/Höfer (Hg.) (1997).
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rungen gedeutet, eingeordnet oder verworfen werden.13 Bettina Dausien spricht in diesem Zusammenhang von Biographien als »generative[n] Strukturen« (2004: 37): »Die im Laufe einer Lebensgeschichte individuell und kollektiv angeeigneten, verarbeiteten und umgearbeiteteten Erfahrungen produzieren immer wieder neue Handlungsentwürfe und Deutungen, sie erzeugen gleichsam komplexe Disponiertheiten. Diese verhärten im Laufe der Zeit zu festeren Strukturen, die allerdings nicht notwendig im individualpsychologischen Sinn als Persönlichkeitsstrukturen ›im‹ Individuum gedacht werden müssen, sondern – etwa in Anlehnung an das Bourdieuތsche Habitus-Modell – als SubjektKontext-Relationen konzipiert werden können, als Erfahrungsstrukturen des Subjekts, die sich in je spezifischen sozialen Räumen herausbilden und in Relation zu diesen Kontexten die Grenzen individueller Handlungsmöglichkeiten festlegen. Diese Grenzen sind jedoch nicht starr und determinierend. Sie legen Möglichkeitsräume für biographische Prozesse fest.« (Dausien 2004: 37f.).
Obwohl die biographische Perspektive die Konstitution und Konstruktion von Subjektivität als eine dialektische Beziehung von Individuum und Gesellschaft betrachtet, wirft Jens Zinn der Biographieforschung vor, dass dort »das autonome Subjektmodell als Bewertungsmaßstab Bezugspunkt bleibt« (in Apitzsch/Fischer/Koller/Zinn 2006: 57). Demzufolge werden Mehrdeutigkeiten und Uneindeutigkeiten der biographischen Erzählungen als belastend und die Handlungsfähigkeit einschränkend bewertet, während Eindeutigkeit und Kohärenz als positiv und Handlung ermöglichend angesehen werden. Diese Perspektive verengt sich Zinn zufolge auf gelungene oder misslungene Bewältigung von Uneindeutigkeitserfahrungen und Widersprüchlichkeiten statt »die unterschiedlichen Formen der Herstellung ›biographischer Deutungen/Handlungen‹ herauszuarbeiten, ohne bereits zuvor ein bestimmtes Richtigkeitsmuster vorzugeben« (Zinn in
13 Erika Hoerning (2000: 8) sieht Biographie als eine Sozialisationsinstanz an, die in Übereinstimmung oder Konkurrenz zu strukturellen Sozialisationsinstanzen stehen kann. Bettina Dausien (2002a: 82) geht in ihren Überlegungen noch einen Schritt weiter und weist darauf hin, dass das Biographiekonzept und die rekonstruktive Biographieforschung Lösungen bzw. Korrekturen zu einigen zentralen Problemen im Sozialisationsmodell anbieten können. Dausien nennt vier Probleme des Sozialisationsparadigmas: 1. Theoriedefizit, 2. Bruch zwischen Theorieentwicklung und empirischer Forschung, 3. Konzipierung der Kategorie »Individuum« und 4. Konzipierung der Kategorie »Gesellschaft«. Zur weiteren Kritik der Sozialisationsforschung siehe u.a. Bilden (1991), Dausien (1999), Geulen (2004) und Kelle (2006).
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a.a.O.: 58). Demzufolge erscheint »ein sich an unterschiedliche Handlungskontexte anpassendes biographisches Handlungsmuster unter einfach moderner Perspektive autonomer Subjektivität eher defizitär« (Zinn 2006: 58). Die hier von Zins geäußerte Kritik zielt darauf ab, dass Biographie als soziales Konstrukt mit bestimmten Normalitätsvorstellungen verbunden ist. Als eine analytische Korrektur schlägt er vor, dass grundlegende Annahmen des Subjektmodells sowie die eigene Beobachtungsperspektive reflektiert werden müssen (mehr dazu Kapitel 6.3-6.5). Der hier von Zins geführten Kritik hinsichtlich des Fehlens der postmodernen, dekonstruktivistischen und poststrukturalistischen Kritik im Sinne der Reflexion der Voraussetzungen der Wissensproduktion ist meiner Meinung nach nur teilweise zuzustimmen. Denn es sind zum Beispiel im Bereich der biographischen Migrationsforschung sowie der konstruktivistisch orientierten Biographieforschung einige Studien veröffentlicht worden, die diese Problematik betrachten (mehr dazu im Kapitel 5.3). Außerdem werden unter der gesellschaftlichen Differenzierung, die sich zum Beispiel durch zunehmende Migrationsbewegungen und transnationale Strukturierung von Gesellschaften vollzieht, gerade die bestehenden Normalitätsannahmen und Grundlagen der Wissensproduktion sichtbar. Sie stellen Fragen nach der Legitimation dieser Normalitätsordnungen und haben auf den Bedarf einer theoretischen sowie methodischen Differenzierung aufmerksam gemacht.
5.2.
D IFFERENZEN ALS BIOGRAPHISCHE K ONSTRUKTIONEN
Der Blick auf Differenzen als biographische Konstruktionen stellt einen Versuch dar, die Differenzen mit dem biographischen Ansatz zu vereinbaren. In ihren Arbeiten zu Biographie und Geschlecht weist Bettina Dausien seit den 1990er Jahren darauf hin, dass sich das »Deutungsmuster Biographie« und auch die allgemeine Entwicklung biographischer Methoden sowohl explizit als auch implizit am Modell der »Normalbiographie« eines männlichen bürgerlichen Individuums orientiert haben (vgl. Dausien 1994: 129f., 136, Dausien 1992). Dausien kritisiert das Konzept der »Normalbiographie« als eine normative, vergeschlechtlichte Konstruktion, die den arbeitenden Mann als Maßstab ansieht. Dagegen plädiert sie für die Entwicklung einer Theorie der weiblichen Biographiekonstruktion, die die Lebensmerkmale von Frauen, wie zum Beispiel die doppelte Vergesellschaftung (Becker-Schmidt 1985), Diskontinuitäten und Brüche des Lebens,
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Beziehungsorientierung und soziale Vernetzung berücksichtigt.14 Dadurch könne dann auch eine kritische Reflexion der Begriffe Autonomie und Individualität stattfinden (Dausien 1994: 137). In ihrer späteren Schrift weist Dausien, an die De/Konstruktionsdebatten anknüpfend, darauf hin, dass die empirische Beschäftigung mit Lebensgeschichten trotz der registrierten Unterschiede »keine trennscharfen Unterscheidungskriterien« zwischen »weiblichen« und »männlichen« Biographien« lieferte, vielmehr waren die »Differenzen zwischen Frauen« sowie andere Differenzkreuzungen als Teile der Erfahrungskonstitution und -konstruktion in Erscheinung getreten. »Es zeigte sich vielmehr, dass Biographien zugleich durch eine Reihe anderer gesellschaftlicher Differenz- und Ungleichheitskonstruktionen strukturiert werden: durch die Zugehörigkeit zu einem sozialen und kulturellen Milieu und die Ausbildung eines spezifischen Klassenhabitus; durch Erfahrungsmuster, die sich vor dem Hintergrund familiärer Migrationsprozesse ausbilden; durch historische Umbrüche, die Generationenzusammenhänge stiften; durch Gemeinschaften aufgrund sexueller oder religiöser Orientierungen, kultureller Praxen usw.« (Dausien 2004: 30)
Somit verabschiedet Dausien sich hier von einer differenztheoretischen Betrachtung bezüglich des Geschlechts15 als Primärkategorie und rückt die Vielfalt von Differenzen als Teil der Subjektkonstitution und -konstruktion ins Zentrum der Betrachtung. Jedoch bedeutet dies nicht, dass das Geschlecht als Differenz und gesellschaftliche Strukturkategorie aus dem Blickfeld verschwindet, vielmehr legt Dausien hier den Schwerpunkt auf den Zusammenhang der komplexen Gewebe verschiedener Konstruktionsprozesse, die das Geschlecht hervorbringen. »Wenn Biographien […] mit je konkreten sozialen und kulturellen Kontexten oder Handlungsumwelten verwoben sind, wenn biographische Strukturen Aneignungs- und Kon-
14 Mary M. Gergen und Kenneth J. Gergen sehen Narrationen als vergeschlechtlichte Äußerungen an: »[N]arratives are gendered, furnishing different structures of meaning for men as opposed to women, so do they contribute to cultural patterns that differentiate between the genders and prescribe both what is likely and unlikely during a lifetime« (Gergen/Gergen 1993: 193). 15 Bettina Dausien weist darauf hin, dass Geschlecht als ein allgemeines gesellschaftliches Strukturierungsprinzip und »fraglos akzeptiertes« kulturelles Muster sich gerade deshalb etabliert hat, da es »in individuelle Biographien ›eingebaut‹ wird, zum Eigenen gemacht und im je konkreten Fall eigensinnig gelebt wird – aber auch erzählt, bedacht und verändert werden kann« (2004: 41).
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struktionsprozesse von Selbst und Welt meinen (vgl. ausführlicher Dausien 2002), dann ist die gesellschaftliche Differenzkonstruktion ›Geschlecht‹ auf vielfältige Weise in dieses Gewebe verstrickt – und zwar auf all die denkbaren Weisen, die unter dem Stichwort der Konstruktion von Geschlecht diskutiert werden: als interaktives Handeln, als leibliches Erleben, als Deutungsmuster, als symbolische und materielle bzw. materialisierte Struktur, als Machtverhältnis. Geschlecht wird in Biographien eingewoben, und im gleichen Prozess, in dem Subjekte individuell und kollektiv ihre Biographien konstruieren, (re-) produzieren und verändern sie auch die Geschlechterkonstruktionen ihrer Handlungsumwelten.« (Dausien 2004: 39)
Nach Dausien (a.a.O.: 38) lautet die entscheidende Frage also nicht mehr, wie »weibliche« oder »männliche« Biographien verlaufen, sondern wie geschlechtsbezogene Erfahrungen und Deutungen in die jeweilige biographische Erfahrungsstruktur eingebaut werden und wie sich das Subjekt selbst dazu reflexiv in Beziehung setzt. Dies ermöglicht Einblicke darauf, wie »Geschlechterverhältnisse im biographischen Format aufgegriffen, reproduziert, variiert und transformiert werden« (Dausien 1996: 37). An Dausiens Überlegungen anknüpfend gehe ich davon aus, dass eine rekonstruktive biographische Perspektive auf Differenzen als biographische Konstruktionen nicht nur Einsichten über Differenzen als strukturierende Dimension verspricht. Vielmehr erlaubt sie, zu untersuchen, welche Differenzkonstruktionen biographisch relevant sind, und wie Subjekte selbst an der Reproduktion und Transformation dieser Differenzen beteiligt sind. Diese Perspektive hebt den vorher diskutierten konstruktivistischen Charakter der Differenzen hervor, weist aber gleichzeitig auf den Struktur bildenden Aspekt sozialer Konstruktionsprozesse hin »im Hinblick auf die Formation gesellschaftlicher und kultureller Strukturen und im Hinblick auf die sozialen, psychischen und somatischen Strukturen der Individuen« (Dausien 2006: 17). Thomas Schäfer und Bettina Völter (2005: 178) betonen jedoch in Anlehnung an Michel Foucault, dass das menschliche Handeln nicht nur von psychischen Mechanismen und institutionellen Anforderungen hervorgebracht wird, sondern auch von Diskursen. Durch den Bezug auf die Diskurstheorie stellen beide Autoren in ihrem gemeinsamen Artikel »Subjekt-Positionen. Michel Foucault und die Biographieforschung« (a.a.O.) eine Verknüpfung zwischen Biographieforschung und Diskursanalyse her.16 Da-
16 Siehe dazu auch Encarnación Gutiérrez Rodríguez (1999a), die in ihrer Studie zu intellektuellen Migrantinnen Elemente der Diskursanalyse eingebaut hat, ohne streng diskursanalytisch zu arbeiten, und somit von einer »diskursorientierten Analyse« (a.a.O.: 94) spricht.
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bei betonen sie die produktive und implizite Definitions-, Steuerungs- und Kontrollmacht der Diskurse. Sie wirken in »Handlungs- und Deutungsmustern als Generatoren und Stabilisatoren von Alltagshandeln und Selbstbildern« sowie »als Teil des sich über den Lebensverlauf aufbauenden »biographischen Hintergrundwissen[s]« (Alheit 1993: 398)« (Schäfer/Völter 2005: 178f.). Inwieweit sich diskursive Elemente in Biographien niederschlagen, ist eine empirische Frage, die sich zum Beispiel durch Bedeutung von Diskursen für die Handlungsorientierung sowie für die biographische Selbstpräsentation untersuchen lässt (a.a.O.: 181). Für die vorliegende Untersuchung der biographischen Konstruktionen von Differenzen und Subjektkonstruktionen erscheint mir die Betrachtung der diskursiven Elemente als Teil der biographischen Selbstpräsentation eine produktive Erweiterung darzustellen. An der Stelle möchte ich sie jedoch als einen produktiven theoretischen Denkanstoß betrachten und gehe dann später, im Zusammenhang mit der Biographieanalyse, auf die Betrachtung des Diskursiven ein. Nachdem ich hier den biographietheoretischen Ansatz aus einer Perspektive darstellte, die sowohl die Dimensionen des Phänomenologischen als auch des Konstruktivistischen betrachtet und schließlich diese mit den im vorherigen Kapitel eingeführten Gedanken zur Herstellung von Differenzen zusammenbringt, möchte ich im Folgenden einige für die vorliegende Studie zentrale biographietheoretische Konzeptualisierungen von Migration und Subjektkonstruktion erörtern.
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5.3.
B IOGRAPHISCHE K ONZEPTUALISIERUNGEN VON M IGRATION »Auch die Migration ist eine Wanderung. Die MigrantInnen wandern in neue soziale und kulturelle Landschaften. Migration bedeutet Verlassen gewohnter Lebensformen. Der radikale Wechsel in eine neue soziale, kulturelle und gesellschaftliche Umwelt trägt damit zur Verunsicherung der beteiligten Individuen bei. Indem kulturelle Selbstverständlichkeiten und kollektive Sicherheit verlassen werden, eröffnen sich aber auch Wege der Subjektwerdung. Normative Handlungsmuster werden in Frage gestellt und neue Lebensformen kennengelernt. Aus dieser Perspektive lässt sich die Migration verstehen als Herausforderung und Chance zur persönlichen Entwicklung und innovativen Gestaltung von Lebenswelten.« (Steinhilber 1994: 14)
In der Untersuchung von Migrationsphänomenen in der Bundesrepublik Deutschland werden Biographien und die biographischen Methoden seit den 1980er Jahre angewandt. Während Ursula Apitzsch noch 1990 beklagen musste, dass viele Studien den Bezug zu den biographischen Methoden einnahmen, ohne dabei den aufwändigen biographieanalytischen Methoden zu folgen, kann nun, 18 Jahre später, festgestellt werden, dass sich ein vielfältiger Bereich der biographischen Migrationsforschung etabliert hat.17 Mittlerweile zeichnet sich sogar eine Tendenz ab, verschiedene theoretische Ansätze mit der biographischen Perspektive zu verknüpfen und dadurch neue Perspektiven zur Interpretation von Migrationsbiographien zu finden.18 Die biographische Migrationsforschung stellt eine Erweiterung zur Untersuchung von Migrationsprozessen dar. Die allgemeine Migrationsforschung geht generell davon aus, dass Migration eine nationalstaatliche, Grenzen überschreitende Wanderungsbewegung von einem Nationalstaat in einen anderen darstellt und für die auswandernde Person einen sozio-kulturellen sowie persönlichen
17 Siehe u.a. Arbeiten von Apitzsch 1990, 2003, Breckner 2005, Juhasz/Mey 2003, Lutz 1990, 2007, Inowlocki 2000b, 2006 und Kontos 2003, 2004. 18 Siehe dazu zum Beispiel Gutiérrez Rodríguez 1999 und Völter et al. (Hg.) 2005.
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Veränderungsprozess im Sinne der Integration und Assimilation auslöst.19 Biographische Migrationsforschung dagegen zielt auf eine differenziertere Betrachtung der eventuellen Veränderungsprozesse ab. Dadurch dass in der biographischen Migrationsforschung die subjektiven Deutungen und Bewältigungsstrategien der Migrationsprozesse aus einer gesamtbiographischen Perspektive im Vordergrund stehen, wird die Migration nicht von vorneherein als ein dramatisches Ereignis, das zwangsläufig einen individuellen Veränderungsprozess auslöst, gedeutet. Vielmehr kann Migration im Zusammenhang mit anderen Transformationsprozessen, wie zum Beispiel dem der Adoleszenz, stehen und damit eine »verdoppelte Transformationsanforderung« (King/Koller 2006: 18) für die MigrantInnen darstellen. Entscheidend für die Gestaltung des Migrationsprozesses ist deshalb der Zusammenhang mit anderen lebensgeschichtlichen Phasen und Ereignissen.20 Die differenzierte Betrachtung von subjektiven Veränderungsprozessen im Kontext von Migration wurde insbesondere im Zusammenhang von Frauenmigration diskutiert. In ihrer Studie zu jugoslawischen Migrantinnen stellt Mirjana Morokvasic (1987: 226) fest, dass die Veränderungsprozesse nicht erst in der Migration, sondern schon vor der Migration angefangen hatten. Daraus schlussfolgert Morokvasic, dass die Veränderungen, die in der Migration stattfinden, »auch eher als Fortführung eines Trends gesehen werden, der vor der Emigration begann, und als Folge der Interaktion zwischen Migrations- und Hintergrundeinflüssen, jedenfalls nicht als Phänomen, das allein dem Einfluss der neuen Umgebung zuzuschreiben ist« (Morokvasic 1987: 226).
Auch Ursula Apitzsch kommt in ihrer Untersuchung über italienische Migration nach Deutschland zu dem Schluss, dass »Emigration […] in jedem Falle eine mehr oder minder bewusste konflikthafte Auseinandersetzung mit den Normen einer Lebenswelt, die längst vor Beginn der Migration nicht mehr fraglos hingenommen wurde« (Apitzsch 1990: 142), ist. Diese grundlegenden Entdeckungen steuern gegen die Traditions-Modernitätsperspektive auf Migrationen, die zum Zeitpunkt dieser Untersuchungen noch herrschend war und voraussetzte, dass Einwanderinnen aus traditionellen Kulturkreisen stammen und erst im Kontext der Einwanderungsgesellschaft den Modernisierungs- und Emanzipationsprozes-
19 Siehe dazu stellvertretend zum Beispiel Esser 1980. 20 Siehe dazu zum Beispiel Apitzsch 1990: 116-117, Breckner 2003, 2005, Herzberg/Igersky 2000 sowie Ricker 2000: 335.
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sen ausgesetzt sind.21 Apitzsch kritisiert die Annahme einer Modernitätsdifferenz und plädiert in ihrem Artikel »Migrationsforschung und Frauenforschung« (1994) für eine differenziertere Betrachtungsweise, die auch die soziale Lage und die Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse von Frauen/Migrantinnen in den Herkunftsländern vor der Auswanderung in Betracht zieht. In den biographieanalytischen Untersuchungen von migrationsspezifischen Veränderungs- bzw. Transformationsprozessen wird häufig an die Theorie der Prozessstrukturen des Lebenslaufes von Fritz Schütze angeknüpft. Apitzsch u.a. plädiert dafür, »Migrationsverläufe als Prozessstrukturen des Lebenslaufs zu begreifen und typische Bewältigungsstrategien von Subjekten zur je individuellen Bewältigung dieser Situation herauszuarbeiten« (Apitzsch 1990: 90). Dies ermöglicht, subjektive Veränderungs- bzw. Transformationsprozesse in der Dynamik der biographischen Verlaufskurven und Wandlungsprozesse zu betrachten.22 In ihrer Arbeit legt Apitzsch insbesondere Wert auf die Marginalität inhärenter Kreativitätspotentiale, obwohl Fritz Schütze und Gerhard Riemann davor
21 Der Akkulturationsbegriff geht davon aus, »dass sich Migranten und Migrantinnen im wesentlichen als Angehörige bestimmter Herkunftskulturen verstehen, dass Kulturen des weiteren als ursprünglich monolitisch und getrennt sich gegenüberstehend verstanden werden« (Apitzsch 1994a: 241). Somit wird die Migration mit Integrationsschwierigkeiten in der Aufnahmegesellschaft gleichgesetzt und mit einem »Kulturschock« in Verbindung gebracht. 22 Dorothy Smith thematisiert in ihrem Buch »The Everyday World as Problematic. A Feminist Sociology« den Zusammenhang von Strukturen, Handeln und Geschlecht: »Characteristically for women (as also for others in the society similarly excluded) the organisation of daily experience, the work routines, and the structuring of our lives through time have been and to a very large extent still are determined and ordered by process external to, and beyond, our everyday world. I think I would be by no means alone in seeing my past not so much a career as a series of contingencies, of accidents, so that I sum to have become who I am almost by chance. The experience of marriage, of immigration closely following marriage, of the arrival of children, of the departure of a husband rather early one morning, of the jobs that became available – all these were moments in which I had in fact little choice and certainly little fore-knowledge. I had little opportunity of calculating rationally what it means to have a child, what it means to leave your own country and live among strangers, what it means to be married, and how each of these experiences would be a major transformation. When I read these some qualities and the surprises in store for the subject about whom she may become. I do not find them in the same way in the autobiographies of men« (Smith 1988: 65f.).
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gewarnt haben, sich allzu sehr von ihnen faszinieren zu lassen (nach Apitzsch 2000a: 76, auch Apitzsch 2000b). Apitzsch (2000a: 76) dagegen sieht die biographieanalytische Rekonstruktion von tiefliegenden Handlungsdispositionen und Ressourcen gerade als eine Möglichkeit, gegen einen defizitären Diskurs über MigrantInnen zu wirken. Insofern betrachtet Apitzsch die Biographieforschung im Zusammenhang mit der Migrationsforschung nicht nur als eine theoretische und methodische Herangehensweise, sondern auch als eine »Gegenstrategie« zu »kurzschlüssigen kulturalistischen Deutungen scheinbar unverständlicher Entscheidungen der Biographieträgerinnen, wobei diese kulturalistischen Deutungen sowohl Vorurteile bezüglich der traditionellen Rolle von Frauen als auch die Zurechnung zu imaginierten kulturellen Entitäten reproduzieren« (a.a.O.).
Deshalb reicht es nicht aus, biographische Ereignisse aus der Perspektive des Leidens zu betrachten (Verlaufskurve), sondern es muss genauso die Frage gestellt werden, auf welche Ressourcen MigrantInnen zurückgreifen, wenn sie drohende oder akute Verlaufskurven zu überwinden versuchen. Dabei gilt es, die Aufmerksamkeit auf das Aufspüren des Erhaltens der Handlungsfähigkeit sowie auf die Auflösung von Transformationsprozessen im Sinne von biographischen Wandlungsprozessen zu richten.23 Aus dieser Perspektive rückt Migration als ein Transformationsprozess im Sinne eines Umwandlungs- und Neubildungsprozesses in den Mittelpunkt der Untersuchung und ermöglicht, die Migrationsbiographien als »Modell der gesellschaftlichen Transformation« (Apitzsch 1993a/b, 1994b) zu betrachten. Es kann festgestellt werden, dass je nachdem, ob nun ein individueller Veränderungs- bzw. Transformationsprozess in der Migration stattfindet oder nicht und wo und wann dieser dann ansetzt, davon ausgegangen werden kann, dass die Migrationssituation einen »spezifischen biographischen Erfahrungszusammenhang konstituiert« (Breckner 2003: 237). Der Erfahrungszusammenhang »Migration« unterscheidet sich von anderen Erfahrungszusammenhängen dadurch, dass er ihnen gegenüber »quer« (a.a.O., Hervorh. i.O.) liegt. Damit weist Breckner darauf hin, dass es im Normallebenslauf noch in gesellschaftlich präskribierten biographischen Sinnkonstruktionen keine institutionalisierten Übergänge oder eine bestimmte Zeit bzw. Phase für die Migration gibt (Breckner 2003: 238, Hervorh. i.O.). Demzufolge steht Migration in einem merkwürdigen Verhältnis
23 Siehe Riemann/Schütze zur Verlaufskurve (1991) und kritische Beiträge dazu von Apitzsch (1996, 2000a/b).
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zu den mehr oder weniger explizierten und implizierten Erwartungen an Normallebensläufe innerhalb eines Nationalstaates.24 Dadurch stellen Migrationslebensläufe eine Abweichung dar und behalten, Roswitha Breckner (a.a.O.) zufolge, ein strukturelles biographisches Risikopotential, mit dem alle MigrantInnen in unterschiedlicher Art und Weise konfrontiert sind. Mit dem strukturellen biographischen Risikopotential sind jedoch nicht die eventuellen, mit der Migration einhergehenden Umwandlungsprozesse der biographisch aufgebauten Wissensbestände und Orientierung gemeint. Vielmehr hebt Breckner (a.a.O.) die »migrationsspezifischen«25 strukturellen Bedingungen hervor, unter denen die Umwandlungsprozesse und biographischen Restrukturierungen stattfinden müssen. Hier ist von zentraler Bedeutung, dass MigrantInnen mit solchen lebenslaufbezogenen Normalitätserwartungen26 konfrontiert sind, die auf einer dauerhaften Residenz der Gesellschaftsmitglieder basieren. Die lebenslaufbezogenen Normalitätserwartungen setzen eine lineare lebensgeschichtliche Entwicklung in einer nationalen Gesellschaft voraus, was zwangsläufig dazu führt, dass Migrationsbiographien defizitär gedeutet werden. Im Hinblick auf die Fragmentierung und Erosion der Normalbiographien könnte man nun aber auch behaupten, dass die Migrationsbiographien als Pionierbiographien im Zeitalter der Globalisierung erscheinen, da sie häufig durch Fragmentierung, Flexibilität und Unsicherheit gekennzeichnet sind, die als Kennzeichen der postmodernen und globalisierten Biographien im Sinne »des flexiblen Menschen« (Sennett 2000) angesehen werden. Neben der Erfassung von individuellen Transformationsprozessen wird der Forschungsansatz, der Migrationsphänomene und Subjektkonstitution und -konstruktion aus der Außen- und Innenperspektive betrachtet, durch die biographietheoretische Perspektive differenziert und erweitert. Während die allgemeine Migrationsforschung traditionell ihre Fragen aus der Sicht des Aufnahmelandes, also aus der »Außenperspektive« stellte, vollzog sich
24 Das Vorhandensein von Lebensgeschichten in Form einer Biographie kann aber auch als ein gesellschaftliches Regulationsinstrument im Sinne der »Institutionalisierung des Lebenslaufes« (Kohli 1985) angesehen werden und stellt damit weiterhin eine normative Vorstellung der institutionellen Erwartungen dar. 25 Hervorh. i.O. 26 Nun kann in Bezug auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre wie der zunehmenden Unsicherheit des Lebens, der hohen Arbeitslosigkeit, des Sozialabbaus usw. behauptet werden, dass das Konzept der »Normalbiographie« seine Bezeichnungskraft sowohl in Bezug auf die Lebensläufe von Frauen als auch auf die von Männern zunehmend verloren hat.
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hier allmählich eine Verschiebung hin zur »Innenperspektive«. Es wurden also die soziale Welt und die Erfahrungen der MigrantInnen nun im Bereich der biographischen Migrationsforschung in den Mittelpunkt gestellt (vgl. Lutz 1998: 38). Nevâl Gültekin (2003) billigt den Blickrichtungswechsel als eine historisch notwendige Entwicklung einerseits, kritisiert jedoch andererseits die dichotome Betrachtungsweise, die jeweils entweder die »Außenperspektive« oder die »Innenperspektive« berücksichtigt und diese somit als entgegengesetzte Betrachtungsweisen behandelt. Dagegen entwirft Gültekin in ihrer empirischen Arbeit zu biographischen Prozessen junger Frauen aus der Türkei eine empirisch begründete Theorie der Doppelperspektivität, die es ermöglicht, beide Perspektiven zu verbinden. Gültekin nimmt dabei an »dass aufgrund der eingeforderten, nicht nur räumlichen sondern auch zeitlichen, emotionalen und intellektuellen Beweglichkeit der AkteurInnen des Migrationsphänomens jeder Migrationsgeschichte eine Doppelperspektivität innewohnt. Dies schließt die sogenannte Binnenperspektive, die Perspektive der ImmigrantInnen und die sogenannte Außenperspektive, die Perspektive der Einwanderungsgesellschaft mit ein« (Gültekin 2003: 163f).
Die Doppelperspektivität ist somit nicht nur als eine wissenschaftliche Analyseperspektive zu verstehen, sondern auch als eine biographische Fähigkeit, die es den MigrantInnen selbst ermöglicht, ihr Leben aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und zu evaluieren. Gültekin sieht dies als eine »Kompetenz« an, die »geistige und emotionale Beweglichkeit erfordert und zugleich fördert« (Gültekin 2003: 215). Die Doppelperspektivität fungiert als »Ressource« (a.a.O.: 216), die es in Krisensituationen ermöglicht, Konflikte in kreativer Art und Weise zu überwinden. Mit der Einführung der Doppelperspektivität in Bezug auf die zweite Generation distanziert sich Gültekin von dualistischen Konzepten, die eine »Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen« oder »Entwurzelung« suggerieren (a.a.O.: 219). Vielmehr weist ihre Theoretisierung auf die vorher diskutierte Dimension der Hybridisierung der Subjektivierung und der Zugehörigkeit hin. Zu ähnlichen Resultaten kommt auch Paul Mecheril in seiner Studie über natioentho-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit (2003a). Statt von gängigen Bezeichnungen wie von einer »ethnischen« oder »kulturellen« Zugehörigkeit zu sprechen, führt Mecheril das komplexe und mehrdimensionale Konzept der natioethno-kulturellen Zugehörigkeit ein. Er sieht natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsverständnisse als Resultate von politischen, interaktiven und semantischen Ordnungen. Dabei unterscheidet er drei verschiedene Dimensionen, die für die Konstitution fragloser natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit ausschlaggebend sind: symbolische Mitgliedschaft, habituelle Wirksamkeit und biographische
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Verbundenheit (Mecheril 2003a). Bei den hybriden Anderen, die vom Idealtyp natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit abweichen, bleibt dagegen ihre Zugehörigkeitsordnung uneindeutig: »Hybride Andere sind im Prinzip Unentscheidbare, mehrfachzugehörige, mindestens zweifache Mitglieder, doppelt wirksam und doppelt verbunden, mindestens zweifache Nicht-Mitglieder, doppelt nicht-wirksam und doppelt unverbunden« (Mecheril 2003b:21).
Dieser »ambivalent synthetisierte Zugehörigkeitsstatus« (a.a.O.) hybrider Anderer irritiert und bedroht, weil er das natio-ethno-kulturelle Ordnungssystem in Frage stellt. Gleichzeitig hebt er hervor, dass plurale Identität oder Identität als Differenz einen »Normalfall« in einer globalisierten und postkolonialen Welt darstellen kann. Jedoch stellt diese nach Mecheril (a.a.O.: 23f.) keine fraglose, sondern eine prekäre Mehrfachzugehörigkeit dar, die aus einer verweigerten Anerkennung in einem natio-ethno-kulturellen Raum27 resultiert. An die Bedeutung des sozialen Raumes in der Formation von Zugehörigkeit knüpfen auch die Studien von Ingeborg Philipper und Rosa Jiménez Laux an. In ihrer Studie zu biographischen Dimensionen der Migration bearbeitet Philipper (1997) Lebensgeschichten von Italienerinnen der ersten Generation und hebt dabei u.a. die Dimensionen des Raumes und der Zeit hervor. Philipper distanziert sich dabei von den Gedanken, wonach es in den biographischen Verläufen um Raum- und Zeitveränderungen geht. Dagegen weist Philipper darauf hin, dass die biographischen Raum-/Zeit-Beziehungen in den Migrationsbiographien durch Überlagerungen und Kontinuitäten gekennzeichnet sind und weniger durch Brüche. Philipper konstatiert: »Es geht in diesen Lebensgeschichten nicht um fortwährende Übergangsituationen, sondern um Lebenssituationen besonders komplexer Art. Das ›Heute‹ wird ständig mit dem ›Früher‹ verbunden, und gerade hierin entsteht etwas Neues« (a.a.O.: 337).
Das Neue entsteht aus dem zugeschriebenen »Dort« und »Hier« als etwas Drittes, das Ausdruck des Zusammenwirkens unterschiedlicher Erfahrungen ist und sich als Ergebnis persönlicher wie kollektiver Mobilität darstellt (a.a.O.: 338).
27 In Anlehnung an Benedict Andersons Auffassung von Nationen als »imagined communities« definiert Mecheril (2003b: 18ff.) natio-ethno-kulturelle Kontexte als imaginierte Räume mit territorialer Referenz. Demzufolge sind sie also »faktisch-imaginäre Räume« (a.a.O.: 20), in denen Individuen ein handlungsrelevantes Verständnis von sich selbst erlernen und praktizieren.
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In ihrer Studie zu biographischen Erfahrungen und Zukunftsperspektiven älterer spanischer Migrantinnen in Deutschland unterstreicht Rosa Jiménez Laux (2000) die Bedeutung des sozialen Raumes als eine strukturierende Bedingung in der Entwicklung von biographischen Prozessstrukturen und Zukunftswünschen und perspektiven. Demzufolge schaffen der soziale Raum und die Milieus, in denen sich Migrantinnen vor und in der Migration bewegt haben, Voraussetzungen dafür, wie die biographischen Prozessstrukturen sich entwickeln, oder wie sie verändert oder verhindert werden können (vgl. Jiménez Laux 2000: 162). Dabei ist die Dimension der Selbst- oder Fremdbestimmtheit ein zentraler Aspekt der »Biographizität«, also der Fähigkeit, die Anstöße von Außen brauchbar zu machen. In ihrer Untersuchung kommt Jiménez Laux (a.a.O.) zu dem Schluss, dass ein Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Selbst- und Fremdbestimmtheit der Zukunftsperspektiven der Migrantinnen und ihrer Zufriedenheit damit besteht. Die Zukunftswünsche mischten sich mit den tatsächlichen Zukunftsperspektiven, wobei alle Migrantinnen eine »dreigeteilte« oder »dreifache« Zukunftsperspektive hatten, die ein Leben ausschließlich in Deutschland, ein Leben ausschließlich in Spanien und ein Pendeln zwischen beiden Ländern beinhaltete. Alle diese Perspektiven waren in den Biographien vorhanden, obwohl eine Perspektive oft dominierte. Dieses Ergebnis weist meines Erachtens auf eine Konstitution und Konstruktion einer, in mehreren nationalen Kontexten verorteten, Zugehörigkeit hin. Auch Encarnación Gutíerrez Rodríguez (1999a) verknüpft in ihrer Studie zu intellektuellen Migrantinnen die Außen- und Innenperspektive miteinander, jedoch aus einer Perspektive, die es ihr ermöglicht, insbesondere gesellschaftliche Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozesse in Betracht zu ziehen. In ihrer postkolonialen dekonstruktiven Analyse von Biographien führt sie die Konzeption »Konstitution und Konstruktion« als Teilaspekte der Subjektivierungsprozesse ein. Demzufolge bezeichnet Konstruktion den strukturellen Bezeichnungsrahmen und die Konstitution dagegen die materielle und psychische Wirksamkeit der Konstruktion im Subjekt (a.a.O.: 96f.). Anhand der Biographieanalysen zeigt Gutíerrez Rodríguez auf, dass strukturelle Bedingungen im Sinne von diskursiven staatlichen Anrufungspraktiken unterschiedliche »materielle und einverleibte Wirksamkeit« haben und somit unterschiedliche Subjektivitäten hervorbringen. Sie kommt zu dem Schluss, dass intellektuelle Frauen im Kontext der Arbeitsmigration neue Formen von Selbstverständnis und Verortungsstrategien entwickeln, die sich nicht innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen bewegen, sondern diese überschreiten. Die hier nun kurz skizzierten biographischen Studien von Gültekin (2003), Mecheril (2003a), Philipper (1997), Jiménez Laux (2000) und Gutíerrez Ro-
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dríguez (1999a), an die ich meine eigene Untersuchung nun anknüpfen möchte, stellen migrantische Subjektmodelle dar, in denen sie, aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und durch Setzung verschiedener Schwerpunkte, den Zusammenhang von Biographie, Handeln, Struktur und Raum untersuchen. Dabei formulieren sie Subjektmodelle, die auf Mehrfachzugehörigkeiten basieren. Während all diese Studien die Dimension des Raumes als einen wichtigen Teil der Subjektkonstitution und -konstruktion anerkennen, bleiben die Raumtheoretisierungen selbst jedoch aus oder sind sehr vage. Raum wird zwar als eine Dimension genannt, die die Konstitution und Konstruktion von Zugehörigkeit beeinflusst, jedoch wird er selbst nicht in die Analyse und theoretischen Überlegungen einbezogen. An diesem Punkt möchte ich nun ansetzen und im nächsten Kapitel genauer auf die Erläuterung der in der vorliegenden Studie angewandten Raumkonzeption im Zusammenhang mit der Transnationalitätsperspektive und Biographieforschung eingehen.
5.4.
T RANSNATIONALE M IGRATIONSBIOGRAPHIEN : BIOGRAPHISCHE K ONSTRUKTIONEN VON TRANSNATIONALEN S OZIALRÄUMEN »A transnational approach shifts the emphasis from the question of whether international migrants ›lose‹ or ›retain‹ culture to how they experience ties, groups, and organizations in transnational social spaces, a trans-cultural mélange.« (Faist 2000a: 226)
Die zuvor skizzierten Gedanken zur Überwindung der getrennten Betrachtung von Innen- und Außenperspektive sowie die Überlegungen zur Konstitution und Konstruktion von Interkulturalität und Mehrfachzugehörigkeit lassen sich meines Erachtens theoretisch durch den Transnationalitätsansatz weiterführen. Er ermöglicht es, gerade Verknüpfungen und den unterschiedlichen Perspektiven, Zugehörigkeiten und Verortungsstrategien, die den Dualismus zwischen Innenund Außenperspektive aufheben, nachzugehen. Dadurch rücken die durch Migration sowie durch Globalisierung entstandenen, die nationalstaatlichen Grenzen und Deutungsrahmen überspannenden Verknüpfungen sowie die im Sinne von transnationalen faktischen sowie imaginierten Zugehörigkeiten und Handlungsräume ins Zentrum der Betrachtung.
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Das Verhältnis zwischen Lokalität und Globalität, die Entstehung von globalisierten Lebenswelten und Subjektpositionen ist seit den 1990er Jahren ein zentraler Diskussionsstrang der Kulturwissenschaften.28 Es geht dabei um die Thematisierung der Transnationalisierung jener Lebenswelten, die sich durch die Grenzen überschreitende Mobilität von Menschen, Waren und Imaginationen vollziehen29, und als deren Folge »transnationale Biographien« (Hannerz 1995: 81) und »transnationale Alltagskulturen« (Römhild 2004: 164) entstehen. In ähnlicher Weise thematisiert auch Ulrich Beck im Kontext der soziologischen Globalisierungsdebatten die Dynamik und den Einfluss der Globalisierung, die nach Beck nicht nur die MigrantInnen selbst, sondern ebenso die »Sesshaften« betreffen und zur »Globalisierung der Biographie« (Beck 1997: 129) führen. »Globalisierung der Biographie heißt: Die Gegensätze der Welt finden nicht nur dort draußen, sondern im Zentrum des eigenen Lebens, in multikulturellen Ehen und Familien, im Betrieb, im Freundeskreis, in der Schule, im Kino, beim Einkaufen an der Käsetheke, Musikhören, Abendbrotessen, Liebemachen usw. statt. Ohne dass dies gewusst oder gewollt würde, gilt mehr und mehr: Wir alle leben global.« (a.a.O.)
Das globalisierte Leben und die »Globalisierung der Biographie« setzt nicht zwingend physische geographische Mobilität des Subjektes voraus, vielmehr geht es um eine mentale Überschreitung von Grenzen getrennter Welten, wobei diese Welten an einem Ort durch Konsum, Information, interkulturelle Beziehungen, Migration usw. präsent sein können. Somit erfährt die Vorstellung von einem abgeschlossen Ort eine Modifizierung, die aus der Verknüpfung verschiedener Kontexte entsteht und »ortspolygame Lebensformen« (Beck 1997: 131) ermöglicht. Diese sind »übersetzte, übergesetzte Biographien, ÜbersetzungsBiographien, die für sich und andere fortwährend übersetzen müssen, damit sie als Dazwischen-Leben bestehen können« (Beck 1997: 131). Zunächst ist festzuhalten, dass die theoretische Konzeptualisierung von »Globalisierter Biographie« oder »Transnationaler Biographie« eine neue Sicht auf die Konstitution und Konstruktion von Biographien eröffnet. Sie suggeriert eine kulturelle Mischung als eine Normalität, unterstreicht die Überwindung von geographischer und mentaler Distanz durch neuartige Raum- und Zeitkonzeptionen und weist auf eine transnationale Vergesellschaftung hin. Der dadurch eröffnete neue transnationale Referenzrahmen bleibt jedoch vorerst wenig aussagekräftig und unterstellt einen herrschaftsfreien Raum, wenn der Bezug zu gesell-
28 Siehe dazu zum Beispiel Hannerz 1995 und Appadurai 1998. 29 Siehe dazu Hannerz 1995, 1996.
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schaftlichen Hierarchien und Machverhältnissen außer Acht gelassen wird. Helma Lutz und Susanne Schwalgin weisen darauf hin: »Nicht jede Imagination möglicher Lebensentwürfe ist beliebig umsetzbar. Vielmehr bleibt die Handlungsfähigkeit der einzelnen Subjekte durch an einem jeweils spezifischen Ort wirksame Regelungen, etwa von Einreise- oder Zulassungsbegrenzungen (institutionellen) Rassismen etc., sowie von individuellen und kollektiven Differenzfaktoren (Gender, Ethnizität, Klasse, Nationalität etc.) in multipler Weise begrenzt. Trotz aller Prozesse der Enträumlichung und Virtualisierung orientieren sich Subjekte weiterhin in einem Feld heteronomer Möglichkeitsräume, und Subjekte müssen sich immer noch in einer konkreten Umwelt verorten« (Lutz/Schwalgin 2006: 100).
Die Untersuchung von Lebensgeschichten und Biographien ermöglicht es somit, auf die Spuren multipler Verortungen, Positionierungen und Handlungen in »lokal-globalen Verflechtungen« (Hermann/Röttger-Rössler 2003: 2) zu gelangen.30 So verwendete zum Beispiel auch der Soziologe Ludger Pries in seinen Studien zu transnationalen Migrationen zwischen der USA und Mexico, Biographien als empirisches Material, jedoch werden diese vor allem als Grundlage zur Feststellung der transnationalen Migrationsprozesse sowie zur Herstellung transnationaler Netzwerke verwendet, ohne dabei biographietheoretische Überlegungen in Beziehung zur Transnationalität zu setzen. In der Bundesrepublik sind kürzlich Versuche unternommen worden, die Transnationalitätsansätze nicht nur mit der Migrations-, sondern auch mit der Biographieforschung methodisch und theoretisch zu verbinden. Die daraus entsprungene Debatte zu transnationalen Biographien möchte ich hier kurz aufgreifen (vgl. Apitzsch 2003a, 2006, Apitzsch/Siouti 2008, Lutz 2004, Lutz/Schwalgin 2006, Ruokonen-Engler 2005, Ruokonen-Engler/Siouti 2006). In ihrem Artikel »Migrationsbiographien als Orte transnationaler Räume« (2003) unternimmt Ursula Apitzsch einen theoretischen Versuch, Migrationsbiographien mit der Transnationalitätsperspektive zu verbinden. Sie kritisiert die gängige Forschung zu transkulturellen, transnationalen und transstaatlichen
30 Auch andere theoretische und methodische Zugänge sind denkbar. Es würde sich sicherlich lohnen, methodische Triangulation, im Sinne der Kombination verschiedener methodischer Verfahren, vorzunehmen. Die methodischen Innovationen von »multisited ethnography« und »global ethnography« zielen darauf ab, dass Feldforschung sowohl in den Zielländern als auch in den Herkunftsländern von Migrantengruppen geführt wird. Siehe dazu u.a. Ackermann 1997, Appadurai 1991, Glick Schiller et al. 1992, Mohr de Collado 2005 und Gille/Ó Riain 2002.
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Räumen, die die ethnischen Kolonien als Konkretisierung von transnationalen Räumen betrachten. Dagegen geht Apitzsch davon aus, dass transnationale Räume »unsichtbare Strukturen vielfach vernetzter staatlicher, rechtlicher und kultureller Übergänge [sind], an denen die Individuen sich biographisch orientieren und in die sie zugleich als Erfahrungskollektiv verstrickt sind« (a.a.O: 69). Demzufolge schlägt sie vor, Migrationsbiographie als eine Konkretisierung des transnationalen Raumes zu verstehen. Dieser kann in der Struktur der Migrationsbiographie, »die durch biographische Arbeit von den Migrationssubjekten zugleich hergestellt und immer wieder neu rekonstruiert wird« (Apitzsch 2003a: 65) rekonstruiert werden. Migrationsbiographien sind dementsprechend, konstatiert Apitzsch (a.a.O.), Orte, an denen die Strukturen und Auswirkungen räumlicher Trennungen und Grenzüberschreitungen sowie die psychosoziale Bewältigung miteinander in Interaktion treten und sich bezüglich der »aufgeschichteten Erfahrungsspuren von Grenzüberschreitungen« rekonstruieren lassen. Transnationale Räume sind für Individuen »transzendentale[n] Landkarten ihres Handelns im intersubjektiven Diskurs« und sind »für die Subjekte ständig real und wirksam« (a.a.O.). Apitzsch hebt außerdem hervor, dass »der transnationale Raum durch hegemoniale Verhältnisse überformt wird, und dass die GenderBeziehungen für den transnationalen Raum konstitutiv sind und auch ständig neu konstruiert werden« (a.a.O.). Die Verknüpfung zum Biographietheoretischen, i.e. die »Aufstapelung unterschiedlicher sozialer Räume im gleichen Flächenraum« (Pries 1997: 17), nimmt Apitzsch unter dem Begriff des biographischen Wissens vor. »Tatsächlich geht es meines Erachtens bei der Metapher der Überlagerung sozialer Räume um das Phänomen des jeweiligen unterschiedlichen biographischen Wissens interagierender Subjekte, das im Lebensverlauf einzelner Menschen sowie Gruppen von Menschen biographisch aufgeschichtet und symbolisiert ist. Es konstituiert aufgrund vergangener, fortwirkender und zukünftig notwendiger Trennungen und Grenzüberschreitungen unterschiedliche, sich teilweise überlappende soziale im Sinne von Orientierungskoordinaten des individuellen und des Gruppenhandelns. Dieses biographische Wissen bringt in die Konstitution sozialer Räume die Zeitachse ein, insofern aufgeschichtete Erfahrung die Vergangenheitsdimension, biographische Planung die antizipierte Zukunft präsentiert.« (Apitzsch 2003a: 68f.)
Somit schlussfolgert Apitzsch, dass Biographie als Ort transnationaler und transkultureller Räume »ein Schnittpunkt kollektiver Konstitution und individueller Konstruktion« (a.a.O.: 72) ist. Das kollektive und individuelle Wissen verdichtet sich in den biographischen Erfahrungsaufschichtungen, aus denen typische Mig-
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rationsverläufe und deren Spezifik, die strukturellen Hindernisse sowie Verlaufskurven und internationale Handlungsschemata herausgearbeitet werden können. Die von Ursula Apitzsch angestoßene Diskussion zur Verknüpfung von transnationalem Raum und Biographie innerhalb der biographischen Migrationsforschung wird u.a. von Helma Lutz und Susanne Schwalgin aufgegriffen (Lutz 2004, Lutz/Schwalgin 2006). Obwohl die Autorinnen Apitzsch im Großen und Ganzen zustimmen, schlagen sie im zweiten Schritt vor, dass Biographien als Artikulation und nicht als Ort des transnationalen Raumes zu verstehen sind. Denn durch die Anwendung der Metapher des Ortes sehen die Autorinnen die Gefahr, dass der Prozesscharakter und die zeitliche Dimensionierung von biographischem Handeln verlorengehen. »Das ›So-Geworden-Sein‹ ist ein Entwicklungsprozess, der das Verlassen von (geographischen) Orten und mentalen Orten als Ausdruck verschiedener Lebensphasen beinhaltet. Biographien sind Dokumente, in denen Selbst- und Fremdverortungen und die Verbindungen dazwischen zum Ausdruck gebracht werden.« (Lutz 2004: 212, Hervorh. i.O.)
Mit der Metapher der Artikulation will Lutz das Verhältnis von Subjekt und Diskurs beim Entstehen der Biographie betonen. Sie greift die Gedanken von Stuart Hall zur Artikulation auf und betont, dass die Artikulation nicht nur Ausdruck des Inneren ist, sondern auch die Trennung und Neu-Verbindung von Elementen generiert. Demzufolge ist Artikulation ein Produkt von Subjektivität, produziert sie aber auch gleichzeitig (vgl. Lutz 2004: 212). Aus dieser Perspektive schlägt Lutz vor, »transnationale Biographien« als Artikulationen zu definieren. Dabei sind »die in biographischen Erzählungen zum Ausdruck kommenden Fremd- und Selbstpositionierungen als Handlungs- und Leidensprozesse von Personen und Personengruppen zu verstehen und […] ebenfalls als narrative Produkte von Dis- und Reartikulationsprozessen zu begreifen […]. Biographien sind ebenfalls Artikulationen in dem Sinn erzählter Verhandlungen biographischer Erfahrungen […]« (Lutz 2004: 212).
Somit stellen Biographien als Artikulationen transnationaler Räume keinen Schließungszwang dar, sondern ermöglichen »auch antagonistische[n] Positionen und Praxen darin ihren Platz [zu] finden« (Lutz 2004: 215). Obwohl Ursula Apitzsch in ihrem späteren Artikel »Kulturelle Entbettung und gegenhegemoniale Netzwerke« (2006) Lutz zustimmt, Biographien als Artikulationen zu betrachten, fragt sie, wie aussagekräftig diese Perspektive in Bezug auf die Diskurse um
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den transnationalen Raum ist. Denn für Apitzsch ermöglicht der biographische Ansatz einen methodologischen Zugang zu den »unsichtbaren« objektiven Strukturen »transnationaler Migrationsräume« (Apitzsch 2006: 375). In diesem Sinne nimmt Apitzsch eine Spezifizierung des Ort-Begriffs vor und weist darauf hin, dass der Ort nicht im Sinne von Topos, sondern im Sinne von Topographie zu verstehen ist (a.a.O.). Denn das Aufspüren der objektiven Strukturen »transnationaler Migrationsräume« ist nach Apitzsch an die Re-Produktion und ReKonstruktion durch die Subjekte und Interpreten gebunden und kann deshalb als Topographie verstanden werden. Trotz der unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und Betrachtungsweisen stellen die hier dargestellten Positionen von Apitzsch sowie von Lutz und Schwalgin eine für die vorliegende Studie interessante Verknüpfung zwischen den Debatten zu Biographie und Transnationalität her. Sie stellen Brücken zur Konzeptualisierung von verschiedenen Migrationen aus der Transnationalitätsperspektive und wiederum zur Konzeptualisierung des Transnationalen aus der biographischen Perspektive dar. Während die Autorinnen daran interessiert sind, die genannte Verknüpfung herzustellen, bleibt jedoch die Konzeption des Raumes etwas vage. Dabei sehe ich die Verknüpfung mit der soziologischen Raumtheorie von Martina Löw (2001) als vielversprechend, da hierbei der Raum nicht als starrer Hintergrund der Handlungen, sondern in Wechselwirkung zwischen Handeln und Strukturen betrachtet wird. Dabei entsteht der Raum als »Verknüpfung der Elemente« (a.a.O.: 200), d.h. der Raum konstituiert sich in zwei verschiedenen Prozessen von Spacing und Syntheseleistung (a.a.O.: 158f.). Spacing bezeichnet die Platzierung von Gütern und Menschen, während Letztere durch die Syntheseleistung als Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse Räume konstituieren. Löw (a.a.O.: 159) weist darauf hin, dass »[d]er Raum, den die global cities […] gemeinsam bilden, […] sowohl auf SpacingProzessen, die vor allem in Form digitaler Vernetzung mit permanentem Informationsfluß und Datentransfer zutage tritt, aber auch auf Syntheseprozessen der beteiligten Akteure«
basiert. Auf das Konzept der transnationalen Biographien übertragen, kann davon ausgegangen werden, dass es in den Biographien durch die Prozesse von Spacing, Syntheseleistung sowie die prozessuale zeitliche Struktur möglich wird, der Herstellung von transnationalen Räumen nachzuspüren (vgl. Löw 2001: 152). Ich habe nun verschiedene Ansätze vorgestellt, die jeweils versuchen, die biographische Perspektive mit der Transnationalität zu verknüpfen. Festzuhalten bleibt, dass die biographietheoretische Konzeptualisierung von transnationalem
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Raum empirische Studien benötigt, um die hier theoretisch skizzierten Gedanken durch Empirie weiterzuentwickeln und zu differenzieren. Einige zentrale Fragen, die sich aus der bisher diskutierten Perspektive der Herstellung des transnationalen Raumes ergeben und die auch Relevanz für die vorliegende Arbeit besitzen, sind, wie sich das Transnationale, aus der biographischen Perspektive auf die Migrationsprozesse und das Migrantinsein betrachtet, gestaltet, wie der transnationale Raum hergestellt wird, welche Art von Handlungsräumen dabei entstehen und ob mit diesen eine Verschiebung oder Neuaushandlung traditioneller vergeschlechtlichter Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit verbunden sind und in welcher Weise Differenzen, Machtstrukturen und Geschlechterhierarchien dabei bestehen bleiben bzw. verändert werden. Diese Fragen werden in die Darstellung der biographischen Fallanalysen einfließen. Zusammenfassung der theoretischen Perspektive
Vor dem dargelegten theoretischen Hintergrund zur Migration von Frauen, zu Differenzen, Transnationalität sowie zu Biographien soll nun die hier eingenommene Perspektive zur Erweiterung der Konzeptualisierung von Migrationsprozessen und Migrantinsein und damit zum Erkenntnisgewinn im Bereich der interdisziplinären qualitativ-rekonstruktiven Migrationsforschung beitragen. Ich möchte in dieser Arbeit eine Verknüpfung von unterschiedlichen theoretischen Ansätzen, wie zum Beispiel der de/konstruktivistischen, feministischen, transnationalen und biographietheoretischen Ansätzen herstellen. Diese Ansätze stellen jeweils kritische Perspektiven auf die Konstitution und Konstruktion der sozialen Wirklichkeit und des Subjektiven dar, die mir im Zusammenhang mit der vorliegenden Studie vielversprechend erscheinen. Von der de/konstruktivistischen Kritik verspreche ich mir, nicht nur mit geschärftem Blick die Konstruktionsprozesse des Sozialen, sondern auch ihre inhärente Logik und inhärenten Hierarchien verstehen zu können. Die feministische und konstruktivistische Perspektive ziehe ich heran, um Differenzkonstruktionen im Kontext von diskursiver Macht und struktureller Auswirkung nachgehen zu können. Dabei verabschiede ich mich von kulturalistischen und essentialistischen Vorstellungen des Sozialen und des Subjektiven, weise aber zugleich auf die Bedeutung des Kontextes hin. Mit der Transnationalitätsperspektive strebe ich an, die Raumdimension verstärkt in die Betrachtung von Migrationsprozessen und Subjektkonstruktionen einzubinden, um dadurch die Herstellung des subjektiv wirksamen Handlungsraumes differenziert erarbeiten zu können. Den Zugang zu Erfahrungen, ihren Deutungen und ihrer Wirksamkeit für das Handeln soll mir die biographietheoretische Perspektive, die einen Zugang zu der Erläuterung der sozialen Wirklichkeit in der Verschränktheit des Handelns und der Struktur eröffnet, ermöglichen. Dabei soll
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mir das Wissens- und Deutungsmuster der Biographie als eine mit der Zeit verschränkte Kategorie die Perspektive auf die Prozesshaftigkeit, Reproduktion und Veränderung des subjektiven Werdens eröffnen. Dies soll zugleich einen Zugang zur Rekonstruktion von verschiedenen Achsen von Differenzen im Kontext von biographischer Erfahrung und Handlung ermöglichen, um diese dann in der Verschränkung mit gesellschaftlicher Konstitution, Handlungsfähigkeit und biographischer Konstruktion betrachten zu können.
6. Methodologisches und methodisches Verfahren
Auf der Suche nach einem geeigneten methodologischen Rahmen und methodischen Ansatz, entschied ich mich, in der vorliegenden qualitativ-rekonstruktiven Studie verschiedene methodische Ansätze miteinander zu verknüpfen, um meinen Forschungsgegenstand möglichst differenziert betrachten zu können. Demzufolge erstellte ich ein Forschungskonzept, das Aspekte aus der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967) mit der narrationsanalytischen Methode (Schütze 1983, 1984) verknüpft. Während die Grounded Theory dabei ein methodologisches Rahmenkonzept darstellte und insbesondere bei der Samplingstrategie und Theorieentwicklung herangezogen wurde, habe ich die narrationsanalytische Methode sowohl während der Interviewführung als auch in der Interviewanalyse eingesetzt. Da mich nun interessiert hat, wie Geschlecht und Ethnizität in Biographien hergestellt werden oder wie diese das Handeln und die biographischen Prozesse strukturieren, habe ich noch den Ansatz der sozialkonstruktiv orientierten biographisch-rekonstruktiven Geschlechterforschung (Dausien 2000a, 2001) herangezogen. Diese Methodenkombination möchte ich nun im Folgenden erläutern und durch eigene Überlegungen ergänzen.
6.1.
F ORSCHUNG ALS E NTDECKUNGSREISE : D IE G ROUNDED T HEORY UND DAS ABDUKTIVE V ERFAHREN
Qualitativ-rekonstruktive Forschung ist meistens mit vielen Überraschungen verbunden. Nicht nur die Ergebnisse sind oft überraschend, sondern auch der Weg, der zu den neuen Ergebnissen führt. Insbesondere wenn man mit einem offenen Verfahren, wie der empirisch abgeleiteten, gegenstandsbezogenen Theorie, der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967), arbeitet, steht man am Beginn
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der Forschung vor kreativen Herausforderungen. Der Weg, neue Ergebnisse zu generieren, leitet sich nicht von existierenden Theorien, sondern von dem empirischen Material ab. Die Grounded Theory fordert also eine Offenheit sowie eine dauerhafte Reflexion des Forschungsgegenstandes, der eigenen Wahrnehmungen, der theoretischen Annahmen und des theoretischen Wissens. Anselm Strauss und Jean Corbin beschreiben diese Art von Forschungsprozess als »spiralförmige Hin- und Herbewegung zwischen theoretisch angeleiteter Empirie und empirisch gewonnener Theorie« (Dausien 1996: 93). Diese dialektische Vorgehensweise führt zu einem abduktiven Forschungsverfahren, was in der Praxis bedeutet, dass die aus dem Forschungsfeld und -material erstellten Hypothesen und Kategorien im permanenten Dialog mit dem empirischen Datenmaterial und bestehenden Theorien weiterentwickelt werden. Dies erfordert, dass die theoretischen Annahmen gegenüber dem empirischen Feld möglichst offengehalten und in Form von »sensibilisierenden Konzepten« (Dausien 1994: 140) explizit werden. Dabei fungiert das theoretische Vorwissen als ein heuristischer Rahmen und als eine Bezugsmöglichkeit jenseits der Binnenperspektive des Untersuchungsfeldes, was zu der Entwicklung der Theorie über das soziale Feld beiträgt (siehe dazu Dausien 1996: 97). In der vorliegenden Studie habe ich die Grounded Theory als einen methodologischen Überbau während des theoretischen Samplings sowie der Kategoriebildung eingesetzt. Somit wurde das empirische Material nicht im klassischen Sinne von Glaser und Strauss, d.h. durch Beobachtungen und Interaktionen, zusammengestellt. Die Interaktionen und die ethnographischen Beobachtungen auf dem Feld wurden vielmehr in Memos (vgl. Glaser/Strauss 1967) festgehalten. Sie flossen dann in die Reflexion des Bias und der Wissensproduktion ein, während die biographisch-narrativen Interviews in die Biographieanalyse einbezogen wurden.
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6.2.
D IE K UNST DER E RZÄHLGENERIERUNG : D AS BIOGRAPHISCH - NARRATIVE I NTERVIEW »Eine Lebensgeschichte, die von einem konkreten Subjekt in einer konkreten biographischen und sozialen Situation ›konstruiert‹ wird, keineswegs ›frei erfunden‹, sondern bezieht sich auf ein gelebtes und erlebtes Leben und hat für das Subjekt eine Gültigkeit, die im hohem Maße handlungsorientierend ist (vgl. Schütze 1984).« (Dausien 1994: 145)
Die Kombination der Grounded Theory mit biographischen Methoden bildet im Bereich der Biographieforschung ein durchaus gängiges und produktives Verfahren.1 Sie eignet sich für die Erforschung komplexer, auf Subjektivität und Handlungszusammenhänge bezogene Ansätze und Probleme, bei denen Lebenserfahrungen und -wirklichkeiten untersucht werden sollen (vgl. Dausien 1994: 139). Ich entschied mich, biographisch-narrative Interviews zu führen und biographische Erzählungen als Forschungsmaterial zu benutzen, weil ich davon überzeugt bin, dass diese zu einer differenzierten Erklärung des Zusammenhangs von Migrationsprozessen, der Subjektivierung und der biographischen Entwicklung beitragen können. Der biographische Ansatz ermöglicht einen erfahrungsnahen, verzeitlichten und prozesshaften Zugang zu Konstruktionen der subjektiven2 sowie sozialen Wirklichkeit3, die zum Beispiel nicht durch standardisierte Befra-
1 2
Siehe dazu zum Beispiel Dausien 1996. Nach Fritz Schütze ermöglicht das narrative Interview die Erfassung der subjektiven Wirklichkeit: »Das autobiographische narrative Interview erzeugt Datentexte, welche die Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufschichtungen des Biographieträgers so lückenlos reproduzieren, wie das im Rahmen systematischer sozialwissenschaftlicher Forschung überhaupt möglich ist […]. Das Ergebnis ist ein Erzähltext, der den sozialen Prozeß der Entwicklung und Wandlung einer biographischen Identität kontinuierlich […] darstellt und expliziert« (1983: 285f.).
3
Hier soll der Begriff »soziale Wirklichkeit« nach der Definition von A. Schütz verstanden werden: »Unter dem Begriff ›soziale Wirklichkeit‹ verstehe ich die Gesamtheit von Gegenständen und Erscheinungen in der sozialen Kulturwelt, und zwar so, wie diese im Alltagsverständnis von Menschen erfaßt wird, die in ihr in mannigfachen Beziehungen zu ihren Mitmenschen handeln. Es ist die Welt kultureller Gegenstände
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gungen zu erreichen wären. Auch bei der Erforschung des Frauenlebens haben sich die biographischen Methoden als ein geeigneter Zugang erwiesen, um Erfahrungen von Frauen4 aus einer ganzheitlichen Perspektive, d.h. im historischbiographischen Kontext ihres Gewordenseins untersuchen zu können.5 Das biographisch-narrative Interview gibt Frauen die Möglichkeit, sich in einer Position des handlungsfähigen, deutenden Subjekts mit Wissen über sich selbst (Expertin) zu sehen. Gleichzeitig gewinnt der Forscher/die Forscherin den Zugang zu den bedeutungsstrukturierten Daten, wenn er eine Kommunikationsbeziehung mit dem Forschungssubjekt eingeht und dabei das kommunikative Regelsystem des Forschungssubjekts in Geltung lässt (vgl. Hoffmann-Riem 1980: 347). In diesem intersubjektiven Verhältnis werden Positionierungen und Konstruktionen sozialer Wirklichkeit hervorgebracht. Das intersubjektive Forschungsverhältnis kann jedoch nicht mehr wie am Beginn der feministisch-qualitativen Forschung als eine Art von Schwesterlichkeit oder Freundschaft betrachtet werden, wie dies noch Maria Mies (1978) und Ann Oakley (1981) als methodologisches Postulat für die feministische Forschung formulierten. Vielmehr muss die Interviewsituation methodisch reflektiert werden, um die Machtverhältnisse und Differenzen in ihren komplexen Verstrickungen während der Interviewsituation berücksichtigen zu können.6 In dieser gegenseitigen Kommunikation soll nicht nur die Subjektivität des Interviewten, sondern auch die des Interviewers/der Interviewerin als Wissens- und KonstruktionsproduzentIn während der Analyse berücksichtigt werden (vgl. Maurer 1996). Wie diese Reflexion nun stattfinden soll, so dass dabei das Handeln und Empfinden des Forschers/der Forscherin während des Forschungsprozesses genauso auf seinen latenten Sinn sowie auf seine implizierten Wissensbestände befragt wird, ist bisher theoretisch
und sozialer Institutionen, in die wir alle hineingeboren werden, in der wir uns zurechtfinden und mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Von vornherein sind wir Handelnde in sozialen Situationen […]« (Schütz 1971: 60-61). Es sei bemerkt, dass sich die »soziale Wirklichkeit« der Migrantinnen in der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft oft unterscheidet. 4
Mary Maynard sieht »Voicing«, das »Zur-Sprache-Bringen« der Erfahrungen von Frauen als eine Möglichkeit zur Emanzipation. Es ermöglicht »to challenge the subordination, passivity and silencing of women by encouraging them to speak out about their own condition and in so doing to confront the experts and dominant males with the limitations of their own knowledge« (Maynard 1994: 23).
5
Siehe dazu zum Beispiel Dausien (1994).
6
Siehe dazu zum Beispiel Althoff/Bereswill/Riegraf (2001:67f.).
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und methodisch ungenügend bearbeitet worden (vgl. Bereswill 2003). So weist Mechtild Bereswill darauf hin, dass das »[…] Ziel sollte dabei sein, sich weder in indifferenten Selbsterfahrungsbemühungen festzufahren, noch die eigenen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster in vorgefestigte kognitive Schemata zu pressen. In beiden Fällen würde die geforderte Selbstreflexion der Forschenden zum Selbstzweck, der letztlich nur noch einen losen Bezug zum Forschungskontext aufzuweisen hätte« (Bereswill 2003: 512).
Außerdem weist Bereswill darauf hin, dass stets die subjektiven Reaktionen erkenntnisleitend mit Phänomenen aus dem Untersuchungsfeld zu verknüpfen sei (a.a.O.: 525). Die interaktive Kommunikation zwischen den InterviewteilnehmerInnen wandelt sich während der Biographieanalyse zur Interaktion zwischen dem Forscher/der Forscherin und dem gewonnenen Material. In diesem Prozess sind das Führen eines Forschungstagebuches, die Supervision und die gemeinsame Interpretation der gewonnenen Materialien in einer Forschungsgruppe von spezieller Bedeutung. So wird die Ausübung der Biographieforschung als eine Art von theoretischem und praktischem Lernprozess verstanden, bei dem, den Prinzipien der Frauenforschung entsprechend, die eigene Subjektivität und das eigene Handeln während des Forschungsprozesses fortwährend hinterfragt wird (vgl. Dausien 1994: 144). Wenn die Position des/der Interpretierenden als ein Allwissender/eine Allwissende in Frage gestellt wird, ermöglicht dies, die Schablone der essentialistischen Leserin/des essentialistischen Lesers aufzulösen und die Konstruktion des Textes sowie des Lesers/der Leserin erneut betrachten zu können (vgl. Kosonen 1993: 48). In der vorliegenden Studie entschied ich mich, biographische Erzählungen7 anhand von biographisch-narrativen Interviews zu generieren. Dabei griff ich auf die methodischen Einführungen von Fritz Schütze, der in seinem Artikel »Biographieforschung und narratives Interview« (1983) die Grundprinzipien des narrativen Interviews dargelegt hat, zurück. Diese Methode setzt voraus, dass Menschen in der Lage sind, ihre Erfahrungen und Erinnerungen in einer narrativen Form reflexiv wiederzugeben. Die Fähigkeit zu erzählen baut auf der Annahme auf, dass wir in der Lage
7
Fritz Schütze (1984) benutzt in seinen Arbeiten die Bezeichnung »autobiographische Erzählung«. Ich dagegen spreche lieber von »biographischen Erzählungen«, um die lebensgeschichtlichen Erzählungen von allzu starker subjektiver Machtvorstellung zu lösen und um diese im Kontext der interdiskursiven und intersubjektiven Konstituierung zu verstehen.
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sind, unser Selbst einerseits als wahrnehmendes, erkennendes Subjekt und andererseits als Objekt der eigenen Betrachtung und Handlung wahrzunehmen (vgl. Mead 1973). Die Bereitschaft, eine eigene Lebensgeschichte zu erzählen, baut auf der Vorstellung über die Fähigkeit auf, sich selbst für die anderen verständlich zu machen, die ich mit dem Konzept vom »autobiographischen Pakt« bezeichnen könnte. Dieser von Philippe Lejeune (1994) eingeführte Begriff weist auf den Vertragseffekt hin, der in der Situation der Erzählung als ein unausgesprochenes Verständnis zwischen der Erzählerin/dem Erzähler und der Zuhörerin/dem Zuhörer entsteht. Somit ist das Gelingen eines biographisch-narrativen Interviews mit der Tatsache verbunden, dass die/der Interviewte eine kulturelle Werkzeugkiste besitzt, die sie/ihn befähigt, den »autobiographischen Pakt« zu schließen und über das eigene Leben in Form einer Biographie zu erzählen (siehe mehr dazu Kapitel 5). Theoretisch baut das narrative Interview auf den kognitiven Figuren sowie auf den Zugzwängen des Erzählens auf (siehe dazu Schütze 1983, 1984). Diese sind das Erinnern und das Erzählen steuernde konventionelle Orientierungsdimensionen. Die Erzählung als Gestalt besteht aus dem Ereignisträger, also aus dem Biographen selbst, und aus den sozialen Welten sowie Ereigniskettungen, die sich als Prozessstrukturen des Lebenslaufs feststellen lassen. Zugzwänge des Erzählens, die ich lieber als Bedürfnisse denn als Zwänge definieren möchte,8 sind Erzählkonventionen, die den Erzählfluss steuern; Kondensierungszwang, Detaillierungszwang und Gestaltschließungszwang. Diese Zwänge/Bedürfnisse sind Aspekte, die auf die Dimensionen von Zeit, Raum und auf die »Normalität« des Erzählens verweisen. Dadurch wird der Akt des Erzählens selbst durch den Erzähler durch die konventionellen und normativen Vorstellungen gesteuert. In der Praxis besteht die Durchführung des narrativen Interviews aus mehreren Teilen (siehe dazu Schütze 1983). In der vorliegenden Studie habe ich mich für die Zweiteilung der Interviewführung in Haupterzählung9 und Nachfrageteil mit Bi-
8
Die Bezeichnung »Zwang« erweckt das Gefühl des Ausgeliefertseins. Demzufolge wäre es unmöglich, Erzählkonventionen und Diskurse zu brechen. Meines Erachtens ist diese eine zu strenge Vorstellung über die Macht der Sprache und der Erzählung dem Subjekt gegenüber. Ich sehe die Sprache und Erzählung nicht als etwas den Subjekten Äußerliches, sondern als eine Wahrnehmungsdimension, die zugleich das subjektive Dasein strukturiert und damit auch im Rahmen bestimmter Erzählkonventionen und Diskurse zu bestimmten Äußerungen, zu ihrer Produktion, Reproduktion bzw. Transformation führt.
9
Obwohl ich die Aufteilung in Haupterzählung und Nachfrageteil sinnvoll finde, stört mich die Bezeichnung »Haupterzählung«, die eine Assoziation hervorruft, dass dabei die Hauptsachen erzählt werden. Lieber würde ich an der Stelle von »biographischer
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lanzierungsphase entschieden. Wie diese dann in der Praxis fungierte, welche Irritationen und Überraschungen diese Vorgehensweise auslöste, werde ich in Kapitel 6.7 genauer darstellen.
6.3.
K ONTEXTUALISIERUNG : D AS
SITUIERTE
W ISSEN
»Wir alle haben einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, eine spezifische Geschichte und Kultur, von denen aus wir schreiben und sprechen. Was wir sagen, steht immer ›in einem Kontext‹ und ist positioniert.« (Hall 1994b: 26, Hervorh. i.O.)
Wie nun vorher angedeutet, ist der Forscher/die Forscherin beim Durchführen der biographisch-narrativen Interviews an der Erstellung der autobiographischen Erzählung beteiligt. Oder anders ausgedrückt, die Erzählung von Biographie setzt voraus, dass es jemandem erzählt wird und dadurch ein unausgesprochener »biographischer Pakt« zwischen dem Erzähler/der Erzählerin und dem Zuhörer/der Zuhörerin abgeschlossen wird. Dieses in die Interviewsituation implizit eingebaute dialogische Verhältnis vertieft sich auf einer anderen Ebene, nämlich während der Biographieanalyse, wenn die von dem Forscher/der Forscherin geführte Analyse in einem Dialog mit dem Text entsteht. Das sequenzanalytische, rekonstruktive Verfahren, währenddessen Hypothesen als Erkenntniswege generiert werden, ist ein hermeneutisches Verfahren, das in der Auseinandersetzung mit dem biographischen Text geführt wird. Somit mutet das Streben nach einer kühnen Objektivität im Sinne des Objektivitäts- und Universalitätsanspruches des traditionellen Wissenschaftsverständnisses eher absurd als erstrebenswert an. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Wissensproduktion als »situiertes Wissen« verstanden werden soll, wie dies Donna Haraway in ihrem Artikel »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive« (1990, 1995) formuliert hat. Haraway kritisiert das wissenschaftliche Beobachtungsmodell als einen »göttliche[n] Trick, alles von nirgendwo aus sehen zu können« (Haraway 1995: 81). Stattdessen plädiert sie für eine feministische Objektivität, die »von begrenzter Verortung und situiertem
Selbstpräsentation« (Rosenthal 1995) sprechen. Da aber die begriffliche Aufteilung Haupterzählung und Nachfrageteil eine methodische Bedeutung hat, werde ich sie in den folgenden Darstellungen einsetzen.
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Wissen« ausgeht und nicht von »Transzendenz und der Spaltung in Subjekt und Objekt« (a.a.O.: 82). Diese Anerkennung der Situiertheit des Wissens ist zugleich eine Position, die WissenschaftlerInnen für ihre Erkenntnisansprüche und Verantwortlichkeit sensibilisieren soll. Sich in Bezug auf die Wissensproduktion zu positionieren bedeutet demzufolge, die Verantwortlichkeit für die Praktiken zu übernehmen, die uns die Macht verleihen, Aussagen zu machen (vgl. Haraway 1995: 87).
6.4.
ARBEITSBÜNDNIS : 10 D IE F ORSCHERIN ALS »B ETROFFENE « »Ich argumentiere für Politiken und Epistemologie der Lokalisierung, Positionierung und Situierung, bei denen Partialität und nicht Universalität die Bedingung dafür ist, rationale Ansprüche auf Wissen vernehmbar anzumelden. Dies sind Ansprüche auf Aussagen über das Leben von Menschen: entweder die Sicht von einem Körper aus, der immer ein komplexer, widersprüchlicher, strukturierender und strukturierter Körper ist, oder der einfache und einfältige Blick von oben, von nirgendwo. Nur der göttliche Trick ist verboten.« (Haraway 1995: 89)
Während nun durch die Vorstellung von situiertem Wissen die Unmöglichkeit des objektiven Wissens postuliert wird, muss auch die »Politik der Örtlichkeit« (Rich 1986) berücksichtigt werden, also die Notwendigkeit, sich als Wissende im geographischen und politischen Rahmen zu positionieren. Mit diesem Begriff, der von der US-amerikanischen Feministin Adrianne Rich in das Feld der feministischen Debatten eingeführt wurde, betont die Autorin die Notwendigkeit der Erläuterung des geographischen und politischen Rahmens der Weißen USfeministischen Analysen. Diese Forderung kommt der in den letzten Jahren geäußerten Kritik über den methodologischen Nationalismus der sozialwissenschaftlichen Forschung (Wimmer/Glick Schiller 2003, Beck-Gernsheim 2004) nahe. Demzufolge herrscht in der Wissenschaft ein mononationaler Blick, der
10 Das Arbeitsbündnis wird hier in Bezug auf den Bias der Forscherin diskutiert. Für die Diskussion des Konzeptes des Arbeitsbündnisses siehe zum Beispiel Resch (1998: 36-66).
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zum Beispiel im Zusammenhang von Migrationsbewegungen zu eindeutigen mononationalen Konzeptionen führt, die den Gegenstand nicht adäquat und in seiner Vielfältigkeit beschreiben können. »So verfährt die amtliche Statistik auf der Grundlage von starren Gegensatzpaaren – ›Inländer‹ versus ›Ausländer‹ –, die der Dynamik der neuen Migrationsbewegungen und der im Zeitalter von Mobilität und Globalisierung entstehenden Mischverhältnisse, Zwischenkategorien, Mehrfachverbindungen immer weniger gerecht werden, ja diese verkennen und verfälschen.« (Beck-Gernsheim 2004: 201f.)
Ein weiteres Problem entsteht in diesem Zusammenhang nach Beck-Gernsheim daraus, dass die Machtverhältnisse zwischen Forschern und Erforschten, zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheitengruppen nicht reflektiert werden. Deshalb fordert sie dazu auf, die eigene Position des Forschenden/der Forscherin zu reflektieren. Beck-Gernsheim (2004: 202) plädiert dafür, dass die Forscher sich selbst im Gefüge der ethnischen Differenzierungen in Deutschland verorten, bevor sie mit den eigentlichen Untersuchungsfragen beginnen. Ich schlussfolgere aus den oben dargestellten Erkenntnissen die Notwendigkeit, mich selbst in Bezug auf mein Forschungsthema zu positionieren und zu reflektieren. Jedoch verstehe ich dies nicht als eine Aufforderung, meine eigene Biographie darzustellen, sondern genau die Aspekte zu reflektieren, die eine erkenntnisleitende Funktion in Hinsicht auf die Fragestellung sowie den Forschungsgegenstand haben. In Betracht auf den Untersuchungsgegenstand veranlasste mich meine eigene Position als Migrantin finnischer Herkunft in Deutschland dazu, über Migration nicht nur im politischen Sinne nachzudenken, sondern dies auch zu einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt werden zu lassen.11 Mein Interesse, Migrationsbiographien von Migrantinnen aus Finnland zu untersuchen, entstand in einem Kontext, in dem ich selbst am Beginn meines eigenen Migrationsprozesses stand. Die Erfahrung der Migration, die Veränderungen und Herausforderungen, die damit verbunden waren, also das biographische Wissen, veranlasste mich,
11 Forschungsinteressen und -fragen werden häufig aus persönlicher Betroffenheit entwickelt. Jedoch werden sie als solche, außerhalb der feministischen Forschung, selten expliziert. Für einige Ausnahmen siehe zum Beispiel Meulenbelt (1993) und Ha (1999). Der britische Kulturtheoretiker Stuart Hall stellt ein hervorragendes Beispiel dafür, indem er in seinen theoretischen Schriften den Zusammenhang zwischen seinen theoretischen Überlegungen und seiner Positioniertheit anhand von eigenen lebensgeschichtlichen Anekdoten offenlegt. Siehe dazu exemplarisch zum Beispiel Hall (1999b).
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die Frage zu stellen, wie andere Migrantinnen aus Finnland ihre Migrationsprozesse gestaltet und bewältigt haben.12 Dieses, am Anfang noch rein persönliche Interesse, wandelte sich mit der Zeit zu wissenschaftlicher Neugier und zur Entstehung eines Forschungsvorhabens. Dies ermöglichte mir einerseits, Migrationsprozesse und Konstruktionen von Migrantinsein wissenschaftlich zu bearbeiten, und andererseits, mein eigenes Migrationsprojekt im Dialog mit den Erfahrungen und den Biographien anderer finnischer Migrantinnen durchzuführen. Somit ist die vorliegende Studie auch als eine Reaktion auf die bundesdeutsche Einwanderungsgesellschaft zu verstehen. Dadurch dass die finnischen MigrantInnen in Deutschland über ein weit vernetztes Organisationswesen verfügen, konnte ich meine ersten Kontakte durch diese Organisationen finden. Dort fand ich Informationen über die ethnische Community von FinnInnen in der Bundesrepublik sowie auch von mir persönlich benötigte Informationen über das Leben in Deutschland. Die dort entstandenen Kontakte führten allmählich auch zu einer ehrenamtlichen Tätigkeit innerhalb der finnischen Community. Während dieser freiwilligen Arbeit konnte ich wichtige persönliche Erfahrungen sammeln, die dann später, während der Entwicklung dieser wissenschaftlichen Untersuchung, von zentraler Bedeutung waren. Meine eigene Position als Migrantin aus Finnland13 und Soziologin mit dem Promotionsvorhaben formulierte ich als Ausgangspunkte bei der Suche nach Interviewpartnerinnen. Dabei wollte ich mit der Positionierung als Soziologin und Doktorandin meinen wissenschaftlichen Hintergrund offenlegen. Den dadurch entstandenen eventuellen Status- und Wissensunterschied erhoffte ich mindestens teilweise mit meiner Positionierung als neu zugezogene Migrantin zu vermindern. Damit wollte ich einerseits auf eventuell gemeinsame Erfahrungen hinweisen und andererseits den Wert der in der Migration gesammelten Erfahrungen anerkennen. Mit dieser Positionierung erhoffte ich eine interpersonale Nähe zu meinen Interviewpartnerinnen entwickeln zu können und dadurch wenigstens stückweise der Perspektive der Veranderung (Othering) der Migrantinnen vonseiten der Mehrheitsgesellschaft entgegenzuwirken. Deswegen entschied ich mich für die Anwendung der biographischen Perspektive, um dadurch die Innenperspektive auf die Migrationsprozesse und -erfahrungen eröffnen zu kön-
12 Lena Inowlocki (2000a) thematisiert Migrationserfahrungen als biographisches Wissen, das eine hohe Relevanz bei der Untersuchung von Migrationsprozessen haben kann. 13 Die Positionierung als Migrantin erfolgte aus der Reaktion auf den gesetzlichen Status sowie durch die Reflexion von wissenschaftlichen Definitionen von den nach Deutschland zugezogenen Menschen als Migrantinnen.
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nen. Obwohl ich nun durch meine eigene Positionierung als eine Migrantin aus Finnland eine Nähe und bestimmte Differenzreduktion zwischen meinen Interviewpartnerinnen und mir selbst erreichen wollte und dies insbesondere die Kontaktherstellung erleichterte, konnte ich bei der Interviewsituation Differenzen in Bezug auf Alter, Status, Generation usw. feststellen. Diese Differenzen nahm ich jedoch nicht als störend wahr. Vielmehr trugen sie dazu bei, eine Balance zwischen interpersonaler Nähe und Distanz zu schaffen. Erst später, als ich schon einige der biographisch-narrativen Interviews geführt hatte, erschien mir meine doppelte Positionierung als Forscherin und Migrantin innerhalb der Community als störend. Es war schwierig, diese beiden, sehr unterschiedlichen Positionierungen miteinander in Einklang zu bringen. Vielmehr schienen sie oft in Widersprüche zu geraten. Die Nähe zu der ethnischen Community, die durch meine Position als Migrantin zu erreichen war, erschien mir wieder durch meine Position als Wissenschaftlerin verlorenzugehen und umgekehrt.14 Dies führte zu der Entscheidung, mich dann später von diesem Kontext zu entfernen, um mich nur auf meine wissenschaftliche Arbeit konzentrieren zu können. Im Nachhinein habe ich dieses Unbehagen als ein Bedürfnis interpretiert, das Feld des Ethnischen zu verlassen, um nun von »außen«, durch die erweiterte, gesamtgesellschaftliche Perspektive die finnische Migration betrachten zu können.
6.5.
F ORSCHUNGSETHIK : D AS V ERTRAUEN »Ethical concerns are perplexing and require ›contextualised methods of reasoning‹ (Holm, 1997) not abstract rules.« (Mauthner et al. 2003: 3)
Die oben geschilderte interpersonale Nähe, die während des Forschungsprozesses mit meinen Interviewpartnerinnen entstand, verpflichtet mich nun, im Folgenden noch einige forschungsethische Aspekte ausdrücklich hervorzuheben. Eine zentrale Voraussetzung für die Durchführung der biographischnarrativen Interviews ist das Vertrauen zwischen dem Interviewer/der Interviewerin und dem/der Interviewten, weil dabei die persönliche bzw. private Sphäre der Interviewpartnerinnen berührt wird (vgl. Dausien 1994: 143). Die Privatheit
14 Auch Maxine Birch und Tina Miller (2003) thematisieren das Problem, das aus den verschiedenen miteinander konkurrierenden Rollen der Wissenschaftlerin auf dem Forschungsfeld entstehen kann.
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der Interviewsituation entstand in der vorliegenden Studie nicht nur dadurch, dass ich die meisten Interviews bei den Interviewten zu Hause führte, sondern auch durch die Tatsache, dass diese Migrantinnen mir, einer für die meisten völlig Unbekannten, ihre eigene Lebensgeschichte erzählten.15 Jedoch war es ihnen selbst überlassen, wo sie die Grenzen zwischen dem Intimen, dem Privaten und dem Öffentlichen ziehen wollten. Obwohl nun das Genre der Biographie einen bestimmten Rahmen für die Erzählung vorgibt, wurden die Grenzen zwischen dem Intimen, Privaten und Öffentlichen während der Interviews unterschiedlich ausgehandelt und beeinflussten dadurch auch den Erzählfluss sowie die Gesamtgestalt des Interviews (siehe mehr dazu Kapitel 7 und 8). Es waren gerade diese Grenzziehungen, die mir verdeutlichten, dass die Biographieforschung sich auf einem sehr intimen und persönlichen Terrain bewegt.16 Deshalb waren nicht nur wissenschaftliche Kenntnisse, sondern auch Menschenkenntnisse und teils auch therapeutische Eigenschaften gefragt, um eine erfolgreiche Forschungsbeziehung aufzubauen und biographisch-narrative Interviews führen zu können.17 Ein zentrales Element bei der Entstehung des Vertrauensverhältnisses war das Versprechen, die Anonymität der Biographin zu wahren. Dies bedeutete, dass alle Namen und Aspekte, die die Person eventuell erkennbar machen könnten, geändert werden mussten. Der Vollständigkeit der Anonymität, die mit diesem Verspechen angestrebt wird, kann sich nur angenähert werden, denn die notwendige Maskierung darf nicht zu inhaltlichen Veränderungen des Erzählten führen. Ich habe in dieser Studie dennoch versucht, möglichst weitgehend zu anonymisieren, um mein Versprechen verwirklichen zu können. Eine ethische Perspektive verpflichtet mich nicht nur zur Anonymisierung der Interviews, sondern auch dazu, einen adäquaten Umgang mit dem Material, das ich gesammelt hatte, zu entwickeln. Besonders schwierig erschien es mir, die
15 Siehe Beate Rössler (2001) für eine differenzierte Diskussion über Privatheit. Es wäre sicherlich lohnenswert und für die Weiterentwicklung der biographischen Methoden wichtig, diese aus der Perspektive der Privatheit und Öffentlichkeit analytisch zu reflektieren. 16 Der biographische Ansatz teilt mit der feministischen Forschung das Interesse, das Allgemeine des Privaten zu thematisieren. Für die Verknüpfung des Privaten und Öffentlichen in der feministischen Theorieproduktion siehe zum Beispiel Ribbens/Edwards (Hg.) (1998). 17 Ich möchte an der Stelle hervorheben, dass die Absagen, die ich bei der Suche nach möglichen Interviewpartnerinnen bekam, auch wichtige Erfahrungen darstellten. Sie forderten zur Reflektion der Forschungsfrage, der angewandten Methoden und eventueller Macht- und Hierarchieverhältnisse auf.
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in dieser Studie dargestellten exemplarischen Analysen in solcher Art und Weise wiederzugeben, dass sie nicht die interviewte Person verletzen würden. Daher entwickelte ich eine Darstellungsform, die meine eigene Position als Analysierende permanent einbezieht und daran erinnert, dass die hier dargestellten Fälle im Sinne von Alfred Schütz (1971) Konstruktionen zweiten Grades sind und damit die Ebene der wissenschaftlichen Konstruktionen erreicht haben.18 Dadurch sind die hier dargestellten Fallanalysen nicht als personenbezogen zu verstehen. Dagegen sind sie herangezogen, um bestimmte empirisch festgestellte Phänomene exemplarisch darzustellen. Ein weiteres forschungsethisches Dilemma entstand durch die Übersetzungen. Da fast alle Interviews auf Finnisch geführt wurden,19 mussten sie im Laufe des Interpretationsprozesses ins Deutsche übersetzt werden. Dies war nötigt, um sie dann in den Forschungswerkstätten mit anderen KollegInnen analysieren zu können. Einige Interviews wurden möglichst nah dem Original ins Deutsche übersetzt, da dies im Prozess der sequenziellen textanalytischen Interpretation eine bestimmte Notwendigkeit darstellt. Andere dagegen wurden sinngemäß
18 Obwohl nun eine zentrale Forderung der feministischen Forschung das Einbeziehen der Interviewten während der Analyse ist, entschied ich mich aus forschungspraktischen Gründen dazu, die Interviewten in den Prozess der Analyse nicht einzubeziehen. Durch diese Entscheidung folgte ich der gängigen akademischen Praxis, die eine Trennlinie zwischen den alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Deutungen aufrechterhält und die danach strebt, die empirischen Erkenntnisse anhand der Theorien erklären zu können. 19 Ich möchte gerne einige Thesen in Hinsicht auf die Entscheidung, das Interview auf Finnisch oder Deutsch führen zu wollen, erwägen. All diese Thesen betonen den Aspekt, »das Gesicht zu bewahren«. 1. Die Achtung der Interviewerin. Da ich zur Zeit der Interviewführung erst seit kurzem in Deutschland lebte und hier nicht studiert hatte, war zu vermuten, dass meine Sprachkenntnisse nicht ausreichend waren. 2. Die persönliche Ehre. Für diejenigen, die schon seit langem in Deutschland leben, war es wichtig, zu zeigen, dass sie der finnischen Sprache noch mächtig sind, und damit eine Nähe zu mir als andere Finnin zu schaffen. Diejenigen dagegen, die erste seit kurzem hier leben, schämten sich für ihre eventuell nicht vollkommenen Sprachkenntnisse und griffen auf das Finnische zurück. 3. Der Statuserhalt. Die Anwendung der deutschen Sprache ermöglichte einer Migrantin meiner Generation, die den gleichen Bildungshintergrund, jedoch mit deutschem Studienabschluss, hatte und auf dem Arbeitsmarkt von einer Dequalifizierung gefährdet war, ihren Status vor mir zu bewahren. Dafür spricht auch ihre Begründung bei der Wahl der Interviewsprache, lieber Deutsch als Finnisch zu verwenden.
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übersetzt und dann der Interpretation des Originaltextes gegenübergestellt. Da es bei der Übersetzung nicht nur um ein linguistisches Verfahren geht, sondern vor allem um das Verstehen, entschied ich mich, bei der Darstellung der Ergebnisse dieser Studie eine weitere Darstellungsvariation anzuwenden, die zu einer Art von »Glättung« der Sprache, jedoch nicht des sinngemäßen Inhaltes, führte. Diese Entscheidung war darin begründet, dass ich bei der Übersetzung keinen Anspruch auf eine linguistische Vollständigkeit erheben wollte, sondern es mir vor allem darum ging, das Phänomen der Migration und der Subjektivierung aus einer biographischen Perspektive darzustellen. Dabei war mir vor allem wichtig, die in der vorliegenden Studie dargestellten Erzählungen sinngemäß wiederzugeben. Da Sprache ein Machtinstrument ist und damit auch soziale Hierarchien verdeutlicht und reproduziert, hat die Beherrschung der deutschen Sprache im Kontext der Migration sowie des öffentlichen Diskurses über MigrantInnen eine weitreichende Bedeutung (vgl. Lutz 2007a: 57). Die unvollkommenen Kenntnisse der deutschen Sprache führen daher »zur Markierung einer gesellschaftlich schwachen, untergeordneten Position« (a.a.O.). Deswegen erschien es mir wichtig, dass die von mir durchgeführten Übersetzungen von der in der Mehrheitsgesellschaft marginalisierten Sprache der Migrantinnen in eine dominante Sprache nicht zur Marginalisierung auf der sprachlichen Ebene beitrugen. »Der kreative Akt der Übersetzung findet in einem historischen und gesellschaftlichen Rahmen, einem vermachteten Raum, statt. Übersetzen kann als Herrschaftsinstrument fungieren, um das ›Andere‹ oder den ›Anderen‹ zu vereindeutigen. Denn mit dem Übersetzen geht nicht nur ein Vereinnahmungsprozess einher, durch den eine marginale Sprache in die Logik der dominanten Grammatik eingeschrieben wird, sondern es erfordert auch ein sinnliches Verstehen, das den Akt des Verstehens in der Differenz erst möglich macht. Der/die Übersetzer/in muss eine intime Leser/in werden, um auch die Ränder des Textes zu verstehen. Sie muss im Dialog mit dem Verstehenskodex des Textes stehen.« (Gutiérrez Rodríguez 2004: 201)
Darum nehme ich meine Position als Vermittlerin und Übersetzerin zwischen den hier interviewten Migrantinnen und der Mehrheitsgesellschaft bzw. der Dominanzkultur bewusst wahr und hoffe dabei, den methodischen Nationalismus und den mononationalen Blick im Forschungsprozess kritisch reflektieren zu können.
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6.6.
S OZIALES F ELD
UND THEORETISCHES
S AMPLING
In der vorliegenden Studie habe ich zwischen den Jahren 1999 und 2002 16 biographisch-narrative Interviews mit Migrantinnen finnischer Herkunft in der Bundesrepublik Deutschland geführt. Diese Frauen waren zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 30 und Mitte 50 Jahre alt. Ihre Migrationsprojekte spannten zusammen einen Bogen über einen Zeitraum von 30 Jahren, da sie seit Anfang der 1970er bis Ende der 1990er Jahre aus Finnland ausgewandert sind. Einige von ihnen sind direkt aus Finnland nach Deutschland eingewandert, andere über andere Länder. Zum Zeitpunkt der Interviews waren vier Frauen konkret mit der Auswanderung beschäftigt; zwei von ihnen planten ihre eventuelle Rückkehr nach Finnland, während zwei andere mit der Gestaltung der Auswanderung in ein weiteres europäisches Land beschäftigt waren. Da ich den Ansatz der Grounded Theory als eine methodologische Rahmung dieser Studie ausgewählt hatte, orientierte ich mich bei der Zusammenstellung des Samples an der Methode des »theoretical sampling« (Glaser/Stauss 1967). Auf dessen Grundlage wurde die Samplingstrategie zusammen mit den aus den Analysen gewonnenen theoretischen Überlegungen fortwährend weiterentwickelt.20 Die Erhebung von weiteren Interviews wurde also von den theoretischen Erkenntnissen aus den schon erhobenen Interviews begleitet. Dieses Verfahren gestaltete sich jedoch etwas kompliziert, da mir oft wenig Informationen über die Lebensgeschichte meiner Interviewpartnerin zur Verfügung standen.21 Dagegen stellten meine Interviewpartnerinnen selbst eine zentrale Informationsquelle für die eventuellen weiteren Interviewpartnerinnen und damit für die Weiterentwicklung des Samples dar. So verknüpfte ich also die gegenstandsbezogene Samplingstrategie mit einem Schneeballverfahren, was dann zur graduellen Zusammenstellung des Samples führte. Die Samplingstrategie, die ich im Dialog von Empirie und Theorie entwickelte, ermöglichte Hypothesen aus dem For-
20 »Theoretisches Sampling meint den auf die Generierung von Theorien zielenden Prozeß der Datensammlung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel sammelt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind, um seine Theorie zu entwickeln, während sie emergiert. Dieser Prozeß der Datenerhebung wird durch die im Entstehen begriffene […] Theorie kontrolliert.« (Glaser/Strauss 1967, 1998: 53) 21 Hier möchte ich für weitere Studien die Grounded Theory und biographische Perspektive miteinander verbinden, eine methodische Modifikation vorschlagen. Statt nur ein Interview zu führen, könnten zum Beispiel auch ein Vorgespräch sowie ein Nachgespräch geführt werden.
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schungsfeld heraus aufzustellen, die dann über einen maximalen (Kontrastfälle) und minimalen (möglichst ähnliche Fälle) Vergleich überprüft, aufgeworfen oder beibehalten wurden (siehe dazu Glaser/Strauss 1967). Dabei konzentrierte ich mich der Fragestellung22 folgend auf den analytischen Vergleich in Hinblick auf die Konstitution und Konstruktion von verschiedenen Migrationsprozessen und die Konstruktionen von Migrantinsein. Das Hauptanliegen war also durch die Formulierung der gegenstandsbezogenen theoretischen Aussagen und theoretisch relevanten Kategorien, die Konstruktionsprinzipien der Biographien aufzudecken. Dabei interessierte mich, eventuelle biographische Transformationsprozesse festzustellen, verschiedene Migrationstypologien des untersuchten sozialen Feldes der feminisierten »Individualwanderung« zu entwickeln sowie verschiedene biographische Positionierungen aufzudecken, um dadurch eine theoretische Repräsentativität des untersuchten sozialen Feldes zu erreichen.23 Dies erfolgte, als durch den maximalen und minimalen Vergleich sowie anderen theoretische Überlegungen keine weiteren Unterschiede mehr entwickelt werden konnten, und somit eine Sättigung der theoretischen Aussagen erreicht war. Ausgehend von der Fragestellung und den mit ihr verknüpften hypothetischen Überlegungen suchte ich zu Beginn des Samplings nach finnischen Migrantinnen, die als Individualwandererinnen in Abgrenzung zu der Gruppe von Expatriates, d.h. Migrantinnen finnischer Herkunft, die zum Beispiel von Arbeitgebern nach Deutschland entsandt worden sind, oder die bei global operierenden transnationalen Firmen bzw. Organisationen tätig sind, bezeichnet werden können. Mit der Konzentration auf die Untersuchung der »Individualwanderung« (Treibel 1990)24 bzw. Individualmigration wollte ich aus der biographi-
22 Die Fragestellung und ihre Relevanz wurden während der Interviewerhebung geprüft. Dadurch, dass ich die Fragestellung von Anfang an ziemlich weit und offen gefasst hatte, konnte ich sie weiterhin in ihrer Allgemeinheit beibehalten. Jedoch verwarf ich einige, am Anfang der Studie formulierte Hypothesen, die sich an die Fragestellung anlehnten, und stellte dagegen neue auf. 23 Dies ist nicht mit der statistischen Repräsentativität zu verwechseln. Während in quantitativen Studien davon ausgegangen wird, dass »eine Stichprobe ein verkleinertes Abbild der empirisch vorfindbaren ›Fälle‹« (Bernart/Krapp 1997: 33) darstellt, stellt in den qualitativen Studien »die Stichprobe ein Abbild der theoretisch relevanten Kategorien« (a.a.O.) dar. 24 Annette Treibel (1990: 19f.) weist auf die Problematik dieses Begriffes hin, da auch Einzelwandernde Bestandteil der sogenannten Kettenwanderung einer Gruppe von Verwandten oder Bekannten sind, die nach und nach die Herkunftsregion verlassen und sich in der Zielregion den früher Gewanderten wieder anschließen. Obwohl ich
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schen Perspektive der Frage nachgehen, wie es dazu kommt, dass eine Person, in diesem Fall eine Frau, sich entscheidet, auszuwandern, und welche Folgen diese Entscheidung für ihre biographische Entwicklung hat. Da ich mich dabei insbesondere für die Dimension des Gesellschaftswechsels und des möglichen damit eventuell einhergehenden strukturell bedingten subjektiven Transformationsprozesses interessierte, erschienen mir diese Dimensionen insbesondere bei der Gruppe der Migrantinnen, bei denen eine »Individualwanderung« vorlag, in Erscheinung zu treten. Dagegen erschienen mir die finnischen Expatriates, die transnationalen Karrieren nachgingen, privilegiert und hatten dadurch völlig andere strukturelle Bedingungen zu Beginn ihres Migrationsprojektes.25 Jedoch erlebte die Definition der »Individualwanderung« während des »theoretical sampling« eine Spezifizierung und führte zur Feststellung eines sozialen Feldes der feminisierten Migration, auf dem Migrationsprozesse eng mit den Individuierungs- und Bildungsprozessen verknüpft sind. Während des Sampling-Verfahrens stellte die Art der Migration eine allgemeine kategoriale Samplingstrategie dar. Zunächst suchte ich nach Migrantinnen als Interviewpartnerinnen, die direkt aus Finnland nach Deutschland eingewandert waren. Im weiteren Verlauf wurden solche Migrantinnen als Kontrastfälle ausgesucht, die schon Migrationserfahrungen in anderen Ländern gesammelt hatten. Erstaunlicherweise stellte sich während des biographisch-narrativen Interviews heraus, dass die meisten Migrantinnen schon längere Auslandsaufenthalte bzw. Migrationserfahrungen in anderen Ländern hinter sich hatten, obwohl
mir für mein Sample Einzelwandernde ausgesucht hatte, stellte sich heraus, dass diese tatsächlich Verwandte oder Freunde hatten, die entweder früher oder später als meine Interviewten ausgewandert waren, jedoch selten in die gleichen Zielregionen. 25 Ich erinnere mich an eine Expatriotin, die darüber berichtete, dass der zukünftige Arbeitgeber ihres Mannes in Deutschland vor der Auswanderung Videos über mögliche Wohnungen nach Finnland geschickt hatte und sie die Entscheidung für ihre zukünftige Bleibe anhand von Videos getroffen hatten. In einem anderen Zusammenhang stellte sich heraus, dass ein Expatriat, der in Deutschland wohnt und bei einem transnational operierenden Arbeitgeber berufstätig ist, kein Wort Deutsch sprechen konnte. Meines Erachtens stellen die hier erwähnten Expatriates eine privilegierte, transnationale Mittelschicht dar, die ihr Leben unter völlig anderen transnationalen Bedingungen führt als die in dieser Studie dargestellten »Individualwanderinnen«. Es wäre sicherlich lohnenswert, diese elitäre und privilegierte Gruppe näher aus der Transnationalitätsperspektive heraus zu betrachten. Die Tatsache, dass die Dimension des Transnationalen auch bei der »Individualwanderung« eine Bedeutung erlangt, zeigt jedoch die vorliegende Studie.
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ich nur drei Interviewpartnerinnen bewusst nach diesem Kriterium ausgesucht hatte. Da ich nun auf eine kategoriale Differenzierung der »Individualmigration« aus der biographischen Perspektive abzielte, führte diese Entscheidung zur Entwicklung einer differenzierten Kategorie- und Typenbildung aufgrund der biographischen Konstitution und Konstruktion von Migrationsprozessen. Da mich nun auch die mit den Migrationsprozessen einhergehenden Subjektkonstruktionen in Bezug auf den Status als Ausländerin und Migrantin interessierten, stellte ich dazu am Anfang des »theoretical sampling« zwei hypothetische Betrachtungen an. Zum einen ging ich davon aus, dass sich der Status als Ausländerin bzw. als Migrantin im Vergleich zu dem in der Öffentlichkeit vorherrschenden Bild von den Migrantinnen als in der Mehrheitsgesellschaft »unsichtbar« bzw. »unauffällig« beschreiben lässt. Anhand der Biographien untersuchte ich dann, inwieweit diese Bezeichnung den biographischen Erfahrungen der Migrantinnen entsprach und welcher Zusammenhang zwischen ihrem Status als Ausländerin und Migrantin und ihren Handlungsfähigkeiten bzw. -beschränkungen bestand. Theoretisch könnte diese Zusammensetzung, Frau und Ausländerin, die Gefahr einer doppelten Benachteiligung beinhalten. Zum anderen ging ich bei der Betrachtung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Migration davon aus, dass nun aufgrund der verschiedenen gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen zwischen Finnland und Deutschland dies eventuell ein biographisches Risiko darstellen könnte und dadurch einen biographischen Transformationsprozess auslösen würde. Diese Annahme basierte auf der Tatsache, dass sich ein »Hausfrauenmodell« in Finnland nie durchgesetzt hatte. Dagegen wird im finnischen Wohlfahrtsstaat die Vereinbarung von Familie mit Beruf seit den 1960er und insbesondere seit den 1970er Jahren institutionell gefördert. Demzufolge wollte ich zunächst ausdrücklich Migrantinnen interviewen, die berufstätige Mütter waren. Diese Festlegung wurde dann im Weiteren revidiert, und es wurden als Kontrastfälle Migrantinnen herangezogen, die Mütter waren, aber keiner Berufstätigkeit nachgingen, oder solche, die keine Mütter waren.26 Dies ermöglichte im Weiteren einen differenzierten Vergleich der biographischen Handlungsfähigkeit und führte zur Kategorie- und Typenbildung über das Migrantinsein aus der Perspektive der Vergesellschaftungs- und Subjektivierungsprozesse im Zusammenhang der Konstitution und Konstruktion der transnationalen Sozialräume. Dabei habe ich die Transnationalitätsperspektive herangezogen, um den sich aus den Biographien entfaltenden komplexen Handlungs- und Deutungsraum erklären zu können.
26 Interessanterweise stellten diese Frauen drei von den Migrantinnen dar, die zum Zeitpunkt des Interviews mit einem konkreten Auswanderungsprojekt beschäftigt waren.
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Da nun während der Durchführung des »theoretical sampling« anhand der kategorialen Differenzierung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine zentrale Vergleichsdimension darstellte, möchte ich hier noch einen kurzen Exkurs über die gesellschaftliche Position von Frauen in Finnland machen, bevor ich auf die Diskussion der Interviewführung eingehe. Exkurs: Frauen in Finnland
Finnland, in letzter Zeit durch den Mobilfunkhersteller Nokia und durch die OECD-Bildungsstudie PISA in aller Munde, gilt – wie alle anderen nordischen Länder auch – im internationalen Vergleich als ein Musterland der allgemeinen Wohlfahrt und der Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern. Jedoch war Finnland lange Zeit ein armes Land, dessen Bevölkerung hauptsächlich von der Landwirtschaft lebte. Noch im Jahre 1950 war knapp die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig (Flora 1987 nach Pfau-Effinger 2000: 179). Die obere Mittelschicht war dünn, auch das Stadtbürgertum, das hauptsächlich aus schwedischen EinwandererInnen27 bestand. Außerdem setzte die Industrialisierung und Modernisierung der finnischen Gesellschaft im europäischen Vergleich ziemlich spät ein, womit Finnland als einen »Nachzügler« (Pfau-Effinger 2000: 179) in der Entwicklung zur modernen Industriegesellschaft bezeichnet werden kann. Diese verspätete Industrialisierung, das stark von bäuerlichen Umständen geprägte Land und die dünne Ober- bzw. Mittelschicht hatten zur Folge, dass sich das bürgerliche Modell der Familie – Mann als Haupternährer und Frau als Hausfrau – in Finnland nur in geringem Maße etablieren konnte. Dagegen hatte sich in anderen Ländern, in denen die Industrialisierung wesentlich früher eingesetzt hatte und in denen es eine starke obere und mittlere Klasse mit einer größeren gesellschaftlichen Bedeutung gab, das bürgerliche Familienmodell mit einer strengen Geschlechterhierarchie durchgesetzt (vgl. Pfau-Effinger 2000: 181). Finnland dagegen, ein ökonomisch schwaches und bevölkerungsarmes Land, brauchte jedoch sowohl männliche als auch weibliche Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und in der langsam aufkommenden Industrie. Statt ArbeitsmigrantInnen aus dem Ausland anzuwerben, wie dies zum Beispiel Deutschland und Schweden in der Nachkriegszeit taten, wurden in Finnland in den 1950er und 1960er Jahren die Frauen noch fester in die Erwerbs-
27 Finnland stellte für Jahrhunderte einen Streitpunkt zwischen dem Königreich von Schweden und den russischen Zaren dar. Finnland gehörte politisch entweder zu Schweden oder zu Russland und ist erst seit 1917 ein unabhängiger Staat. Mit schwedischen EinwanderInnen ist hier die schwedische bürgerliche Schicht in Finnland gemeint.
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tätigkeit integriert. Der statistische Anstieg der Anzahl der erwerbstätigen Mütter war damals vor allem eine Reaktion auf die wachsende Ökonomie. Diese Entwicklung führte zur Entstehung des sogenannten »Zwei-Ernährer-Modells« bzw. »Doppelversorgermodells« mit staatlicher Kinderbetreuung28 und brachte einen Familientypus hervor, in dem sowohl der Mann als auch die Frau Vollzeit berufstätig sind und damit zum Familieneinkommen beitragen. Obwohl die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft staatlich unterstützt und kommunal organisiert ist, hat das jedoch auch zu belastenden Lebenssituationen geführt, da die häusliche Reproduktionsarbeit weiterhin Frauensache geblieben ist und somit zur Doppelbelastung der Frauen geführt hat. Trotzdem hat die Ermöglichung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Mutterschaft zur gesellschaftlichen Integration von Frauen geführt und ihre gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und Optionen, ein eigenes Leben zu gestalten, erweitert (vgl. Julkunen 1991: 26). Dadurch lehnt sich die Lebensplanung von Frauen an das »Versprechen« des Staates im Sinne der sozialpolitischen Unterstützung an.29
28 Eine bedeutende Sozialleistung stellt das Kindertagespflegewesen dar und damit die Einführung der allgemeinen Kinderbetreuung im Jahr 1973. Nach diesem Gesetz sind die Gemeinden für die Organisation der Kinderbetreuung verantwortlich. Das Gesetz wurde im Jahre 1996 erweitert, als alle Kinder unter sieben Jahren, ungeachtet dessen, ob die Eltern des Kindes berufstätig sind oder nicht, das Anrecht auf einen kommunalen Kindergartenplatz bekamen. (Ministerium für Soziale Angelegenheiten und Gesundheit 1999: 16). 29 Die »Doppeldeutigkeit« (Siim 1988) des wohlfahrtsstaatlichen Geschlechterregimes wird von unterschiedlichen Positionen diskutiert; einerseits wird behauptet, dass das »sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatsregim« (Esping-Anderson 1990), wozu auch Finnland gerechnet wird, die Geschlechterteilung verändert, aber sie andererseits auch verfestigt, weil der Aufbau des Wohlfahrtsstaates und des öffentlichen Sektors einerseits Arbeitsstellen, neue Handlungsspielräume und Erfahrungshorizonte für Frauen anbietet und anderseits zur Abhängigkeit vom Staat als Arbeitnehmerin und Kundin im öffentlichen Sektor führt. Einige Kritiker des wohlfahrtsstaatlichen Modells deuten darauf hin, dass der Wohlfahrtsstaat keine Individualisierung für eine Frau garantiert hat, sondern sie nur aus dem privaten Patriarchat in ein öffentliches, staatliches Patriarchat geschoben hat (Hernes 1987a). Nach diesen Kritikern des Wohlfahrtsstaates sieht es so aus, als ob die öffentliche Macht doch in Männerhänden geblieben wäre. Dieses ist besonders in der Politik und in der Segregation des Arbeitsmarktes zu sehen. Obwohl Frauen ziemlich gut in den parlamentarischen Organen repräsentiert sind, sind sie jedoch in den korporativen oder in den Organen des privaten Sektors, wo ein Teil der bedeutenden Macht herrscht, in der Minorität. Außerdem ist die Ar-
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Dies spiegelt sich in den Lebensläufen von Frauen wieder: Biographien von Frauen in Finnland weisen berufliche Kontinuitäten auf (Pfau-Effinger 2000: 193-194), längere Familienphasen sind selten30, es sei denn, dass man arbeitslos31 war. Da im Zuge der Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesse der Arbeitsmarkt zur zentralen Instanz für die Vergesellschaftung aller Individuen wurde, hat die lange Tradition der Erwerbstätigkeit von Frauen die Identität finnischer Frauen entscheidend geprägt. Deshalb beruht das Selbstverständnis der Finninnen u.a. auf der Autonomie, die ein eigenes Erwerbseinkommen aus Vollzeitarbeit vorsieht (vgl. Gordon 1990, Anttonen 1997, Pfau-Effinger 2000: 184), was wiederum nicht als Hindernis für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gesehen wird.
beitsbeteiligung der Frauen keine Garantie für die Gleichberechtigung auf einem Arbeitsmarkt, der sehr stark geschlechtlich segregiert ist. Trotz dieser Probleme und der feministischen Kritik weisen die finnischen Sozialwissenschaftlerinnen darauf hin, dass Frauen in den nordischen Ländern und insbesondere Frauen, die Mütter sind, den Staat im Sinne der staatlichen »frauenfreundlichen« Politik brauchen (vgl. Julkunen 1991: 9), um ihre individuellen Bedürfnisse und Wünsche leben zu können. 30 Dieses Modell ist in Bewegung geraten. Es ist möglich, das eigene Kind für drei Jahre mit einer finanziellen Unterstützung zu Hause zu betreuen. Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit den gleichzeitigen Debatten über die Wichtigkeit der drei ersten Lebensjahre für die Entwicklung des Kindes. Anneli Anttonen und Soitu Liina (2006) stellten in ihrer Untersuchung fest, dass im europäischen Vergleich in Finnland außergewöhnlich viele Kinder über 3 Jahre zu Hause betreut werden und bezeichneten Finnland als »Kotiäitiyhteiskunta« d.h. als eine »Hausmutter«-Gesellschaft. Siehe zum Beispiel Jallinoja (2006) über den »Familismus« in Finnland des 21. Jahrhunderts. 31 Hier stellte die ökonomische Rezession Anfang der 1990er Jahre einen Bruch dar. Die Arbeitslosenquote stieg von 4 % auf weit über 20 %, und es waren besonders viele Berufsbereiche betroffen, in denen Frauen erwerbstätig waren. Die hohe Arbeitslosigkeit ist auf den Kollaps der Sowjetunion und den damit stark zusammenhängenden Exporthandel sowie auf die nationale Bankenkrise zurückzuführen. Diese Ereignisse wurden auch von den interviewten Migrantinnen als Begründung herangezogen, in Deutschland zu bleiben und nicht nach Finnland zurückzukehren.
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6.7.
E RHEBUNG : D IE G ESTALTUNG DER I NTERVIEWFÜHRUNG
Den Kontakt zu meinen Interviewpartnerinnen fand ich durch unterschiedliche Wege. Sie wurden mir vermittelt, oder ich benutzte meine ethnischen Netzwerke, um sie zu kontaktieren. Es waren persönliche Face-to-Face-Begegnungen, Telefongespräche, E-Mails oder Briefe, in denen ich mein Forschungsvorhaben und mein Interesse, sie als Interviewpartnerin zu gewinnen, erläuterte. Meistens erklärten sie sich gleich bereit, mir ein biographisch-narratives Interview zu geben, einige zögerten zunächst etwas und mit ein paar Kandidatinnen kam das Interview nie zustande.32 Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass alle meine Interviewpartnerinnen eine positive und sehr unterstützende Einstellung meinem Forschungsvorhaben gegenüber hatten und sich von meinem Forschungsvorhaben angesprochen fühlten. Die Interviewpartnerinnen erweckten bei mir den Eindruck, dass sie mir ihre Lebensgeschichten gerne erzählten und auch gerne dazu beitrugen, einen Blick auf das Leben der Migrantinnen aus Finnland zu ermöglichen. Die meisten meiner Interviewpartnerinnen traf ich in ihrer Wohnung, zwei an der Universität, und eine habe ich an ihrem Arbeitsplatz nach ihrem Arbeitstag interviewt.33 Ein informelles Gespräch in Form eines Smalltalks vor dem Beginn des biographisch-narrativen Interviews stellte immer einen Teil unserer Begegnungen dar und leitete oft schon die Erzählung ein.34 Diese Gespräche fungierten als eine Art Aushandlungsphase unseres Arbeitsbündnisses, währenddessen die Möglichkeit der Kommunikation und der Offenheit auf der intersubjektiven Ebene ausgehandelt wurde. Bevor ich das Tonbandgerät einschaltete, erklärte ich noch kurz mein Forschungsinteresse, den Verlauf unserer Interviewsitzung und betonte ausdrücklich mein Vorhaben, alle Namen zu anonymisieren und gegebe-
32 Es kann sein, dass meine Position als Migrantin finnischer Herkunft für einige Interviewpartnerinnen als zusätzliche Motivation fungierte, sich überhaupt interviewen zu lassen. Bei anderen kann dies jedoch auch zu Misstrauen geführt haben. 33 In den Biographien dieser drei Migrantinnen, die ich in öffentlichen Räumen interviewte, konnte ich eine extrem hohe geographische Mobilität im Vergleich zu den anderen Migrantinnen feststellen. 34 Es passierte oft, dass ich das informelle Gespräch abbrechen musste, da meine Interviewpartnerinnen schon währenddessen ihre Biographie erzählten, und ich fürchtete, nichts mehr in den Interviewsituation zu hören zu bekommen. Sicherlich wäre es sinnvoller, zunächst ein Gespräch mit der Interviewten zu führen und erst zu einem späteren Zeitpunkt das biographisch-narrative Interview.
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nenfalls auch zu maskieren. Die Wahl der Interviewsprache wurde den Migrantinnen selbst überlassen (siehe dazu Kapitel 6.4 und 6.5). Alle 16 Interviews wurden mit der Methode des biographisch-narrativen Interviews erhoben (siehe dazu Kapitel 6.2). Die Haupterzählung wurde mit der offenen Eingangsfrage, die die biographisch-narrative Erzählung in Gang setzen sollte, eingeleitet.35 »Minua kiinnostaa maahanmuttajanaisten elämä. Kertoisitko minulle elämäntarinasi.« »Ich interessiere mich für das Leben der eingewanderten Frauen. Könntest Du mir bitte Deine Lebensgeschichte erzählen.«
Da ich mich nun ausdrücklich für die Migrationsbiographien interessierte, diese aber aus der gesamten lebensgeschichtlichen Perspektive untersuchen wollte, formulierte ich eine offene Eingangsfrage, die die Dimensionen der Migration sowie der Biographie beinhaltete. Der Ausdruck »maahanmuuttajanaisten elämä«/»das Leben der eingewanderten Frauen« basiert auf einer Reflexion des gängigen wissenschaftlichen Vokabulars mit den darin implizierten Bedeutungen. Mit der Wortwahl »maahanmuuttajanainen«/»eingewanderte Frauen« wollte ich zunächst auf die auf Finnisch gängige Bezeichnung »siirtolainen« (vgl. »AussiedlerIn«), die häufig mit Migrant übersetzt wird, jedoch etymologisch einen Zusammenhang zum Kolonialismus und zu kolonialistischen Wanderungen (Kolonie/siirtomaa) herstellt, verzichten.36 Da nun die großen Wanderungen aus Finnland nach Nordamerika, Neuseeland und Australien stattgefunden haben und dabei die kolonialistische Begriffswahl auch eine bestimmte Berechtigung hatte, finde ich diesen Begriff im Zusammenhang mit den Untersuchungen über die Migration von Finninnen nach Deutschland jedoch nicht adäquat.
35 Hierfür wird meistens das Wort »Erzählaufforderung« angewandt. Ich vermeide das Wort, weil das genauso wie die vorher diskutierten Wörter »Detaillierungszwang« usw. einen merkwürdigen Klang eines Ausgeliefertseins beinhaltet. Stattdessen würde ich von »Erzählimpuls« sprechen. 36 In Finnland gibt es eine institutionalisierte Emigrationsforschung. Dies ist möglicherweise damit zu erklären, dass die Emigration aus Finnland im Gegensatz zur Immigration immer einen hohen Anteil bei den Bevölkerungswanderungen ausgemacht hat. Es gibt ein außeruniversitäres Forschungsinstitut, das auf Finnisch »Siirtolaisinstituutti« und auf Deutsch etwa »Migrationsinstitut« (»Aussiedlerinstitut«) heißt. Meines Erachtens ist der finnische Name etwas problematisch, da er kolonialistische Migrationen im Sinne der Eroberung der neuen Welt impliziert.
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Da es nun mein Anliegen war, in dieser Studie den Blick auf die strukturellen Bedingungen zu schärfen, fand ich es äußerst wichtig, dies auch auf der begrifflichen Ebene zu tun. Deshalb erschien mir der Begriff »siirtolainen«, der den Blick auf die Migrantinnen aus der Perspektive des hegemonialen Herkunftslandes richtet, nicht passend. Dagegen erschien der Begriff »Einwanderin« es mir zu ermöglichen, den Kontext des Ankunftslandes und die Position der Migrantin als eine subalterne Position im Vergleich zu der hegemonialen Position der Einheimischen in Betracht zu ziehen.37 Auch die in letzter Zeit im Finnischen gängige Bezeichnung »ulkosuomalaiset«/»AuslandsfinnInnen« drückt die Perspektive des Herkunftslandes aus.38 Der Blick auf die Migration als Einwanderung nach Deutschland stellte somit einen wichtigen Ausgangspunkt und eine wichtige Positionierung dieser Studie dar. Elke Korte (1990: 215) hat darauf hingewiesen, dass eine Interviewsituation auch bestimmte Positionierungen hervorruft.39 Wie nun die folgenden Fallstudien zeigen, mischen sich jedoch die Positionierungen und auch die unterschiedlichen Migrationsprozesse. Dies führte dann im Laufe der Studie dazu, dass ich mich für die Anwendung des angloamerikanischen Begriffs »Migration«, der auch in Deutschland einen gängigen analytischen Fachbegriff darstellt, entschieden habe, um die Migrationen nicht nur als Aus- oder Einwanderungen sehen, sondern in ihrer Vielfältigkeit und Komplexität deuten zu können.40
37 Hier werden »hegemoniale« und »subalterne« Position im Sinne von Stuart Hall angewandt. Für Hall bezeichnet die hegemoniale Subjektposition eine Macht- und Wissensposition, während der Blick des Subalternen nur über den Hegemonialen vermittelt wird und seine Sprache sich des dominanten Wissens- und Wortschatzes bedienen muss, um überhaupt zu Wort kommen zu können (vgl. Supik 2005: 39). 38 Hannele Chowdhury (1996) spricht von »finnischen Frauen« oder »Finninnen«, Outi Tuomi-Nikula (1989) und Sirkku Wilkman (2005) von »siirtolainen« und »ulkosuomalainen«/»AuslandsfInninnen« Timonen (2003) von »uusmuuttajat«/»Neuzugezogenen«. Meines Erachtens spiegeln alle diese Bezeichnungen die jeweilige Betrachtungsweise und den Kontext dieser Studien wider. 39 »Eine Befragungssituation ist immer eine Situation der Selbstaufmerksamkeit, in der nicht die eigene Person, sondern durch die Situation hervorgerufene Aspekte des Selbst verstärkt ins Bewusstsein treten. […]. So können selbst Personen, die im Alltag nicht das Gefühl haben, Ausländer zu sein, durch eine Ausländerbefragung zu ›Ausländern‹ werden.« (Korte 1990: 215) Dies gilt genauso für allerlei von Außen kommende Zuschreibungen. 40 Für eine differenzierte Erläuterung des Migration-Begriffs siehe zum Beispiel Treibel (1990: 17ff.)
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Da die Thematisierung der Migration als Einwanderung schon während der Kontaktaufnahme stattgefunden hatte, erschien es nun den Interviewten kein Problem zu sein, sich als Einwanderinnen zu sehen und zu positionieren. Jedoch lösten die offene Form und der Ablauf des Interviews leichte Irritationen aus. Obwohl es meinen Interviewpartnerinnen von Anfang an klar war, dass ich mich für ihre Biographien interessierte, schien jedoch die Situation, in der das eigene Selbst in den Vordergrund und die Interviewerin dagegen in den Hintergrund rückte, eine Herausforderung darzustellen. Mein Interesse, die Gesamtbiographie hören zu wollen, löste oft ein Gefühl oder die Anmerkung, »so viel erzählen zu müssen« aus. Jedoch folgte dem Erzählimpuls meistens nach einer kurzen Verzögerung ein narrativer Strom der Erzählung. Nachdem die meisten mit der chronologischen Erzählung angefangen hatten, gerieten sie sehr schnell in einen reichen narrativen Erzählfluss. Sie konnten die am Anfang noch schwierig anmutende Aufgabe bewältigen und sind meistens in einen »narrativen Strom des Nacherlebens [ihrer] Erfahrungen« (Schütze 1984: 78) geraten. Somit stellten das Genre der Biographie und die Biographisierung des Lebens an sich kein Problem dar, vielmehr entstand das Problem durch eine unbekannte bzw. als fremd erfahrene Interviewsituation, die zunächst einen Monolog erforderte.41 Die Migrantinnen orientierten sich in ihren Erzählungen größtenteils an einem chronologischen Erzählschema. Katris Interview war hier jedoch eine Ausnahme, da sie die Positionierung als Migrantin in den Mittelpunkt stellte und damit die Leitlinie ihrer Erzählung zunächst auf ihre Aus- und Einwanderungsprojekte legte, und in diesem Zusammenhang ihre Biographie entfaltete (mehr dazu im Kapitel 7). Da nun der Haupterzählung eine besondere Bedeutung bei der Entfaltung der Gestalt der Lebensgeschichte beigemessen wird und dabei der Interviewten eine Möglichkeit gegeben wird, frei und ohne Unterbrechung ihre Lebensgeschichte zu entwickeln, forderte dies von meiner Seite einerseits eine sprachliche Zurückhaltung als Interviewerin und andererseits ein aktives und empathisches Zuhören.42 Erst wenn die Haupterzählung mit »Coda« als beendet markiert wurde,
41 Siehe Joachim Matthes (1985: 31) zur Kritik des Erzählens als universale Kommunikationsform, wie dies nun Fritz Schütze vertritt. 42 Unter aktivem und empathischem Zuhören und aktiver Kommunikation verstehe ich eine lebensgeschichtliche Interviewführung, die sich an folgenden, von Gabriel Rosenthal (1995: 187) formulierten Kommunikationsprinzipien vonseiten des/der Interviewers/Interviewerin anlehnt: 1. Raum zur Gestaltentwicklung, 2. Förderung von Erinnerungsprozessen, 3. Förderung der Verbalisierung heikler Themenbereiche, 4. eine zeitlich und thematisch offene Erzählaufforderung (hierzu habe ich in der vorliegen-
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sind wir in den Nachfrageteil übergegangen, der dann mit der Bilanzierungsphase abgeschlossen wurde. Alle 16 Interviews folgten diesem Format. Mit Raija führte ich noch ein Nachfolgeinterview, da wir den Nachfrageteil aus zeitlichen sowie familiären Gründen abbrechen mussten, und sie selbst dann ausdrücklich ein weiteres Interview führen wollte. Die Interviews waren von unterschiedlicher Dauer und dauerten zwischen zwei und sechs Stunden. Nach jeder dieser intensiven und emotionalen Interviewsitzungen war auf beiden Seiten eine bestimmte Erschöpfung zu spüren, die einerseits auf die körperliche und geistige Praxis des Erzählens bzw. Zuhörens, andererseits auf die emotionale Reflexion der Lebensgeschichte zurückzuführen ist. Nach der Durchführung des jeweiligen Interviews erstellte ich ein Memo, in dem ich den Verlauf und die ersten Eindrücke von dem Interview festhielt. Danach folgten die Transkription und die Analyse entweder in Form von struktureller Beschreibung und analytischer Abstraktion oder in Form eines wenig arbeitsintensiven Verlaufsprotokolls. Bezüglich der theoretischen Aussagen und der Vergleichskategorien habe ich dann im maximalen und minimalen Vergleich weitere Interviews geführt und analysiert. Dieser Prozess führte langsam zu der Theoriebildung in Bezug auf die biographische Konstituierung und Konstruktion von Migrationsprozessen und Migrantinsein in einem transnationalen Sozialraum. Da es nun für die Auswertung der Biographien kein eindeutiges Rezept gibt, sondern viele unterschiedliche interpretative Ansätze und Verfahren,43 habe ich mir die Freiheit genommen und mich für eine Kombination von unterschiedlichen Ansätzen und Verfahren entschieden, da diese meiner Meinung nach am besten für eine differenzierte Erläuterung der Forschungsfrage geeignet erschien. Hier möchte ich im Folgenden noch kurz erläutern, wie ich auf der analytischen Ebene mit den von mir erhobenen Biographien umgegangen bin.
den Studie eine kleine Modifikation vorgenommen, Anmerk. von Ruokonen-Engler), 5. aufmerksames und aktives Zuhören, 6. sensibles und Erzählung generierendes Nachfragen und 7. Hilfestellung beim szenischen Erinnern. 43 Siehe dazu Kapitel 5.1.
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6.8.
AUSWERTUNG : B IOGRAPHIEANALYTISCHE R EKONSTRUKTION »We create the persons we write about, just as they create themselves when they engage in storytelling practices.« (Denzin 1989: 82)
Die Erhebung der biographisch-narrativen Erzählungen stellte das Rohmaterial dar, das ich im nächsten Schritt interpretierte. Wenn man einer abduktiven Forschungslogik folgt, generieren sich aus dem Erzählten, hier in Form von Biographien, ebenfalls neue gegenstandsbezogene Thesen und Theorien. Obwohl in der vorliegenden Studie die theoretische Diskussion über Differenz, Biographie und Migration vor der Darstellung der Fallanalysen erfolgte, waren das Heranziehen und die Vertiefung dieser theoretischen Perspektiven durch die aus dem empirischen Material erstellten Thesen und Kategorien und die dadurch benötigten theoretischen Fundierungen bedingt. Eine weitere theoretische Vertiefung findet dann im Zusammenhang der Diskussion der empirischen Ergebnisse anhand der Fallstudien statt (Kapitel 8). Den Ausgangspunkt der Biographieanalyse bildete der transkribierte Text, in dem das biographisch-narrative Interview in Textform festgehalten wurde. Anhand der Transkription stellte ich zunächst eine Kurzbiographie zusammen, die sich auf die biographischen Angaben aus dem Erzählten im Sinne des Lebenslaufes stützte. Danach unterzog ich den transkribierten Text einer formalen Textanalyse (Schütze 1983, 1984). Demzufolge wurde der Text sequentiell analysiert, wobei ich durch eine Line-by-Line-Analyse die Unterteilung des Textes in Textsorten (Erzählung, Beschreibung und Argumentation) und thematische Erzählsegmente vornahm. Dabei verglich ich noch die Darstellungsschemata von Argumentation und Erzähltem miteinander.44 Im Zusammenhang des handlungstheoretisch fundierten biographieanalytischen Ansatzes werden die Biographien als konstruierte Selbstdarstellungen betrachtet. Demzufolge ist die Biographie, die von einem konkreten Subjekt in einer konkreten Situation »konstruiert« wird, keineswegs frei erfunden, sondern bezieht sich auf ein gelebtes und erlebtes Leben und hat für das Subjekt eine handlungsorientierende Bedeutung (vgl. Schütze 1984). Hiermit geht es in der
44 Dies ist eine Vorgehensweise, die sich von Fritz Schützes (1983) Angaben zur formalen Textanalyse, die nicht-narrative Textpassagen eliminiert, unterscheidet. Zur Bedeutung von Argumentationen für die Biographieanalyse siehe Dausien (2001).
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Biographieanalyse nicht um die Konstruktion der objektiven »Wahrheit« im naiven Sinne, sondern um die (Re-)Konstruktion der Konstruktionsregeln oder Konstruktionsprinzipien des Dargestellten (vgl. Dausien 1994: 145f.).45 So ist es möglich, aus dem Erzählten eine Darstellungsstruktur und ihre Logik herauszuarbeiten. 6.8.1. Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens Die Darstellungsstruktur des Erzählten weist nach Werner Kallmeyer und Fritz Schütze (Schütze 1976, Schütze 1984: 78f.) eine systematische Ordnung auf, die aus der Interaktion in der Kommunikationssituation abzuleiten ist. Diese Ordnungsstruktur fasst Schütze unter dem Begriff der »kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens« (1984) zusammen. Er unterscheidet dabei zwischen folgenden Ordnungsprinzipien, die dem sozialen Handeln zugrunde liegen und die ich hier nun kurz erläutern möchte, da sie im Zusammenhang der später dargestellten Biographien auftreten werden. Biographie- und Ereignisträger und ihre Beziehungen untereinander
Jede biographische Erzählung verlangt eine Selbsteinführung des Erzählers als Biographieträger. Neben dem Biographieträger gibt es noch andere Ereignisträger, die als signifikante andere, kollektive soziale Einheiten und als unbelebte Objekte einen wichtigen Stellenwert erhalten und mit denen der Biographieträger in symbolische Interaktion tritt. Der Biographieträger steht also mit den anderen Ereignisträgern »in einem Geflecht grundlegender und sich wandelnder sozialer Beziehungen« (Schütze 1984: 85). Typisch für diese kognitive Figur ist auch, dass sich der Erzähler immer wieder auf sich selbst in Form von autobiographisch-theoretischen Kommentaren bezieht.
45 In ihrer postkolonialen dekonstruktiven Biographieanalyse nimmt Encarnación Gutiérrez Rodríguez eine ähnliche Position ein: »Biographien sind in diesem Sinne Darstellung einer Intelligibilität des Subjekts. Sie repräsentieren keine intuitiven oder außerhalb der Sprache stehenden Phänomene. Selbstdarstellungen bedürfen demnach eines Zeichensystems, das in der Logik der Schrift eingeschrieben ist. Sie nehmen Gestalt an auf der Basis eines spezifischen kulturellen Codesystems« (1999a: 64).
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Ereignis- und Erfahrungsverkettungen
Die autobiographische Erzählung baut auf der »Abfolge von Zustandsveränderungen des Biographieträgers« auf (Schütze 1984: 88). Demzufolge sind die Zustandsveränderungen des Biographieträgers nicht denkbar ohne »seine Verwobenheit in Ereignisabläufe (ob diese nun eher einen sozialen oder einen innerpsychischen Verursachungsschwerpunkt aufweisen)« (a.a.O.). Von besonderer Bedeutung ist dabei, welche Erfahrungshaltung der Biographieträger zu den dargestellten Ereignissen einnimmt. Schütze unterscheidet hier vier unterschiedliche Erfahrungshaltungen bzw. Prozessstrukturen gegenüber lebensgeschichtlichen Erlebnissen: •
•
•
•
Biographische Handlungsschemata: Der Biographieträger nimmt eine aktive, intendierte Haltung den lebensgeschichtlichen Ereignissen gegenüber ein. Sie können vom Biographieträger geplant sein, und der Erfahrungsablauf besteht in dem erfolgreichen oder erfolglosen Versuch, sie zu verwirklichen. Der Biographieträger betrachtet biographische Handlungsschemata grundsätzlich als Realisierungsschritte der eigenen Ich-Identität im Verlauf der Lebensgeschichte. Institutionelle Ablaufmuster der Lebensgeschichte: Hier orientiert sich der Biographieträger an vorgegebenen Normen und Werten. Es findet die Angleichung der Merkmale der Ich-Identität an institutionelle Erwartungsstrukturen statt. Verlaufskurven: »Die lebensgeschichtlichen Ereignisse können den Biographieträger als übermächtige überwältigen, und er kann zunächst nur noch auf diese ›konditionell‹ reagieren, um mühsam einen labilen Gleichgewichtzustand der alltäglichen Lebensgestaltung zurückzugewinnen« (Schütze 1984: 92). Negative Verlaufskurven stellen eine Bedrohung der Entfaltung oder der bereits erreichten Ich-Identität dar. Wandlungsprozesse: Die »Wandlungsprozesse« können vom Biographieträger im Prinzip nicht antizipiert werden. Der Biographieträger erlebt dabei eine systematische Veränderung seiner Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten. Nachträglich, wenn sie bereits ihre Wirksamkeit entfaltet haben, werden sie als Ausschöpfung seines Spontaneitäts- und Kreativitätspotentials gedeutet (Schütze 1984: 91f.).
Soziale Rahmen als kognitive Figur: Situationen, Lebensmilieus und soziale Welten
Hier handelt es sich um die Rekapitulation von Orientierungs- und Vorstellungskontexten, in denen sich die Lebensgeschichte entfaltet. »Eine autobiographische Stegreiferzählung muß im Prinzip für jede Zustandsänderung des Biographieträgers und anderer Ereignisträger, die für die autobiographische Erfahrungsrekapitulation relevant sind, den jeweils spezifisch erfahrbaren und intentional adressierba-
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ren sozialen Rahmen abgeben, vor dessen Horizont die Zustandsänderung überhaupt erst sichtbar und faktisch möglich wird.« (Schütze 1984: 98)
Diese Erwartung setzt somit voraus, dass der Biographieträger Informationen zum sozialen Rahmen der biographischen Ereignisse liefert. Die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte
Der Erzähler ordnet das Erfahrungsmaterial in Bezug auf einen thematischen Gesichtspunkt (Schütze 1984: 103). Die Ausarbeitung der Ordnungsstruktur des Erzählten bezüglich der »kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens«, Erzähl- und Ereigniskettungen sowie biographischen Prozessstrukturen bot mir zunächst ein Instrumentarium, das biographisch-narrative Material einzuordnen und zu interpretieren. Danach wurden dem Ansatz der Grounded Theory folgend Kernkategorien des Einzelfalles gebildet. Diese flossen dann in die schriftliche Bearbeitung des Interviewtextes als eine »strukturelle Beschreibung« ein. Dabei habe ich einige Ergänzungen vorgenommen und habe meine Aufmerksamkeit auf die biographischen Konstruktionen von Differenz sowie auf die Anwendung von diskursiven Elementen als Deutungsmuster gerichtet. 6.8.2. Biographische Konstruktion von Differenz Da mich in der vorliegenden Arbeit insbesondere die biographischen Konstruktionen von Migration, Geschlecht und Ethnizität interessierten, knüpfte ich mit dem oben geschilderten Verfahren an die Überlegungen von Bettina Dausien zur narrativen Konstruktion von Geschlecht an. Der narrationstheoretisch fundierte und sozialkonstruktivistisch orientierte Ansatz der Biographieforschung, den Bettina Dausien in ihren Arbeiten entwickelt hat (Dausien 2001, 2002b), stellt eine Ergänzung zu den narrationstheoretischen Überlegungen von Schütze dar. Während Schütze eine Gleichstellung von Leben und Erzählung vorgeworfen wird,46 verbindet der Ansatz von Dausien dagegen Perspektiven der sozialen Konstruktion und der Phänomenologie miteinander (vgl. Dausien 2002b). Mit dieser sozialkonstruktivistischen Positionierung distanziert sich Dausien von sozialwissenschaftlichen Erklärungsversuchen, die »naiv auf das Alltagswissen als Plausibilisierungsressource zurückgreifen, anstatt es zum Gegenstand zu machen« (Hirschauer 1993: 57). Statt zu fragen, »wer ist wie«, oder »wer ist was«,
46 Zur Kritik von Schütze siehe zum Beispiel Bude (1985), Rosenthal (1995) und Juhasz/May (2003).
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stellt sich nun die Frage, »wie und in welchen Prozessen nehmen sich Menschen als wer wahr?« oder »wie wird etwas uns repräsentiert« (Becker-Schmidt/Knapp 2000: 74). Somit eröffnet die biographische Perspektive einen differenzierten Zugang zur Analyse von Geschlechterkonstruktionen und stellt eine Ergänzung zu ethnographischen Analysen des »doing gender« dar (Dausien 2001: 58). Die biographische Perspektive fragt »nach der individuell-biographischen Dimension von Konstruktionsprozessen, d.h. sie stellt die Verkettung situativer ›doing gender‹-Prozesse in Bezug auf die Achse ›Lebenszeit‹ und im lebensgeschichtlichen Erfahrungszusammenhang des reflexiven Subjekts in den Mittelpunkt (vgl. Dausien 1998, 2000)« (Dausien 2001: 58).
Dadurch ist es möglich, anhand individueller Geschichten biographische Erfahrungsstrukturen und Wandlungsprozesse zu rekonstruieren, die Aufschluss über gesellschaftlich und kulturell etablierte Geschlechterkonstruktionen und den individuellen Umgang mit ihnen geben. Dies ermöglicht auch neben dem Geschlecht andere Differenzkonstruktionen wie Klasse, Ethnizität, Generation usw. im Zusammenhang von Erfahrungen zu rekonstruieren und nach der strukturellen Auswirkung dieser Konstruktionen für das Handeln der Subjekte zu fragen. Dadurch wird nicht von vornherein festgelegt, wie diese Differenzen zu definieren sind, sondern es wird der Frage nachgegangen, ob diese zu biographisch bedeutenden Kategorien des Handelns sowie der Selbstpräsentation avancieren und so aus der Biographie rekonstruiert werden können. Da nun Differenzen im Bereich von Geschlecht und Ethnizität mit vielen Erfahrungen und Themen verknüpft sind, gibt die biographieanalytische Rekonstruktion von Erfahrungsaufschichtungen Auskunft darüber, wie und in welchen Prozessen die Differenzen bezüglich Geschlecht und Ethnizität an der Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit beteiligt sind. In der Forschungspraxis der Analyse bedeutet dies, dass danach gefragt wird, wie in dieser rekonstruierten Textstruktur auf Geschlecht und Ethnizität Bezug genommen wird. Es geht also darum, so Dausien, »die prozesshafte Entfaltung dieser in sich komplexen, vielfältigen und widersprüchlichen Bedeutungen von Geschlecht in der individuellen Besonderheit des Falles (und später fallvergleichend) zu rekonstruieren« (2002b: 298). »Die Fallanalyse zeigt, wie gesellschaftliche Geschlechterkonstruktionen individuellbiographisch bearbeitet – aufgegriffen oder zurückgewiesen, unterlaufen, kritisiert und mit eigenem Sinn ausgestattet – werden. Sie zeigt andererseits, wie sich soziale Regeln und kulturelle Muster der dominanten heterosexuellen Geschlechterordnung gewissermaßen
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als redundante Hintergrundkonstruktionen in Biographien einschleichen und als unhinterfragte Wahrnehmungs- und Handlungsmuster längst etabliert haben, ehe sie womöglich – aus Anlaß konkreter Konflikte und Widersprüche – für die Erzählerin selbst reflexiv, d.h. zum Thema biographischen Handelns und expliziten Nachdenkens im Interview, werden.« (Dausien 2001: 63)
In der vorliegenden Studie zeigte sich während des Analyseverfahrens, dass in biographischen Erzählungen verschiedene Differenzkonstruktionen in ihrer Verschränkung (Intersektionalität) zum Vorschein kommen. Dausien (2002b: 301) weist darauf hin, dass »Erfahrungen mit Geschlecht« mit vielen anderen Erfahrungen und Themen verknüpft sind, und nicht ohne weiteres analytisch zu trennen sind. Dies spricht dafür, dass die rekonstruktive Biographieanalyse einen wichtigen Zugang ermöglicht, Differenzen in ihrer Intersektionalität im Zusammenhang von Erfahrungen zu untersuchen (vgl. Lutz/Davis 2005, RuokonenEngler 2006). 6.8.3. Diskurse als Deutungsmuster Wie nun schon vorher angedeutet, gehe ich in der vorliegenden Studie davon aus, dass biographische Subjektkonstruktionen als Vermittlungsakt zwischen Individuum und Gesellschaft sowie Struktur und Handeln untersucht werden können. Jedoch erschien es mir während der Biographieanalyse sinnvoll, diese Perspektive durch die diskursive Dimension zu erweitern. Dabei will ich nicht im Sinne von Michel Foucault alle sozialen und institutionellen Praktiken unter dem Diskurs-Begriff fassen, sondern verstehe in meiner Arbeit, in Anlehnung an Encarnación Gutiérrez Rodríguez (1999a: 65), Diskurse als einen gesellschaftlichen Bereich neben dem Sozialen und Institutionellen. »Der Begriff der Institution bezeichnet die staatlichen Instanzen und das Soziale das Feld der Interaktionen. Diskurs umfasst das Feld von Sprache-Schrift« (a.a.O.). Demzufolge können Diskurse neben den Institutionen und dem Sozialen als das subjektives Handeln strukturierende Element betrachtet werden. Somit haben Diskurse wirklichkeitskonstituierende Funktion und können als biographisches Hintergrundwissen untersucht werden. Denn »Diskurse wirken in Handlungs- und Deutungsmustern als Generatoren und Stabilisatoren von Alltagshandeln und Selbstbildern und können als solche rekonstruiert werden« (Schäfer/Völter 2005: 179). Jedoch sind Subjekte, nach Thomas Schäfer und Bettina Völter (2005: 180), nicht nur TrägerInnen oder ReproduzentInnen von Diskursen, sondern sie können mittels ihrer symbolischen Performanzen (wozu auch die Biographie gehört) auf Diskursformationen einwirken und sind damit an deren Produktion oder Transformation
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beteiligt.47 Dadurch stellt sich für die Biographieanalyse, ähnlich wie bei der Untersuchung von Differenzen und ihrer konstitutiven Auswirkung, die Frage, welche Bedeutung diese für die biographische Handlungsorientierung und Selbstpräsentation erlangen kann und wie die BiographInnen selbst zu der Produktion, Reproduktion und Transformation von Diskursen beitragen können. Somit hat mich bei der Analyse des Erzählten insbesondere interessiert, ob dabei auf bestimmte ethnisierte, vergeschlechtlichte oder andere Stereotypien oder Diskurse rekurriert wird und in welchem Zusammenhang diese zur biographischen Handlungsorientierung sowie für die biographische Selbstpräsentation als Frau undMigrantin stehen. Hiermit wurden auf der Ebene der strukturellen Beschreibung Textsorten, Prozessstrukturen, Konstruktionen von Differenzen und diskursive Elemente ausgearbeitet. Anschließend erfolgte dann die theoretische Vertiefung der strukturellen Beschreibung in Form der analytischen Abstraktion. Dabei wurde die Gesamtstruktur der Biographie sowie die entwickelten Kernkategorien und möglichen Vergleichsdimensionen theoretisch zusammengefasst. Danach wurden, nach dem Verfahren des »theoretical sampling«, weitere Interviews entweder als maximale oder minimale Kontrastfälle ausgewählt und in die Biographieanalyse einbezogen. Als dann keine weiteren neuen Erkenntnisse zu finden waren, wurde der Gegenstandsbereich als gesättigt gedeutet und die Konstruktion eines theoretischen Modells in Bezug auf die Migration und Subjektkonstruktion gefertigt. 6.8.4. Zur Auswahl der Fälle für eine exemplarische Fallrekonstruktion Da nun durch das hermeneutische Interpretationsverfahren von den individuellen Fällen auf das Allgemeine geschlossen werden soll, dienen die Einzelfallanalysen nicht nur zur Fassung des subjektiven Sinns, sondern zur Erfassung des Allgemeinen.
47 Thomas Schäfer und Bettina Völter (2005: 181) sehen in der Verknüpfung von Biographie- und Diskursanalyse eine Möglichkeit für eine empirisch gestützte Weiterentwicklung der Foucaultތschen Diskurstheorie. »Denn ihr Autor selbst interessierte sich zwar für die Genealogie diskursiver Formationen, für ihn war jedoch die Frage des Wandels von Diskursen und Diskursformationen nicht von primärem Interesse; sie galt ihm seit der ›Ordnung der Dinge‹ sogar als ein kaum befriedigend zu beantwortendes Problem« (a.a.O.).
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»Der Gegenstand des soziologischen Blicks ist das Spezifische am individuellen Fall, nicht seine Singularität. Das Individuum interessiert nur als Repräsentant einer bestimmten Kategorie.« (Bude 1993: 425)
Da nun bei der Rekonstruktion und Auswertung der Biographien die Darstellungslogik der Subjekte, ihre Relevanzgeschichtspunkte und Konstruktionsprinzipien der Binnenperspektive erhalten bleiben müssen, führt diese zu einer Situation, in der die Aussagen nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden dürfen (Dausien 1994: 146). Dieses »Verbot der Gestaltstörung« (Rosenthal 1995) stellt dann die Frage, wie die riesigen Mengen von biographischem Material, die zu Krisensituationen und Selbstzweifeln der Forscherin/des Forschers führen können (vgl. Ricker 2000: 97), in einer adäquaten und ergebnisorientierten Form dargestellt werden können. Dausien (1994: 146) schlägt vor, dass nachdem das Material zunächst durch die Sequenzanalyse in seiner Strukturiertheit und Prozesshaftigkeit rekonstruiert worden ist, im zweiten Schritt empirisch fundierte Hypothesen gebildet und das empirische Material unter einer bestimmten Perspektive interpretiert und strukturiert wird. Um den Interpretationsprozess zu verdeutlichen, habe ich mich für einen Darstellungsmodus entschieden, der an der Struktur der biographischen Konstruktion festhält, diese aber schon im Zusammenhang mit den in der analytischen Abstraktion gestellten Thesen und Kategorien diskutiert. Außerdem werden besonders aussagekräftige Stellen, die die Wandlungsprozesse verdeutlichen, einer Kernstellenanalyse unterzogen. Es wurden drei exemplarische Biographien für die Präsentation des empirisch-analytischen Teils ausgewählt. Die Biographien sind nach dem Prinzip der maximalen Kontrastierung in Bezug auf unterschiedliche biographische Migrationsprozesse und die Positionierung als eine ethnisierte Frau in transnationalen sozialen Räumen ausgesucht worden. Sie verdeutlichen verschiedene Vergesellschaftungs- und biographische Transformationsprozesse als Momente sowohl der biographischen Subjektivierung als auch der Biographisierung des Lebens. Obwohl es nun bei diesen drei Biographien um maximale Vergleiche geht, lassen sich dabei auch Gemeinsamkeiten feststellen. Jedoch dienen sie nun an dieser Stelle der Verdeutlichung jeweiliger biographischer Prozesse und Differenzkonstruktionen. Die folgenden Biographien werden als Repräsentanten eines sozialen Feldes einer feminisierten bildungsorientierten »Individualwanderung« bzw. »individuellen« Migration im Zusammenhang von Individuierungsprozessen betrachtet. Wie die Individuierungs- und Migrationsprozesse dieser Migrantinnen biographisch konstruiert werden und welche zentralen Muster der biographischen Identitätsarbeit sich aus diesen Biographien rekonstruieren lassen, steht im Zentrum der folgenden Analysen. Obwohl es sich hierbei um maximale Ver-
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gleiche im Hinblick auf die Konstituierung und biographischen Konstruktionen von Migrationsprozessen und Migrantinsein handelt, können auch Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden. Jedoch haben die im Folgenden dargestellten drei exemplarischen Fallanalysen die Aufgabe, die später (Kapitel 8) stattfindende vergleichende Diskussion des Gesamtmaterials zu fundieren.
7. Biographische Rekonstruktionen: Einige exemplarische Fallanalysen
Nachdem ich die theoretischen, methodologischen und methodischen Ansätze dieser Studie vorgestellt habe, wende ich mich nun der biographieanalytischen Darstellung der biographisch-narrativen Interviews mit Migrantinnen finnischer Herkunft zu. Aus dem Gesamtsample von 16 Biographien werden hier 3 Biographien vorgestellt und miteinander kontrastiv diskutiert. Diese ausgewählten exemplarischen Fallstudien stellen jeweils in ihrer Besonderheit allgemeine Hypothesen dar, die im permanenten Vergleich mit den in die Untersuchung einbezogenen Interviews entwickelt worden sind. Dadurch werde ich anhand dieser exemplarischen Fallstudien die aus dem Gesamtsample gewonnenen Ergebnisse bezüglich zentraler Beschreibungskategorien von biographischer Erfahrungsrekapitulation bzw. Konstruktionsprinzipien sowie verschiedener biographischer Migrationsprozesse darstellen. Die Biographien von Saara, Katri und Seija haben sich wegen ihrer unterschiedlichen Migrationsprozesse und Subjektkonstruktionen zum maximalen, kontrastiven Vergleich geeignet erwiesen. Der Fragestellung der Studie entsprechend werde ich mich in den folgenden Fallanalysen auf bestimmte Dimensionen der Biographien konzentrieren, um verschiedene Migrationsprozesse, vergeschlechtlichte und ethnisierte Erfahrungen sowie die Konstituierung des Transnationalen aus der biographieanalytischen Perspektive erklären zu können. Dadurch geht es im Folgenden um eine ergebnisorientierte Darstellung, die verdeutlichen soll, wie Geschlecht und Ethnizität als Strukturkategorien und Konstruktionen an der Subjektivierung und biographischen Prozessen beteiligt sind, welche Folgen diese für das Handeln der Subjekte haben und welche Schlussfolgerungen daraus für die Subjektivierungsprozesse von Frauen in der Migration – aus einer biographischen Perspektive betrachtet – zu ziehen sind. Die Rekonstruktion und analytische Darstellung der Biographien stützen sich auf unterschiedliche Arbeitsschritte während des Forschungsprozesses, die ich
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an anderer Stelle schon erläutert habe (siehe dazu Kapitel 6). Die Darstellung der exemplarischen Fallanalysen geschieht folgendermaßen: Zunächst reflektiere ich die Kontaktaufnahme und Interviewsituation, danach folgen allgemeine Gedanken zum geführten Gesamtinterview, bis ich dann in die Biographieanalyse eingehe. Dabei stelle ich die interviewte Person durch eine biographische Kurzbeschreibung, mit den zentralen Lebensereignissen, die aus den Biographien rekonstruieren wurden, vor. Anschließend folgt eine Darstellung der Ergebnisse. Dabei ziehe ich relevante Interviewsequenzen bzw. verdichtete Kernstellen aus den Interviews heran, um die theoretische Argumentation anhand der Empirie zu erläutern. Zum Schluss gebe ich noch eine zusammenfassende Betrachtung der analytischen Darstellung, die das Typische des Einzelfalls, den Migrationsprozess, die vergeschlechtlichte und ethnisierte biographische Subjektivitätskonstruktion und die Konstituierung des Transnationalen erläutert. Die in die schriftliche Darstellung einbezogenen Interviews sind alle anonymisiert und maskiert, um den Schutz der interviewten Personen zu gewährleisten. In der folgenden Darstellung der Biographinnen habe ich mich bewusst gegen das gängige Format »Vorname und Nachname« bzw. »Frau Nachname« entschieden und stattdessen die Biographinnen meines Samples mit dem Vornamen benannt. Dies folgt aus der Tatsache, dass das Duzen und somit die Benutzung der Vornamen in Finnland sowie unter den FinnInnen, die in der Migration leben, üblich ist. Die Anwendung von Gesamtnamen sowie Titeln, die zum Beispiel in der Darstellung von deutschsprachigen Biographieanalysen gängig sind, hätte hier wie eine künstliche Distanzierung von meinen Interviewten gewirkt. Dies hätte der Interviewsituation, in der geduzt wurde und in der Vornamen verwandt wurden, nicht entsprochen und hätte damit die in der Interviewsituation erreichte intersubjektive Nähe auf der sprachlichen Ebene unnötig verschleiert. Bevor ich mit der Darstellung der Biographien beginne, möchte ich noch ausdrücklich betonen, dass es hier um analytische Lesarten des empirischen Materials des zweiten Grades (Schütz 1971) geht und sich damit die Darstellung schon auf der Ebene der rekonstruierenden Auswertung der Biographien bewegt. Die hier geführten biographischen Analysen konzentrieren sich nicht auf die Frage der objektiven »Wahrheit«, die an sich eine Illusion ist, sondern auf die Darstellung der im empirischen Material aufgedeckten »Konstruktionsprinzipien« des Biographischen, die Aufschluss über die subjektive Welt- und Selbstsicht, die Handlungsorientierung, Handlungsbedingungen und Bewältigungsstrategien geben.
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7.1.
S AARA: »E S KANN SEIN , DASS ICH INS GEHE .« (HE11/345-11/346)
AUSLAND
Im Folgenden werde ich mich mit der biographischen Lebenskonstruktion von Saara, einer Migrantin finnischer Herkunft, analytisch auseinandersetzen. Die aus der biographischen Analyse von Saaras Lebenskonstruktion gewonnenen Ergebnisse waren richtunggebend für die Weiterentwicklung des Samples sowie für die Erstellung von Vergleichskategorien für die Fallkontrastierungen. Somit ist das biographische Interview mit Saara als ein Ankerfall des Samples zu bezeichnen. Die Gesamtgestalt der Erzählung kreist um die Problematik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Migration und lässt die Subjektkonstruktion als Migrantin im Zusammenhang der vergeschlechtlichten strukturellen Bedingungen und Handlungsmöglichkeiten in der Einwanderungsgesellschaft untersuchen. Saaras Migrationsbiographie verdeutlicht einen Migrationsprozess, der sich als Fortsetzung der schon in der Kindheit biographisch eingebetteten, internationalen Orientierung ihrer gesamten Familie rekonstruieren lässt. 7.1.1. Unsere Begegnungen: Anmerkungen zum Interview Kontaktaufnahme und Bias
Das biographisch-narrative Interview mit Saara fand im Jahre 2000 statt. Unser erster Kontakt entstand aus beruflichen Gründen, später begegneten wir uns oft im Rahmen der Veranstaltungen der finnischen Community1 in Deutschland. Saara möchte ich als eine Schlüsselinformantin dieser Studie bezeichnen, da sie mir wertvolle Informationen über das Leben von FinnInnen in Deutschland geliefert hat. Als sich mein zunächst persönliches Interesse am Leben in der Migration allmählich zu meinem wissenschaftlichen Forschungsvorhaben über die Biographien von Migrantinnen aus Finnland wandelte, wandte ich mich zunächst an sie, um mit ihr ein biographisch-narratives Interview führen zu können. Interviewsituation; Auszüge aus den Forschungsnotizen
Da ich mit Saara das erste biographisch-narrative Interview des Samples führte, bereitete ich mich besonders sorgfältig vor. Um mich vor den methodischen Schwierigkeiten während des Interviews zu schützen, überlegte ich mir mögliche problematische Situationen, die während der Interviewführung vorkommen
1
Mit der Bezeichnung »finnische Community« sind alle existierenden ethnischkollektiven Formationen von FinnInnen in Deutschland gemeint.
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könnten, wenn das biographisch-narrative Interview aus irgendwelchem Grund nicht so laufen würde, wie Fritz Schütze (1983) es in seinen theoretisch-methodischen Ausführungen zum narrativen Interview dargestellt hatte. Leider hatte ich dort keine Hinweise für den Umgang mit mich damals verunsichernden Gedanken über die möglichen Probleme, wie das des Schweigens, des Verweigerns oder emotionaler Ausbrüche gefunden. Ich suchte auch nach Hinweisen über die interaktive Gestaltung des Interviews sowie über die Reflexion der Subjektivität des Forschenden im Forschungsprozess. Bei dieser Suche wandte ich mich an ethnographische und feministische Methodenbücher, wo ich einige sehr hilfreiche Reflexionen zu diesen Themengebieten fand (siehe Kapitel 6). Das größte Unbehagen entstand jedoch aus der Tatsache, dass ich es mir nicht vorstellen konnte, dass jemand tatsächlich bereit sein würde, einer fremden Person seine gesamte Lebensgeschichte zu erzählen, ohne dabei Probleme zu bekommen. Gleichzeitig wusste ich aber aus eigener Erfahrung, dass vielen MigrantInnen das lebensgeschichtliche Genre und die Selbstreflexion in Bezug auf die Entstehung ihres Migrationsprojekts nicht unbekannt ist, da sie in ihrem Alltag immer wieder gefragt werden, wie es dazu kam, dass sie in Deutschland leben. Somit können die biographisch-narrativen Konstruktionen des eigenen Lebens und des Migrationsprojektes als »alltagsweltliche Praxis« (vgl. Schütze 1984), mit der MigrantInnen in der Einwanderungsgesellschaft begegnet wird, bezeichnet werden. Da die Methode des narrativen Interviews auf die Generierung der Erzählungen abzielt, übte ich noch Wie-Fragen und überlegte mir Frageformen, die möglichst erzählgenerierende Einwirkung haben könnten. Außerdem fasste ich einen kurzen Leitfaden über die für mich wichtig erscheinenden externen Fragen zusammen, um diese im Fall, dass diese Themen, die mir wichtig erschienen, in der Haupterzählung nicht vorkamen, dann im Nachfrageteil thematisieren zu können (siehe Anhang). Die Vorbereitungen, die ich vornahm, um die eigene Unsicherheit zu überwinden, gingen noch in meinem Schlaf weiter. Ich träumte von Schreckensszenarien, wie zum Beispiel dass ich das Interview nicht führen konnte, da ich das Aufnahmegerät zu Hause vergessen hatte. Dies war zum Glück nicht der Fall am nächsten Tag, als das Interview bei Saara zu Hause stattfand. An dem Tag schneite es. Der fallende Schnee, ein für Saara und mich bekanntes Element, rief bei mir sowie bei Saara die Erinnerung an den finnischen Winter hervor. Der Schnee fungierte in dieser Situation wie eine ethno-nationale Symbolik, die uns Unbekannte etwas näher brachte und dabei auf die von uns geteilten Erfahrungen des Schnees in Finnland hinwies. Vor der Interviewführung erklärte ich Saara die Aufteilung des Interviews in die Haupterzählung und den Nachfrageteil. Das Interview wurde auf Finnisch
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geführt und Saara benutzte wenig Sprachwechsel zwischen dem Finnischen und Deutschen. Saara erzählte fließend und chronologisch mehrere Stunden lang. Das Interview wurde einmal durch einen Bandwechsel und das zweite Mal durch eine kleine Pause unterbrochen. Nach dem langen Interview waren sowohl Saara als ich erschöpft und beide spürbar emotional gerührt. Wir führten noch ein kurzes informelles Gespräch am Küchentisch und Saara gab mir Hinweise für weitere Kontaktaufnahmen. Anmerkungen zum Interview
Die folgende biographische Analyse basiert auf der Analyse der Interviewtranskriptionen, die von den aufgenommenen Tonbändern möglichst genau gefasst sind. Das transkribierte Interview mit Saara entspricht 62 Seiten, davon sind 37 Seiten Haupterzählung, 25 Seiten Nachfrageteil und eine daran anschließende Bilanzierungsphase. Die formale und inhaltliche Struktur des Interviews ist aus der Transkription des Interviews herauszulesen. Das Interview wurde auf Finnisch geführt, während die strukturelle Beschreibung, die die formale Struktur, Inhalte und Textsortenbestimmung festhält, auf Deutsch aufgeschrieben wurde. Für die biographische Falldarstellung wurden zentrale Textpassagen ins Deutsche übersetzt.2 Demzufolge erfolgt in hier zitierten Textpassagen eine inhaltliche Wiedergabe, die möglichst nah dem Original folgt, aber auf eine direkte Übersetzung der auf Finnisch erfolgten Transkription verzichtet. Da für die Analyse die originale Transkription bzw. die direkte Übersetzung der Transkription zur Verfügung stand, habe ich mich nun an dieser Stelle für ein Darstellungsformat entschieden, das ich aus forschungsethischen Gründen für adäquat empfinde (siehe mehr dazu im Kapitel 6). In dem Interview erzählt Saara über ihr Leben fließend und reflektierend. Ihre Erzählung folgt im Großen und Ganzen einem chronologischen Erzählschema von der Kindheit bis zu dem Zeitpunkt des Interviews. Dabei ist jedoch die gesamte Lebensgeschichte durch Saaras damals aktuelle Erzählposition gekennzeichnet. Dies lässt sich zum Beispiel an ihrer Beobachterin- bzw. Kommentatorenrolle, die sie während der sonst chronologischen Erzählung entlang der Achse der Lebenszeit einnimmt, erkennen. Sonst erzählt Saara hauptsächlich in der IchForm, benutzt jedoch auch oft – für die finnische Sprache typische – Passivkon-
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Das Interview mit Saara, wie mit den meisten meiner Interviewten, wurde auf Finnisch geführt. Somit sind die hier zitierten Interviewpassagen übersetzt worden. In der finnischen Sprache gibt es keine pronominale und substantivierte Geschlechtertrennung. Deshalb werde ich im Weiteren die Substantive, aus denen das Geschlecht nicht klar hervorgeht, sowohl in weiblicher als auch männlicher Form übersetzen.
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struktionen, obwohl sie über sich selbst spricht. Saara als Biographieträgerin stellt sich in Bezug zum Erzählschema »Ich-in-Beziehungen« (vgl. Dausien 1996: 328) dar. Im Folgenden fasse ich zunächst in der Form eines aus dem biographischnarrativen Interview herausgearbeiteten biographischen Portraits Saaras erzählte Lebensgeschichte im Sinne eines Lebenslaufes zusammen. Danach folgt die biographieanalytische Falldarstellung, die anhand der in der strukturellen Beschreibung entwickelten zentralen Analysekategorien und Hypothesen dargestellt wird. Ich habe mich hier für eine Darstellungsart entschieden, die es mir ermöglicht, die durch die strukturelle Beschreibung und sequenzielle Analyse gewonnenen empirischen Ergebnisse zu abstrahieren und zusammen mit der Gesamtbiographie zu diskutieren. Zur Darstellung dieser Ergebnisse ziehe ich zentrale und aussagekräftige Textpassagen aus dem Interview sowie aus der strukturellen Beschreibung heran.3 7.1.2. Das biographische Portrait Saara wandert Mitte der 1970er Jahre nach ihrer Eheschließung mit einem Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland ein. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt sie schon seit über 20 Jahren in der Migration. Sie ist Anfang fünfzig, verheiratet und lebt mit ihrem deutschen Mann und ihren vier Kindern in einer Großstadt in Deutschland. Saara wird Ende der 1940er Jahre als viertes Kind einer bildungsbürgerlichen Familie in einer Kleinstadt in Finnland geboren. In ihrer Nachbarschaft leben viele andere Kinder, mit denen Saara ihre Freizeit verbringt. Außer den Eltern haben die Kinder eine weitere wichtige Bezugsperson, Tante Alma, die als Lehrerin arbeitet und Saara und ihren Geschwistern zu Hause u.a. bei den Schulaufgaben hilft. In ihrer Schulzeit besucht Saara zunächst die Grundschule und danach das Gymnasium. Dort lernt Saara Deutsch als erste Fremdsprache. Diese Kenntnisse sind später von konkretem Nutzen, als ein deutscher Schüler während seines Schüleraustausches in Finnland bei Saaras Familie wohnt. Auch Saara und ihre Geschwister nehmen an einem Schüleraustausch teil und werden in die Bundesrepublik geschickt. Dort arbeitet Saara zunächst in einem Kindergarten und wohnt bei einer Pfarrersfamilie. Danach lernt sie etwa zwei Monate Deutsch an der Volkshochschule und kehrt schließlich nach Finnland zurück.
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Für eine auf eine andere Art fokussierte Darstellungsart siehe Ruokonen-Engler (2005, 2010).
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Während des restlichen Schuljahres besucht sie die christliche Heimvolkshochschule und setzt danach das Gymnasium wieder fort. Nach dem ersten Deutschlandaufenthalt jobbt Saara jedes Jahr während der Sommerferien im Ausland. Während Saara die ersten Auslandsstellen mit der Hilfe ihrer Mutter bekommt, beginnt sie allmählich, selbst ihre Sommerjobs zu suchen. Nach dem Abitur entscheidet sich Saara für das Studium an der Handelshochschule. Dafür muss sie ein Praktikum ablegen und die Aufnahmeprüfungen bestehen. Mit Hilfe ihres Vaters bekommt sie eine Praktikumsstelle und besteht auch später die Aufnahmeprüfungen. Im folgenden Herbst zieht sie in eine finnische Großstadt, in ein religiöses Wohnheim, und beginnt dort zu studieren. Saara beginnt ihr Studium im Fach Sekretärin/Korrespondentin, wechselt aber später zum Studium der Wirtschaftswissenschaften. Nebenbei studiert sie auch die Fremdsprachen Deutsch und Englisch. Die Sommerferien verbringt Saara immer im Ausland und jobbt dort u.a. als Putzfrau, Kellnerin, Verkäuferin. Außerdem nimmt sie zweimal an einem internationalen Studienpraktikum teil; zuerst in einer Fabrik in X-Land und ein Jahr später bei einer Bank in Y-Land. Ihr Praktikum in XLand muss sie abbrechen, als ihr Vater plötzlich stirbt. Später nimmt sie noch ein weiteres Mal an dem internationalen Studienpraktikum in Y-Land teil. Dort lernt sie während der Freizeitaktivitäten ihren zukünftigen deutschen Ehemann kennen. Nach dem Praktikum kehrt Saara zurück nach Finnland, aber beide bleiben in Kontakt und besuchen einander. Saara beginnt neben dem Studium als Sekretärin in der Kirchenverwaltung zu arbeiten. Als Saaras Freund sein Studium abschließt und berufstätig wird, verbringt Saara ihre Ferienzeit bei ihm und entscheidet sich, eine Arbeitsstelle in Deutschland zu suchen. Nachdem sie dort eine Stelle bei einer finnischen Firma zugesichert bekommt, kündigt sie ihre Arbeitsstelle in Finnland. Es folgt die Hochzeit in Finnland, woraufhin Saara nach Deutschland einwandert. Saara und ihr Mann leben zuerst in einer Kleinstadt, ziehen aber später in eine Großstadt. Bis das erste Kind geboren wird, ist Saara ganztags bei der finnischen Firma berufstätig. Nach einer kurzen Babypause nimmt sie wieder ihre Berufstätigkeit auf, nun jedoch verkürzt, während ihr Kind in der Kinderkrippe betreut wird. Dann schließt die finnische Firma ihre Filiale und Saara ist auf der Arbeitssuche. Sie wird bei einer anderen finnischen Firma halbtags eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt erwartet Saara schon ihr zweites Kind. Bevor das zweite Kind geboren wird, schließt Saara ihr Studium an der Handelshochschule in Finnland ab. Nach dem Mutterschutz nimmt Saara ihre Berufstätigkeit wieder auf. Als Saara zum dritten Mal schwanger wird, hat sie sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause Probleme. Daher wird Saara bis zur Geburt des dritten Kindes krankgeschrieben. Während ihrer Babypause findet in Saaras damaliger Arbeits-
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stelle eine betriebsinterne Umstrukturierung statt, die zu Saaras Entlassung führt. Saara ist arbeitslos und wird zum vierten Mal schwanger. Danach bleibt sie für mehrere Jahre zu Hause und arbeitet während dieser Zeit als freie Übersetzerin. Außerdem engagiert sie sich ehrenamtlich in der finnischen Community. Durch ihren Gemeindekontakt findet sie eine Arbeitsstelle bei einer religiösen deutschen Organisation und beginnt neben ihrer Selbstständigkeit halbtags zu arbeiten. Zum Zeitpunkt des Interviews spielt sie mit dem Gedanken, die Stelle zu kündigen. 7.1.3. Biographieanalytische Falldarstellung Wenn man die aus der strukturellen Beschreibung gewonnenen Ergebnisse auf der Ebene der analytischen Abstraktion zusammenfasst, kann man an der biographischen Darstellung von Saaras Lebensgeschichte folgende zentrale Kategorien der biographischen Subjektivierung herausstellen: 1) Die Konstruktion der Herkunft als »Anderssein«; 2) Die Konstituierung des Individuierungsprozesses durch Bildung und geographische Mobilität; 3) Die Migration als eine neue Statuspassage; 4) Dreifache Vergesellschaftung (Beruf, Familie und Nation); 5) Eine Verortung in der Entortung: »Man ist überall eine Ausländerin«. Im Folgenden möchte ich diese hier noch allgemein gefassten Aspekte der biographischen Subjektivierung in ihrer Besonderheit an der biographischen Rekonstruktion von Saaras Lebensgeschichte erläutern. Diese werden in Hinblick auf die Rekonstruktion unterschiedlicher biographischer Prozesse sowie vergeschlechtlichter und ethnisierter Subjektpositionen mit Rücksicht auf die Intersektionalität weiterer Differenzierungen analysiert. Dabei werde ich den Zusammenhang von sozialen Strukturen, kollektiven Regelsystemen und Diskursen einerseits und der individuell-biographischen Sinnkonstruktion andererseits analysieren (vgl. Dausien 2001: 59). Bei der analytischen Darstellung werden die jeweiligen Perspektiven und Kategorien der biographischen Subjektivierung als allgemeine Überschriften verwendet, die jedoch noch mit weiteren thematischen Überschriften ergänzt werden. Die anschließende ergebnisorientierte Darstellung folgt der Fallstruktur der biographischen Erzählung, dient aber gleichzeitig zur Erläuterung der Hypothesen, die anhand der sequenziellen Rekonstruktion gestellt und geprüft worden sind. Die folgenden Interviewsegmente wurden aus dem biographischen Interview mit Saara zur Darstellung ausgewählt, da sie besonders deutlich die jeweiligen Aspekte veranschaulichen.
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7.1.3.1. Herkunft als »Anderssein« Da Saara ihre Erzählung chronologisch von der Kindheit an erzählt, befasst sie sich in der Eingangserzählung mit ihren frühen biographischen Erfahrungen. Besonders auffällig sind dabei die Konstruktion ihrer Herkunft und deren Bedeutung für ihre weitere biographische Entwicklung. Dabei stellen sich zwei Dimensionen als zentrale biographische Erfahrungsstrukturen heraus: die Erfahrung des Andersseins und die distanzierte Mutterbeziehung. Diese Dimensionen lassen sich anhand der ersten zwei Suprasegmente (das I. Suprasegment »Der Ort der Kindheit: Herkunft und Lebensverhältnisse« [HE1/1-4/115]4 sowie das II. Suprasegment »Das Verlassen des Ortes der Kindheit« [HE4/116-8/272]), wo sie besonders stark die biographische Erzählung strukturieren, rekonstruieren. Ich möchte zunächst genauer diese aus Saaras biographischer Darstellung der frühen biographischen Erfahrungen herausgearbeiteten analytischen Dimensionen anhand der Textstellen und der Struktur der Erzählung genauer anschauen. In der folgenden analytischen Darstellung, die sich an der strukturellen Beschreibung orientiert, werden zur Unterstützung dieser Lesarten relevante Textstellen aus weiteren Erzählsegmenten sowie aus dem Nachfrageteil, wenn nötig, herangezogen. Eingangserzählung
Ich möchte mir zunächst die Eingangserzählung, die das I. Suprasegment umfasst, genauer anschauen. So möchte ich einige Eindrücke davon geben, wie die Biographieanalyse auf dem sequenziellen Verfahren aufbaut. Im I. Suprasegment »Der Ort der Kindheit: Herkunft und Lebensverhältnisse« (HE1/1-4/115) nehmen die Familie und die »Gemeinschaft« einen zentralen Platz in Saaras biographischer Erzählung und somit in ihrer Selbsteinführung als Biographieträgerin ein. Durch die Selbstverortung in diesen zwei unterschiedlichen Kollektivitäten führt Saara sich selbst als ein beziehungsbezogenes Ich ein: einerseits als ein Mitglied einer bildungsbürgerlichen, kinderreichen Familie und andererseits als ein Mitglied einer größeren »Gemeinschaft« der Nachbarschaft und der Heimvolkshochschule im Kontext eines kleinstädtischen Milieus im Finnland der 1950er Jahre.
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HE ist eine Abkürzung für die Haupterzählung. NFT dagegen bezeichnet den Nachfrageteil. Die Zeilennummerierung bezieht sich auf das originale, finnischsprachige Interview. Für die Erklärung der hier angewandten Transkriptionsnotationen siehe den Anhang. Dadurch, dass es sich bei hier dargestellten Zitaten um Übersetzungen handelt, sind die Transkriptionsnotationen aus dem Original so weit übertragen worden, wie dies möglich war.
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Saara beginnt ihre fließende biographische Erzählung nach der ihr gestellten Eingangsfrage5 mit der Gegenfrage, ob ich ihre ganze Geschichte, von Kindheit an, hören will, »so weit man sich erinnern kann« (HE1/4). Nach meiner Bejahung entscheidet sich Saara, wie die meisten Interviewten meines Samples, ihre Lebensgeschichte chronologisch zu erzählen6, und sie beginnt die biographische Erzählung mit ihrer Selbsteinführung als Biographieträgerin. S: -- Also. Ich wurde vor 50 Jahren in Finnland in X-Ort geboren. Er ist ein kleiner Ort in der Y-Gegend. In meiner Familie gab es damals schon drei Kinder. Ich bin als viertes geboren. Das Geburtsjahr war also (…) und es bedeutet, dass es diese Nachkriegszeit und -jahre waren. Ich hatte schon damals zwei ältere Schwestern und einen Bruder. Anderthalb Jahre nach meiner Geburt wurde der kleinere Bruder geboren und dann noch (…), also sechs Jahre später, meine kleine Schwester. Also wir sind sechs Geschwister. (HE1/6-1/14)
Saara beginnt die Erzählung ihrer Lebensgeschichte mit der Nennung ihres Alters als »Geburt vor 50 Jahren« sowie mit der Nennung des Geburtsortes. In dieser Äußerung offenbart sie nicht nur ihr Alter, sondern auch ihre Herkunft durch die Präzisierung der Ortsangabe. Saara nennt hier erst das Land/die Nation und erst dann ihren Geburtsort. Das Bedürfnis, nicht nur den Geburtsort, sondern auch das Land/die Nation hier zu nennen, weist auf Saaras Erzählhaltung und position, die von Migrationserfahrungen und von der Position als Migrantin gekennzeichnet ist und das gesamte biographische Interview durchzieht. Diese Position der Migrantin, die von mir als Interviewerin als ihre Selbstidentifizierung durch die gestellte Frage7 schon angeboten wurde, wird gleich am Anfang des Interviews ratifiziert. Die Zuschreibung »Migrantin« ratifiziert gleichzeitig auch unser Arbeitsbündnis, das aus der Untersuchung von Lebensgeschichten von Migrantinnen entsteht.
5
Auf Finnisch lautete die Frage: »Minua kiinnostaa siirtolaisnaisten tai tässä tapauksessa suomalaisten elämä? Kertoisitko mulle elämäntarinasi.« Auf Deutsch: »Ich interessiere mich für das Leben von Migrantinnen (im Sinne der ›Aussiedlerinnen‹) und in diesem Fall für das Leben von Finninnen. Könntest Du mir bitte Deine Lebensgeschichte erzählen.« In weiteren Interviews wurde die erzählgenerierende Fragestellung etwas modifiziert, da die Entscheidung getroffen war, nur Migrantinnen aus Finnland zu interviewen. Dies stand noch zum Zeitpunkt von Saaras Interview weitgehend offen.
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Diese Entscheidung erfolgt aufgrund der Struktur des autobiographischen Genres, das meistens der chronologischen Struktur folgt.
7
»Ich interessiere mich für das Leben der Migrantinnen […].«
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Nach der zeitlichen und national-geographischen Verortung wird im Folgenden die Familie, in die Saara geboren wurde, kurz benannt. Dass die Familie schon existierte und nicht erst durch ihre Geburt gegründet wurde, verdeutlicht ihre Aussage »in meiner Familie gab es schon drei Kinder« (HE1/8). Saara wurde in die Situation geboren, dass sich die familiären Strukturen schon gefestigt hatten und ihre Geburt möglicherweise keine große Veränderung im Leben der Familie bedeutet hat. Jedoch betont sie jetzt durch die Nennung ihres Geburtsjahres, worauf sie am Anfang verzichtet hatte, die besondere gesellschaftliche Situation: »es bedeutete, dass es diese Nachkriegszeit und -jahre waren« (HE1/10-11). Mit dieser Nennung, die Saara jedoch nicht weiterführt, will sie mich möglicherweise auf den damaligen gesamtgesellschaftlichen Kontext aufmerksam machen. Der finnische Nationalstaat hatte die Unabhängigkeit im Krieg gegen die Sowjetunion weiterhin behalten, jedoch wurde ein Teil von Finnland, Karelien, von der Sowjetunion annektiert, und daraufhin flüchteten eine Million FinnInnen aus Karelien. Außerdem herrschte Lebensmittelmangel im gesamten Land. Die Nachkriegszeit ist aber andererseits auch durch neue Hoffnung zu charakterisieren; die geleisteten Kriegszahlungen setzten die Industrialisierung des Landes in Gang, auch die Geburtenraten waren in den Nachkriegsjahren sehr hoch. Saara gehört somit zu der Generation, die in der finnischen soziologischen Literatur sowie im Alltagsdiskurs als »starke Jahrgänge« (»suuri ikäluokka«, Roos 1987) bezeichnet wird. Auf diese kontextuelle Erklärung verzichtet Saara jedoch und lässt ihren Kommentar in der Luft schweben. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass Saara an dieser Stelle auf unser eventuell geteiltes Wissen über diese historische Zeitperiode zurückgreift. Wurden die älteren Geschwister zunächst eher als geschlechtslose Geschwister eingeführt, so werden sie im Folgenden als zwei Schwestern und ein Bruder präsentiert. An dieser Stelle folgt jedoch keine weitere Erklärung über die älteren Geschwister. Stattdessen werden die jüngeren Geschwister, ein Bruder und eine Schwester, eingeführt. Hier folgt eine etwas detailliertere Erklärung der Altersabstände im Gegensatz zu den älteren Geschwistern, die in Saaras Beschreibung sehr distanziert wirken und auf deren Alter kein Bezug genommen wird. Dies kann darauf hinweisen, dass die jüngeren Geschwister weiterhin eine etwas wichtigere Bedeutung für Saaras biographische Darstellung haben als die älteren Geschwister, die hier eher eine Nebenrolle einnehmen. Saara schließt den Abschnitt über ihre Geschwister mit der Zusammenfassung: »wir sind also sechs Geschwister« (HE1/14) ab und weist gleichzeitig darauf hin, dass sie in einer Großfamilie aufgewachsen ist. Bedeutend ist hier Saaras Position als das vierte Kind und eventuell das erste Kind einer »neuen«, nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Geschwisterreihe von drei Kindern. Möglicherweise hat sie eine Mitt-
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lerinnenposition zwischen den Geschwistern, die vor ihr und nach ihr geboren sind. Auf jeden Fall verweist die Selbsteinführung im Zusammenhang mit den Geschwistern auf die Wichtigkeit ihrer Geschwister und der Familie in ihrer biographischen Entwicklung. Die Binnenmigration der Familie
Nachdem Saara sich in Bezug auf die Familienkonstellation durch die Schilderung der Familiengröße eingeführt hatte, geht sie nach einer Pause von zwei Sekunden zu einer Erzählung über ihre Eltern über. S: (…) – und die Eltern (seufzt tief) wohnten in X-Ort. Sie waren nicht von dort, sondern sind von woanders nach X-Ort zugezogen. Als junge Familie oder verheiratet kamen sie dort in die Y-Gegend wegen der neuen Arbeitsstelle. Beide Eltern stammten von der Z-Gegend. Und ich erzähle dies nur, weil dieser Gedanke oder das Wissen, dass meine Eltern nicht aus X-Ort stammten -- das hat mich das ganze Leben lang geprägt. I: Hm. S: Insbesondere die Mutter machte einen klaren Unterschied. Vielleicht hat sie auch mehr die Z-Gegend, woher sie stammte, geschätzt als die Y-Gegend. (HE1/14-1/26)
Saara führt ihre Eltern mit einem tiefen Seufzen ein. Welche Bedeutung dieses tiefe Seufzen hier hat, lässt sich an dieser Stelle nicht entschlüsseln. Es kann möglicherweise auf Schwierigkeiten in Bezug auf die Eltern oder auf den Erzählfluss hinweisen. An dieser Stelle gerät Saara in ein Detaillierungsbedürfnis, das sie dazu bringt, den elterlichen familiären Hintergrund genauer zu erläutern. Die Eltern werden zunächst über die Nennung des Wohnortes und danach über die aus dem Arbeitsstellenwechsel folgende Binnenmigration als eine junge Familie eingeführt. Nach diesem Bericht reflektiert Saara aus einer gegenwärtigen Beobachterposition und weist darauf hin, dass das Wissen, dass die Eltern woanders her stammten, Saara ihr ganzes Leben lang gefolgt ist. Was Saara mit dieser Aussage der elterlichen Binnenmigration und deren Bedeutung für ihre eigene biographische Entwicklung sagen will, lässt unterschiedliche Lesarten zu. Erstaunlich ist jedoch, dass die Eltern zunächst als »Fremde« und »Andere« in ihrer Lebensumgebung eingeführt werden und erst später, in anderem Kontext, durch ihre beruflichen Stellung und Ausbildung. Die hier angedeutete »Fremdheit« und »Andersartigkeit« lässt sich im Kontext des Umzugs und den durch die Binnenmigration entstandenen Ortswechsel, den die Eltern wegen der Berufstätigkeit unternommen hatten, erklären. Dadurch verloren sie möglicherweise wichtige soziale Nahkontakte, gewannen aber gleichzeitig eine respektvolle Stellung als Lehrer. Diese Position unterstreicht aber wiederum die »Fremdheit«
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bzw. die »Andersartigkeit« von Saaras Familie in einer kleinstädtischen, ländlichen Umgebung. Insbesondere scheint hier die Bedeutung der Mutter in der Konstruktion dieser »Andersartigkeit« bedeutend gewesen zu sein. Denn aus Saaras Erzählung lässt sich rekonstruieren, dass die Mutter sich stark mit ihrer regionalen Herkunft identifizierte und zugleich durch ihre eigene Andersartigkeit einen Abstand zu dem Wohnort konstruierte. In weiteren Textstellen betont Saara wiederholt die Differenz, die die Mutter zwischen ihrer Herkunft und dem Wohnort herstellte, und erstere positiver bewertete. Somit fungiert das hier dargestellte mögliche »Anderssein« der Eltern und insbesondere der Mutter als eine bedeutende Tatsache nicht nur in Saaras biographischer Selbstdarstellung, sondern auch in Saaras späterer biographischer Entwicklung: »dieser Gedanke oder das Wissen, dass meine Eltern nicht aus X-Ort stammten -- das hat mich das ganze Leben lang geprägt« (HE1/20-1/22). Es kann hier hypothetisch vermutet werden, dass in Saaras biographischer Entwicklung zwei Dimensionen prägend gewesen sind; einerseits ein starkes Wissen über und die Identifikation mit der Herkunft und andererseits ein starkes Gefühl des »Andersseins«. Außerdem lässt sich noch vermuten, dass sich in Saaras Biographie möglicherweise ein ähnliches Identifikationsmuster mit ihrem Herkunftsort finden lässt, wie bei ihrer Mutter und somit in dieser Hinsicht eine intergenerationale Tradierung eines Verhaltensmusters stattgefunden hat.8 Diese Passage verdeutlicht jedoch, wie die mütterliche Haltung durch die Stilisierung der Herkunft als positives Anderssein und als Differenz mit der gleichzeitigen Distanzierung von der neuen sozialen Umwelt einhergeht. Geschwisterrivalität, distanzierte Mutterbeziehung und erlebtes Anderssein
In der weiteren biographischen Rekapitulation geht Saara auf die Erklärung der Familienverhältnisse und ihrer frühkindlichen Erfahrungen ein. In Saaras biographischer Rekapitulation werden die Kindheitserinnerungen vor allem mit den nostalgisierenden Erinnerungen an die Freiheit und das friedliche Zusammenleben mit vielen Kindern verbunden. In Saaras Erinnerung überwiegt die Konstruktion einer familiären Harmonie zwischen den Geschwistern, und Saara bezeichnet sich und ihrer Geschwister als »ein Team« (HE2/51), das zusammenwuchs und bis in die heutigen Tage zusammengehalten hat. Insbesondere betont
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Ein ähnliches Verhaltensmuster, das mit einer gleichzeitigen »Distanzierung« und der Konstruktion eines »Andersseins« verbunden ist, lässt sich in Saaras späterer Erzählung in Bezug auf das Leben in Deutschland und ihre Position als eine berufstätige Mutter rekonstruieren.
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sie ihre starke Beziehung zu ihrer jüngeren Schwester, während das Verhältnis zu dem kleinen Bruder einen Bruch in dieser Harmonie darstellte. Durch die Einführung des problematischen Schwester-Bruder-Verhältnisses öffnet sich eine weitere Perspektive auf die erlebte »Andersartigkeit«, die jedoch nicht so viel mit der Geschwister-Beziehung als vielmehr mit der problematischen MutterTochter-Beziehung zu tun hat, die Saaras gesamtbiographische Darstellung durchzieht. S: (…) dann über die frühe Kindheit (sie räuspert sich) -- (…) ich war sehr eifersüchtig auf meinen kleinen Bruder. Also über alles. I: Hm. S: Ich hatte das Gefühl/ich habe dies natürlich erst jetzt als Erwachsene analysiert/– aber mein kleiner Bruder war ein Liebling der Mutter. Wir waren alle andere braunäugige Kinder und er war blauäugig und blond – und er sah nach meiner Mutter – nach dem Bruder meiner Mutter aus, der im Krieg gefallen war. Dazu gehörten also solche Erinnerungen in ihrem Leben. – Und ich fühlte, dass ich immer irgendwie im Schatten meines kleinen Bruders stand. (HE1/27-2/40)
Während der kleine Bruder vorher nur kurz erwähnt wurde, folgt jetzt nach einer kurzen Pause eine detaillierte Erzählung über Saaras Beziehung zu ihrem anderthalb Jahre jüngeren kleinen Bruder. Sie beginnt ihre Erzählung mit einer evaluativen Reflexion über die Bedeutung dieses Geschwisterverhältnisses für sie. An dieser Stelle bringt Saara das erste Mal persönliche Gefühle und Empfindungen zum Ausdruck und bezeichnet sich selbst als eifersüchtig auf ihren kleinen Bruder. Diese Aussage weist möglicherweise darauf hin, dass die Geschwisterrivalität durch den kleinen Altersunterschied hervorgerufen wurde. Nach der Thematisierung der Eifersucht nimmt Saara wieder die Position einer reflexiven Beobachterin »ich habe dies natürlich erst jetzt als Erwachsene analysiert« (HE1/32-1/33) und macht zugleich deutlich, dass die vergeschlechtlichte Geschwisterrivalität zwischen ihr und ihrem kleinen Bruder sie in ihrem weiteren Leben beschäftigt hat. Nach diesem evaluativen Nachschub versucht Saara diese Eifersucht zu erklären. Die Mutter wird hier wieder ins Gespräch gebracht und diesmal als die Ursache für Saaras Eifersucht angeführt. Nicht nur, dass der Bruder das Lieblingskind der Mutter ist, sondern auch, dass er sich von den anderen Kindern in seinem äußerlichen Erscheinungsbild unterscheidet und dadurch Mutters besondere Aufmerksamkeit erreicht und möglicherweise gerade deswegen ihr Lieblingskind ist. Gleichzeitig ermöglicht er der Mutter durch seine äußeren Merkmale (blaue Augen, blondes Haar) die Erinnerung an den im Zweiten Weltkrieg gestorbenen Bruder. Somit wird durch diesen Vergleich ein implizier-
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ter Bezug auf eine bestimmte nationale Symbolik über einen stereotypisch aussehenden Finnen, dem der verstorbene Bruder möglicherweise entsprach, hergestellt. Mit dieser Aussage konstruiert Saara eine von dem mütterlichen Verhalten bedingte doppelte Distanzierung zu ihrer Mutter. Es könnte an der Stelle vermutet werden, dass durch den Bezug auf den Bruder ein erlebtes Anderssein konstruiert wird, wobei das Anderssein auf unterschiedlichen Ebenen konstruiert wird; einerseits in Bezug auf das Geschlecht (Junge-Mädchen) und andererseits in Bezug auf das äußere Erscheinungsbild, das zugleich zum Merkmal eines ersehnten und begehrenswerten sowie eines nicht-ersehnten Andersseins und einer Differenz stilisiert wird. Saara schließt die Beschreibung des Verhältnisses zu ihrem kleinen Bruder mit der Evaluation »ich fühlte, dass ich immer irgendwie im Schatten meines kleinen Bruders stand« (HE 2/39-2/40) ab. Diese Aussage verdeutlicht die mit der Eifersucht verbundenen schmerzhaften Gefühle sowie Saaras Bedürfnis, von der Mutter anerkannt zu werden. In Saaras Eifersucht dem Lieblingskind der Mutter gegenüber wird gleichzeitig auch ein Konflikt zwischen Saara und der Mutter deutlich. Es ist zu vermuten, dass diese konfliktbehaftete Geschwisterrivalität Saara dazu bringt, später durch ein anderes Mittel die Anerkennung und die Nähe der Mutter zu suchen. Während Saara die Beziehung zu ihrem kleinen Bruder als problematisch beschreibt, schildert sie ihr Verhältnis zu ihrer kleinen Schwester als herzliche Beziehung (HE2/40-2/45). S: (…) und dann gab es diese kleine Schwester. (…) für sie war ich sicherlich eine großer Schutz und eine große Hilfe. Ich war sechs Jahre älter und kümmerte mich um sie, als sie ein kleines Baby war. Die zärtliche und nahe Beziehung zwischen uns Schwestern ist eigentlich immer noch da. (HE2/40-2/45)
Diese Beziehung erscheint hier als eine Kompensation für die von der Mutter verursachte, konflikthafte Geschwisterbeziehung zwischen Saara und ihrem Bruder. Außerdem kann vermutet werden, dass diese Beziehung Saara ermöglicht, die distanzierte Mutterbeziehung mit einer anderen Nahbeziehung zu kompensieren. Möglicherweise ist diese Nahbeziehung nicht nur für Saara von Bedeutung, sondern auch für ihre sechs Jahre jüngere Schwester, die in Saara eine Art »Mutterersatz« sieht. Außerdem legt Saaras biographische Erzählung die Vermutung nahe, dass Saara selbst in ihrer Beziehung zu der Lehrerin und Familienfreundin Tante Alma die Kompensation für die distanzierte Mutterbeziehung erlebte (HE3/70-3/100).
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In dem Erzählsegment, in dem Tante Alma eingeführt wird, gerät Saaras Erzählung ins Stocken.9 Sie scheint kurz bei der Art der Beschreibung von Tante Alma zu zögern, was in Pausen und in der stockenden und nach den passenden Worten suchenden Erzählung zum Ausdruck kommt. Diese Schwierigkeiten weisen möglicherweise darauf hin, dass es Saara schwerfällt, eindeutig die vielfältigen Bedeutungen der Tante Alma für die gesamte Familie zu erklären. Es folgt eine Auflistung von Rollen der Tante Alma als Tante, Bekannte der Eltern, alte Jungfer und Lehrerin, die mit der Anmerkung »welche dann -- sehr oft bei uns war« (HE3/75-3/76) abgeschlossen wird. Durch diese Aussage gerät Saara wieder in ein Detaillierungsbedürfnis, und sie beginnt durch die Einführung der Mutter als berufstätige Mutter eine Narration über die Bedeutung der Tante Alma für die Familie. Mit der Aussage: »Mutter war auch das ganze Leben lang trotz der sechs Kindern ganztags berufstätig« (HE3/76-3/77) betont Saara nicht nur die große Arbeitsbelastung ihrer Mutter, die gleichzeitig die Wichtigkeit von Tante Almas Unterstützung unterstreicht, sondern konstruiert mit dem kleinen Wort »auch« einen größeren kollektiven Deutungshorizont, der andere berufstätige Frauen mit Kindern einschließt. Diese Aussage wird jedoch mit dem weiteren Satz etwas aufgeweicht: »der Arbeitsplatz war ja da – wir wohnten ja in der Heimvolkshochschule in der Dienstwohnung des Leiters« (HE3/78-3/79). Hier betont Saara durch die Benennung der räumlichen Nähe der Familie und der Berufstätigkeit die fließenden Grenzen des Privaten der Familie und des Öffentlichen der Berufstätigkeit, die gleichzeitig die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für ihre Mutter möglicherweise erleichterten. Diesem kleinen Nachsatz folgt dann eine längere Narration über die Tante Alma, die mit Saaras Anmerkung »Tante Alma (…) kam jeden Abend zu uns« (HE 3/79-3/80) beginnt. Zögerlich rekapituliert Saara mögliche Arbeitsaufgaben, die Tante Alma mit den Kindern zu erledigen hatte. Die Bedeutung der Tante Alma bekommt noch eine stärkere Gewichtung dadurch, dass Saara sich an der Stelle auf Geschichten bezieht, die ihr erzählt worden sind, über die Aufgaben der Tante Alma in der Familie: »ich habe keine Erinnerungen darüber, aber es wurde erzählt, dass sie uns badete und ins Bett brachte« (HE3/82-3/84). Diese Formulierung weist darauf hin, dass Tante Almas Unterstützung ein wichtiger alltäglicher Bestandteil im Management der Großfamilie war und schon lange vor Saaras Erinnerungsvermögen angefangen hatte. Das Erzählte kontrastiert Saara mit einem anderen Bild aus ihrer Schulzeit, mit dem sie ein lebendiges Bild über die Wichtigkeit von Tante Alma in der Familie bestätigen kann. An dieser Stelle folgt eine lebendige Erzählung
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I. Suprasegment: Der Ort der Kindheit: Herkunft und Lebensverhältnisse (1/1-4/115): Segment 3.2 Tante Alma als »Mutterersatz« (3/70-4/100).
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über Tante Almas Unterstützung bei der Erledigung von verschiedenen Schulaufgaben. Der Auflistung folgt ein Perspektivenwechsel, in dem Saara in einer von Tante Alma übernommenen Erzählung eine Anekdote über die Erledigung der Schulaufgaben erzählt. Während dieser Wiedergabe lacht Saara oft und bringt mit ihrer lebendigen Seitenerklärung über das Lernen des Fremdsprachenvokabulars auch mich als Interviewerin zum Lachen. In dieser Seitenerklärung weist Saara darauf hin, dass sie damals nur Schwedisch und Deutsch als Fremdsprachen in der Schule hatten. Es kann hier vermutet werden, dass die Tatsache, dass Saara gerade diese Fremdsprachen in der Schule lernte, eine Bedeutung in Saaras weiterer biographischer Entwicklung hatte. Zum Schluss dieser lebendigen Erzählpassage greift Saara wieder die Aufzählung der Arbeitsaufgaben von Tante Alma auf und erzählt lachend, dass Tante Alma auch die von den Kindern nicht gefertigten Handarbeiten beendete. Danach führt Saara nach einem kurzen Atemzug plötzlich Tante Alma als Lehrerin ein, während sie bis jetzt als eine Art von Mutterersatz oder als eine Familienhilfe dargestellt worden war. Dieser Positionswechsel kann damit zu tun haben, dass im darauffolgenden Satz die Mutter wieder in die Erzählung eingeführt wird und hier eine klare Positionierung und Trennung zwischen der Mutter und der Tante Alma stattfinden soll. Beide werden hier einander gegenübergestellt und verglichen: »die Lehrerin war in allen diesen Sachen sehr geduldig – und in einer anderen Art und Weise geduldig als meine Mutter -- welche sich eigentlich nicht in diesen Sachen vertiefte« (HE3/98-3/100). In diesem kritischen Vergleich zugunsten der Tante Alma markiert Saara wieder eine Distanz zu ihrer Mutter, die die oben erwähnte Vermutung der distanzierten Beziehung zwischen Saara und der Mutter weiterhin unterstützt. Tante Almas Bedeutung für Saaras Biographie unterstreicht die Passage über Saaras heutige Beziehung zum Ort ihrer Kindheit (3/100-4/115) am Ende des I. Suprasegments. S: (…) -- (8 sec) und – noch über die frühe Kindheit – ich habe weiterhin einige Freunde/Freundinnen aus der Kindheit im X-Ort. Tante Alma ist nun schon gestorben -- vor ein paar Jahren schon oder es wird wohl schon zehn Jahre sein – aber die Schwester von der Tante Alma wohnt immer noch im X-Ort – und sie ist sicherlich mein stärkster Anhaltspunkt dort. Ich besuche X-Ort mindestens einmal im Jahr – obwohl ich dort keine Verwandte habe und keine/r von den Geschwistern dort geblieben ist. Ich habe dort auch eine Spielkameradin aus meiner Kindheit, ein Mädchen -- aus dem X-Ort. Sie stammt auch aus dem X-Ort. Eine Frau, die immer noch dort wohnt, und ich besuche sie auch, wenn ich dort bin. (HE3/100-4/112)
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Obwohl Saara die Erzählung mit der Anmerkung »und noch über die frühe Kindheit« (HE3/100-3/101) beginnt, folgt nach einer kurzen Pause von zwei Sekunden keine narrative Erzählung über die hier angekündigte Zeitperiode, sondern es findet eine zeitliche Verschiebung statt, und es folgt ein Bericht aus einer heutigen Perspektive über Saaras Beziehung zu ihrem Geburtsort und zu den dort lebenden Menschen. Die Benennung der noch existierenden Freundschaften aus der Kindheit konstruiert gleichzeitig eine Präsenz und ein Kontinuum dieses Ortes und dieser Menschen in Saaras Leben. Die Freundschaften werden hier erst nicht genauer erklärt und bleiben erst einmal unklar. Nach einer kurzen Pause von zwei Sekunden folgt eine Anmerkung, die den vorherigen Erzählstrang über Tante Alma wieder aufgreift: »Tante Alma ist nun schon gestorben -- vor ein paar Jahren schon oder es wird wohl schon zehn Jahre sein« (HE4/1034/104). Mit diesem Einschub wird Tante Alma als eine Freundin eingeführt, die ein elementarer Teil Saaras Kindheit war und sie an den Ort band. Interessanterweise erzählt Saara zuerst vor einigen Jahren, korrigiert sich aber selber und sagt, dass es eigentlich schon fast vor zehn Jahren war. Dies könnte darauf hinweisen, dass die Zeit schneller vergangen ist als sie es sich gewünscht hat. Andererseits könnte vermutet werden, dass mit dem Tod von Tante Alma die Zeit in Bezug auf den Ort stehengeblieben ist und nun keine Relevanz mehr für Saaras tagtägliches Leben hat. Jedoch ist Saaras Kontakt zu ihrem Geburtsort durch den Tod von Tante Alma nicht abgebrochen, sondern durch den Kontakt zu Tante Almas Schwester kompensiert worden. Diese Schwester nennt sie dann als »stärkster Anhaltspunkt« (HE4/105-4/106) zu ihrem Geburtsort. Diese Aussage verlangt hier eine Spezifizierung, die in weiteren Sätzen folgt. Darauf, dass es hier nicht nur um die Beziehung und Freundschaft zu Tante Almas Schwester geht, sondern auch um die Aufrechterhaltung der symbolischen Beziehung zum Kindheitsort, verweist die Anmerkung: »ich besuche X-Ort mindestens einmal im Jahr – obwohl ich dort keine Verwandte habe und keine/r von den Geschwistern ist dort geblieben« (HE4/106-4/108). Andererseits kann hier vermutet werden, dass durch die vorher erwähnte Zurückhaltung und Distanzierung von Saaras Mutter gegenüber Saaras Kindheitsort bei den Kindern keine Beziehung zu diesem Ort entstanden ist und dies bei Saara nur durch die nahe Beziehung zu Tante Alma und ihrer Schwester entstanden ist. Eine andere Lesart verweist aber auf die Ähnlichkeit in dem Bedürfnis von Saara und ihrer Mutter, den Kontakt zum jeweiligen Geburtsort aufrechtzuerhalten. Durch das aufzählende »und dann« (HE4/18) führt Saara noch eine weitere Person, die sie auch besucht, ein: »Spielkameradin aus meiner Kindheit« (HE4/109), »ein Mädchen« (HE4/109), »Sie stammt auch aus dem X-Ort. Eine Frau, die immer noch dort lebt« (HE4/110-4/111). In dieser Aufzählung geht es um eine Person, die Saara aus
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unterschiedlichen Perspektiven beschreibt. Wenn die erste Bezeichnung die Perspektive auf die Kindheit eröffnet und die zweite noch das Geschlecht der Spielkameradin definiert, wirft die dritte Bezeichnung ein Bild aus der heutigen Perspektive der Erwachsenen und betont wieder die Ortsgebundenheit, die auf die möglichen gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen hinweist. Nachdem Saara die »Spielkameradin aus der Kindheit« (HE4/109) eingeführt hatte, macht sie eine Pause von zwei Sekunden, wonach sie eine Bilanz in Bezug auf ihren Kindheitsort zieht. S: (…) Aber es ist eine Phase, die damals war und nur als eine starke Erinnerung und ein Wissen darüber existiert, dass ich von dort stamme. (HE4/112-4/115)
Wurde der Geburtsort durch die Beziehungen zu den Menschen vorgestellt, so wird in dieser Bilanzierung der Geburtsort als Ort der Kindheit und als eine Lebensphase, die abgeschlossen ist, dargestellt. Die vielen Pausen, die in diese Bilanzierungsphase eingebaut sind, verweisen darauf, dass es Saara an dieser Stelle möglicherweise schwerfällt, eine eindeutige Bedeutung des Ortes zu definieren. In ihrer Aussage »eine starke Erinnerung davon und ein Wissen darüber, dass ich von dort stamme« (HE4/114-4/116) spiegelt die herkunftsbewusste Haltung wider, die ähnlich auch vorher bei ihrer Mutter in Bezug auf ihren Geburtsort von Saara thematisiert wurde (HE1/20-1/26). Gleichzeitig markiert dieser Bezug den Schluss der Eingangserzählung. Zusammenfassung der Eingangserzählung
Die hier analysierte Eingangserzählung verdeutlicht, wie Saara sich selbst als Biographieträgerin durch die Schilderung ihrer Anbindung an die verschiedenen frühkindlichen Kollektivitäten, denen sie sich zugehörig fühlte, einführt (die Großfamilie und »Gemeinschaft«). Dabei nehmen das heterosexuelle Paar, eine Großfamilie sowie die umgebende »Gemeinschaft« als frühkindliche Sozialisationsinstitutionen eine normative Bedeutung ein. Aus Saaras biographischer Darstellung kann ihre Subjektivität und biographische Identität durch ihre Beziehung zu ihrem Herkunftsmilieu und zu anderen Menschen konstruiert werden. Dabei lässt sich Saaras biographische Haltung zu ihren »signifikanten Anderen« durch ein Wechselspiel von Nähe und Distanz konstruieren. Insbesondere nimmt in dieser Darstellung »die Konstruktion von Anderssein« eine wichtige Rolle ein. »Die Konstruktion des Andersseins« wird zunächst in Bezug auf die elterliche Binnenmigration sowie die idealisierende Haltung der Mutter ihrer Herkunft gegenüber verdeutlicht. Es lässt sich auch in Saaras Einstellung zu ihrem Ge-
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burtsort eine ähnliche, herkunftsbewusste Haltung konstruieren. Auf einer weiteren Ebene wird anhand der Beziehung zwischen der Mutter, Saara und dem kleinen Bruder ein innerfamiliärer Konflikt, der eine identitätsstiftende Bedeutung für Saaras biographische Entwicklung hat, dargestellt. Dabei ersetzt der kleine Bruder den Vater in seiner Spiegelfunktion, da über ihn die Differenz und die Distanz zu der Mutter hergestellt werden. Gleichzeitig wird anhand der Figur des Bruders ein Geschlechterkampf angekündigt, da Saara sich im Vergleich mit dem anderen Geschlecht, und hier im Besonderen zu ihrem kleinen Bruder, als minderwertig konstruiert. Dieser Geschlechterkampf ist jedoch zugleich mit der Konstruktion des stereotypisch Nationalen, Finnischen verbunden. Der blauäugige blonde Onkel, der im Zweiten Weltkrieg gefallen war und dem der kleine Bruder ähnelt, symbolisiert das stereotypisch Finnische in einer männlichen Form, wogegen Saara, mit ihren braunen Augen und Haaren und als ein Mädchen, eine Abweichung darstellt. Somit lässt sich der hier beschriebene Konflikt zwischen Saara, ihrem kleinen Bruder und der Mutter durch verschiedene sich miteinander kreuzende Differenzen rekonstruieren. In dieser innerfamiliären Konkurrenzsituation zeichnet sich fast ein leichtes Bedrohungspotential für Saaras Identitätsbildung ab, das sich jedoch nicht als Verlaufskurvenpotential deuten lässt. Dagegen weist Saaras biographische Konstruktion auf ein Handlungsschema und auf ihre Fähigkeit, die bedrohlichen Verhältnisse zu kompensieren, hin. Dieses Handlungspotential entfaltet sich einerseits in ihrer nahen, mütterlichen Beziehung zu ihrer kleinen Schwester, wobei sie eine Art von »Mutterrolle« einnimmt und somit die eventuell mütterlicherseits fehlende pflegende Zuwendung ersetzt. Andererseits entfaltet sich das Handlungspotential in den positiven Beziehungen in der großen »Gemeinschaft«, in der es möglich ist, sich nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch mit anderen signifikanten Anderen, wie es am Beispiel von Tante Alma deutlich wird, zu entfalten. Zum einen wird Tante Almas Rolle hier als eine Art von Ersatzmutter konstruiert, da Saaras Mutter als berufstätiger Mutter einer Großfamilie nicht genug Zeit zur Verfügung steht, um sich um alles zu kümmern. Zum anderen eröffnet Tante Almas Position als eine alleinstehende, berufstätige Frau eine andere Art von Lebensführung außerhalb des heterosexuellen Familienmodells. Durch die Schilderung der Beziehung zu Tante Alma und ihrer Schwester lässt sich auch die Zugehörigkeit zu Saaras Geburtsort herstellen. Die hier geschilderte Zugehörigkeit lässt sich nicht nur als Wissen über ihre Herkunft deuten, sondern als ein Gefühl, das sie über die Personen und Erinnerungen mit einem Ort verbindet. Für Saara ist ihre Herkunft durch die elterliche Binnenmigration und eine starke, ablehnende Haltung der Mutter Saaras Geburtsort gegenüber schon von Anfang an problematisch. Bezeichnend dafür ist, dass keine/r aus Saaras Familie dort geblieben
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ist, und somit auch Saaras Beziehung zu diesem Ort über Tante Alma, ihre Schwester und ihre Kindheitsfreundin hergestellt wird. Die Analyse des Gesamtinterviews hat gezeigt, dass hier die im I. Suprasegment festgestellte distanzierte Mutter-Tochter-Beziehung als eine starke identitätsstiftende Dimension in Saaras Leben und ihrem biographischen Handlungsschema rekonstruiert werden kann. Die hier festgestellten Erfahrungsstrukturen des »Andersseins« und der »distanzierten Mutterbeziehung« werden noch in der weiteren Analyse vertieft. In der folgenden Darstellung werde ich sie mit den analytischen Dimensionen des Individuierungs- und Bildungsprozesses durch geographische Mobilität in Saaras biographischer Selbstpräsentation im II. Suprasegment »Das Verlassen des Ortes der Kindheit« (HE4/116-8/272) erörtern. 7.1.3.2. Individuierung, Bildung und geographische Mobilität Für Saara sowie für die meisten von mir interviewten Migrantinnen finnischer Herkunft ist der Erwerb eines Bildungsabschlusses mit gleichzeitiger geographischer Mobilität und der darauf folgenden Binnenmigration verbunden. Dies lässt sich dadurch erklären, dass sich die jeweiligen Bildungsinstitutionen hauptsächlich in größeren Städten befinden und die meisten Interviewten meines Samples aus den kleinstädtischen bzw. ländlichen Gebieten stammen. Dass die Bildung und der Erwerb des Bildungsabschlusses mit der geographischen Mobilität, Binnenmigration und mit dem Ausbruch aus dem Elternhaus verknüpft sind, scheint in Saaras sowie in Biographien anderer Migrantinnen meines Samples eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein. Im Folgenden möchte ich diesen Prozess des graduellen Ablösens aus dem Elternhaus in Saaras biographischer Darstellung rekonstruieren. Während Saara in ihrer bisherigen biographischen Erzählung die Lebenswelt ihrer Kindheit erläuterte, nimmt im II. Suprasegment »Das Verlassen des Ortes der Kindheit« (HE4/116-8/272) die Beschreibung der graduellen Individuierung sowie des Übergangs in das Erwachsenenalter einen zentralen Platz ein. Wie schon im I. Suprasegment entwickelt sich Saaras biographische Erzählung hier entlang ihrer Beziehung zur Mutter, während wenig vom Vater zu erfahren ist.10 Saara beginnt hier ihre Erzählung über den mit der Mobilität verbundenen Individuierungsprozess mit der Thematisierung der »Selbstverständlichkeit des Weg-
10 Aus der biographischen Erzählung kann nur wenig über den Vater erfahren werden. Dieser Befund korreliert mit den anderen von mir geführten biographischen Interviews: wo dem Vater wenig Raum in der Erzählung gegeben wird, rückt die Mutter umso stärker in den Vordergrund.
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gehens«, die gleichzeitig eine gesellschaftliche sowie innerfamiliäre Normalitätsvorstellung, die Saaras biographische Entwicklung geprägt hat, offenbart. Die Selbstverständlichkeit des Weggehens S: (…) uns war es irgendwie klar, das Bild wurde dann früh klar, dass nachdem man das Gymnasium besucht hat und Abitur hat, also dann – gehen wir weg von dem X-Ort, um etwas zu studieren. Es war wie – es war wie ein Weg, den//ich kann mich nicht daran erinnern, dass man es je direkt gesagt hätte aber es war wie ein Bild, das wir immer in Gedanken hatten. Und das auch, was ich erst hier als Erwachsene verstanden habe -nachdem ich nach Deutschland kam – die klare Tatsache, dass es keinen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen gibt. -- Die Mädchen gehen genauso [wie die Jungen] studieren und lernen einen Beruf. Also es gab nicht solche Gedanken, dass, was denn der Beruf des Mädchens sein sollte oder dass er irgendwie//dass er irgendwie weniger Bedeutung hätte als bei den Jungen. (HE4/116-4/128)
Saara thematisiert das Verlassen des Kindheitsortes als eine an die Kinder gerichtete Normalitätserwartung. In der Erläuterung des mit dem Studium verbundenen Weggehens benutzt Saara eine grammatikalische Form vom Passivplural »uns war es irgendwie klar« (HE4/116-4/117), die auf ein kollektives Schicksal sowie auf eine Normalitätserwartung hinweist. Die Normalitätserwartung kommt hier nicht nur inhaltlich, sondern auch durch das angewandte Vokabular zum Ausdruck. Saara benutzt an dieser Textstelle eine sehr metaphorische Sprache, wenn sie über die Normalitätserwartung spricht. So erscheint das mit dem Studium verbundene Weggehen einerseits als »ein Bild, das wir immer in Gedanken hatten« (HE4/121-4/122) und andererseits als »ein Weg« (HE4/120), der zu gehen war. Die fast malerisch-symbolische Sprache, die anhand von Metaphern eine Erklärung für das Verlassen des Ortes der Kindheit sucht, wird gleichzeitig mit der aussagekräftigen gesprochene Sprache konfrontiert: »ich kann mich nicht daran erinnern, dass man es je direkt gesagt hätte« (HE4/120-4/121). Das Nichtgesagte erscheint hier als eine starke, spürbare Normalitätserwartung, die an die Kinder gerichtet war, die jedoch keine sprachliche Artikulation benötigte. Ob diese kollektive Normalitätserwartung hier als eine allgemeine gesellschaftliche oder familiäre Erwartungsstruktur zu verstehen ist, lässt sich an dieser Stelle nicht eindeutig erschließen. Es kann jedoch vermutet werden, dass beide Perspektiven sich hier vermischen: einerseits der Ehrgeiz und die Erziehung der bildungsbürgerlichen Eltern und andererseits ein zunehmendes Bildungsangebot in den 1960er Jahren. Da die meisten Bildungsinstitutionen zur damaligen Zeit in den Großstädten zu finden waren, bedeutete dies damals für die Jugendlichen
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aus den Kleinstädten oder vom Land meistens das Verlassen des Elternhauses und eine Binnenmigration zum Zweck der Ausbildung. Auf jeden Fall können hier die Normalitätserwartungen in Bezug auf die Ausbildung und die damit einhergehende Binnenmigration als ein institutionelles Ablaufmuster, das den familiären Ablösungsprozess beschleunigte, interpretiert werden. Nach der Erläuterung dieser fraglos gegebenen Normalitätserwartung folgt wieder eine zeitliche Verschiebung, in der Saara aus der Position einer reflexiven Beobachterin außerhalb der chronologischen Erzählkette spricht: »und auch das, was ich erst hier als Erwachsene verstanden habe« (HE4/122-4/123). Saara nimmt hier explizit die Perspektive einer migrationserfahrenen Erwachsenen ein und verweist darauf, dass die weitere Dimension, die mit den Normalitätserwartungen über das studiumsbedingte Weggehen verbunden war, ihr erst durch die Erfahrungen, die sie in der Migration gemacht hat, deutlich geworden ist. Es kann hier also vermutet werden, dass die Perspektivenverschiebung, wobei das »Nicht-Sichtbare« der Normalitätserwartungen zum »Sichtbaren« geworden ist, auf unterschiedliche Erfahrungen und Normalitätserwartungen in unterschiedlichen Gesellschaften hinweist. Im folgenden Satz wird die Selbstständigkeit des Studiums noch mit einer weiteren Dimension vertieft: »dass es keinen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen gibt. Die Mädchen gehen genauso [wie die Jungen] studieren und lernen einen Beruf« (HE4/124-4/125). Durch diese Aussage weist Saara darauf hin, dass das oben erwähnte kollektive »Bild« bzw. der »Weg« des studiumsbedingten Weggehens auf einem egalitären Prinzip zwischen den Geschlechtern beruhte und damit die Mädchen genauso wie die Jungen betraf. Dieser argumentative Vergleich deutet darauf hin, dass Saara während ihrer Migration in Deutschland mit einer Denkweise bzw. einem Bildungsdiskurs konfrontiert wurde, die auf einer geschlechtsdifferenzierten Behandlung der Geschlechter beruhten und den Wert bzw. den Sinn der Ausbildung von Mädchen möglicherweise in Frage stellten. Die Beschreibungen der Normalitätsvorstellungen eines »Weggehens« und eines »gleichberechtigten Bildungsanspruches« schließen dann in Saaras biographischer Darstellung an ein innerfamiliäres Verhaltensmuster an, das diese Normalitätsvorstellungen fördert. Gleichzeitig aber sind diese Normalitätsvorstellungen mit einer Konstruktion des Andersseins und Saaras problematischer Mutterbeziehung verbunden. Die Erziehung zur »Internationalität«
Das Anderssein von Saaras Familie lässt sich nicht nur durch die aufgrund der Binnenmigration geschaffene »Fremdheit« und ihren bildungsbürgerlichen Habitus in ihrem sozialen Milieu rekonstruieren, sondern auch in Bezug auf ihr Interesse an fremden Ländern und Kulturen. Es kann vermutet werden, dass die el-
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terliche internationale Orientierung gleichzeitig die Andersartigkeit und mögliche Vorbildrolle der Familie im Unterschied zu den anderen Familien in der ländlichen Kleinstadt verstärkte und dadurch die gewisse Privilegiertheit der Familie erkennen ließ. Insbesondere spielt die Mutter als die Initiatorin einer Erziehung zur Internationalität«11 eine wichtige Rolle (HE4/128-7/209), denn sie wollte den Kindern den Kontakt mit anderen Kulturen und Sprachen ermöglichen. Es sollten nicht nur Reisen das Weltbild erweitern, sondern auch das Leben in einer anderen Kultur. Deswegen wurde jedes Kind während der Gymnasialzeit eine bestimmte Zeit ins Ausland geschickt, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern. S: (…) Und dann, die Mutter hatte die Idee, dass man eine fremde Sprache gut lernen sollte. -- Und sie begann -- sie war sicherlich eine der ersten//also meine ältere Schwester war eine der ersten SchülerInnen aus dem X-Ort, die/der dann einen Schüleraustausch nach Deutschland machte I: Hm-hm. S: Dann -- wahrscheinlich in den letzten Jahren der Oberschule12 -- ja es war nicht Gymnasium, es war Oberschule vielleicht das letzte Jahr -- im Sommer also nur für ein paar Monate//ein Aufenthalt für ein paar Monate in Deutschland. Und genauso kam dann ein Deutscher/eine Deutsche zu uns. Es sollte ein Mädchen sein, aber es war ein Junge (lacht und die Interviewerin lacht mit). Und es war natürlich etwas komisch, aber es war dann so. Und aus dem gleichen Ort hatte auch der Sohn des Pfarrers einen Schüleraufenthalt gemacht und so kam auch in das Pfarrhaus ein Junge und diese beiden Jungen//nein Heinrich wohnte ja bei uns. Aber dies war für mich ein erster Berührungspunkt, an den ich mich erinnern kann, an Deutschland und daran, dass man Deutsch spricht -- und dass dort Menschen wohnen und leben wie überall anderswo (leise). Und meine Mutter setzte dann diese Tradition fort, so dass meine älteren -- (4 sec) zweitälteste Schwester und älterer Bruder auch in Deutschland waren. Mutter nutzte ihre Heimvolkshochschulkontakte und organisierte sie irgendwie immer hierher in irgendwelchen Heimvolkshochschulen. Sie waren -- vielleicht ab einem halben Jahr//etwa ein halbes Jahr in Deutschland. Und es war so, dass es meistens immer das
11 Die Internationalität wird hier als eine direkte Übersetzung des finnischen Wortes »kansainvälisyys«, das Saara in ihrem Interview, jedoch in einer anderen grammatikalischen Form, benutzt (HE4/134). 12 Zur damaligen Zeit gab es eine sechsjährige Volksschule und danach eine zweijährige Fortsetzung der Volksschule. Die Kinder konnten schon nach vier Jahren Volksschule in die Oberschule. Nur von der fünfjährigen Oberschule durften sie dann aufs Gymnasium (vgl. auch Schroderus 2006: 22).
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Jahr zwischen der Oberschule und dem Gymnasium war. Die Mutter hat uns meistens ein Zwischenjahr organisiert I: Hm. S: -- Und von der Seite der Schule war es schon damals möglich. Heute ist die Schule sicherlich noch mehr flexibel als damals, aber auf jeden Fall war dies dann wie eine Tradition in unserer Familie und auch etwas Komisches und Besonderes in der dortigen Gemeinschaft von X. (HE5/139-5/170)
Saara führt hier eine neue Dimension zu der internationalen Orientierung ihrer Eltern ein. Nicht nur also die von den Eltern durchgeführten Auslandsreisen, das Erlernen einer Fremdsprache, sondern auch der Schüleraustausch bilden hier den internationalen Bezugsrahmen der Familie, wobei Saara hier zunächst die internationale Orientierung in Hinsicht auf den Schüleraustausch ihrer Geschwister als Partizipanten/Partizipantinnen erläutert. Saara betont erneut die Rolle der Mutter als einer Protagonistin der internationalen Erziehung, wozu das Erlernen einer Fremdsprache gehörte: »man sollte eine Fremdsprache gut lernen« (HE5/139-5/140). Gleichzeitig hebt sie wieder die bedeutende Position ihrer Mutter als eine Initiatorin des Schüleraustausches hervor und unterstreicht dies mit dem Beispiel über ihre ältere Schwester, die als eine/einer der ersten SchülerInnen aus X-Ort, der/die als AustauschschülerIn für ein paar Sommermonate nach Deutschland ging. Wurde der deutsch-finnische Schüleraustausch zunächst sachlich und berichtend eingefügt, folgt hier dann eine lebendige Erzählung über einen deutschen Austauschschüler, der während seines Aufenthalts bei Saaras Familie wohnte. Aufschlussreich an dieser Stelle ist die Art und Weise, wie Saara diese Person einführt. Zunächst benennt sie die Nationalität, »ein Deutscher/eine Deutsche« (HE5/147). So wird die Nationalität in den Vordergrund gerückt, während der finnische Ausdruck und die Wortwahl noch keine Hinweise auf das Geschlecht dieser Person geben. Der mögliche Grund für diese geschlechtsneutrale Darstellungsweise wird aber im weiteren Satz sichtbar: »es sollte ein Mädchen sein, aber es war ein Junge« (HE5/147-5/148) (lacht und ich als Interviewerin lache mit). Durch diese Darstellungsweise wird sowohl grammatikalisch als auch inhaltlich eine Dramaturgie aufgebaut, die möglicherweise die erlebte Dramaturgie der damaligen Situation der »Geschlechterverwirrung« oder Geschlechter-Irritationen imitiert. Die Dramaturgie dieser »Geschlechterverwirrung« bzw. Geschlechter-Irritationen unterstreicht Saaras Anmerkung »es war natürlich etwas komisch aber es war dann so« (HE5/148-5/149). Diese evaluative Anmerkung hebt noch einmal die Komik, die sie mit der Situation verbindet, hervor. Die Komik der damaligen Situation hält für sie bis zu Saaras biographischer Rekapi-
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tulation an, so dass sie dieses Ereignis so darstellen kann, dass ich in der Interviewsituation in die Komik verwickelt werde und impulsiv und spontan an Saaras Lachen teilnehme. Worum es hier tatsächlich geht, lässt sich anhand einiger Lesarten vermuten. Möglicherweise hatte sich die Familie und insbesondere die Kinder für die Ankunft eines deutschen Mädchens sowohl gedanklich als auch materiell (zum Beispiel die Teilung des Schlafzimmers) vorbereitet. Die Ankunft eines deutschen Jungen stellte aber möglicherweise diese Vorbereitungen auf den Kopf und forderte gleichzeitig ein Umdenken hinsichtlich der Erwartungen sowie der räumlichen Aufteilung. Was aus der Ankunft des deutschen Austauschschülers folgte, unterstreicht Saaras Stimme, in der sich einerseits eine leichte Enttäuschung offenbart und andererseits eine hinnehmende Akzeptanz der Situation, die von der Seite der Eltern möglicherweise eingefordert wurde. Die Art und Weise von Saaras Beschreibung und ihre leichte Unsicherheit, ob der Junge tatsächlich bei ihnen wohnte oder dann doch mit dem anderen deutschen Austauschschüler beim Pfarrer, lässt vermuten, dass Saara selbst in dieser Geschichte eine Beobachterinnenrolle hatte und ihre Geschwister, insbesondere die älteste Schwester, von der »Geschlechterverwirrung«/Geschlechter-Irritation betroffen waren. Saara schließt diese Narration mit der Argumentation ab: »aber dies war für mich ein erster Berührungspunkt, an den ich mich erinnern kann, an Deutschland und daran, dass man deutsch spricht -- und dass dort Menschen wohnen und leben wie überall anderswo« (HE5/153-5/156). Zum einen markiert die Ankunft des deutschen Austauschschülers in Saaras biographischer Rekonstruktion eine »Geschlechterverwirrung« bzw. Geschlechter-Irritation, d.h. dass eine Person jeweils mit einer vergeschlechtlichten Erwartungshaltung verbunden ist. Zum anderen findet hier eine Schilderung der Annäherung an das fremde Land und die fremde Sprache durch die Begegnung mit einem ethnisierten anderen Geschlecht statt. Nach der argumentativen Passage greift Saara wieder den Erzählfaden über den von der Mutter organisierten Schüleraustausch auf. Die Mutter wird wieder in den Vordergrund der Erzählung gerückt und ihre Bedeutung als Schöpferin einer innerfamiliären »Tradition« (HE5/157) unterstrichen. Durch das Benutzen des Wortes »Tradition« gerät Saara hier in ein Detaillierungsbedürfnis und erklärt die »Tradition« als ein innerfamiliäres, tradiertes Handeln in Form eines Schüleraustausches nach Deutschland, dem die zwei älteren Geschwister nach dem Beispiel der ältester Schwester zu folgen hatten. Da das Wort »Tradition« einen bestimmten Zwang bzw. die Verpflichtung zur Wiederholung einer von außen zugeschriebenen Gewohnheit bzw. eine normalbiographische Erwartung beinhaltet, lässt sich an der Textstelle vermuten, dass auch Saara sowie die jüngeren Geschwister dieser Tradition zu folgen hatten. In der weiteren Erklärung
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der von der Mutter geschaffenen »Tradition« lässt sich aus Saaras Erzählstimme die Beschreibung einer rationalen und distanziert handelnden Mutter herauslesen. Die Mutter »nutzte die Heimvolkshochschulkontakte aus« (HE5/159) und »organisierte sie irgendwie immer hierher in irgendwelche Heimvolkshochschulen« (HE5/159-160) (hier sind die Geschwister gemeint). Dass Saara hier das Wort »organisieren« in ähnlicher Art und Weise verwendet wie vorher das Wort »Tradition«, weist auf die Erfahrung des Ausgeliefertseins der Kinder unter die elterliche Entscheidungsmacht hin. Außerdem kommt an der Stelle durch die Verwendung des kleinen Wortes »hierher« (HE5/160) Saaras Erzählposition sowie ihre gegenwärtige Situiertheit in Deutschland zum Ausdruck. Hier kann vermutet werden, dass die von der Mutter gestellte normalbiographische Erwartung des Deutschlandaufenthaltes auch Saaras späteres biographisches Handlungsschema irgendwie beeinflusst hat und sich damit auch auf ihre spätere Migration auswirkte. An die »Tradition« anschließend benennt Saara den zeitlichen Rahmen des Aufenthaltes als ein halbjähriges »Zwischenjahr« (HE5/164), das zwischen dem Schulwechsel von der Oberschule ins Gymnasium stattfand und das die Mutter »organisiert« hatte. Die wiederholte Verwendung des Begriffs »organisieren« unterstreicht hier einerseits die Macht, die die Mutter in Bezug auf ihre Kinder hatte, und andererseits ihre Macht und Möglichkeit, das »Zwischenjahr« der Kinder mit den Schulen auszuhandeln. Dass das Verbringen eines »Zwischenjahres« zu damaligen Zeiten schon möglich, jedoch nicht üblich war, verweist erneut auf das von der allgemeinen Norm abweichende Verhalten und auf die Vorreiterrolle der Familie innerhalb ihrer Gemeinde. Dieses Abweichen oder Anderssein wird noch am Ende des Segments durch eine evaluative Kontrastierung des Schüleraufenthaltes einerseits als »eine Tradition in unserer Familie« (HE5/169) und andererseits als »natürlich etwas Komisches und Besonderes in der dortigen Gemeinschaft von X« (HE5/169-5/170) betont. Diese Aussagen unterstreichen die vorher erwähnten Erfahrungen des Andersseins von Saaras Familie in ihrer Lebensumgebung. Dadurch kann vermutet werden, dass die Erfahrung des Andersseins als ein positives oder negatives Stigma eine psychosoziale, möglicherweise auch eine handlungsschematische Bedeutung in Saaras weiterer biographischer Entwicklung darstellt. Die ersten Auslandserfahrungen (HE5/170-7/209)
Während das vorherige Erzählsegment insbesondere die von der Mutter geförderte internationale Erziehung und deren unterschiedliche Formen thematisierte und zugleich das Anderssein der Familie betonte, wird in diesem neuen Erzählsegment, das sich an die vorherige Hintergrundkonstruktion anschließt, Saa-
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ra selbst als Protagonistin ins Zentrum der Erzählung gerückt. Es folgt eine lebendige Erzählung über Saaras ersten Auslandsaufenthalt (HE5/170-7/209). S: (…) Ich war auch dann (seufzt tief) (…) Ich war das erste Mal in Deutschland. Ich hatte die Oberschule abgeschlossen, und ich war in Deutschland – das erste Mal in meinem Leben für ein halbes Jahr. Dies war auch ein Kontakt, den die Mutter organisiert hatte. Es war so, dass -- die Mutter aus den Zeiten ihrer eigenen Kindheit oder Jugend eine Frau (sie räuspert sich) hier in X-Bundesland kannte, die da in der Gegend von der D-Stadt wohnte. Es war eine Frau, die ausgebildete Kindergärtnerin war, und in ihrer Jugend bei meiner Mutter zu Hause als eine Austauschschülerin gewesen war. Dieser Kontakt war dann (sie seufzt) irgendwie noch da. Und diese Person organisierte mich dann hierher nach Deutschland. Zuerst in einen deutschen Kindergarten, wo ich einen Sommerjob hatte, und wo ich etwas Taschengeld bekam, und ich durfte ohne Miete in dem Pfarrhaus des Dorfes wohnen. Und dann halt -- dann bin ich/es dauerte vielleicht drei Monate oder so. Dann nahm ich noch fast für zwei Monate an so einer hiesigen Volkshochschule an einem Kurs teil und kehrte dann von dort nach Finnland zurück. So war ich fast ein halbes Jahr von Zuhause weg. Und -- das war natürlich -- gewissermaßen auch so eine sehr tiefgreifende Erfahrung -- damals für mich als Pubertierende, ich war fünfzehn Jahre alt. (HE6/171-6/189)
Mit der leichten Verzögerung »ich vermute« (HE6/171) beginnt Saara an den Zeitpunkt des ersten Deutschland-Aufenthaltes zu erinnern. Sie betont, dass es hier um »das erste Mal in Deutschland« (HE6/172-6/173) geht, das zeitlich – genauso wie bei ihren Geschwistern – nach dem Abschluss der Oberschule stattfand. Die biographische Bedeutung dieses Aufenthaltes kommt im nächsten Satz noch stärker zum Ausdruck, wenn Saara »das erste Mal« (HE6/174) wiederholt und hier mit der Zeitangabe »für ein halbes Jahr« (HE6/174) verbindet. Wenn man die Grammatik und den Satzaufbau an dieser Textstelle in dem finnischsprachigen Originaltext in Betracht zieht, ist es unklar, ob sich diese beiden Aussagen nur auf den Deutschlandaufenthalt beziehen. Vielmehr lässt sich vermuten, dass an dieser Stelle ein Erzählfaden in der Mitte eines Satzes wieder verabschiedet wird und stattdessen eine detaillierte Hintergrundkonstruktion in den Vordergrund tritt. Es folgt nämlich eine Hintergrundkonstruktion durch eine Erzählung über Saaras Mutter. Es stellt sich heraus, dass Saara – genauso wie ihre älteren Geschwister – über die Kontakte der Mutter nach Deutschland geschickt wird und dass sie damit der vorher geschilderten innerfamiliären »Tradition« eines Deutschlandaufenthaltes folgt. Während Saara keine Einzelheiten von den Deutschlandaufenthalten der Geschwister erzählt hatte, gibt sie in dieser Passage einen kurzen, etwas distanzierten Bericht über ihren eigenen Aufenthalt, der aber
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gleichzeitig in eine Mutter- bzw. Familiengeschichte eingelagert ist. Der Deutschlandaufenthalt wird nämlich in Bezug auf die Mutter erzählt, die ihre internationalen Kontakte und Beziehungen benutzte, um Saara einen Aufenthalt in Deutschland zu organisieren. Die Person, die für Saara einen Sommerjob in einem deutschen Kindergarten organisierte, hatte selbst in ihrer Jugend als Austauschschülerin bei der Familie von Saaras Mutter gewohnt. Ob die Mutter selbst in ihrer Jugend auch einen Deutschlandaufenthalt gemacht hat, ist nicht zu erfahren. Jedoch hinterlässt Saaras bisherige Erzählung den Eindruck, dass dies nicht der Fall war und dass die Mutter möglicherweise gerade deswegen auf die Aufenthalte der Kinder einen so hohen Wert legte und ihre bestehenden Kontakte dafür mobilisierte. Saara seufzt tief, wenn sie den Kontakt zu der Frau in Deutschland erwähnt: »dieser Kontakt war dann (seufzt) irgendwie noch da« (HE6/179-6/180). Dieses Seufzen in Zusammenhang mit der verzögernden Einschätzung des Kontaktes lässt unterschiedliche Lesarten zu. Einerseits kann vermutet werden, dass Saara wenige Einzelheiten über diesen Kontakt und diese Beziehung erfahren hat und diese Person für sie anonym geblieben ist. Andererseits kann das Seufzen auch als Ausdruck von Saaras Enttäuschung bzw. Frustration bezüglich des Kontaktes in dem Sinne, dass dieser Kontakt einen von ihr selbst nicht gewollten Aufenthalt in Deutschland ermöglichte, gedeutet werden. Auf jeden Fall markiert das Seufzen eine Frustration, die jedoch an dieser Textstelle schwer entschlüsselt werden kann. Die Jugendbekanntschaft von Saaras Mutter wird in einer distanzierten Art und Weise beschrieben: »diese Person organisierte mich dann hierher, nach Deutschland« (HE6/180-6/181). In dieser Aussage spiegelt sich Saaras Hilflosigkeit im Hinblick auf den Aufenthalt wider. Es scheint, dass Saara hier selbst wenig Einfluss hatte und dies von der Mutter und der Bekannten vermittelt worden ist. Durch Saaras Erzählart erscheint der Deutschlandsaufenthalt wie ein institutionelles Ablaufmuster, das Saara in der Position eines Kindes bzw. einer Jugendlichen gemäß der autoritären Erwartungshaltung von Eltern zu durchlaufen hatte. In den folgenden Zeilen erzählt Saara wenig von dem eigentlichen Aufenthalt, außer dass sie in einem Kindergarten jobbte, unentgeltlich bei einer Pfarrerfamilie wohnte und einen Sprachkurs an einer dortigen Heimvolkshochschule besuchte. Es ist jedoch bemerkbar, dass sie hier insbesondere nach einer zeitlichen Einordnung des Aufenthaltes sucht: »es dauerte vielleicht drei Monate oder so und dann (…) fast für zwei Monate« (HE6/184-6/185) und beendet den Satz mit der Bilanzierung: »so dass ich fast ein halbes Jahr von Zuhause weg war« (HE6/186-6/187). Dieser abschließende Satz, der wie eine Wiederaufnahme des abgebrochenen Satzes der Zeilen 173-174 der Haupterzählung erscheint, rückt das von Zuhause weg sein statt des Deutschlandaufenthaltes in den Vordergrund.
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Es folgt eine bilanzierende Evaluation des Aufenthaltes und des von Zuhause weg seins in der Adoleszenz: » – Und -- das war natürlich -- gewissermaßen auch so eine tiefgreifende Erfahrung -- damals für mich als Pubertierende, ich war fünfzehn Jahre alt« (HE6/187-6/189). Die Aussage macht deutlich, dass der Deutschlandaufenthalt möglicherweise mit Problemen und Unsicherheit verbunden war. Das vorher betonte »das erste Mal« bezieht sich also nicht nur auf das erste Mal in Deutschland, sondern auch auf das erste Mal von Zuhause weg sein. Somit kann hier vermutet werden, dass der Deutschlandaufenthalt einen bedeutenden Wendepunkt in Saaras biographischer Entwicklung markiert. Nach einer kurzen Pause, die der Evaluation folgt, nimmt Saara die Position einer reflexiven Beobachterin ein und argumentiert aus ihrer jetzigen Lebenslage. S: (…) ich muss sagen, dass ich es mir dann in Hinsicht auf meine eigenen Kinder überlegt habe, dass ich es ihnen nicht auf diese Weise als fertiges Rezept nicht geben möchte, dass dies nur der richtige Weg ist, den man gehen sollte. Wenn ein junger Mensch oder ein Kind es selbst will, ist es dann eine andere Sache. Aber ich habe dies dann nicht selbst -- mit den eigenen Kindern verwirklicht. Aber andererseits von dieser Zeit noch, obwohl dazu viel Einsamkeit und Hilflosigkeit und Trauer und Heimweh und alles gehörte so -- blieb mir von dieser Zeit bestimmt so ein Funke, dass ich dann nach diesem Sommer -- kann man sagen, dass ich fast alle Sommerferien immer irgendwo im Ausland war und dort gejobbt habe. Und ich war -- entweder ging ich nach Z-Land und suchte dort beim Arbeitsamt nach einem Job, oder ich bewarb mich auf irgendwelche Zeitungsanzeigen in Deutschland oder in Z-Land oder wo immer, und so habe ich mir selbst einen Sommerjob im Ausland organisiert. Diese waren schon solche Sachen, in die die Mutter sich in keiner Art und Weise mehr einmischte, außer -nach dem ersten Mal in Deutschland organisierte sie mich nach Z-Land. Das war auch über einen alten Kontakt, den sie noch aus ihrer Kindheitszeit in der C-Stadt und in der E-Stadt noch hatte. Damals war ich die Sommermonate in der F-Stadt in einer Familie als eine Kinderbetreuerin als Au-pair Mädchen. (HE6/189-7/209)
Dieser Einschub, in dem Saara ihre Erfahrungen in Bezug auf den Auslandsaufenthalt und die Erziehung ihre Kindern darstellt, beinhaltet auch eine implizite Kritik an ihrer Mutter und ihrer möglicherweise autoritären, normativen und distanzierten Erziehung, die die Bedürfnisse der Kinder nicht wahrnahm: »ich muss sagen, dass ich es mir dann in Hinsicht auf meine eigenen Kindern überlegt habe, dass ich es ihnen auf diese Weise als fertiges Rezept nicht geben möchte, dass dies nur der richtige Weg ist, den man gehen soll. Wenn ein junger Mensch oder ein Kind es selbst
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will, ist es dann eine andere Sache. Ich habe dies dann nicht selbst -- mit den eigenen Kindern verwirklicht« (HE6/189-6/194).
Diese Aussage bestätigt die problematische Beziehung von Saara und ihrer Mutter, die möglicherweise ihren Höhepunkt in der Organisation des Deutschlandaufenthaltes erreichte. Auf jeden Fall distanziert sich Saara in dieser Aussage von ihrer Mutter und der innerfamiliären Normalitätserwartungsstruktur als »ein Rezept« (HE6/192), das auf Saaras mögliches Gefühl des Prozessiertwerdens hinweist. Verwunderlich ist jedoch, dass Saara dies nicht auf der Textebene expliziert, sondern durch eine inhaltliche Spiegelung auf ihr eigenes Verhalten in Bezug auf ihre eigenen Kinder vermittelt. Dies könnte einerseits darauf verweisen, dass Saara den Deutschlandaufenthalt, trotz der Probleme, insgesamt positiv erlebt hat und der Aufenthalt dadurch mit ambivalenten Erinnerungen verbunden ist. Andererseits unterstreicht die Spiegelung Saaras Distanz und Differenz zu ihrer Mutter und zu ihrem autoritären Erziehungsstil. Etwas später weist Saara darauf hin, dass der Deutschlandaufenthalt mit Einsamkeit, Hilflosigkeit, Trauer und Heimweh verbunden war. Obwohl diese Emotionen hier genannt werden, liegt der Schwerpunkt des Satzes jedoch nicht auf deren Betonung, sondern auf ihrer Überwindung: »so -- blieb mir von dieser Zeit bestimmt so ein Funke, dass ich dann nach diesem Sommer -- kann man sagen, dass ich fast alle Sommerferien immer irgendwo im Ausland war und dort gejobbt habe« (HE6/197-6/199). Dieser Satz bestätigt die Vermutung der mit dem Deutschlandaufenthalt verbundenen Ambivalenz von negativen und positiven Gefühlen und Erfahrungen, die schon in Saaras vorherigen Erzählungen ihren Ausdruck fanden. Gleichzeitig verweist dieser Satz darauf, dass diese Erfahrungen eine Struktur erzeugende Kraft für Saaras biographische Entwicklung hatten, und deshalb als Anstoß für die Entwicklung eines neuen biographischen Handlungsschemas fungierten. Dieses Handlungsschema ist nicht nur die internationale Orientierung, sondern durch einen Individuierungsprozess gekennzeichnet. Dies kommt insbesondere in der folgenden Textpassage zum Ausdruck, in der Saara ihre Selbständigkeit betont: »so habe ich mir selbst einen Sommerjob im Ausland organisiert. Diese waren schon solche Sachen, in die die Mutter sich in keiner Art und Weise mehr einmischte« (HE6/202-6/204). Saara verwendet hier wieder das Wort »organisieren«, mit dem sie an der vorherigen Textstelle (HE5/159-5/160) das Verhalten ihrer Mutter in Bezug auf ihre Kinder in einer distanzierten Art und Weise beschrieb. Während Saara vorher betonte, wie die Mutter zum Beispiel die Kinder ins Ausland »organisierte«, wird jetzt das »organisieren« als eine selbständige Tätigkeit und selbständiges Handeln in den Vordergrund gestellt. »Ich organisierte« thematisiert die Entwicklung eines selb-
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ständigen Handlungsschemas in Bezug auf die internationale Orientierung sowie den Individuierungsprozess, der den Statuswechsel vom abhängigen Kind zur selbständigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen beschreibt. Die Auslandsorientierung stellt Saara als einen »adoleszenten Möglichkeitsraum« (King 2002, 2004) dar, in dem sie zur selbständigen Gestalterin ihrer Biographie wird. Dass der Selbständigkeitsprozess jedoch nicht so geradlinig verlaufen ist, zeigt Saaras Verzögerung im folgenden Satz, wo sie ihre vorherige Aussage über ihr selbständiges Arrangement der Auslandsaufenthalte korrigiert. Durch diese Korrekturen, die noch mal die Rolle der Mutter in der Organisation eines weiteren Auslandsaufenthaltes, diesmal als Au-pair bei ihren Bekannten aus ihrer Kindheit im Z-Land, betont, kann vermutet werden, dass der Individuierungsprozess schon mit dem Deutschlandaufenthalt begonnen hatte, und dies in Saaras biographischer Rekonstruktion zunächst als ein direkter Schritt zum selbständigen Arrangieren ihrer Auslandsaufenthalte gedeutet wurde. Dass Saara diesen Aufenthalt jedoch nicht genauer erklärt, weist darauf hin, dass sie ihn hier nur in Verbindung mit der Erklärung ihres Selbständigkeitsprozesses erwähnt hat und er somit als ein Teil ihrer Selbstpräsentation zu deuten ist. Saaras hier geschilderte erste, teils sehr schmerzhafte Erfahrung mit dem Leben im Ausland kann als ein biographisches Schlüsselerlebnis für ihren weiteren Lebensentwurf gedeutet werden. Die Bewältigung dieses Ereignisses scheint vom Zugewinn an Unabhängigkeit durch die Loslösung aus der bekannten familiären Umgebung gekennzeichnet zu sein. Gleichzeitig scheint es identitätsstiftend zu wirken und führt in Hinsicht auf die Gesamtbiographie zu einem bewussten mobilen Handlungsschema, einem Individuationsprozess mit einem bewussten interkulturellen Lebensentwurf mit weiteren Auslandsaufenthalten bis zu ihrer Migration nach Deutschland. Saaras Individuationsprozess ist somit einerseits mit der Auslandsorientierung und einem ausdrücklichen Bildungsstreben und andererseits mit einer starken Distanzierung von dem gewohnten elterlichen Lebensmuster verbunden. Dies kommt insbesondere in ihrer Berufswahl zum Ausdruck. Um sich von der bekannten familiären Umgebung zu distanzieren und um sich zu emanzipieren, versucht Saara andere berufliche und private Wege zu gehen als ihre Eltern. Auch ihre Partnerwahl folgt diesem Muster: S: (…) und dann -- in dieser Lebensphase, wenn man sich dann Gedanken über die Berufswahl macht -- mir waren eigentlich zwei Sachen klar -- dass ich keine Lehrerin werden will und auf keinen Fall Pfarrer und auch keine Ehefrau eines Pfarrers (lacht und die Interviewerin lacht mit), weil – diese Familienkultur der LehrerInnen und Pfar-
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rer13 war mir irgendwie so bekannt und so durchgekaut, dass es nichts hatte, was mich irgendwie fasziniert oder angezogen hätte. -- Und -- das war zwar – es war so, dass mein Vater ausgebildeter Pfarrer war. Und die Mutter war eigentlich ausgebildete Kindergärtnerin, aber sie hatte dann – durch Weiterbildung eine Zusatzqualifikation erworben, so dass sie als Lehrerin arbeiten konnte. Aber -- nur als Anekdote noch, dass alle drei Schwestern meiner Mutter auch mit Pfarrern verheiratet waren. Und so war dies so ein -- eine sehr starke -- irgendwie stark so und war eigentlich eine uninteressante Option für mich. (HE7/219-7/235)
Die Textpassage über die Berufswahl (HE7/219-8/272) unterstreicht Saaras Individuierungsprozess, da sie ihre Berufswahl durch eine Negativkonstruktion als eine Abgrenzung von den Berufen ihrer Eltern sowie von der Position als eine Ehefrau eines Pfarrers herleitet: »mir waren zwei Sachen klar -- dass ich keine Lehrerin werden will und auf keinen Fall Pfarrer und auch keine Ehefrau eines Pfarrers« (HE7/221-7/222). Die Distanzierung von diesen Berufen und der Position als Ehefrau eines Pfarrers ist mit einer Wortbetonung und mit einem schauspielerischen Ausdruck verbunden, der Saara und mich als Interviewerin zum Lachen bringt. Abschließend an der Stelle gerät Saara in ein Detaillierungsbedürfnis und will diese starke Negierung begründen: »diese Familienkultur der LehrerInnen und Pfarrer war mir irgendwie so bekannt und so durchgekaut, dass es nichts hatte was mich irgendwie fasziniert oder angezogen hätte« (HE7/2237/226). Es ist zu vermuten, dass Saara mit dieser negativen Formulierung eine doppelte Negierung vornimmt; hier sind wohl nicht nur die Berufe, sondern auch ihre Eltern gemeint. Es ist das erste Mal, dass Saara die Ausbildung der Eltern erwähnt. Jedoch betrachtet Saara nicht nur die Berufe kritisch, sondern auch die damit einhergehende Lebenswelt, Familienkultur und auch die eventuell mit diesen einhergehenden stereotypen Geschlechterrollen. Die Distanzierung von den elterlichen Berufen und der damit verbundenen Lebenswelt lässt die Vermutung zu, dass Saara damit ihre Distanzierung vom Elternhaus und ihren Individuierungsprozess verdeutlichen will. Insbesondere kommt in den vorherigen Aussagen die Suche nach etwas Neuem, nach Eigenem zum Ausdruck. Die Negierung der Berufe der Eltern ist jedoch noch mit einer weiteren Negierung, nämlich mit der Position der Ehefrau eines Pfarrers, verbunden. Zunächst scheint diese Aussage in der Negation des Pfarrerberufs zu liegen, hat jedoch noch eine andere Bedeutung: »Aber -- nur als Anekdote noch, dass alle drei Schwester von meiner Mutter auch mit Pfarrern verheiratet waren. Und so war dies so ein -- eine sehr
13 Ich verzichte hier bewusst auf die weibliche Form, da zu damaligen Zeiten keine Frauen als Pfarrerinnen arbeiten durften.
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starke -- irgendwie stark so und war eigentlich eine uninteressante Option für mich« (HE7/231-7/235). In dieser Aussage kommen mehrere, sich kreuzende Normalitätskonstrukte zum Ausdruck, u.a. die Erwartung eines heterosexuellen Eheverhältnisses, die Erwartung einer Verbundenheit mit der Religion in Form des Pfarrers als Ehemann sowie eine Erwartung der Fortsetzung der Familientradition der Heirat mit einem Pfarrer. Diese vorher erwähnten unterschiedlichen Distanzierungsarten unterstützen die These des begonnenen Individuierungsprozesses aus der Rolle des abhängigen Kindes heraus, der zunächst am Beispiel der Selbstorganisation der weiteren Auslandsaufenthalte und dann am Beispiel der Studienwahl zum Ausdruck kommt. Außerdem scheint die Negation der Rolle als Ehefrau eines Pfarrers auch im Licht der Negation einer statusbezogenen, familiären »Heiratstradition«. In dieser Negation zeigt sich einerseits eine Kritik am Elternhaus und an den Familienverhältnissen, andererseits Saaras Individuierungs- und Ablösungsprozess von ihrem Elternhaus. Gleichzeitig verdeutlichen diese unterschiedlichen Distanzierungen den Wandlungsprozess, der für Saaras vergeschlechtlichten Ablösungsprozess und für die Entwicklung ihrer »selbstbestimmten« Handlungsorientierung als eine heranwachsende Frau nötig war. Nach dieser Hintergrundkonstruktion greift Saara wieder den Erzählfaden bezüglich ihres Studienweges auf. S: (…) dann habe ich mich -- bei der Handelshochschule in der F-Stadt beworben. Die Idee kam dann, dass ich es mir vorstellen könnte/ich wollte auf keinen Fall finnische Sprache und Literatur [studieren], weil die Mutter sie uns so schrecklich zu Hause aufnötigte. Wir waren in dieser ziemlich gut in der Schule und somit wäre sie auch ein guter Berufsweg gewesen. Aber es war mir auch irgendwie allzu bekannt. -- Und, dass man in Anführungszeichen nur Sprachen zu studieren begonnen hätte/das fand ich auch sehr zwecklos/(sehr leise). (HE7/235-8/243)
Nach der Schilderung der Distanzierung von den Berufen der Eltern, die als eine Hintergrundkonstruktion für die Entwicklung ihrer eigenen Berufswahl fungierten, führt Saara ihre Wahl ein: »dann habe ich mich -- bei der Handelshochschule in der F-Stadt beworben« (HE7/235-7/236). Genauso wie vorher die Negierung der elterlichen Berufe überrascht hier die direkte Einführung der Studienrichtung, ohne dies auf irgendwelche Art und Weise zu begründen. Nach dieser Aussage folgt jedoch zunächst eine Anmerkung, die mit der Entwicklung dieser Entscheidung beginnt, jedoch wieder zu einer Hintergrundkonstruktion in Form der Negierung der ungewollten Studienrichtung führt. Saara distanziert sich hier von der finnischen Sprache und Literatur als einer möglichen Studienrichtung mit der Begründung, nicht etwas von zu Hause Gewohntem, das insbesondere
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die Mutter den Kindern beigebracht hatte, nachgehen zu wollen. In dieser Aussage kommt wieder die schon vorher festgestellte Distanzierung vom Bekannten, und insbesondere von der Mutter, zum Ausdruck. Um die Stärke ihrer Ablehnung etwas aufzuweichen, weist Saara darauf hin, dass sie und ihre Geschwister in diesen Fächern gut in der Schule waren und diese Studienrichtung möglicherweise doch einen guten Beruf ermöglicht hätte, aber ihr jedoch »zu bekannt« (HE8/241) war. Nach dieser Aussage folgen zwei kurze Pausen, während denen Saara zögerlich nach dem Erzählfaden sucht. Sie führt weiter ihre Begründung für die Negierung der bestimmten Studienrichtungen aus und schließt die Textpassage mit der Negation des Fremdsprachenstudiums ab: »-- Und, dass man in Anführungszeichen nur Sprachen zu studieren begonnen hätte/das fand ich auch sehr zwecklos/(sehr leise)« (HE8/241-243). Der finnische Ausdruck »lähteä opiskelemaan«, den Saara hier verwendet und den ich mit »anfangen zu studieren« übersetzt habe, kann jedoch auch als »zum Studium gehen« übersetzt werden. Dieser Ausdruck beinhaltet den Akt des Weggehens, das mit dem Studium und dem Wohnortwechsel verbunden ist. Das schon vorher diskutierte Weggehen, das mit dem Studium verbunden war, kommt hier diesmal durch die Sprache zum Ausdruck und wirkt in Saaras Erzählung gleichsam wie eine gesellschaftliche Anrufungspraktik, eine kollektive Normalität, die gleichermaßen Mädchen und Jungen in den 1960er Jahren betraf. An diese Normalitätskonstruktion schließt aber zugleich ein Bericht darüber an, welche Anstrengungen von Saara unternommen werden mussten, bis das »zum Studium gehen« überhaupt möglich war.14 Saara berichtet erstaunlich genau über die Beschaffung der für das Studium benötigten Zeugnisse und Arbeitserfahrung. Insbesondere rückt die Erzählung über die mit Hilfe ihres Vaters organisierte Praktikumsstelle in den Vordergrund. Überraschend in der Erzählung ist, dass der Vater als ein »Signifikanter Anderer« hier auftaucht. Während er in Saaras bisheriger biographischer Rekonstruktion nur kurz in seiner Rolle als Vater benannt worden ist und eher ein leiser Begleiter in Saaras bisheriger Erzählung gewesen ist, bekommt er hier als Unterstützer von Saaras Studienentscheidung eine bedeutende Rolle. Es kann vermutet werden, dass es hier nicht nur um die Mobilisierung der Ressource des Vaters geht, sondern gleichzeitig wieder um Saaras Individuierungsprozess, der mit der Distanzierung von den elterlichen Berufen, von dem Gewohnten und insbesondere von der Mutter verbunden war. In der Orientierung und auf der Suche nach dem »Neuen« stellte der Vater einen neuen Komplizen dar, der die Distanzierung von der dominanten Mutter einerseits und eine Annä-
14 II. Suprasegment: Das Verlassen des Ortes der Kindheit (HE4/116-8/272); Segment 3: Schulabschluss und Berufswahl (HE7/215-8/272).
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herung an den bisher abwesend erscheinenden Vater andererseits ermöglichte. Gleichzeitig rückt Saara in dieser Erzählpassage selbst als Handelnde und »Organisierende« in den Mittelpunkt. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass sie sich in der vorherigen Erzählpassage von den elterlichen Vorgaben distanzieren wollte. Saara spricht in der Ich-Form und erzählt, wie sie die benötigten Arbeitszeugnisse selbst organisierte und entsprechende Arbeitserfahrungen sammelte. Hiermit erscheint der Vater nicht nur als Unterstützer, sondern seine Beziehungen werden von Saara für ihre Zwecke instrumentalisiert: »ich wusste, dass der Vater den Leiter dieses Heimes kennt, und ich fragte den Vater, ob er ihn fragen könnte, ob ich als Praktikantin dort arbeiten könnte, und sie erst im Herbst die feste Stelle ausschreiben würden« (HE8/255-258). Ein leichtes Lachen (HE8/258) begleitet ihre Erzählung über die Organisation der Praktikumsstelle. Es markiert einen wichtigen Punkt in Saaras selbstbewusstem Handeln und in der Instrumentalisierung von Beziehungen und Machtverhältnissen. Mit dieser Darstellung erweckt Saaras Handeln eine Parallelität zu dem vorher beschriebenen Verhalten ihrer Mutter, die zum Beispiel ihre Beziehungen für die Zwecke der Auslandsaufenthalte ihrer Kinder mobilisierte. Es kann hier vermutet werden, dass Saara trotz der vorher geäußerten leichten Kritik am instrumentellen Verhalten ihrer Mutter dieses doch positiv bewertet und es schließlich selbst als Handlungsschema annimmt. Dieser Erzählpassage folgt eine kurze Pause, nach der Saara den Erzählfaden über die gewählte Studienrichtung mit der Anmerkung wieder aufgreift, dass sie den Studienplatz in der Studienrichtung Sekretärin-Korresspondentin an der Handelshochschule bekommen hat. S: (…) und ich konnte dann mein Studium an der Handelshochschule im Fach SekretärinKorrespondentin beginnen. -- Ich hatte keine Spitzennoten beim Abitur, so dass ich damals sicherlich nicht direkt das Studium der Wirtschaftswissenschaften hätte beginnen können. Da brauchte man Mathematiknoten und solche, die ich nicht hatte. Aber ich durfte im Fach Sekretärin-Korrespondentin beginnen oder dieser Abschluss hieß schon damals akademische Sekretärin. Und dort konnte ich anfangen. Es war schon damals bekannt, dass es dann später leicht ist von dort in das Fach Wirtschaftswissenschaften zu wechseln, wenn man wechseln wollte. Und eigentlich habe ich schon gleich von Anfang an daran gedacht, dass ich den Abschluss nicht im Fach akademische Sekretärin, sondern in den Wirtschaftswissenschaften mache. – Und dann -- dies habe ich auch getan. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr ich den Studienfachwechsel beantragte und genehmigt bekam. (HE8/259-8/271)
Nach dieser Bemerkung folgt wieder eine kurze Pause, nach der Saara in ein Detaillierungsbedürfnis gerät und anhand einer detaillierten Hintergrundkonstrukti-
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on eine Erklärung für die Wahl ihres Studienfaches gibt. Überraschenderweise folgt dann eine Abwendung von der gewählten Studienrichtung SekretärinKorrespondentin zugunsten des Studiums der Wirtschaftswissenschaften. Dass Saara sich nicht direkt für das Studium der Wirtschaftswissenschaften beworben hat, erklärt sie mit den nicht ausreichenden bzw. fehlenden Noten, zum Beispiel in Mathematik. Diese Aussage verdeutlicht, dass sich Saara möglicherweise während des Gymnasiums für eine andere Studienrichtung vorbereitet hatte und die Entscheidung, an der Handelshochschule zu studieren, auf eine neue Orientierungsrichtung verweist. Jedoch ist die Wahl der Studienrichtung schon von Anfang an durch den möglichen Wechsel zu einem späteren Zeitpunkt im Studium bedingt. Dieser Wechsel bekommt in Saaras biographischer Erzählung einen so wichtigen Stellenwert, dass sie an der Stelle ihren chronologischen Erzählstrang unterbricht und diese Textpassage und das II. Suprasegment mit der Anmerkung über den Fachwechsel abschließt: »ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr ich den Studienwechsel beantragte und genehmigt bekam« (HE8/2698/271). Es ist erstaunlich, wie viel Platz sich Saara für die Begründung ihrer Studienwahl in ihrer Erzählung genommen hat. Insbesondere die Negation und Distanzierung von bestimmten Berufswegen lässt vermuten, dass die von Saara ausgewählte Studienrichtung möglicherweise für sie selbst sowie eventuell auch für ihre Umgebung etwas Besonderes dargestellt und einen Ausbruch aus der familiären Tradition markiert hat. Auch die Distanzierung von dem Studienfach Sekretärin/Korrespondentin legt die Vermutung nahe, dass sie sich auch von Studienbereichen, die weiblich konnotiert werden können, bzw. auf untergeordnete Aufgaben verweisen, distanzieren wollte. Während die Wahl des Studiums und der Ausbruch aus dem Elternhaus mit der Distanzierung von den religiösen Familienverhältnissen verbunden war, spielt die Religion und religiöse Umrahmung jedoch wieder (vgl. auch während des ersten Deutschlandaufenthaltes) eine bedeutende Rolle am Beginn des Studentenlebens.15 Das Einziehen in ein religiöses Wohnheim gibt Saara eine bekannte und schützende soziale Rahmung in einer Großstadt, die den Ausbruch aus dem Elternhaus, den Saara jedoch schon durch die Auslandsaufenthalte früher graduell angefangen hatte, erleichtert.
15 Siehe dazu Suprasegment II »Wanderjahre« (HE8/271-18/607): Segment 1. Der Auszug von Zuhause (HE8/271-HE9/280) und Segment 2. Der Einzug in das christliche Studentenheim (9/280-9/299).
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Zusammenfassung
Das II. Suprasegment »Das Verlassen des Ortes der Kindheit« (HE4/116-8/272), das hier im Zusammenhang des Gesamtinterviews diskutiert wurde, verdeutlicht Saaras Individuierungsprozesses, der in diesem Suprasegment um das Thema des »Weggehens« als Normalitätserwartung kreist. Saaras biographische Haltung kann hier als ein Prozess der graduellen Ablösung und der Distanzierung vom institutionellen Ablaufmuster der Primärfamilie rekonstruiert werden. Dieses Ablösen lässt sich als Individuierungsprozess bezeichnen, der in der Distanzierung von dem elterlichen Vorbild, insbesondere dem der Mutter, zum Ausdruck kommt. Diese Distanzierung ermöglicht die Entdeckung der eigenen Handlungskompetenz und -autonomie auf der Suche nach der eigenen Lebensperspektive. Am Beispiel des ersten längeren Auslandsaufenthaltes in der Adoleszenz zeigt sich wieder eine bedrohliche, fast verlaufskurvenartige Entwicklung, die jedoch in deren erfolgreiche Überwindung mündet. Hier verweist Saaras biographische Erzählung wieder auf ihre Fähigkeit, die bedrohlichen Verhältnisse zu meistern. Diese Überwindung stellt sich als ein biographischer Transformationsprozess dar, in dem sich aus einem dem elterlichen Willen ausgelieferten Kind eine selbstständige und handlungsorientierte Jugendliche bzw. junge Frau entwickelt. Dabei greift Saara das von der Mutter angebotene Handlungsmuster der internationalen Orientierung auf, das ihr einerseits den Individuierungsprozess und andererseits die ersehnte mütterliche Anerkennung ermöglicht. Auch in der Wahl der Studienrichtung zeigt sich auf exemplarische Art und Weise, wie in Saaras Fall der Individuierungsprozess mit der gleichzeitigen Distanzierung von den elterlichen Vorbildern und Lebensumständen zusammenhängt und sie erst durch diese Distanzierung befähigt, ein eigenes biographisches Handlungsmuster zu entwickeln. Auslandsorientierung als gradueller Erwerb einer »interkulturellen Disposition«16
Wie die bisherige biographieanalytische Rekonstruktion des Falles zeigt, spielt die Mutter eine bedeutende Rolle in Saaras Individuationsprozess, der sehr stark auf der Grundlage der internationalen Orientierung und der Erweiterung ihres Erfahrungshorizontes und Handlungsraumes konstruiert wird. Auffällig ist dabei
16 Dieser Begriff stammt von Ursula Apitzsch (1992), die den Begriff benutzt hat, um darauf hinzuweisen, wie Kinder von MigrantInnen durch die Synthese von »modernen« und »traditionellen« Wissensbeständen eine interkulturelle Kompetenz im Sinne einer »interkulturellen Disposition« erlangen, die wiederum als Identitäts- und Handlungsressource fungiert.
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die vorher festgestellte Betonung der eigenen Selbständigkeit, die Saara im Zusammenhang mit der Beschreibung ihrer ersten selbstorganisierten Auslandsaufenthalte benutzt: »so habe ich mir selbst einen Sommerjob im Ausland organisiert« (HE6/202-6/203). Diese Aussage verdeutlicht, dass als Motiv für ihr Verhalten nicht das Weggehen, um etwas Neues erfahren zu können, zu werten ist, sondern die Möglichkeit, eigene Selbständigkeit zu erproben und die eigene biographische Handlungsautonomie zu gewinnen. In der Betonung der Selbstständigkeit kommt wieder die Distanzierung von der elterlichen Macht und insbesondere der der Mutter zum Ausdruck. Somit kann Saaras Auslandsorientierung sowohl als Erwerb des soziokulturellen Bildungskapitals als auch als Teil ihres Individuierungsprozesses betrachtet werden, mit dem sie ihren individuellen Handlungsspielraum erweitern konnte. Es kann zunächst festgestellt werden, dass Saara während der Adoleszenz beginnt, ein transnationales Handlungsschema zu entwickeln, welches sich in Saaras weiterer biographischer Entwicklung rekonstruieren lässt und wie ein roter Faden ihre biographische Entwicklung durchzieht. Diese Orientierung begann mit der Beschreibung des ersten schmerzhaften Auslandsaufenthaltes und mündete später in weitere Auslandsaufenthalte, Sommerjobs, Auslandspraktika und ins Fremdsprachenstudium. Die mit der Auslandorientierung verknüpfte Bildungsorientierung ermöglichte die Schaffung eines »adoleszenten Möglichkeitsraumes« (King 2002, 2004), der ihr wiederum einen Individuierungsprozess eröffnete. Während des Studiums der Wirtschaftswissenschaften wendet Saara sich dem Fremdsprachenstudium zu und studiert nebenbei noch Englisch und Deutsch. Obwohl dies zunächst als eine Erweiterung des Berufsbildes erscheint, hat diese Orientierung jedoch noch eine weitere biographische und handlungsschematische Bedeutung. S: (…) für mein Studium war in irgendwelcher Art und Weise vielleicht auch bezeichnend, dass ich schon ziemlich früh -- intuitiv den Gedanken pflegte, dass es sein kann, dass ich ins Ausland gehe und in diesem Sinne bemühte ich mich auch um die Fremdsprachen. (HE11/343-11/347)
Wie diese Aussage verdeutlicht, kommt im Studium der Fremdsprachen Saaras Sehnsucht nach dem Ausland zum Ausdruck. Es kann hier vermutet werden, dass Saaras bisherige internationale Orientierung, die mit dem Individuierungsprozess verbunden war, sich nun langsam zu einem biographischen Lebensentwurf in Richtung auf das Leben im Ausland entwickelt, worauf sie sich mit dem
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zusätzlichen Fremdsprachenstudium vorbereiten will. Zunächst lässt sich dies aufgrund der Sommerjobs und Praktika im Ausland rekonstruieren. S: (…) während des Studiums ging es dann weiter, dass ich in den Sommerferien im Ausland jobbte. -- Und dann -- (7 sec) Ich kann mich nicht mehr daran erinnern in welcher Reihenfolge ich welche Sommerjobs hatte, aber auf jeden Fall war ich in einem Sommer in F-Land und in anderem in – G-Land, wahrscheinlich war ich schon in Z-Land gewesen. Sie waren alle keine in Anführungszeichen keine vernünftigen Arbeitsstellen im Sinne, dass ich bei irgendwelchen Banken oder kaufmännischen Unternehmen gearbeitet hatte. (…) Ich habe im Hotel als eine Putzfrau gearbeitet und als eine Verkäuferin und Kellnerin. (…) Ich begann dann ziemlich früh, mich für die (…) also für die internationalen Praktikumsstellen für WirtschaftswissenschaftlerInnen zu bewerben und habe dann auch irgendwann eine Stelle bekommen. (HE12/398-13/411)
Das Erzählsegment über die Auslandsaufenthalte während des Studiums (HE12/398-14/461) schließt an Saaras Erzählung über ihr Studium sowie über ihr Interesse für die Fremdsprachen an. Die Aussage »ging es dann weiter, dass« (HE12/399) verdeutlicht, wie Saara ihre Auslandsorientierung während des Studiums als eine logische Konsequenz ihrer vorherigen Auslandsaufenthalte deutet. Auch die Arbeitsbereiche blieben fast die gleichen. Saara arbeitet weiterhin in »frauentypischen« Servicebereichen, die sie jedoch aus ihrer jetzigen Perspektive als keine »vernünftigen Arbeitsstellen« (HE12/404) bewertet, da sie nicht ihrer Ausbildung entsprachen. Erst später, durch die Auslandspraktika, findet sie den Zugang zu Arbeitsbereichen, die ihrer Ausbildung entsprechen. Aber auf jeden Fall unterstützt hier diese abwertende Anmerkung die vorher gestellte These, dass Saaras Auslandsorientierung nicht in erster Linie einer beruflichen Qualifikation, sondern vielmehr dem Erwerb einer »interkulturellen Disposition« (Apitzsch 1992) als biographische Perspektive, die ihr das mögliche spätere Leben in einem fremden Land erleichtern soll, diente. Somit ist die Wahl der Studienfächer auch mehr durch den Wunsch, ins Ausland zu gehen, strukturiert, als von dem Wunsch, möglichst schnell das Studium zu absolvieren. Es kann vermutet werden, dass der Erwerb der »interkulturellen Disposition« Saara auch ermöglichte, die mütterliche Anerkennung zu erreichen. 7.1.3.3. Migration als neue Statuspassage Aus der biographischen Perspektive betrachtet, lässt sich nun Saaras Migrationsentscheidung als eine Steigerung ihrer internationalen Orientierung gekoppelt mit ihrem Individuierungsprozess, die Saaras biographischen Lebensentwurf von Kindheit an strukturiert haben, rekonstruieren. Deshalb stellt die Migration kei-
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nen Bruch dar, sondern lässt sich als eine biographische Kontinuität und generative biographische Struktur in Saaras biographischem Entwicklungsprozess rekonstruieren. Ich möchte nun im Folgenden genauer die biographische Rekonstruktion von Saaras Migrationsprozess anschauen. An die Beschreibung des Individuierungsprozesses und die damit einhergehende Suche nach Neuem knüpft sich die Erzählung über das Verlieben. Während eines Auslandspraktikums lernt Saara ihren zukünftigen deutschen Ehemann kennen.17 Sie führen ihre Beziehung nach dem Praktikum weiter, und es folgen für beide »Pendeljahre«, während derer beide zwischen Deutschland und Finnland pendeln, um ihre Beziehung aufrechtzuerhalten.18 Als der Freund sein Studium abschließt und berufstätig wird, beginnt Saara eine Arbeitsstelle in Deutschland zu suchen, obwohl sie ihr Studium noch nicht abgeschlossen hat. In Saaras Entscheidung, eine Arbeitsstelle zu haben, bevor sie zu ihrem Freund nach Deutschland kommt, spiegelt sich ihr Bedürfnis nach einer eigenständigen beruflichen Existenz im Sinne einer biographischen Handlungsautonomie wider. Nachdem Saara eine Arbeitsstelle bei einer finnischen Firma zugesichert bekommt, heiraten beide, und Saara wandert nach Deutschland aus/ein. Die Ehe mit einem deutschen Mann und den Zuzug nach Deutschland hat Saara der in den Studentenzeiten entwickelte Traum vom zukünftigen Leben im Ausland ermöglicht. Auf den ersten Blick erscheint die Entscheidung, einen deutschen Mann zu heiraten, als Grund für ihre Migration in die Bundesrepublik Deutschland im Sinne der »Migration aus Liebe« (Herzberg 1996, Ricker 2000). Betrachtet man jedoch den bisher analysierten biographischen Verlauf, erscheinen die Heirat und die Aus-/Einwanderung als logische Folge von Saaras bisheriger internationaler Orientierung und stellen keinen Bruch, sondern eine biographische Kontinuität in Saaras biographischer Entwicklung dar. Während die vorherige internationale Orientierung ein biographisches Handlungsschema wiedergab, wobei sich ein Zusammenhang zwischen Bildungsorientierung und Individuierung rekonstruieren ließ, findet nun die internationale Orientierung auf der emotionalen und der intimen Ebene innerhalb eines romantischen Liebesdiskurses und heterosexuellen Heiratsvertrages statt. Während die ersten Auslandsaufenthalte in der Adoleszenz von dem Prozessiertwerden, dem Individuierungsprozess, Neugier, dem Erlernen von Neuem
17 III. Suprasegment »Wanderjahre« (HE8/271-18/607): Segment 4.1 »Das Sich-Verlieben« (HE14/461-14/473). 18 III. Suprasegment: »Wanderjahre«: 5. Segment »Die große Liebe und Pendeljahre« (HE14/473-16/543).
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und von der eigenen Identitätssuche geprägt waren, beinhaltet die Migration nach Deutschland eine andere Dimension. Für Saara ist die Migration ein schönes, erleichterndes und selbstbestimmtes Lebensereignis, das sie mit einem Ortsbzw. Arbeitsstellenwechsel und dem Anfang einer neuen Statuspassage, »Ehe und Familiengründung«, verbindet. Dies kommt zunächst in der Haupterzählung in der Beschreibung der problemlosen Migration nach Deutschland als ein ritenhafter Übergang von einem familiären Fest zum anderen bzw. als der Übergang von einer Familie in die andere, der bei der Hochzeit in Finnland begann und beim Weihnachtsfest bei der Schwiegermutter in Deutschland endete, vor : S: (…) Und dann irgendwann -- ich weiß nicht, ob wir schon damals, als ich im Sommer hier war, darüber sprachen, aber -- wir entschieden uns zu heiraten. Ich habe dann angefangen, die Papiere zu organisieren, und er auch – und dann haben wir die bekommen und – wir haben kurz vor Weihnachten geheiratet. Also wir wurden in Finnland getraut (…), und dann bin ich gleich mit ihm hierher nach Deutschland gekommen, und wir haben gemeinsam Weihnachten mit der Schwiegermutter gefeiert. (H18/59218/600)
Im Nachfrageteil (N11/360-12/400) setzt Saara die Konstruktion der problemlosen Migration in Verbindung zu ihrem ersten schmerzhaften Deutschlandaufenthalt. I: Hm. -- Du erzähltest, dass der erste -- Sommer in Deutschland eine tiefgreifende Erfahrung war. Wie war es dann, als Du hierher zu Deinem Mann gezogen bist. Wie war es dann? S: Ich fand es wunderschön. I: Ja. S: Ja. Ja ich hatte keine Probleme. Ich habe wirklich mit vollen Segeln Finnland verlassen. Und ich habe es mir im Nachhinein überlegt, dass ich in diesem Alter bestimmt nicht so gehen würde. I: Hm. S: Aber damals bin ich voller Hoffnung gegangen, und es war kein Problem, Finnland zu verlassen. Ich habe es als einen Sieg empfunden. Der erste Sommer als Fünfzehnjährige hatte keine Angst vor Deutschland hinterlassen. -- Es war mir//vielleicht habe ich es damals -- nicht so schrecklich erfahren, ich habe es aber mehr im Nachhinein analysiert wie I: Hm-hm. S: hilflos und alleine ich damals eigentlich war. Und deswegen wollte ich dies nicht mit meinen Kindern tun. Suvi, diese älteste Tochter, wollte in demselben Alter unbedingt
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für ein Jahr in G-Land (sie räuspert sich) oder für ein halbes Jahr diesen Schüleraustausch -- den Mädchen gerne machen und der auch in ihrer Schule Mode war, aber bei uns//wir waren es eigentlich beide, mein Mann und ich, wir wollten nicht und wir hätten es uns auch nicht leisten können. Aber wir wollten es beide auch nicht. I: Hm. S: Wir haben gesagt, dass wenn Du Englisch lernen willst, kannst Du im Sommer nach FLand gehen und dass wir solche Sachen finanzieren, aber Du brauchst nicht für ein Jahr nach G-Land und insbesondere nicht nach J-Land gehen. Also irgendwie dachte ich, dass es besser ist, dass man den Weltschmerz in der Pubertät innerhalb der Familie durchlebt. -- Ich weiß nicht, ob I: Hm. S: es die richtige Alternative ist, aber so habe ich es mir gedacht (lacht kurz). (NFT11/360-12/398)
Diese evaluative Aussage unterstreicht die Bedeutung von Saaras erstem Auslandsaufenthalt für ihr weiteres biographisches Handlungsschema und für ihren Lebensentwurf. Die Entscheidung, ihre eigenen pubertierenden Kinder nicht ins Ausland zu schicken, offenbart gleichzeitig die implizierte Kritik dem Verhalten ihrer Mutter gegenüber und verweist wiederum auf die distanzierte und problematische Beziehung zwischen Saara und ihrer Mutter. Erst Saaras Orientierung an der traditionellen Rolle Ehefrau und Mutter, also die Ehe mit einem deutschen Mann sowie die Familiengründung, bringen die von Saara ersehnte mütterliche Anerkennung und Akzeptanz in die Mutter-Tochter-Beziehung, deren Suche sich schon in Saaras Kindheitserzählung und in ihrer internationalen Orientierung rekonstruieren ließ. Im Nachfrageteil erfolgt eine evaluative Bemerkung zu Saaras problematischer Mutterbeziehung, die sich aus der bisherigen Erzählung nur erahnen ließ. S: (…) Ich war nicht wichtig für meine Mutter, lass uns so sagen (lacht) (…). Und die Beziehung zu Mutter war sicherlich irgendwie so//schwierig und es war nicht besonders warm und nah. -- Ich -- kann mich daran erinnern --/eigentlich habe ich/(lacht) ich merkte, dass die Mutter Paul, meinen Mann, sehr mochte. I: Hm. S: Und dann kam sie mir irgendwie näher und begann mich irgendwie in Anführungszeichen zu schätzen. Und diese vielen Kinder und so kam sie -- so wurde sie -- näher. – Aber ich habe als Kind die Mutter sehr fordernd und fremd ist vielleicht zu/aber sagen wir entfernt I: Hm.
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S: aber andererseits auch als -- vertrauenswürdig und beschützend empfunden. (NFT6/180-6/201)
Zusammenfassend kann hier festgehalten werden, dass Saaras Migration als eine Kontinuität ihrer biographischen Entwicklung, die mit der Auslandsorientierung und mit ihrem Individuierungsprozess gekoppelt war, erscheint, und dadurch die Konstruktion der Migration als einen problemfreien Übergang von einem Land in das andere ermöglicht. Diese biographische Kontinuität entwickelte sich in Bezug auf das von der Mutter intendierte Handlungsschema »Erziehung zur Internationalität«, das mit den Jahren zu einem transnationalen biographischen Lebensentwurf transformierte, sowie aufgrund der Auslandsaufenthalte und »Pendeljahre«. Für die Konstruktion einer problemfreien Migration ist auch kennzeichnend, dass Saara auf die transnationalen Strukturen der finnischen Ökonomie zurückgreift und zunächst nur für finnische Arbeitgeber in Deutschland tätig ist und erst im fortgeschrittenen Alter bei einer deutschen Institution ein Arbeitsverhältnis eingeht. Die Berufstätigkeit bei dem finnischen Arbeitgeber ermöglicht damit nicht nur ihre Berufstätigkeit, sondern auch eine ethno-nationale Kontinuität, eine Präsenz von Finnland und finnischer Sprache in Saaras Leben in Deutschland. Während sich die Migration als eine biographische Kontinuität sowie als ein problemfreier, ritenhafter Übergang von einem innerfamiliären Fest zu einem anderen bzw. Übergang aus einer Familie in die andere rekonstruieren lässt, ergibt sich aus der Beschreibung des mit der Migration einhergehenden Statuswechsels in der »Ehe« ein differenzierteres und kompliziertes Bild des Migrationsprozesses. Am Beispiel der Ehe als Alltagskontext des Lebens in der Migration erscheint Saaras Migration nicht nur als ein momentaner und problemloser Übergang aus einer europäischen Gesellschaft in eine andere, sondern als ein biographischer Prozess, dessen Folgen erst in der weiteren biographischen Entwicklung, die ich im Folgenden diskutieren werde, deutlich wurden. In der Erzählung über das Leben in der Migration wird in Saaras biographischer Rekonstruktion zunächst der Statuswechsel während der neuen Lebensphase der ehelichen Partnerschaft (H18/607-22/728) mit ihrem deutschen Mann in den Vordergrund gestellt. Es erfolgt eine das gesamte Interview durchziehende Beschreibung eines Aushandlungsprozesses der Geschlechterverhältnisse. Dabei findet der Aushandlungsprozess im Bereich des gesellschaftlich-kulturellen Musters des heterosexuellen Paares statt. Als dominante Erzählstruktur lässt sich Saaras Suche nach ihrer selbstständigen Handlungsautonomie als ausländische Ehefrau, die die vergeschlechtlichten Grenzen des Privaten und Öffentli-
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chen und die sich damit eröffnenden Handlungsräume in Frage stellt und transformiert, rekonstruieren. Am Beginn des Erzählsegments, am Beispiel der gemeinsamen Wohnungssuche, lässt sich die möglicherweise mit der Migration einhergehende Unsicherheit durch die Anpassung an die Rolle der unwissenden, ausländischen Ehefrau rekonstruieren: S: (…) dann haben wir angefangen, eine gemeinsame Wohnung zu suchen. Und da musste dann//mein Mann natürlich//ich hatte eigentlich kein Bild davon, nach welchen Kriterien man eine Wohnung sucht. Aber er hatte ein klares Bild, dass sie so in der BStadt liegen muss, dass du eine kurze Arbeitsfahrt ins Zentrum hast und ich eine gute Verbindung zu meinem Arbeitsplatz. (HE19/613-19/620)
Auf diese Schilderung einer kurz und implizit angekündigten Ohnmacht und Anpassung an eine Rolle der Nicht-Wissenden folgt jedoch eine kurze Hintergrundkonstruktion, wobei Saara ihr Bedürfnis, eigener biographischer Handlungsautonomie in der ehelichen Partnerschaft nachzugehen, durch die Verwirklichung ihre Zukunftsträume äußert. S: (…) wir hatten darüber gesprochen oder ich sprach es an, dass ich es möchte, dass wir -- auf jeden Fall Kinder haben. Es war schon damals als wir zusammengingen oder danach, als wir uns entschieden hatten zu heiraten. -- Es war eine Sache und eine andere Sache, an die ich mich erinnern kann war, dass ich ihm sagte, dass es mir wichtig ist, dass -- ich darf -- dass mir die religiöse Gemeinschaft wichtig ist. Somit will ich nicht, dass es zu einem Streit und einem Problem zwischen uns wird//und dass ich/den Kontakt/(lachend) halten will. Mir war dann nach der Heirat klar, dass ich nicht gleich Kinder haben will. -- Und ich hatte eigentlich auch/so eine Vorstellung/(lachend) und eigentlich schon seit meiner Jugend, dass ich vier Kinder haben möchte. -- Wir waren sechs Geschwister und das fand ich zu viel, aber vier Kinder wollte ich haben. (HE19/632-19/645)
Dieses Zitat steht in vollem Gegensatz zu der vorherigen Beschreibung der unwissenden und unsicheren ausländischen Ehefrau. Die Art und Weise, wie Saara die Voraussetzungen für die gemeinsame Zukunft darstellt, wirkt herausfordernd und dominant. Gleichzeitig verdeutlicht diese Aussage, wie Saara von Anfang der Ehe an ihre eigene Selbständigkeit durch die Verwirklichung der Familiengründung und die Ermöglichung ihrer religiösen Entfaltung leben will. Das Bedürfnis, die durch den Individuierungsprozess erreichte Selbständigkeit auch in
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der Ehe und in der Partnerschaft zu behalten, wird noch an weiteren Textstellen vertieft. S: (…) dann --- (7 sec) lebten wir und probierten das eigene/das gemeinsame Leben und ich kann mich daran erinnern, dass -- mir meine Arbeit sehr gut gefallen hat. Sie war wieder nicht allzu schwierig und ich habe mich ziemlich schnell eingearbeitet und ich konnte schon relativ gut Deutsch schon damals, also hatte ich keine solchen Probleme. -- Aber ich merkte dann//Es gab solche Situationen in denen ich merkte, dass mein Mann beleidigt war, dass ich zum Beispiel unerwartet länger bei der Arbeit blieb --- (6 sec) und ich dies nicht mit ihm ausgemacht hatte. Dann war er beleidigt darüber, dass ich nicht hier war und nicht das Abendbrot vorbereitet habe oder gemeinsam mit ihm gegessen habe. -- Und dies fand ich sehr seltsam. Ich war sehr irritiert darüber und auch traurig. Aber ich konnte diese Sachen nicht -- meiner Meinung nach nicht so richtig behandeln, was sicherlich gut gewesen wäre. -- Ich war emotional irgendwie -- auf seine Gnade angewiesen. Ich konnte nicht --- (5 sec) ich konnte nicht über solche Sachen reden, und ich habe es auch nicht – verstanden, dass -- damals noch gar nicht, dass -- mein Mann eigentlich nicht/über solche Sachen sprechen kann/(leise). Und (lacht) ich glaube, dass es zu dem Leben von Migranten/Migrantinnen und verschiedenen Sprachen gehört, aber auch zu meiner Natur, dass --- (6 sec) obwohl ich de facto wusste, dass ich ziemlich gut Deutsch kann, fühlte ich die ganze Zeit meine »Halbsprachigkeit«. -- Und deswegen habe ich mir immer gedacht, dass es die Aufgabe meines Mannes ist -- zu reden und auch über solche schwierigen Sachen. -- Und es war ja auch so ein (lacht) Missverständnis. -- Ich habe erst als Fünfzigjährige gelernt, dass er nicht reden kann. Er hat nie gelernt zu reden. Es wurde nie bei ihm zu Hause geredet I: Hm. S: Dort hat man nicht über emotionale Sachen geredet. Dort hat man über das Essen und Husten und Schnupfen geredet, und ob man Fieber hat oder nicht, und ob die Kinder genug warme Schuhe anhaben und ob er ein Halstuch hat, aber man wurde nie als ein/emotionaler Mensch/(leise) wahrgenommen. (HE19/646-21/681)
Diese Erzählpassage verdeutlicht, dass Saara sich als eine ausländische Ehefrau eines deutschen Mannes in ihrer eigenen Handlungsautonomie eingeschränkt fühlt. Zum einen entspricht Saara nicht dem »traditionellen« Bild einer Ehefrau, die die völlige Verfügbarkeit einsieht, sondern sie stellt ihre berufliche Verwirklichung in den Vordergrund. Somit lässt sich aus Saaras Biographie rekonstruieren, dass die hier geschilderten Probleme aus Saaras Bedürfnis resultieren, ihre eigene Autonomie zu behalten und sich nicht an das, was von ihrem Mann und möglicherweise von den gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen von einer »guten Ehefrau« bzw. von ihrer Position als einer heterosexuellen Ehefrau er-
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wartet wird, anzupassen. Zum anderen aber nimmt Saara in ihrer Beziehung zu ihrem Mann die Rolle einer dem deutschen Ehemann unterlegenen ausländischen Ehefrau ein, was am Beispiel der »Sprachlosigkeit« zum Ausdruck kommt. Dabei mischen sich Saaras Gefühle der sprachlichen Minderwertigkeit mit dem ehelichen Geschlechterverhältnis. Aus Saaras biographischer Erzählung lässt sich nun ein hierarchisches Machtverhältnis zwischen ihr und ihrem Ehemann rekonstruieren, wobei sich Saara selbst als Ausländerin und Ungleiche darstellt. S: (…) äußerlich bin ich sehr selbständig gewesen. Ich wollte berufstätig sein, auch nach der Geburt des ersten und des zweiten Kindes. Aber ich war irgendwie auch unglaublich/unsicher/(leise). Der Mann war die Autorität, nach Außen. Ich dachte, dass er alles kann und weiß (…), obwohl er es überhaupt nicht konnte. Ich weiß nicht, ob er nun kann, aber auf jeden Fall//erst nach Jahren hat sich diese Situation geändert. (HE22/718-22/728)
Diese evaluativ-argumentativen Einführungen weisen darauf hin, dass nicht die Migration an sich, in der Saara eine selbstbestimmte biographische Gestaltung verfolgte, sondern die neue Statuspassage »Ehe und Familiengründung in der Migration« für Saara einen biographischen Wendepunkt darstellen.19 Die Ehe und das hierarchische Geschlechterverhältnis zwischen Mann und Frau werden von Saara als Einschränkungen ihres autonomen Verhaltens angesehen. Trotz ihrer äußerlichen Selbständigkeit, die in Saaras selbstbewusster beruflicher Orientierung zum Ausdruck kommt, fühlt sich Saara in ihrer Handlungsautonomie und Selbständigkeit in Bezug auf ihren Mann eingeschränkt. Er repräsentiert für Saara eine Autorität und den ethnisierten eingeborenen Landes- und Sprachexperten, unter den Saara sich unterordnet. In dieser Unterordnung spiegelt sich ein patriarchales Geschlechterverhältnis wider. Zusätzlich verbindet Saara diese Unterordnung mit ihrem Status als Ausländerin und Ungleiche im Vergleich zu ihrem einheimischen Ehemann. Dieser Machtunterschied führt zu einer hierarchischen, vergeschlechtlichten Unterordnung auf der emotionalen Ebene. Die hier festgehaltene Beschreibung der konflikthaften Partnerbeziehung20 zwischen einem einheimischen Mann und einer ausländischen Frau nimmt in Saaras weiterer bi-
19 Vgl. Herzberg (1996) und Herzberg/Igersky (2000), die zu den gleichen Ergebnissen in ihren biographischen Analysen kommen. 20 Vgl. Dausien (1996), die in ihrer Arbeit zu Biographie und Geschlecht die Bedeutung der Schilderung der konflikthaften Paarbeziehungen für die biographische Entfaltung der Biographieträgerinnen festgestellt hat.
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ographischer Rekonstruktion einen zentralen Stellenwert ein. Dies unterstreicht Saaras Bedürfnis, eine eigene Handlungsautonomie auch in der Ehe und in der Familie beizubehalten und damit die Möglichkeit zu haben, weiterhin aktiv ihr Leben und ihre biographische Entwicklung zu steuern. Dabei lässt sich Saaras Verhalten als ein aktives Handeln gegen die an sie als Ehefrau herangetragenen Normalitätserwartungen konstruieren. Diese Normalitätserwartungen können als lebensweltlich verankerte Strukturmuster und damit verbundene Symbolisierungen, die einen starken regulativen Charakter haben, gezeichnet werden (vgl. Dausien 2001, 61-62). 7.1.3.4. Dreifache Vergesellschaftung durch Beruf, Familie und Nation Der Erzählung über das gemeinsame Leben zu zweit folgt das längste Erzählsegment des Interviews, das die Familiengründung thematisiert (V. Suprasegment: »Kinder – Küche – Karriere« (HE22/728-37/1244). Dieses emotional sehr aufgeladene Segment rückt das Familien- und Berufsprojekt in den Mittelpunkt von Saaras biographischer Erzählung und verdeutlicht Saaras Bedürfnis, ihre Handlungsfähigkeit durch die Vereinbarung von Familie und Beruf zu verwirklichen. Jedoch ist die Gestaltung dieses Projektes mit erheblichen Problemen verbunden. Saara führt einen permanenten Kampf gegen die strukturellen Bedingungen, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht voraussetzen. Mit erstaunlicher Tapferkeit, Eigeninitiative und Kreativität sorgt Saara für Betreuungsplätze ihrer Kinder in den Kinderkrippen und schafft so für sich selbst die Möglichkeit, die Berufstätigkeit mit der Familie zu vereinbaren. Ihr Bedürfnis, ihre Berufstätigkeit auszuüben, kommt schon während der ersten Schwangerschaft zum Ausdruck, als sie sich entscheidet, bis zur Geburt ihres Kindes berufstätig zu bleiben.21 Gleichermaßen nimmt sie sich vor, möglichst bald nach der Geburt des Kindes wieder berufstätig zu werden. S: (…) es war mir die ganze Zeit klar, dass ich nicht zu Hause bleiben kann. Dieses deutsche Modell, -- dass ich hier das Haus//dass ich Hausfrau bleibe und mich um das Kind kümmere, kam für mich in der damaligen Lebenssituation nicht in Frage. Es war auch mit dem Vorurteil verbunden, das man in Finnland über die Rolle einer Frau in Deutschland immer verbreitete, --/Kinder-Küche-Kirche/(leise). Und dann habe ich für Suvi einen Betreuungsplatz in einer Krippe organisiert, die es schon damals in diesem
21 V. Suprasegment: »Kinder – Küche – Karriere« (HE22/728-HE37/1244): 1. Geburt des ersten Kindes (HE22/728-23/775) und 2. Rückkehr zur Berufstätigkeit (HE23/775-24/793).
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Stadtteil gab. Und ich weiß es nicht mehr, aber irgendwann dann im Herbst habe ich wieder angefangen zu arbeiten --- (7 sec) Und mit meinem Arbeitgeber hatte ich es so arrangiert, dass ich ihm sagte, dass die Krippe so früh zumacht, dass ich meine Arbeitszeit um eine Stunde reduzieren muss. Und so hat es dann auch geklappt. Es war ein Deal zwischen uns zwei. Und ich hatte dann einen Arbeitstag von sieben Stunden, so dass ich, wenn ich mich richtig entsinne, dann von neun bis sechzehn Uhr gearbeitet habe. Aber auf jeden Fall hatte Suvi einen Ganztagsbetreuungsplatz in der Kinderkrippe. (HE23/775-24/793)
Das Segment verdeutlicht Saaras Bedürfnis, Familie und Berufstätigkeit miteinander zu vereinbaren. Da Saara aus dem nordeuropäischen Wohlfahrtsstaat Finnland kommt, wo die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schon damals nicht nur aufgrund von sozialpolitischen Maßnahmen möglich war, sondern auch als eine Art von Normalität im Leben von Frauen angesehen wurde, entsteht bei Saara zunächst ein Widerstand gegen das Lebensmodell als Hausfrau zwischen »Kinder-Küche-Kirche« (HE23/781). In dieser ablehnenden Aussage gegen das Rollenbild der Hausfrau mischen sich unterschiedliche Wissenssysteme und Diskurse, in denen außer Familie und Beruf der Nationalstaat als ein weiterer Vergesellschaftungsmodus und als ein weiteres Deutungssystem zum Ausdruck kommt. In Saaras ablehnender Haltung spiegeln sich ihre verschiedenen Positionierungen im Zusammenhang mit ihrer ethno-nationalen Herkunft als Tochter einer berufstätigen Mutter, als berufstätige finnische Frau, als berufstätige finnische Mutter und als Ausländerin finnischer Herkunft wider. Diese Positionierungen verdeutlichen einerseits Saaras Sozialisation und Vergesellschaftung in Finnland, wo die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schon damals staatlichinstitutionell gelöst war, und andererseits ihr Leben in der Bundesrepublik Deutschland, wo sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowohl kulturell als auch strukturell schwierig gestaltete.22 Somit erfährt Saara in der Migration eine neue Kodierung ihrer Position als Frau vor der Folie ihrer ethno-nationalen Zugehörigkeit. Aus dieser Position der Ausländerin und Migrantin konstruiert Saara für ihr Handeln eine biographische Referenzstruktur, aufgrund derer sie sich nicht vorstellen kann, sich für den einen oder den anderen Lebensbereich zu entscheiden. Vielmehr hält sie es für selbstverständlich, das Private der Familie und das Öffentliche der Erwerbstätigkeit miteinander zu vereinbaren. Ihr Lebensmodell der doppelten Orientierung stellt Saara der stereotypischen und hier abwertend wirkenden Darstellung der westdeutschen Frau als einer Frau gegen-
22 Dagegen stellt Irene Dölling (2000: 222) für die DDR fest, dass die Erwerbsarbeit als BürgerInnenrecht und -pflicht einen zentralen identitätsstiftenden Stellenwert hatte.
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über, deren Leben nur aus den Bereichen »Kinder-Küche-Kirche« besteht. Jedoch lehnt Saara in ihrer Kritik diese Bereiche nicht als weibliche Lebensbereiche ab, sondern geht vielmehr davon aus, dass diese drei Bereiche mit dem Bereich der Berufstätigkeit und Karriere zu vereinbaren sind. Während Saara es nach der ersten Schwangerschaft durch die Regelung der Arbeitszeiten schafft, ihre ganztägige Berufstätigkeit mit den Krippenzeiten und der Führung des Familienlebens zu vereinbaren, entscheidet sie sich bei einem während der zweiten Schwangerschaft stattfindenden Arbeitsstellenwechsel für eine Halbtagsstelle (HE24/793-26/853). In ihrer biographischen Rekonstruktion stellt sie den mit der Schwangerschaft einhergehenden Arbeitsstellenwechsel als einen Konflikt dar, welcher die geschlechtsspezifische Problematik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus unterschiedlichen Perspektiven und Machtverhältnissen beleuchtet. S: (…) Ich wollte die Arbeitsstelle und erst dann, (lacht etwas) als ich eine schriftliche Bestätigung bekommen hatte, dass sie mich einstellen, erst dann habe ich erzählt, dass ich schwanger bin. I: Hm. S: -- Mein Mann//Ich hätte es auch länger geheim halten können, aber mein Mann meinte, dass ich dies nicht tun kann, obwohl es nun gesetzlich möglich gewesen wäre. Also, ich musste nicht aber ich habe es ihm erzählt. Ich habe ihm aber gleich gesagt, dass ich nicht zu Hause bleibe, sondern nach dem Mutterschutz wieder zurückkomme und dass der Mutterschutz in Deutschland so kurz ist, dass er keine Bedeutung hat, sondern wie ein Sommerurlaub ist. Dies hat er dann, ich weiß nicht, vielleicht hat er dies dann etwas widerwillig akzeptiert. Ich weiß nicht, ob er dann juristisch irgendwelche Chancen gehabt hätte, wenn es streitig geworden wäre. Und so habe ich diese Halbtagsstelle bei einer finnischen Firma bekommen (…) --- (5 sec) Es war eine sehr schöne Zeit und ich kann mich daran erinnern, dass ich es irgendwie als Luxus wahrgenommen habe, weil ich -- so kurze Arbeitstage hatte. -- Ich habe schon fünf Tage in der Woche gearbeitet - aber vielleicht freitags etwas kürzer, so dass ich Suvi früher I: Hm. S: aus der Krippe holen konnte. (HE25/828-26/853)
Diese Passage verdeutlicht Saaras prekäre Lage als eine arbeitssuchende schwangere berufstätige Mutter. Obwohl die gesetzliche Regelung die Schwangerschaft als private Angelegenheit einer Person definiert, gerät Saara hier in eine merkwürdige Situation, in der sie aus institutionellen sowie persönlichen Rechtfertigungsgründen ihrem Arbeitgeber gegenüber ihre Schwangerschaft offenbaren muss. Auch die Interessen von Saara und ihrem Ehemann scheinen hier
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zu kollidieren. Während Saaras Verhalten in Bezug auf ihren Arbeitgeber auf die Sicherung ihrer beruflichen Laufbahn gerichtet ist, erscheint die Forderung ihres Ehemannes als autoritär und patriarchalisch. Dabei zeigt sich zugleich eine Loyalität dem Arbeitgeber gegenüber. Es ist jedoch erstaunlich, dass Saara hier in diesen Rechtfertigungskreis gerät, obwohl sie bei einem finnischen Arbeitgeber, der möglicherweise viel Erfahrung mit berufstätigen Müttern hat, tätig ist. Diese Tatsache unterstreicht die sozial prekäre Lage einer berufstätigen Mutter trotz der gesetzlichen Vorschriften. Diese Unsicherheit kommt auch in Saaras Betonung ihrer baldigen Rückkehr an den Arbeitsplatz nach der Geburt zum Ausdruck: Zum einen spiegelt sich in dieser Rechtfertigung die Ablehnung der Rolle der Hausfrau sowie Saaras Bedürfnis, die Berufstätigkeit mit der Familie zu vereinbaren wider: »Ich habe ihm aber gleich gesagt, dass ich nicht zu Hause bleibe, sondern nach dem Mutterschutz wieder zurückkomme und dass der Mutterschutz in Deutschland so kurz ist, dass er keine Bedeutung hat, sondern wie ein Sommerurlaub ist« (HE25/836-840). Zum anderen kommt hier die prekäre Lage der berufstätigen Mutter in Deutschland im Vergleich zu Finnland zum Ausdruck, wo sich damals der Mutterschutz über mehrere Monate erstreckte. Der Bezug auf unterschiedliche Rechtfertigungsstränge verweist auf unterschiedliche Wissenssysteme und Diskurse, die Saara mit der Thematisierung der Position einer berufstätigen Mutter verbindet. Dabei vermischen sich verschiedene soziokulturell vorhandene Rechtfertigungsmöglichkeiten aus unterschiedlichen Gesellschaftssystemen, die Saara hier anwendet, um ihr Verhalten für sich und für die anderen zu legitimieren und um dadurch handlungsfähig zu bleiben. Es ist zunächst festzuhalten, dass Saara ihr Leben in der Migration von Anfang an unter der Doppelperspektive der Berufstätigkeit und Familie darstellt. Das Ausüben der Berufstätigkeit und die Gründung einer Familie gehen sogar dem Abschluss des Studiums voraus. Saara war ja seit ihrer Migration in die Bundesrepublik berufstätig, hatte aber ihr Studium an einer finnischen Universität nicht vor ihrer Migration abgeschlossen. Der Druck, das Studium abzuschließen, wächst während der zweiten Schwangerschaft und das Studienprojekt rückt hier in den Mittelpunkt der biographischen Erzählung. Saara benutzt diesmal die Zeit des Mutterschutzes dafür, die für den Studienabschluss fehlende Abschlussarbeit zu schreiben. Sie erreicht ihr Ziel und schließt ihr Studium an einer finnischen Handelshochschule kurz vor der Geburt des zweiten Kindes ab (HE26/871-27/911). In ihrer biographischen Darstellung des Studienabschlusses wird die Entscheidung, das Studium abzuschließen, mit der Beschreibung eines Konfliktes zwischen Saara und ihrem Mann erzählt, der dies von ihr fordert.
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S: (…) und ich hatte sie mitgeschleift wie es nun so ist, dass es dann immer länger dauert. Mein Mann sagte mir dann etwas ernst und unzufrieden, dass/wenn du nicht die Arbeit fertig schreibst, bis das zweite Kind geboren wird, dann werde ich all diese Papiere in den Müll werfen (lacht und ich als Interviewerin lache mit), dass es nun so eine Sache ist, die man nun erledigen soll und sie darf nicht mehr verlängert werden. -- Na ja, es war mir dann natürlich ein ziemlicher Druck. Ich hatte dann den Mutterschutz, bevor das Kind geboren wurde und ich hatte auch die Möglichkeit dazu, so dass ich es dann wirklich auch gemacht habe. Ich weiß noch, dass ich Suvi in die Krippe brachte, obwohl ich im Mutterschutz war, so dass ich hier tagsüber Zeit hatte, die Arbeit zu schreiben. Und ich kann mich daran entsinnen, dass Suvi es gar nicht wollte. (HE26/878-27/890)
Diese nachdenkliche Passage verdeutlicht die angespannte und möglicherweise auch stressige familiäre Situation am Ende von Saaras zweiter Schwangerschaft, die sie jedoch erfolgreich mit der Abgabe ihrer Abschlussarbeit bewältigt. Nach der Geburt des zweiten Kindes nimmt Saara den Mutterschutzurlaub und danach Erziehungsurlaub in Anspruch, wird dann aber möglichst schnell wieder berufstätig. S: (…) aber dann wurde mir langsam bewusst, dass dies alles anstrengend (lacht) ist. Ich habe morgens zwei Kinder zur Betreuung gebracht und habe sie dann am Nachmittag abgeholt. Da ich nur die Halbtagsstelle hatte, habe ich [die Kinder] am Nachmittag abgeholt und -- und war dann auch für den ganzen Haushalt verantwortlich. (…) mein Mann hat fast gar nichts zu Hause gemacht und ich konnte es auch nicht fordern, so dass ich eigentlich für alles verantwortlich war. (HE28/950-29/957)
Diese evaluative Aussage verdeutlicht die sich langsam aufhäufenden Probleme in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Saaras biographischem Lebensentwurf. Saara leidet unter der Doppelbelastung und vergeschlechtlichten Arbeitsteilung zu Hause und auf der Arbeit und ist physisch und psychisch sehr belastet. Als Saara wenig später ihr drittes Kind erwartet und Probleme sowohl im Beruf als auch in ihrer Partnerschaft auftauchen, entsteht eine Situation, in der Saaras selbstbewusstes, aktives Handeln von einer umkippenden Verlaufskurve bedroht ist. Dass das angehäufte Gefährdungspotential in dieser Situation jedoch noch nicht in eine Verlaufskurve im Sinne einer Verabschiedung von biographischem Handlungsschema umschlägt, kann damit erklärt werden, dass Saara sich dabei rechtzeitig an einen Arzt wendet, der sie krankschreibt. Diese Tat fungiert als eine wirksame Korrekturmaßnahme der drohenden Verlaufskur-
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ve. Die Krankschreibung gibt Saara die Möglichkeit, über ihre Lebenssituation nachzudenken und sich Gedanken über die Zukunft zu machen. S: (…) und dann war mir selbst klar, dass ich nicht mehr zurück zu dieser Arbeit will. Dort hatte es sehr radikale Änderungen gegeben und es wurden dort Stellen reduziert. Und so konnte ich mich darauf beziehen, dass ich dort keine Arbeitsstelle mehr hatte, und sie mich somit entlassen mussten. Und so hatte ich die Möglichkeit, Arbeitslosengeld zu bekommen. I: Hm. S: Irgendwie habe ich es arrangiert. Ich nahm sogar einen Rechtsanwalt, der dann die ganze Sache erledigte. -- Im Nachhinein habe ich mir gedacht, dass es für mich auch eine sehr wichtige Erfahrung war und irgendwie ein Schritt in die Selbständigkeit, denn ich merkte, dass mein Mann für die Sache nichts tut und ich dies selber tun muss. Und so war es ein Schritt in die Selbständigkeit in dieser Gesellschaft. Ich merkte, dass ein Anwalt mich ganz sachlich wahrnimmt und mich verteidigt. Der finanzielle Gewinn war sehr gering. Ich bekam etwa ein paar Tausend und davon gingen zwei Drittel an den Anwalt und den Rest behielt ich für mich (lachend). Aber es war egal. Auf jeden Fall mussten sie mich entlassen, und ich bekam dann Arbeitslosengeld. Es war mir immer wichtig, dass ich nicht nur von dem Einkommen des Mannes lebe, sondern dass ich auch etwas Eigenes habe. (HE30/1000-31/1025)
Diese Aussage verdeutlicht noch einmal den Kampf, zu dem Saara bereit ist, um ihren biographischen Lebensentwurf, der die Gleichzeitigkeit der Berufstätigkeit und der Familie vorsieht, zu verwirklichen. Aus der narrativen Textstelle lässt sich jedoch nicht eindeutig schließen, ob Saaras Entscheidung, nicht mehr an ihre Arbeitsstelle zurückzukehren, nach oder vor der Erfahrung des Verlustes der Arbeitsstelle entstand. Auf jeden Fall wird hier die Entscheidung, nach der Geburt des dritten Kindes keine Berufstätigkeit aufzunehmen, mit den institutionell-strukturellen Bedingungen und den Veränderungen am Arbeitsplatz in Verbindung gebracht. Es ist erstaunlich, dass Saara sich wieder auf ein staatliches Gesetz beziehen muss, das für den Schutz der berufstätigen Frauen formuliert ist, um ihre Rechte durchzusetzen. Der Kündigungsschutz, der die berufliche Rückkehr nach dem Mutterschutz ermöglichen und die prekären Lebenslagen und Arbeitsverhältnisse von Frauen verbessern soll, ermöglicht Saara einen Ausweg aus einer rechtlosen Situation. Mit Hilfe dieser gesetzlichen Rückendeckung führt Saara einen erfolgreichen Gerichtsprozess gegen ihren Arbeitgeber. Das erfolgreiche Gerichtsverfahren ist biographisch »empowering« und vermittelt Saara den Eindruck, selbstbewusst und eigeninitiativ handeln zu können. Es verdeutlicht Saaras Emanzipations- und Individuierungsprozess, den sie nicht nur in Be-
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zug auf den Arbeitgeber, sondern auch in Bezug auf den Ehemann sowie auf die Gesamtgesellschaft während ihres Lebens in der Migration durchläuft. Nach dem Gerichtsprozess ist Saara arbeitslos. Während dieser Zeit wird sie das vierte Mal schwanger. Nach dem Mutterschutz entscheidet sie sich dafür, zu Hause zu bleiben: »Es war mir dann klar, dass ich zu Hause bleibe. Ich war gerne zu Hause und habe es genossen« (HE31/1031-31/1033). Die Art und Weise, wie Saara diese biographisch sehr bedeutende Entscheidung darstellt, überrascht zunächst, da diese Option bisher nur in einem negativen Licht in Erscheinung trat. Die weitere biographische Erzählung deutet aber darauf hin, dass Saara durch ihre berufliche Neuorientierung nach Auswegen aus der physisch und psychisch belastenden Situation, hervorgerufen durch die Schwierigkeiten, Familie und Beruf zu vereinbaren, gesucht hat. S: (…) Als ich das dritte Kind erwartete, hatte ich eine Sprachprüfung hier in Deutschland abgelegt, so dass ich hier offiziell als Übersetzerin arbeiten konnte. (…) Somit hatte ich auch etwas Eigenes, einen Beruf, ein Standbein und es ist mir ganze Zeit wichtig gewesen, dass ich ein eigenes Standbein habe (lacht) und auf dem ich auch finanziell stehe, obwohl ich damit nicht, auf keinen Fall, hätte finanziell klarkommen können. (HE31/1042-31/1050)
Es ist tatsächlich erstaunlich, dass Saara sich neben der Familie und dem Beruf noch für einen neuen Berufsbereich weiterqualifiziert hat. Hinter dieser Entscheidung steht jedoch ein neuer biographischer Plan, da die Dolmetscherprüfung nicht nur neue berufliche Möglichkeiten als Selbstständige eröffnet, sondern eventuell auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern kann. Dies ist eine Erweiterung ihres privaten, auf Fürsorgetätigkeiten beschränkten Raumes. Gleichzeitig stärkt es Saaras Position als »Vermittlerin« und Expertin zwischen den beiden Nationalstaaten, Sprachen und Kulturen. Es kann hier festgehalten werden, dass Saara durch diese biographische Neuorientierung die verlaufskurvenartige Entwicklung des Umkippens ihres intentionalen Handelns bzw. der eigenen Handlungsautonomie rechtzeitig umgesteuert hat. Die Entscheidung, sich beruflich weiter zu qualifizieren, ist in einer Situation entstanden, in der die strukturellen Bedingungen der damaligen biographischen Orientierung, die von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ausgingen, massiv bedroht waren. Durch das Aufgreifen eines bildungsorientierten Handlungsschemas, das für Saaras frühe biographische Orientierung kennzeichnend war, wird das »Erleiden« hier vermieden, und es findet eine berufliche Neuorientierung statt. Sie ist jedoch gesellschaftlich-sozio-strukturell provoziert und markiert hier eine besondere Lebenslage von berufstätigen Müttern. Durch
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Saaras Status als Ausländerin kommt eine weitere Dimension hinzu. Saaras bisher im negativen Licht geschilderte »Halbsprachigkeit« wird hier nun zu einer Ressource, die ihr eine berufliche Neuorientierung ermöglicht. Die berufliche Neuorientierung sowie das Zuhause bleiben markieren einen biographischen Wandlungsprozess in Saaras Lebenslauf. Dies ist durch die Veränderung ihrer Handlungsmöglichkeiten gekennzeichnet, fordert von ihr einerseits eine neue biographische Orientierung, und andererseits führt sie zur Entdeckung neuer Möglichkeiten bei ihrer Lebensgestaltung. Die berufliche Umorientierung ermöglicht Saara, weil sie zu Hause arbeiten kann, die Vereinbarung der Berufstätigkeit mit der Familie. Da das Zuhause jetzt zu Saaras beruflichem sowie privatem Lebenszentrum geworden ist, merkt sie mit der Zeit, dass das Alltagsleben durch die komplizierte Wohnungssituation erschwert ist. S: (…) Es sind solche Sachen, die ich lange Zeit als Selbstverständlichkeiten wahrgenommen habe, aber im Nachhinein ist es auch große Dummheit von mir gewesen, dass ich sie gemacht habe. Wenn ich emotional stärker gewesen wäre, wenn ich -- ich stelle mir vor// Ich hätte nie in Finnland mit einem finnischen Mann das alles in Kauf genommen, aber da ich hier in einem fremden Land war, dachte ich, dass mein Mann derjenige ist, der alles kann und ich habe deswegen nicht (…) protestiert. Dann allzu spät habe ich verstanden, dass er nichts tut und nichts verändert. Und wir sind hier. Und es hat mich sehr belastet, als die Kinder klein waren und es hat mich sicherlich Energie gekostet und machte mich zornig (kiukkuinen). Es war nicht leicht, mit vier Kindern das Leben zu organisieren und für alle da zu sein, wenn außerdem noch die Bedürfnisse der Kinder unterschiedlich waren. (HE32/1062-32/1078)
Am Beispiel der problematischen Wohnungssituation kommt wieder die schwierige und hierarchische Beziehung zwischen den Ehepartnern zum Ausdruck. Saaras biographische Erzählung verweist wieder auf ihre Position als ausländische Ehefrau, die dem Willen und dem »Expertenwissen« des einheimischen Ehemannes unterworfen ist. Diese Unterwerfung erscheint aus Saaras gesamtbiographischer Perspektive betrachtet als etwas erstaunlich, da Saaras biographische Haltung sonst durch ihr sehr emanzipiertes Verhalten gekennzeichnet ist. Die Besonderheit dieser Haltung der Unterwerfung wird noch anhand des Vergleiches von Saaras möglichem Verhalten in Bezug auf einen finnischen Ehemann unterstrichen: »wenn ich -- ich stelle mir vor, dass ich in Finnland mit einem finnischen Mann das alles nicht in Kauf genommen hätte, aber ich war hier in einem fremden Land und dachte, dass
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mein Mann derjenige ist, der alles kann und ich habe deswegen nicht rechtzeitig protestiert« (HE32/1067-32/1071).
Diese Aussage verdeutlicht, wie Saaras Position als Ausländerin und ausländische Ehefrau mit einer Veränderung ihres Verhaltens einhergeht. Der Status als Ausländerin und als ausländische Ehefrau ist eine Subjektposition, die in Saaras Fall zu einem dreifachen Vergesellschaftungsprozess geführt hat, der zunächst mit ihrer Einschüchterung verbunden ist und dadurch ihr biographisches Handeln gehemmt hat. Die Position als Ausländerin ist jedoch nicht nur eine einschränkende und Handlung hemmende Subjektposition, sondern lässt sich in Saaras biographischer Erzählung auch als eine kreative Position feststellen. Die Position der Ausländerin eröffnet Saara neue Spiel- und Handlungsräume, die es ihr ermöglichen, sich in privaten wie auch öffentlichen Verhältnissen als Handelnde neu zu behaupten. S: (…) Und ich muss zugeben, dass ich irgendwann auch sehr depressiv war. Ich habe mich einfach irgendwie von Tag zu Tag geschleppt. Aber zum Luftholen hatte ich die ganze Zeit diese finnische Community (…) und ich war dort aktiv. Ich hatte verschiedene Aufgaben, später auch deutschlandweit, so dass ich viel unterwegs war. (HE32/1087-331097)
Das ehrenamtliche Engagement in der finnischen Community bietet Saara eine institutionalisierte Rahmung der Öffentlichkeit, sich selbst als Finnin und als ein Mitglied einer ethnischen Minorität von FinnInnen in Deutschland zu behaupten und bei diesen Aktivitäten diese kollektiven Zugehörigkeiten wieder neu herzustellen oder umzuformen. Jedoch hat es auch viele andere Funktionen. Während die ethno-nationale Identifikation mit dem Finnischsein und mit Finnland für Saara bei den finnischen Firmen in Deutschland beruflich bedingt und sicherlich auch gewünscht war, zeigt sich nun, dass hinter dem ehrenamtlichen Engagement in der finnischen Community auch andere Motivationen festzustellen sind als nur die ethnische Identifikation. Vor allem zeigt Saaras ehrenamtliches Engagement ihr neue Handlungsspielräume. Jedoch wäre es eine falsche Schlussfolgerung, zu behaupten, dass die ehrenamtliche Arbeit als »Ersatz« für ihre beruflichen Ambitionen dient, obwohl es sicherlich eine Erweiterung ihres Lebensraumes darstellt, der damals hauptsächlich aus dem familiären Bereich des Privaten bestand. Dass Saara sich nun ausdrücklich in der finnischen evangelischen Gemeinde engagiert, ist ein Hinweis darauf, dass die Religion auch eine Rolle spielen könnte. Obwohl die finnischen Gemeinden in Deutschland religiöse Organisationen sind, finden auch viele nicht-religiöse Veranstaltungen und Aktivi-
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täten in diesem Rahmen statt. Für Saara scheint jedoch insbesondere die Religion ein wichtiger Grund zu sein, neue Handlungsspielräume im Rahmen der Gemeinde zu suchen. Denn die Religion sowie die christliche Gemeinde zeichnen für Saara eine religiöse Lebensumrahmung, die sie schon von Kindheit an kennt und die für sie, aus einer biographischen Perspektive betrachtet, eine Normalität des Lebens darstellt. Es wäre also eher erstaunlich, wenn die Bedeutung der Religion in der Migration völlig aus Saaras Leben verschwunden wäre. Während die Religion und Saaras Glauben bisher ihre private Angelegenheit waren, werden sie in dem Moment, in dem Saara sich in der Gemeinde zu engagieren beginnt, zu einer öffentlichen Praxis ihrer religiösen Zugehörigkeit, die gleichzeitig mit einer ethno-nationalen Dimension verknüpft ist, da sie ihr Engagement ausdrücklich im Rahmen der finnischen Kirchengemeinde23 praktiziert. Aufgrund der Tatsache, dass in Finnland die evangelisch-lutherische Religion als ein Teil der nationalen Identität angesehen wird (vgl. Timonen 2004, 56), scheinen die finnischen kirchlichen Gemeinden in Deutschland nicht nur Orte der religiösen Ausübung oder sozialer Aktivitäten zu sein, sondern haben auch einen starken ethno-nationalen Charakter. Die gleiche Verbindung zwischen dem Finnischsein und der Religion konnte auch schon am Beispiel von Saaras Familie festgestellt werden (siehe Kapitel 7.1.3.1 und 7.1.3.2). Zugleich stellt das Engagement Saara in eine Position der ethnisierten »Vermittlerin« in der multikulturellen Gesellschaft und eröffnet ihr dadurch einen neuen ethno-national strukturierten Handlungsspielraum. Dieser Handlungsraum hat mindestens zwei, wenn nicht sogar mehr Funktionen und soll aus der Perspektive der Herkunfts- und Einwanderungsgesellschaft betrachtet werden. Diese doppelte Perspektive verdeutlicht, dass eine ethnische Gemeinschaft, wie hier die finnische Gemeinde, nicht nur damit beschäftigt ist, eine finnische Identität herzustellen, sondern sie ermöglicht auch eine Migranten-Öffentlichkeit, d.h. eine Art von »Gegenöffentlichkeit« bzw. »subalterner Gegenöffentlichkeit« (Fraser 1996) in der Einwanderungsgesellschaft, die Räume und Identifikationen für Gegendiskurse zur »hegemonialen« Öffentlichkeit und für Subjektivitäten, wie die der Migranten-Identität gewährt. Der Bedarf, die ethno-nationale Zugehörigkeit als bewusstes Differenzierungsmerkmal sowohl in privaten als auch in öffentlichen Handlungsräumen herzustellen und sie strategisch einzusetzen, lässt sich in Saaras Biographie als eine biographisch begründete Strategie feststellen,
23 Die kirchliche Gemeindearbeit wird von der evangelisch-lutherischen Kirche in Finnland gefördert, jedoch betreiben die kirchlichen Gemeinden ihre Arbeit auch als Teil der Evangelischen Kirche Deutschlands.
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die es ihr ermöglicht, sogar während schwierigen Zeiten handlungsfähig zu bleiben. Während der Zeit zu Hause eröffnet nicht nur das Engagement in der finnischen Gemeinde Saara neue Handlungsspielräume, sondern auch das Reisen, das eine wichtige und Struktur erzeugende biographische Dimension in Saaras Leben hat. S: (…) Und was mein Leben weitgehend (lacht) gerettet hat, so dass ich keinen Nervenzusammenbruch bekommen habe und an keinen schlimmeren Depressionen erkrankt bin, war die Möglichkeit, nach Finnland zu fliegen. I: Hm. S: Ich wusste, dass ich immer gehen kann, wenn ich will, und dass es nicht so viel kostet. Und dies habe ich benutzt. Ich war sehr viel mit den Kindern unterwegs und flog mit ihnen nach Finnland. Es war der Vorteil, den ich als Hausfrau (kotiäiti)24 hundertprozentig genossen habe. Ich bin viel verreist und ich war viel weg von hier. Es war teils auch Flucht (lacht). I: Hm. S: Wir haben dann den gemeinsamen Sommerurlaub der Familie (…) sehr oft in S-Land, wo wir eine günstige und garantierte Möglichkeit hatten, Urlaub zu machen, verbracht. Und dann war ich auch in Finnland. Ich war im Winter und ich war zu Weihnachten in Finnland. Es war mir eine zweite sehr wichtige Möglichkeit zum Luft holen. (HE33/1097-33/1115)
Um den alltäglichen Strapazen zu entkommen, beginnt Saara mit den Kindern zwischen Finnland und Deutschland zu pendeln. Die Wichtigkeit dieses Pendelns betont Saara in der Bemerkung: »Und ich denke, das, was mein Leben weitgehend (lacht) gerettet hat und dass ich keinen Nervenzusammenbruch bekommen habe und an keinen schlimmeren Depressionen erkrankt bin, war die Möglichkeit, nach Finnland zu fliegen« (HE33/1097-33/1101). Obwohl Saara letztendlich selbst die Entscheidung traf, zu Hause bei den Kindern zu bleiben, lässt sich aus der biographischen Erzählung rekonstruieren, dass diese Entscheidung und die Zeit zu Hause nicht problemlos waren, sondern fast ein verlaufs-
24 Saara benutzt hier eigentlich nicht das Wort »Hausfrau«, das auf Finnisch »kotirouva« lautet und einen elitären und etwas negativen Klang hat. Stattdessen benutzt sie das Wort »kotiäiti«, das direkt übersetzt »Hausmutter« lautet. Möglicherweise will sie mit dieser Wortwahl ausdrücklich das Muttersein betonen. Andererseits hat sich das Wort »kotiäiti« im Finnischen etabliert und wird angewandt, wenn Frauen gemeint sind, die mit ihren kleinen Kindern zu Hause sind.
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kurvenartiges Potential beinhalteten. Somit haben das Engagement in der finnischen Gemeinde sowie das Pendeln zwischen Deutschland und Finnland die Funktion, ihren Handlungsraum zu erweitern, der während der Zeit, in der sie sich hauptsächlich auf das Familienleben konzentrierte, zusammenzuschrumpfen droht. Jedoch sind das keine neuen, sondern alte Struktur erzeugende Orientierungen, die nun in der neuen Lebenslage unter neuen Bedingungen modifiziert und angewandt werden. Somit spiegelt sich in Saaras Bedürfnis, den biographischen Handlungsraum durch das Pendeln zu erweitern, das biographische Handlungsschema der geographischen Mobilität wider. Dieser Aspekt prägte Saaras biographischen Entwurf vor der Zeit der Migration und hatte einen hohen identitätsstiftenden Stellenwert. Dies unterstreicht folgende Passage aus der Bilanzierungsphase des Nachfrageteils. S: (…) Und was mich (seufzt tief) sehr belastet hat und was ich mir gar nicht im Voraus vorstellen konnte -- ist diese -- die Starrheit des Lebens. (lacht) Obwohl ich meine Kindheit, die zwanzig Jahre, dort in der X-Stadt verbracht hatte, war ich schon -- das erste Mal als Fünfzehnjährige ziemlich radikal weggegangen und danach eigentlich jeden Sommer. -- Ich hatte so ein Bedürfnis wegzugehen und einen Willen neue Sachen kennen zu lernen und Orte zu sehen und so was. Und mein Mann, der in seiner Kindheit mit seiner Familie mehrmals umgezogen war und mehrmals die Schule wechseln musste, war der Meinung, dass er dies nicht mit seinen Kindern macht. I: Hm. S: Und -- dies ist so eine -- ich wäre sehr gerne mit der ganzen Familie zum Beispiel nach Singapur gezogen oder egal wohin, aber mein Mann konnte es sich gar nicht vorstellen. Nach seiner Meinung war es gut so und hier (lacht). (NFT13/422-14/441)
Dass die geographische, internationale Mobilität eine zentrale Erfahrungs- und Handlungsstruktur in Saaras Leben gewesen ist, lässt sich aus diesem Zitat rekonstruieren. Gleichzeitig unterstreicht es jedoch, wie Saaras Bedürfnis, geographisch mobil zu sein, zu einem Problem zwischen den Ehepartnern wird, bedingt durch ihre jeweilige Biographie. Desto wichtiger erscheint mir nun, die Möglichkeit, mit den Kindern zwischen Finnland und Deutschland zu pendeln, nicht nur als eine Rückzugsmöglichkeit aus dem Bereich des Privaten zu verstehen, sondern als eine selbstbestimmte Möglichkeit, die geographische Mobilität als einen Teil ihrer biographischen Identität weiter zu praktizieren und als aktives biographisches Handlungsschema aufrechtzuerhalten. Jedoch die Freiheit, die Saara das Pendeln zwischen Finnland und Deutschland ermöglichte, erschien in ihrem Kontext eines Hausfrauenalltags fast unvorstellbar.
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S: (…) Und dann wollte ich wieder gehen und erzählte einer Nachbarin, die eine ganz vernünftige und nette deutsche Frau ist, dass ich gehe. Sie fragte dann, wie kommt dein Mann dann klar. Und ich sagte, dass ich doch alle Kinder mitnehme. -- Ja, aber dein Mann, wie kommt er dann klar, wenn du zwei Wochen weg bist. Ich habe ihr dann gesagt, dass/er ist nicht behindert/(leise) (lacht) (…). Dies zeigt, dass in dieser Kultur eine Frau so denkt, dass sie nicht weggehen kann, wenn ein erwachsener Mann da ist und wenn sie nicht das Essen für zwei Wochen in die Tiefkühltruhe gelegt hat oder so. Also, es gab Situationen, in denen man das Gefühl hatte, dass man auf einem anderen Planeten ist. Aber der Mann//sicherlich jeder von uns, wenn man das ganze Leben lang ein Dienstmädchen gehabt hätte, wäre man vielleicht auch so und würde denken, dass man nichts machen kann. I: Hm. S: Und ich habe es irgendwann geschafft, dass ich die Hemden meines Mannes seit zehn Jahren nicht mehr bügle. (NFT22/716-22/733)
Saaras Verhalten, das von einer hohen geographischen Mobilität geprägt ist, lässt sich im Licht dieses Beispiels als eine Rebellion gegen die Zuschreibung der Rolle als Hausfrau, Mutter und Ehefrau konstruieren. Dieser Widerstand zeigt Ähnlichkeit mit ihrer vorher besprochenen Rebellion gegen die Zuschreibung der Rolle als Hausfrau am Beispiel der berufstätigen Mutter. Genauso wie die Berufstätigkeit und das Muttersein stellt die geographische Mobilität für Saara einen biographisch bedeutsamen Aspekt dar, den sie auch in ihrer Identität als Mutter beibehalten will. Von außen, aus dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext betrachtet, erscheint dies jedoch als Normverletzung der gesellschaftlichen Konvention des Mutterseins und Mutterbildes.25 Dass in der Ehe zwischen Saara und ihrem Mann gerade diese Normverletzung stattfindet und sogar zur Neuverhandlung der Geschlechter-Verhältnisse und der damit verbundenen Rollenvorstellungen führt, zeigt das hier kurz erwähnte Beispiel des Bügelns (siehe mehr dazu NFT22/732-23/754). Saaras Ablehnung, die Hemden ihres Mannes zu bügeln, weist darauf hin, dass eine Verhandlung über das Bügeln, als eine weiblich konnotierte Aufgabe, zwischen den Ehepartnern stattgefunden hat. Genauso aber schwingt dabei Saaras Status als Akademikerin, mit: »Für dich bin ich eine allzu
25 Im Nachfrageteil wird dies in mehreren Segmenten thematisieren: IX. Segment »Diskussionsveranstaltung über das Muttersein« (NFG14/461-16/515), X. Segment »Muttersein-Frausein-Personsein« (NFT16/515-19/637), XI. Segment »Diskussionsveranstaltung über das Muttersein« (NFT19/638-21/704), XII. Segment »Reproduktionsarbeit und Geschlechterverhältnis« (NFT21/705-23/772) und XIII. Segment »Bilanzierung des Lebens als Frau« (NFT23/773-25/826).
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teure Frau zum Bügeln« (NFT22/737-22/738). Dieser Kommentar weist darauf hin, dass das Beispiel des Bügelns nicht nur die vergeschlechtlichte Rollenaufteilung verdeutlicht, sondern zugleich eine Tätigkeit darstellt, die als minderwertige und schlecht bezahlte Aufgabe eines Dienstmädchens wahrgenommen wird. Die Widersprüchlichkeit, die aufgrund ihrer Position als akademisch gebildete Hausfrau in den 1970er und 1980er Jahren entstand, unterstreicht auch folgende Passage, in der sich Saaras besondere Situation rekonstruieren lässt. S: (…) Meine deutschen Nachbarinnen und Freundinnen bewunderten mich immer wegen vieler Sachen. Vor allem, weil ich einen akademischen Abschluss hatte und trotzdem noch alles konnte. Ich konnte Haushalt führen, ich konnte nähen, ich konnte backen und ich konnte kochen. Und sie haben sich immer gewundert, wie es möglich ist. Aber so war die Erziehung meiner Mutter. (NFT16/515-16/524)
In der Fähigkeit, weiblich konnotierte Reproduktionsarbeiten trotz ihrer akademischen Ausbildung ausführen zu können und zu wollen, spiegelt sich nicht nur die Erziehung von Saaras Mutter, sondern auch die finnische Gesellschaft wider. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beruhte nicht nur auf der staatlichen Unterstützung, sondern auch auf der Bereitschaft der Frauen, eine Doppelbelastung in Familie und Beruf in Kauf zu nehmen. Saaras Mutter stellte das Beispiel einer bürgerlichen Frau in den 1950er und 1960er Jahren dar, das die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie durch die räumliche Nähe von Arbeitsplatz und Wohnort einerseits sowie durch die Hilfe der Tante Alma andererseits ermöglichte. Tante Alma hatte also eine Art von Haus- und Kindermädchen-Funktion und konnte somit Saaras Mutter entlasten. Nach der Einführung des Kinderbetreuungsgesetzes 1973 wurde die Kinderbetreuung als staatliche Aufgabe angesehen. Saaras Vorstellung, zur Betreuung ihrer Kinder eine städtische Einrichtung zu suchen und nicht zum Beispiel ein Kindermädchen einzustellen, spiegelt die gleiche Selbstverständlichkeit wider, die sicherlich damals bei den finnischen Frauen in Finnland vorhanden war. Der Staat war durch das Kinderbetreuungsgesetz zu einem wichtigen Partner der Frauen auf ihrem Weg zur Gleichberechtigung geworden. Obwohl Saara mehrere Jahre mit den Kindern zu Hause verbrachte, ist festzustellen, dass sie nie nur Hausfrau war, sondern dabei auch noch eine freiberufliche Tätigkeit als Übersetzerin ausübte. Jedoch erscheint diese freiberufliche Tätigkeit nicht ihre beruflichen Ambitionen sowie ihr Bedürfnis nach sozialer Sicherheit völlig befriedigen zu können, da sie, nachdem alle Kinder zur Schule gehen, wieder halbtags berufstätig wird (HE35/1175-36/1194). Die Art und Weise, wie sie die Wiederaufnahme ihrer Halbtags-Berufstätigkeit ansieht, nämlich
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als »Rückkehr« (HE35/1186-35/1187), »Sieg« (HE35/1188) und »großer Sieg« (HE36/1194), der ihr Leben »wieder beflügelte« (HE35/1189), macht deutlich, dass sie die abhängige Berufstätigkeit nie endgültig aus ihrer biographischen Lebensplanung ausgeschlossen hat. Die »Rückkehr« zur abhängigen Berufstätigkeit nach der langen Familienpause stellt für Saara eine Möglichkeit dar, sich selbst im Berufsleben zu behaupten und zu positionieren. In der Bilanzierungsphase ihrer biographischen Rekonstruktion rekapituliert Saara ihre »Rückkehr« in die abhängige Berufstätigkeit als eine Möglichkeit, ein geregeltes Einkommen und die soziale Sicherheit genießen zu können und daneben noch gelegentlich als Selbstständige zu arbeiten. Die Halbtagsstelle bietet Saara nicht nur die Möglichkeit, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren, sondern ermöglicht ihr Freiräume, um ihren Alltag selbstständig gestalten zu können. Das erste Mal in Saaras Leben scheint »die Zeit für sich« (Eckart 2000) ein kostbares Gut zu sein, das der Anerkennung durch das Ausüben der Berufstätigkeit und dem höheren Einkommen vorgeht. Die Schaffung dieser Freiräume ist jedoch dadurch begünstigt, dass die finanzielle Lage der Familie Saara dies auch ermöglicht. S: (…) Es ist für mich (seufzt tief) irgendwie als Frau befreiend gewesen, trotz meiner starken beruflichen Orientierung, dass man es jetzt merkt, dass es wunderbar ist, wenn man auch eigene Zeit hat. I: Hm. S: Ich würde es nicht gegen ein besseres Gehalt tauschen. Obwohl ich damals, als sie mir die Ganztagsstelle anboten, dachte, dass, wenn es eine Stelle wäre, bei der ich ein meiner Ausbildung entsprechendes Gehalt bekommen würde, ich also drei- bis viermal mehr als das bekäme, was ich jetzt verdiene, I: Hm. S: also dann würde ich die Stelle vielleicht nehmen (lacht). Aber dass ich auf diesem Gehaltsniveau ganztags arbeite, daran habe ich kein Interesse. Es ist jetzt eine Lebensphase, in der man in vielen anderen Sachen in seinem Leben mehr Inhalt und Vielfalt findet als nur I: Hm. S: in der Berufstätigkeit. (HE37/1226-37/1244)
Saaras biographische Rekapitulation deutet darauf hin, wie die mit der Familiengründung zusammengehende Disqualifizierung zu Saaras beruflicher Marginalisierung geführt hat. Jedoch betrachtet Saara diese Marginalisierung in einem anderen Licht. Das fast als besessen zu bezeichnende Festhalten am Ausüben der Berufstätigkeit und der Kampf um die berufliche Anerkennung als berufstätige
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Mutter, die Saaras gesamte biographische Erzählung strukturieren und dominieren, werden in der Bilanzierungsphase aus einer anderen Perspektive beleuchtet. S: (…) Es kann im Leben auch solche Phasen geben, in denen man zum Beispiel von dem Einkommen des Mannes abhängig ist. Ich betrachte es nicht mehr als ein Problem, dass ich kein eigenes -- eigenes Gehalt habe oder kein eigenes Einkommen habe. I: Hm. S: -- Also in dieser Hinsicht haben sich die Gedanken -- geändert. --- (6 sec) Und wenn ich an viele finnische Frauen denke, auch an meine Schwester, sind sie anders ausgelaugt und müde als ich, wenn sie das ganze Leben lang eine anstrengende ganztägige Berufstätigkeit ausgeübt haben und noch ein oder zwei Kinder. Es ist eine völlig andere Lebenssituation gewesen als hier bei mir, trotz alledem. I: Hm. S: Ich denke, dass ich privilegiert bin. Sie werden als Rentnerinnen mehr Geld zur Verfügung haben als ich, aber man weiß ja nicht, ob man überhaupt so lange lebt. (NFT24/809-25/826)
Diese Zeilen, die vor dem Hintergrund der Gesamtbiographie auf den ersten Blick fast resignierend wirken, weisen auf die Transformation von Saaras biographischem Handlungsschema hin. Diese Transformation besteht nicht nur in Saaras verändertem Handeln, sondern verdeutlicht eine Deutungsveränderung, die das deutsche Hausfrauenmodell sowie das finnische System der berufstätigen Mütter in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt. Saara hat einen Mittelweg gefunden, in dem sie Elemente von beiden stereotypischen Frauenmodellen in ihrer Lebenseinstellung und ihrem Lebensentwurf vereinbaren will. Vor dem Hintergrund ihres Lebensmodells als berufstätige Mutter wirkt diese Bilanzierung fast wie eine Resignation. Jedoch weist sie zugleich auf den biographischen Wandlungsprozess hin, den Saara als berufstätige Mutter und Migrantin durchlaufen hat. In ihren eigenen theoretisierenden Überlegungen sieht Saara den biographischen Wandlungsprozess als ein Resultat der biographischen Wandlungsdynamik, der sowohl Frauen als auch Männer betrifft. Jedoch weist sie darauf hin, wie diese Wandlungsdynamik »von außen gesteuert« (NFT24/789) ist und insbesondere Frauen betrifft. S: (…) ich finde das Leben einer Frau sehr vielfältig, aber auch herausfordernd in dem Sinne, dass -- es fordert -- es fordert immer zum Verändern auf. I: Hm.
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S: Du musst irgendwie immer//es entstehen immer neue Herausforderungen. Die gibt es natürlich auch im Leben eines Mannes aber -- es ist nicht unbedingt so radikal und irgendwie von außen gesteuert wie im Leben einer Frau. (NFT24/782-24/789)
Saaras eigene Biographie bestätigt die von Saara hier entworfene Alltagstheorie. Insbesondere die Beschreibung des Kampfes über die Vereinbarung von Berufstätigkeit und Familie fungiert als ein Paradebeispiel dafür, wie Frauen in ihrem Leben mit diskriminierenden Dynamiken und vergeschlechtlichten Vorstellungen zu kämpfen haben. Saaras biographische Lebenskonstruktion weist darauf hin, wie ihr Leben einen andauernden Aushandlungsprozess zwischen der Beibehaltung ihrer eigenen Handlungsautonomie und dem Zwang der strukturellen Bedingungen darstellt. Zusammenfassend möchte ich nun feststellen, dass nicht nur der Erwerb interkulturellen Kapitals, sondern auch die Individuierung und das Bedürfnis, autonom zu handeln, wichtige Bestandteile ihres biographischen Handlungsschemas wiedergeben. In der Migration steht Saara erheblichen Problemen bei der Verwirklichung ihres biographischen Planes gegenüber, der mit großer Selbstverständlichkeit die Vereinbarung von Beruf und Familie voraussetzt. Demzufolge kann in Saaras Biographie eine ambivalente »Doppelstruktur« (vgl. Gültekin 2003) festgestellt werden. Diese entsteht einerseits aus ihrer Position als emanzipierte, ausgebildete und berufstätige Migrantin und andererseits aus ihrer Position als Migrantin, die ihrem deutschen Ehemann »unterlegen« ist, da Saara ihn als Sprach- und Landesexperten wahrnimmt. Diese ambivalente Doppelstruktur zeigt, dass die Migration in Saaras Fall eine Kontinuität ihrer biographischen, interkulturellen Orientierung ausdrückt, während die mit der Migration einhergehende neue Statuspassage der Ehe sowie der Familiengründung einen biographischen Transformationsprozess auslöst. Dieser biographische Transformationsprozess beginnt in einer Situation, in der sich die individuellen Bedürfnisse und strukturellen Bedingungen nicht mehr ohne massive – sowohl physische als auch psychische – Probleme vereinbaren lassen. 7.1.3.5. Eine Verortung in der Entortung: »es ist so, als wenn man überall AusländerIn wäre« (NFT5/153-154) Im Folgenden möchte ich noch einige Ergänzungen aus dem Nachfrageteil hervorheben. Im Nachfrageteil wurden Fragen zur Spezifizierung des schon Erzählten sowie Fragen zu den nicht berührten Themen, die jedoch im Forschungsinteresse lagen, gestellt. Der Vorteil des Nachfrageteils liegt in seinem im Vergleich zur Haupterzählung unterschiedlichen Charakters. Während in der Haupterzählung vor allem Erzählung evoziert wird, kann im Nachfrageteil außer der Narra-
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tion auch Argumentation produziert werden, was wiederum die Gegenüberstellung und den Vergleich der narrativen Passagen mit der Argumentation im interpretativen Verfahren ermöglicht (siehe dazu Dausien 2001). Somit war es möglich, die biographischen Erzählungen mit den argumentativen Meinungen zu vergleichen und in ihrer Ähnlichkeit bzw. Unterschiedlichkeit zu untersuchen. In der Darstellung der Haupterzählung wurden schon einige Aspekte aus dem Nachfrageteil, die die Interpretation unterstützen und sich an die jeweilige Textstelle in der Haupterzählung anschließen lassen, herangezogen. Folgende Aspekte können jedoch nur im Licht der Gesamtinterpretation der Biographie verstanden werden. Deswegen werden sie an dieser Stelle gesondert besprochen und im Zusammenhang mit der bisher diskutierten Biographie hervorgehoben. Ich werde mich im Folgenden insbesondere auf die Diskussion von Passagen konzentrieren, in denen explizit die Dimensionen von Ethnizität und Geschlecht berührt werden und die deshalb für die im nächsten Kapitel folgende zusammenfassende Gesamtevaluation von zentraler Bedeutung sind. Das Finnischsein
Saara kommt im Nachfrageteil, evoziert durch meine Frage, auf das Thema »Finnischsein« zu sprechen. Obwohl ich die Frage auf eine bestimmte Weise mit der Absicht gestellt habe, Argumentation und Evaluation zu initiieren, folgten szenische Erzählungen, die im Segment »Das Finnischsein in Deutschland« (NFT2/44-6/171) festgehalten wurden. Im Folgenden werde ich einige Textpassagen zur Diskussion heranziehen, die weitere, für die Forschungsfrage relevante Dimensionen von Ethnizität und Geschlecht thematisieren. I: Du hast viel mit FinnInnen zu tun. Was denkst du über die Bedeutung von FinnInnen/Finnischsein hier in Deutschland. S: Für mich persönlich ist es eine sehr starke Grundlage. Wenn ich mich selbst mit anderen AusländerInnen vergleiche, also mit Menschen, die man hier im Allgemeinen als AusländerInnen wahrnimmt also -- habe ich natürlich eine ganz andere Position, weil ich so ein/e – angesehene AusländerIn bin, die/der aus dem Norden kommt und ich habe immer ziemlich gute Sprachkenntnisse gehabt, so dass ich in dieser Hinsicht kein Problem gehabt habe//aber auch irgendwie eine starke Identität in dem Sinne, dass das Finnischsein nicht minderwertiger ist als das Deutschsein. (NFT2/44-2/55)
Diese Passage verdeutlicht, welche Bedeutung Saara dem Finnischsein in ihrem Leben einräumt. Die in der Haupterzählung rekonstruierte Bedeutung des Finnischseins als ein Bezugshorizont, der stark vergeschlechtlicht ist und identitätsstiftend wirkt, wird hier durch diese evaluative und argumentative Passage für
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weitere Interpretationen geöffnet. Saara weist hier auf ihre Position als Ausländerin hin, die sich jedoch von der Position anderer ausländischer Menschen unterscheidet, die man »hier im Allgemeinen als AusländerIn betrachtet« (NFT2/48-49). Hier konstruiert Saara einen Bezugshorizont, der den Diskurs über AusländerInnen im bundesrepublikanischen Kontext einschließt. Im Licht des Ausländerdiskurses scheinen FinnInnen zunächst keine AusländerInnen zu sein bzw. mindestens nicht solche AusländerInnen, die durch die Ausländerdiskurse in Deutschland als AusländerInnen konstruiert und wahrgenommen werden. Für diese Position einer »unsichtbaren AusländerIn« ist eine privilegierte Position als AusländerIn, der/die aus dem Norden kommt und ziemlich gut die deutsche Sprache beherrscht, typisch. Im Licht dieser Aussage erscheint die Position eines/einer »angesehenen AusländerIn« als eine Negation des/der nichtangesehenen AusländerIn, der/die eine Person ist, die nicht aus dem Norden kommt, sondern möglicherweise aus dem Süden und eventuell nur wenig Deutsch sprechen kann. Saaras privilegierte Position als eine »angesehene Ausländerin« wird konstruiert durch ihre Herkunft als Migrantin aus dem Norden, was hier möglicherweise mit etwas Begehrtem und Wohlstand gleichgesetzt wird, und zugleich ihre Position als eine gebildete Migrantin mit guten Sprachkenntnissen. Saara beendet den Vergleich mit den anderen AusländerInnen mit der Aussage »dass ich in dieser Hinsicht kein Problem gehabt habe« (NFT2/522/23). Dies unterstreicht ihre privilegierte Position als »angesehene Ausländerin«, aber weist zugleich darauf hin, dass sie während ihrer Migration eventuell mit anderen Problemen konfrontiert worden ist. Möglicherweise handelt es sich dabei um solche Probleme, die man in der Öffentlichkeit nicht als Probleme der MigrantInnen wahrnimmt. Saaras privilegierte Position als Ausländerin ermöglicht ihr, Ausländerinsein als Finnin in der Bundesrepublik als etwas Positives zu deuten. Dies kommt in ihrer Aussage »Finnischsein ist nicht minderwertiger als das Deutschsein« (NFT2/55) zum Ausdruck. Im Einwanderungskontext, der von der Aufenthaltsregulierung, von ethnisierenden und hierarchischen Definitionen zwischen AusländerInnen bzw. MigrantInnen und Einheimischen durchdrungen ist, wobei das Deutschsein die Dominanzgesellschaft (Rommelspacher 1995) repräsentiert, überrascht diese Aussage. Während Saara den Hierarchisierungsdiskurs zwischen den AusländerInnen vorher für die Konstruktion der eigenen privilegierten Position benutzt, wird hier nun mit Hilfe des universalen Gleichheitsdiskurses eine Gleichberechtigung, was das Finnische und das Deutsche betrifft, als ein Erklärungsmuster für die Konstruktion der eigenen ethnischen Identität angenommen. Dabei wird einerseits aus der subjektiven Perspektive die gleichberechtigte Position des ethnisch Anderen mit der Mehrheitsgesellschaft konstru-
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iert. Andererseits schwingt hier nun eventuell die partnerschaftliche Dimension mit und weist darauf hin, dass die Wahrnehmung des Finnischseins und des Deutschseins auch vergeschlechtlicht markiert ist und dabei ein Konkurrenzkampf besteht. Diese Konstruktion, die die Gleichwertigkeit des ethnisch Anderen und des hegemonialen Subjekts voraussetzt, schließt an ihre weitere Erzählung über die Emanzipation von Frauen als zentraler Bestandteil des Finnischseins an. S: (…) dann -- diese Frauenemanzipation. Ich habe es eigentlich erst hier verstanden, wie selbstverständlich emanzipiert ich bin. Es ist nicht theoretisch und auch nicht -- so was kleinkariert. Es ist keine kleinkarierte theoretische Emanzipation wie ich I: Hm. S: manchmal die deutsche Emanzipation finde, wo man mit Haarspalterei beginnt. Es ist irgendwie selbstverständlich, dass man gleichberechtigt ist. Und für mich war es irgendwie -- wie könnte ich es sagen (lacht) eine tiefgehende Lehre erst ziemlich spät, als das finnische Staatsangehörigkeitsgesetz geändert wurde, nach dem die Kinder einer finnischen Mutter, egal wo sie geboren sind, automatisch per Anmeldung die finnische Staatsangehörigkeit bekommen, ohne dass man einen Einbürgerungsantrag stellt. Und von unseren vier Kindern waren damals vielleicht zwei oder drei schon geboren und ich musste sie nachträglich als finnische Staatsangehörige anmelden. I: Hm. S: Und ich war mit der Tatsache konfrontiert, dass mein Mann dies nicht wollte. Mein Mann, den ich sehr vernünftig und aufgeklärt fand (lacht), wollte dies nicht und für das Formular brauchte man die Unterschrift des Mannes. (NFT3/56-3/78) S: Ich habe seine Argumentation gar nicht verstanden. Er meinte, dass es die Kinder so was wie schizophren machen würde, und dass sie keine Identität haben werden, wenn sie auch die finnische Staatsangehörigkeit haben. (NFT3/99-4/103)
Dieses Erzählsegment verdeutlicht die in der Haupterzählung festgestellte Verbindung zwischen dem emanzipierten Verhalten am Beispiel der als selbstverständlich angenommenen Vereinbarkeit von Familie und Beruf und der ethnonationalen Identität. Der ethno-nationale Charakter dieser Art von Frauenemanzipation wird durch den Vergleich mit dem Emanzipationsdiskurs in Deutschland unterstrichen. Die erlebte und selbstverständlich praktizierte Emanzipation, die Saara hier als Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern konstruiert, wird mit der Staatsangehörigkeitsdebatte zwischen Saara und ihrem Mann in Verbindung gebracht. Der Konflikt, den Saara hier ausführlich schildert, weist darauf hin, wie sich die Dimensionen des Geschlechts und des Ethnischen in der Frage der Staatsangehörigkeit kreuzen. In diesem Konflikt artikuliert Saara aus
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einer vergeschlechtlichten und ethnisierten Position einer emanzipierten finnischen Ausländerin und Migrantin, die die Gleichberechtigung nicht nur im Geschlechterverhältnis, sondern auch auf der ethno-nationalen Ebene im Sinne einer Gleichberechtigung des Einheimischen und Ausländischen bzw. Deutschen und Finnischen verlangt. Somit bedeutet der Konflikt um die Staatsangehörigkeit nicht einen Konflikt zwischen den Ehepartnern, sondern weist auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs über die doppelte Staatsangehörigkeit und ethnische Identität und Zugehörigkeit in den 1970er und 1980er Jahren in Deutschland hin, der noch von der Vorstellung geprägt war, MigrantInnen leiden unter einer gespaltenen Identität. Welche Folgen Saaras Bestehen auf der finnischen Staatsangehörigkeit sowie auf dem Erlernen der finnischen Sprache für ihre Kinder gehabt hat, lässt sich anhand einiger Beispiele ablesen, die das Verhalten von Saaras Kindern in Zusammenhang mit ihrer doppelten Staatsangehörigkeit aufzeigen: »Sie haben alle irgendein Gespür für die Sprache und natürlich auch eine eindeutige – Verbindung zu Finnland« (NFT5/161-5/163). S: (…) Unser ältester Sohn wollte den Zivildienst in Finnland machen und er hat ihn auch dort gemacht. Und dann ist er dort geblieben und besucht die Berufsschule dort. Und als er zum Zivildienst nach Finnland wollte, war es kein Problem für meinen Mann, aber dann diese Berufsbildung in Finnland -- es war für ihn dann zunächst schwierig. Da habe ich meinem Sohn gesagt, dass du selbst es verteidigen musst. I: Hm. S: Ich will vorm Papa dich nicht verteidigen und bin der Meinung, dass es deine Entscheidung ist. Du musst selbst wissen warum du es willst, und ob du es willst. Du brauchst es nicht meinetwegen zu wollen (lacht). (NFT4/117-4/130)
Möglicherweise gibt Saara dieses Beispiel, um zu verdeutlichen, wie die doppelte Staatsangehörigkeit sowie das Erlernen sowohl der deutschen als auch der finnischen Sprache den Kindern einen transnationalen und transkulturellen Handlungsraum eröffnet haben, wo die Identitätsbehauptung in beiden gesellschaftlichen Kontexten, Finnland und Deutschland, möglich ist. Diese Position ist vergleichbar mit Saaras eigener Position, die sie möglicherweise als einen bedeutenden Faktor sowohl auf ihrer Handlungsebene als auch auf der Ebene der ethno-nationalen Identifizierung ansieht. S: (…) auf jeden Fall ist das Finnischsein irgendwie stark//es ist nicht meiner Meinung nach -- es ist nicht Nationalismus oder so -- sondern es ist Patriotismus, dass man weiß, wo man hingehört und woher man -- stammt. Und nun, seitdem es in Deutschland seit Anfang des Jahres ein neues Staatsangehörigkeitsgesetzt gibt und ich könnte nun
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leicht//ich hätte auch schon früher einen deutschen Pass beantragen können und vielleicht hat mein Mann es als etwas Verletzendes empfunden, dass – (…) -- ich es nicht tun wollte. Aber ich habe immer gesagt, dass ich ihn nicht brauche. Es ist gut so. Und als dieses neue Staatsangehörigkeitsgesetz in Kraft trat, fragte eins von den Kindern einfach so beim Essen -- besorgst du dir nun einen deutschen Pass, I: Hm S: weil es dieses neue Gesetz gibt. Und ich dachte, dass es mir gar nicht eingefallen ist, dass es mich auf irgendeine Art und Weise/(lachend) betrifft, da ich ihn nicht brauche. -- (5 sec) So dass ich mich in dieser Hinsicht auf jeden Fall -- als eine Finnin fühle. Aber ich bin auch in einer Position, in der man in Finnland immer die Deutschen zu verteidigen beginnt und/in Deutschland ist man diejenige, die FinnInnen verteidigt/(langsam und lacht dazu). Es ist so, als wenn man überall AusländerIn wäre. I: Hm S: /Ich finde es gar keine -- schlimme Sache an sich/(langsam und leise). (NFT4/1325/156)
Diese Passage verdeutlicht Saaras Identifizierung mit ihrer Herkunft, die schon ihre Kindheitserzählung, in der sie die Bedeutung von Herkunft betonte, vermuten ließ. Ihre finnische Herkunft ermöglicht Saara einerseits eine positive Identifikation in der Öffentlichkeit, die ihr das Ausländerinsein in der Bundesrepublik Deutschland sogar in einem positiven Licht erscheinen lässt, was möglicherweise ein Hinweis darauf ist, dass Saara keine Diskriminierungserfahrungen gemacht hat. Aus dieser Position kann sie gegen den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit und für den Erhalt ihrer finnischen Staatsangehörigkeit argumentieren. Andererseits weist diese Passage darauf hin, wie ihre Position als ausländische Ehefrau ein Konfliktpotential in der Ehe darstellt. Es kann vermutet werden, dass das Insistieren auf der finnischen Staatsangehörigkeit nicht nur mit der Konstruktion von Herkunft und der Konstruktion eines Handlungsraumes, sondern auch mit dem partnerschaftlichen Machtverhältnis in Zusammenhang steht. Saara rechtfertigt ihr nonkonformes Verhalten im Eheverhältnis sowie ihre Rebellion gegen ein hierarchisches Geschlechterverhältnis mit ihrem »Anderssein« als finnische, emanzipierte Frau. Aus dieser Perspektive lässt sich die Position einer Ausländerin als eine positiv besetzte Figur herausarbeiten. Die Position einer Ausländerin ist aber gleichzeitig auch eine »migrantische Identität« (Lutz 1991), die auf unterschiedliche Dimensionen der Identität hinweist. In der Beschreibung ihrer Zugehörigkeit kommt Saara zum Schluss: »Es ist so, als wenn man überall AusländerIn wäre« (NFT5/153-154). In dieser Konstruktion wird die Dimension der Andersartigkeit als Ausländerin in Bezug zu der Mehrheit der Einheimischen gestellt und eine Position kreiert, die auf eine
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Marginalität hinweist. Jedoch stellt das »Anderssein« keine negative Bestimmung für Saara dar: »Ich finde es gar keine schlimme Sache an sich« (NFT5/156). Möglicherweise weist das erlebte »Anderssein« Parallelen zum »Anderssein« auf, das sich aus Saaras frühkindlichen Erfahrungen rekonstruieren lässt. Es könnte vermutet werden, dass das erlebte »Anderssein« nicht mit abwartenden und diskriminierenden Aspekten verbunden ist, sondern eine positive Erfahrungsstruktur in Saaras Leben wiedergibt. Das »Anderssein« ermöglicht Saara unterschiedliche und flexible Verortungs- und Handlungsstrategien in unterschiedlichen Kontexten und Situationen, wie das Beispiel der Verteidigung von FinnInnen in Deutschland bzw. Deutschen in Finnland zeigt. Gleichzeitig verdeutlicht es aber Saaras Vermittlerposition, denn Saara ist als Migrantin den nationalstaatlichen Loyalitätsfragen begegnet. Ihre Biographie zeigt, wie sie diese strategisch aushandelt, um handlungsfähig zu bleiben. 7.1.3.6. Zusammenfassende Betrachtungen Das Typische des Einzelfalls
Ich möchte nun zunächst zusammenfassend das Typische des Einzelfalls betrachten, das aus Saaras Biographie hervorgeht. Es kann festgehalten werden, dass Saara ihre biographische Selbstdarstellung in Form einer biographischen Entwicklungs- und Transformationsgeschichte erzählt. Somit kann die biographische Gesamtgestalt (Schütze 1984) als ein Individuierungs- und Vergesellschaftungsprozess gedeutet werden. Zum einen ist die Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte eng mit ihrem Sozialisations- und Individuierungsprozess verbunden, der sich anhand ihrer Familien- und Bildungsgeschichte in Finnland rekonstruieren lässt. Zum anderen wird die Biographie, und insbesondere das Leben in der Migration, in Bezug auf den dreifachen Vergesellschaftungsprozesses am Beispiel ihres »Kampfes« um Vereinbarung von Familie und Berufstätigkeit erzählt. Der Individuierungsprozess als Sozialisationsprozess in Finnland ist einerseits mit der Gleichzeitigkeit von geographischer Mobilität und Bildungsaspirationen sowie andererseits mit dem familiären Ablösungsprozess verbunden. Auffällig in Saaras biographischer Rekapitulation sind die frühbiographischen Erfahrungsstrukturen des »Andersseins« und einer »distanzierten Mutterbeziehung«, die sich aus der Erzählung über ihre familiäre Herkunft rekonstruieren ließen. Während sich aufgrund des »Andersseins« in der Kindheit sowohl innerhalb der Familie als auch durch die gesellschaftliche Stellung der Familie ihre Binnenmigration und die internationale Orientierung rekonstruieren ließen, wurde die distanzierte Mutterbeziehung durch den Geschwisterkonflikt und im Zusammenhang mit der internationalen Orientierung dargestellt. Aus Saaras bio-
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graphischer Erzählung lässt sich die Mutter nicht nur als distanziert, sondern auch als eine außerordentlich wichtige Bezugsperson, das »Signifikante Andere«, rekonstruieren. Entsprechend erzählt Saara ihre Lebensgeschichte stellenweise, und insbesondere in Bezug auf ihre Kindheit sowie auf die Auslandsaufenthalte, in der Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte ihrer Mutter. Somit kann der erste Deutschlandaufenthalt nicht nur als erste Auslandserfahrung, sondern als ein familiärer Ablösungsprozess während der Adoleszenz gedeutet werden. Dieses Erlebnis repräsentiert ein Schlüsselerlebnis in Saaras biographischer Entwicklung, da dies als ein Anstoß für die biographische Entwicklung eines von der Mutter angebotenen und dadurch auch mütterliche Anerkennung ermöglichenden international orientierten Handlungsschemas fungiert. Andererseits ist Saaras Ablösungsprozess durch die Distanzierung von »dem Bekannten«, also von den Berufen der Eltern sowie vom familieninternen Heiratsverhalten sowie durch die Öffnung für eine neue selbstgestaltete Richtung, die zum Beispiel in der selbstbestimmten Wahl der Studienrichtung und später in der Wahl des Ehepartners zum Ausdruck kommt, bestimmt. Die Erzählung über das Leben in der Migration, die die zweite zentrale thematische Erzähllinie in Saaras Biographie ausmacht, wird anhand des dreifachen Vergesellschaftungsprozesses (Familie, Beruf, Nation) am Beispiel ihres »Kampfes« um Vereinbarung von Familie und Berufstätigkeit während der Migration wiedergegeben. In der Schilderung dieses Kampfes wird Saaras Versuch, Familie und Beruf in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland zu vereinbaren, der in ihrer Lebenseinstellung begründet ist, als ein schwieriger, gesellschaftlich bedingter, geschlechtsspezifischer Konflikt dargestellt. Die Erzählung konzentriert sich einerseits auf die Schilderungen dieses Konfliktes aus verschiedenen Perspektiven und andererseits auf die Beschreibung der Lösungsstrategien, die Saara entwickelt, um ihrem Lebensentwurf trotz der schwierigen strukturellen Lage nachzugehen. Dabei lässt sich ein drohendes Verlaufskurvenpotential feststellen, das jedoch nicht zum Umkippen des biographischen Handlungsschemas und zur Aufgabe des Lebensentwurfes bezüglich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf führt, sondern vielmehr einen biographischen Transformationsprozess anstößt, im Sinne von Entwicklung neuer Handlungsmöglichkeiten, was dazu führt, dass Saara andere Möglichkeiten findet, die Familie mit ihrer Berufstätigkeit zu vereinbaren. Es eröffnen sich neue Handlungsfelder: einerseits durch die Weiterbildung und die berufliche Selbständigkeit, die sich mit dem Familienprojekt besser vereinbaren lässt, und andererseits durch die ehrenamtliche Tätigkeit in der finnischen Community sowie durch das Pendeln zwischen Finnland und Deutschland.
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Typik des Migrationsprozesses: Die Herstellung der biographischen Kontinuität
In Saaras Fall stellt die Migration aus Finnland in die Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren keinen biographischen Bruch dar, sondern lässt sich als Kontinuität ihrer internationalen Orientierung, die schon in ihrer Kindheit begann, deuten. Denn Saaras bildungsbürgerliche Eltern, und insbesondere die Mutter, sahen die Wichtigkeit des Erwerbs eines bildungsbürgerlichen Kapitals in Form einer »Erziehung zur Internationalität«, die nicht nur in den Auslandsreisen, sondern auch in dem Erlernen von fremden Sprachen und in den längeren Auslandsaufenthalten zum Ausdruck kam. Es ist somit kein Zufall, dass Saara für längere Zeit nach Deutschland ging. Es waren die guten Kontakte ihrer Mutter nach Deutschland sowie ihre bereits vorhandenen Deutschkenntnisse (Deutsch als erste Fremdsprache), die ihr diesen ersten Auslandsaufenthalt ermöglichten. Die erfolgreiche Bewältigung dieses mit ambivalenten Gefühlen verbrachten Aufenthalts in der Adoleszenz führte zur Entwicklung eines biographischen Handlungsschemas, das von einer internationalen Orientierung in Form von Reisen, Jobs im Ausland, Fremdsprachenstudien, Auslandspraktika usw. geprägt ist. Während die internationale Orientierung zunächst als Aneignungsprozess kulturellen und sozialen Kapitals erscheint, entsteht daraus während des Studiums die Idee eines möglichen zukünftigen Lebens im Ausland, und Saara beginnt, sich – diesem Gedanken entsprechend – in ihrem Studium umzuorientieren. Dass der Erwerb von Bildungskapital mit geographischer Mobilität und Migration verbunden ist, lässt sich insbesondere aus Saaras biographischer Erzählung rekonstruieren. Die Normalität der bildungsbedingten geographischen Mobilität und Binnenmigration verdeutlicht Saaras Aussage, dass es den Kindern schon früh klar war, dass sie ihren Heimatort verlassen werden, um etwas studieren zu können. Dies verdeutlicht, dass es in der Familie von Saara für selbstverständlich gehalten wurde, dass der Erwerb von Bildungskapital mit geographischer Mobilität und Binnenmigration einhergeht. Saaras Migration in die Bundesrepublik Deutschland, die nach der Heirat mit einem Deutschen folgte, lässt sich aus biographischer Perspektive als ein Statuswechsel oder eine neue Statuspassage rekonstruieren. Der Statuswechsel, der mit der Migration einhergeht, wird in Form eines rituellen und problemlosen Übergangs von einer Gesellschaft und von einer Familie in eine andere geschildert. Für den problemlosen Übergang ist nicht nur bezeichnend, dass Saara ihr zukünftiger Lebenskontext durch vorherige Auslandsaufenthalte und durch das Pendeln zwischen Finnland und Deutschland schon bekannt war, sondern auch, dass Saara sich eine Arbeitsstelle bei einem finnischen Arbeitgeber in Deutschland sucht. Tatsächlich ist Saara erst dann bereit zu migrieren, als sie sich eine eigenständige berufliche Existenz in der Bundesrepublik Deutschland vorstellen
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kann. Die Bedeutung eines vom Ehemann unabhängigen Einkommens sowie der beruflichen Selbstverwirklichung wird noch dadurch unterstrichen, dass Saara die Berufstätigkeit dem Studienabschluss vorzieht. Anhand Saaras biographischer Darstellung ist das nicht abgeschlossene Studium nun aber keineswegs als Motivationsdefizit zu interpretieren, sondern als Möglichkeit, die Bindung nach Finnland aufrechtzuerhalten und dadurch auch einen subjektiv bedeutsamen transnationalen sozialen Raum für ihre Identitätsherstellung zu konstruieren. Später, während der Zeit zu Hause mit den Kindern, greift Saara ein Handlungsmuster auf, dem sie bereits vor der Ehe und der Migration folgte: das Pendeln zwischen Finnland und Deutschland. Dieses Pendeln ist nicht nur durch die geographische »Nähe« im europäischen Raum, sondern auch durch familiale finanzielle Ressourcen möglich. Die Chance, mit ihren Kindern für längere Zeit in Finnland zu bleiben, verstärkt für Saara die gleichzeitige Präsenz beider Gesellschaften in ihrem Leben. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich aus Saaras biographischer Erzählung unterschiedliche Mobilitäts- und Migrationsprozesse rekonstruieren lassen; der elterlichen Binnenmigration folgte zunächst Saaras eigene bildungsbedingte Binnenmigration, die dann später zu ihrer Migration in die Bundesrepublik Deutschland führte. Das von der geographischen Mobilität stark geprägte Leben scheint während der Migration zunächst zur Ruhe zu kommen, bis Saara während ihrer Hausfrauenzeit wieder ein biographisches Handlungsschema, das von der geographischen Mobilität geprägt ist, aufgreift und mit den Kindern zwischen Deutschland und Finnland zu pendeln beginnt. Das Pendeln eröffnet Saara einen weiteren Handlungsraum, dem vor allem Bedeutung im Hinblick auf ihre psychische Ausgeglichenheit zukommt, wie sie unterstreicht. Andererseits kann das Pendeln auf der Handlungsebene als Ausdruck der allmählichen Verfestigung der vorhandenen transnationalen Erfahrungsstrukturen gedeutet werden. Biographische Verortung
Wie aber lässt sich aus Saaras biographischer Darstellung ihre Identität herauslesen? Was erfahren wir über ihre biographische Positionierung bzw. Verortung? Saaras biographische Identitätskonstruktion, die ich aus der Perspektive der biographischen Positionierung bzw. Verortung betrachte, sowie die jeweiligen Subjektpositionen, die sich anhand der biographischen Lebensgeschichte erkennen lassen, offenbaren nicht nur ihre soziale Stellung in Form einer Subjektposition, sondern auch die Gesellschaftsordnung, die vergeschlechtlicht, ethniziert, rassifiziert und klassenspezifisch differenziert ist, und sollen deswegen in ihren kontextualisierten Gegebenheiten gelesen werden. Um aufzuzeigen, auf welche Art
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und Weise diese in Saaras biographischer Selbstdarstellung lesbar werden, möchte ich im Folgenden die biographischen Konstruktionen dieser sozialen Differenzierung in Saaras Lebensgeschichte in Betracht ziehen. Saaras biographische Darstellung, die wie eine biographische Entwicklungsgeschichte und Individuierungsgeschichte erzählt worden ist, kann auch als eine Art von Emanzipationsgeschichte einer heterosexuellen finnischen Frau gelesen werden. Saaras biographische Subjektposition als Frau ist stark mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, den Strukturen, herrschenden Diskursen und Machtverhältnissen verbunden und ist als verortete, biographisch konditionierte Positionierung zu deuten. Saaras biographische Darstellung eröffnet zwei unterschiedliche Zeitund Raumperspektiven auf das Frausein; vor der Migration und während der Migration. Während die Erzählung vor der Migration von der Schilderung eines Individuierungsprozesses aufgrund der Distanzierung von der elterlichen Vormundschaft und aufgrund der internationalen Orientierung charakterisiert ist, ist die Erzählung über das Leben in der Migration von der Schilderung der Versuche, eigene Handlungsfähigkeit sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene als auch in der partnerschaftlichen Beziehung aufrechtzuerhalten, charakterisiert. Typisch für diese Erzählungen sind die Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gesellschaftsordnung, Geschlechterordnung und den Machtverhältnissen und die dadurch stattfindende eigene Positionierung als eine Frau, die um ihre »Autonomie« und Handlungsfähigkeit kämpfen muss. Obwohl Saaras Migration, aus der biographischen Perspektive betrachtet, eine biographische Kontinuität in ihrem bisherigen Leben darstellt, bedeutet der Übergang von einer ledigen Person zu einer ausländischen Ehefrau einen Statuswechsel, der sich an mehreren Stellen als drohendes Konfliktpotential der Beziehung rekonstruieren lässt. Die szenischen Darstellungen der partnerschaftlichen Konflikte lassen Saaras Probleme, ihre biographische Handlungsautonomie in ihrer Partnerbeziehung beizubehalten, deutlich werden. Dies führt zu einer widersprüchlichen Position, in der Saara sich am Beginn der Ehe einerseits als selbstständige und sozial und ökonomisch unabhängige Ehefrau und andererseits als eine dem Ehemann unterlegene ausländische Frau bzw. Migrantin empfindet. Außerdem lässt sich die Position als ausländische Frau am Beispiel ihrer eigenen Positionierung als eine finnische Frau, die die Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit als eine ethno-nationale Selbstverständlichkeit ansieht, rekonstruieren. In dieser Positionierung kreuzen sich die Dimensionen von Beruf, Nation/Ethnizität, Geschlecht im Sinne einer dreifachen Vergesellschaftung, aber auch die Generationsdimension dadurch, dass Saaras Mutter für Saara ein Vorbild für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bietet. Saara benutzt jedoch nicht nur Finnland, die finnische Gesellschaft und ihre ethno-nationale Herkunft
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als Legitimation für ihr Verhalten, sondern positioniert sich gleichzeitig auch im Diskurs über die Stellung der Frau in der Bundesrepublik Deutschland, die sich durch den ablehnenden Bezug auf die stereotype Rolle der Frau zwischen »Kinder-Küche-Kirche« rekonstruieren lässt. Diese »Doppelperspektive« (Gültekin 2003) auf die Dimension der Nation (Finnland, Deutschland) am Beispiel der stereotypischen Stellung der Frau verdeutlicht, wie ihre Subjektposition und ihr biographisches Verhalten in der Interaktion mit ihrer eigenen Biographie sowie in der Interaktion mit den jeweiligen Diskursen konstituiert wird. Dabei wirkt Saaras biographische Positionierung rebellisch, da sie nicht die der Frau zugeschriebene Position einer Hausfrau einnehmen will, sondern diese Position als eine Position sieht, die ihr die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen soll. Die Tatsache, dass die faktische Verwirklichung dieses Lebensentwurfes mit erheblichen Problemen verbunden ist, weist nicht nur darauf hin, dass die gesellschaftliche Akzeptanz dieses Verhaltens möglicherweise fehlte, sondern auch darauf, dass die vorhandenen strukturellen Bedingungen die tatsächliche Verwirklichung erschwerten. Diese Problematik markiert einen biographischen Wendepunkt in Saaras Leben, der zu einem biographischen Transformationsprozess in Bezug auf ihre Lebensgestaltung führt. Während sich das Finnischsein als fraglos gegebene Zugehörigkeit in Saaras Leben vor der Migration anhand der internationalen Orientierung sowie der Distanzierung vom Finnischen rekonstruieren lässt, wobei das Finnische für Saara vor allem durch ihre Eltern repräsentiert wird, findet in der Migration eine positive Herstellung und Artikulation des Finnischen statt, die Saaras Annäherung und Identifikation mit dem Finnischen ermöglicht. Die ethno-nationale Konstruktion des Finnischseins lässt sich auf der Handlungsebene als ein positives Legitimationsmuster für ihr von der vergeschlechtlichten Norm abweichendes Verhalten rekonstruieren. Die Konstruktion des Finnischseins und die Positionierung als eine Finnin ermöglicht Saara das von der Norm abweichende Verhalten sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene als eine berufstätige Mutter als auch in ihrer binationalen Partnerbeziehung. Somit vermischt sich in der Konstruktion des Finnischseins die Dimension des Ethno-Nationalen mit der des Geschlechts. Die Ethnisierung und Vergeschlechtlichung findet hier im Sinne eines »strategischen Essentialismus« (Spivak 1993) als Selbst-Zuschreibung statt, die als eine Reaktion auf ungleiche Macht- und Hierarchieverhältnisse in der jeweiligen biographischen Phase gedeutet werden kann. Somit kann auch die Hinwendung zu den finnischen kirchlichen Gemeinden einerseits als eine Möglichkeit gesehen werden, den eigenen, auf den privaten Bereich beschränkten Handlungsraum zu erweitern, und andererseits als eine Möglichkeit, die religiöse Hinwendung im Rahmen einer ethno-nationalen Kollektivität öffentlich zu demonstrieren.
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Gleichzeitig aber stellt das Ausüben der Religion für Saara eine aus ihrer Kindheit bekannte religiöse Rahmung dar und ermöglicht damit auch die Herstellung der religiösen Kontinuität in ihrem Leben. Zugleich aber mischt sich beim Ausüben der Religion die ethno-nationale Dimension ein, die durch die institutionell nahe Beziehung von Staat und evangelisch-lutherischer Kirche in Finnland geprägt ist. In Saaras biographischer Darstellung geben Finnland und Deutschland als ethno-nationale Kontexte Wissens- und Referenzsysteme wieder, die nur eindeutige ethno-nationale Positionierungen zuzulassen scheinen. Somit wird Saaras Position in beiden Gesellschaften durch die Bestimmungsmacht der nationalstaatlichen Kategorisierung auf die Position einer »Außenseiterin« festgelegt, die durch Ambivalenz gekennzeichnet ist, denn in Deutschland ist sie eine privilegierte Ausländerin und Migrantin und in Finnland Auslandsfinnin. Dies findet seinen Ausdruck in ihrer Selbstkonstruktion als eine Position der »Ausländerin«: »es ist so, als wenn man überall AusländerIn wäre«. Diese Konstruktion verdeutlicht, wie Saara sich in der Position einer nationalstaatlich Entorteten wiederfindet, die jenseits der Eindeutigkeiten nationalstaatlicher Zugehörigkeitskategorisierungen liegt. Aber gerade die zugeschriebene Position als »Ausländerin«, als »die Andere« in beiden Gesellschaften, ermöglicht Saara jedoch eine Konstruktion einer positiven biographischen Zugehörigkeit bzw. Verortung, die nicht an einen Ort und eine Zeit gebunden ist, sondern die als translokal, und hier – in Bezug auf zwei verschiedene Nationen – als transnational, gedeutet werden kann. Die biographische Verortung, die aus dieser Art von Positionierung erfolgt, kann als transnationale biographische Verortung bzw. transnationale biographische Positionierung im Sinne von »transnationaler Zugehörigkeit« und »translokaler Positionalität« (Anthias 2002) gedeutet werden. Sie ermöglicht eine gleichzeitige, biographisch relevante Verortung an mehreren Orten, in unterschiedlichen Diskursen und Räumen, ohne eine Zugehörigkeit zu bevorzugen. Diese transnationale Positionierung, die einen Weg zu einer transnationalen Vergesellschaftung ermöglicht und Saaras inneren identifikatorischen Prozess bezeichnet, eröffnet auch für Saaras Kinder eine Möglichkeit, sich biographisch in unterschiedlichen Gesellschaften zu verorten. Somit lässt sich die transnationale Positionierung in dieser familialen Konstellation als eine biographische Strategie sowie ein intergenerationales, biographisches Ressource deuten. Dies kommt nicht nur auf der Ebene der doppelten Staatsangehörigkeit, sondern auch durch Saaras eigenes Verhalten als »Vermittlerin« zwischen den Kulturen und Sprachen zum Ausdruck.
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7.2.
K ATRI : »I CH HABE DIE R ÜCKKEHR IMMER WIEDER VERSCHOBEN .« (HE7/206-7/207)
Nach der Erörterung von Saaras Lebenskonstruktion wende ich mich nun der biographieanalytischen Darstellung von Katris Lebensgeschichte zu. Katri erzählt ihre Geschichte hauptsächlich anhand verschiedener Migrationsprojekte sowie ihrer beruflichen Laufbahn während ihres Lebens in der Migration. Ihre Biographie tritt als ein exemplarisches Beispiel für einen Migrationsprozess auf, der graduell, während des Lebens im Ausland, als eine Erweiterung des persönlichen Handlungsspielraums entsteht und als ein individuelles Bildungsprojekt zu verstehen ist. Dadurch stellt Katris Migrationsprozess einen maximalen Vergleich zu Saaras Migrationsprozess dar, in dem sich eine Kontinuität der internationalen Orientierung schon seit ihrer Jugend nachweisen ließ. 7.2.1. Unsere Begegnungen: Anmerkungen zum Interview Kontaktaufnahme und Bias
Das biographische Interview mit Katri fand im Jahre 2002 statt. Unser Kontakt entstand aus einer Verstrickung mehrerer Zufälle. Ich begegnete Katri das erste Mal auf der Straße in ein Gespräch mit einer anderen Person vertieft. Ihr Habitus und Akzent zogen meine Aufmerksamkeit an. Später stellte sich heraus, dass sie tatsächlich eine Finnin ist und mit einer meiner Interviewpartnerinnen befreundet war. Kurze Zeit später nahm ich schriftlich Kontakt mit ihr auf. In einem Brief erzählte ich ihr über mein Forschungsprojekt, wobei ich mich selbst als Migrantin finnischer Herkunft positionierte und mein Interesse, ein biographisches Interview mit ihr zu führen, erläuterte. Es folgten einige Telefonate, bis wir uns auf einen Interviewtermin einigten. In unserem telefonischen Vorgespräch räumte ich Katri, genau wie meinen anderen Interviewpartnerinnen, ein, sich selbst einen Ort für das Interview auszusuchen, an dem sie sich möglichst entspannen und wohlfühlen könnte. Jedoch erzählte ich ihr auch von der Möglichkeit, uns an der naheliegenden Universität zu treffen. Obwohl die meisten meiner Interviewpartnerinnen ihr Zuhause bevorzugten, entschied sich Katri für die Universität mit der Begründung, dass sie so wieder die Gelegenheit haben könne, die Atmosphäre der Universität zu genießen. Interviewsituation; Auszüge aus den Forschungsnotizen
Wie auch bei Saaras Interview war bei meiner Verabredung mit Katri der Himmel weiß und es schneite. Katri meinte, dass der aus dem Himmel fallende Schnee die Interviewsituation in einer bestimmten Weise »finnisch« erscheinen
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ließe. Auch ich hatte das Gefühl, dass der Schnee, wie bei Saaras Interview, als symbolisches Bindeglied zwischen uns Unbekannten fungierte. Die wissenschaftlich konzipierte und arrangierte Interviewsitzung, die auch am Anfang sehr beklemmend wirken kann, bekam durch diese geteilte Erfahrung vom Schnee eine neue, erweiterte Dimension. Der Schnee brachte uns Unbekannte einander näher, weckte unsere kollektiven Erinnerungen an Finnland und ermöglichte das Zur-Sprache-Bringen unserer gemeinsamen Erfahrungen und die Entstehung einer vertrauten Atmosphäre. In dieser vertrauten Atmosphäre führten wir vor Beginn des Interviews einen kleinen Smalltalk. Katri benutzte dabei die Gelegenheit, sich über mich kundig zu machen. Da ich in dem Brief erwähnt hatte, dass ich selbst eine Migrantin finnischer Herkunft bin und die Lebensgeschichten von anderen Migrantinnen finnischer Herkunft in Deutschland für wissenschaftliche Zwecke sammeln möchte, musste ich jetzt sowohl meinen wissenschaftlichen als auch meinen persönlichen Hintergrund genauer erläutern. Dieses Interesse hat mich damals nicht überrascht, da mir diese Frage bei jedem Interview, das ich bis dahin geführt hatte, begegnete und dadurch meine eigene Position als Forschende und Migrantin finnischer Herkunft in jeder Interviewsitzung wieder thematisiert wurde. Diese persönlichen Fragen, die von den Interviewten gestellt werden, stellen jede/n ForscherIn, der/die die Methodenbücher zur soziologischen empirischen Forschung studiert hat, vor ein großes Dilemma. Die Berücksichtigung von Anweisungen für ein sogenanntes objektives Verhalten und der Versuch, dem/der Interviewten möglichst wenig von sich selbst zu offenbaren, führen zu einer Interviewsituation, die durch den objektivierenden Blick und die dazugehörende Zurückhaltung, gekennzeichnet ist. Dadurch stand ich mehrmals vor der Frage, ob ich in der jeweiligen Interviewsituation doch lieber meiner Intuition oder den soziologischen Methodenbüchern folgen sollte. Meistens entschied ich mich für eine Kombination beider Vorgehensweisen. Katri, genauso wie alle anderen Interviewten, bekam also Antworten auf ihre Fragen zum Beispiel bezüglich meiner Einwanderung nach Deutschland, die ich jedoch vor dem Interview nur flüchtig beantwortete und mich für eine weitere Diskussion nach dem Interview bereit erklärte. Diese Entscheidung war von der Befürchtung getragen, durch die Erläuterung meiner eigenen Biographie einerseits methodisch »nicht sauber« arbeiten zu können, andererseits durch meine eigene Erzählart den Erzählstrang der Interviewpartnerinnen zu beeinflussen.26
26 Im Nachhinein denke ich, dass gerade an diesem Punkt ein methodischer Reflektionsbedarf für die Weiterentwicklung der methodischen Herangehensweise besteht.
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Anmerkungen zum Interview
Das Gesamtinterview wurde in etwas modifizierter Art und Weise nach den Regeln des narrativen Interviews geführt und dauerte ohne Unterbrechungen ungefähr drei Stunden. Das biographisch-narrative Interview als eine Möglichkeit, sich den Erinnerungen und der Rekonstruktion des eigenen Lebens hinzugeben, verwischte den Lauf der Zeit, und Katri war am Ende des Interviews über dessen Länge sehr überrascht. Das ganze Interview wurde auf Finnisch geführt, auch wenn Katri vor dem Interview an ihren Fähigkeiten, ihr Leben auf Finnisch zu erzählen, zweifelte. Diese Unsicherheit begründete sie damit, dass vieles in ihrem Leben erst in der Migration stattgefunden hätte und somit ihre Fähigkeit, darüber auf Finnisch zu erzählen, geringer sein könnte. Mein Angebot, eine andere Sprache als Finnisch zu benutzen, lehnte sie jedoch ab und benutzte, trotz ihrer Bedenken, wenig Sprachenwechsel während des Gesamtinterviews. Die drei Stunden Tonbandaufzeichnungen entsprechen insgesamt 77 transkribierten Seiten, wovon 24 Seiten aus der Haupterzählung und 53 Seiten vom Nachfrageteil und der Bilanzierungsphase stammen. Katris biographische Erzählung ist fließend und orientiert sich in der Haupterzählung entlang einer dreiteiligen thematischen Struktur: Erzählung über die Auswanderung, die Einwanderung sowie über das Leben in der Migration. Diese inhaltliche Struktur weist darauf hin, dass Katri ihre Erzählung selbst in Bezug auf die erzählgenerierende Eingangsfrage stellt und sich dadurch zunächst als Migrantin positioniert und ihre Biographie rückblickend anhand ihrer Migrationsgeschichte erzählt. Obwohl Katri in der Haupterzählung viel und flüssig erzählt, ist festzuhalten, dass der Nachfrageteil ungefähr doppelt so lang ausfällt. Der Nachfrageteil ist durch Antworten auf Verständnisfragen sowie durch einige externe Fragen strukturiert, aber er enthält auch ausführliche biographische Narrationen, in denen Katri selber neue Themen und Erzählstränge aufgreift. Am Ende des Nachfrageteils weist Katri auf die Spontaneität ihrer Erzählung hin: »Ich habe mir vorher nichts überlegt. Ich hätte auch keine Zeit dafür gehabt« (NFT53/1757-53/1758). Diese Offenbarung, die die Authentizität des Interviews unterstreicht, wird auch durch folgende Aussage bekräftigt: »Es kamen Bilder von hier und dort, also irgendwo aus meinem Leben her. -- Bestimmt hat man -- unbewusst das gesagt was -- man selbst wichtig findet« (NFT53/1760-53/1762). Am Schluss ratifiziert Katri noch einmal unser Arbeitsbündnis und räumt mir die Freiheit ein, das Interview wissenschaftlich zu bearbeiten: »Mach daraus, was du willst« (NFT53/1764), und weist so darauf hin, dass sie ihren Erzählteil beendet hat (Coda). Dieses ausgesprochen deutlich ausgedrückte Arbeitsbündnis im Hintergrund behaltend, wende ich mich nun der biographieanalytischen Darstellung des Interviews zu. Im Folgenden werde ich zunächst in der Form eines aus dem Inter-
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view herausgearbeiteten biographischen Portraits Katris Lebensgeschichte im Sinne eines Lebenslaufs zusammenfassen und darstellen. Danach folgt die biographieanalytische Falldarstellung, in der ich die biographische Gesamterzählung in Bezug auf die, in der strukturellen Beschreibung entwickelten, zentralen Analysekategorien darstelle. Während die Darstellung von Saaras Biographie der strukturellen Beschreibung folgte, habe ich hier eine komprimierte, ergebnisorientierte Darstellungsform gewählt. Da die Analyse von Saaras Interview nicht nur die Ergebnisse der Biographieanalyse darstellen, sondern auch einen Einblick in den aufwändigen und arbeitsintensiven Interpretationsprozess gewähren sollte, steht hier nun die Darstellung der Ergebnisse im Mittelpunkt. Damit ist es möglich, die gewaltige Textmenge, die während der Analyse entstanden ist, zu reduzieren und in einer komprimierten Form darzustellen.27 7.2.2. Das biographische Portrait Katri kommt Anfang der 1980er Jahre über ein deutsch-finnisches berufliches Austauschprogramm in die Bundesrepublik Deutschland, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Ihr ursprünglich auf ein Jahr angelegter Auslandsaufenthalt wandelt sich zum Leben in der Migration, und dies seit nunmehr über 20 Jahren. Während dieser Zeit hat sich Katri viel im Ausland aufgehalten, ihr Lebenszentrum ist jedoch die Bundesrepublik geblieben. Zum Zeitpunkt unseres Interviews ist Katri Mitte 40, ledig, alleinerziehende, berufstätige Mutter und lebt gemeinsam mit ihrer Tochter in einer internationalen Großstadt in Deutschland. Auch ihre jüngeren Geschwister, eine Schwester und ein Bruder, leben beide in der Migration. Katri wird Ende der 1950er Jahre als viertes von sechs Kindern in einer Kleinstadt in Südfinnland geboren. Sie hat vier Brüder und eine Schwester. Katris Vater ist Handwerker und die Mutter kümmert sich um die sechs Kinder zu Hause. Katri geht in derselben Kleinstadt zur Schule, besucht das Gymnasium in der nahe gelegenen Nachbarstadt und beendet ihre Schulbildung mit dem Abitur. Im Anschluss an das Abitur sucht Katri sich einen Job und beginnt zu arbeiten. Nach einem Jahr steht sie vor der Entscheidung, entweder, wie ihre Schwester, als Au-pair ins Ausland zu gehen oder eine Ausbildung im Außenhandel an der Kaufmännischen Handelsschule zu beginnen. Katri entscheidet sich für die Ausbildung mit der Überzeugung, so eine Chance zu bekommen, später durch diesen
27 Für eine auf eine andere Art fokussierte Darstellungsart siehe Ruokonen-Engler (2006, 2009).
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Beruf etwas mit fremden Ländern zu tun zu haben. Diesen Plan verwirklicht sie, als sie mit dem deutsch-finnischen Austauschprogramm für Berufstätige für ein Jahr nach Deutschland geht, um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Nachdem Katri zunächst bei einem deutschen Arbeitgeber in einer Kleinstadt berufstätig ist, wechselt sie dann für einen internationalen Arbeitgeber in eine Großstadt. Dort ist sie im transnationalen Finanzwesen tätig und absolviert nebenbei auch das Große Deutsche Sprachdiplom. Sie verschiebt die Rückkehr nach Finnland und verlängert ihre Aufenthaltserlaubnis von Jahr zu Jahr, bis sie nach fünf Jahren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Deutschland erhält. Neben ihrer Berufstätigkeit beginnt sie an einer Universität zu studieren. Gleichzeitig ist sie beruflich erfolgreich und bekommt das Angebot, für ihre Firma im Ausland tätig zu sein, was sie auch annimmt, damit jedoch ihr Studium zunächst abbricht. Als ihre Arbeitserlaubnis in dem anderen europäischen Land nicht verlängert wird und ihr gleichzeitig eine attraktive Stelle bei ihrem vorherigen Arbeitgeber in Deutschland angeboten wird, kehrt sie nach Deutschland zurück. Sie nimmt die Stelle an, will aber keine weiteren Karrierestufen erklimmen, sondern ihre Berufstätigkeit mit der Fortsetzung des Studiums verknüpfen. Katri wechselt mehrfach das Hauptfach und entscheidet sich für einen Studienabschluss in den Gesellschaftswissenschaften. Während des Studiums geht sie eine Beziehung mit einem Doktoranden aus einem afrikanischen Land ein und beide entscheiden sich, zusammen eine Familie zu gründen. Jedoch scheitert die Partnerschaft während der Schwangerschaft und der Freund zieht in die USA. Katri bekommt eine Tochter, nimmt nach ihrer Geburt Elternzeit und bleibt für ein Jahr zu Hause. Danach beginnt sie wieder Teilzeit zu arbeiten. Später schließt sie ihr Studium ab, bleibt jedoch weiterhin im transnationalen Finanzwesen berufstätig, und engagiert sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich im Bereich der interkulturellen Arbeit. Bevor ihre Tochter eingeschult wird, nimmt sie eine Auszeit und verbringt ein halbes Jahr mit ihr im Ausland. Zum Zeitpunkt des Interviews steht Katri vor einem Arbeitsstellenwechsel, engagiert sich ehrenamtlich für und mit finnischen MigrantInnen und spielt mit dem Gedanken eines neuen, längeren Auslandsaufenthaltes sowie einer eventuellen Rückkehr nach Finnland. 7.2.3. Biographieanalytische Falldarstellung Während ich nun durch die Erstellung des Kurzportraits ein Bild von Katris Leben anhand der aus der biographischen Erzählung abstrahierten Information zeichnen konnte, wende ich mich im Folgenden den Erläuterungen der biographischen Darstellung zu. Dabei diskutiere ich die Fallstruktur der Haupterzählung anhand von beispielhaften Textstellen und erläutere die zentralen Katego-
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rien der biographischen Selbstdarstellung. Diese gliedern sich in folgende Kategorien, die sich an die vier Suprasegmente der Haupterzählung28 anlehnen: 1) Emigration als Begehren des Ausländischen; 2) Immigration als individuelles Bildungsprojekt; 3) Rückkehr als Familienprojekt; 4) Eine Verortung in der Mobilität und der Vielfalt: »Ich bin nie hier in Deutschland geblieben. Ich bin immer auf dem Sprung gewesen« (HE19/629-19/630). Diese Perspektiven werden in Hinsicht auf die Rekonstruktion unterschiedlicher vergeschlechtlichter und ethnisierter Subjektpositionen und damit einhergehender Handlungsfähigkeiten analysiert. Die analytische Darstellung von Katris Biographie folgt derselben Logik, anhand derer Saaras Biographie zuvor analysiert wurde. Jedoch verzichte ich hier auf die Erläuterung der graduellen Herstellung von den an die strukturellen Beschreibungen anlehnenden Hypothesen, sondern stelle sie hier anhand von Textstellen als Ergebnisse vor. Dadurch ist eine andere Art von analytischem Text als Darstellungsmodus der biographischen Erzählung entstanden.29 7.2.3.1. Emigration als Begehren des Ausländischen (HE2/44-3/97) Katri beginnt ihre biographische Darstellung mit der Erzählung über ihre Auswanderung. Hiermit folgt Katri nicht dem allgemeinen Genre der Biographie, die implizit eine chronologische Erzählweise voraussetzt. Dagegen nimmt Katri die von mir in der Eingangsfrage angebotene Positionierung als eine eingewanderte Frau an und beginnt zu erzählen, wie es dazu kam, dass sie aus Finnland ausgewandert ist. Interessanterweise stellt Katris biographisch-narratives Interview im gesamten Sample von 16 Interviews das einzige Interview dar, in dem die offene Eingangsfrage keine chronologische Erzähllinie von Geburt an initiiert. Katri orientiert sich in ihrer Erzählung thematisch anhand der Schilderung verschiedener Migrationsprozesse.
28 I. Suprasegment »Emigration als Begehren des Ausländischen« (HE2/44-3/97), II. Suprasegment »Immigration als individuelles Bildungsprojekt« (HE3/98-7/210), III. Suprasegment »Rückkehrprojekt« (HE7/211-11/355) und IV. Suprasegment »Das Leben in der Migration« (HE11/356-24/787). 29 Dadurch dass es keine methodisch festgelegte Darstellungsart für die Präsentation der Ergebnisse der Biographieanalyse gibt, habe ich mir die Freiheit genommen, unterschiedliche Darstellungsarten auszuprobieren. Für eine andere, thematisch zugespitzte Darstellungsart dieses Falles siehe Ruokonen-Engler (2006).
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Eingangserzählung »[…] denn Fremdsein beginnt nicht erst in der Fremde. Was hat sich also am Verhältnis zum eigenen sozialen Raum schon vor der Migration verändert und welche Rolle spielt dabei der fremde soziale Raum – als Bild, als Wunsch, als Phantasie?« (Heidenreich 1995: 149)
Nachdem ich Katri die offene, erzählgenerierende Eingangsfrage gestellt hatte, beginnt ihr Erzählfluss mit ihrer Positionierung in Bezug auf mein Forschungsvorhaben und auf die in der Eingangsfrage zugeschriebene Identifikation als eine Einwanderin. K: Gerne. Danke für die Einladung (lacht und ich als Interviewerin lache mit) für dieses Interview. Es ist recht interessant, ein Forschungsobjekt zu sein -- oder ein Teil der Forschung -- eine Immigrantin. -- Dazu gehört eigentlich auch die -- erste Phase -- das EmigrantInsein. (HE2/44-2/47)
Katri reagiert auf die Frage nicht nur mit ihrer Bereitschaft zu erzählen, sondern mit einer evaluativen Bestätigung, dass sie dies auch gerne tue. Wie schon erwähnt ist an Katris biographischer Erzählung auffällig, dass sie nicht in »klassisch-chronologischer Art« mit der Geburt der Biographin beginnt, sondern mit ihren Überlegungen zur Entstehung eines biographischen Subjekts, das als Emigrant und Immigrant bezeichnet werden kann. Möglicherweise wurde die Entscheidung, die Erzählung mit der Thematisierung der Migration zu beginnen, durch die Eingangsfrage angeregt, in der ich mein Interesse am Leben immigrierter Frauen äußerte. Demzufolge definiert sich Katri zunächst als »Forschungsobjekt« (HE2/45), relativiert diese klinische Aussage jedoch dadurch, dass sie ihre Aussage korrigiert und ihre Position »als Teil der Untersuchung« (HE2/46) deutet. Außerdem bestätigt sie durch die Wiederholung des Wortes »Immigrantin«, dass sie diese, ihr in der Eingangserzählung angebotene bzw. zugeschriebene Identifizierung annimmt und dadurch auch die ihr gestellte Erzählaufforderung ratifiziert. Diese Ratifizierung führt zum Aufgreifen einer biographischen Erzählperspektive, in der die Migration als ein Deutungsmuster für die eigene biographische Entwicklung dient. Bevor Katri sich selbst als »Immigrantin« definiert, weist sie darauf hin, dass der Immigration die Emigration als »erste Phase« (HE2/47) vorangeht. Die Konstruktion des Immigrantinseins liegt also nicht nur im Akt der Immigration, sondern in der phasenartigen Entwicklung des Migrationsprojektes von der Emigra-
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tion zur Immigration. Hier gerät Katri in ein Erklärungsbedürfnis, und es zeigt sich, dass die Entstehung des Migrationsprojektes im Zusammenhang mit ihrem familiären Ablösungs- und Individuierungsprozess steht. K: (…) ich habe es mir manchmal überlegt, ob/es/(lachend) -- in den Genen liegt -- die Neigung zum Auswandern. -- Aus irgendwelchem Grund -- habe ich schon als ganz Kleine mit meiner Schwester Mutter-Vater-Kind gespielt und wir hatten dabei immer ausländische Namen. I: Hm. K: Es ist da schon von klein an gewesen -- in unserer Gedankenwelt -- das Interesse an der Außenwelt. Und jetzt ist es so, dass wir beide I: Hm. K: im Ausland leben. Und es gibt keine Erklärung für dieses Interesse. Wir hatten in der Kindheit nichts mit den AusländerInnen zu tun und es gab keine EmigrantInnen in unserer Familie. Eine Tante ist nach Amerika -- sie wurde in Amerika geboren -- aber sonst nichts. (HE2/49-2/64)
Diese Eingangserzählung, die Katris biographisch-narrative Darstellung eröffnet, beginnt mit der Konstruktion einer Positionierung als Emigrantin. Katri konstruiert zunächst die Bereitschaft zu emigrieren als eine genetische Veranlagung, die sie an einem Beispiel aus ihrer Kindheit verdeutlichen will. Das »Mutter-VaterKind-Spiel« (HE2/52), in dem die Spielcharaktere ausländische Namen hatten, bot Katri und ihrer kleinen Schwester eine Möglichkeit, das »Anderssein« spielerisch in Szene zu setzen. In diesen Spielen waren ausländische Namen begehrenswert und positiv besetzt, im Gegensatz zu den alltäglichen finnischen Namen, auf die man lieber in diesen Spielen verzichtete. Durch ihre Betonung auf »das Interesse an der Außenwelt« (HE2/57) konstruiert Katri einen in der Kindheit verorteten genealogischen Grund für ihre spätere Emigration. Das Interesse an der »Außenwelt« außerhalb des Häuslichen und Privaten erscheint in diesem Zusammenhang als Sehnsucht und Begehren nach etwas Positivem, das der ausländische Name symbolisiert. Zugleich ist das »Ausländische« an der Stelle mit einer imaginären Grenzüberschreitung verbunden. Interessant ist hier auch die Wortwahl von »Außenwelt«, was man als erhoffte Erweiterung der Innenwelt, der häuslichen und der privaten Sphäre, die durch das Finnischsein gekennzeichnet war, deuten kann. Während dieses explizite »Interesse an der Außenwelt« in der Haupterzählung als ein neugieriges Interesse für etwas anderes, etwas zu dem Bekannten, Ähnlichen und Heimischen Verschiedenes konstruiert wird, wird dies später im Nachfrageteil mit einer anderen, einer vergeschlechtlichten Bezeichnung in Verbindung gebracht. Dort findet das Begehren des Anderen, als
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das »Ausländische«, seinen Gegenstand in der imaginären Figur eines ausländischen Mannes. Dabei nimmt Katri im Nachfrageteil den Erzählstrang der Emigration (NFT7/210-7/221) wieder auf und weist darauf hin, wie das Mutter-VaterKind-Spiel, das Spiel mit ausländischen Namen, den Lebensentwurf der beiden Schwestern beherrschte: »wir heiraten nie einen Finnen« (HE7/215-7/216). In dieser auf einer gemeinsamen Überzeugung basierenden Aussage konstruieren sich Katri und ihre Schwester in Bezug auf eine Position als zukünftige heterosexuelle Frauen im Kontext einer heteronormativen Familie. Die Vorstellung über das eigene Frausein ist hier mit der diskursiven, normativ-institutionellen Vorstellung einer Heirat mit dem anderen Geschlecht gleicher Nationalität verbunden. Dabei richtet sich die Kritik von Katri und ihrer Schwester nicht gegen die Institution der Heirat an sich oder der Heirat mit einem Mann, sondern gegen die Heirat mit einem finnischen Mann. Einerseits taucht in dieser Konstruktion die imaginierte Figur des finnischen Ehemannes als Negation der positiv besetzten Figur des »ausländischen« (= nicht finnischen) Ehemannes auf. Die Sozialisation und Vergesellschaftung in das System der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit in Finnland als ein nationalstaatliches Skript kommt in diesen Spielen als ein Zwang zum Ausdruck, der nur durch eine Gegennarrative über einen ausländischen Mann zu überwinden ist. Andererseits wird hier eventuell eine Verschiebung des heterosexuellen Geschlechterverhältnisses markiert. Das explizite Ablehnen einer Ehe mit einem finnischen Mann weist auf den Wunsch nach anderen Zukunftsperspektiven und Handlungsoptionen außerhalb eines heteronormativen Geschlechterverhältnisses in Finnland. Während die Schwester dem kindlichen Lebensentwurf folgt und einen »Ausländer« heiratet, bleibt Katri ledig. Dadurch dass Katri dem Traum vom ausländischen Ehemann viel mehr Platz als Erklärung für ihre spätere Migration einräumt als der Tatsache, dass in der Verwandtschaft schon Generationen zuvor Migrationserfahrungen vorhanden waren, weist zusätzlich darauf hin, dass ihr Migrationsprojekt auch mit dem vergeschlechtlichten, ethnisierten Begehren verbunden ist. Aus der Perspektive des Familiären, die in Katris Erzählung im Nachfrageteil einen bedeutenden Raum einnimmt, wird noch ein weiterer Interpretationsraum für das Begehren des Ausländischen eröffnet. Der familiäre Kontext, in dem das elterliche Geschlechterverhältnis zwischen einem autoritären, patriarchalen Vater und einer starken, selbstbewussten Mutter konfliktbeladen ist, bietet wenig Freiräume und Möglichkeiten zur freien Persönlichkeitsentfaltung.
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K: (…) da durfte keine/r das sein, was sie/er war. -- Wir wurden in bestimmte Formen und Schachteln gepresst -- und -- darunter hat man mehr oder weniger gelitten. (NFT5/1465/149)
Vor diesem Hintergrund bietet das Spiel mit dem imaginären »Ausländischen« einerseits einen Freiraum, den innerfamiliären Konflikten zu entfliehen, und andererseits eine Gelegenheit, eine Ehe mit einem finnischen Mann als gesellschaftlich-normative Erwartung zu negieren und deshalb nach einer eigenen Autonomie außerhalb des ethno-nationalen Geschlechterverhältnisses zu suchen. Eine Projektionsfläche bietet dabei die unterdrückte Stellung der Mutter in dem hierarchischen Geschlechterverhältnis. Das Bedürfnis der Mutter, eigene Freiräume für ihre kreative Selbstentfaltung im kreativen Schreiben zu suchen, stößt beim Ehemann, Katris Vater, auf Ablehnung, die zum dauerhaften Konflikt zwischen den Ehepartnern führt. Katri nimmt dabei die Rolle eines Komplizen der Mutter ein, was wiederum die Beziehung zu ihrem Vater erschwert. Aus Katris biographischer Konstruktion kann ihre Bewunderung der Mutter gegenüber herausgelesen werden: K: Ich habe die Mutter immer bewundert, da sie sich getraut hat, anders zu sein. (NFT4/ 121-4/122)
Die Stärke und der Mut von Katris Mutter, trotz der schwierigen Verhältnisse »anders sein« zu können, lässt sich auch in Katris Biographie rekonstruieren: K: Ich habe wunderbare Menschen um mich herum gehabt, die mich in meinem Versuch/aus der Reihe zu tanzen/(lachend und ich als Interviewerin lache mit) unterstützt haben. (NFT46/1533-46/1534)
Diese Ähnlichkeit zur Mutter weist darauf hin, wie Katri das rebellische Verhalten ihrer Mutter und deren Streben nach eigenen Selbstentfaltungsmöglichkeiten in einer patriarchalisch geführten Ehe biographisch bearbeitet hat und wie sie diese als ihre biographische Ressource und als ein alternatives Handlungsschema in der Erweiterung ihrer eigenen Handlungsspielräume angewandt hat. Die Sozialisation in das System eines hierarchischen Geschlechterverhältnisses und der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit kommt in Katris biographischer Darstellung als ein normativ diskursiver Zwang zum Ausdruck, der sich anscheinend nur durch die Negation des finnischen Ehemannes sowie durch ein Gegennarrativ über einen »ausländischen Mann« als Objekt des Begehrens überwinden lässt. Dieser gemeinsame Lebensentwurf der beiden Schwestern
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mündet dann auf der Handlungsebene in der Spätadoleszenz tatsächlich in der Emigration. Jedoch verwirklicht sich dabei das Migrationsprojekt nicht durch eine Heiratsoption, sondern über berufliche Wege. Bildungserwerb, Individuierung und internationale Mobilität
Außer der »genetischen« Veranlagung sowie dem Kindheitstraum von einem ausländischen Ehemann stellt Katri in ihrer biographischen Erzählung dar, wie sich das »Begehren des Ausländischen« zu einem biographischen Handlungsschema entwickelte. Katri konstruiert ihre spätere Emigrationsentscheidung einerseits als Resultat von unbewusster psychischer Steuerung und andererseits als Resultat bewusster Entscheidungen und Handlungen. K: (…) vielleicht hat man sich irgendwie unbewusst schon von Anfang an dahin orientiert, dadurch dass man sich für Sprachen interessierte. Und nach dem Abitur wusste ich zunächst eigentlich nicht/was ich machen wollte/(lachend), wenn ich groß werde. (…) Ich jobbte für ein Jahr und habe mich dann für kaufmännische Handelsschule und insbesondere für Außenhandel entschieden, um dadurch etwas mit fremden Ländern zu tun zu haben. (HE2/64-3/73)
Durch die grammatikalische Passivform konstruiert Katri eine Verallgemeinerung, mit der sie eine generalisierende Erklärung für ihr Migrationsprojekt sucht. Die Bildung und das Erlernen der Fremdsprachen werden als eine, im Allgemeinen wahrgenommene, Voraussetzung für ein späteres Auswanderungsprojekt gedeutet. Andererseits unterstreicht diese Verallgemeinerung Katris Unsicherheit bezüglich des Erwachsenwerdens und ihrer damaligen Zukunftspläne, da sie sich selbst in der Spätadoleszenz als Abhängige sieht: K: nach dem Abitur wusste ich zunächst eigentlich nicht, was ich machen wollte, wenn ich groß werde. (HE2/66-2/68)
Die Phase der Unsicherheit führt zu einer »Time-Off-Phase«, während derer Katri sich selbst die Zeit nimmt, sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen. In dieser Zeit bewirbt sie sich sowohl für eine Stelle als Au-pair-Mädchen in der Sowjetunion als auch für ein Studium an der kaufmännischen Handelsschule. Katri bekommt die Zusage für beide Stellen, entscheidet sich aber für die Berufsausbildung. An diesem Punkt scheinen zunächst Katris Bildungsambitionen mehr als ihre Auslandsorientierung zu wiegen. Jedoch sind das Studium und der Erwerb des Bildungsabschlusses auch ein erster Schritt in die Unabhängigkeit von der Herkunftsfamilie.
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Der graduelle Ablösungs- und Individuierungsprozess kulminiert im Katris Fall im Erwerb der Ausbildung und in der darauf folgenden Berufstätigkeit. Jedoch erscheinen diese Episoden in Katris Erzählung nur als kurze Zwischenstationen auf ihrem Weg ins Ausland. K: (…) ich habe das Studium abgeschlossen. Danach habe ich ein Jahr gearbeitet. Und dann hatte ich das Gefühl, dass/okay jetzt ist es Zeit zu gehen/-- ins Ausland. Ich habe mich dann beworben. Ich habe mich für Deutschland entschieden, -- wegen der deutschen Sprache. In Finnland gibt es so viele Leute, die Englisch können und ich auch und so dachte ich/okay ich gehe für ein Jahr nach Deutschland/, um meine Deutschkenntnisse auf die Höhe meiner Englischkenntnisse zu bekommen. -- Obwohl ich Deutsch in der Schule/nicht leiden konnte/(dehnend und lachend und ich als Interviewerin lache mit), bin ich dann gegangen und konnte an einem Austauschprogramm teilnehmen. Ich weiß nicht, was das für Austausch ist und wie viele/Deutsche nach Finnland/(lachend) kommen, aber wir waren auf einmal -- sogar 40 FinnInnen. I: Hm. K: Einige kamen für zwei Monate. Es gab viele Männer aus dem technischen Bereich, also Ingenieure, also hauptsächlich Männer und einige Frauen (…). Ich war für einen Monat dort. Es war ein Vorbereitungskurs -- und es war Teil des Programms, dass sie uns mit einer Arbeitsstelle versorgten. I: Hm. K: Für ein Jahr. Ja. Für ein Jahr ging ich aus Finnland weg. Und ich ließ mich bei meiner Stelle in Finnland für ein Jahr beurlauben. Und dies passierte vor zwanzig Jahren. I: Aha. K: Es wurde etwas/länger/(singend). (HE3/73-3/96)
Dem inneren, emotionalen Gefühl des Bedürfnisses, ins Ausland zu gehen, wird hier die rationale, bewusste Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, gegenübergestellt. Die Entscheidung, die Deutschkenntnisse durch einen einjährigen Auslandsaufenthalt zu verbessern, wird in bewusster Abgrenzung zu ihren besseren Englischkenntnissen dargestellt. Durch verbesserte Kenntnisse der deutschen Sprache verspricht sich Katri den Erwerb von kulturellem Kapital, das sich auf dem Arbeitsmarkt auch in ökonomisches Kapital verwandeln könnte. Andererseits wird diese Entscheidung als eine Art Mutprobe geschildert, da Katri sich für Deutschland entscheidet, obwohl sie in der Schule Probleme mit der deutschen Sprache hatte. Es ist noch zu ergänzen, dass anders als die Generation von Saara, deren erste Fremdsprache üblicherweise Deutsch war, Katri zu einer Generation von FinnInnen gehört, die meistens Englisch als erste Fremdsprache in der Schule gelernt haben. Die hier mit dem Migrationsprojekt zusammenkom-
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mende allgemeine Bildungsaspiration zieht sich durch Katris gesamte biographische Erzählung. Die Tatsache, dass Katri nach Deutschland kommt, ist kein Zufall, vielmehr war sie von der Idee besessen, ihr Bildungskapital auf dem finnischen Arbeitsmarkt zu erhöhen, da in ihrer Generation im Allgemeinen wenige Menschen in Finnland der deutschen Sprache mächtig waren. Sie ergriff die Möglichkeit, über ein Austauschprogramm nach Deutschland zu gehen. Da das Programm hauptsächlich Ingenieure, meistens Männer, vermittelte, unterstreicht dieser Schritt die Besonderheit ihres Weges als Frau. Andererseits scheint das Programm als berufliches Rekrutierungsprogramm zu dienen, da es für gut ausgebildete AusländerInnen einen offiziellen Weg eröffnete, in der Bundesrepublik zu arbeiten und eventuell auch später dorthin zu immigrieren, wie Katris Fall zeigt. Katris oben zitierter ironischer Kommentar deutet darauf hin, dass das Austauschprogramm zwischen Deutschland und Finnland jedoch nur einseitig war. In Katris Fall fungierte dieses Programm als Brücke in die Migration, denn der für ein Jahr geplante Auslandsaufenthalt, der zunächst als Bildungsmoratorium zum Erwerb von kulturellem Kapital, insbesondere von Bildungskapital, konzipiert war, entwickelte sich zu einem Migrationsprojekt von nunmehr 20 Jahren. 7.2.3.2. Immigration als individuelles Bildungsprojekt (HE3/98-7/210) Die biographische Konstruktion der Emigration schließt an die thematische Erzählstruktur des allmählichen Prozesses der Immigration an. Der für ein Jahr eingeplante Auslandsaufenthalt entwickelt sich mit der Zeit zu einem Migrationsprojekt, dessen narrativ-evaluative Erläuterung in Katris weiterer Schilderung den zentralen Erzählstrang einnimmt. Ein Arbeitsstellenwechsel und der Umzug von einer deutschen Kleinstadt in eine internationale Großstadt führen zu einer, von Katri zunächst nicht beabsichtigten, beruflichen Entwicklung und einer Karriere im Bereich des transnationalen Finanzwesens. Dies liest sich aus Katris biographischer Darstellung jedoch als Bedürfnis, den Standort der Lebensumgebung zu wechseln, nicht jedoch als bewusster Schritt, einer Karriere nachzugehen. Das folgende Zitat unterstreicht die Zufälligkeit dieser Entwicklung. K: (…) sie/er sagte, dass es hier bei den Banken viel Arbeit gibt. I: Hm. K: Bewirb dich nur. Du findest sicherlich etwas. -- Aber ich wollte nicht in die Bank. Die Banken waren mir so was, wogegen ich auch in Finnland immer war. I: Hm. K: Deshalb wollte ich nie bei einer Bank arbeiten. Tja, da bin ich nun, seit zwanzig Jahren. Also ich ging dann am nächsten Montag, als ich hier in der A-Stadt war//ich habe
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einfach spontan bei einer Bank angerufen -- und -- habe mich vorgestellt und sagte, dass ich hier in der A-Stadt bin und mich für eine Stelle interessiere und ob es möglich wäre, mich spontan vorzustellen. Ich hatte keine Zeugnisse mit und nichts. Es war eine ausländische Bank und deswegen war die Kommunikation sehr leicht/da alles auf Englisch lief/(lachend). I: Ja. K: Und sie haben mich am gleichen Tag für ein Interview eingeladen. Und ich ging dorthin und habe dann gleich die Stelle bekommen. (HE5/147-5/165)
Der Arbeitsstellenwechsel, der hier wie ein Glücksfall eingeführt wird, ist jedoch mit einigen Widersprüchen verbunden. Die innerlichen und möglicherweise ideologischen Vorbehalte, im Finanzwesen zu arbeiten, mussten in der Situation der Arbeitssuche revidiert werden. Durch die Berufstätigkeit im transnationalen Finanzwesen befindet sich Katri nun in einer Situation, in der es nicht notwendig ist, die deutsche Sprache, die ihre eigentliche Motivation gewesen war, nach Deutschland zu kommen, zu erwerben bzw. zu benutzen. Dagegen befindet sich Katri selbst inmitten von »Landsleuten« sowie anderen AusländerInnen. K: (…) und die Freundschaftskreise waren am Anfang natürlich sehr finnisch. Auch deshalb, da es wie ein sicherer Hafen I: Hm. K: war. Wegen der Sprache und sonst auch. Wir waren eine nette Truppe und haben viel Zeit zusammen verbracht. Und es bleibt/ewig in Erinnerung/(lachend). Und dann irgendwann habe ich mir vorgenommen, dass ich nun etwas für die Sprache tun muss, sonst lerne ich nichts, weil ich auf Arbeit immer Englisch benutzte. I: Hm=hm. K: Es war meine Arbeitssprache und in meinem privaten Leben war es entweder Englisch unter uns AusländerInnen, da es die gemeinsame Sprache war, oder mit den FinnInnen war es dann Finnisch. Und so haben sich meine/Deutschkenntnisse nicht so viel verbessert/(lachend). So nahm ich dann irgendwann an einem Kurs am Goetheinstitut teil. Es war ein Vorbereitungskurs für – Großes Deutsches Sprachdiplom. Und so hat es dann angefangen, dass es dann besser mit der deutschen Sprache wurde. I: Hm. K: Und ich weiß nicht, wie lange der Kurs dauerte, vielleicht ein oder zwei Jahre. -- Mir war dann schon klar, dass ich hier länger bleibe. Ich hatte schon irgendwann meine Beurlaubung mit einem Jahr verlängert und ich hätte immer nach Finnland zurückkehren können, aber irgendwie begann man sich auch für das Leben hier immer mehr und mehr zu interessieren. Und was mich dann immer hier im Ausland und hier in der A-Stadt fasziniert hat -- ist dieses multikulturelle
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I: Hm. K: -- Leben. Es kommen Leute aus der ganzen Welt hierher und hier in der A-Stadt kann man in irgendwelcher Art und Weise mindestens ein bisschen verschiedene Kulturen kennenlernen, -- ohne/um die ganze Welt/(lachend) zu reisen. -- Und es ist//war etwas, was mich am Leben hier sehr faszinierte (…) und es würde mir fehlen, wenn ich nach Finnland zurückkehren würde. I: Hm. K: Und so habe ich die Rückkehr nach Finnland immer wieder verschoben und es wurde mir dann klar, dass ich nicht mehr nach Finnland zurückkehren werde. (HE6/1707/209)
Der graduelle und letztendlich zertifizierte Erwerb der deutschen Sprache ermöglicht es Katri, das Ziel ihres Auslandsaufenthaltes zu erreichen. Jedoch hat sich neben dem Erwerb der Deutschkenntnisse für Katri eine neue soziale Welt der Vielfalt und Multikulturalität eröffnet, die sie in ihrer biographischen Erzählung als treibende Kraft ihrer Migration disponiert. Hier taucht die in der Eingangserzählung konstruierte Faszination der »Außenwelt«, des »Ausländischen« und des Anderen wieder auf. Im Gegensatz zu Finnland bietet die multikulturelle Vielfalt einer internationalen Großstadt für Katri die Nähe zu der schon von Kindheit an begehrten »Außenwelt«. Die durch Migration geschaffenen Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten des Selbst kommen in der erlebten Vielfalt des alltäglichen Lebens zum Ausdruck. Die Vielfältigkeit des Lebens in der Migration wird der Eintönigkeit im Heimatland gegenübergestellt. Aber nicht nur das Entdecken des Neuen und des »Ausländischen«, sondern die damit verbundenen Möglichkeiten, den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern, führen zur Entwicklung eines biographischen Handlungsschemas anhand des Migrationsprojektes. Das sukzessive Verlängern des Auslandsaufenthaltes lässt sich nicht nur als Katris zögerliche Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, begründen, sondern verweist auf die aufenthaltsrechtlichen Bedingungen, die ihren Status als Nicht-EU-Bürgerin bestimmen und zu einer biographischen Unsicherheit in Bezug auf die Planbarkeit ihrer Zukunft beitrugen. K: (…) Wir bekamen im Rahmen dieses Austauschprogramms unsere Arbeitserlaubnisse. Und wenn man länger bleiben wollte -- bekamen einige eine Verlängerung und andere nicht. -- Also einige sind auch deswegen nach Finnland zurückgekehrt, da ihre Arbeitserlaubnisse nicht verlängert wurden. I: Aha. K: -- Und -- ich habe die bekommen. Es war natürlich immer nur für ein Jahr. Es war so,
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I: Hm. K: dass man nie wusste wie lange, aber damals habe ich sowieso nicht so weit gedacht. -Und dann irgendwann als man fünf Jahre da war, bekam man die -- unbefristete [Aufenthaltserlaubnis]. Es war immer so ein -- Unsicherheitsfaktor, da du nicht wusstest, ob I: Hm. K: du sie kriegst oder nicht. -- Und ich weiß nicht mehr, aber ich denke, dass man sowieso damals eine Lebenseinstellung hatte, von Tag zu Tag zu leben. I: Hm. K: Man hat nichts//Ich habe nichts geplant. Aber es war so, dass du wusstest, dass es nicht mit dir zusammenhängt, ob du bleibst oder nicht. I: Hm. K: Das war immer bewusst. Und du musstest eigentlich -- um Gnade betteln, -- da sie dir, aus welchem Grund auch immer, die Arbeitserlaubnis verweigern konnten. Und dann ändert sich dein Leben, ob du es wolltest I: Hm=hm. K: oder nicht. Und manchmal spürtest du es auch -- bei den Ausländerbehörden (…) -- so was, dass ich über dein Leben entscheide. Und dies konnten sie dir I: Hm K: gut vermitteln. Es ist nicht so, dass man dort gerne hingeht. I: Hm. K: Ich bin glücklich, dass ich nicht mehr dorthin gehen muss. I: Hm. K: Es war nie -- etwas Schönes. (NFT41/1359-42/1394)
Die hier geschilderte evaluierende Begegnung mit den Ausländerbehörden verweist auf die Macht, die gesellschaftliche Institutionen zusammen mit der Ausländergesetzgebung bei der Lebensgestaltung der MigrantInnen haben. Das Leben ohne eine permanente Arbeitserlaubnis ist immer mit einem biographischen Risiko verbunden, das strukturell erzeugt ist. An der Stelle möchte ich festhalten, dass Katris allgemeine Bildungsaspiration, mit dem Ziel, ihre Deutschkenntnisse zu verbessern, zu einer allmählichen Entwicklung ihres Migrationsprojektes führt. Konstitutiv für diesen Prozess erscheint in Katris biographischer Darstellung nicht nur ihre beruflich etablierte Position, sondern ihr Leben in einer internationalen Großstadt zu sein. Durch die Betonung der dort erlebten sprachlichen und multikulturellen Vielfalt lässt Katris Leben sich als ein Leben im Kontext der »transnationalen Alltagskulturen« (Römhild 2004: 164) deuten. Diese Vielfalt eröffnet Katri eine neue soziale Welt und entwickelt sich im Verlauf der Biographie zu einem festen Bestandteil ihres biographischen Handlungsschemas und weist damit auf die Entwicklung eines
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neuen, transkulturellen bzw. transnationalen Bildungsprojekts hin, das weit über den Erwerb der Deutschkenntnisse hinausgeht. Die Berufstätigkeit im internationalen Finanzwesen als Dilemma
Der Erzählung über Katris verschiedene Migrationsprojekte folgt ein langes und detailliertes Erzählsegment über das Leben in der Migration (HE11/356-24/787). Dabei nimmt die Darstellung der eigenen beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten einen großen Teil der Erzählung ein (HE11/361-14/438). Die Berufstätigkeit im transnationalen Finanzwesen ermöglicht Katri nicht nur die finanzielle Sicherung ihres Lebens, sondern eröffnet ihr auch ein weiteres transnationales Handlungsfeld, das sie in andere Länder bringt. Es scheinen gerade diese Möglichkeiten zu sein, die Katri gestatten, ihre negativen und ablehnenden Gedanken in Bezug auf ihr Tätigkeitsfeld zu überdenken und somit aus ihrer beruflichen Situation das Beste für sich herauszuholen. Auch die gute, fast väterliche Beziehung zu ihrem Chef erleichtert es Katri, sich beruflich weiterzuentwickeln und fortzubilden. Diese Entwicklung entspricht Katris biographischem Bedürfnis, immer etwas Neues zu lernen und sich weiterzubilden. Dazu gehören die beruflichen Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, Auslandstätigkeiten sowie das Aufgreifen eines Universitätsstudiums neben dem Beruf. Obwohl Katri gerade da beruflich erfolgreich ist und für sie die Chance besteht, auf den Karriereleitern aufzusteigen, wendet sie sich bewusst gegen diese Entscheidung. K: (…) aber irgendwie war ich immer der Meinung, dass mich überhaupt keine Bankkarriere interessiert. Deswegen wollte ich nicht diese [Karriere]Leiter weiter erklimmen auch weil ich sah -- was es abverlangt. Was für eine Arbeitsinvestition -- als Zeit. Arbeitstage sind lang und für mich war auch die Freizeit immer wichtig. Außerdem hatte ich dann irgendwann schon angefangen zu studieren. (HE13/408-13/414) K: (…) Es war eine interessante Erfahrung und -- auch in der Hinsicht interessant, dass mir dabei -- das Interesse auf die Bankkarriere nicht so weit wuchs, dass ich alles dafür geben würde, weil es dann sehr viel fordert. Du hast zehn- bis zwölfstündige Arbeitstage und dann noch die Arbeit zu Hause. I: Hm. K: Für mich ist es immer wichtig gewesen, dass ich mein Arbeitsleben aber auch mein privates Leben habe, das dann nichts mit der Bank zu tun hat. (HE13/424-14/434)
Katri zieht eine bewusste Trennlinie zwischen ihrer Berufstätigkeit im transnationalen Finanzwesen und ihrem privaten Leben. Diese beiden Felder eröffnen ihr unterschiedliche Möglichkeiten und Handlungsräume, ihre unterschiedlichen Bedürfnisse zu verwirklichen. Die Option als berufstätige Frau, die Karriereleiter
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weiter zu erklimmen, ist mit der Tatsache einer »Doppelbelastung« im Beruf und zu Hause verbunden. Die Vorstellung, sehr lange Arbeitstage zu haben und danach noch den Haushalt zu führen, stellt für Katri einen allzu hohen Preis im Vergleich zu einer selbstbestimmten Lebensführung mit ausreichend anderen Entfaltungsmöglichkeiten dar. Das Studium bietet Katri neben der Berufstätigkeit eine Möglichkeit zur Selbstentfaltung und zugleich die Möglichkeit, ihr Bildungsprojekt in der Migration, das mit dem Erwerb der deutschen Sprache begonnen hatte, fortzusetzen. Das Studium als Fortsetzung des Bildungsprojektes in der Migration (HE14/ 438-15/492)
Für Katri eröffnet die Migration eine Chance, sich als Subjekt ihres eigenen Bildungsprozesses zu erfahren und somit ihre Handlungsspielräume zu erweitern. Die Motivation, an der Handelsschule eine Ausbildung im Bereich des Außenhandels zu absolvieren, war mit der Idee verbunden, eine berufliche Qualifizierung zu erreichen, um als Arbeitnehmerin Umgang mit fremden Ländern zu haben oder selbst ins Ausland zu gehen. In dieser Entscheidung spiegelt sich eventuell auch Katris familiärer Hintergrund, eine bildungsferne Sicht, wider. Als Kind einer Arbeiterfamilie, in der die Eltern kaum Bildungskapital besaßen, hat Katri eine pragmatische Einstellung zur Bildung als Weg zur Berufstätigkeit. Das Angehen des Ausbildungsprojektes in der Migration wird jedoch in einem anderen Licht dargestellt. Das Studium wird nun als eine bewusste Entscheidung, sich zu bilden, angeführt. Diese Entscheidung ist von der Motivation geprägt, einerseits mehr kulturelles Kapital in Form von Bildung aufzubauen, andererseits greift Katri die aufgeschobene Bildungsaspiration wieder auf. Die stabile berufliche und finanzielle Situation im Bereich des transnationalen Finanzwesens sowie der leichte Zugang zum Studium, d.h. Immatrikulation ohne Aufnahmeprüfungen, die in Finnland üblich sind, ermöglichen es Katri, sich an einer Universität weiterzubilden. K: (…) Und eine Möglichkeit, die ich hier im Ausland benutzt habe, war, dass man leicht studieren konnte. In Finnland wollte ich aber nicht an die Fachhochschule oder Universität, weil ich noch nicht wusste, was ich studieren wollte. Für mich eröffneten die Handelsschule und der Bereich des Außenhandels einen konkreten Weg zur Berufstätigkeit. Und dann über die Berufstätigkeit war es wiederum möglich etwas mit fremden Ländern zu tun haben. Ich dachte, dass ich dann auch später studieren kann und habe dann hier die Chance benutzt. (HE14/443-14/453)
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Katris allgemeiner Bildungshunger und das Bedürfnis, ihren Horizont zu erweitern, zeigt sich in ihrem Studienverhalten. Sie studiert zunächst, was sie interessiert, ohne zu überlegen, welche beruflichen Spielräume und beruflichen Möglichkeiten ihr dadurch eröffnet würden. Erst später beginnt sie ihr Studium zu rationalisieren und führt ihr Hauptstudium in dem Studienfach fort, das ihr die besseren beruflichen Perspektiven bietet. Jedoch führen die Qualifizierung und der Universitätsabschluss im Bereich, in dem die Gehälter mit denen des transnationalen Finanzwesens nicht konkurrieren können, zu der Entscheidung, den Schritt auf den deutschen Arbeitsmarkt nicht zu wagen. Hier ist das Scheitern eines möglichen neuen Weges zu erkennen, der es Katri erlaubt hätte, das transnationale Finanzwesen zu verlassen und neue berufliche Wege auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu gehen. Die berufliche Neuorientierung hätte ihr eventuell auch die Möglichkeit gegeben, ihre persönlichen Interessen und Erfahrungen als Migrantin mit ihrer Berufstätigkeit zu vereinbaren. Da Katris Lebenslage sich jedoch während des Studiums ändert und sie von einer selbstständigen Studentin zu einer alleinerziehenden Mutter wird, stellt diese Situation die mögliche berufliche Umorientierung in Frage. Sie entscheidet sich, die Berufstätigkeit im transnationalen Finanzwesen weiterzuführen, da es ihr dadurch möglich ist, als Alleinerziehende Teilzeit zu arbeiten und so Beruf und Familienleben miteinander zu vereinbaren. K: (.) und als ich dann das Studium abgeschlossen hatte/ich hatte während des Studiums immer halbtags gearbeitet und so das Studium und das Leben finanziert/-- kehrte ich zu dieser Halbtagsbeschäftigung zurück, weil ich damit mein Brot verdienen konnte (…) und zu der Zeit hatte ich schon eine dreijährige Tochter und ich war Alleinerziehende. Ich musste natürlich schauen, wo ich so viel Geld verdiene, dass wir zurechtkommen, und ich habe deswegen schon seit langem halbtags gearbeitet -- um Zeit (…) für mein Kind zu haben und dann auch für andere -- Arbeit für ehrenamtliche Arbeit. (HE15/492-16/503)
Die ehrenamtlichen Tätigkeiten im Bereich der interkulturellen Bildungsarbeit sowie in der finnischen Community ermöglichen Katri dagegen, ihre berufliche Qualifikation zur Geltung zu bringen. Obwohl diese Tätigkeiten ihr keine finanzielle Anerkennung bieten, gestatteten sie wenigstens eine sozio-kulturelle Bestätigung ihrer neu erworbenen beruflichen Qualifikationen. Zugleich bietet diese Tätigkeit Katri die Möglichkeit, die von ihr gewünschte Trennung zwischen ihrer Berufstätigkeit und der Freizeit und des Privaten weiterhin aufrechtzuerhalten.
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7.2.3.3. Eventuelle Rückkehr als Familienprojekt (HE7/211-11/355) Nachdem Katri ihre Biographie anhand der Erzählung der Emigrations- und Immigrationsprojekte vorgestellt hat, führt sie in einem weiteren Segment das Rückkehrprojekt ein. Dies überrascht zunächst, da ihre bisherige Erzählung und die dabei geführten Argumente überzeugt hatten, dass ihr Migrationsprojekt auf Dauer angelegt ist bzw. da es keine Spuren von Rückkehrgedanken gab. Jedoch ist die Schilderung des möglichen Rückkehrprojektes mit einer völlig neuen Perspektive von Katris Leben verbunden. Während die bisherige Erzählung von den individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und der Bildungsaspiration in der Migration geprägt war, wird nun das Rückkehrprojekt aus einer Perspektive der Familienmigration erläutert. K: Der Gedanke ist erst -- in den letzten Jahren aktuell geworden, dass es vielleicht doch besser wäre, nach Finnland zurückzukehren. Aus vielen verschiedenen Gründen. Zunächst weil ich eine siebenjährige Tochter habe und ich denke, dass es für sie besser wäre, in Finnland zu leben. Gerade das, wonach ich mich hier sehne und worüber ich sehr glücklich war, ist die Tatsache, dass man seine Kindheit in der Natur leben konnte. Man konnte immer in die Natur gehen. I: Hm. K: Und zur Sommerhütte am Wochenende, obwohl wir auf dem Lande wohnten und so was. Ich bin irgendwie -- traurig, dass ich diese Möglichkeit Mari nicht anbieten kann. I: Hm. K: Und dann ist unsere Familie dort. Also alle Verwandten von Mari sind dort, da ich eine Alleinerziehende bin. Und mit der Familie von Maris Vaters haben wir eigentlich keinen Kontakt. I: Hm. K: Mit dem Vater ja, aber er wohnt im Ausland und es ist so (…) -- wie/ Fernbedienungen/(lachend) I: Hm. K: ferngesteuerte -- Kontaktpflege und deswegen ist für Mari alles, was Familie ist, und ich sehe, dass es ihr wichtig ist, I: Hm. K: in Finnland. Und ich denke, dass es auch vielleicht deswegen besser wäre, sie dort aufwachsen zu lassen. Und natürlich nun ist Finnland in Schlagzeilen wegen der Pisa Studie. Dann denkt man, ob man dem Kind bessere Startbedingungen für das Leben geben würde, wenn man zurück in das finnische System kehren würde. (HE7/2118/239)
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Das Rückkehrprojekt wird zunächst mit einer nostalgischen und naturbezogenen Kindheitserinnerung in Zusammenhang gebracht. Da Katri eine alleinerziehende Mutter ist, kulminiert in dieser nostalgischen Sehnsucht auch der Wunsch nach einer intakten Familie, die für Katri und ihre Tochter in Finnland eventuell zu finden wäre. Eine biographische Bedeutung erlangen außerdem die Ergebnisse der PISA-Studie von OECD, bei der das finnische Schulsystem sehr gut abgeschnitten hat. Der daraus entstandene Bildungsdiskurs in Deutschland erreicht bei Katri eine hohe biographische Relevanz für ihre Zukunftsplanung und bei der Gestaltung ihres Migrationsprojektes. Der Bildungsdiskurs drängt Katri in eine Position, in der sie ihr eigenes Migrationsprojekt und die Bildungschancen ihrer Tochter neu überdenkt. Jedoch nehmen nicht nur die Bildungsmöglichkeiten von Katris Tochter, sondern auch Katris eigener alternder Körper einen zentralen Stellenwert in ihren Betrachtungen ein. Katris Traum, ein weiteres Migrationsprojekt im späteren Alter zu unternehmen, und die späteren Lebensjahre in einem »warmen Land« (HE9/280), wie S-Land oder H-Land, zu verbringen, wird nach einem halbjährigen Auslandsaufenthalt revidiert, da Katri ihre Fähigkeit, ihre Fremdsprachenkenntnisse zu verbessern, in Frage stellt. Damit deutet Katri eine Umorientierung ihres Migrationsprojektes an. K: Und ich kann sicherlich nicht mehr meine Spanisch- oder Französischkenntnisse so verbessern -- Und durch diese Erfahrungen und Gedankenspiele kam wieder der Gedanke näher, dass mein Platz vielleicht doch in Finnland ist, dass ich die Tage als Alte dann/im Schneefall und nicht in der Sonne verbringe/(lachend und ich als Interviewerin lache mit). Der Gedanke, dass ich -- hier in Deutschland als Alte bin, ist mir sehr fremd. I: Hm. K: -- Es hat nie eine Rolle in meinen Plänen gespielt, obwohl ich mein Leben/nie geplant habe/(lachend), weil ich ein spontaner Mensch bin. Aber (seufzt) -- der Umzug von einem in das andere Land -- also -- vielleicht beginnt man sich in Richtung Finnland zu orientieren. (HE9/286-9/298)
Das Aufgeben des Zukunftstraumes, der weiteren Migration, wird mit einer möglichen Rückkehrmigration nach Finnland verbunden. Dabei rückt die Tochter als eine Initiatorin des Rückkehrprojekts in den Mittelpunkt, während Katri und ihre Bedürfnisse in den Hintergrund rücken. K: (…) für sie ist es irgendwie klar, dass sie nirgends anderswohin will als nach Finnland. Und es ist für mich auch eine Möglichkeit oder ein bewusster Plan, dass okay, wenn
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wir einen Sommer in Finnland verbringen und dabei schauen wie -- wie es uns dort geht. I: Hm. K: So dass wir vielleicht zwei oder drei Monate dort sind, und wenn es Mari genauso gut wie im letzten Sommer gefällt --/sie war dort fast zwei Monate und ich war nur ab und zu da/-- vielleicht dann -- können wir diese -- Immigration --/aus einem Land in das andere/(lachend) konkretisieren – so dass wir nach Finnland zurückkehren. (HE10/320-10/331)
In diesen Überlegungen lässt sich ein biographisches Dilemma feststellen. Katris Tochter sehnt sich nach Finnland, als einen Ort, der ihr eine Familie geben kann. Für Katri dagegen ist der Rückkehrgedanke nicht nur mit einer neuen Migration und der Zusammenführung einer Familie verbunden, sondern auch mit dem Ende ihres eigenen Migrationsprojektes, das sie seit über 20 Jahren führt. Zugleich markiert es auch das Scheitern von Katris Traum vom Leben im Alter. Ein Freudތscher Versprecher, wobei Katri die finnischen Wörter Problem und Traum durcheinanderbringt, weist darauf hin, dass ihr das Aufgeben dieses Traumes schwerfällt (NFT50/1683). Interessanterweise reflektiert Katri diese Situation aus einer beruflichen Perspektive anhand des Humankapitals, das sie während der Migration gesammelt hat. Diese Überlegungen stellen eine Parallele zu Katris Entscheidung dar, nach Deutschland zu gehen, um durch verbesserte Deutschkenntnisse mehr kulturelles Kapital zu erlangen, das dann später zu ökonomischem Kapitel umgewandelt werden kann. K: (…) Ich weiß, dass ich vielleicht die besten beruflichen Möglichkeiten in Finnland habe. I: Hm. K: -- Vielleicht diese -- Erfahrungen und Sprachkenntnisse, die man gesammelt hat während der letzten zwanzig Jahren --/ich bin auch andernorts gewesen -- in S-Land und in Z-Land/-- es sind vielleicht solche Arbeits- und Lebenserfahrungen, worauf man in Finnland Wert legt, wie hier auch aber -- Ich möchte Richtung Finnland investieren, wenn ich mich entscheide//wenn wir uns entscheiden, dass wir nicht zurück nach Finnland kehren und hier bleiben, dann möchte ich mich beruflich so umorientieren, dass ich mehr mit Finnland zu tun habe. I: Hm. Hm. K: Ich möchte die Kontakte in die Richtung aufbauen. Mal sehen dann, was daraus wird. (HE11/338-11/354)
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Diese Zeilen unterstreichen die Bedeutung von Finnland und der sich dort befindenden Familie für das weitere Leben von Katri und ihrer Tochter. Das Bedürfnis, das Finnische in den Vordergrund zu rücken, dauerhafte Kontakte nach Finnland zu pflegen, die finnische Sprache zu sprechen, sich im Rahmen der finnischen Community zu engagieren, entwickelt sich zu einer biographischen Umorientierung und einem transnationalen Handlungsschema, was das Rückkehrprojekt auf jeden Fall erleichtern könnte. Das Thema einer Rückkehr nach Finnland war zum Zeitpunkt des Interviews sehr gegenwärtig, jedoch hatte es noch keine konkrete Form angenommen. 7.2.3.4. Eine Verortung in der Mobilität und der Vielfalt: »Ich bin nie hier in Deutschland geblieben. Ich bin immer auf dem Sprung gewesen.« (HE19/629-630) Katri entfaltet sich in ihrer biographischen Konstruktion als eine Person, die immer in Bewegung sein muss, immer etwas Neues tun, erfahren und lernen will. Diese Offenheit kommt am Beispiel ihrer Migration nach Deutschland, längeren Auslandsaufenthalten in unterschiedlichen Ländern sowie ihren Rückkehrplanungen nach einer über 20-jährigen Migrationsgeschichte zum Ausdruck. Obwohl sie sich in Deutschland und in der Stadt, in der sie wohnt, zu Hause fühlt, schließt sie eine weitere Migration nicht aus. Vielmehr ist ihr biographisches Handlungsschema durch eine Verortung im Hin und Her gekennzeichnet, die stark mit der beruflichen Mobilität und damit auch mit der Arbeitsmigration verbunden ist. K: (…) Ich bin nie hier in Deutschland geblieben. Ich bin immer auf dem Sprung gewesen. Und okay ich kam zuerst nach Deutschland I: Hm. K: aber ich bin immer gerne von hier irgendwohin anders gegangen. Immer wenn es/eine gute Gelegenheit gab/(lachend). Und es ist immer noch nicht -- immer noch -- keine abgeschlossene Sache, dass man nicht irgendwohin ins Ausland geht, I: Hm. K: -- um dort zu arbeiten. Aber es ist natürlich -- man muss verschiedene Sachen in Betracht ziehen, da ich Mari dabeihabe. (HE19/629-20/639)
Der innere Drang, sich neuen Herausforderungen zu stellen und neue Erkenntnisse zu sammeln, ist typisch für Katris biographische Lebenseinstellung. Dieser ließ sich schon in ihrem ersten Migrationsprozess aus Finnland nach Deutschland feststellen. Dazu gehört eine gewisse Offenheit und Spontaneität in Bezug auf ihre Zukunftspläne. Das Leben in einer internationalen Großstadt bot ihr den
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zwanglosen Lebensrahmen. Gleichzeitig symbolisiert die Stadt für Katri den adoleszenten Möglichkeitsraum (King 1992), der ihr das Aufbauen des eigenen, autonomen Lebens im Ausland ermöglicht. K: (…) bisher bin ich immer gerne nach Deutschland zurückgekehrt I: Hm. K: und auch in die A-Stadt [in Deutschland]. A-Stadt ist immer ein Standpunkt gewesen. Und mein Zuhause ist in der A-Stadt. Ich bin --- (5 sec) wenn ich von Zuhause rede, so ist es die A-Stadt. Sie ist das Zentrum meines Lebens. Es ist sicherlich so, dass ich hier in der A-Stadt irgendwie geistig aufgewachsen oder gereift bin zu dem Mensch, der ich nun bin und den ich mag. I: Hm. K: Irgendwie ist man hier so einen Prozess durchgegangen --- (6 sec) der mir konkret und wichtig für das Älterwerden/gewesen ist und deswegen ist die A-Stadt für mich als Lebensraum -- so ein Zuhause, da ich hier aufgewachsen bin, nicht in der Länge und der Größe da --/bin ich in Finnland aufgewachsen I: Hm. K: und habe meine Kindheit dort verbracht/(…) – aber hier in Deutschland bin ich mehr geistig gereift und selbständig geworden. Mir fällt es manchmal leichter zum Beispiel auf Deutsch zu sprechen -- da --/ich habe das Gefühl, als ich in Finnland war, dass/ich nichts geredet habe/(lachend)/ich über bestimmte Sachen sogar nicht auf Finnisch sprechen kann. (HE20/664-21/688)
Dieses lange, evaluierende und bilanzierende Zitat, das sich am Ende der Haupterzählung befindet, verdeutlicht den biographischen Transformationsprozess, den Katri während ihrer Migration durchlaufen hat. Dabei vermischt sich der adoleszente Individuierungsprozess mit den Migrationserfahrungen. Der Umgang mit verschiedenen Sprachen und die Schwierigkeit, bestimmte Erfahrungen in der jeweiligen Sprache auszudrücken, geben einen konkreten Hinweis darauf, dass in Katris adoleszenter Lebenswelt neue Erfahrungen auftauchen und diese nur in der Sprache der Erfahrung bearbeitet und gedeutet werden können: »und was nun die eigenen Erfahrungen und Gefühle betrifft ist mir das deutsche Vokabular bekannter als das finnische, weil man diese Sachen nicht in Finnland erlebt hat« (HE21/692-21/695). Dieses Zitat weist darauf hin, wie eine sprachliche Vielfalt Katris privates und auch berufliches Leben strukturiert. Die während der Migration gesammelten Erfahrungen und das Leben in verschiedenen Sprachen führen zur Position einer von der Muttersprache Entfremdeten. Die sprachliche Vielfalt führt gleichzeitig zu der Entwicklung eines biographischen Handlungsschemas in den »transnationalen Alltagskulturen« (Römhild 2004: 164), das sie
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in ihrem Beruf, im Studium und auch in ihrer Tätigkeit als ehrenamtliche Konfliktmediatorin in der interkulturellen Arbeit verwirklicht. In Katris biographischer Selbstdarstellung lässt sich somit die Position einer »Nomadin« (Braidotti), der immer Weiterziehenden, erkennen. Jedoch stellt Katris Bedürfnis, eine intakte und stabile Umwelt als Lebensgrundlage für ihre Tochter zu schaffen, ihre Position als Arbeitsnomadin weitgehend in Frage. Zugleich erkennt sie, dass es schwierig ist, die Position ihrer Tochter eindeutig zu definieren, denn die Vielfalt und Komplexität sind gerade typisch für diese Position: K: (…) Solche Kinder wie Mari leben in zwei Welten. – Sie ist hier geboren und in dieser Hinsicht Deutsche, aber ihre Familie ist in Finnland, und sie hat einen finnischen Pass, obwohl der Pass nun an sich nichts bedeutet, aber ihre Wurzeln sind -- sie kommt halb von dort … (NFT38/1256-38/1260)
7.2.3.5. Die Positionierung als eine »unsichtbare«, privilegierte Ausländerin und Migrantin Die Migration in die Bundesrepublik ist nicht nur mit Katris Individuierungsprozess, sondern gleichzeitig mit der Ethnisierung verbunden. Das in der Kindheit begehrte Ausländische und die Sehnsucht nach dem Ausländischen, als das Andere, ist durch Katris eigene Migration zur Erfahrung des eigenen Ausländerseins geworden. Der gesetzliche Status als Ausländerin, der vom Status eines Deutschen oder Einheimischen abweicht, wird zu einem widersprüchlichen Zuschreibungsmerkmal, das Katri nicht nur als äußerliches Beschreibungsmerkmal, sondern als konstitutiv für ihre biographische Subjektivität sowie für die Entwicklung des biographischen Handlungsschemas wahrnimmt. Die Figur der Ausländerin findet in Katris biographischer Erzählung auf unterschiedlichen Ebenen ihren Ausdruck und schreibt gleichzeitig ihren Status als Ausländerin in der hierarchischen Position der nationalen Ordnung fest. Diese Hierarchisierung lässt sich in Katris Erzählung anhand der Differenzen in Bezug auf die Sprache und das Phänotypische feststellen. Ausländerin und die deutsche Sprache
Die Auseinandersetzung mit der Sprache ist eine durchgehende Linie in Katris biographischer Erzählung. Während Katris ursprüngliches Bedürfnis, Deutsch zu erlernen, mit der Erhöhung des Bildungskapitals auf dem finnischen Arbeitsmarkt verbunden war, ist tatsächlich die Aneignung der deutschen Sprache durch Erfahrungen von Außenseitersein und mangelnder Sprachkenntnisse gekennzeichnet.
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K: (…) Man fühlt sich als AusländerIn. -- Aber es ist meiner Meinung nach keine negative Sache. I: Hm. K: Nicht nur. Es hängt immer von der -- Situation ab -- in welchem Kontext. -I: Hm. K: Es ist so -- (seufzt), dass wenn du zu den Ausländerbehörden gehst, ist das Ausländersein dort negativ. Damals am Anfang, als man dort die Aufenthaltserlaubnisse verlängern musste, hatte man immer ein unangenehmes Gefühl, dass das Ausländersein etwas Negatives ist. Und dann (…) insbesondere am Anfang, wenn man schlechtes Deutsch spricht und immer noch mit Akzent -- also -- vielleicht --/es hängt von den Menschen ab/wird man unterschiedlich -- wahrgenommen. I: Hm. K: -- Und vielleicht manchmal dauert es lange, bevor man die Deutschen kennen lernt und mit AusländerInnen ist es nicht so. Das ist eine andere Kategorie. Man muss die Leute besser kennenlernen bevor du richtig ernst genommen wirst als ein gleichberechtigter Mensch. I: Hm. K: Ich denke, dass die Sprache natürlich eine große Rolle spielt, -- wenn jemand -- mit einem Akzent oder schlechtes Deutsch spricht, oder was für eine Sprache auch immer (…) es ist eine Schwelle die man überschreiten muss I: Hm. K: bis das, worüber man spricht, ernst genommen wird. Einige Sprachfehler oder Grammatikfehler klingen negativ im Ohr. Was natürlich unter den AusländerInnen nicht der Fall ist, da wir alle in derselben Situation sind. (NFT31/1025-32/1055)
In ihrer biographischen Narration schildert Katri die schmerzhaften Erfahrungen der unvollkommenen Sprachkenntnisse sowie die spaßigen Situationen, in die sie durch falschen Sprachgebrauch geraten ist. Diese sprachliche Außenseiterinposition (vgl. »marginal man«) gegenüber der deutschsprachigen Mehrheitsbevölkerung wird durch den Umgang mit anderen AusländerInnen kompensiert. Diese, von der Seite der Mehrheitsgesellschaft häufig als eine Art von »Ghettoisierung von AusländerInnen« wahrgenommene Distanzierung ermöglicht jedoch zunächst Geborgenheit und Akzeptanz, durch die die Bearbeitung der Verletzungen, der Selbstunsicherheit und der fehlenden Anerkennung auf der sprachlichen Ebene in der Migration erleichtert wird. K: (…) Es ist ein Thema, was mich betrifft, und wenn man mit anderen ImmigrantInnen zusammen ist. -- Irgendwie haben wir gleich etwas Gemeinsames, also mehr als mit einem Deutschen, der nirgendwo anders war als in Deutschland. Die Migrationserfah-
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rung verbindet Menschen. Es ist natürlich auch ein Grund, warum man von Anfang an -- mehr oder weniger bewusst -- Kontakte mit anderen AusländerInnen gesucht hat. Am Anfang war es so, dass man eine gemeinsame Sprache hatte, weil wir alle Englisch gesprochen haben. Wir haben alle schlecht Deutsch gesprochen, und es war uns leichter, untereinander mit dem schlechten Deutsch klarzukommen I: Hm. K: weil man fühlte sich mehrmals (seufzt) sehr schlecht, minderwertig und als Nichtskönner im Umgang mit der deutschen Sprache bei den Deutschen. I: Hm. K: Damals, als man gekommen ist und/nicht/(lachend) verstanden hat, worüber die Menschen sprachen, und man war ganz draußen und konnte nichts sagen, weil man nicht wusste, worum es geht. Man war nicht sicher, worüber gesprochen wurde. I: Hm. K: Man war natürlich ziemlich isoliert am Anfang -- von allerlei Kommunikation. (HE16/ 513-17/537)
Vor dem Hintergrund des gesamten Interviews deutet der biographisch-narrative Teil mit Katri darauf hin, dass in der Migration eine Entwicklung in Bezug auf ihre sprachlichen Fähigkeiten stattgefunden hat. Während im vorherigen Zitat die Schwierigkeiten betont wurden, zu Beginn des Deutschlandaufenthaltes die deutsche Sprache zu beherrschen, wies Katri am Anfang des Interviews darauf hin, dass es ihr nicht leicht fällt, auf Finnisch über ihre Arbeitswelt und intime und emotionale Angelegenheiten zu sprechen. Vielmehr ist die deutsche Sprache zum Zeitpunkt des Interviews die Sprache, in der sie sich emotional ausdrücken kann. Katris Bemerkungen unterstreichen die Tatsache, dass die deutsche Sprache zu einer unter vielen anderen Sprachen geworden ist, mit der sie sich selbst entfalten kann. Das biographisch-narrative Interview wollte Katri jedoch auf Finnisch führen. Gerade das Beispiel des Sprachgebrauchs sowie die oben erwähnten Rückkehrgedanken verdeutlichen in Katris Biographie ihre hybride und transnationale Positionierung. Sprache markiert für Katri keine Differenz, vielmehr zeichnet sie eine Begegnung aus. Englisch ist die Sprache der Berufswelt, Deutsch des Alltags und Finnisch die Umgangssprache zwischen ihr und ihrer Tochter, die selbst jedoch nur Deutsch und nur in Finnland mit ihrer Mutter Finnisch spricht. Diese »Mehrsprachigkeit« deutet auf eine »transnationale Alltagskultur« (Römhild 2004) als soziale Welt hin, in der Katri mitten in einer deutschen Großstadt, die durch transnationale Verbindungen und Netzwerke gekennzeichnet ist, lebt. Somit kann an der Stelle festgehalten werden, dass der mit dem Erlernen der deutschen Sprache verbundene Auslandsaufenthalt sich mit der Zeit
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zu einer Mehrsprachigkeit und zu einem transnationalen Lebensentwurf entwickelt hat Privilegierte Ausländerin
Aus Katris biographischer Darstellung kann ihre Position als Ausländerin in Bezug auf ihre nationale Zugehörigkeit als Finnin rekonstruiert werden. In der Reflektion ihrer eigenen Positionierung innerhalb der bundesdeutschen Einwanderungsgesellschaft sieht Katri ihr Ausländersein als ein privilegiertes Migrantinsein an. K: (…) im Vergleich zu anderen AusländerInnen habe ich immer das Gefühl gehabt, dass die FinnInnen -- erste Klasse AusländerInnen sind. I: Hm. K: Wir werden hier nicht so behandelt wie zum Beispiel -- die TürkInnen oder AusländerInnen aus Süd-Europa oder Schwarze AusländerInnen (…) Wir haben völlig andere Stellung. -- Wir kommen aus dem Norden -- und es ist -- eine ganz andere Sache. Wir sind irgendwie exotisch - im positiven I: Hm. K: Sinne. (NFT32/1055-32/1066)
Katri fühlt sich wie eine »erste Klasse Ausländerin« (NFT32/1057-32/1058). Diese Positionierung entsteht aus der Wahrnehmung des Ausländerdiskurses aufgrund der ethnisierenden Hierarchisierung.30 Dabei vergleicht Katri ihre Position mit der von AusländerInnen aus der Türkei, Südeuropa oder der von Schwarzen AusländerInnen, wobei sich ihre Position als privilegiert entpuppt und sich für Katri auf den ersten Blick positiv auswirkt. Jedoch ist diese Positionierung als eine besser behandelte Ausländerin aus dem exotischen Norden, die ihr durch ihre finnische Staatsangehörigkeit garantiert wird, eine Subjektposition, die ihr durch den hierarchischen Ausländerdiskurs zugeschrieben wird. Die nationalstaatliche Bezeichnung »FinnInnen« weist hier einerseits auf eine positiv besetzte Exotisierung der FinnInnen als AusländerInnen und andererseits auf eine ethnische Hierarchisierung zwischen den AusländerInnen in der Bundesrepublik hin. Eventuell benutzt Katri den Begriff »Klasse«, um auf die ethnische und rassistische Hierarchisierung unter den AusländerInnen zu verweisen. Zugleich bezieht es sich aber auch implizit auf die sozioökonomische Lage der
30 Silvia Dürmeier (1997) stellte in ihrer Studie »Wer hat Angst vor dem blonden Mann? Schwedische Migranten in Süddeutschland« fest, dass SchwedInnen als »Ausländer erster Klasse« behandelt werden.
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MigrantInnen, die auch zur Hierarchisierung beiträgt und darauf hinweist, dass Ethnizität bereits vergeschlechtlicht und mit Klassenmerkmalen versehen ist (vgl. Lutz 2004: 482). Katris privilegierte Position spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass sie vom Phänotyp her als »Deutsche« durchgehen kann. »Uns sieht man es nicht unbedingt an …« (NFT36/1196). Mit dieser Evaluierung bezieht sich Katri auf den rassistischen Diskurs über »sichtbare und unsichtbare« AusländerInnen. Sie zählt sich zu den »unsichtbaren AusländerInnen« in Deutschland, die nicht, zum Beispiel wegen ihres Äußeren, zum Ziel von rassistisch motivierten Vorurteilen und Angriffen werden. Rassistische Zuschreibungen
Die Bedeutung des Phänotypischen als ein hierarchischer und rassistischer Modus in der Einwanderungsgesellschaft bekommt eine weitere Dimension, als sich herausstellt, dass Katri eine Tochter mit einem schwarzafrikanischen Bildungsmigranten hat. In diesem Kontext taucht wieder die im Zusammenhang mit der Auswanderung festgestellte Konstruktion »des Begehrens des Ausländischen« auf. Die Faszination des »Anderen« konkretisiert sich in der Faszination des anderen Geschlechts ausländischer Herkunft. Im Textabschnitt über ihre Beziehungen mit Männern weist Katri darauf hin, dass ihre Faszination für afrikanische Männer schon mit einem afrikanischen Brieffreund in ihrer Kindheit begann. Diese Faszination deutet sie mit der evaluierenden Aussage: »Von Kindheit an hatte ich Interesse an ganz andersartigen Menschen« (HE23/764-767). An dieser Stelle ist jedoch nicht aufzuschlüsseln, was Katri mit der »Andersartigkeit« tatsächlich meint. Es liegt die Vermutung nahe, die aus einer Normalitätsvorstellung über einen Weißen Mann heraus entsteht, dass es hier eventuell um Schwarze Männer als »andersartig« geht. Diese Vermutung bestätigt sich im weiteren Verlauf des Interviews. Dieses Nicht-Benennen kann darauf zurückgeführt werden, dass Katri bewusst gegen die Konstruktion eines exotischen und kulturalisierenden Geschlechterverhältnisses zwischen einer Weißen Frau und einem Schwarzen Mann steuern will. Was aber hier »anders« genannt wird, ruft das kindliche Spiel und die Negation des finnischen Ehemannes in Erinnerung, die im Zusammenhang mit »dem Begehren des Ausländischen« am Anfang des Interviews thematisiert wurde. Aus diesem Zusammenhang findet die Ablehnung eines Weißen finnischen Mannes ihren Gegenpol, und das Sehnen nach dem
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»Anderen« wird zum Sehnen nach einem Schwarzen afrikanischen Mann.31 Bei der Evaluation ihrer Beziehungen und ihres Scheiterns distanziert Katri sich explizit von dem stigmatisierenden Diskurs der kulturellen Unterschiede. Aus Katris Biographie ist jedoch zu lesen, dass die Konflikte möglicherweise etwas mit unterschiedlichen vergeschlechtlichten Lebensvorstellungen zu tun haben können: Katri hat von früh an ein starkes Autonomiebedürfnis, und um ein »autonomes Leben« führen zu können, verzichtet sie später auf das gemeinsame Familienleben, da sie ihrem Freund nicht ins Ausland folgen möchte. Stattdessen verwirklicht sie ihre Träume durch finanzielle Unabhängigkeit, die ihr die Halbtagsberufstätigkeit bei einer internationalen Bank garantiert, sowie durch das Studium, das ihr den Freiraum gibt, ihr gesellschaftliches Interesse und ihre interkulturelle Arbeit miteinander zu verbinden. Während Katri in ihrer biographischen Darstellung ihre Position als eine »unsichtbare« und »privilegierte« Ausländerin durch die Markierung der Weißen Hautfarbe betont, wird ihr Freund, der Schwarze Migrant, durch seine Hautfarbe als Anderer, als Fremder in Deutschland markiert. In dieser dichotomen und rassistischen Konstruktion läuft als Hintergrundkonstruktion eine stereotype und homogenisierende Vorstellung des Weißen Deutschlands mit, in der andere Hautfarben nicht anwesend sind. Andererseits ist diese Konstruktion wiederum eine Positionierung auf dem diskursiven Feld des Rassismus, das eine dichotome Positionierung herstellt. Durch diese Konstruktion bekommt die eigene »Unsichtbarkeit« als Weiße Migrantin ihren Gegenpol in der »Sichtbarkeit« eines »Schwarzen Migranten«. Andererseits spiegelt sich in diesem Gedanken die eigene Position als eine »unsichtbare«, »privilegierte« Weiße Mittelschichtmigrantin in Deutschland wider, die als Deutsche durchgehen kann. Die Konstruktion von Hautfarbe als Weiß oder Schwarz weist gleichzeitig auf die Macht der phänotypischen, körperlichen Merkmale in der Konstruktion von rassifizierenden und rassistischen Scheidelinien und Ausgrenzungen hin. Durch die Markierungen von Schwarz-Weiß werden rassifizierende Subjektpositionen konstruiert, und damit tritt, durch die Dichotomisierung und Polarisierung von Schwarz-Weiß, die rassifizierende Identitätskonstruktion in den Vordergrund von Katris biographischer Entfaltung. Die Konstruktion der Hautfarbe als Weiß oder Schwarz verweist gleichzeitig auf die Macht der phänotypischen, körperlichen Merkmale in der Konstruktion von rassifizierenden und rassistischen Scheidelinien und Ausgrenzungen. Katri ist eine Weiße Frau in unter-
31 Siehe auch die Lesart der Sehnsucht nach einem ausländischen Mann als ein Versprechen der Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten durch einen sexualisierten »Anderen«.
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schiedlichen Kontexten; in Deutschland, in Afrika und in der Karibik. Sich als Weiße Frau und Weiße Migrantin in Deutschland zu verstehen, hat einen weiten Interpretationsraum: sich mit der Dominanzkultur und der Mehrheitsbevölkerung zu identifizieren, sich in der Geschichte von Deutschlands rassistischer Vergangenheit und Gegenwart zu verorten und die Geschichte des Kolonialismus und der postkolonialen Lage auf sich einwirken zu lassen. Während Katri sich bzw. ihren Freund im Rahmen dieser binären Oppositionen als Weiße Frau bzw. Schwarzen Mann, als »unsichtbare/r« bzw. »sichtbare/r« AusländerIn und MigrantIn in Deutschland und in anderen Ländern und Kontinenten zu definieren versucht, gerät diese Konstruktion ins Wanken, wenn sie über ihre gemeinsame Tochter spricht. K: (…) Meiner Meinung nach hat man hier genug Aufmerksamkeit bekommen. (…) Aber ich habe auch für bestimmte Zeit in Afrika gelebt und dort in X-Land und da bekommt man sehr viel Aufmerksamkeit -- insbesondere in Afrika -- als Weiße. -- Es ist (…) eine Überproportion. Es ist aber positive Aufmerksamkeit – (…) ich könnte nicht//ich würde es nicht mögen dort zu leben. (…) ein Grund, warum wir mit Mari ins Ausland gingen war – weil Mari -- ein Schwarz-Weißes (mustavalkoinen) Kind ist. Deswegen [bekommt] sie hier viel Aufmerksamkeit. (…) wenn wir in Afrika sind, bekommt sie dies auch, weil sie dort Weiß ist I: Hm. K: oder nur Halb-Weiß I: Hm. K: Schwarz-Weiß. – Und ich suchte ein Land, wo wir es verwirklichen können (…), dass sie sich nicht unterscheidet (…) I: Hm. K: von der Mehrheit. Und das X-Land war meine erstes (…), wo man es verwirklichen könnte, weil es dort sehr viele solche -- Mischlinge – [gibt] aber die Jahreszeit passte nicht (…) I: Hm – hm. K: (…) und das Y-Land//(…) Mari sieht aus wie eine aus dem Y-Land, und ich dachte, -dass es ihr gut tut und es stimmte. I: Hm. K: Mari sah dort in keiner Art und Weise – anders als die Anderen aus – und sie bekommt das was ich wollte: dass sie für bestimmte Zeit ihres Lebens in einer Umgebung leben kann, wo sie ganz – dass sie sich in keiner Art und Weise von Ihrem Aussehen von den Anderen unterscheidet. I: Hm.
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K: Es war eine sehr gute Sache. Und noch mal darüber, dass man hier auch bestimmte Aufmerksamkeit bekommt, wenn die Menschen wissen, dass du Finne/Finnin bist. I: Hm. K: Uns sieht man es nicht unbedingt an. I: Hm. K: Aber dann, -- obwohl es interessant wäre irgendwo anders noch zu leben, will man dort jedoch nicht zu viel Aufmerksamkeit/Interesse bekommen. Weder negatives I: Hm. K: noch positives. (NFT35/1159-36/1202)
Katri weist darauf hin, dass ihre Tochter, anders als sie selber, »viel Aufmerksamkeit« in Deutschland bekommt, weil sie »ein Schwarz-Weißes Kind ist«. Auf die Relationalität dieser Konstruktion weist der Hinweis, dass ihre Tochter, als »Mischling« (NFT35/1180), je nach Kontext entweder als Weiß oder Schwarz wahrgenommen wird. Katri entwickelt hier einen weiteren Deutungshorizont, in dem sie die Hautfarbe ihrer Tochter erklären will. Da sie selbst als »unsichtbare Ausländerin« vergesellschaftet ist, will sie ihrer Tochter, durch lange Auslandsaufenthalte, die gleiche Erfahrung von »sich nicht immer von den anderen unterscheiden zu müssen« bzw. »als Native durchgehen zu können« (Passing)32, ermöglichen. Gleichzeitig fühlt sie sich selbst, in diesen Situationen, als »sichtbar« und als Weiße, privilegierte Frau, die wegen ihres autonomen und unabhängigen Verhaltens als alleinerziehende Frau auffällt. K: (…) ich habe das Gefühl, dass -- in Finnland -- als Frau hast du eine bessere gesellschaftliche Position. Du bist gleichberechtigter -- im Sinne, wie du wahrgenommen wirst -- aber meine Erfahrungen sind natürlich zwanzig Jahre I: Hm. K: alt. Aber so habe ich es erfahren. Während die Erfahrungen in Afrika und im Y-Land anders waren, im Sinne, dass du nicht nur eine Frau bist, sondern dass du auch Weiß bist. Und dazu gehört eine bestimmte Position. Das kann man nicht vergleichen -- mit den Erfahrungen, die man in Deutschland und I: Hm. K: in Z-Land gemacht hat. Es ist eine andere Sache. Dort wirst du als Frau in eine Schachtel gesteckt, da du weiß bist und da du aus Europa kommst und wohlhabend und selbständig bist (seufzt) -- Und es hat sicherlich irgendwie ins Auge gestochen, dass wir als
32 Im US-amerikanischen Kontext wurde der Begriff »Passing« für Menschen gemischter Herkunft, die eine helle Hautfarbe aufwiesen und somit als Weiße durchgehen konnten, angewandt (vgl. Beck-Gernsheim 1999: 49).
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Frauen dort waren. Im Y-Land war es auch ein Thema, als ich dort alleine mit meiner Tochter war. Es war schon eine besondere Sache, dass du für ein halbes Jahr I: Hm. K: in ein ganz fremdes Land gehst, und du kennst dort keinen, und du weißt nicht, wohin du gehst und wie du dich so was traust zu machen. Und als wir in Afrika herumreisten -- als Frauen. I: Hm. K: Mein Freund/Meine Freundin arbeitete dort an der Universität. Und wir waren bei ihr als Gäste und sind dann herumgefahren. Wir waren zwei Frauen und zwei kleine Mädchen. Wir sind dann mit einem Jeep gefahren. Und sie haben uns angeschaut, dass/wo die Männer sind/(lachend und ich als die Interviewerin lache mit). Mir fällt es schwer zu unterscheiden, was es nun ist, wenn du Weiß bist und deswegen I: Hm. K: viel Aufmerksamkeit bekommst und I: Hm. K: es gibt bestimmte Erwartungen dir gegenüber und dann bist du noch eine Frau. Aber das Frausein habe ich sicherlich am leichtesten in Finnland erlebt, I: Hm. K: -- als gleichberechtigter dem Mann gegenüber als hier und in Z-Land. I: Hm=hm. K: In der Hinsicht ist es ein Rückschritt gewesen, den ich gemacht habe, als ich hierher kam I: Hm. K: -- aber in der Berufswelt wiederum hat es keine Rolle gespielt, ob du jetzt Mann oder Frau bist. -- Tja, im Finanzwesen gibt es natürlich viele Frauen -- aber nicht nur. I: Hm=hm. K: Ich denke schon, dass die Aufstiegschancen die gleichen gewesen sind. --/Oder ich weiß nicht/(leise und lachend). (NFT39/1299-40/1350)
Interessanterweise verschiebt sich die Bedeutung des Phänotypischen wieder, wenn sie über die Bildungschancen ihrer Tochter nachdenkt. In ihrer Überlegung, nach Finnland zurückzukehren, um ihrer Tochter bessere Bildungsmöglichkeiten zu geben, scheint die Schwarz-Weiße Hautfarbe kein Problem mehr darzustellen. An dieser Stelle überwiegen in Katris Erzählung ihre Bildungsambition und die Herstellung einer biographischen Kontinuität und eines Handlungsschemas aufgrund des Bildungsaspektes. Es kann festgehalten werden, dass Katris Erzählung Hinweise darauf gibt, wie ihr Vergesellschaftungsprozess in der Migration von unterschiedlichen gesellschaftlichen Differenzierungen durchkreuzt wurde. Sie ist nicht nur doppelt
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(Becker-Schmidt 1987) oder dreifach (Lenz 1996)33 vergesellschaftet, sondern in ihrem Vergesellschaftungsprozess vermischen sich sowohl »lokale« als auch transkulturelle und transnationale Strukturen, Diskurse, Macht- und Hierarchieverhältnisse, zum Beispiel in Bezug auf die rassistische Konstruktion von Weißsein und Schwarzsein. Die eigene Positionierung findet nicht nur als Selbst- oder Fremdzuschreibung aufgrund der hierarchischen Strukturen am Ort statt, sondern beinhaltet einen weiteren Deutungsraum, der mit den transnationalen Diskursen und Hierarchien zusammengebracht wird. Somit ist die Subjektkonstitution durch die komplexen und zum Teil kontroversen und hybriden Positionen von Verortung und Entortung gekennzeichnet und verweist auf eine »translokale Positionalität« (Anthias 2002: 502). Dies wird daran deutlich, wenn sich Katri als Weiße Frau (rassistische Markierung) an unterschiedlichen Orten, als Finnin (Ethnizität) sowie als »unsichtbare« Ausländerin/Migrantin in Deutschland deutet und dadurch ihre eigene, jeweilige Subjektposition mit den damit einhergehenden unterschiedlichen gesellschaftlichen Hierarchien verbindet. Anders gesagt ermöglichen bzw. zwingen diese Diskurse Katri zu bestimmten Positionen, die ihr wiederum unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten eröffnen bzw. verschließen. In Katris biographischer Erzählung wird es durch die Erfahrung der rassistischen Konstruktion, als »unsichtbare Ausländerin/Migrantin« bzw. als »Deutsche wahrgenommen zu werden«, möglich, das Weißsein als eine Position struktureller Vorteile in Gesellschaften, die rassistisch geprägt sind, zu thematisieren. Diese Subjekt- und Identitätsposition weist auf eine biographische Verortung und Vergesellschaftung in gesellschaftlichen Hierarchien hin, die sich nicht nur aus dem gesetzlichen Status als Ausländerin heraus begründen, sondern auch die Berücksichtigung von anderen hierarchischen Differenzen und deren Zusammenwirken benötigen. Durch die biographische Rekonstruktion war es nun möglich, die Prozesse herauszuarbeiten, in denen sich Katri unterschiedliche Subjektpositionen in den jeweiligen sozialen Wirklichkeiten, die aufgrund der Kategorien von Geschlecht und Ethnizität/»Rasse« organisiert sind, aneignet und wie diese Subjektpositionen ihre Handlungsfähigkeit beeinflussen. K: (…) im Allgemeinen ist es für mich positiv gewesen, also ich habe sie positiv erfahren, also die Aufmerksamkeit, die ich bekommen habe, ist positiv gewesen.
33 Während das Konzept »doppelte Vergesellschaftung« die gleichzeitige gesellschaftliche Einbindung von Frauen einerseits in den Arbeitsmarkt und andererseits in den Reproduktionsbereich ausdrückt, werden durch das Konzept »dreifache Vergesellschaftung« diese Vergesellschaftungsmodi durch den Nationalstaat erweitert.
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I: Hm. K: Es ist nie so gewesen, dass ich jetzt weg von hier gehe. Nie so, sondern umgekehrt. Ich habe diese multikulturelle Umgebung als etwas Positives empfunden, und ich würde sie in Finnland vermissen. I: Hm. K: Sie ist mit ein Grund gewesen, warum ich nicht zurück nach Finnland gehe, da es sie dort nicht gibt. – Es gibt dort so I: Hm. K: wenig AusländerInnen -- und (….) -- meiner Meinung nach ist es gut, dass die Menschen sich mischen. I: Hm=hm. K: -- Und dass sie zusammenkommen, obwohl es manchmal auch sehr schwierig sein kann. – (…) aber das hat auch die andere Seite I: Hm. K: es kann auch etwas Bereicherndes sein. -- Und mich persönlich hat es sehr bereichert im Sinne, dass man die Sachen aus unterschiedlichen Blickwinkeln sieht. (NFT34/1117-34/1144)
Dieses Zitat verweist auf Katris Umgang mit der gesellschaftlichen Vielfalt. Für sie sind Differenzen mit der Anerkennung der Verschiedenheit verbunden. Gleichzeitig betont sie jedoch das »Mischen«, das Zusammenkommen von unterschiedlichen Menschen als einen wichtigen Bestandteil ihrer Persönlichkeitsentfaltung. Dieses Zusammenkommen hat bei Katri einen biographischen Transformationsprozess ausgelöst, in dem sich unterschiedliche Wissensbestände, Erfahrungen und symbolische und materielle Praktiken vermischen. Dabei entsteht ein biographisches Wissenssystem als ein neuer Bezugsrahmen, der nicht mehr von binären Kulturmodellen und nationalen Merkmalen ausgeht, sondern transnationale und transkulturelle Züge aufweist und einen neuen, geographische Grenzen überschreitenden Erfahrungsraum kreiert. K: (…) Menschen, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben, können vielleicht auch nicht verstehen, I: Hm. K: worum es geht. Ich weiß nicht, wenn man zurück nach Finnland geht, ob man das Gefühl hat, dass etwas fehlt, wenn man mit anderen Leuten zusammen ist, die nie im Ausland waren. Ich denke schon klar -- das ändert dich sehr. Wie du handelst und denkst und wie man Sachen betrachtet. Ich denke schon, dass es Einwirkung hat -- aber ich kann nichts Konkretes sagen. (NFT34/1146-35/1154)
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7.2.3.6. Zusammenfassende Betrachtungen Das Typische des Einzelfalls
Katri stellt ihre Lebensgeschichte anhand der Gestaltung verschiedener Migrationsprojekte dar. Dabei kreist die Gesamtgestalt Katris biographischer Konstruktion um die erfolgreiche Lebensbewältigung als Migrantin und alleinerziehende Mutter in Deutschland, die der naheliegenden Vermutung einer prekären bzw. unsicheren Lebenssituation als doppelt Benachteiligte gegensteuert. In ihrer biographischen Rekonstruktion stellt sich Katri als ein handelndes Subjekt, als ein »agent of her life«, dar. Die drohenden krisenförmigen Verlaufskurven werden erfolgreich gemeistert und ihre Biographie zeigt keine Momente des Kampfes oder des Prozessiertwerdens. Aus Katris biographischer Darstellung lässt sich das Bild einer selbstständigen, bildungs- und berufsorientierten Frau34 herauslesen. Sowohl in ihrem biographischen Lebensentwurf als auch in ihren persönlichen Entscheidungen spiegeln sich ihre starke Allgemeinbildungsaspiration sowie ihr starkes Autonomiebestreben und ihre Suche nach der Erweiterung ihrer Handlungsspielräume wider. Katri ist ein Beispiel für die Generation von finnischen Frauen, die u.a. durch die, im Gegensatz zur Generation ihrer Mütter, erhöhten Bildungschancen ihre Selbstbestimmung und Emanzipation erreichen konnten. Typik des Migrationsprozesses: Herstellung von neuen Handlungsspielräumen
In Katris Migrationsprozess kann ein Zusammenhang zwischen dem adoleszenten Individuierungsprozess, dem Begehren des Neuen und des Anderen als das »Ausländische« mit der gleichzeitigen Negation des national-normativen sowie einer allgemeinen Bildungsaspiration festgestellt werden. Während die Au-pair-Stelle ihr gleich die Möglichkeit eröffnet hätte, ins Ausland zu gehen, und Katri dabei den Fußspuren ihrer Schwester gefolgt wäre, entscheidet sie sich für eine berufliche Ausbildung in Finnland, die ihr dann im Weiteren das Ins-Ausland-Gehen ermöglichen sollte. In der Entscheidung, nicht als Au-pair ins Ausland zu gehen, spiegelt sich Katris Bedürfnis, Unabhängigkeit durch ihre finanzielle Sicherheit und möglichst große Selbstständigkeit zu erreichen, wider. Somit wurde wegen des Bildungsprojekts das Bedürfnis, ins Ausland zu gehen, aufgeschoben. Obwohl Katri später über ein deutschfinnisches berufliches Austauschprogramm nach Deutschland kommt, verbindet
34 In Katris sowie in den anderen untersuchten Biographien meines Samples nehmen Themen wie Bildung, Ausbildung, Berufsleben und Familie als Teile der Subjektkonstitution und Prozesse der Vergesellschaftung viel Raum ein.
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sie diesen Aufenthalt nicht mit ihrer beruflichen Qualifikation, sondern mit dem Bedürfnis, die deutsche Sprache zu lernen und dadurch ihr Bildungskapital auf dem finnischen Arbeitsmarkt zu erhöhen. Der für ein Jahr geplante Auslandsaufenthalt, der Katri neue Handlungsspielräume in einem transnationalen Lebenskontext eröffnet, führt letztendlich zu ihrer Migrationsentscheidung. Auch die weiteren Auslandsaufenthalte, die Entscheidung, mit dem Freund getrennte Wege zu gehen, da das Zusammenbleiben einen weiteren Umzug in ein anderes Land bedeutet hätte, sowie das Rückkehrprojekt lassen sich alle in Katris biographischer Rekonstruktion aus der Perspektive der Erweiterung bzw. der Eröffnung neuer Handlungsspielräume wiedergeben. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich auch in Katris biographischer Erzählung unterschiedliche Mobilitäts- und Migrationsprozesse rekonstruieren lassen, die jedoch vor allem während Katris Leben in der Migration stattfinden. Die Mobilität scheint dabei als ein biographisches Handlungsschema zu fungieren, das Katri eine Erweiterung ihrer Handlungsspielräume ermöglicht: »Ich bin nie hier in Deutschland geblieben. Ich bin immer auf dem Sprung gewesen« (HE19/629-630). Biographische Verortung
Katris Lebensgeschichte lässt sich als eine Geschichte einer bildungsorientierten, emanzipierten Frau rekonstruieren. In ihrer biographischen Erzählung präsentiert Katri sich als ein transnationales Migrationssubjekt, dessen Leben im Zusammenspiel von verschiedenen Mobilitäts- und Migrationsprozessen und den damit einhergehenden biographischen Veränderungen zu verstehen ist. Vor dieser Folie erscheint ihr Leben als ein transkulturelles und transnationales Projekt,35 das rückblickend schon in ihrer frühen Kindheit erste Hinweise auf die zukünftige Lebensgestaltung enthielt und mit dem »Begehren des Ausländischen« ein biographisches Handlungsschema aufwies. Dies führt zusammen mit einem Individuierungsprozess und Bildungshunger zu einer hohen Mobilitätsbereitschaft. Bezeichnend für dieses Lebensprojekt ist nicht nur die Mobilität, sondern auch eine bestimmte Offenheit und Neugier, die durch die Bereitschaft, immer etwas Neues zu lernen und zu entdecken, zum Ausdruck kommt.
35 Die Transkulturalität und Transnationalität wird hier zu einem »Bezugsrahmen, der nicht mehr von nationalen Merkmalen oder binären Kulturmodellen ausgeht, sich jedoch im ›nationalen Rahmen‹ ereignet. Sie bezeichnet ein Jenseits nationaler Logiken und benennt zugleich die noch fortdauernde Kontextgebundenheit der Subjekte im Nationalstaat« (Gutiérrez Rodríguez 1999a: 196).
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Auf den ersten Blick scheint Katri ein Beispiel für die erwünschte »Integration«36 von MigrantInnen in die deutsche Gesellschaft zu sein. Sie eignet sich die deutsche Sprache an, besitzt einen deutschen Bildungsabschluss, ist beruflich erfolgreich und bringt Familie und Beruf unter einen Hut. Auf den zweiten Blick sieht alles etwas komplizierter aus. Sie lebt in einer transnationalen Konstellation: Sie meistert nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch andere Fremdsprachen, die sie sowohl in ihrem beruflichen Alltag als auch im Privatleben benötigt. Obwohl Katri beruflich Erfolg hat, erlebt sie diesen nicht in ihrem Wunschberuf, für den sie sich durch den deutschen Bildungsabschluss qualifiziert hatte. Außerdem kann sie als alleinerziehende Mutter die Familie und den Beruf nur zusammenbringen, indem sie ihre Ansprüche in anderen Bereichen zurücknimmt. Sie hat sich für die Familie entschieden und somit ihren beruflichen Aufstieg oder eine mögliche Umorientierung ausgeschlossen bzw. bis zum Zeitpunkt des Interviews aufgeschoben. Insgesamt hat das Leben in der Migration Katris biographische Entwicklung beeinflusst und biographische Veränderungsprozesse auf der Ebene ihrer Zugehörigkeit und des biographischen Handelns ausgelöst. Als Ausländerin gehört Katri zu der Gruppe der »privilegierten« Migrantinnen. Auch wenn sie zum Zeitpunkt des Interviews als EU-Migrantin gilt und somit bestimmte Privilegien genießt, ist sie schon in den 1980er Jahren in die Bundesrepublik eingewandert, als Finnland noch kein Mitgliedsstaat der EU oder der damaligen Europäischen Gemeinschaft war. In Katris Fall lässt sich die »Privilegiertheit« daher eher auf der Ebene der positiv konnotierten nordischen Exotik, der »Unsichtbarkeit« und des Weißseins als auf der Ebene des Ausländerstatus rekonstruieren. Die biographische Konstruktion dieser Privilegiertheit und der damit verbundenen Differenzkonstruktionen konnte in Katris Biographie
36 Für eine Kritik des Integrationsbegriffs, der eine dichotome Auffassung von Ein- und Ausschlussprozessen impliziert, siehe zum Beispiel die Studie von Anne Juhasz und Eva Mey (2003). In ihrer Studie wurde anhand von biographischen Einzelfallanalysen gezeigt, wie »Jugendliche insbesondere in tiefen Positionen im sozialen Raum gerade dann große Einschränkungen ihrer Handlungsautonomie in Kauf nehmen müssen, wenn sie gegen außen »angepasst« und »integriert« wirken. Umgekehrt sind auch bei Jugendlichen, die einen sozialen Aufstieg vollzogen haben und damit über größere Möglichkeitsräume verfügen, mit der »Integration« nicht alle Probleme aus dem Weg geräumt, solange ihnen Anerkennung und Zugehörigkeit verweigert werden. Zweitgenerationsangehörige lassen sich weder pauschal als »Etablierte« noch als »Außenseiter« bezeichnen, vielmehr findet sich in ihren Biographien ein komplexes und sich über die Zeit wandelndes Ineinandergreifen von sozialen Aufstiegs- und sozialen Ausschlussprozessen« (a.a.O.: 336).
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nicht nur im Kontext der lokalen, sondern auch »globalen« Deutungsstrukturen und Diskurse, der transkulturellen und transnationalen Bindungen und Ungleichheitsverhältnisse rekonstruiert werden. Demzufolge findet die Selbst- oder Fremdzuschreibung nicht nur am Ort statt, sondern wird durch den Bezug auf die rassifizierenden Zuschreibungen mit »weltweiten« Diskursen und Hierarchien zusammengebracht. Die politische Dimension von Differenz und Ungleichheit einerseits und deren psychosoziale und biographische Bearbeitung andererseits lassen sich in Katris biographischer Rekapitulation als eine Synthese unterschiedlicher Wissensformationen deuten. Aus dieser Synthese entstehen das biographische Wissen sowie neue Wissensbestände, die neu kontextualisierte Subjektkonfigurationen (Lenz 1996) und Selbstentfaltungen ermöglichen. Dies wird zum Beispiel daran deutlich, wie Katri in ihrer Biographie ihre Position als »Ausländerin« und Weiße Frau an unterschiedlichen Orten, als Finnin (ethnischnationale Zugehörigkeit) und als »nicht sichtbare« Ausländerin in Deutschland deutet und diese Positionen mit unterschiedlichen kontextualisierten, gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Hierarchien, die ihr privilegierte Handlungsmöglichkeiten eröffnen, verbindet. Während sich bei der Entstehung von Katris Migrationsprojekt, aus Finnland nach Deutschland, eine Distanzierung vom Finnischen rekonstruieren ließ, findet in der Migration, durch Katris Tochter, eine positive Herstellung und Artikulation des Finnischen in Form einer Selbstethnisierung statt. Dies ermöglicht Katri eine Annäherung und die Identifikation mit dem Finnischen aus einer transnationalen Perspektive. Die Konstruktion des Finnischseins ist dabei mit der Subjektivierung, den Zugehörigkeitsvorstellungen und dem biographischen Handeln verbunden, die darauf abzielen, eine ethno-generative Kontinuität herzustellen, die zugleich eine maximale Handlungsfähigkeit ermöglicht und somit zur Konstituierung einer transnationalen Familie führt. Die multiplen biographischen Subjektkonfigurationen und subjektiven Verortungen, die sich nun aus Katris Biographie rekonstruieren lassen, können als eine weitere Variation von hybrider, transnationaler biographischer Verortung bzw. transnationaler biographischer Positionierung im Sinne von »translokaler Positionalität« (Anthias 2002) gedeutet werden. Diese Verortungsstrategie ist ein Ergebnis, das den Zusammenhang des Lebens in der Migration mit den biographischen Prozessen verdeutlicht und auf die »biographische Haftung« der gesellschaftlichen und diskursiven Geschlechter- und Ethnizitätskonstruktionen hinweist. In Katris Fall konnte gezeigt werden, dass diese Konstruktionen eine hohe biographische Relevanz besitzen und somit Katris biographische Verortung sowie die Entwicklung ihres biographischen Handlungsschemas steuern.
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7.3.
S EIJA: »F IRST DAY (HE9/290-9/291)
OF MY NEW LIFE BEGINS NOW .«
Anhand der folgenden biographieanalytischen Darstellung von Seijas Lebensgeschichte eröffne ich nun eine weitere biographische Perspektive auf biographische Konstruktionen von Migration, Ethnizität und Geschlecht. Dabei konzentriere ich mich auf die Rekonstruktion von biographischen Prozessen im Zusammenhang von Seijas Migrationsgeschichte. In Seijas Biographie lassen sich sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zu den vorher diskutierten Biographien von Saara und Katri feststellen. In all diesen hier diskutierten Biographien sowie in den Biographien des gesamten Samples konnte ein Individuierungsprozess festgestellt werden, der einen Zusammenhang zwischen dem familiären Ablösungsprozess und dem Bildungserwerb verdeutlicht. Dabei stellt die Auslandsorientierung und die später folgende Migration eine Möglichkeit dar, einen eigenen bildungsorientierten Individuierungsprozess fortzusetzen. Jedoch unterscheidet sich Seijas Biographie von den Biographien von Saara und Katri dadurch, dass die durch Bildung angestrebte Individuierung und Individualisierung nur graduell erreicht wird und dies zu einem permanenten Kampf um die Selbstbestimmtheit führt. Vor diesem Hintergrund lassen sich Seijas verschiedene Migrationsprojekte als Problembewältigungsstrategien deuten, die durch die Dynamik eines Bruches mit dem Alten (»loss«) und Beginn des Neuen (»challenge«) gekennzeichnet sind. Dadurch stellen sie einen maximalen Vergleich zu Saaras und Katris Migrationsprozessen dar. 7.3.1. Unsere Begegnungen: Anmerkungen zum Interview Kontaktaufnahme und Bias
Den Kontakt zu Seija stellte ich im Rahmen der finnischen Community her. Zum Zeitpunkt meiner empirischen Feldforschung war sie dort ehrenamtlich tätig. Als ich hörte, dass sie in näherer Zukunft auswandern würde, und weil ich gerade solche Migrantinnen als Interviewpartnerinnen suchte, die mehrere Migrationsprojekte hinter oder vor sich hatten, wandte ich mich an sie. Ich nahm zunächst per E-Mail und später telefonisch Kontakt mit ihr auf,37 um sie für ein biographisch-narratives Interview zu gewinnen. Seija interessierte sich für mein For-
37 Ich habe unterschiedliche Mittel angewandt, um meine eventuellen Interviewpartnerinnen zu kontaktieren; direkte Ansprache, Vermittlung über eine dritte Person, Telefon, Brief und E-Mail.
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schungsvorhaben und drückte gleich ihre Bereitschaft aus, mit mir ein biographisch-narratives Interview führen zu wollen. In unserem telefonischen Vorgespräch gab ich Seija die Möglichkeit, den Ort für die Interviewführung auszusuchen. Da Seija für die Zeit der Interviewführung eine Babysitterin zu Hause benötigte, bot es sich an, das Interview ungestört an der naheliegenden Universität zu führen. Interviewsituation; Auszüge aus den Forschungsnotizen
Vor unserem Treffen blätterte ich noch in den Forschungsnotizen über bereits geführte Interviews sowie in den von mir gefertigten Interviewvorbereitungsblättern, um mich auf das Interview vorzubereiten. Obwohl Seijas Interview schon das achte Interview meines Samples darstellte und ich somit schon eine bestimmte Routine in der Interviewführung hatte, war die Begegnung mit einer noch unbekannten Person mit einer bestimmten Aufregung verbunden. Zum verabredeten Zeitpunkt klingelte mein Telefon und ich befürchtete, dass Seija den Termin absagen wollte. Es war tatsächlich Seija, die sich für ihre Verspätung aufgrund ihrer familiären Situation entschuldigte. Als Seija dann eintraf, setzten wir uns an einen Tisch, den ich zum Kaffeetrinken gedeckt hatte. Seija beobachtete aufmerksam die Umgebung und erzählte, dass die universitäre Umgebung bei ihr Erinnerungen an die Universität, an der sie studiert hatte, weckte. Wir führten noch einen kleinen Smalltalk und Seija erkundigte sich nach meiner Untersuchung. Ich erklärte ihr mein Forschungsvorhaben und versicherte noch einmal meine Absicht, die von mir geführten biographisch-narrativen Interviews einer Anonymisierung und Maskierung zu unterziehen. Bevor wir mit dem Interview begannen, fragte Seija nach einem Stift, um sich während des Interviews Notizen machen zu können. Während sie zu Beginn des Interviews noch einige Anmerkungen auf dem Papier festhielt, vergaß sie während ihrer Erzählung allmählich das Notieren. Anmerkungen zum Interview
Das Gesamtinterview dauerte ohne Unterbrechungen ungefähr drei Stunden. Die Tonbandaufzeichnungen entsprechen insgesamt 67 transkribierten Seiten, davon umfassen 25 Seiten die Haupterzählung und 42 Seiten den Nachfrageteil sowie die Bilanzierungsphase und das Telefongespräch, das nach dem Interview geführt wurde. Das Telefongespräch, das unmittelbar auf das Interview folgte, diente zur Klärung einiger noch offener Fragen. Seija erzählt ihre Lebensgeschichte fließend und reflektierend. Sie erzählt auf Finnisch, wechselt ab und zu die Sprache auf Englisch, drückt etwas auf Deutsch aus, aber kehrt dann wieder zum Finnischen zurück. Seijas Erzählung
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orientiert sich in der Haupterzählung an der Erzählung über ihren familiären Ablösungsprozess, der Beziehungskonstellationen, der Probleme während des Lebens in der Migration und an der Bewältigung unterschiedlicher Migrationsprozesse. Die inhaltliche Struktur entwickelt sich nicht wie in Saaras Interview anhand der chronologischen Darstellung oder wie in Katris anhand der Darstellung verschiedener Migrationsprozesse, sondern an Seijas Auseinandersetzungen und Konflikten mit Autoritäten in verschiedenen Lebensphasen und an ihren Versuchen, Selbstständigkeit und Handlungsautonomie zu gewinnen. Seija beendet ihre Haupterzählung mit der Anmerkung, dass sie die wichtigsten Sachen aus ihrem Leben erzählt hat. S: Das sind jetzt im Großen und Ganzen die wichtigsten Sachen. I: Hm. S: Man könnte noch weiter erzählen aber ich kann nicht so richtig//ich weiß nicht, was ich noch mehr sagen könnte. I: Hm. S: Im Großen und Ganzen wurden alle Sachen schon behandelt. (HE25/829-25/835)
Ich möchte mich nun im Folgenden der biographischen Darstellung des Falles Seija zuwenden. Das folgende biographische Portrait eröffnet zunächst einen lebenslaufartigen, chronologischen Blick auf Seijas erzählte Lebensgeschichte, die aus dem Gesamtinterview chronologisch zusammengestellt ist. Danach wird diese anhand der biographieanalytischen Falldarstellung38 vertieft. Dabei wird der Inhalt der biographischen Erzählung ergebnisorientiert und anhand zentraler Analysekategorien dargestellt. 7.3.2. Das biographische Portrait Seija wandert Anfang der 1990er Jahre nach England ein, um dort ihren britischen Freund indischer Abstammung zu heiraten. Nach fast zehn Jahren Leben in der Migration folgt eine zweijährige transnationale Migration zwischen England und Deutschland, die Ende der 1990er Jahre zur Einwanderung nach Deutschland führt. Nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland steht Seija mit ihrer Familie vor einem neuen Migrationprojekt, diesmal nach Z-Land. Seija ist zum Zeitpunkt unseres Interviews Ende 30, verheiratet und hat einen Sohn. Auch ihre Schwester ist Migrantin und lebt in S-Land.
38 Für eine auf eine andere Art fokussierte Darstellungsart siehe Ruokonen-Engler (2003, 2010).
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Seija wird Anfang der 1960er Jahre in einer Patchwork-Familie in einer finnischen Großstadt geboren. Nach dem Verlust der ersten Ehefrau während des Zweiten Weltkrieges heiratet Seijas Vater, ein Kriegsveteran und Witwer mit zwei Söhnen, eine wesentlich jüngere Frau, Seijas Mutter, und bekommt mit ihr noch drei Töchter. Kurz nach Seijas Einschulung zieht die Familie in eine etwas kleinere Stadt auf dem Lande, wo Seija die Grundschule und später das Gymnasium besucht. Seija ist eine gute Schülerin, die gegen den Willen des Vaters und mit Hilfe der Mutter das Gymnasium besucht. Nach dem ausgezeichneten Abiturabschluss legt Seija ein »Zwischenjahr« ein, währenddessen sie zu Hause wohnt und an einem staatlichen Institut arbeitet. Ein Jahr später entscheidet sich Seija mit Hilfe eines Berufsberaters für das Literaturstudium. Sie besteht die Aufnahmeprüfungen, studiert aber weitgehend unmotiviert und wechselt nach dem Tod ihres Vaters das Studienfach zu Verwaltungswissenschaften. Während des Studiums lebt Seija zusammen mit ihrem Verlobten, der auch ein Student ist. Die Beziehung bröselt und findet ihr Ende, als sich Seijas freundschaftliche Beziehung zu einem Briten indischer Herkunft zu einer Liebesbeziehung entwickelt. Beide entscheiden sich zu heiraten. Dies führt Seija Anfang der 1990er Jahre zur Emigration nach England. Kurz vor der Hochzeit erkrankt Seijas Mutter und stirbt. Die Hochzeit muss zunächst verschoben werden, findet aber noch im selben Jahr in England statt. Seija und ihr Mann ziehen in ein Haus in der Nachbarschaft von Seijas Schwiegereltern ein, dessen Renovierung Seija die erste Zeit beschäftigt. Nach einem Jahr beginnt Seija bei einer internationalen Organisation zu arbeiten, wo sie für acht Jahre tätig bleibt. Als Seijas Mann eine Arbeitsstelle in Deutschland bekommt, beginnen Seija und ihr Mann zwischen England und Deutschland zu pendeln, bis beide, nach zwei Jahren PendelExistenz, nach Deutschland einwandern. Zunächst, als Seija noch Hausfrau ist und kein Wort Deutsch spricht, pendelt sie zwischen Deutschland und England, bis sie schwanger wird und bei der Firma ihres Mannes, der neben seiner Anstellung auch noch selbstständig tätig ist, zu arbeiten beginnt. Nach der Geburt ihres Sohnes hört Seija mit dieser Tätigkeit auf und konzentriert sich auf die Familie. Zur Zeit des Interviews planen Seija und ihr Mann aus beruflichen Gründen die Auswanderung nach Z-Land. 7.3.3. Biographieanalytische Falldarstellung In der folgenden Darstellung möchte ich nun einerseits aufzeigen, unter welcher Erzählstruktur sich Seijas erzählte Lebensgeschichte entwickelt, und andererseits darstellen, welche biographischen Prozesse und zentralen Kategorien sich in Seijas biographischer Erzählung rekonstruieren lassen.
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Anhand der Analyse der Eingangserzählung werde ich das sequenzielle Analyseverfahren, dem das ganze Interview unterzogen wurde, zunächst exemplarisch ausführen. Danach folgt die Rekonstruktion der Haupterzählung anhand der thematischen Erzählung, die jedoch hier nur stellenweise sequenziell und hauptsächlich in der Art der analytischen Abstraktion rekonstruiert wird. So erfolgt hier die biographieanalytische Darstellung als eine ergebnisorientierte Erläuterung. Die Ergebnisse werden mittels der folgenden zentralen Kategorien der biographischen Subjektivierung und Identitätsarbeit dargestellt: 1) Herkunft als Entwurzelung; 2) Individuierung und Bildung; 3) Individualisierung und Beziehungen; 4) Migration als »neues Leben«; und 5) Eine mehrfache Verortung: »Bald hat man in jedem Land etwas …«. Diese werde ich anhand unterschiedlicher biographischer Prozesse mit dem Rückblick auf die Dimensionen von Ethnizität und Geschlecht rekonstruieren. Die folgenden zitierten Interviewsegmente wurden aus dem biographischen Interview mit Seija ausgewählt, da sie besonders deutlich die jeweiligen Ergebnisse veranschaulichen.39 7.3.3.1. Herkunft als Entwurzelung (Eingangserzählung HE1/3 1/22) In Seijas Lebensgeschichte lassen sich drei zentrale Erzählstränge feststellen; ihr familiärer Ablösungs- und Individuierungsprozess in Finnland, der erste Migrationsprozess nach England und der zweite Migrationsprozess nach Deutschland. Diese Erzählstränge sind in fünf Suprasegmente geteilt: I. »Herkunft als Entwurzelung« (HE1/3-1/22), II. »Bildungsgeschichte« (HE1/23-5/137), III. »Partnerschaftliche Lebensformen« (HE5/135-9/285), IV. »Das Leben in der Migration« (HE9/285-17/572) und V. »Migrationsprozesse« (HE17/572-25/831). Alle diese Erzählstränge sind eng mit der Schilderung von konfliktreichen Auseinandersetzungen verknüpft, die sich aber nicht nur als emotionale Belastungen, sondern als individuelle Herausforderungen bei der Herstellung der eigenen Handlungsfähigkeit wiedergeben lassen. Ich möchte mich nun der Erläuterung der Eingangserzählung zuwenden und den Beginn des biographisch-narrativen Interviews vorstellen. Es folgt, wie bei den Darstellungen von Saaras und Katris Biographien, eine strukturelle Beschreibung der Eingangserzählung, die Hinweise auf den Prozess des Interpretierens geben soll. Die weitere Diskussion der Biographie erfolgt dann durch eine ergebnisorientierte Herangehens- und Darstellungsweise.
39 Für eine auf eine andere Art fokussierte Darstellungsart siehe Ruokonen-Engler (2003, 2009).
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Nachdem ich Seija die erzählgenerierende Eingangsfrage gestellt hatte, beginnt Seija zögerlich mit ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung. S: --/Eh=Lebensgeschichte. (…) Es ist eine ziemlich große Sache=aber/(lachend) -- wenn man mit der Kindheit beginnt. (HE1/3-1/4)
Der von mir gestellten offenen, erzählgenerierenden Eingangsfrage folgt eine kurze Pause, nach der Seija lachend das Wort »Lebensgeschichte«, das in der ihr gestellten Eingangsfrage aufgetaucht war, wiederholt. Die Wiederholung des Wortes wird noch mit einer evaluativen Aussage verstärkt: »Es ist eine ziemlich große Sache« (HE1/3). Trotz dieser Verzögerung entscheidet sich Seija schnell für einen Beginn mit der Erzählung über ihre Kindheit. Dabei spricht sie nicht in »Ich-Form«, sondern benutzt eine Passivkonstruktion, »man«. Die Anwendung der Passivkonstruktion weist darauf hin, dass Seija sich hier auf ein allgemeines Muster des biographischen Genres und des Erzählens bezieht. Dieses Muster sieht die Entfaltung der Biographie aufgrund der Logik der chronologischen Erzählung vor. S: (…) Ich wurde in A-Stadt im Jahre (…) geboren. Ich habe zwei Schwestern. -- Beide Eltern sind schon gestorben. Die Mutter starb im Jahre (…), in demselben Jahr, als ich aus Finnland auszog. Und mein Vater starb (…). Eine meiner Schwester lebt in S-Land. Sie ist mit einem S-Länder verheiratet und hat ein Kind, einen Sohn. -- Er ist ein paar//-- zwei- oder dreijährig. Ich kann mich nicht so genau daran erinnern. Und meine jüngste Schwester lebt in A-Stadt, und sie hat auch einen Sohn. Sami hat also dann zwei Cousins (lacht). (HE1/4-1/11)
Es folgt Seijas Selbsteinführung durch die Nennung ihres Geburtsortes und Geburtsjahres. Das aus diesen Fakten entstehende Bild wird durch die beziehungsorientierte Perspektive erweitert, als Saara dann ihre zwei Schwestern einführt. An dieser Stelle wechselt Saara die grammatikalische Form vom Imperfekt zu Präsens und erzählt aus der heutigen Perspektive weiter, dass sie zwei Schwestern hat. Danach zögert sie kurz, wie sie weitererzählen soll. Diese Verzögerung kann in dem raschen Wechsel der temporalen Erzählperspektive begründet liegen. Nach der Pause folgt ein kurzer Einschub, in dem Seija ihre Eltern als schon gestorbene Eltern einführt. Den Zeitpunkt des Todes der Mutter erläutert Seija im Zusammenhang mit ihrer eigenen Biographie. Seijas Auswanderung ist durch den Tod ihrer Mutter überschattet: »beide Eltern sind jetzt tot. Die Mutter starb (…), in demselben Jahr, als ich aus Finnland auszog« (HE1/6-1/7). Diesbezüglich stellt sich die Frage, ob die Mutter vor oder nach Seijas Auswanderung starb
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und ob dies Seijas Entscheidung, auszuwandern, beeinflusste. Interessant erscheint mir auch, dass der Tod der Mutter vor dem Tod des Vaters genannt wird, obwohl der Vater früher gestorben ist. Dies könnte darauf hinweisen, dass Seija eventuell eine engere Beziehung mit der Mutter als mit dem Vater hatte. Es kann aber auch sein, dass der Tod der Mutter einfach näher in Seijas Erinnerung liegt als der des Vaters. An der Stelle ist noch darauf zu achten, dass Seija hier mit einem Vokabular über ihre Auswanderung spricht, das die Auswanderung als einen Umzug thematisiert. Nachdem Seija ihre Familienkonstellation durch den Verlust ihrer Eltern ergänzt hat, greift sie ihren vorherigen Erzählfaden wieder auf und erzählt weiter über ihre Schwestern. Die durch den Tod der Eltern eventuell verursachte Fragmentierung der gesamten Familie wird noch durch die Erläuterung der geographischen Entfernung der Geschwister verstärkt. Lakonisch weist Seija darauf hin, dass eine von ihren Schwestern in S-Land lebt und mit einem Spanier verheiratet ist. Diese Schwester hat einen kleinen Sohn, an dessen Alter Seija sich jedoch nicht so genau erinnern kann. Dies könnte darauf hinweisen, dass Seija keine enge Beziehung zu ihrer Schwester in S-Land hat. Danach erzählt sie, dass ihre jüngste Schwester in Finnland wohnt und auch einen Sohn hat. Die Wortwahl »meine jüngste« deutet darauf hin, dass Seija die älteste Tochter der Familie ist. Danach fasst Seija ihre bisherige Erzählung lachend zusammen und betont, dass ihr Sohn zwei männliche Cousins hat. Vielleicht lacht sie hier, weil sie es einen lustigen Zufall findet, dass alle drei Schwestern einen Sohn haben. Mit diesem Lachen wird aber gleichzeitig der Bericht über die Familienkonstellation abgeschlossen, und Saara kehrt in ihrer Erzählung zu ihrem Geburtsort zurück, wo sie bis zum Beginn ihrer Schulzeit lebt. S: Also ich wohnte in A-Stadt -- bis zum Jahre 1969. Ich ging eine Woche lang zur Schule in der A-Stadt, und dann sind wir nach B-Stadt umgezogen. -- Es war eine ziemlich große Veränderung, obwohl wir im Stadtteil S in der A-Stadt wohnten und es eigentlich nicht richtig A-Stadt war, sondern Osten//ein östlicher Teil der Stadt. Als wir dann nach C-Stadt zogen, hatte man das Gefühl, dass man aufs Land zog. Es war ein sehr kleiner Ort. Da gab es ein klein//es war eine Gemeinde, also ein Teil der C-Gemeinde damals. I: Hm. S: Dort gab es eine kleine Bibliothek und ein paar Läden und einen Bahnhof. Und Wald und Felder gab es so weit -- man sehen konnte. (HE1/13-1/22)
Seija konzentriert sich hier auf die Beschreibung des Umzugs und der Binnenmigration der Familie, die eine Woche nach ihrem Schulbeginn stattfindet. Der Zeitpunkt des Umzuges, kurz nach Seijas Einschulung, erscheint etwas merk-
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würdig. Es könnte darauf hinweisen, dass der Umzug überraschend stattfindet. Für Seija bedeutete dies jedoch »eine große Veränderung« (HE1/14-1/15), wie sie selber sagt. Statt ihre eigenen Gefühle zu rekapitulieren, konzentriert sich Seija an der Stelle auf die Erläuterung der Veränderungen der äußeren Umgebung. Der Umzug aus der Stadt »aufs Lande« (HE1/18) ist für sie eine große Umstellung. Es folgt eine Auflistung der zentralen Einrichtungen der neuen kleinstädtischen Lebensumgebung. Insbesondere wird hier der Bezug auf die Natur unterstrichen: »Und Wald und Felder gab es so weit -- man sehen konnte« (HE1/22). Diese Beschreibung weist darauf hin, dass diese landschaftliche Umgebung etwas Neues und Beeindruckendes für das kleine siebenjährige Mädchen darstellte und eventuell einen biographischen Veränderungsprozess anstieß. Bemerkenswert ist jedoch, dass Seija kein Wort über den Umzug an sich sowie über das Verlassen der bekannten Lebensumgebung und ihrer Freunde und Freundinnen sagt. Die eventuellen schmerzhaften Erfahrungen mit dem Wohnort- und Schulwechsel werden hier unterdrückt und die Naturbeschreibung als Symbol für die großen Veränderungen, die mit dem Umzug und der Binnenmigration einhergingen, herangezogen. Zum Schluss der Eingangserzählung kann zunächst zusammenfassend festgehalten werden, dass Seija ihre Erzählung mit der Selbsteinführung als Biographieträgerin sowie mit der Einführung der fragmentarischen Familienkonstellation aus der heutigen Perspektive beginnt. Es werden schnell die familiären und verwandtschaftlichen Verbindungen gezeichnet, die Seijas Subjektposition nicht nur als Tochter und Schwester, sondern auch als Mutter und Migrantin verdeutlichen. Gleichzeitig offenbart die Erläuterung der Familienkonstellation das Vorhandensein von Migrationserfahrungen und die transnationale und transkulturelle Konstellation in der gesamten Familie. Die Entwurzelung, die hier am Beginn des Interviews durch die Einführung des Todes der Eltern, die Andeutungen der verschiedenen Migrationsprojekte von Seijas Familie (Binnenmigration), Seijas Schwester (Auswanderung) sowie Seijas eigene Auswanderung konstruiert wird, könnte einen zentralen biographischen Pfad in Seijas biographischer Rekonstruktion darstellen. 7.3.3.2. Individuierung und Bildung An die Eingangserzählung über die Herkunftskonstruktion als Entwurzelung schließt sich das II. Suprasegment an. Dabei erzählt Seija über ihren Bildungsgang (HE1/23-5/137), der sich als ein familiärer Ablösungs- und Individuierungsprozess wiedergeben lässt. Im Folgenden möchte ich dieses Segment, das sich in unterschiedliche Subsegmente aufteilt, genauer anschauen.
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Schulbesuch und der Kampf um die Bildung (HE1/23-2/34) S: (…) Und dort bin ich zur Schule gegangen. Zuerst bin ich zur Grundschule gegangen. Der Vater war der Meinung, dass ich dann zur Mittelschule gehen sollte und -- dann auf Arbeit. Ich war der Meinung, dass ich zur Oberschule gehen will. -- Und=und -Mutter bezahlte dann meine Schulgebühren und Bücher und -- ich bin dann dort in die Oberschule gegangen und habe danach auch das Gymnasium in C-Gemeinde besucht. So bin ich der Gesamtschule entgangen (…). I: Hm. S: (…) Ich bin das alte Schulsystem durchlaufen. I: Ja. S: (seufzt) Ich habe dann 1981 mein Abitur gemacht. (HE1/23-2/34)
Nachdem Seija den mit der Binnenmigration einhergehenden Schulwechsel nennt, geht sie nicht genauer auf die Beschreibung des Schulanfanges ein, sondern springt zur Schilderung eines Konflikts zwischen ihr und ihrem Vater. Seija will ihre Schullaufbahn weiterführen, aber dieser Wunsch tritt in Konflikt mit ihres Vaters Forderung, möglichst schnell mit der Schule fertig und danach berufstätig zu werden. Seija geht nicht genauer auf die Erläuterung dieses Konflikts ein. Stattdessen weist sie darauf hin, dass der Konflikt zwischen ihrem Bildungswunsch und ihres Vaters Forderung nach Berufstätigkeit von Seijas Mutter gelöst wird. Die Mutter spielt hier eine bedeutende Rolle, da sie Seija bei ihrem Bildungswunsch konkret dadurch unterstützt, dass sie die Schulgebühren bezahlt, und Seija somit weiter die Schule bis zum Abitur besuchen kann. Diese Aussage deutet darauf hin, dass Seijas Mutter als eine Art Vermittlerin zwischen der Tochter und dem konservativen Vater fungierte. Jedoch ist es nicht schlüssig, ob Seijas Mutter das Geld für die Schulgebühren aus ihrem eigenen Einkommen oder aus dem gemeinsamen Familieneinkommen zur Verfügung stellt. Auf jeden Fall fungiert Seijas Mutter als ihre Komplizin, die sich mit ihr gemeinsam dem Willen des Vaters widersetzt und dadurch Seija in ihrem Bildungswunsch unterstützt. Autoritäre Erziehung (HE2/34-2/53)
Die Erwähnung des Abiturs löst bei Seija eine evaluative Erzählung über sich selbst als eine fleißige und gute Schülerin aus.
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S: (…) -- ich hatte fünf Laudatur40. Ich war immer sehr gewissenhaft -- ein gewissenhaftes -- Mädchen zu Hause. Wir wurden stark diszipliniert. Unser Vater gehörte noch zu dieser alten Generation. Er war einer von diesen -- Winter- und Fortsetzungskriegs -Veteranen, die es gab. Und Mutter war wesentlich jünger. Und man kann es sich nur vorstellen, wie es ist//wie so eine Ehe ist, wenn der Altersunterschied der Ehepartner so groß ist wie zwischen ihnen. I: Hm. S: Mutter wurde in dem gleichen Jahr geboren, als Vater schon im Krieg war. I: Hm. S: Und=so -- eh -- zu Hause wurde sehr auf Disziplin geachtet. Und es war so, dass man eigentlich nie etwas machen durfte und nirgendwohin gehen durfte. Insbesondere dann, als man Teenager wurde. Vater dachte, dass es allerlei Gefahren in der Welt gibt, und dass die Mädchen zu Hause bleiben müssen. I: Hm. S: Also es -- war eine typische, patriarchale und sehr altmodische Erziehung. -- Mich hat es besonders stark beeinflusst so dass es Jahre dauerte, bis (lacht) man etwas selber machen konnte und man übt es immer noch. (HE2/34-2/53)
Ihre Fleißigkeit und Gewissenhaftigkeit begründet Seija mit der autoritären Erziehung, der sie zu Hause ausgesetzt war. Der Vater, ein Veteran des Zweiten Weltkrieges, die in Finnland sehr geehrt werden, verkörpert für Seija nicht nur die »typische patriarchale und sehr altmodische Erziehung« (HE2/50-51), sondern auch einen unüberbrückbaren Generationenunterschied zwischen den Eltern: »Und man kann es sich nur vorstellen, wie es ist//wie so eine Ehe ist, wenn der Altersunterschied der Ehepartnern so groß ist wie zwischen ihnen« (HE2/382/40). Seija scheint mit dieser Aussage die möglichen Meinungsunterschiede und Konflikte zwischen den Elternteilen als einen Unterschied zwischen Generationen und deren verschiedenen Weltsichten zu deuten. Aus dieser Perspektive wird das Geschlechterverhältnis zwischen Seijas Eltern als eine konfliktbelastete Generationenbeziehung gesehen. Die autoritäre Erziehung und die strenge Disziplin, die Seija selber als Ursache ihres schulischen Erfolgs ansieht, werden jedoch von Seija als erschwerend für ihre Selbstentfaltung und ihren Individuierungsprozess gedeutet. Insbesondere in ihrer Adoleszenz erfährt Seija eine Einengung ihrer Bewegungs- und Entwicklungsfreiheit. Als älteste Tochter wird
40 »Laudatur« war die höchste Note, die man damals in einem Fach bei der Abiturprüfung bekommen konnte. Da man sich in mindestens vier und höchsten sieben Fächern prüfen lassen musste, unterschieden die höchsten Auszeichnungen zwischen vier und sieben »Laudatur«.
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Seija vermutlich sehr behütet und diszipliniert. Die Art und Weise, wie sie dies ausdrückt, lässt vermuten, dass es bei den anderen Schwestern eventuell nicht der Fall war und dass sie als älteste Tochter besonders mit der Autorität des Vaters zu kämpfen hatte: »Mich hat es besonders stark beeinflusst, so dass es Jahre dauerte, bis (lacht) man etwas selber machen konnte und man übt es immer noch« (HE2/51-2/53). Es ist interessant, dass Seija sich hier wieder in grammatikalischer Passivform ausdrückt. Diese distanzierte Konstruktion wirkt an dieser Stelle wie eine allgemeine Theorie über den Zusammenhang zwischen der autoritären Erziehung und der Schwierigkeit, eine Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Der Lernprozess des »Selbstständigseins«, worauf Seija sich hier bezieht, verweist auf ihre Schwierigkeiten, selbständig Entscheidungen zu treffen, sich selbst zu behaupten und für sich selbst Freiräume schaffen zu können. Diese zu Beginn der biographischen Erzählung festgestellte Dimension des Kampfes um die Selbständigkeit lässt sich in der gesamten Biographie als ein durchgehender roter Faden und damit als ein biographisches Handlungsschema rekonstruieren und prägt Seijas biographische Haltung und so die Gesamtgestalt ihrer Biographie. Zwischenjahr (HE2/53-3/75)
Nach den evaluierenden Anmerkungen zu ihrer Erziehung greift Seija wieder den chronologischen Erzählstrang auf und erzählt über ihre Zeit nach der Abiturprüfung. S: (…) -- Nach der Schule hatte ich ein Zwischenjahr. -- Ich arbeitete -- an einer staatlichen Forschungsinstitution. Und es war für mich die erste Erfahrung darüber -- wie das Leben -- wie das Leben eigentlich außerhalb von Zuhause ist, obwohl ich damals noch zu Hause wohnte. -- Man lernte völlig andere Menschen kennen. Ich hatte ja schon früher, seit ich 16 Jahre alt war, jeden Sommer gejobbt, aber es war nicht dasselbe. I: Hm. S: Das erste Mal hatte man richtige Verantwortung und man hatte eine Arbeitsaufgabe, die man erledigen musste. (HE2/53-2/62)
Nach dem Abitur entscheidet sich Seija für ein »Zwischenjahr«, um sich selbst etwas Zeit zum Nachdenken über ihre berufliche Zukunft zu geben. Anderseits ermöglicht das »Zwischenjahr« Seija auch, erste Berufserfahrungen zu sammeln und dem Wunsch des Vaters nach baldiger Berufstätigkeit zu entsprechen. Anhand der gesamten biographischen Rekonstruktion kann jedoch vermutet werden, dass die Entscheidung, ein »Zwischenjahr« einzulegen, von der Tatsache geprägt ist, dass Seija die Aufnahmeprüfungen an der Universität nicht bestan-
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den hatte und deswegen mit der Situation konfrontiert ist, ihre Zukunftspläne zu revidieren. Während des »Zwischenjahres« wohnt Seija weiterhin zu Hause, arbeitet aber an einem staatlichen Forschungsinstitut. Es kann aus Seijas biographischnarrativer Erzählung geschlossen werden, dass die mit der Arbeit verbundene Verantwortung erheblich zur Entwicklung ihres Selbstwertgefühls und ihrer Selbstsicherheit beigetragen hat. Gleichzeitig öffnet die Arbeit am Institut Seija eine neue Lebenswelt, außerhalb des familiären. Das »Zwischenjahr« markiert hier eine Entdeckung des Neuen und einen Beginn des graduellen familiären Ablösungsprozesses, wobei Seija die ersten Schritte ihres Individuierungsprozesses durchläuft. S: (…) Und dann während dieses Zwischenjahres hatte man dann so einen schrecklichen Druck, dass etwas=etwas sollte -- etwas sollte man doch studieren. Als ich das Abitur bestand, hatte ich eigentlich keine Ahnung davon, was ich studieren möchte. Ich hatte nur das Gefühl, dass ich studieren soll, weil alle anderen auch zu studieren begannen. (HE2/62-2/67)
Das »Zwischenjahr« ist nicht nur mit dem Kennenlernen der Berufswelt verbunden, sondern auch mit dem Entwurf der Zukunftspläne. Für Seija ermöglicht das Zwischenjahr eine Art von Moratorium, als »time-off«-Zeit, die einerseits durch eine Befreiung aus der schulischen Institution markiert ist, aber zugleich eine schwierige und herausfordernde Aufgabe in Hinsicht auf die Planung der eigenen Zukunft darstellt. Während des »Zwischenjahres« erfährt Seija die Erweiterung ihrer bisherigen Lebensperspektiven und Handlungsmöglichkeiten. Zugleich spürt sie sowohl den individuellen als auch den kollektiven Druck, sich beruflich zu orientieren. In Seijas damaliger Lebenssituation erscheint das Studium als die einzige Option, ein selbständiges Leben führen zu können. Aber gerade bei dieser Entscheidung leidet Seija unter Orientierungs- und Entscheidungsschwierigkeiten. Sie spürt einen kollektiven Druck, mit dem Studium zu beginnen, weil »alle anderen auch zu studieren begannen« (HE1/67). Gleichzeitig erscheint der Druck wie eine allgemeine Normalitätserwartung oder ein institutionelles Handlungsmuster, das an gute SchülerInnen gerichtet wird. Seija, als gute Schülerin, in deren Schulbildung die Eltern, und insbesondere die Mutter, investiert hatten, steht nun in einem reziproken Geben-und-Nehmen-Verhältnis, das sie dazu verpflichtet, sich weiter zu qualifizieren und dadurch den mit dem Abitur angestoßenen sozialen Aufstieg zu vervollständigen. Seijas Entscheidungs- und Orientierungsschwierigkeiten können einerseits auf die autoritäre Erziehung und andererseits auf die soziale Lage der Eltern zurückgeführt werden.
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Da die biographische Rekonstruktion von Seijas biographisch-narrativer Erzählung darauf Hinweise gibt, dass sie eventuell aus einer bildungsfernen Schicht stammt,41 kann vermutet werden, dass den Eltern das notwendige kulturelle Kapital fehlt, um ihrer Tochter bei ihren Zukunftsplänen und bei ihrer beruflichen Orientierung weiterhelfen zu können. Dagegen füllt der Berufsberater des Arbeitsamtes, der selbst an der Universität studiert hatte, und an den sich Seija wegen professioneller Hilfe wendet, diese Lücke. S: (…) -- Ich ging ein paar Mal zur Berufsberatung. -- Es war hilfreich in dem Sinne, dass der Berufsberater selbst an der Universität von Y studiert hatte, und meinte, dass sie eine nette und moderne Universität sei. Wir haben Studienratgeber angeschaut und haben dort das Fach finnische Literatur gefunden. Damals interessierte ich mich viel mehr für Journalismus. Eigentlich bewarb ich mich sogar zweimal dafür, aber habe nicht die Aufnahmeprüfungen bestanden. Aber finnische Literatur konnte ich zu studieren beginnen. (HE2/67-3/75)
Hier drückt Seija, als Nebenbemerkung, ihren eigentlichen Wunsch, Journalismus zu studieren, aus. Zugleich ist dieser Wunsch von den nicht bestandenen Aufnahmeprüfungen überschattet und fungiert an der Textstelle als eine Erklärung dafür, warum Seija sich für das Studium der finnischen Literatur entschieden hat. Diese Rekapitulation löst einen Erzählstrang aus, in dem Seija ihre Studienentscheidung sowie den Verlauf des Studiums vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte deutet. Studium (HE3/75-5/135)
Der mit dem Studium einhergehende familiäre Ablösungsprozess, nach dem sich Seija gesehnt hatte, lässt sich aufgrund ihrer biographischen Erzählung als eine
41 Leider fehlen für beide Elternteile die Berufsangaben, so dass diese These nicht lückenlos bestätigt werden kann. Auf der Ebene der biographischen Rekonstruktion konnte ich jedoch viele Hinweise darauf finden, dass die Eltern einer bildungsfernen Schicht angehören. Die Tatsache, dass Seija die Berufe der Eltern bzw. den sozioökonomischen Stand der Familie nicht erwähnt, soll hier jedoch nicht als Mangel in Seijas biographisch-narrativer Erzählung angesehen werden. Es muss auch nicht unbedingt darauf hinweisen, dass Seija dies verschweigen möchte bzw. dies keine Bedeutung für sie hat. Vielmehr deutet dies darauf hin, dass für Seijas eigene biographische Rekapitulation und Selbstrepräsentation andere Themen und Erzählungen wichtiger sind.
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ambivalente Erfahrung, die einen biographischen Transformationsprozess auslöste, bezeichnen. S: (…) -- Aber es war wie eine Krise, dass man sich jetzt selbstständig für etwas entscheiden sollte und I: Hm. S: in die Welt gehen sollte. Ich weiß es noch, als ich die Zusage bekam, dass ich bestanden hatte. Ich wurde etwas später als die anderen informiert, da ich einen Wartelistenplatz bekommen hatte. -- Ich weiß noch (…) wie mir mein Lieblings-Stiefbruder Erkki sagte, dass es eine gute Sache sei, studieren zu gehen. So kommst Du auch weg von Zuhause. So habe ich mich dann gleich dafür entschieden. (HE3/75-3/85)
Seija deutet selbst diesen Ablösungs- und Entscheidungsprozess und die damit einhergehende Umwandlung ihrer Lebenswelt und Lebensumgebung »wie eine Krise« (HE3/76). In dieser schwierigen Situation stellt der Stiefbruder den signifikanten Anderen dar, der Seija darauf hinweist, dass das Studium es ihr vor allem ermöglichen würde, von Zuhause wegzugehen. Dieser Hinweis weist implizit auf die möglichen Schwierigkeiten hin, die Seija zu Hause als heranwachsende junge Frau unter der Kontrolle des autoritären und patriarchalen Vaters hatte. In dieser Situation wog die Möglichkeit, von Zuhause wegzugehen, mehr, als die Entscheidung, zu studieren. Somit ist Seijas Entscheidung, an der Universität in der Y-Stadt ihr Studium zu beginnen, mit ihrem familiären Ablösungsprozess verbunden und setzt dabei ihren Individuierungsprozess fort. Der Studienbeginn geht mit einer zweiten Binnenmigration in Seijas Leben einher. Während Seija die erste als eine »große Änderung« (HE1/14-1/15) betrachtet, stellt sich die zweite für sie »wie eine Krise« (HE3/76) dar. Der finnische Ausdruck »mennä opiskelemaan«, den man mit »zum Studium gehen« übersetzen könnte und den Seija auch in Bezug auf den Beginn des Studiums benutzt, unterstreicht die Tatsache, dass die Schwierigkeit, sich für eine Studienrichtung zu entscheiden, nicht nur von der Wahl des Studienfaches geprägt war, sondern eventuell auch von der Tatsache, dass das Studieren zugleich mit einem Wegzug von Zuhause verbunden war und für sie damit eine zweite Binnenmigration bedeutete. Die Entscheidung, den angebotenen Studienplatz anzunehmen, stößt bei Seija einen schnellen Veränderungsprozess an, der sie »mit zwei großen Koffern« (HE3/91-3/92) in kürzester Zeit in die Mitte des Studiums mit unklaren Wohnverhältnissen katapultiert. In ihrer biographischen Erzählung schildert Seija den Statuswechsel zur Studentin mit der Fahrt zu ihrem neuen Studien- und Wohnort. Der Beginn des Studiums und der damit einhergehende Umzug bekommen
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bei der Definition des Studentinseins einen zentralen Stellenwert. Seijas Mutter spielt hier wieder eine zentrale Rolle als Seijas Komplizin und Unterstützerin. S: (…) Ich hatte zwei große Koffer, voll von allerlei Sachen (lacht). Die Mutter brachte mich dann dort in der C-Stadt zur Bushaltestelle. -- Und=also=dann=dann -- bin ich mit dem Zug nach Y-Stadt gefahren und dann mit dem Bus nach X-Stadtteil. -- So wurde ich dann zur Studentin. (HE3/85-3/95)
Obwohl der Statuswechsel mit einem einfachen geographischen Ortswechsel in Verbindung gebracht wird, ist Seijas Studium durch eine Ambivalenz gekennzeichnet. Die zuvor festgestellte Orientierungslosigkeit verfolgt Seija weiterhin während ihrer ersten Studienjahre. Seija studiert fleißig und ist bildungshungrig, gleichzeitig ist sie aber weitgehend unmotiviert und studiert mehrere Fächer ohne konkrete berufliche Pläne. In dieser Ambivalenz vermischen sich einerseits Seijas eigenes Unwohlsein und andererseits die an der Universität geführten Machtkämpfe. Die Beschreibung der Machtkämpfe zwischen einem alteingesessenen Professor und einer Frauenforscherin zeichnet hier einen vergeschlechtlichten Generationenkonflikt, der sich schon bei Seijas Eltern rekonstruieren ließ. S: (…) Und während der ganzen Studienzeit fühlte ich mich nicht so wohl dort an der Universität. Ich weiß selbst nicht so richtig warum. -- Vielleicht hatte es damit zu tun, dass ich -- dann letzten Endes nicht so richtig -- finnische Literatur studieren mochte. Der Fachbereich für Kunst- und Literaturwissenschaften und insbesondere der Professor (…) -- ich kam nicht mit dem Professor klar. Oder ich mochte den Menschen nicht. Und damals wurden gerade Frauenstudien eingeführt. I: Ja. S: Es wurden schreckliche Kriege an unserem Institut geführt. Es gab dort eine Frauenforscherin, die sich für die Frauenforschung einsetzte. Und der Professor hatte seine eigenen Kumpel, für die er die Vertretungsprofessuren und Assistentenstellen arrangierte, so dass zum letzten Ende unsere Lieblings-Lehrerin ohne Arbeit war. I: Hm. S: Es war schreckliche Zeit. Man wusste, dass dies und das nicht erlaubt ist. Man musste nur das lernen, was der Professor wollte. Es gab insgesamt eine dumpfe Stimmung. (HE4/115-4/132)
Es kann vermutet werden, dass der vergeschlechtlichte Generationenkonflikt, der auch von den StudentInnen zu spüren war, den Studienverlauf im Fachbereich für Kunst- und Literaturwissenschaften erschwerte. Der Beginn des Studiums
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hatte für Seija eine Fortsetzung des familiären Ablösungsprozesses ermöglicht und dadurch auch eine Flucht von Zuhause bedeutet, wo der Geschlechterkampf sowie der Generationenkonflikt stattfanden. Nun war aber Seija während ihres Studiums mit ähnlichen Problemen und Konflikten konfrontiert. Bezeichnend ist an dieser Stelle Seijas wiederholte Rebellion gegen eine autoritäre und patriarchale Verhaltensweise, sowohl ihrem Vater als auch dem Professor gegenüber. Der plötzliche Tod des Vaters stellt einen weiteren biographischen Wendepunkt in Seijas Leben dar. Obwohl sie insgesamt wenig über ihren Vater erzählt, kann jedoch vermutet werden, dass sich Seijas familiärer Ablösungsprozess als Rebellion gegen den Vater und sein autoritäres und patriarchales Verhalten gestaltet hat. Dies würde auch erklären, warum Seija den Tod des Vaters als eine »Krise« (HE4/105) und als einen bedeutenden biographischen Wendepunkt, der zu einer Umorientierung in ihrem Studium führt, deutet. S: (…) Mein Vater starb (…). Es war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich hatte dann wieder wie eine schreckliche -- wie eine Krise und ein Gefühl, dass man jetzt im Leben etwas machen muss. (HE4/104-4/105)
Man kann vermuten, dass die hier geschilderte »Krise« durch den Tod des Vaters verursacht wurde, da der Gegenstand von Seijas Rebellion nun nicht mehr vorhanden war. Seija beginnt nach dem Sinn ihres Studiums zu fragen, den Sie zunächst vor allem damit begründete, von Zuhause wegzugehen und sich dadurch eigene Freiräume zu schaffen. Die Reflektion führt zu einem Studienfachwechsel, in eine Fachrichtung, die ihren Interessen mehr entspricht und ihr eine bessere berufliche Zukunftsperspektive verspricht. 7.3.3.3. Individualisierung und Beziehungen Partnerschaften und Beziehungen (HE5/137-8/251)
An die Darstellung ihrer Bildungsgeschichte in Verbindung mit dem familiären Ablösungs- und Individuierungsprozess knüpft Seija eine weitere Erzähllinie, die das Eingehen einer heterosexuellen Partnerschaft und verschiedene partnerschaftliche Lebensformen und deren Gestaltung schildert (HE5/135-9/285). So ist die Studienzeit nicht nur durch einen Statuswechsel von einer Schülerin zur akademischen Studentin, sondern auch von der ledigen Person zu einer Verlobten gekennzeichnet. Denn Seija lebt zusammen mit ihrem Freund und führt eine eheähnliche Gemeinschaft, die in Finnland seit den 1970er Jahren stark zugenommen hatte. Jedoch ist die Beziehung von Anfang an mit Problemen belastet und führt zu einer schwierigen Situation, als Seija sich in der Beziehung nicht mehr wohl fühlt, sich aber auch nicht von ihrem Partner trennen kann. Das Ken-
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nenlernen eines Briten indischer Herkunft, der in Finnland sein Praktikum macht, führt jedoch zu einer Freundschaft, die sich mit der Zeit zu einer Liebesbeziehung entwickelt und letztendlich zur Ehe führt. S: (…) man kann ja eigentlich nichts anderes sagen, als dass die Beziehung eigentlich überhaupt nicht funktionierte. Und sie funktionierte dann überhaupt nicht mehr, als ich meinen zukünftigen Mann in Finnland kennenlernte. -- Ich lernte ihn -- im Jahre (…) kennen. Er machte ein Praktikum in Finnland. I: Hm. S: Er kommt aus England. Er ist -- oder seine Eltern kommen aus Indien und er ist Inder. Er ist Sikh. Sie kommen aus Z und mein Mann zog nach England, als er zwei Jahre alt war. Sein Vater war dort schon früher, -- um Arbeit zu suchen -- oder, um eine Wohnung zu suchen und sonst. Als alles dann -- seiner Meinung nach fertig war, kamen die Frau und das Kind hinterher. (HE5/146-5/157)
Während sich Seija in der Beschreibung der Beziehung zu ihrem finnischen Freund auf die Darstellung der Probleme konzentriert, tritt bei der Einführung des zukünftigen Ehemannes zunächst dessen ganze Familie in den Vordergrund. An dieser Textstelle hat Seija das Bedürfnis, den Hintergrund ihres Ehemannes genauer zu erläutern. Mit einem Einschub beschreibt sie die Migrationsgeschichte der gesamten Familie ihres Ehemannes, bevor sie wieder die Beschreibung dieser Freundschaft aufgreift. S: (…) Als ich meinen zukünftigen Mann kennenlernte, war es so etwas wie eine Seelenfreundschaft. Etwas, was man aus welchem Grund immer, selten erfährt. I: Hm. S: Also (lacht) -- es ist schwierig//ziemlich schwierig zu erklären. -- Wir haben dann seit 1985 bis 1991 Briefe gewechselt. Während dieser Zeit haben wir uns ein paar Mal gesehen. Es war vielleicht zwei oder drei Mal kurz in Finnland. -- Einmal war es ein Vorstellungsgespräch und das zweite Mal war dann Urlaub für eine Woche oder so. Es war irgendwie so. Ich kann mich daran nicht mehr so richtig erinnern. Ich war selbst in England. Ich habe dort zwei Mal Urlaub gemacht. Und dann haben wir den Briefwechsel beendet, weil ich dachte, dass daraus nichts wird. Es kann keine Beziehung sein, weil ich mit einem anderen verlobt bin und er herumreist. Damals ist er schon herumgereist. Er hatte schon sein Studium an der Universität in England abgeschlossen und reiste herum. Er arbeitete für eine längere Zeit in Belgien und danach ging er in die USA arbeiten. I: Hm.
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S: So dass er, wer weiß wo immer, war. Und ich dachte, dass wir nichts Gemeinsames haben können. Und der Briefwechsel kühlte sich dann für eine Zeit ab. -- Trotzdem wurde aus meiner eigentlichen Beziehung nichts. Eigentlich scheiterte sie schon fast am Anfang. (HE5/158-6/180)
Diese ausführliche Beschreibung der Entwicklung der Freundschaft zwischen Seija und ihrem zukünftigen Mann Ravi ist stark durch seine beruflich bedingte geographische Mobilität geprägt. Seine Mobilität und Seijas bestehende Partnerschaft stellten Hindernisse dafür auf, dass sich aus der »Seelenfreundschaft« (HE5/159) und der folgenden Brieffreundschaft eine engere Beziehung entwickeln konnte. Zwischen den Zeilen kann man Seijas Frustration spüren, die letztendlich zu ihrer Entscheidung führt, den Briefwechsel zu beenden. Diese Entscheidung weist darauf hin, dass Seija wahrscheinlich mehr von der Freundschaft erwartet hatte. Zugleich wird ihr aber auch klar, dass ihre Partnerschaft mit dem finnischen Freund nicht mehr zu retten ist (HE6/180-6/190). Einen biographischen Wendepunkt in Seijas Leben markiert dann das Wiedersehen mit ihrem Freund Ravi, währenddessen Ravi ihr einen Heiratsantrag macht. Der Heiratsantrag als traditionelle Geste eines romantischen Liebesverhältnisses unterstreicht die Tiefe der »Seelenfreundschaft«, die Seija und Ravi seit der ersten Begegnung miteinander verbunden hatte. Zugleich symbolisiert er ein anderes Partnerschaftsmodell, das der traditionellen Ehe, gegenüber dem von Seija und ihrem finnischen Freund gelebten »modernen« partnerschaftlichen Modell der eheähnlichen Gemeinschaft. S: (…) dann im Jahre (…) -- war ich der Sache begegnet, dass mein zukünftiger Mann//wir haben uns getroffen und er sagte, dass er mir ein Jahr Zeit gebe. Während dieser Zeit soll ich mich entscheiden, was ich machen will, also, ob ich ihn heiraten will oder -- nicht. Und wenn ich will, muss ich mein Studium abschließen. Wir hatten schon -- früher -- darüber gesprochen, ob er nach Finnland ziehen könnte -- und wir kamen zum Schluss, dass er wesentlich bessere Chancen irgendwo anders als in Finnland hat, da er kein Finnisch spricht. Und da er Inder ist und obwohl aus England kommt, wird dies seine Chancen, eine Arbeitsstelle in Finnland zu bekommen, nicht erleichtern. So war es dann eigentlich damals klar, dass, wenn ich mich entscheide ihn zu heiraten, muss ich aus Finnland wegziehen. Und ich habe es mir dann ein ganzes Jahr lang sehr genau überlegt. (HE6/191-7/205)
Diese Erzählpassage verdeutlicht, dass Seija und ihr zukünftiger Mann einen langen Entscheidungsprozess hinter sich hatten. Durch die Entscheidung, zusammenzuleben und zu heiraten, waren beide Partner mit weitreichenden bio-
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graphischen Folgen konfrontiert. Sowohl aus Seijas Perspektive als auch aus der Perspektive ihres Freundes lässt sich die Entscheidung, zu heiraten, als ein Individuierungs- und Individualisierungsprozess rekonstruieren. Für Seija bedeutet die Entscheidung, den Briten indischer Herkunft zu heiraten, sich endlich von den Fesseln der problematischen Beziehung mit dem Finnen lösen zu können. Zugleich bedeutet sie auch das Verlassen von Finnland und markiert einen neuen Lebensabschnitt, der durch das Leben in der Migration gekennzeichnet ist. Für Seijas Partner, Ravi, dagegen, der zu der sogenannten »zweiten Generation« von MigrantInnen, deren Eltern aus Commonwealth nach England eingewandert sind, gehört, stellt die Ehe und die Liebesheirat mit Seija eine Rebellion gegen die Autorität seiner Eltern, die ihm eine arrangierte Ehe aufdrängen wollten, dar. In Seijas biographisch-narrativer Erzählung folgt eine genaue Schilderung ihres schwierigen Entscheidungsprozesses (HE7/207-8/251). Während die Schwierigkeiten, mit denen Seija dabei konfrontiert ist, vor allem als individuelle Probleme, zum Beispiel wie man sich von der früheren Partnerschaft sowie von den Freunden und Freundinnen lösen kann, bezeichnet werden können, ist in Ravis Fall seine ganze Familie von seiner Entscheidung betroffen. S: (…) Und wenn es für mich schwer war, war es das für meinen Mann auch, da seine Eltern schon angefangen hatten, ihm eine Ehe zu arrangieren. Es ist immer noch gang und gäbe, dass die Eltern die Ehen von ihren Kindern arrangieren. Und mein Mann hatte schon diese potentiellen Gattinnen getroffen. Es ist üblich dort, dass man eine Anzeige in die Zeitung stellt, und dann bekommt man Antworten und aus diesen Antworten siebt man dann die passenden aus. Das Prinzip ist, dass die Ehegatten möglichst ähnlich sein sollten, dass sie ähnlichen familiären Hintergrund haben, dass sie ähnliche Berufe haben, dass sie vom Aussehen möglichst ähnlich sind, also so, dass die Dünnen die Dünnen heiraten und die Dicken die Dicken, so dass es möglichst harmonisch wäre. I: Hm. S: Das würde dann helfen, wenn die Gatten am Beginn der Ehe sich nicht lieben. Es ist ja auch nicht möglich. I: Hm. S: So sind alle Voraussetzungen gegeben und es gibt keine Widersprüche. Und so beginnt die Liebe zu wachsen. Die Eltern meines Mannes hatten also dann schon angefangen, diese Sache zu arrangieren. Mein Mann hatte diese -- Kandidatinnen schon getroffen. Dann musste er aber ihnen diese schreckliche Sache mitteilen, dass er mich heiraten wird. Ich hatte schon früher die Eltern meines Mannes kennengelernt, aber es war noch damals, als wir Freunde waren. So dass sie nicht -- und sie --//glaubten sie es dann oder nicht aber als Freundin haben sie mich dann behandelt. Also sie waren meiner Meinung nach was ist diese englisches civilized
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I: Hm. S: also, dass sie sich sehr höflich benommen haben. Sie hatten auch keinen Grund für anderes Verhalten. Aber als sie dann hörten, dass wir heiraten wollen/ich habe jetzt kein finnisches Wort dafür/, aber hell broke loose. (lacht) Und bevor ich nach England zog, schrien sie mich am Telefon an, dass ich mein eigenes Leben und ihr Leben und das Leben ihres Sohnes zerstöre und dass ich nur nach dem Geld ihres Sohns bin. Sie haben mich zu einem Ungeheuer gemacht, schon bevor ich dort eingezogen war. (HE8/251-9/285)
Diese lebendige und sehr emotionale Erzählpassage, in der die Planung sowie das Scheitern der von den Eltern arrangierten Heirat geschildert wird (HE8/2519/285), verdeutlicht, wie die Entscheidung von Seijas zukünftigem Mann, mit Seija die romantische Liebesehe einzugehen, zu einem strukturellen Problem des Verhältnisses zwischen Seija und ihren Schwiegereltern schon vor Beginn ihrer tatsächlichen Migration wird. Aus Seijas biographisch-narrativem Interview lässt sich der Konflikt jedoch nicht als ein Konflikt zwischen dem Sohn und seinen Eltern, sondern zwischen der Schwiegertochter und den Schwiegereltern rekonstruieren. Seija ist wieder mit einem vergeschlechtlichten, diesmal aber auch einem ethnisierten Generationenkonflikt konfrontiert und wird in die Rolle einer bösen, geldgierigen, ausländischen Frau gedrängt, die Ravis Eltern ihre Entscheidungsmacht entzieht und die Norm des traditionellen Heiratsverhaltens als eine Institution verletzt. Dieser Konflikt verdeutlicht, wie Seija vor ihrer Migration mit einer ethnisierenden Vergeschlechtlichung konfrontiert ist und wie dies dann später zu einer neuen Kodierung ihres Frauseins in der Migration führt. Während Seija in Finnland zu einer Majorität der FinnInnen, und insbesondere zu der der Finnischsprachigen, gehört und somit ihre ethnische Positionierung durch eine dominante und normative Position als strukturelle »Unsichtbarkeit zu definieren ist, erfährt sie in der Migration sowohl eine ethnisierende Zuschreibung als auch eine Selbst-Ethnisierung. 7.3.3.4. Migration als »neues Leben« Vor dem Hintergrund des bisher diskutierten lässt sich Seijas erste internationale Migration Ende der 1980er Jahre wie eine Problemlösung rekonstruieren. Zugleich ist sie aber mit einem biographischen Bruch und einem zentralen Wendepunkt in ihrer biographischen Entwicklung verbunden. Im Hinblick auf die internationale Orientierung des jeweiligen Biographieträgers können aus Seijas biographischer Erzählung keine Hinweise auf eine selbständige, intentionale Orientierung für eine Migration rekonstruiert werden, wie dies z. B. in den zuvor diskutierten Biographien von Saara und Katri festzustellen war. Dagegen stellt
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die Beziehung zu einem Briten indischer Herkunft Seijas ersten internationalen Kontakt dar, der nach dem Kennenlernen in Finnland zunächst als mehrjähriger Briefwechsel stattfindet und später zur Liebesbeziehung und Ehe führt. Aus der biographischen Perspektive lässt sich Seijas Migration als eine Bewältigungsstrategie rekonstruieren. Denn die Entscheidung, den Briten indischer Herkunft zu heiraten, ermöglicht Seija, sich gleichzeitig von ihrer problematischen biographischen Lage zu lösen und einen neuen Weg einzuschlagen.42 An die ausführlichen und lebendigen Schilderungen der Heiratsentscheidung schließt sich in Seijas biographischer Erzählung ein neues Erzählsegment an, in dem sie sich auf die Darstellung des Lebens in der Migration konzentriert (II. Suprasegment HE9/285-17/572). Der durch die Ehe bedingte Umzug nach England startet einen Migrationsprozess, der hier graduell mit einem sechsmonatigen Visum beginnt und zugleich den Beginn von Seijas »neuem« Leben markiert (HE9/285-11/360). S: (…) Als ich dann dorthin zog, war es Mittwoch. Ich weiß es noch, weil es noch die Zeit war, dass Finnland noch kein Mitglied von EU war. Deswegen musste ich schon vorher all diese Papiere und das Visum beantragen. Und ich bekam ein Visum für sechs Monate, um heiraten zu können. Und als ich dann die Stempel in meinen Pass bei der Passkontrolle am Heathrow Flughafen bekam, sagte ich ihm nur, dass first day of my new life -- begins now. -- So hat es auch angefangen. (HE9/285-9/291)
Den Beginn einer neuen biographischen Phase in Seijas Leben symbolisieren die Stempel in ihrem Pass. Für Seija beginnt ein neuer biographischer Lebensabschnitt, den sie selbst als »new life« (HE9/290), als ein neues Leben, definiert. Dabei wird der Flughafen von Heathrow wie ein liminaler Ort dargestellt, der einen Übergang bzw. eine Brücke aus dem alten in das neue Leben ermöglicht. An die Beschreibung dieses Übergangs schließt eine lebendige Erzählung über die Einführung in Ravis Familientraditionen an, die zugleich dazu diente, Seijas Herkunft wegzuwischen. S: (…) und dann am Freitag hatten wir ein Familienessen. Und danach, als alle die Bäuche voll hatten und gut gefüttert waren, nahm (…) mein Schwiegervater ein mehrseitiges Heft vor, in dem er alle Anforderungen, die sie mir stellten, aufgeschrieben hatte.
42 Amelia Lieblich weist darauf hin, wie sogar dramatische Lebensveränderungen nicht nur als Verlust, sondern auch als neue Herausforderung erlebt werden können: »[…] change is not experienced solely as a loss, but as an opening and a challenge« (Lieblich 1993: 113).
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Also, was ich machen muss und wie ich mich verhalten soll. Ich kann mich nicht so richtig genau daran erinnern, was alles dabei war. Aber ich weiß noch, dass ich meinen Vornamen zu einem indischen hätte wechseln sollen und meine Religion wäre verboten gewesen und natürlich sollte ich den Nachnamen meines Mannes nehmen, also es war eine Selbstverständlichkeit. Aber ich war schon selber zu diesem Schluss gekommen, da in England keiner meinen finnischen Nachnamen richtig buchstabieren könnte. Und es war mir keine schwierige Entscheidung, weil die Engländer meinen Vornamen auf vier unterschiedlichen Weisen buchstabieren und wie wäre es dann mit einem längeren Nachnamen. (HE9/292-10/306)
Als eine, in eine ethnische Minderheit eingeheiratete, ausländische Frau ist Seija mit der Forderung ihrer Schwiegereltern konfrontiert, ihren Vornamen, Kleidungsstil, ihre Sitten, Religion usw. zu ändern. Während diese Forderungen Seija unvorstellbar und als ihre Handlungsautonomie beschränkend erscheinen, stellt sich ihr die Annahme des Nachnamens von ihrem zukünftigen Ehemannes als eine Selbstverständlichkeit dar. Diese Tradition des Namenswechsels, die auch in der westlichen Welt häufig bei der Eheschließung stattfindet, deutet Seija jedoch nicht als ein Zeichen eines traditionellen Heiratsverhaltens, sondern begründet sie mit der ethnisch-sprachlichen Differenz. Lieber verzichtet Seija auf ihren langen finnischen Nachnamen, als das ständige Falschschreiben ihres Namens in Kauf zu nehmen. Der Verzicht auf den eigenen Namen, den keiner richtig schreiben und aussprechen könnte, lässt sich hier als Seijas Anpassung an die britische Einwanderungsgesellschaft verstehen. In diesem Kontext stellt der indische Nachname im Vergleich zum finnischen ein anderes semantisches Feld dar, das durch die kolonialen Verbindungen mit Indien sowie durch die Anwesenheit der indischen Migrantinnen in der postkolonialen Situation einen höheren Erkennungsgrad besitzt als finnische Namen. Jedoch bringen diese von den Schwiegereltern angeforderten Veränderungen Seija in eine schwierige Position, die zunächst nur durch einen »Verrat« an den Schwiegereltern zu bewältigen ist. S: (…) Und dann beriet mich mein Mann, dass ich nur bejahen sollte, egal was sie forderten. Ich habe das dann so gemacht und jahrelang haben sie sich über mich beklagt, dass ich sie angelogen hatte und dies und jenes versprochen hatte, I: Hm. S: aber es nie machte. (HE10/308-10/314)
Der »Verrat« führt zu weiteren Konflikten zwischen Seija und ihren Schwiegereltern und Seijas Distanzierung von ihnen. Nicht nur die Entscheidung, zu heiraten, sondern auch die erste Zeit des Lebens in der Migration ist von den Proble-
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men mit den Schwiegereltern überschattet. Die evaluierende und teils argumentative Schilderung dieser Probleme nimmt einen großen Teil von Seijas biographischer Erzählung ein (HE11/360-14/463). Die Beschreibung des Einlebens in die britische Gesellschaft ist mit den Problemen mit den Schwiegereltern, die das Leben des Ehepaares kontrollieren möchten, verbunden. Da es hier jedoch nicht nur um die Rekapitulation von interpersonalen Problemen, sondern um die Schilderung der familiären Veränderungsprozesse geht, weisen die weiteren Erzählstellen auf innerfamiliäre Konflikte hin. Die elterliche Autorität und das traditionsbewusste Verhalten, das die Eltern zum Beispiel beim Heiratsarrangement von ihren in der britischen Gesellschaft sozialisierten Kindern erwarten, führt zu einem innerfamiliären Konflikt, als die Eltern alle Kinder dazu zwingen wollen, eine arrangierte Ehe einzugehen. Dadurch dass das älteste Kind, Seijas jetziger Mann, diese Endogamieregel bricht, beeinflusst er später den familiären Ablösungs- und Individuierungsprozess seiner Schwestern, die beide dem traditionellen Heiratsverhalten nicht folgen wollen und stattdessen beide einen Engländer heiraten. Somit markiert die Heirat von Seija und ihrem Mann zum einen einen familiären Traditionsbruch und ist zum anderen ein Beispiel für einen durch die Migration und die Generationslage ausgelösten familiären Transformationsprozess. S: (…) ein Grund dafür, warum sie damals gegen unsere Ehe waren, war, dass ihr einziger Sohn, eine andere als eine indische Frau heiratet und somit die Chancen ihrer Töchter, einen Ehegatten, zu finden erschwert. Sie waren schon damals in dem Alter, das sie auch in ein paar Jahren heiraten würden. Aber beide Schwerster sagten uns, dass wir uns um sie nicht kümmern bräuchten, da sie sich selber um ihre Ehen kümmern würden. I: Hm. S: Und in der Tat haben dann beide einen Engländer geheiratet. Und wenn wir (…) deswegen nicht geheiratet hätten//so eine Entscheidung wäre auch möglich gewesen//so wäre uns ein Unrecht widerfahren. Beide Schwestern haben dann ihre zukünftigen Ehegatten durch den Beruf kennengelernt. Und sie hatten es auch schwierig. (…) aber die Eltern waren damals nicht mehr so schrecklich. Ein anderes Wort kann ich auch nicht benutzen. Sie waren nicht mehr so schrecklich, weil//sie mussten sich irgendwie unterordnen, I: Hm. S: dass es jetzt so sein wird. Aber wir als das erste Paar -- wir waren (lacht)//wir haben das alles abbekommen. (HE12/379-12/398)
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Die Tatsache, dass Seija in dieser Situation wie ein Sündenbock dargestellt wird, weist auf die Schwierigkeiten der Schwiegereltern hin, die Individuierungs- und Individualisierungsprozesse der eigenen Kinder wahrzunehmen und zu akzeptieren. Darauf deuten auch die Ratschläge von Ravis, der Seija damit tröstet, dass sie die Angriffe der Schwiegereltern nicht persönlich nehmen sollte. In der Darstellung der Konflikte zwischen Seija und ihren Schwiegereltern lässt sich eine sich in Seijas Biographie immer wiederholende biographische Auseinandersetzung mit dem autoritären Verhalten von Angehörigen der älteren Generation rekonstruieren. In der Migration vermischt sich die Auseinandersetzung mit dem autoritären Verhalten der Schwiegereltern mit den Dimensionen von Ethnisierung und Rassismus. Diese strukturieren Seijas Biographie und ihr Handeln und tragen zur Konstruktion ihres Selbstbildes als Migrantin bei. In einem postkolonialen Kontext, in dem der rassistische gesellschaftliche Diskurs anhand der Dichotomie des Schwarzseins und Weißseins konstruiert wird und so Rahmen für die rassifizierende Identitätspositionierung geschaffen werden, wird Seija als eine Weiße Frau markiert. In Seijas Fall kommt die rassifizierende Markierung als eine Weiße Frau nicht nur durch die Thematisierung ihrer Hautfarbe, sondern auch durch die Thematisierung ihrer biologischen Reproduktionsfähigkeit als eventuelle Gebärende zum Ausdruck. S: (…) Und dann, als wir heirateten, fing das Jammern über Kinder an. Und dass Weiße Frauen behinderte Kinder bekommen und dies und das, und warum wir keine Kinder haben und so. Es war so schrecklich. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass -- ich nur – (…) im Großen und Ganzen nur der letzte Dreck bin. (HE12/398-12/402)
Dieses Zitat zeigt, wie die Beziehung zwischen Seija und ihren Schwiegereltern auch von rassistischen Diskursen durchdrungen ist. Seijas Körper markiert hier eine rassifizierte Differenz, die zugleich als eine symbolische Gefahr der körperlichen Deformation dargestellt wird. Es scheint, dass hier strategisch auf einen rassistischen Geschlechterdiskurs gegriffen wird, um Differenzen zu konstruieren und dadurch Distanz zu Seija als nicht willkommene Schwiegertochter aufrechtzuerhalten. Der Erzählung über die Probleme mit den Schwiegereltern folgt eine lebhafte und ausführliche Erzählung über das Berufsleben (HE14/463-17/572), das durch die Schilderung der dortigen Schwierigkeiten und deren Bewältigung rekapituliert wird. Während Seija ihr Migrationsprojekt und das »neue Leben« zunächst im Rahmen der innerfamiliären Probleme schildert, eröffnet sie nun durch die Erzählung über ihre Berufstätigkeit eine Perspektive auf die Problematik des Berufslebens. Hier folgt Seija weiterhin der Logik ihrer bisherigen biographischen
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Erzählung, wobei sie sich auf die Beschreibung der Probleme und der Auseinandersetzung mit dem autoritären Verhalten ihres Vorgesetzten und ihre Bewältigung konzentriert. Jedoch greift sie hier wieder den Diskurs über kulturelle Differenzen als ein konstitutives Problem beim Umgang zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalität auf und benutzt dies als eine Erklärung für die Probleme, denen sie in ihrem Berufsfeld begegnet. S: (…) Ein anderes Problem in meinem Leben dort in England war, dass --//ich habe dies alles nicht als Herausforderung, sondern als Probleme gesehen. Leider bin ich keine optimistische Natur. Ein anderes Problem war, dass ein anderer Teil meines Lebens, also das Berufsleben, da in der englischen Kultur stattfand, die dann total anders ist als die indische Kultur. I: Hm. S: So dass ich zwei Sachen auf einmal lernen musste. Und deswegen wurde es noch viel schwieriger, so dass ich dann endlich, als ich -- ein Jahr in England gelebt hatte, habe ich Arbeit bei einer multinationalen Bank bekommen. Und dort gab es Menschen aus der ganzen Welt und ich hatte dann plötzlich so eine Situation, dass ich --//ich hatte also drei Sachen, die ich auf einmal beherrschen musste. (…) Die Arbeit an sich ist nie ein Problem. Was ein Problem ist, sind die Menschen und der Umgang mit ihnen, weil alle so unterschiedlich sind. Da gibt es EuropäerInnen AmerikanerInnen SüdamerikanerInnen JapanerInnen und dann gibt es dort aus überall her//Russen und unterschiedliche Nationen aus Russland und es gibt alles dort. Keine normalen Verhaltensweisen haben Gültigkeit – in so einer Organisation. -- Es ist -- sehr -- sehr//ich fand es sehr schwierig. Und es hat sehr lange gedauert, bevor ich den englischen smalltalk gelernt habe. I: Hm. S: Finnin, wie ich eine bin und so eine ruhige auch noch. So hat es ein paar Jahre gedauert, bis ich es beherrschte. Und dass man mit so vielen Menschen aus vielen Ländern und mit vielen Sprachen zu tun hat und man muss arbeiten und man weiß es nicht so richtig wie. Der einzige Trost war, dass alle AusländerInnen waren I: Hm. S: und dass alle dieselben Sprachprobleme und sonst hatten. Letzten Endes habe ich mich dort, was die Arbeit betrifft, eigentlich sehr wohl gefühlt. (HE14/463-15/495)
Diese fast klischeehafte Textpassage weist darauf hin, wie die Migration und das Leben in der Migration Seija dazu zwingen, ihre lebensweltlich verankerten Normalitätserwartungen und Verhaltensmuster einer biographischen Reflexion zu unterziehen, um überhaupt handlungsfähig bleiben zu können. Diese Reflexion löst einen biographischen Transformationsprozess aus, der dem Zweck dient, ei-
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nen biographischen Ausgleich in einer neuen Situation herzustellen. Zugleich lässt sich hier, ebenso wie schon in ihren vorherigen Erzählungen über ihre Bildungsgeschichte sowie über die Schwiegereltern, eine Auseinandersetzung mit autoritärem Verhalten feststellen. S: (…) Dieser Mensch [der Chef] hatte vielleicht in diesem Bereich nicht gearbeitet, oder er hatte nur etwas gemacht, weil er überhaupt keine Ahnung davon und auch keine Fähigkeiten dafür hatte. Er konnte nur anderen Menschen Angst machen und sie in so einen Zustand bringen, dass ein Kollege von mir einen Nervenzusammenbruch bekam. Und viele sind gegangen. Ich bin erst danach gegangen, als er ging. Ich dachte, dass/zum Teufel/(lachend) – ich bin so oft mit diesen Männern -- Nase an Nase gewesen und es war sehr schwierig, aber meine Arbeit erledigte ich. Ich hatte so eine starke Arbeitsmoral, dass ich dachte, zum Teufel, mach deine Arbeit, egal was ist. Jemand, der klüger ist, wäre bestimmt schon/gegangen – da er das alles unvernünftig gefunden hätte/(lachend). (HE16/529-16/539)
In dieser kritischen Reflexion wird das Machtverhältnis zwischen Seija und ihrem Vorgesetzten deutlich. Seijas Bedürfnis, sich auf einen Kampf mit Autoritäten einzulassen, ist ein biographisches Muster, das sich hier wiederholt. Aus der Handlungsebene betrachtet erscheinen diese sich in Seijas biographischer Erzählung wiederholenden Auseinandersetzungen als einzige Möglichkeit, Handlungsautonomie zu erlangen. Biographisch handlungsfähig zu bleiben, bedeutet in Seijas Fall, sich auf die Auseinandersetzungen mit den Autoritäten einzulassen. Somit erscheinen diese Auseinandersetzungen, die auf den ersten Blick wie Probleme und biographische Brüche aussehen, auf den zweiten Blick, aus der biographischen Perspektive betrachtet, als kontinuierliche Versuche, drohende Verlaufskurvenpotentiale abzulenken und dadurch handlungsfähig zu bleiben. Insbesondere lässt sich bei diesen sich wiederholenden Auseinandersetzungen eine vergeschlechtlichte Dimension feststellen, denn die meisten von Seija geschilderten Konflikte erscheinen nicht nur als Generationenkonflikt, sondern auch als Geschlechterkampf. In der Migration vermischen sich damit zusätzlich die Dimension des Ethnischen und der Rassifizierung. Es wiederholt sich in ihrer biographischen Erzählung die Beschreibung eines vergeschlechtlichten Konfliktes, der auf eine hohe biographische Wirksamkeit in Seijas biographischer Entwicklung hinweist.
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7.3.3.5. Eine mehrfache Verortung: »Bald hat man in jedem Land etwas …« (HE18/603) An die Erläuterung der Berufswelt schließt sich eine biographische Reflexion verschiedener Migrationsprozesse an (HE17/572-25/831). Dabei erfolgt die biographische Erzählung nicht nur in Bezug auf die Rekapitulation der weiteren Migrationsprojekte, sondern auch in Bezug auf deren Evaluation aus einer gesamtbiographischen Perspektive. Dabei lässt sich ein Zusammenhang zwischen der vergeschlechtlichten Ethnisierung und der biographischen Handlungsfähigkeit feststellen. Das Suprasegment »Migrationsprozesse« beginnt mit einem Subsegment »Migration nach Deutschland« (HE17/572-18/590). Nach achtjähriger Ehe und dem Eingliederungsprozess in die britische Gesellschaft und in das Leben einer Metropole, beginnt der Ehemann, Ravi, aufgrund seiner Erwerbstätigkeit im ITGewerbe zwischen England und Deutschland zu pendeln. Hier greift Ravi sein biographisches Handlungsschema wieder auf, das durch eine starke geographische Mobilität gekennzeichnet ist. Seija dagegen bleibt weiterhin bei dem multinationalen Unternehmen in England berufstätig und beginnt wegen des Familienzusammenhaltes, abwechselnd jedes zweite Wochenende zwischen England und Deutschland zu pendeln. Diese transnationale, beruflich bedingte Pendelmigration dauert zwei Jahre, bis der Ehemann eine Lösung für diese Situation fordert und als Alternative die Trennung oder eine Einwanderung nach Deutschland vorschlägt. Für Seija, wie wahrscheinlich für ihren Mann auch, bedeutet die Migration diesmal vor allem die Möglichkeit, ihrer familiären Dyade wieder Stabilität und Verlässlichkeit zu geben sowie der sozialen Kontrolle der Schwiegereltern zu entfliehen. Die zweijährige transnationale Pendelmigration, die vor ihrer Einwanderung nach Deutschland stattfindet, erleichtert Seija und ihrem Mann in mancher Hinsicht das Einleben in ihrem neuen »Zuhause«. Trotzdem hat Seija Anpassungsschwierigkeiten, da sie über keine Deutschkenntnisse verfügt, zunächst nicht Erwerbstätig ist und ihr Freundeskreis sich vor allem in England befindet. Diese problematische Situation führt dazu, dass Seija weiterhin zwischen Deutschland und England, wo das Ehepaar noch sein Haus besitzt, pendelt. Zugleich weist diese Situation auf die Entwicklung eines biographischen Selbst hin, das sich durch einen biographischen Bezug auf mehrere Orte definieren lässt. Dabei lösen die konkreten und imaginären Bezüge zu unterschiedlichen Lebenskontexten unterschiedliche Selbstdeutungen aus. Hier entsteht ein biographisch begründeter Erfahrungs- und Erinnerungsraum, der nationalstaatliche Grenzen überschreitet und der sich anhand der biographischen Bearbeitung der unterschiedlichen Migrationsprojekte und biographischen Selbstkonstruktionen feststellen lässt.
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Seija reflektiert ihr zweites Migrationsprojekt durch einen Vergleich zwischen ihrem ersten Migrationsprojekt von Finnland nach England und dem zweiten von England nach Deutschland. Während Seija die Migration nach England als ein »neues Leben« definierte, hat die Migration nach Deutschland durch die zuvor stattgefundene transnationale Migration einen völlig anderen Charakter. Der folgende Vergleich der unterschiedlichen Migrationsprojekte macht deutlich, wie unterschiedlich diese verlaufen sind. S: (…) hier in Deutschland ist es in diesem Sinne anders gewesen. Der Umzug nach England war so ein schrecklicher Schock. Ich vermisste meine Freunde und Freundinnen sehr und es hat etwa fünf bis sechs Jahre gedauert, bis ich dann das Gefühl hatte, dass ich nicht mehr nach Finnland fahren brauchte. I: Hm. S: Aber während der ersten fünf bis sechs Jahre bin ich zweimal im Jahr nach Finnland gefahren, obwohl meine beide Eltern schon gestorben waren. Aber ich habe meine Schwester besucht oder ich ging dann meine Freunde besuchen. Und es war so, dass man einen richtigen Hunger auf das Finnische hatte. Dann musste man finnisches Fernsehen schauen, finnisches Radio hören und ich habe Antiquariate besucht. Ich habe dort stapelweise Bücher zum Lesen in England gekauft, und sie als Postpakete dorthin geschickt. Und meine Koffer waren voll von finnischer Musik, Aarikka und sonst./Ich hatte das Bedürfnis, eine Finnin zu sein/(lächelnd). Insbesondere deswegen, weil meine Schwiegereltern es verneinen wollten. I: Hm. S: Ich hatte so ein –//wahrscheinlich hatte das, was die Schwiegereltern dachten, keine Bedeutung. Aber ich hatte auf jeden Fall ein schreckliches Heimweh. Als ich aus Finnland nach England zog, verschwand alle Sicherheit. Finnland ist genauso wie Deutschland meiner Meinung nach. I: Hm. S: Es ist dort so exakt und es gibt Ämter und Register und sonst, aber in England gab es nichts. (HE18/608-19/628)
Hier lässt sich vor allem die Bedeutung der Erfahrung einer biographischen Unsicherheit, die mit Seijas Migration einhergeht, feststellen. Während die Migration nach England für Seija eine völlig neue Welt und ein »neues Leben« darstellte, war sie zugleich mit einem »schrecklich[en] Schock« (HE19/609) verbunden. Diese evaluierende Anmerkung löst eine Beschreibung über Seijas Verhalten in den ersten Jahren der Migration aus. Während die Beschreibung des »neuen Lebens« in der Migration bis dato auf Basis der Darstellung der Auseinandersetzung mit dem autoritären Verhalten der Schwiegereltern stattfand, weist Seija
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nun an dieser Stelle darauf hin, wie das »neue Leben« mit der Konstruktion eines ethnischen Ichs einherging. Denn in der Migration übernimmt Seija bewusst die zugeschriebene Identität des Fremden als eine finnische Frau wahr und benutzt diese als eine ethnisierende Identifikation, die ihr einen Freiraum und eine Handlungsposition außerhalb der familiären Verhältnisse ermöglicht. Die SelbstEthnisierung, die der Logik der kulturellen Differenzen bzw. des strategischen Essentialismus (Spivak 1993) folgt, wird zu Seijas biographischem Handlungsschema, mit dem sie sich einerseits aus der ethnischen Community ihrer Schwiegereltern distanzieren will und andererseits ihr »Heimweh« (HE19/626), das jedoch aus fehlender sozialer Anerkennung resultierte, erleichtern will. Die Betonung der nationalen Herkunft drückt sich durch das oben zitierte Beispiel über den Konsum finnischer Kultur aus. Dieser Kulturkonsum unterstreicht die klischeehafte Reduktion der ethno-nationalen Herkunft auf bestimmte Eigenschaften, wie auf die der Konsumgüter. Diese besitzen einen hohen symbolischen Wert in der konstruierten Ikonographie des Ethnischen und des Nationalen (vgl. Connerton 1989). Jedoch will Seija die Konstruktion des ethnischen Ichs nicht nur als einen Gegenentwurf zu der Negation des Indischen deuten, vielmehr will sie diesen im Rahmen einer kollektiven Sicherheit sehen. Das Finnischsein und die Konstruktion eines ethnischen Hintergrunds als ein zentraler Bestandteil des biographischen Ichs sind für Seija zugleich mit der Dimension einer kollektiven Sicherheit verbunden. Diese Sicherheit bietet zugleich eine Sicherheit inmitten des permanenten Lernprozesses, der mit verschiedenen gesellschaftlich-strukturellen Unsicherheiten und biographischen Risiken in der Migration verbunden ist: »(…) man musste alles lernen (…). Ich hatte mich damals gar nicht auf den Umzug vorbereitet« (HE19/639-19/641). Das Leben in einer Metropole stellt Seija nicht nur aus der familiären, sondern auch aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive vor neuen Herausforderungen. S: (…) Dort leben acht Millionen Menschen und das ist mehr als in ganz Finnland. Und sie nehmen jeden früh/denselben Zug mit dem ich auf Arbeit fahre/(lachend). Es gab so viele Menschen in dem Zug, dass man sich nicht festhalten brauchte, weil man sowieso gut stehen konnte. Aber man konnte nicht atmen, da es so voll war. (…) All dieser alltägliche Stress und noch dazu, dass alles so anders war. Und es war kein Wunder, dass ich immer Heimweh nach Finnland hatte. (HE20/653-20/660)
Der mit der Migration einhergehende Gesellschaftswechsel und dessen Folgen führen zu Seijas starker Identifizierung mit Finnland und dem Finnischen. Diese Selbstethnisierung, die von außen angestoßen ist, fungiert als Seijas biographische Bewältigungsstrategie. Diese kommt nicht nur in der Identifizierung mit
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dem Finnischen zum Ausdruck, sondern sie entwickelt sich zu einem biographischen Handlungsmuster, das die Gestaltung ihres Lebens steuert. Es führt zu einer Situation in der Partnerschaft, dass Seija und Ravi eine lange Zeit keinen gemeinsamen Urlaub haben. S: Also=alle meine Urlaube habe ich//Am Anfang hatte ich//Mein Mann, als mein Mann nicht mit mir nach Finnland gefahren ist, hatten wir keine gemeinsamen Urlaube, weil ich immer nach Finnland fahren wollte. Und dies dauerte so etwa fünf bis sechs Jahre, bis ich das Gefühl hatte, dass ich nicht mehr nach Finnland fahren brauche, und dass ich auch ohne gut auskomme, und dass man auch irgendwo anders in der Welt Urlaub machen kann. Und dann haben wir angefangen, irgendwo anders zu reisen. (HE22/662-22/667)
In Seijas Bedürfnis, immer wieder nach Finnland zu fahren, drückt sich ihre Sehnsucht nach einer kollektiven Zugehörigkeit aus. Die häufigen Besuche in Finnland ermöglichten Seija das Gefühl, zur Majorität zu gehören, ohne sich immer wieder rechtfertigen zu müssen. Die Herstellung dieser Zugehörigkeit durch die häufigen Besuche und durch den Kulturkonsum scheint gerade in den ersten Jahren der Migration für Seija bedeutend gewesen zu sein. Dies war auch die Zeit, als der Druck vonseiten der Schwiegereltern am massivsten war und Seijas biographisches Handlungsschema sowie ihr biographisches Selbstverständnis bedrohte. Die Besuche in Finnland hatten somit auch die Funktion, das drohende biographische Verlaufskurvenpotential umzulenken und dadurch Seijas biographisches Handlungsschema im Bereich der Selbstbestimmung zu ermöglichen. Die Herstellung einer ethno-nationalen Zugehörigkeit diente dabei als eine Basis, die es Seija ermöglichte, ihr von der jeweiligen Norm abweichendes Verhalten zu legitimieren und die radikalen Lebensänderungen zu meistern, ohne dabei handlungsunfähig zu werden. Mit den Jahren hat sich jedoch die Bedeutung von Finnland für Seijas Selbstentfaltung wieder verschoben. S: -- hm -- ich denke es ist//das erinnert mich an//ich habe eigentlich kein Bild darüber, wie es in Finnland ist, weil ich schon damals schon weg war, als die aller -- schlimmste Rezession dort war. Ich habe eigentlich keine Ahnung, wie es war. Das einzige, was zu merken war, war als ich im Urlaub in Finnland war, dass ich sehr viele Finnmarks für meine Pfunde bekam. Ich habe auch meine Studiendarlehen zurückbezahlt – stattdessen, dass ich dies 14 Jahre lang bezahlt hätte, habe ich es in zwei Jahren zurückbezahlt. I: Hm.
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S: Und ich hatte fast das höchstmögliche Studiendarlehen. Es war/so/(lachend). -- Ich kann es mir nicht so richtig vorstellen, wie das Leben dort jetzt richtig ist. Ich bin jetzt seit vielleicht zwei oder drei Jahren nicht mehr nach Finnland gefahren. I: Ja. S: Und natürlich sollte ich//mein Mann hat vorgeschlagen, dass wir nach Finnland ziehen -- schon wegen Samis Schule. Aber ich fand diesen Gedanken fremd. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Finnland mir langsam wie ein -- Ausland ist. I: Hm. S: Und=und --/ich kann es mir nicht vorstellen/(lachend). Das einzige, was ich gut erhalten habe, ist die Sprache, weil ich so viel finnische Literatur gelesen habe. Die wird bestimmt nicht so leicht verrosten. -- Im Vergleich zu diesen Frauen, die ich in England kennengelernt habe, und die dort schon seit 30 oder 20 bis 30 Jahre leben. (HE20/67521/698)
Mit den Jahren haben sich Seijas Beziehung zu Finnland und ihre Identifikation mit dem Finnischen geändert. Dies weist darauf hin, dass die ethno-nationale Identifikation für den Erhalt ihrer Handlungsfähigkeit an Bedeutung verloren hat. Zugleich führte dies zu einer Situation, in der Seija Finnland selten besucht und als »ein Ausland« (HE21/692) betrachtet. Jedoch stellt Seija durch ihren Sohn eine neue Beziehung zu Finnland und dem Finnischsein her. Der Erhalt und die Weitergabe der finnischen Sprache an ihren Sohn hat die Funktion, intergenerative Kontinuität herzustellen. Die finnische Sprache als eine Ausdrucksform stellt eine identitätsstiftende Beziehung zum Finnischen und zu Finnland her, ist jedoch nicht mit dem Leben in Finnland verbunden. Vielmehr ist die Sprache ein bedeutender Faktor bei der Entwicklung der Mutter-SohnBeziehung. Die Situation, dass Seija Finnisch mit ihrem Sohn, der in Deutschland geboren ist, spricht, führt auch dazu, dass sie nun eine Beziehung zu einer finnischsprachigen Community in Deutschland sucht und in deren Rahmen ehrenamtlich tätig wird. Insgesamt kann festgestellt werden, dass Seija ihre Migration nach Deutschland in einem völlig anderen Licht darstellt als ihre Migration nach England. Da schon eine zweijährige transnationale Pendelmigration stattgefunden hatte, scheint das eigentliche Migrationsprojekt zunächst keinen biographischen Umbruch darzustellen. Vielmehr lässt sich die Migration nach Deutschland als eine Folge der transnationalen Pendelmigration definieren. Während die Migration aus Finnland für Seija ein Verlassen des Alten und somit »ein neues Leben« bedeutete, ist die Migration nach Deutschland von einer möglichen Rückkehr geprägt. Die Vorstellung einer möglichen Rückkehr macht es Seija auch leichter, das neue Migrationsprojekt zu bewältigen.
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S: (…) Und als ich nach Deutschland zog, war ich schon hier//zwei Jahre lang bin ich an Wochenenden hierher gefahren. Jeder von uns ist jede zweite Woche gefahren. Als ich dann nach Z-Stadt zog, war mir alles schon bekannt. Es war nicht so I: Hm. S: nicht so -- eine radikale Übergangsphase//oder es war nicht so eine radikale Änderung, wie es der Umzug nach England war. -- Und=und -- die Schwiegereltern fragen, wann wir zurückziehen und wir antworten immer, dass noch nicht. (HE20/667-20/675)
Jedoch ist die eventuelle Rückkehr nach England mit dem schwierigen Verhältnis zu den Schwiegereltern verbunden. Das Leben in der Migration ermöglicht die Bewahrung einer Distanz zu den Schwiegereltern, die für das selbstständige Leben von Seija und ihrem Mann von Bedeutung ist. Um diese Autonomie bewahren zu können, erscheint die Rückkehr wiederum unmöglich. S: (…) es war sehr schwierig und es störte unser Leben sehr stark dort. Und es war mir, und es ist mir immer noch, Stress. Als Sami geboren war, sagten sie gleich, dass sie an Samis Erziehung teilnehmen wollen und was immer. Und ich sagte, dass over my dead body. Und deswegen, obwohl ich sonst zurück nach England ziehen möchte, ist es eigentlich der einzige Grund I: Hm. S: warum ich nicht dorthin gehe. Ein anderer Grund ist, dass die englischen Schulen nicht so gut sind. -- Ich mache mir schon Gedanken über Samis Zukunft, aber bis dahin sind es noch einige Jahre. (HE13/423-13/432)
Es ist nun interessant, dass bei Seijas Gedanken über eine eventuelle Rückkehr nach England nicht die ökonomische Perspektive, sondern vor allem die familiäre Perspektive überwiegt. Außer den Problemen mit den Schwiegereltern stellt nun auch die zukünftige Schulausbildung des Sohnes eine weitere Hürde für die Rückkehr der Familie nach England dar. Es scheint, als ob Seija hier das Leben in der Migration als ihre einzige sinnvolle Handlungsperspektive sieht. Auch die Erfahrung der eigenen ethnischen »Unsichtbarkeit« ist eine neue Erfahrung für Seija, die den Übergang nach Deutschland erleichtert. Die Möglichkeit, als Deutsche wahrgenommen zu werden, steht im Gegensatz zu Seijas Erfahrungen während ihres ersten Migrationsprojektes nach England. Dort evozierte der familiäre sowie gesellschaftliche multikulturelle Kontext einerseits eine Erfahrung der ethno-nationalen Differenz, die andererseits aber auch einen Raum für hybride Entortungen und transnationale Zugehörigkeiten eröffnete: »In der A-Stadt ist jeder AusländerIn« (NFT35/1176). Während die Beschreibung der eigenen »Sichtbarkeit« im Sinne einer ethnisierten Differenz für Seija in
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England spürbar ist, ist sie in Deutschland der ethnischen »Unsichtbarkeit« im Sinne eines Passings begegnet. Seija wird als Deutschsprachige und eventuell auch als Deutsche wahrgenommen. S: und wenn ich auf der Straße laufe, sprechen die Menschen mich auf Deutsch an. I: Hm. S: Und ich muss sagen Entschuldigen Sie bitte ich (…) spreche kein Deutsch I: Hm. S: Sprechen Sie Englisch oder (…). (NFT35/1159-35/1165)
Während England und das Leben in einer Metropole Seija die Erfahrung einer hybriden Identität als Ausländerin ermöglichte, scheint nun im Kontext einer deutschen Großstadt diese verloren zu gehen. Stattdessen macht Seija die Erfahrung, als Deutsche durchgehen zu können und somit ethnisch »unsichtbar« zu bleiben. Da Seija dies nun implizit am Äußeren festmacht, weist dies darauf hin, dass das Aussehen als ein ethno-nationalistisches oder rassifizierendes Erkennungsmerkmal einen hohen Stellenwert hat. Dies unterstreicht auch folgende Passage, in der Seija sich Gedanken über die phänotypischen Merkmale ihres Sohnes macht. S: Sami sieht überhaupt nicht wie ein indisches Baby aus I: Hm. S: mehr wie ein finnisches, meiner Meinung nach. Seine Haarfarbe ist meine und der einzige Unterschied ist, dass er braune Augen hat. I: Hm. S: Einer meiner Stiefbrüder ist schwarzhaarig und braunäugig, so dass er bestimmt als Finne durchgehen würde. (NFT36/1186-36/1194)
Dieses Zitat weist hier darauf hin, wie die Herstellung einer Kollektivität mit einer phänotypischen Stereotypisierung verbunden ist. Der Wunsch, Sami als ein finnisch aussehendes Baby zu deuten, liegt in Seijas Bedürfnis begründet, möglichst unauffällig zu sein, in dem Sinne, dass man der Majorität ähnelt (Passing) und dadurch die eventuelle rassifizierende Zuschreibung vermeiden kann. Zugleich unterstreicht die hier auf Grundlage des Phänotyps konstruierte ethnonationale Zuordnung die Möglichkeit, eine identitätsstiftende mehrfache Verortung als eine Basis der Zugehörigkeit und Identität zu erlangen. Auch Seijas eigene biographische Mehrfachverortung erscheint als eine Selbstentfaltungsstrategie, die eine starke Handlungsrelevanz hat. Nach ihrer Migration nach England ist die Konstruktion der ethnischen Identität als Finnin
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ein zentraler Baustein ihrer biographischen Verortung. Dagegen stellen England und Deutschland Seijas während ihrer transnationalen Migration weitere unterschiedliche Identifikations- und Verortungsmöglichkeiten bereit. Das Gemeinsame bei der Herstellung dieser verschiedenen Verortungsstrategien ist die Möglichkeit, durch eine mehrfache biographische Verortung selbstbestimmt und aus der biographischen Perspektive betrachtet handlungsfähig bleiben zu können. In Seijas Fall scheint das Weiterziehen und die Entstehung von neuen Migrationsprojekten mit der Herstellung von neuartigen biographischen Selbstverortungen verbunden zu sein. S: Und jetzt, wenn wir wegziehen, habe ich sie geschlossen oder ich habe die Firma gesetzgemäß abgemeldet, so dass wir keine Mühlsteine haben, wie unser Zuhause und das Haus dort in England. Es ist nicht//bald hat man in jedem Land etwas (lacht), I: Hm. S: wenn man aller paar Jahre umziehen muss. -- Es bleibt also in jedem Land immer etwas//irgendwelche unvollendeten Sachen, die man erledigen sollte, und ich mag es eigentlich überhaupt nicht. (HE20/600-608)
Dieses Zitat verweist darauf, dass Seija das Bedürfnis hat, keine »unvollendeten Sachen«, die eventuell durch weitere Migrationen verursacht werden, hinter sich zu lassen. Während vorher die mehrfache biographische Verortung eine Möglichkeit darstellte, handlungsfähig zu bleiben, erscheint hier nun die mehrfache Verortung in Form von Pflichten, fast in einem negativen, Seija belastenden Licht. In Seijas biographischer Darstellung lässt sich eine ebenso starke identifikative Verbindung mit England feststellen wie mit Finnland zu Beginn ihrer Migration aus Finnland. Das Leben in Deutschland ist mit einer Identifizierung mit England verbunden. Es symbolisiert für Seija einen Ort der Freiheit und ihrer Sehnsucht: »das Leben dort ist irgendwie freier als hier in Deutschland« (HE18/583). Es ist zu vermuten, dass Seija sich hier nicht nur auf die gesellschaftlichen Umstände, sondern auch auf ihre eigene biographische Lebenslage bezieht. Obwohl das Zusammenleben mit den Schwiegereltern in England mit Schwierigkeiten verbunden ist, ist es jedoch auch eine Zeit, in der Seija ökonomisch unabhängig und berufstätig ist. Die transnationale Berufsmigration des Ehemannes hat hingegen eine Situation kreiert, in der Seija für sich selbst keine eigene berufliche Perspektive sieht. S: (…) es ist wie ein Leben von Wanderern. Man muss leider meistens der Arbeit des Mannes hinterher gehen. Es ist so, dass ich mich frage, wie es sein würde, wenn ich
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berufstätig wäre und Karriere hätte. Es wäre dann nicht so selbstverständlich, dass wir weiterziehen. Mein Mann begründet dies damit, dass so lange er mehr als ich verdient, gehen wir dorthin, wo er Arbeit bekommt. I: Hm. S: Und natürlich klingt es sehr vernünftig, aber es ist meiner Meinung nach nicht gerecht. (NFT34/1138-34/1147)
Dieses Zitat unterstreicht Seijas unabhängige Stellung als die Ehefrau eines international operierenden IT-Spezialisten. Die Migration nach Deutschland kreiert ein neues partnerschaftliches Machtverhältnis, das Seija in die Rolle einer ökonomisch abhängigen Ehegattin drängt. Solange Seija und ihr Mann die transnationale Pendelmigration bevorzugen, können beide Partner ihre individuellen Bedürfnisse auf Kosten der räumlichen Entfernung ausleben. Als sie nach Deutschland immigrieren und die Geburt des ersten Kindes der Migration folgt, verschiebt sich das egalitäre Verhältnis und es verfestigt sich eine hierarchische geschlechtsspezifische Arbeitsteilung innerhalb der Familie. S: Und dann als Sami geboren wurde//es gibt solche Sachen, dass mein Mann mir plötzlich sagt, dass er denkt, dass die Frau zu Hause bleiben sollte, und der Mann das Einkommen besorgen soll. – Ich habe/oh mein Gott/(langsam und dehnend) und jetzt nach zehn Jahren erzählt er mir//ich wurde total veräppelt/total/(lacht und ich als Interviewerin lache mit) und er meint es ganz seriös I: Hm. S: es ist unglaublich. (NFT26/853-26/860)
Dieses Zitat weist darauf hin, dass nicht nur die Migration, sondern auch der Übergang in eine neue biographische Statuspassage von zentraler Bedeutung bei der Bewältigung des Migrationsprojektes ist. Im Fall von Seija und Ravi ruft die mit der Migration einhergehende Statuspassage der Familiengründung ein hierarchisches Geschlechterverhältnis mit stereotypischer Rollenverteilung hervor. Obwohl Seija ihre Mutterschaft genießt, kann ihr Bedürfnis, das Muttersein mit der Erwerbstätigkeit zu vereinbaren, abgeleitet werden. In diesem Wunsch spiegeln sich sowohl ihre biographischen Erfahrungen als auch ihr biographisches Wissen über die »Normalbiographie« finnischer Frauen wieder, für die die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Erwerbstätigkeit einen selbstverständlichen weiblichen Lebensentwurf darstellt (vgl. Pfau-Effinger 2000). Zugleich befürchtet Seija ihre berufliche Dequalifizierung und fühlt sich unterqualifiziert wegen des nie abgeschlossenen Studiums.
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S: (…) jetzt habe ich so eine Situation, dass ich nicht so richtig weiß, was ich mit mir mache, weil ich in Deutschland nicht erwerbstätig gewesen bin. I: Hm. S: Ich habe mich nur um die Sachen der Firma gekümmert. – (schmatzt) Und ich habe noch den Mühlstein, daran ich die letzten zehn Jahre gedacht habe. (…) Als ich aus Finnland nach England zog, hatte ich mein Studium fast fertig, nur die Diplomarbeit fehlte. I: Hm. S: (schmatzt) Und sie fehlt immer noch. Während dieser Jahre ist das Thema, das ich hatte//ich habe letzte Zeit diese Literatur gelesen, die ich hatte und habe dann das Thema noch mal überlegt und kam dann zu dem Schluss, dass das mich nicht mehr interessiert. -- Und -- (seufzt) aber ich möchte die Diplomarbeit fertig kriegen. (seufzt) So dass man --//es ist so eine Sache, die mich selbst am meisten stört. I: Hm. S: So eine unvollendete Sache. (HE22/740-23/758)
Der Hinweis auf das Studium als eine »unvollendete Sache« deutet auf Seijas Unzufriedenheit hin. Sowohl das nicht abgeschlossene Studium als auch das Haus in England verdeutlichen Seijas mehrfache, nationalstaatliche Grenzen überschreitende biographische Orientierung. Gleichzeitig offenbart Seija, das sie ihre jetzige biographische Perspektive als Belastung empfindet, was jedoch scheinbar auch von Seijas Unzufriedenheit an ihrer Situation als abhängige Ehefrau herrührt. S: (…) -- Und dann, wenn Sami etwas größer ist und ich ihn ohne Problem in -- einen Kindergarten geben kann, -- also dann, wenn Sami drei Jahre alt ist. -- Dann sollte ich mir spätestens eine Arbeit suchen, weil – ich kann nicht […] so wie jetzt leben, dass ich keine Arbeit habe und kein eigenes Leben, das sich durch die Erwerbstätigkeit formt. -- Und dann natürlich das soziale Leben auch. Jetzt hängt fast alles von dem Mann ab, und insbesondere finanziell hängt natürlich alles von ihm ab. – Und die Bekannten, die er hat, hat er durch seine Arbeit bekommen. Ich habe einige Freunde aus England, die auch hier arbeiten. Also das ist auch//es beschränkt mich auch meiner Meinung nach. -- Oder es ist wie […] //es begrenzt nicht, aber es ist keine gesunde Situation, meiner Meinung nach. Eine Situation, dass ich kein eigenes Leben habe -- ein Leben -- woran ich gewöhnt bin. […] Meiner Meinung nach, muss ich ein eigenes Kontobuch, eigenes Geld und eigene Sachen -I: Hm. S: eigenen Schreibtisch -- und sehr gern auch einen eigenen Computer haben. Und so (lacht) mir sind diese Sachen sehr wichtig. (HE23/758- 23/774)
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Damit unterstreicht Seija ihr Autonomiebedürfnis, das durch ein eigenes Erwerbseinkommen zu erreichen wäre, was ihr eine ökonomische Selbstständigkeit, für Seija ein zentrales Merkmal eines emanzipatorischen Verhaltens, ermöglichen würde. Das Geld und finanzielle Unabhängigkeit nimmt in Seijas biographischer Erzählung einen zentralen Stellenwert ein und symbolisiert zugleich die Möglichkeit einer individuellen Unabhängigkeit. Die folgende Passage unterstreicht die Selbstverständlichkeit des Geldes als eine Vergütung der erbrachten Leistung, die Seijas Leben schon seit ihrer Kindheit strukturiert hat. S: (…) Aber es ist -- ich habe schon seit ich Jugendliche war -- selbst mein eigenes Geld verwaltet. – Und ich bin so ein Pfennigfuchser gewesen, dass -- diese Situation mich irritiert, wenn ich immer --//mein Mann hält das Portemonnaie nicht fest, sondern umgekehrt, er fordert mich eigentlich – eigentlich, das Geld zu benutzen. Und wenn ich das nicht selbst benutze, geht er dann mit mir einkaufen. – Es ist nicht so, dass ich ihn um Geld bitten und beten muss, sondern es ist mehr eine Idee da im Kopf. I: Hm. S: Und ich finde es schlecht, -- wenn ich nicht selbst das Geld verdient habe, und ich gebe das auch nicht reichlich aus, aber so lange er darüber keine Kopfschmerzen hat, soll ich vielleicht die Situation -- ausnutzen. I: Hm. S: Aber ich benutze dann mein Geld//das Geld lieber für Sami als für mich selbst. Und das Geld ist sehr wichtig, weil, wenn man eigenes Geld hat, kann man auch sich emanzipieren, da man keine Verantwortung keinem gegenüber hat. Man kann alles machen, was man will -- in bestimmtem Maße. -- Und es wäre eine gute Sache, arbeiten zu gehen -- dann, -- wenn Sami -- in den Kindergarten geht. -- Dann würde ich mir eine Arbeitsstelle suchen. (HE24/795-25/814)
Das hier zitierte Beispiel über die Bedeutung des Geldes weist darauf hin, in welches Dilemma Seija geraten ist, als sowohl die gesellschaftlichen, die strukturellen als auch die familiären Bedingungen nicht mehr dem eigenen Selbstverständnis und Selbstbild der ökonomisch unabhängigen Ehefrau entsprechen und somit neue Lösungsstrategien erforderten. Als ich das biographisch-narrative Interview mit Seija führte, war dieser Konflikt- und Aushandlungsprozess gerade aktuell. Eine mögliche Lösung dieser Situation war für Seija die in einigen Monaten erfolgende Migration nach Z-Land. Seijas Zukunftsträume richteten sich nun vor allem auf das Aufgreifen eines biographischen Handlungsschemas, das ihre Handlungsautonomie verbessern würde. Dies bestand vor allem in dem Traum, das Studium abzuschließen und die Berufstätigkeit wieder aufzunehmen. Damit sah Seija auch ihre Chance, die in der Migration und während der Famili-
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engründung entstandene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zu überwinden. Außerdem war die Migration nach Z-Land mit dem Wunsch verbunden, sich in der finnischen Community in Z-Land zu engagieren und eventuell dort erwerbstätig zu werden. Dies würde zugleich dem Sohn eine finnischsprachige Umgebung bieten und damit die Weitergabe des kulturellen Kapitals sowie die Herstellung der ethnischen Zugehörigkeit unter Migrationsbedingungen ermöglichen. Bilanzierung
In der am Ende des Interviews stattfindenden Bilanzierungsphase entwirft Seija ein Bild von ihrem Leben, wenn sie nicht ausgewandert wäre. Diese reflexive Bezugnahme verdeutlicht den »wahrscheinlichsten Weg«, dem Seija in Finnland gefolgt wäre, wenn sie nicht das Migrationsprojekt in die Wege geleitet hätte. S: (…) Es ist jetzt so das -- das Leben. -- Es ändert den Menschen, diese Reisen im Ausland. Wenn man das mit dem vergleicht, wie ich früher war, bevor ich auszog, und was ich jetzt bin. Es sind natürlich auch die Lebenserfahrungen, die ich habe --//die sind so anders. Ich kann mir gut vorstellen, wenn ich in Finnland gelebt hätte, hätte ich bestimmt dann irgendwann geheiratet, wenn ich nicht mit diesem Ex-Partner das Leben weitergeführt hätte, aber bestimmt irgendwann hätte ich mich verheiratet und würde dann in einem Reihenhaus wohnen, und ich hätte bestimmt eine Sommerhütte, dann wäre ich eine Bibliothekarin in irgendwelcher Bibliothek. Im Sommer würde ich bei der Sommerhütte verweilen und im Winter würde ich irgendwo hinfliegen. Ich habe keine Vorstellung über etwas anderes, weil ich weiß, wie ich damals war, I: Hm. S: bevor ich ins Ausland zog. Und jetzt habe ich das Gefühl, dass ich keine Ahnung habe, was man alles machen kann, und es gibt mehr Stress darüber, was man machen sollte, und es ist anders in diesem Sinne, dass die ganze world is your oyster. Und mein Mann ist so ein=so ein – dass er -- richtig -- fordert, dass man Sachen macht und so habe ich allerlei Sachen gelernt. (HE21/698-22/716)
Die reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen biographischen Entwicklung verdeutlicht den biographischen Veränderungsprozess, den Seija während ihrer Migration durchlebt. Gleichzeitig unterstreicht sie auch die Dynamik, die Unsicherheit, das Neue und das Überraschende in Seijas Leben in der Migration. Die neuen Situationen, die die Migration für Seija darstellen, lassen sich wie große Herausforderungen und als ein dauerhafter biographischer Lernprozess deuten. Diese vielfältigen Möglichkeiten, die Seija in der Migration offenstehen und die wahrgenommen werden sollten, nimmt Seija bisweilen als Stress wahr. Das neue
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Migrationsprojekt, das zum Zeitpunkt des Interviews bevorstand, löste bei Seija eine ambivalente Reflexion aus. S: (…) Es macht mich nicht ängstlich, weil wenn ich es bei der Bank geschafft habe und eigentlich nichts konnte, dann schaffe ich es auch irgendwo anders. I: Hm. S: Es ist nur der Anfang, der schwierig ist/der belastend ist/(leise). (HE25/823-25/828)
Seija sieht jedoch nicht nur ihre eigene Situation, sondern auch die ihres Sohnes als ein Problem. Zum einen empfindet Seija die mehrfachen Migrationen als Herausforderung, zum anderen weist sie darauf hin, wie dies spätestens im Schulalter ihres Sohnes zu einem Problem werden wird und fordert deshalb eine Festlegung des Wohnortes. S: (…) Aber ich weiß es nicht -- es ist interessant wie/wie man kann/wie man sein Kind in dieser Umgebung erzieht -- wenn alles so multinational ist und man weiß nie, wo wir -- wo wir hinziehen und wann. Spätestens dann, wenn Sami größer ist – oder zur Schule geht, müssen wir uns irgendwo festlegen. – Aber mein Mann, er will gehen. (HE22/734-22/740)
7.3.3.6. Zusammenfassende Betrachtungen Das Typische des Einzelfalls
Seijas biographische Selbstdarstellung entwickelt sich auf der Grundlage der Beschreibung der Auseinandersetzungen mit Autoritäten. Diese Beschreibung ist durch Seijas Versuche, ihre biographische Handlungsautonomie trotz unterschiedlicher Probleme und Konflikte beizubehalten, gekennzeichnet. Somit lassen sich die biographische Haltung und die Gesamtgestalt (Schütze 1984) als ein dauerhafter Kampf um die eigene Handlungsautonomie deuten. Typisch für die biographische Darstellung ist das sich wiederholende Muster des konflikthaften Ablösungsprozesses, das auf unterschiedlichen Ebenen und in Bezug auf unterschiedliche Verhältnisse thematisiert wird. Zum einen geht es um Seijas eigenen Ablösungs- und Individuierungsprozess in Hinsicht auf ihren Vater (autoritäres Verhältnis), Partner (Abhängigkeitsverhältnis) und Arbeitgeber (Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnis). Zum anderen rückt der familiäre Ablösungsprozess des Ehemannes, der mit einem innerfamiliären und einem kulturellen Traditionsbruch verbunden ist, durch die Schilderungen von Seijas Problemen mit ihren Schwiegereltern, als nicht erwünschte Schwiegertochter, in den Vordergrund. Obwohl die von Seija geschilderten massiven Probleme ein drohendes Verlaufskurvenpotential darstellen, führt dies nicht zum Umkippen des
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biographischen Handlungsschemas, sondern zur aktiven Gegensteuerung. Insgesamt lassen sich die Probleme, denen Seija begegnet ist, als Herausforderungen rekonstruieren, die immer wieder erfolgreich bewältigt werden. Da Seija zum Zeitpunkt des biographisch-narrativen Interviews vor einem neuen Familienmigrationsprojekt steht, konnte eine biographische Unsicherheit im Sinne des Prozessiertwerdens festgestellt werden. Um handlungsfähig und positiv eingestellt zu bleiben, deutet Seija dies sowohl familiär als auch individuell als eine neue Herausforderung. Typik des Migrationsprozesses: Vom biographischen Wendepunkt zu problemlosen Übergängen
Wie gestaltet sich nun die Dynamik zwischen Seijas Biographie und den Migrationsprozessen? In Seijas biographischer Darstellung lassen sich unterschiedliche Migrationsprozesse feststellen. Die in der Kindheit stattgefundene Binnenmigration, von der Stadt aufs Land, genauso wie die Migration aus Finnland nach England in den 1990er Jahren, lassen sich als biographische Wendepunkte rekonstruieren. Die Migration aus Finnland nach England, die Seija selbst mit dem Ausdruck »my new life« (HE9/290) charakterisiert, lässt sich jedoch auf unterschiedlichen Ebenen deuten. Einerseits unterstreicht dieser Ausdruck den Bruch, den die Migration in Seijas damaligem Leben, das bis dato sein Zentrum in Finnland hatte, darstellte. Andererseits verweist der Ausdruck auf Seijas Erwartungen und ihre Einstellungen gegenüber ihrem zukünftigen Leben in England, das sich anders als ihr bisheriges Leben darstellen sollte. Da Seija aus Finnland auswandert, um einen Briten indischer Herkunft zu heiraten, markiert die Migration auch gleichzeitig den Beginn einer neuen Beziehung und eines neuen Lebensabschnittes. Obwohl die Migration einen Bruch in Seijas Leben darstellt, ermöglicht sie jedoch auf der Beziehungsebene eine Wiederherstellung der Kontinuität, die aus dem Leben in einer heterosexuellen Partnerschaft entsteht. Zunächst scheint auch für Seijas Ehemann, der beruflich viel, in der ganzen Welt unterwegs ist, Seijas Migration einen biographischen Wendepunkt zu markieren, der mit einem punktuellen Sesshaftwerden verbunden ist. Jedoch führt das Wiederaufgreifen seines mobilen biographischen Handlungsschemas dazu, dass Seija und ihr Ehemann beginnen, wöchentlich zwischen Deutschland und England zu pendeln. Nach zweijährigem Pendeln scheint die Migration nach Deutschland als einzige Möglichkeit, die Partnerschaft zusammenzuhalten. Diesmal stellt sich die Migration, im Licht der zweijährigen transnationalen Pendelmigration, als ein problemloser Übergang von einer in die andere Gesellschaft dar, aber ist ebenso, wie Seijas erstes Migrationsprojekt aus Finnland nach England, mit der Herstellung der Kontinuität auf der Beziehungsebene verbunden. Obwohl Seija durch ihre Migration ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegt, pendelt
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sie zunächst weiterhin zwischen England und Deutschland, bis sie schwanger wird. Biographische Verortung
Wie lassen sich nun die biographische Positionierung und die Entfaltung des Selbst aus Seijas biographischer Darstellung herauslesen? Seijas biographische Selbstdarstellung eröffnet unterschiedliche Perspektiven auf ihre Position als eine Frau und Migrantin, die ich im Folgenden, auf diese Fragestellung zugeschnitten, diskutieren möchte. Seijas Bildungsgeschichte, die gleichzeitig als eine Individuierungsgeschichte gelesen werden kann, weist auf die Bedeutung des Bildungsweges als eine Möglichkeit, einen familiären Ablösungs- und Individuierungsprozess zu gestalten. Die von der Mutter unterstützte Bildungsaspiration stellt zunächst einen Konflikt zwischen Seija und ihrem Vater dar, der den Wert der Bildung nicht nachvollziehen kann. Die starke Bildungsaspiration, die sich aus Seijas biographisch-narrativem Interview rekonstruieren lässt, erscheint einerseits als eine Rebellion gegen den Vater, andererseits als eine gesellschaftliche und gleichberechtigte Normalitätserwartung, was nach dem Abitur fast zu einem Zwang für Seija wird: »alle gehen studieren«. In Seijas Fall bedeutet der Beginn des Studiums auch eine Möglichkeit, von Zuhause ausziehen zu können, und ermöglicht damit auch einen familiären Ablösungsprozess, der gleichzeitig mit einem gesellschaftlichen Aufstieg und mit der Distanzierung von der sozialen Schicht der Eltern verbunden ist. In Seijas Fall ist die Position einer Bildungshungrigen jedoch auch mit einer Orientierungslosigkeit während des Studiums und mit der Schwierigkeit, Entscheidungen treffen zu können, verbunden und führt zu einem unmotivierten Studium. Erst der Tod des Vaters löst einen biographischen Transformationsprozess aus, der zum Studienwechsel und zu aktivem biographischem Handeln führt. Jedoch ist das Studium in Seijas biographischer Darstellung nicht nur mit der Wissensakkumulation verbunden, sondern mischt sich mit der Beschreibung intimer Beziehungen. Während die Partnerschaft mit dem finnischen Freund nach kurzer Bekanntschaft, schneller Verlobung und dem Zusammenziehen als »moderne Partnerschaft ohne Eheschein« beschrieben werden kann, lässt sich die langjährige Freundschaft zu dem Briten indischer Herkunft, die sich mit der Zeit zu einer Liebesbeziehung entwickelt, als romantische Liebe mit Eheschein rekonstruieren. Zugleich aber spielt die Ehe als ein legalisiertes partnerschaftliches Modell eine bedeutende Rolle beim Erhalt des unbefristeten Aufenthaltsstatus. Der biographische Wendepunkt, der sich aus der Migration von Finnland nach England in Seijas biographischer Darstellung rekonstruieren lässt, ist
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gleichzeitig mit einer neuen identitätsstiftenden Subjektposition und Handlungsoption verbunden, die einen biographischen Transformationsprozess auslösen. Dass Seija selbst eine Trennlinie zwischen ihrem Leben vor und nach der Migration zieht, kommt in ihrer Aussage »my new life« (HE9/290) zum Ausdruck. »Das alte Leben«, im Vergleich zum »neuen Leben« in der Migration, das Seija hinter sich lassen will, lässt sich in ihrer biographischen Darstellung als ein problematischer Lebensabschnitt erkennen. Während die Erzählung über die Zeit vor der Migration von der Schilderung eines Individuierungsprozesses in der Auseinandersetzung mit den Autoritäten und der gleichzeitigen Orientierungsund Motivationslosigkeit verbunden war, lässt sich die Erzählung über das Leben in der Migration durch die Beschreibung des Versuchs, eigene Handlungsfähigkeit innerhalb der Familie und am Arbeitsplatz zu erhalten, charakterisieren. Der biographische Wendepunkt, der sich aus Seijas biographischer Darstellung herauslesen lässt, kann auf unterschiedlichen Ebenen rekonstruiert werden. Der Wendepunkt, der das Verlassen des Alten und den Beginn des Neuen in Seijas Biographie markiert, konkretisiert sich im sechsmonatigen Visum, das Seija bekommt, um während dieser Zeit ihren zukünftigen Mann in England zu heiraten. Das Visum ermöglicht einen transitorischen Zugang zu einer anderen Gesellschaft, den der Trauschein vervollständigen soll. Die Ehe legitimiert ihre Position als eine ausländische Ehefrau innerhalb der Aufenthaltsregulationen in Bezug auf Drittstaatler, da Finnland damals noch nicht zur EU gehörte. Während Seija sich in ihrer biographischen Darstellung jedoch weniger in der britischen Gesellschaft positioniert, bekommt die angeheiratete Familie desto größere Bedeutung in ihrer Positionierung als eine ausländische Ehefrau. Dabei lässt sich Seijas Position als rebellisch rekonstruieren. Diese Rebellion kommt zunächst in ihrem widerständigen Verhalten den Aufforderungen der Schwiegereltern gegenüber zum Ausdruck. Diese Konflikte führen zu einer Situation, in der Seija eine Gegenposition einnimmt und sich selbst ethnisiert, um ihre biographische Handlungsautonomie zu behalten. Diese Selbst-Ethnisierung fungiert hier als eine essentialisierende Strategie, die eingesetzt wird, um durch die Konstruktion einer ethnischen Differenz einen Legitimationsgrund für ihr Verhalten, das sich von dem ihr abverlangten Verhalten unterscheidet, zu konstruieren. Hier lässt sich aus Seijas Darstellung die biographische Konstruktion einer ethnischen Identität als Finnin herauslesen. Diese ethnisierte Subjektposition ist jedoch eine widersprüchliche und ambivalente Position, die keine eindeutige Interpretation zulässt. Vielmehr können die unterschiedlichen Positionierungen als Resultate der Interaktionen mit unterschiedlichen Kollektivitäten gedeutet werden. »Das Finnische« wird zunächst als Gegenpol und ethnische Differenz konstruiert, um die Distanz zu
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den Schwiegereltern zu bewahren und dabei selbst handlungsfähig zu bleiben. Diese ethnisch distanzierende Position berechtigt Seija im Sinne eines Multikulturalismus von der kulturellen Differenz zu sprechen, die jedoch in ihrem Fall erst durch die ungleichen Machtverhältnisse evoziert wurde. Dabei scheinen die nach außen gerichteten kulturellen Differenzen als innerlich einheitliche Konstruktionen, während »das Finnische« in Bezug auf andere Finnen und Finnland wiederum differenziert und für weitere Deutungen geöffnet wird. Die Differenz und Distanz zwischen Seija und ihren Schwiegereltern wird über die rassifizierende Konstruktion einer Weißen Frau vonseiten der Schwiegereltern verstärkt. Dabei mischt sich in dieser Konstruktion die Infragestellung der von der heterosexuellen Frau erwarteten Reproduktionsfähigkeit mit der Positionierung einer rassifizierenden Hierarchisierung aufgrund der Hautfarbe in der englischen Gesellschaft. Obwohl Seija eine Ausländerin und Migrantin ist, ist sie jedoch eine Weiße Europäerin, deren Position eine strukturelle Dominanz in den rassifizierenden europäischen Gesellschaften darstellt. Diese Position ermöglicht ihr auch in Deutschland, vom Phänotyp als Deutsche wahrgenommen zu werden. Außerdem lässt sich in Seijas biographischer Darstellung eine starke Identifizierung mit England, während ihres Lebens in Deutschland, feststellen. Diese äußert sich durch das häufige Pendeln zwischen England und Deutschland sowie durch ihre biographische Verortung, die auf eine Konstituierung einer transnationalen biographischen Positionierung und transnationalen Lebensform hinweist. Diese ist durch die Konstruktion von multipler und flexibler biographischer Verortung gekennzeichnet, die es ihr ermöglicht, drohende Verlaufskurven abzulenken und biographisch handlungsfähig zu bleiben. Die an Seijas Fall diskutierte transnationale biographische Verortung stellt somit eine weitere Variation der biographischen Positionierung dar, die die Relevanz der gesellschaftlichen und diskursiven Ethnizitäts- und Geschlechterkonstruktionen für das biographische Handlungsschema verdeutlicht.
8. Biographieanalytische Vergleiche: Gemeinsamkeiten und Differenzen in Migrationsprozessen und Subjektkonstruktionen
Im Folgenden möchte ich mich der vergleichenden Diskussion der in dieser Studie untersuchten Biographien zuwenden. Während die vorherigen exemplarischen biographieanalytischen Darstellungen sich auf den jeweils betrachteten Fall bezogen, findet die folgende Erläuterung im Hinblick auf die zentralen Vergleichskategorien statt, die die Gemeinsamkeiten sowie Differenzen von biographischen Erfahrungsmustern in Bezug auf die Biographisierung des eigenen Lebens innerhalb dieses Samples verdeutlichen sollen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei auf die Beschreibung der zentralen Facetten, die sich an der biographischen Konstitution und Konstruktion des Migrationsprojektes sowie der migrantischen Subjektivität feststellen lassen. Dabei interessiert mich vor allem das Zusammenspiel von gesellschaftlichen und individuellen Faktoren, die sich in den biographischen Deutungen explizit und implizit manifestiert haben. Die Überlegungen richten sich auf die folgenden drei biographischen Transformationsprozesse: »Selbständig werden«, »Ins Ausland gehen« und »Migrantin werden«. Sie verdeutlichen jeweils, welche zentralen biographischen Konstruktionsprinzipien, Subjektivierungsprozesse, Identitätsdiskurse und biographischen Positionierungen in der vorliegenden Untersuchung rekonstruiert werden konnten. Dabei beziehe ich mich nicht nur auf die zuvor dargestellten exemplarischen Biographien von Saara, Katri und Seija, sondern diskutiere in diesem Zusammenhang das Gesamtsample von 16 Biographien, die ich für diese Studie erhoben habe. In den drei dargestellten Biographien, wie auch in den restlichen 13 anderen, ließen sich vergeschlechtlichte und ethnisierte Erfahrungen, ihre Reproduktion und Transformation aus den biographischen Erzählungen rekonstruieren. Dabei
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ermöglichte die biographieanalytische Perspektive nicht nur, vergeschlechtlichte und ethnisierte Subjektpositionen in der Intersektionalität mit anderen Differenzen zu rekonstruieren, sondern auch, deren Konstituierung hinsichtlich der Machtverhältnisse, der biographischen Prozessstrukturen und Diskurse darzustellen. Dies gab wiederum darüber Aufschluss, wie die gesellschaftlichen und diskursiven Differenzkonstruktionen als Deutungsmuster mit dem Handeln der einzelnen Personen bzw. deren Subjektivierungsprozessen verstrickt sind und wie diese die biographischen Selbstkonstruktionen beeinflussen (RuokonenEngler 2006: 216).
8.1.
»S ELBSTSTÄNDIG WERDEN «: I NDIVIDUIERUNG UND I NDIVIDUALISIERUNG
Bei der Untersuchung der für diese Studie vorliegenden Biographien konnte festgestellt werden, dass sich die von diesen Frauen unternommenen Migrationsprozesse im Kontext ihrer Individuierungs- sowie Bildungsprozesse deuten ließen. Trotz der individuellen Unterschiede wiesen alle rekonstruierten Biographien einige sozialisationsspezifische Gemeinsamkeiten auf, die ich als Konstruktionsprinzipien der biographischen Erzählung bezeichne. Diese waren als Erläuterungen zu familiären Ablösungsprozessen, zum Begehren des Ausländischen sowie dem mobilitätsbedingten Bildungserwerb der Migrantinnen feststellbar. Im Folgenden möchte ich diese Dimensionen zusammenfassend darstellen. 8.1.1. Familiäre Sozialisations- und Ablösungsprozesse Während des Interpretationsprozesses begann ich die Biographien meines Samples als »Erzählungen des Werdens«, im Sinne der Entwicklungs- und Transformationsgeschichten, im Kontext der Vergesellschaftung und der Individuierung zu lesen und zu deuten. Die biographischen Erzählungen, die den Übergang von der Kindheit ins Erwachsensein als eine biographisch bedeutende Umbruchphase darstellten, schärften meinen Blick für die Bedeutung der Adoleszenz in den biographischen Transformationsprozessen. Die detailliert analysierten Biographien von Saara, Katri und Seija werden als Prozesse des Werdens wiedergegeben. Diese drei exemplarischen Fallstudien folgten in ihren Erzählungsarten den Deutungsmustern der Biographie, jedoch mit eigenen Schwerpunkten und inhaltlichen Variationen. Gemeinsam für diese verschiedenen Biographien war jedoch, dass sie alle entweder direkte oder indi-
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rekte Hinweise auf die familiäre Sozialisation, den Ablösungs- und Individuierungsprozess als eine bedeutende Dimension ihrer vergeschlechtlichten Subjektivierung sowie der biographischen Identitätsarbeit gaben. Karin Flaake und Vera King (1992: 13)1 haben aus einer sozialpsychologischen Perspektive festgestellt, dass die Adoleszenz eine lebensgeschichtliche Übergangsphase ist, die den Zusammenhang zwischen körperlichen, psychischen und sozialen Prozessen verdeutlicht (vgl. Flaake/King 1992: 13). Die Ausgestaltung der geschlechtlichen Identität, die Modifizierung des Verhältnisses zu den Eltern und die von ihnen abgegrenzte Gestaltung eigener Liebes- und Arbeitsbeziehungen sind zentrale biographische Aufgabenfelder, die in der Adoleszenz zu bewältigen sind (ebd.). Während in den biographischen Erzählungen häufig indirekt Hinweise auf die Ausgestaltung der geschlechtlichen Identität gegeben wurden, formten die Erzählungen über die Veränderungen der Verhältnisse zu den Eltern sowie die Gestaltung des eigenen, von den Eltern abgegrenzten Lebenslaufs einen expliziten biographischen Erzählstrang. Insbesondere in Saaras biographischer Erzählung stellte die Mutter-Tochter-Beziehung bei der Entwicklung des biographischen Handlungsschemas einen zentralen Bestandteil dar. Saara hatte das Bedürfnis, sich durch ihre berufliche Orientierung von den Eltern zu unterscheiden und ihre eigenen, selbstbestimmten Lebenswege zu gehen. In Katris biographischer Erzählung ließ sich dagegen die Suche nach Autonomie und Erweiterung der eingeschränkten, vergeschlechtlichten Handlungsmöglichkeiten feststellen. Aber auch Seijas biographische Reflexion entwickelte sich in Bezug auf ihren familiären Ablösungsprozess als ein biographisches Handlungsschema, jedoch fand dies hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der Autorität des Vaters statt. Die Problematik des hierarchischen und patriarchalisch geprägten Geschlechterverhältnisses zwischen den Eltern, die in den Interviews von Katri und Seija thematisiert wurde, kommt auch in anderen Interviews des Gesamtsamples zum Ausdruck. Raija zum Beispiel, in deren biographischem Handlungsschema eine ausgeprägte soziale Aufstiegsmobilität festgestellt werden konnte, weist in ihrer biographischen Erzählung darauf hin, wie ihr starkes Bedürfnis, ökono-
1
Die Sicht auf den Zusammenhang von adoleszenten Entwicklungsprozessen und Migrationsprozessen hat in den letzten Jahren einen neuen Blickwinkel von Migrationserfahrungen eröffnet (u.a. Sauter 2000, King/Schwab 2000, Rohr 2001, Apitzsch 2003b, King 2006). Jedoch geht es in diesen Studien meistens um die sogenannte zweite Generation von MigrantInnen bzw. von adoleszenten Kindern der ersten Generation von MigrantInnen. Dagegen stellt diese Thematik im Zusammenhang mit der ersten Generation von MigrantInnen ein immer noch wenig untersuchtes Forschungsfeld dar (siehe dazu zum Beispiel Günther 2001, Janscó 2003).
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misch selbständig zu sein, sich in der Auseinandersetzung mit der Abhängigkeit von der Mutter entwickelte: »Aus ihren beruflichen Wünschen war gar nichts geworden. Sie hatte keine Ausbildung und hatte keine Möglichkeiten sich von der Familie abzulösen. Dieses negative Beispiel zeigte mir, was es bedeutet, eine Hausfrau zu sein, keinen Beruf zu haben und völlig von den Mann abhängig zu sein. So habe ich als Kind schon gedacht, dass ich diesem Beispiel nicht folgen will, dass ich etwas völlig Anderes machen will« (HE21/709-22/715).
Anhand des gesamten Samples möchte ich die empirisch begründete These aufstellen, dass bei der Entwicklung eines weiblichen Lebensentwurfs die Auseinandersetzung mit der Biographie der Eltern, und insbesondere mit der Biographie der Mutter, eine identitätsstiftende sowie handlungsschematische Funktion hat. Der biographische Ablösungsprozess von den Eltern erfolgte in den Erzählungen meistens als eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte der Mutter. Insbesondere wurde die Mutter in Bezug auf ihre Selbstständigkeit bzw. Abhängigkeit beschrieben und somit als eine Projektionsfläche für die Deutung und Beschreibung der eigenen Zukunftswünsche und -entwürfe verwendet. Dieses Ergebnis unterstützt die These von Vera King (2004), die die Bedeutung der Generationenverhältnisse oder der Generativität neben den Vergesellschaftungs- und Individuierungsprozessen bei der Entstehung des Neuen in der Adoleszenz betont hat. 8.1.2. »Begehren« des Ausländischen Das »Ausländische« erschien nicht nur in den hier diskutierten Biographien, sondern in allen Biographien des Samples als »das Begehrenswerte«. In dem »Begehren« vermischten sich verschiedene Aspekte, die jedoch alle von einer Faszination vom »Fremden« während der Adoleszenz gekennzeichnet waren. Hans Bosse und Vera King (1998: 216) haben festgestellt, dass Empfindungen von Fremdsein und Entfremdung von Sehnsüchten nach und Ängsten vor dem Fremden aus der psychologischen Perspektive Bestandteile der Veränderungsprozesse in der Adoleszenz sind. Nach Bosse und King ist »fremd« in diesem Sinne »die sich eröffnende Welt jenseits der kindlichen Bedeutungszusammenhänge und der familiären Bezüge; fremd ist der sich verändernde Körper, das neu wahrgenommene andere Geschlecht, fremd erscheinen auch all die projektiv und externalisierend dem Anderen zugeschriebenen Qualitäten« (Bosse/King 1998: 216, Hervorh. i.O.).
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In den untersuchten Biographien konnte nun fast in allen biographischen Selbstdarstellungen ein Zusammenhang zwischen dem »Begehren des Ausländischen« und dem adoleszenten Individuierungsprozess festgestellt werden. Aus der biographischen Perspektive betrachtet erschien in den untersuchten Biographien grundsätzlich »das Ausländische als das Begehrenswerte«. In Saaras Erzählung stellte die szenische Erzählung von der Begegnung mit dem deutschen Jungen die im doppelten Sinn »Begegnung mit Fremdem« aufgrund einer fremden Nationalität und des fremden Geschlechts dar. Die später erfolgte Heirat mit einem Deutschen wiederum symbolisiert ein vergeschlechtlichtes Begehren des Ausländischen. Katri dagegen schildert in ihrer Biographie, wie sie schon gemeinsam mit ihrer Schwester in ihren Kinderspielen das »Ausländische« als etwas Begehrenswertes darstellten und sich damals entschieden, nie einen Finnen zu heiraten. Dieses Spiel kann als eine spielerische Auseinandersetzung mit der zweigeschlechtlichten Welt der Erwachsenen in Finnland gedeutet werden, wobei das Ausländische wiederum eine positiv besetzte Bedeutung dabei hatte. In Seijas Fall dagegen entstand das Begehren des Ausländischen erst durch das Kennenlernen des Briten indischer Herkunft und bekam somit auch eine vergeschlechtlichte Dimension. Trotz der Variationen kann jedoch zusammenfassend festgestellt werden, dass das Ausländische immer etwas Positives ausdrückte. Dadurch wurde das »Ausländische« in den biographischen Darstellungen als ein Objekt der kindlichen sowie adoleszenten Sehnsüchte und Sozialisationsprozesse konstruiert. Jedoch lässt sich das »Begehren des Ausländischen« nicht nur als eine Dimension des adoleszenten Veränderungsprozesses definieren. Vielmehr muss es auch in Bezug auf seinen gesellschaftlichen Kontext in Finnland, wo das Ausländische im Allgemeinen einen hohen symbolischen und positiv besetzten Stellenwert hatte, gedeutet werden (vgl. Tuomi-Nikula 1989). Diese positive und hohe symbolische Besetzung konnte auch in allen anderen Biographien dieser Untersuchung festgestellt werden. 8.1.3. Bildung und Mobilität Es kann nun anhand der untersuchten Biographien behauptet werden, dass Bildung und geographische Mobilität einen engen Zusammenhang in der Rekapitulation der Biographie hatten. Der im Zuge der Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesse stattgefundene sozio-strukturelle und gesellschaftliche Wandel, der sich in Finnland in den 1960er und 1970er Jahren vollzog, führte zur Erweiterung des Handlungsspielraumes im Bildungsbereich für Mädchen und Frauen. Eine Ausbildung zu erwerben, bot eine allgemein anerkannte Möglichkeit, sich von der Herkunftsfamilie zu lösen und auf diese Art und Weise den familiären
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Ablösungs- und Individuierungsprozess zu gestalten. Dies eröffnete auch Mädchen und Frauen einen Handlungsraum in Form eines Bildungsmoratoriums, das die Entwicklung eines eigenen, von den elterlichen Lebensentwürfen abweichenden Lebensentwurfs ermöglichte (vgl. Bosse 2000: 62). Interessanterweise stellen die von mir interviewten Frauen ein Sample von finnischen Migrantinnen dar, die tatsächlich in den 1960er und 1970er Jahren fast alle durch Bildungserwerb einen sozialen Aufstieg erfahren haben. Diese Tatsache weist darauf hin, dass der gesellschaftliche Strukturwandel nicht zu einer erhöhten Binnenmigration führte, sondern auch einen Weg zu sozialer Mobilität und zum Aufstieg aufzeigte. Entsprechend wird dieser Zeitraum als ein Beginn des Individualismus in Finnland gedeutet (Jallinoja 1997). Fast in allen Biographien, die ich in dieser Studie untersuchte, war der Bildungserwerb mit einer erhöhten geographischen Mobilität verbunden. Für Saara sowie für die meisten meiner interviewten Migrantinnen finnischer Herkunft war der Erwerb eines höheren Bildungsabschlusses mit der geographischen Mobilität und der Binnenmigration verbunden. Dies lässt sich dadurch erklären, dass sich die höheren Bildungsinstitutionen hauptsächlich in größeren Städten befanden und die meisten interviewten Frauen meines Samples aus kleinstädtischen bzw. ländlichen Gebieten stammten. Dass Bildung und der Erwerb des höheren Bildungsabschlusses mit der geographischen Mobilität, der Binnenmigration und mit dem Ausbruch aus dem Elternhaus verbunden war, scheint hier insbesondere im Beispiel der diskutierten Fallstudien von Saara und Seija2 sowie auch in den Biographien von anderen Frauen meines Samples eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein. Katri und Seija gehören zu der Generation von finnischen Frauen, die durch höhere Bildungschancen ihre Selbstbestimmung und Individualisierung im Gegensatz zu der Generation ihrer Mütter herausstellen und die sich durch ihre Bildung und ihre Berufstätigkeit artikulieren wollen und dies in ihrer biographischen Darstellung auch betonen. Das Lernen und sich Bilden stellt ein Mittel dar, Grenzen und Beschränkungen zu überschreiten, wie dies zum Beispiel in der biographischen Darstellung von Seijas ausgeprägter Bildungsambition zum Ausdruck kam. Aufgrund der untersuchten Biographien kann hypothetisch vermutet werden, dass diese in der Adoleszenz eröffneten Handlungsräume einerseits neue Möglichkeiten individueller Lebensgestaltung eröffneten, jedoch gleichzeitig fast so etwas wie einen »Zwang« zu Autonomie und selbstständiger Lebensführung beinhalteten. Dieser »Zwang« kommt in den Biographien als eine Normalitätsvor-
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Aus Katris Interview ist es nicht mit Sicherheit aufzuschlüsseln, ob das Studium an der Handelsschule mit einer Binnenmigration verbunden war.
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stellung über die Selbstverständlichkeit des Studiums zum Ausdruck, wie zum Beispiel Seija dies ausdrückt: »Ich hatte das Gefühl, dass ich studieren muss, da alle studieren gingen« (HE2/66-67). Für Seija stellte die Studienmöglichkeit einerseits eine Chance und andererseits ein Problem dar, da sie nicht wusste, was sie eigentlich studieren sollte. In diesem Problem zeigt sich die Tatsache, dass in den vielen Bauern- und Arbeiterklassefamilien das Bildungskapital, das die Ausbildungsorientierung hätte erleichtern können, fehlte. Seija, genauso wie die oben erwähnte Raija und viele andere, die aus bildungsfernen Schichten stammten, begegneten Schwierigkeiten bei der Entscheidung für einen Ausbildungsweg. Viele meiner Interviewten haben auf die Hilfe des Berufsberaters beim Arbeitsamt zurückgegriffen. Die biographischen Selbstpräsentationen weisen nun darauf hin, dass bei der Entwicklung eines bildungsorientierten und selbstbestimmten Verhaltens auch die Lebenssituation der Mutter eine Projektionsfläche darstellte. Entweder entwickelte sich dabei das biographische Handlungsschema aufgrund des Beispiels der Mutter, wie bei Saara, oder es entwickelte sich gerade in eine entgegengesetzte Richtung, wie dies bei Katri, Raija und Maija festzustellen ist.
8.2.
»I NS AUSLAND GEHEN «: M IGRATION ALS M ÖGLICHKEITSRAUM »Emigration hat immer ein Moment von Empörung, von Veränderungswunsch« (Flusser 1994).
Wie oben erwähnt, konnte bei der Interpretation der biographisch-narrativen Interviews festgestellt werden, dass alle Interviewten ihre Biographien im Bereich eines bildungsorientierten Handlungsschemas, das zugleich mit einem Individuierungsprozess einherging, rekapitulierten. Dieses biographisch begründete Ergebnis stellt nun die jeweiligen Migrationsprojekte in ein neues Licht. Denn dieses Ergebnis weist darauf hin, dass im Fall dieses Samples nicht nur ökonomische und strukturelle Faktoren ausreichen, um erklären zu können, warum Menschen wandern, sondern auch psychosoziale Prozesse bei der Migrationsentscheidung von zentraler Bedeutung sind. Dementsprechend scheinen biographische Prozesse, persönliche Beziehungen zu Verwandten oder Bekannten, die bereits ausgewandert sind, sowie Informationen und Perzeptionen3 über die Zielre-
3
Annette Treibel (1990: 31) weist darauf hin, dass die Information über die Zielländer nicht immer realistisch ist, sondern mit realistischen, mythischen Vorstellungen sowie
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gion wichtige Entscheidungsfaktoren bei der Entstehung der Auslandsorientierung sowie der späteren Migration zu sein. Außerdem kann im Fall der finnischen Migration in die Bundesrepublik festgehalten werden, dass bestimmte »Brücken der Migration« (Sassen 1993), die die Migration zwischen Deutschland und der Bundesrepublik erleichtern, existieren bzw. zur Konstitution des Transnationalen beitragen. Mit dem Konzept von »Brücken der Migration« unterstreicht Saskia Sassen, dass Migrationsbewegungen Folge von globalen Bewegungen von Kapital, Gütern, Informationen und kulturellen Symbolen sind. Demzufolge sind die Verbindungen zwischen den Herkunfts- und Zielländern von Migrationen historisch, politisch oder wirtschaftlich geprägt und haben ihre Wurzel sowohl in den Ziel- als auch in den Ursprungsländern der Migration, die sich im Laufe der Zeit zu kulturellen und ideologischen Bindungen zwischen den Ländern verfestigen können (vgl. Sassen 1993: 70f). Auch Rainer Münz u.a. (1997: 17f.) heben hervor, dass bei europäischen Migrationsformen neben den ökonomischen die kulturellen, politischen und historischen Verbindungen zwischen den jeweiligen Herkunfts- und Zielregionen die Migrationen bestimmen. »Die selektive kulturelle Wahrnehmung potentieller Migranten wird dabei sehr wesentlich durch historische, sprachliche und kulturelle Muster strukturiert. Sprachkenntnisse und spezifisches Wissen können – als Erbe der Kolonialepoche oder als Resultat früherer Arbeitsmigration – die Zuwanderung in ehemalige europäische Kolonialmächte und Länder, die einst Gastarbeiter anwarben, erheblich begünstigen. Einschlägige Informationen breiten sich aus und machen mehr Menschen zu potentiellen Migranten. Zugleich ›kanalisieren‹ bereits bestehende ethnische und soziale Netzwerke die Zuwanderung in ›traditionelle‹ Zielländer. Dabei helfen solche Netzwerke entscheidend bei der Integration von Neuzuwanderern.« (Münz u.a. 1997: 18)
Solche »Brücken von Migration« oder ökonomische, kulturelle, politische und historische Verbindungen lassen sich auch zwischen Finnland und Deutschland feststellen.4 Auch diese Brücken sind zentrale Bestandteile bei der Konstituie-
mit nationalen Klischees und Erfolgsgeschichten von den bereits Gewanderten verbunden ist. 4
Die Beziehungen zwischen Finnland und Deutschland gehen auf eine einige Jahrhunderte alte Geschichte zurück. Die Basis für die heutigen Handelsbeziehungen wurde schon zur Hansezeit gelegt, als aus Deutschland die Händler nach Finnland kamen und auch dort wohnhaft blieben. Als Erinnerung aus der Zeit sind in Finnland noch einige deutschsprachige Nach- und Ortsnamen zu finden. Einen tiefgreifenden soziokulturellen Einfluss hatte jedoch die Christianisierung, insbesondere die Lutherische
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rung der Auslandsorientierung sowie der späteren Migrationsentscheidung bei den Migrantinnen dieser Studie. Am Beginn der vorgelegten Studie stand eine vage Definition der »individuellen Migration« als eine kategoriale Zeichnung für den Typus der MigrantInnengruppen, die in dieser Studie untersucht werden sollten. Ich hatte eingangs diese Art von Bezeichnung gewählt, um unter dieser Definition möglichst verschiedene Arten von »individuellen« Migrationen, wie zum Beispiel Au-pairTätigkeit, Heirat, Studium, Beruf usw., die häufig als Migrationsgründe der finnischen Migrantinnen angegeben werden, untersuchen zu können. Wichtig erschien mir dabei, dass diese feminisierte Migration zunächst als »individuell« bestimmt wirkte, als ob sie das Resultat einer eigenständigen Entscheidung gewesen wäre. Im nächsten Schritt wollte ich jedoch durch die biographieanalytische Annäherung herausfinden, welche möglichen Gründe und Motivationen zur Migrationsentscheidung geführt hatten und wie diese biographieanalytisch zu deuten sind. Dabei habe ich meine Aufmerksamkeit auf mögliche sozioökonomischen Push-Pull-Faktoren, »Brücken der Migration« (Sassen 1993), persönliche Beziehungen, Perzeptionen, den Wunsch nach beruflicher und sozialer Statusverbesserung u.a. und deren biographische Prozessierung gerichtet. Diese Vorgehensweise führte während der Biographieanalyse zur Differenzierung der »individuellen« Migration in Hinsicht auf die biographischen Prozesse, die die jeweiligen Migrationsentscheidungen beeinflusst hatten. Somit sind die hier festgestellten unterschiedlichen Migrationsprojekte in Bezug auf ihre biographische Einbettung zu sehen. Die in der vorgelegten Studie exemplarisch dargestellten Biographien sowie alle Biographien meines Samples verdeutlichen, dass die Migrationsmotivation
Reformation, in Finnland. Dies betraf nicht nur die Religion, sondern beeinflusste die Festtraditionen sowie die Entwicklung der finnischen Sprache als Schriftsprache. Denn die Bibel von Luther wurde als Grundlage für die Übersetzung der Bibel in die finnische Sprache verwendet. Auch die Kultur und das Wissenschaftsleben sind eng mit Deutschland verbunden gewesen. Schon im Mittelalter etablierte sich die Tradition, dass Finnen an den damaligen deutschen Universitäten studierten. Seit dem 18. Jahrhundert hatte die deutsche Sprache eine etablierte Position als eine Fremdsprache und Sprache der Wissenschaft und wurde bis 1969 meistens als die erste fremde Sprache an den Schulen gelernt. Die deutsche Romantik, die Kultur und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, stellte eine Hauptquelle für die Intellektuellen dar. Auch die militärischen Beziehungen führten zur Ausbildung von finnischen Soldaten (»Jäger«) in Deutschland, die dann später eine Basis für die unabhängige Staatsbildung von Finnland legten (Tuomi-Nikula 1989).
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mit den biographischen Prozessen und Entwicklungen vor dem Eintritt der Migration verbunden sind. So zeigt sich, dass die Gründe, die zur Migrationsentscheidung führen, vielfältig sind und sich erst aus den biographischen Prozessen rekonstruieren lassen. Weiter zeigt diese Studie, dass der Migrationsgrund »Heirat«, der bei der Untersuchung der finnischen Migration einen wichtigen Faktor darstellt, nach Deutschland einzuwandern (Tuomi-Nikula 1989), meistens erst nach einem Studium, einer Ausbildung, einer Au-pair- oder Erwerbstätigkeit in Deutschland erfolgte, sich die Heirat also nicht als Anlass für die Migration bzw. den Verbleib in der Bundesrepublik erwiesen hat. Vielmehr erscheint die Einordnung der Migrationsprojekte unter Heiratsmigration als eine eindimensionale Betrachtungsweise, die die Migrantin in die Rolle der abhängigen Ehefrau subsumiert. Dagegen zeigen die untersuchten Biographien, dass die Migrationsprozesse das Ergebnis vom komplexen menschlichen Handeln in unterschiedlichen Entscheidungssituationen sind. Zu ähnlichen Ergebnissen sind auch die Studien von Rosa Maria Jiménez Laux (2001) über ältere spanische Migrantinnen in der BRD und Heidrun Herzberg (1996) über Migrantinnen deutscher Herkunft auf Kreta gekommen. Diese Studien weisen darauf hin, dass die in der Migrationsforschung gängigen Konzepte der »Heiratsmigrantin« und »Arbeitsmigrantin« aus der biographischen Perspektive betrachtetet nicht immer angemessen sind, da es hinter der offiziellen Migrationsentscheidung auch andere Beweggründe gibt. So gelangt zum Beispiel Herzberg zu dem Ergebnis, dass die Migration der deutschen Frauen nicht nur »aus Liebe« erfolgte, sondern mit den Bedürfnissen und Lebenssituationen der einzelnen Frauen zusammenhing. Außerdem belegen die hier diskutierten Biographien, dass die Migration nie ein abgeschlossenes Projekt ist, sondern einen prozesshaften Charakter hat und zu weiteren Migrationen oder ihren Variationen führen kann. Da ich mich am Beginn des Forschungsprozesses dafür interessierte, wie ein Migrationsprojekt entsteht, entschied ich mich, diese Perspektive genau in Betracht zu ziehen, und hoffte, dies aus einem biographieanalytischen Blickwinkel erklären zu können. Im Laufe des Interpretationsprozesses zeigte sich, dass die Migrantinnen dieser Studie ihr Migrationsprojekt anhand eines bildungsorientierten Handlungsschemas, das zugleich mit einem Individuierungsprozess einherging, rekapitulierten. So konnte zum Beispiel bei Frauen aus bildungsfernen Schichten ein ausgeprägter Bildungswunsch festgestellt werden. Dadurch, dass bei ihnen das soziale und kulturelle Kapital des Bildungsbürgertums im Sinne der Vermittlung des Erfahrungswissens fehlte, führte dies zu Situationen, in der den Betroffenen die Entscheidung für eine Studienrichtung schwerfiel. Dies führte bei den Interviewten oft zu einer Lebensphase des »Moratoriums« (Erikson 1966), in die ein »Zwischenjahr« zwischen Abitur und Studium gelegt wurde, wodurch sich die Mög-
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lichkeit bot, praktische Arbeitserfahrungen zu sammeln und sich Gedanken über mögliche Berufswege zu machen. Viele Migrantinnen meines Samples entschieden sich just zu diesem Zeitpunkt des Moratoriums, ins Ausland zu gehen. Der Auslandsaufenthalt erschien zunächst als eine Möglichkeit, die Deutschkenntnisse zu verbessern und somit den eigenen Wert auf dem Arbeitsmarkt zu steigern. Aus einer biographieanalytischen Perspektive betrachtet wird durch das InsAusland-Gehen zugleich eine Möglichkeit gegeben, den familiären Ablösungsprozess kreativ und selbstbestimmt zu gestalten. Da ein Auslandsaufenthalt und der Erwerb von Fremdsprachenfähigkeiten in Finnland im Allgemeinen positiv angesehen werden, kann daraus geschlossen werden, dass die Entscheidung, ins Ausland zu gehen, positiv aufgenommen wurde. Demzufolge scheint die mit dem Individuierungsprozess einhergehende Auslandsorientierung einen »adoleszenten Möglichkeitsraum« (King 2002, 2004) zu erschließen. Dieser Raum gestattet es, wie Vera King feststellt (2002: 28f.), psychische, kognitive und soziale Separations-, Entwicklungs- und Integrationsprozesse zu gestalten, die mit dem Abschied von der Kindheit und der schrittweisen Individuierung gegenüber der Ursprungsfamilie, der Herkunft und des sozialen Kontextes verbunden sind. Obwohl festgehalten werden kann, dass das Ins-Ausland-Gehen und die eventuell später erfolgende Migration zunächst die Gestaltung eines Möglichkeitsraumes erlauben, weisen die vorher diskutierten Fallstudien darauf hin, dass dieser Möglichkeitsraum sowohl während des Auslandsaufenthaltes als auch während der späteren Migration mit Beschränkungen und strukturellen Benachteiligungen verbunden sein kann. Julia Jancsó (2003: 122) stellte in ihrer Untersuchung über die Adoleszenz in der Migration am Beispiel osteuropäischer Au-pairs in Deutschland fest, dass Migration nicht eindeutig als eine Erweiterung adoleszenter Entwicklungsverläufe erkennbar ist. Vielmehr zeichnen sich die Migration und die damit verbundenen Trennungserfahrungen bei adoleszenten Entwicklungsprozessen sowohl durch Verhinderung als auch durch progressive Veränderungen aus. Nach Jancsó (a.a.O.) soll von »einer Variationsbreite der Bearbeitungsformen adoleszenter Migrationsprojekte ausgegangen werden und eine geschlechtsspezifische Binnendifferenzierung angestrebt werden, zumal individuelle Modernität für Personen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen jeweils etwas ganz anderes bedeuten kann«.
Nun war es möglich, innerhalb des Samples dieser Studie drei unterschiedliche Variationen der Migration als Möglichkeitsraum festzustellen. 1. Migration als Herstellung biographischer Kontinuität, 2. Migration als Erweiterung des Handlungsspielraums sowie 3. Migration als »zweite Möglichkeit«. Ich möchte diese
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Variationen im Folgenden diskutieren. Danach möchte ich erläutern, wie sich die Konzeption der Migration als ein Möglichkeitsraum mit den Erfahrungen und Deutungen des Migrantinseins und der Weiterentwicklung des Migrationsprojektes deuten lassen. Diese Perspektive ist von Bedeutung, da, wie Vera King (2006) erläutert, der Zusammenhang von Migration und Individuierungsprozess eine »verdoppelte Transformationsanforderung« darstellt. 8.2.1. Migration als Herstellung biographischer Kontinuität Die drei ausführlich dargestellten exemplarischen Biographien von Migrantinnen finnischer Herkunft geben unterschiedliche Migrationsverläufe und Konstituierungsprozesse der Migration wieder. Saaras Migrationsprozess kann als »Migration zur Herstellung biographischer Kontinuität« definiert werden. Denn hier lässt sich zeigen, wie sich das Migrationsprojekt biographisch graduell entwickelte. Ihre erste, teils sehr schmerzhafte Erfahrung mit dem Leben im Ausland, als sie in der Adoleszenz ein halbes Jahr alleine nach Deutschland geschickt wurde, fungierte als ein biographisches Schlüsselerlebnis für Saaras weiteren Lebensentwurf. Die Bewältigung dieses Ereignisses schien sie zu stärken und führte später zu einem bewussten interkulturellen, mobilen Lebensentwurf und zur Entwicklung eines transnationalen Lebensmusters. Dies kam u.a. in der Wahl ihrer Studienfächer und durch viele Sommerjobs und Praktika im Ausland zum Ausdruck. Jedoch schienen die Auslandsaufenthalte nicht durch ein bestimmtes Ziel motiviert zu sein, sondern sind mehr als Erweiterung des Erfahrungshorizontes konzipiert. Interessant ist dabei die Betonung der eigenen Selbständigkeit: »Ich organisierte mich selbst ins Ausland« (HE6/202). Dabei stehen vor allem das Weggehen und die Möglichkeit, Neues erfahren zu können, im Vordergrund. Saaras Interesse lag nicht in erster Linie in einer beruflichen Qualifikation, sondern vielmehr im Erwerb einer »interkulturellen Disposition« (Apitzsch 1992)5, die ihr das mögliche spätere Leben in einem fremden Land erleichtern sollte. Somit entwickelte Saara schon frühzeitig ein interkulturelles oder transkulturelles biographisches Handlungsschema, das wie ein roter Faden die Rekonstruktion ihres Lebens durchzieht. In der Biographie von Raija kann eine ähnliche Struktur der biographischen Kontinuität in Bezug auf die Konstituierung des Migrationsprojektes festgestellt
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Dieser Begriff stammt von Ursula Apitzsch (1992), die damit darauf hinweist, dass Kinder von MigrantInnen durch die Synthese von »modernen« und »traditionellen« Wissensbeständen eine interkulturelle Kompetenz im Sinne einer »interkulturellen Disposition« erlangen, die wiederum als Identitäts- und Handlungsressource fungiert.
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werden. Dadurch stellt Raijas Biographie einen minimalen Vergleich innerhalb des Typus der biographischen Kontinuität dar. Denn während in Saaras Biographie die biographische Kontinuität in Bezug auf die Bildungsorientierung festgestellt werden konnte, lässt sich dies in der Biographie von Raija in Bezug auf den sozialen Aufstieg und die finanzielle Sicherung herauslesen. Im Folgenden möchte ich anhand einer kurzen Vignette den Fall Raija beschreiben und dadurch die minimale Variation innerhalb dieses Typus verdeutlichen. Raija, ähnlich wie Saara, wanderte Mitte der 1970er Jahre nach Deutschland ein, nachdem sie eine Ehe mit einem Deutschen geschlossen hat. Zum Zeitpunkt des Interviews war Raija etwas über 50 Jahre alt, verheiratet, berufstätig und hatte eine Tochter. Raijas internationale Orientierung begann schon in ihrer Adoleszenz, als sie ihre Ferienjobs selbst außerhalb des elterlichen Unternehmens zu suchen begann. Mit den Ersparnissen von ihrem ersten Sommerjob als Verkäuferin reiste sie nach Deutschland und arbeitete dort in einem Krankenhaus. Danach kehrte sie nach Finnland zurück und beendete das Gymnasium. Nach dem Abitur begann sie an der Universität in einer Großstadt Informatik und Wirtschaftswissenschaften zu studieren und finanzierte ihr Studium durch Sommerjobs und Darlehen. Während der ersten Sommerferien arbeitete sie im Informatikbereich in einer anderen finnischen Großstadt, danach folgten Praktika und Jobs im europäischen und außereuropäischen Ausland sowie einige Auslandsreisen. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie für eine kleinstädtische Fabrik, wo sie gleichzeitig angestellt war und wo sie später eine feste Stelle bekam. Später wechselte sie für eine Bank in eine Großstadt und kaufte sich dort eine Wohnung. Im Sommer 1974 machte Raija eine Bildungsreise nach Deutschland und lernte während ihrer Rückreise ihren zukünftigen deutschen Ehemann kennen. Die Bekanntschaft entwickelte sich zuerst zu einer Brieffreundschaft und später zu einer Liebesbeziehung. Während dieser Zeit verbrachte Raija einen Auslandsaufenthalt in den USA. Zwei Jahre nach dem Kennenlernen ging Raija nach Deutschland, um dort einen Arbeitsplatz zu suchen. Als sie einen entsprechenden Arbeitsplatz bei einer internationalen Bank gefunden hatte, kündigte sie ihre damalige Stelle in Finnland. Raija und ihr deutscher Freund heirateten und Raija zog nach Deutschland. Genauso wie bei Saara fand der erste Deutschlandaufenthalt bei Raija in der Adoleszenz statt. Diesem Aufenthalt folgten viele Auslandsaufenthalte. Jedoch beeinflussten die finanziellen Probleme zu Hause sowie die ökonomische Abhängigkeit der Mutter Raijas biographische Entwicklung in dem Maße, dass sie selbstbewusst ein biographisches Handlungsschema entwickelte, das darauf abzielte, ihr möglichst große finanzielle Unabhängigkeit zu garantieren: »Ich wollte einen guten Beruf, so einen, der es mir ermöglichte, alleine klarzukommen. Keinen typischen Frauenberuf wie Krankenschwester oder so« (HE23/746-751).
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Zugleich bedeutete dieses Ziel für Raija eine Distanzierung von den typischen Frauenberufen und eine biographische Orientierung, die es ihr ermöglichte, einen Beruf zu erwerben, der in den 1970er Jahren noch einen Zukunftsbereich darstellte und männlich dominiert war, aber von dem sie sich eine finanziell gesicherte Zukunft erwarten konnte. 8.2.2. Migration als Erweiterung des Handlungsspielraums Der vorher diskutierte Fall von Katri stellt den zweiten Typus der biographischen Konstituierung des Migrationsprozesses als Erweiterung des Handlungsspielraumes dar. An Katris Biographie ließ sich zeigen, wie die Migrationsentscheidung graduell während des Lebens im Ausland entstand. Die Entscheidung, ins Ausland zu gehen, war zunächst davon geprägt, den Auslandsaufenthalt für die Akkumulation des Bildungskapitals zu benutzen und damit die Chancen auf dem Arbeitsmarkt in Finnland zu verbessern. Jedoch führte das Leben in der Migration zu einer Situation, in der Katri ihre Rückkehr von Jahr zu Jahr verschob, bis sie sich entschied, in Deutschland zu bleiben. Eine Variation innerhalb dieses Typus stellt der Fall von Maija dar. Während Katri im Ausland klar wurde, dass sie nicht mehr nach Finnland zurückkehren wolle, versuchte es Maija zweimal, was jedoch aus unterschiedlichen Gründen scheiterte, aber schließlich doch zum Leben in der Migration führte. Maija, ähnlich wie Katri, wanderte in den 1980er Jahren nach Deutschland ein. Die Einwanderung folgte nach einem langjährigen Aufenthalt in Deutschland und nach gescheiterten Rückkehrversuchen nach Finnland. Zum Zeitpunkt des Interviews war Maija etwas über 40 Jahre alt, verheiratet, berufstätig und hatte eine Tochter. Maija wurde Ende der 1940er Jahre in einer Kleinstadt in Finnland geboren. Sie stammte aus bäuerlichen Verhältnissen, konnte aber mit Unterstützung ihrer Eltern das Gymnasium besuchen. Nach dem Abitur wusste sie nicht, was sie studieren wollte, und entschied sich für eine einjährige Ausbildung an einer Handelsschule. Während dieses Jahres lernte sie eine Schülerin kennen, die bei einer Bank in Deutschland gearbeitet hatte. Sie ermunterte Maija und die anderen SchülerInnen dazu, sich für eine Stelle in Deutschland zu bewerben. Maija war fasziniert von der Idee und spielte mit dem Gedanken, für ein Jahr dorthin zu gehen, um Deutschkenntnisse und Auslandserfahrung sammeln zu können. Mit Hilfe dieser Schülerin, die schon in Deutschland gearbeitet hatte, bewarb sich Maija bei einer internationalen Bank in einer Großstadt in Deutschland und bekam dort die Zusage für eine auf ein Jahr befristete Stelle. Außer Maija gingen in demselben Jahr drei andere Auszubildende nach Deutschland, um dort zu arbeiten. Maija, die nie im Ausland gewesen war, fuhr 1970 alleine
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nach Deutschland und begann dort bei der Bank zu arbeiten. Aus einem Jahr wurden letztendlich drei. Dann strebte Maija nach einer Lebensveränderung. Sie wollte unbedingt studieren und suchte nach einer Möglichkeit, in den USA einen Studienplatz zu bekommen. Diese Pläne scheiterten jedoch aus finanziellen Gründen, da Maija keine Finanzierung für das Studium in den USA fand. Dann entschied sie sich, für immer nach Finnland zurückzukehren, aber kehrte schon nach zwei Wochen wieder nach Deutschland zurück, wo ihre finnische Freundin auf ihre Rückkehr wartete. Nachdem Maija zurückgekehrt war, bekam sie eine Arbeitsstelle bei einer internationalen Firma. Da Maija sich den Traum von einem Studium erfüllen wollte, begann sie, sich nach Studienmöglichkeiten in Deutschland zu erkundigen. Die Firma, in der sie arbeitete, bot ihr die Möglichkeit einer Halbtagsstelle, wodurch sie ein Studium finanzieren konnte. Sie begann, Wirtschaftswissenschaften an der Universität zu studieren. Während des Studiums lernte Maija ihren zukünftigen Mann kennen, der aus dem arabischen Raum kommt und in Deutschland studierte. Die Beziehung entwickelte sich und sie zogen später zusammen. Kurz vor dem Studienabschluss kündigte Maija und konzentrierte sich auf die Prüfungen. Nach dem Studienabschluss wurde der Rückkehrgedanke nach Finnland das zweite Mal aktuell. Sie kämpfte mit der Entscheidung, zurückzukehren, aber entschied sich letztendlich, in Deutschland zu bleiben. Bei Katri und Maija führte der erste Auslandsaufenthalt zunächst zu einer Verzögerung der Rückkehr nach Finnland, bis er sich dann in ein Migrationsprojekt wandelte. Während Katri vor allem das multikulturelle Leben und die vielen Selbstentfaltungsmöglichkeiten in der Migration als eine Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten erfuhr, stellten bei Maija die sozialen Aufstiegschancen sowie die persönlichen Beziehungen schwerwiegende Faktoren dar, die sie letztendlich zu einer Migrationsentscheidung bewegten. 8.2.3. Migration als »zweite Möglichkeit« Seijas Fall verdeutlicht exemplarisch den Typus des Migrationsprojektes als »zweite Möglichkeit« (Giddens 1991). Dabei stehen im Zentrum der Gestaltung des Migrationsprojektes das Verlassen des Alten und des Gewohnten und der Beginn des Neuen. Für Seija bedeutete die Migration nach England einen neuen Lebensabschnitt sowie einen biographischen Transformationsprozess, den sie selbst mit den Worten »My new life begins now« (HE9/290-9/291) ausdrückte. Während bei den zuvor dargestellten Fällen die Migrationsentscheidung durch eine kontinuierliche Auslandsorientierung oder als Resultat eines verlängerten Auslandsaufenthaltes erfolgte, stellt Seijas Fall ein Beispiel für einen Migrati-
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onsprozess dar, in dem die Migration einen Bruch in ihrer biographischen Orientierung bedeutet. Zugleich aber ermöglicht der biographische Bruch eine kreative Ausschöpfung der verborgenen Potentiale und eröffnet somit eine Chance zu einer neuartigen Gestaltung der eigenen Biographie.6 Ohne hier wie bei den vorherigen Fällen auf die Erläuterung der minimalen Vergleiche innerhalb dieses Typus einzugehen, möchte ich nun einen Mischtypus vorstellen, bei dem Spuren von allen drei dargestellten Migrationstypen zu finden sind. Tiina wanderte Anfang der 1990er Jahre, im Alter von 30 Jahren, nach Deutschland ein. Ihre Migration stellt einen Bruch in ihrer biographischen Orientierung dar, obwohl sie schon vor ihrer Migration international orientiert war und somit in dieser Hinsicht die Migrationsentscheidung als Herstellung biographischer Kontinuität gedeutet werden kann. Der biographische Bruch entsteht in ihrem Fall aus der Konstituierung des Einwanderungsprojektes nach Deutschland als ein Sprung ins kalte Wasser, der vor allem dadurch gekennzeichnet war, mit einer völlig neuen Lebenssituation konfrontiert zu sein. Während in Tiinas biographischem Handlungsschema bis dahin eine Kontinuität in Bezug auf ihre berufliche Orientierung und Weiterqualifizierung festzustellen war, entstand das Migrationsprojekt nach Deutschland im Zusammenhang mit einem Bedürfnis, etwas völlig Neues zu machen und zu lernen und dadurch dem eigenen Leben eine neue Richtung zu geben. In ihrer Biographie beschreibt Tiina, wie sie sich schon als ein kleines Schulkind vom Reisen und von fremden Ländern angezogen fühlte. Sie reiste als 14-Jährige das erste Mal ins Ausland, danach folgten jährlich weitere Reisen. Um ihre Reisen finanzieren zu können, jobbte sie neben der Schule sowie in den Ferien. Nach dem Abiturabschluss verbrachte sie einen Sommer in Frankreich als Au-pair-Mädchen, kehrte aber nach Finnland zurück, um dort ein Studium zu beginnen. Ihr Plan, Touristik und Hotelmanagement zu studieren, scheiterte, deshalb begann sie eine Ausbildung zur Kosmetikerin. Die Ausbildung dauerte zwei Jahre, wobei sie die Sommermonate in Frankreich verbrachte, um ihre Französischkenntnisse zu verbessern. Nach ihrem Abschluss hatte Tiina gute Arbeitsstellen in unterschiedlichen Firmen und war fasziniert von ihrer Arbeit. Das Berufsleben erfüllte jedoch nicht alle ihre Wünsche, und sie hatte ein starkes Bedürfnis, sich weiterzubilden. Sie nahm an einem weiterbildenden Kurs im Kosmetikbereich, für ein Jahr in Frankreich, teil und kehrte dann wieder nach Finnland zurück. Tiinas Bedürfnis, ihr Berufsfeld zu erweitern, brachte sie auf die Idee, auf internationalen Luxusschiffen als Kosmetikerin zu arbeiten. Nach ein paar Jahren kündigte sie mit der Begründung, dass sie das »oberflächige Par-
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Unter diese Kategorie fallen auch die Biographien von Marja, Pirjo und Irja.
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ty-Leben« auf dem Schiff nicht mehr durchhalten konnte. Sie kehrte zurück zu ihrer früheren Arbeitsstelle in Finnland, fühlte sich dort aber nicht mehr wohl. Sie wollte wieder ihr Leben verändern und entschied sich, nach Deutschland zu gehen, um so die deutsche Sprache zu lernen. Ohne Deutschkenntnisse und ohne Kontakte reiste sie nach Deutschland, wo sie zufällig einen Finnen kennenlernte, der ihr bei der Suche nach einer Unterkunft hilft. Zum Zeitpunkt ihrer Einreise konnte Tiina kein Wort Deutsch und bewarb sich deswegen bei ausländischen Firmen, wo sie Englisch als Arbeitssprache anwenden konnte. In Tiinas Fall lässt sich die Dimension der Herstellung biographischer Kontinuität in Bezug auf die internationale Orientierung feststellen, jedoch konstituiert sich die Migration nach Deutschland als eine »zweite Möglichkeit« (Giddens 1991), das Leben völlig neu zu gestalten. Die Entscheidung, nach Deutschland einzuwandern, markierte somit einen biographischen Wendepunkt, an dem eine Reflexion des bisherigen Lebens stattfand, wobei ein starkes biographisches Bedürfnis nach einem neuen Anfang festzustellen ist. In diesem Moment erscheint die Entscheidung, nach Deutschland einzuwandern, als eine Möglichkeit, ihren Handlungsspielraum zu erweitern.
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8.3.
»M IGRANTIN WERDEN « – V ERGESELLSCHAFTUNGSPROZESSE UND K ONSTITUTION DES T RANSNATIONALEN
DIE
»In der Emigration müssen (Migrantinnen) auf Fähigkeiten zurückgreifen, oder solche entwickeln, die es ihnen erlauben, ohne Verlust ihres Selbstwertgefühls ihr Leben zu meistern.« (Lutz 1999: 182) »C’est en France que j’ai appris à être Arabe. C’est en Algérie que j’ai appris à être l’Immigrée.« (It’s in France that I learned to be Arab. It’s in Algeria that I learned to be the Immigrant.) (Boukhedenna in Woodhull 1997: 32)
Die oben erfolgte Darstellung der biographischen Einbettung der Migrationsprozesse und deren Vergleich waren zunächst wichtig, um die biographischen Positionierungen rekonstruieren zu können. Im Folgenden werden nun verschiedene biographische Positionierungen, die sich aus den Interviews herausarbeiten lassen, genauer in Bezug auf Subjektivierungsprozesse und Zugehörigkeitskonstruktionen betrachtet. Dabei wurden die biographischen Selbstdarstellungen von der Lesart begleitet, dass diese nicht nur subjektive Konstruktionen sind, sondern im Kontext sozial verfügbarer, hegemonialer sowie gegenhegemonialer Diskurse produziert wurden. Die betrachteten Biographien der Migrantinnen finnischer Herkunft haben verdeutlicht, dass trotz einiger Gemeinsamkeiten auch Unterschiede feststellbar sind. Diese Unterschiede weisen darauf hin, dass es keine eindeutigen Erfahrungen des Finnischseins oder anderer identitätsstiftender Positionen geben kann, sondern diese sich immer im Zusammenhang von biographischen Prozessstrukturen, sozialstrukturellen und politischen Kontexten, Diskursen und Machtverhältnissen konstituieren. Diese Dynamik entsteht aus der Tatsache, dass Menschen durch die Fähigkeit der Biographisierung des eigenen Lebens (vgl. »Biographizität«, von Alheit 1993: 387) neue Erfahrungshorizonte an alte Sinnressourcen anschließen können und dadurch in der Lage sind, im Rahmen ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten und Beschränkungen ihre Biographien und Zugehörigkeiten neu zu behaupten. In der vorliegenden Studie konnte anhand der Biographien der biographische Transformationsprozess des »Migrantinwerdens« rekonstruiert werden. Nach der
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Rekapitulation des familiären Ablösungs- und Individuierungsprozesses sowie der Entstehung des Migrationsprojektes stellte der Prozess des »Migrantinwerdens« einen zentralen und vielfältigen Erzählstrang der biographischen Erzählungen dar. Dabei ließen sich eine biographische Prozessierung von verschiedenen strukturellen Bedingungen, Diskursen und Machtverhältnissen als Bestandteile der Konstituierung einer »migrantischen Identität« (Lutz 1991) feststellen. Ich möchte mich nun anhand der zuvor diskutierten Fallstudien mit einigen Dimensionen der Konstitution des »Migrantinseins« auseinandersetzen. Diese werde ich anhand der Vergesellschaftungsprozesse und der Konstituierung des Transnationalen erläutern. Ich habe dabei drei verschiedene biographische Positionierungen7 als Anhaltspunkte festgestellt, unter die die restlichen 13 Biographien untergeordnet werden können. Jedoch sind in einigen Biographien alle drei Positionierungen zu finden. Deshalb haben diese Differenzierungen vor allem die Aufgabe, die Dimensionen der Konstituierung des »Migrantinwerdens« auf dem untersuchten sozialen Feld der Individualwanderung analytisch zu erläutern und darzustellen. Interessanterweise ließen sich die biographischen Positionierungen als Resultate der biographischen Aushandlungsprozesse in konfliktgeladenen Situationen belegen. Diese Aussage weist darauf hin, wie Konfliktsituationen und ihre biographische Verarbeitung bei der Formierung der Subjektivität und Zugehörigkeit eine bedeutende Rolle spielen. Der methodische Zugang des biographischnarrativen Interviews mag diese Entdeckung unterstützt haben. Denn, wie Bettina Dausien festgestellt hat, ermöglicht gerade die Methode des narrativen Interviews die Rekapitulation von Bruch- und Konflikterfahrungen (1992, 1996). In den biographisch-narrativen Interviews geben die Interviewten zum Beispiel der Darstellung von sozialen Netzen und Beziehungen besonders viel Raum und »verweben« ihre persönliche Geschichte stärker mit den Biographien signifikanter Anderer (Dausien 1996: 151).8
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Unter der Positionierung verstehe ich in Anlehnung an Floya Anthias (2002, 2003) die Position des Subjektes in der Kreuzung von Struktur und Handeln. Jedoch erweitere ich dies durch die biographische Perspektive und benutze in diesem Zusammenhang den Begriff der biographischen Positionierung bzw. biographischen Verortung. Vgl. auch Stuart Hall (2000), der die Positionierung als einen Ort innerhalb eines Diskurses, von dem aus die Handlungsfähigkeit des Subjektes ermöglicht wird, versteht.
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Einige feministische Forscherinnen sehen dies jedoch als einen Effekt von Diskurs oder Ideologie, der die Frauen dazu bringt, sich selber in Form der Relationalität zu präsentieren (Cosslett/Lury/Summerfield 2000: 6).
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Die folgenden Darstellungen der biographischen Positionierung als Resultate der Vergesellschaftungsprozesse in der Einwanderungsgesellschaft lehnen sich stark an die biographische Verarbeitung und Rekapitulation der konfliktgeladenen Interaktionen sowie die ungleichen Machtverhältnisse an, die zu einer Konstituierung und Konstruktion der vergeschlechtlichten und ethnisierten Subjektivitäten führen. Da nun Differenzierungsprozesse nicht nur als Zuschreibungsprozesse festzustellen sind, sondern auch gleichzeitig die Dimension der Selbstzuschreibung als selbstbestimmte kulturelle Verortungsstrategien ermöglichen, möchte ich in diesem Kapitel etwas genauer die Perspektive der Differenz in Relation von strukturellem Identitätszwang und subjektiver Handlungsfähigkeit aufgreifen. 8.3.1. Positionierung als emanzipierte Migrantin in Deutschland Die vorliegende Studie zeigt, dass die Entscheidung, Bildung zu erwerben und einer Berufstätigkeit nachzugehen, nicht nur mit dem Beispiel einer eigenen berufstätigen Mutter in Verbindung gebracht werden kann, sondern dass auch das abhängige Hausfrausein der eigenen Mutter die Töchter dazu veranlasste, nach einem selbstbestimmten und emanzipierten Leben zu streben, dessen zentrale Bestandteile Bildung, Berufstätigkeit und das eigene Einkommen sind. Anhand der untersuchten Biographien konnte jedoch auch festgestellt werden, dass das angestrebte unabhängige Verhalten und die Verwirklichung des Selbst als emanzipierte Frau und Mutter in der Migration häufig zu einem Problem wurde, da die Handlungsautonomie aus unterschiedlichen Gründen eingeschränkt wurde. Bei Saaras Biographie konnte ein Konflikt zwischen ihrem Selbstverständnis als emanzipierte Frau und Mutter, die Familie und Beruf vereinbaren will, und den vorherrschenden moralischen Vorstellungen und Diskursen der 1970er und 1980er Jahre in der Bundesrepublik über die Aufgabe der Mutter als Hausfrau festgestellt werden. Die Tatsache, dass der Diskurs über Frauenerwerbstätigkeit in den 1970er und 1980er Jahren noch von konservativen moralischen Einstellungen geprägt war, unterstreicht auch eine Interviewpassage aus einem Interview mit Ulla. U: Für mich war es leicht arbeiten zu gehen, das habe ich auch vielen bestimmt gesagt. Ich wusste, dass meine Freundinnen studiert hatten und alle ihre Kinder in den Kindergarten gebracht hatten und arbeiten gegangen sind. Und da ich es aus Finnland kannte, habe ich es auch so gemacht. Und ich habe nicht darunter gelitten/vielleicht später habe ich gelitten, als ich daran dachte, dass/(lachend) – dass ich auf so einen Vorteil ver-
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zichtet habe. Wenn es dann doch -- möglich gewesen wäre, länger zu Hause zu bleiben oder so. I: Hm. U: Aber es war dieses Finnischsein, das -- es leichter machte. Und ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht. I: Hm. U: Ich dachte nur, tja – lass sie reden. Und zum Beispiel der beste Freund von Lothar, der dann später auch heiratete, er hat//– seine Frau fragte, als sie dann die Arbeit bei der Bank sein ließ und zu Hause blieb//und jetzt ist das älteste Kind schon elf Jahre alt und sie wird auch schon fünfzig, und jetzt lohnt es sich nicht mehr, bei der Bank nach Arbeit zu fragen//also sie fragte mich immer öfters/wann hörst du auf und wann bleibst du zu Hause/(spielend) und I: Hm. U: also so vorwerfend. -- Und jetzt meinte sie/tja, wenn mein Mann mich jetzt verlassen würde, hätte ich nichts anderes als das, was sie ihn auffordern würden mir zu geben./(spielend)
Dieser strukturell verursachte biographische Konflikt führte sowohl in Ullas als auch in Saaras Fall zur selbst-ethnisierenden, vergeschlechtlichten Herstellung eines Selbstbildes als eine emanzipierte finnische Frau, Migrantin und Mutter, welches das von der Norm abweichende Verhalten ermöglichte. Einen zentralen Bestandteil dieser Behauptung bildete die Herstellung der Handlungsfähigkeit als eine berufstätige Mutter und Migrantin (vgl. dreifache Vergesellschaftung von Lenz 1995, 1996). In der Verteidigung dieses Verhaltens schwingt in der Argumentation eine Rechtfertigung des Verhaltens als ethnisierte Frau mit, die im Namen eines emanzipatorischen Fortschrittes, wenn nicht sogar eines emanzipatorischen Vorsprungs (im Vergleich zu den Frauen in der BRD), das Recht hat, dem Lebensentwurf einer berufstätigen Mutter zu folgen, während in der Bundesrepublik die Erwerbstätigkeit in einer bürgerlichen Familie mit einem möglichen Status- oder Prestigeverlust verbunden war (vgl. Jiménez Laux 2001: 199). Insgesamt konnte ich in den von mir analysierten Biographien von Migrantinnen finnischer Herkunft feststellen, dass neben der Berufstätigkeit auch die Mutterschaft, egal ob in realer oder fiktiver Form, eine identitätsstiftende Bedeutung bei der Rekapitulation der Biographie hatte. Auch bei den Migrantinnen meines Samples, die keine eigenen Kinder hatten, ließ sich die Selbstverständlichkeit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf der argumentativen Ebene rekonstruieren. Diese Ergebnisse weisen auf die starke Bedeutung der Mutterschaft in den Selbstdarstellungen der Migrantinnen hin. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Leonie Herwartz-Emden. In ihrer Studie »Mutterschaft und
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weibliches Selbstkonzept« (1995) stellte Herwartz-Emden einen interkulturellen Vergleich zwischen türkischen, deutschen und sowjetdeutschen Frauen in Deutschland an. Diese Studie fragt, wie Mutterschaft im Migrations- und Einwanderungsprozess gelebt wird und welche Veränderungen sich aus diesem Prozess sowohl für die Praxis als auch für die Erfahrung der Mutterschaft und das Selbstkonzept der Frau ergeben (Herwartz-Emden 1995: 11). Mit der Betrachtung von Mutterschaft einerseits und dem weiblichen Selbstkonzept andererseits eröffnet Herwartz-Emden mit ihrer Studie eine erweiterte Sichtweise auf die Konstitution weiblicher Identität, die aus verschiedenen, identitätsstiftenden Positionen entsteht. Herwartz-Emden zufolge entstehen für Migrantinnen aus nichtwestlichen Gesellschaften harte Kontraste in der Konfrontation ihrer eigenen Einstellungen zur Mutterschaft mit den Ansichten der »Aufnahmegesellschaft«. Die Studie zeigt, dass die Meinung zur Mutterschaft bei den Türkinnen und Aussiedlerinnen ein »inhärenter Bestandteil des weiblichen Lebenskonzeptes« ist und damit zur »Normalbiographie« der Frau gehört. Dagegen scheint die Haltung zur Mutterschaft bei westdeutschen Frauen widersprüchlicher. Nach Herwartz-Emden lässt sich dies aus der Tatsache erklären, dass ausländische berufstätige Frauen in ihren Herkunftskontexten nicht in dem Maße mit der »Entweder-Oder-Problematik« von Beruf und Familie konfrontiert waren, wie dies westdeutsche Frauen waren. Die Einwanderinnen hatten in ihren Herkunftskontexten die Erfahrung gemacht, dass die Mutterschaft »mit grundsätzlich positiven individuellen und sozialen sowie überwiegend Status erhöhenden Konsequenzen verbunden [war]« (Herwartz-Emden 1995: 271). Es kann nun anhand dieser Studien angenommen werden, dass die Familienorientierung der weiblichen Familienangehörigen von Migrantenfamilien niemals ein hemmendes Moment des Modernisierungsprozesses gewesen ist, wie es in der Forschungsliteratur vermutet worden war (vgl. kritisch dazu Apitzsch 1990: 351). In Bezug auf die Berufstätigkeit von Frauen in Finnland ließen sich aufgrund deren »Normalität« keine klassenspezifischen Unterschiede feststellen. Jedoch kann festgehalten werden, dass trotz dem gleichberechtigten Zugang von Frauen und Männern zum Arbeitsmarkt Frauen durch die Probleme bei der Vereinbarung von Familie und Beruf gleichzeitig unter einer »Doppelbelastung« zu leiden haben. Obwohl die allgemeine gesellschaftliche Lage die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie begünstigte, reicht mir dies jedoch nicht als einziges Erklärungsmuster für das Bedürfnis, Familie und Beruf in einem Lebensentwurf zu vereinbaren. Denn neben der »normalen« Erwartung, eine Ausbildung zu absolvieren und danach berufstätig zu sein, schienen mir auch die familiären Konstellationen, die Stellung der Mutter in der Familie sowie deren (Nicht-)Erwerbstätigkeit die Einstellung der Töchter zur Erwerbstätigkeit geprägt zu haben. Da
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das Thema der Erwerbstätigkeit und Mutterschaft speziell in Saaras Interview sehr viel Raum einnimmt, zeigt sich bei ihr, wie die gesellschaftlichen Strukturen und deren Widersprüche sowie die dominanten Diskurse starke biographische Relevanz haben und damit sogar das biographische Handlungsschema und den Lebensentwurf verändern können. Dies verlangt von Saara eine biographische Prüfung ihres Selbstkonzeptes und führt zur Herstellung eines neuen biographischen Handlungsschemas, das die Bewältigung dieses grundlegenden, strukturell erzeugten Konfliktes ermöglicht. Ein Gegenbeispiel zu Saaras Fall stellt die Biographie von Raija dar, die die Rolle der »Haupternährerin« in ihrer Familie hatte. Raijas starkes Bedürfnis, finanziell unabhängig zu sein, um sich alleine versorgen zu können, führte zur Entwicklung einer ausgeprägt starken beruflichen Orientierung auf dem männlich konnotierten Arbeitsmarktsektor der Informationstechnologien schon in den 1970er Jahren. Als sie Mutter wurde, blieb sie nach der Geburt der Tochter die ersten sieben Monate zu Hause, begann aber danach wieder zu arbeiten. Ihr Mann kümmerte sich – zunächst zusammen mit einem Au-pair-Mädchen aus Finnland und später alleine – um ihre gemeinsame Tochter. Als die Tochter 2½ Jahre alt war, kehrte der Vater an seinen Arbeitsplatz zurück und die Tochter wurde von einer Tagesmutter betreut, bis sie das Kindergartenalter erreichte. Als die Tochter zur Schule ging, begann Raija halbtags zu arbeiten. Obwohl Raija die gesellschaftlich-strukturellen Schwierigkeiten bei der Vereinbarung der Familie umgehen konnte, war sie jedoch spätestens im Schulalter ihrer Tochter mit diesen strukturellen Problemen konfrontiert. Jedoch lässt sich aus der biographischen Perspektive zeigen, dass Raija zum selben Zeitpunkt Schwierigkeiten, sowohl mit ihrer Gesundheit als auch an ihrem Arbeitsplatz, hatte und somit die Entscheidung traf, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, was für Raija eine biographische Lösung eines drohenden Verlaufskurvenpotentials darstellte. Während Saaras Fall der von Tuomi-Nikula (1989) aufgestellten These, dass viele Migrantinnen finnischer Herkunft in der Bundesrepublik in die Rolle einer Hausfrau schlüpfen, zum Teil entspricht, stellt Raijas Fall ein Gegenbeispiel dar. Trotz der gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den 1970er und 1980er Jahren erschwert haben, hat der berufliche Status sowie die Lage auf dem Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle dabei gespielt, welches Familienmuster und welche vergeschlechtlichte Aufgabenverteilung sich jeweils etabliert haben. Dies zeigt sich auch am Beispiel von Maija, die zunächst Karriere auf dem Finanzsektor machte, dann im Alter von fast 40 Jahren Mutter wurde. Nach der Entbindung der Tochter 1987 blieb Maija für sieben Monate zu Hause, begann danach aber wieder ganztags zu arbeiten. Dies war möglich, da ihre Tochter einen halben Tag von der Tagesmutter und den Rest
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des Tages von ihrem Ehemann, der seine Arbeitszeiten flexibel regeln konnte, betreut wurde. Trotz der starken beruflichen Orientierung der finnischen Migrantinnen, hat die Möglichkeit, mit dem Kind zu Hause zu bleiben und sich auf die reproduktiven Aufgaben konzentrieren zu können, auch für einige finnische Migrantinnen eine durchaus attraktive Lösung dargestellt, wie Chowdhury (1996) in ihrer Arbeit deutlich machte. In der vorliegenden Studie hat sich jedoch gezeigt, dass diese Haltung erst ein Resultat des biographischen Transformationsprozesses ist und als Anpassung an die schwierigen gesellschaftlich-strukturellen Rahmenbedingungen und an die jeweiligen familiären Situationen zu deuten ist. Dieses Ergebnis unterscheidet sich von den Untersuchungen, die die veränderte Haltung von Migrantinnen zur Erwerbstätigkeit als Folge von schon stattgefundenen Veränderungen im Herkunftskontext festgestellt haben (vgl. Apitzsch 1993a, Jiménez Laux 2001). Während in diesen Studien geklärt wurde, dass die Berufstätigkeit von Frauen nicht erst im Migrationskontext stattgefunden hat, sondern dass die Konstruktion einer Frau als Mutter und Hausfrau in dem Herkunftskontext schon vor der Migration brüchig geworden war, zeigt diese Studie, dass die Familiengründung erhebliche Hindernisse für die Ausübung der Berufstätigkeit in der Migration verursachte und somit zu geschlechtsspezifischen Risiken führte (Saara) (siehe auch Apitzsch 2000) oder auch eine Reorganisation der vergeschlechtlichten Reproduktionsarbeit notwendig macht (Raija, Maija), wenn die berufliche Position der Frau höher war als die des Ehemannes. 8.3.2. Positionierung als kämpfende Migrantin im ethnisierten Geschlechter- und Generationenverhältnis Neben der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Migration stellt sich die Frage nach den ethnisierten Geschlechter- und Generationenverhältnissen als ein zentrales Konstruktionsprinzip der biographischen Rekapitulation als Migrantin. Bettina Dausien hat in ihrer Dissertation »Biographie und Geschlecht« auf die Bedeutung der »Gebundenheit« der weiblichen Biographie an das Leben der anderen Familienmitglieder hingewiesen. Dies drückt sich zum Beispiel darin aus, dass Frauen sozialen Beziehungen und den »Beziehungsnetzen« (Dausien 1996: 547) einen größeren Raum in ihren biographischen Rekonstruktionen geben als Männer. Dausien spricht in diesem Zusammenhang von einer »gebundenen Lebenskonstruktion« (a.a.O.: 550). Die biographischen Konstruktionen von Ethnizität lassen sich in der vorliegenden Studie u.a. als solche »gebundenen Lebenskonstruktionen« bezeichnen, da diese vor allem anhand der Beschreibung von Interaktionen und insbesondere von Konflikten dargestellt werden. Dabei konstituieren sich die vergeschlechtlichten und ethnisierten Positionierungen als Resul-
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tate der jeweiligen Machtverhältnisse und ihrer biographischen Prozessierung. Insbesondere lässt sich dies am Beispiel der Geschlechter- und Generationenverhältnisse feststellen. In Saaras Beispiel kann neben der biographischen Selbstdarstellung als die dem deutschen Ehemann unterlegene Migrantin auch die Position einer kämpfenden Migrantin festgehalten werden. Diese Positionierung ermöglicht eine Neuverhandlung des Geschlechterverhältnisses und der damit verbundenen Rollenvorstellungen, wie das Beispiel des Bügelns zeigt. Saaras Ablehnung, die Hemden ihres Mannes zu bügeln, weist darauf hin, dass eine Aushandlung über das Bügeln zwischen den Ehepartnern stattgefunden hatte. Saara verweist hiermit auf ihren Status als Akademikerin: »Für dich bin ich eine allzu teure Frau zum Bügeln.« (NFT22/737-22/738) Dieser Kommentar weist darauf hin, dass das Bügeln nicht nur mit einer vergeschlechtlichten Rollenaufteilung verbunden ist, sondern zugleich eine Tätigkeit darstellt, die als minderwertige und schlecht bezahlte Aufgabe eines Dienstmädchens wahrgenommen wird. Auch Tiina thematisiert in ihrer Biographie das Zuhause als Ort des Geschlechterkampfes. Sie deutet ihre Selbständigkeit, ihren Individualismus und das den stereotypen Geschlechterrollen überschreitende Verhalten als Ursprung der Probleme in ihrer Ehe. Sie erzählt eine Episode, in der sie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zu Hause überschreiten wollte: »/the ironing lady is dead/(spielend) --/she doesnތt come anymore/(lachend)«9, die bügelnde Frau ist tot -- sie kommt nicht mehr. Die bügelnde Frau und ihr »Tod« fungieren hier als Metapher für die Spannungen im ehelichen Geschlechterverhältnis. In Seijas biographischer Selbstdarstellung dagegen überwiegt die Auseinandersetzung mit den Schwiegereltern. Seija ist mit einem vergeschlechtlichten und ethnisierten Generationenkonflikt konfrontiert, wobei sie in die Rolle einer bösen, geldgierigen ausländischen Frau gedrängt wird, die sich der Entscheidungsmacht der Eltern ihres Ehemannes entzieht und die Norm des traditionellen Heiratsverhaltens verletzt. Diesen beschriebenen Fällen ist gemeinsam, dass in ihnen eine Dynamik von ethnisierender Zu- und Selbstzuschreibung stattfindet, wobei die ethnischen Grenzen im klassischen Sinne (Barth 1969) zwischen den Gruppen oder Individuen gezogen werden. Die hier stattfindende vergeschlechtlichte Ethnisierung hat eine hohe biographische Relevanz und steuert das biographische Handlungsschema sowie die Konstruktionen der Zugehörigkeit dieser Migrantinnen. Dies führt zur Konstruktion einer essentiellen ethno-nationalen Zugehörigkeit als Fin-
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Im Interview: 2/19/562-563. Das Zitat ist hier auf Englisch wiedergegeben, weil Tiina sich mit ihrem Exmann auf Englisch unterhielt und sie während des Interviews den hier zitierten Satz auf Englisch wiedergab.
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nin. Die Selbst-Ethnisierung fungiert dabei als eine essentialisierende Strategie (Spivak 1993), die hier eingesetzt wird, um damit einen Legitimationsgrund für das sich von der jeweiligen Norm unterscheidende Verhalten zu finden. Zugleich eröffnet diese Zugehörigkeitskonstruktion einen Handlungsraum, der in den konfliktgeladenen Situationen sonst verloren zu gehen droht. 8.3.3. Positionierung als »unsichtbare«, »privilegierte« Migrantin in einer multikulturellen Gesellschaft »Die ›Fremdheit‹ ist […] nicht strukturelles Schicksal, sondern wird dazu, d.h. zu dem, was wir dann darunter verstehen, erst gemacht« (Bukow/Llaryora 1988: 75).
In der Erzählung einer Biographie als Selbstdarstellung werden verschiedene vorhandene Identitätsdiskurse bzw. ihre Teile reproduziert, angeeignet, resistiert und mitunter transformiert. Dies weist auf die Prozessualität und den Kontext der Identitätsbildung sowie auf die sozialen Gegebenheiten und Machtverhältnisse, die an der Identitätsbildung sowie an der Produktion einer Biographie beteiligt sind, hin. Die zuvor diskutierten Biographien von Saara, Katri und Seija stellen unterschiedliche Beispiele dar, wie die Positionierung als Migrantin als »unsichtbar« und »privilegiert« zu verstehen ist. Für Saara besteht ihre Privilegiertheit in ihrer Position im Vergleich zu anderen ausländischen Menschen, die man »hier im Allgemeinen als AusländerIn betrachtet« (NFT2/48-49). Im Hinblick auf den Ausländerdiskurs scheinen FinnInnen zunächst keine AusländerInnen zu sein bzw. zumindest nicht solche AusländerInnen, die durch die Ausländerdiskurse in Deutschland als AusländerInnen konstruiert und wahrgenommen werden. Für diese Position einer »unsichtbaren AusländerIn« ist eine privilegierte Position als AusländerIn, der/die aus dem Norden kommt und ziemlich gut die deutsche Sprache beherrscht, typisch. Saaras Privileg als »angesehene Ausländerin« wird durch ihre Herkunft als Migrantin aus dem Norden, was möglicherweise mit etwas Begehrtem und mit Wohlstand gleichgesetzt wird, als gebildete Migrantin mit guten Sprachkenntnissen gestaltet. In Katris Fall dagegen konstituiert sich das Privilegiertsein als »erste Klasse Ausländerin« (NFT32/1057-32/1058). Diese Positionierung entsteht aus der Wahrnehmung des Ausländerdiskurses bezogen auf die ethnische Hierarchisierung. Dabei vergleicht Katri ihre Position mit der von AusländerInnen aus der Türkei, Südeuropa oder der von Schwarzen AusländerInnen. Die nationalstaatliche Bezeichnung FinnInnen weist hier einer-
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seits auf eine positiv besetzte Exotisierung der FinnInnen als AusländerInnen und andererseits auf eine ethnische Hierarchisierung zwischen den AusländerInnen in Deutschland hin. Eventuell benutzt Katri den Begriff »Klasse«, um auf eine ethnische und rassistische Hierarchisierung unter den AusländerInnen zu verweisen. Zugleich bezieht sich »Klasse« aber auch implizit auf die sozioökonomische Lage der MigrantInnen, die zur Hierarchisierung beiträgt. Katris privilegierte Position spiegelt sich in der Tatsache wider, dass sie vom Phänotyp her als Deutsche durchgehen kann. Mit der evaluierenden Aussage »Uns sieht man es nicht unbedingt an …« (NFT36/1196) bezieht sich Katri auf den Diskurs über »sichtbare« und »unsichtbare« AusländerInnen. Sie zählt sich zu den »unsichtbaren AusländerInnen« in Deutschland, die nicht, zum Beispiel wegen ihres Äußeren, zum Ziel von rassistisch motivierten Vorurteilen und Angriffen werden. Auch in Seijas Fall lässt sich die Privilegiertheit auf die schon oben erwähnten Dimensionen zurückführen. Die Differenz und Distanz zwischen Seija und ihren Schwiegereltern wird noch über die rassifizierende Zuschreibung Weiße Frau verstärkt. Dabei mischt sich in diesem Modell die Infragestellung der von heterosexuellen Frauen erwarteten Reproduktionsfähigkeit mit der Positionierung einer rassifizierenden Hierarchisierung aufgrund der Hautfarbe. Obwohl Seija eine Ausländerin und Migrantin ist, ist sie jedoch eine Weiße Europäerin, deren Position eine strukturelle Dominanz in den europäischen Gesellschaften darstellt. Somit lässt sich auch festhalten, dass die in der vorliegenden Studie beschriebene »Unsichtbarkeit« der finnischen Migrantinnen zugleich darauf hinweist, wie die Konzeptualisierung von Europa auch mit dem Weißsein und einer damit zusammenhängenden strukturellen Privilegierung einhergeht. Insbesondere die hier erwähnten Fallanalysen von Katri und Seija thematisieren die »Unsichtbarkeit« als Weißsein. Die Thematisierung des Weißseins weist darauf hin, dass Rassismus nicht nur das Leben von Schwarzen Frauen oder Migrantinnen prägt, sondern auch das Leben von Frauen, die davon profitieren (Frankenberg 1993, 1996). Diese strukturelle Privilegierung, die das Weißsein umfasst, definiert Ruth Frankenberg (1996: 56) als eine Position struktureller Vorteile in Gesellschaften, die durch eine rassistische Dominanz geprägt sind. Dabei stellt Weißsein einen »Standpunkt« dar, von dem aus das Selbst, die Anderen sowie die nationalen und globalen Ordnungssysteme betrachtet werden. Somit ist Weißsein ein Ort, an dem sich eine Reihe von kulturellen Handlungsweisen und Identitäten herausbilden. Jedoch sind diese selten gekennzeichnet und benannt, da sie eher als national oder »normativ« und nicht als spezifisch »rassisch« bezeichnet werden. Weißsein ist aber kein absoluter Ort von Privilegien, sondern wird von einer Reihe anderer Achsen relativer Begünstigungen oder Benachteiligungen durchschnitten. Somit ist Weißsein ein Produkt der Geschichte und ist ebenso
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wie andere rassistische Zuschreibungen sozial konstruiert. Weißsein ist eine verhältnismäßige Kategorie, die ihre Bedeutung in Relation mit und im Gegensatz zu anderen »rassifizierenden« Kategorien erhält. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Identitäten und Positionen in ihren materiellen und diskursiven Auswirkungen keine Realität besitzen, was anhand der Analyse von Katris Biographie gezeigt werden konnte. Die Tatsache, dass das Weißsein mit »Unsichtbarkeit« verbunden ist, deutet auf die strukturelle Privilegierung der sogenannten Weißen Menschen und somit auf ihre Möglichkeit, als Einheimische in den von Weißen dominierten Gesellschaften zu gelten. Das Bedürfnis, »unsichtbar« zu bleiben, unterstreicht auch Annette Treibel (1990: 110), die darauf hinweist, dass Einwanderer in der Regel davon ausgehen, dass die Einheimischen ablehnend reagieren, und deswegen versuchen, Auffälligkeit zu vermeiden. Dies hat zum Beispiel Magdalena Jaakkola (1985) in Bezug auf die Situation der finnischen Einwanderer, der größten Einwanderergruppe in Schweden, festgestellt und ihr sprachliches Verhalten als eine »Subkultur des Schweigens« bezeichnet. Nach Jaakkola würden einige Finnen »in der Öffentlichkeit nur flüstern oder überhaupt nicht sprechen«: »Einige grüßen sich nicht auf der Straße, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und einige schämen sich dafür, dass ihre Landsleute laut in Bussen sprechen. Einige sagen nichts, wenn sie das Telefon beantworten (gemeint ist wohl: melden sich nicht, wenn sie den Hörer abnehmen: A.T.), aus Furcht, dass die Person am anderen Ende der Leitung möglicherweise ein Schwede ist« (a.a.O.: 265) (in Treibel 1990: 110). Obwohl nun in der vorliegenden Studie nicht die These von der »Subkultur des Schweigens« bestätigt werden kann, lässt sich jedoch feststellen, dass gerade die Sprache die sonst erlebte »Privilegiertheit« und »Unsichtbarkeit« in Frage stellt.10 In einigen Biographien konnte das Bedürfnis, auf der sprachlichen Ebene nicht aufzufallen, festgestellt werden. Trotz der im Allgemeinen ziemlich guten Sprachkenntnisse stellte die deutsche Sprache auch für einige Migrantinnen finnischer Herkunft, wie zum Beispiel für Ulla, mindestens zu Beginn des Migrationsprojektes, ein Problem dar: Ulla: »Ich weiß noch, als Lothar mir während der ersten Jahre sagte, dass/du wirst ja nicht beim Einkaufen bedient, da du so leise sprichst./(spielend) – Irgendwie habe ich es geheim gehalten. Nicht weil ich Angst hatte, dass jemand mir etwas Böses sagt, aber ich wollte nicht//ich wollte nicht -- auffällig sein. Ich könnte sagen, dass es mich gestört hat, dass man an meiner Sprache erkennt, dass ich eine Ausländerin bin« (NFT49/1635-49/1642).
10 Der hier festgestellte Unterschied kann eventuell mit der Verschiedenheit der Migrationen nach Schweden (Unterschicht) und Deutschland (Mittelschicht) erklärt werden.
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8.3.4. Zur Konstituierung von transnationaler Positionierung/Verortung als eine biographische Ressource und Bewältigungsstrategie in der Migration Als Ergebnis der biographieanalytischen Rekonstruktion von biographischen Migrations- und Transformationsprozessen und biographischen Positionierungen lässt sich eine Konstituierung von transnationaler Positionierung als eine biographische Verortungsstrategie in der Migration feststellen. Diese Positionierung besteht aus einer Vermischung von lokalen, translokalen, transnationalen, imaginären sowie konkreten biographischen Verortungen, die aus der Herstellung von Zugehörigkeit und Handlungsfähigkeit resultieren. Dieses Konzept lehnt sich an die Verknüpfung der Transnationalitätsperspektive mit dem Konzept der »translokalen Positionalität« von Floya Anthias an: »The focus on location (and translocation) recognizes the importance of context, the situated nature of claims and attributions and their production in complex and shifting locales. It also recognizes variability with some processes leading to more complex, contradictory and at times dialogical positionalities than others; this is what is meant by the term ›translocational‹. The latter references the complex nature of positionality faced by those who are at the interplay of a range of locations and dislocations in relation to gender, ethnicity, national belonging, class and racialization« (Anthias 2002: 502).
Das Konzept der »transnationalen Positionierung« überwindet die bipolare Zeichnung von Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit und erkennt stattdessen die Ambivalenz, Zeitlichkeit und Vielfältigkeit der Zugehörigkeitskonstruktionen an. Zugleich ermöglicht das Konzept, Variationen der Konstituierung von transnationaler Positionalität, die als biographische Bewältigungsstrategie in der Intersektionalität von biographischen Prozessen und strukturellen Bedingungen entstehen, zu untersuchen. Somit ermöglicht das analytische Konzept der »transnationalen Positionierung«, einerseits die transnationalen Verbindungen, andererseits die sozialen Positionen in ihrer Intersektionalität analysieren zu können. Dabei ist es möglich, den Blick auf die biographische Konstituierung von grenzüberschreitenden Verbindungen sowohl auf der Ebene der Zugehörigkeit als auch auf der Ebene der Handlungsfähigkeit zu richten. Obwohl nun anhand der biographischen Fallanalysen festgehalten werden kann, dass die Migrantinnen finnischer Herkunft im Großen und Ganzen als »integriert« gelten, weisen die untersuchten Biographien darauf hin, dass die Konstruktionen von Zugehörigkeit sowie die Konstituierung von Handlungsfähigkeit durch die transnationalen Verbindungen gekennzeichnet sind. Dabei konstituiert
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sich das Transnationale jedoch jeweils unterschiedlich und ist als Resultat des Zusammenwirkens der biographischen Prozesse und strukturellen Bedingungen zu verstehen. Da ich mich in der vorliegenden empirischen Arbeit vor allem für die Migrationsprozesse und Subjektkonstruktionen interessiert habe und die Perspektive der Transnationalität sich erst im Laufe der empirischen Untersuchung als eine wichtige Perspektive bei der Gestaltung des subjektiven Handlungsspielraumes erwies, stellt die Konstitution des Transnationalen auf der Ebene der Politik, Netzwerke und Organisationen keinen Gegenstand dieser Untersuchung dar, sondern wird hier vor allem aus der Perspektive der biographischen Konstituierung und Konstruktion beleuchtet. Jedoch kann festgehalten werden, dass einige Aspekte bei der Gruppe von MigrantInnen finnischer Herkunft auf ihre bisher wenig betrachtete transnationale Lage in Deutschland hinweisen.11 Auf die Konstitution des transnationalen Charakters der Migrationsbewegungen zwischen Finnland und Deutschland weist auch das »Kleine[] Lexikon der ethnischen Minderheiten in Deutschland« hin. Es wird dort zu finnischen MigrantInnen festgestellt, dass sie »ihren Aufenthalt auf absehbare Zeit geplant haben und daher kontinuierlich Kontakt zu dem Herkunftsland halten. Sie sind hauptsächlich als Fachkräfte (Ingenieure und leitende Angestellte) in Unternehmen und im Dienstleistungsbereich tätig oder kommen als Studierende (insbesondere im Falle der Frauen) zum Praktikum oder als Au-pair-Mädchen« (Schmalz-Jacobsen/Hansen 1997: 55-56).
Dieses Zitat könnte auf ein reges transnationales Leben zwischen Deutschland und Finnland hinweisen. Jedoch gibt es bisher keine Studien, die sich explizit auf die Dimension der Transnationalität bei der finnischen Migration in Deutschland konzentriert haben. Vielmehr dominiert in der (finnischsprachigen) For-
11 Bei der Definition der Transnationalität lehne ich mich an die Definition von Claudia Martini an. In ihrer Untersuchung zu italienischen Migranten in Deutschland greift Martini in Anlehnung an Ludger Pries auf den Begriff des transnationalen Sozialraumes zurück. Um die transnationalen Verbindungen der ersten Generation von Italienern untersuchen zu können, definiert Martini (2001: 34) den transnationalen Sozialraum als »mehrdimensionales Netzwerk, das nationale Grenzen überspannt«. Demzufolge untersucht sie die Vernetzung auf unterschiedlichen Ebenen der staatlichen Emigrationspolitik, der Migrantenorganisationen, der Beziehungen, Zugehörigkeiten und Identitäten von Migranten und kommt zu dem Schluss, dass bei den italienischen Migranten ein transnationaler Raum festzustellen ist.
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schung die Akkulturationsperspektive, mit der die Eingliederung von »Auslandsfinnen/-finninnen« in die jeweiligen Ankunftsgesellschaften untersucht wird. Eine neue Perspektive auf die Konzeptualisierung von finnischen Migrantinnen oder »Auslandsfinnen/-finninnen«, wie in der finnischsprachigen Forschung die MigrantInnen finnischer Herkunft genannt werden, nimmt Sirkku Wilkmann (2004) in ihrer Arbeit ein. In ihrer Studie untersuchte sie die Migration von FinnInnen in die USA und nach Deutschland im 21. Jahrhundert und betrachtet diese als eine Ressource für Finnland im Ausland. Auch auf der organisatorischen Ebene lassen sich einige Besonderheiten feststellen, die gleichzeitig auf eine enge transnationale Verknüpfung zwischen Finnland und Deutschland hinweisen. Eine dieser Verknüpfungen beschreitet die finnische kirchliche Arbeit. In Deutschland befinden sich 16 kleine finnische evangelische Gemeinden, die ihre kirchliche Arbeit als Teil der Evangelischen Kirche Deutschlands betreiben. Jedoch wird ihre Arbeit hauptsächlich durch die evangelisch-lutherische Kirche in Finnland finanziert. Außerdem wird die finnische Sprache im Rahmen der finnischen Schulvereine unterrichtet. Diese werden ebenfalls aus Finnland, vom dortigen Unterrichtsministerium, finanziell unterstützt. Die »Deutsch-Finnische Gesellschaft« (DFG) dagegen stellt eine gemischt-nationale Vereinigung dar, die sich für die finnische Kulturarbeit in Deutschland engagiert. Eine Besonderheit auf der politischen Ebene ist das Parlament der AuslandsfinnInnen (Finnish Expatriate Parlament). Es kann als ein transnationales Organ definiert werden, das Einfluss auf das politische Leben in Finnland hat. Es ist in verschiedenen Ländern vertreten und bietet einen Rahmen, in dem finnische MigrantInnen überall auf der Welt hauptsächlich per Internet miteinander kommunizieren und die Politik in Finnland beeinflussen können. Ein konkretes Beispiel der politischen Arbeit des Parlaments stellt das neue Staatsangehörigkeitsgesetz dar. Die von im Ausland lebenden Migrantinnen initiierte Debatte zur doppelten Staatsangehörigkeit führte zu einer Gesetzesänderung, die nun eine doppelte Staatsangehörigkeit ermöglicht. Obwohl die Untersuchung dieser transnationalen Organe nicht Anliegen dieser Studie war, konnte jedoch festgestellt werden, dass insbesondere die kirchlichen Gemeinden sowie die Sprachschulen bei einigen Biographinnen dieser Studie dazu beitrugen, einen transnationalen Raum in der Migration herzustellen. Aus der biographischen Perspektive betrachtet, gestaltet sich die Transnationalität vor allem dadurch, wie sich die Menschen über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg ihre Zugehörigkeiten konstruieren und wie sie ihre Handlungen steuern. Somit können Migrationsbiographien als eine Konkretisierung des transnationalen Raumes verstanden werden. Dieser kann in der Struktur der Migrationsbiographie, »die durch biographische Arbeit von den Migrationssubjekten
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zugleich hergestellt und immer wieder neu rekonstruiert wird« (Apitzsch 2003a: 65) nachgebildet werden. Mein Anliegen in dieser Studie war es, den Blick darauf zu richten, wie ein biographischer Handlungs- und Zugehörigkeitsraum aufgebaut wird und welche strukturellen Bedingungen und biographischen Prozesse zu dieser Konstituierung führen. Dadurch möchte ich die Diskurse zur Transnationalität, insbesondere die Überlegungen zur Transnationalitätsperspektive, mit der handlungstheoretischen Raumtheorie der Soziologin Martina Löw (2001) verbinden. Martina Löw (a.a.O.) entwickelt in ihrer Arbeit zur Raumtheorie ein handlungstheoretisches und relationales Raumkonzept. Als eine grundlegende Prämisse fungiert dabei die Annahme, dass das Handeln raumbildend ist. So werden Räume nicht als Behälter, wie von den Transnationalitätsansätzen, kritisiert, sondern als Gebilde, die erst durch das Handeln entstehen, verstanden. Das Handeln ist jedoch nicht willkürlich, sondern ist von strukturellen Bedingungen abhängig. Dadurch entsteht der Raum aus der Wechselwirkung von Handeln und Strukturen, wobei sie sich durch deren Synthese herausbilden und befestigte Formen als Orte hervorbringen können. Jedoch können sich an einem Ort mehrere verschiedene Räume bilden, ohne dass diese sich zu Orten verfestigen müssen. In der vorliegenden Studie habe ich meinen Blick auf die biographische Gestaltung der Transnationalität im Sinne der transnationalen Räume aus der biographischen Perspektive gerichtet. Es konnte beobachtet werden, dass die Entstehung der Transnationalität in einem engen Zusammenhang mit den Erfahrungen der unterschiedlichen Machtverhältnisse stand, und dadurch die Gestaltung des transnationalen Handlungsraumes eine biographische Bewältigungs- und Handlungsstrategie darstellte. In den zuvor diskutierten Biographien von Saara, Katri und Seija gestaltete sich die Entstehung des transnationalen Raumes aus unterschiedlichen Perspektiven, die ich hier kurz zusammenfassend erläutern möchte. Für Saara ermöglicht die Selbstzuschreibung »Ausländerin überall« sowohl in Finnland als auch in Deutschland eine positive biographische Zugehörigkeit, die nicht an einen Ort oder eine Zeit gebunden ist, sondern die als translokal und, in Bezug auf zwei verschiedene Nationen, als transnational bezeichnet werden kann. In ihrer biographischen Erzählung positioniert Saara sich selbst als eine emanzipierte Frau, die strukturellen Hindernissen begegnet war, als sie Familie und Beruf miteinander vereinbaren wollte. Die strukturellen Bedingungen trugen dazu bei, dass Saara ein Selbstverständnis und eine ethnisierte Zugehörigkeit als eine finnische Frau aufbaute, die es ihr ermöglicht, ein von der Norm des Hausfrauseins abweichendes Verhalten, nämlich das einer berufstätigen Mutter, zu behaupten. Jedoch führt ihre Lebenslage zu einer Situation, in der es ihr nicht mehr möglich ist, diesem Lebensentwurf nachzugehen und sie sich dadurch ge-
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zwungen sieht, sich biographisch neu zu orientieren. Saara bleibt mit den Kindern zu Hause und engagiert sich in der religiösen Community der Finnen. Zugleich beginnt sie zwischen Finnland und Deutschland zu pendeln, orientiert sich beruflich neu, so dass sie als freie Übersetzerin und Dolmetscherin arbeiten kann. Die Selbstethnisierung fungiert in Saaras Fall als eine Möglichkeit, beruflich handlungsfähig zu bleiben und so ihrem biographischen Handlungsschema zu folgen. Zugleich unterstreicht es die transnationale Positionalität, die durch die Präsenz von Deutschland und Finnland als Rahmen der Zugehörigkeit und der Handlungsfähigkeit festzustellen ist. Die biographische Verortung, die aus dieser Art von Positionierung erfolgt, kann als transnationale biographische Verortung bzw. transnationale biographische Positionierung im Sinne von »transnationaler Zugehörigkeit« und »translokaler Positionalität« (Anthias 2002) gedeutet werden. Sie ermöglicht eine gleichzeitige, biographisch relevante Verortung an mehreren Orten, in unterschiedlichen Diskursen und Räumen, ohne eine Zugehörigkeit zu bevorzugen. Diese »translokale Positionalität«, die einen Weg zu einer transnationalen Vergesellschaftung ermöglicht und Saaras inneren identifikatorischen Prozess kennzeichnet, eröffnet auch für Saaras Kinder eine Möglichkeit, sich biographisch in unterschiedlichen Gesellschaften zu verorten. Somit lässt sich die »transnationale Positionierung« in dieser familialen Konstellation als eine biographische Strategie sowie intergenerational weitergegebene biographische Ressource deuten. Dies kommt nicht nur auf der Ebene der doppelten Staatsangehörigkeit, sondern auch durch Saaras eigenes Verhalten als ›Vermittlerin‹ zwischen den Kulturen und Sprachen zum Ausdruck. Auch in Katris Fall kann von einer transnationalen Positionierung gesprochen werden, die sich jedoch völlig anders als bei Saara gestaltet. Obwohl Katri schon fast seit 20 Jahren in Deutschland gelebt hat und dadurch genauso wie Saara als eine sozial und ökonomisch »integrierte« Migrantin betrachtet werden kann, kommt sie zu dem Schluss: »Ich bin nie hier in Deutschland geblieben. Ich bin immer auf dem Sprung gewesen« (HE19/629-630). Mit diesem Zitat zeigt Katri ihre Bereitschaft, immer wieder geographisch mobil zu sein. Auch die ethnische Zugehörigkeit, die sich aus Katris Biographie nachformen lässt, unterscheidet sich von Saaras. Während die Konstruktion als »Finnische Frau« es Saara ermöglicht, handlungsfähig zu bleiben und dadurch eine transnationale Zugehörigkeit zu konstruieren, wird die Bezeichnung Weiße Frau zu einem zentralen Teil von Katris biographischem Handlungsschema und der Darstellung ihrer Zugehörigkeit. Dies unterstreicht sie mit dem Kommentar »Uns sieht man es nicht unbedingt an …« (NFT36/1196). Obwohl Katri als deutsche Frau »durchgehen kann«, bezweifelt sie die Möglichkeit, dass ihre Tochter, als Kind einer Weißen Frau und eines Schwarzen Mannes, als Deutsche angesehen werden
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kann. Die Erfahrung und die Reflexion von »Passing« bekommt eine wichtige Stellung in Katris biographischem Handlungsschema und steuert dadurch ihre biographische Orientierung. Dies kommt zum Beispiel dadurch zum Ausdruck, dass sie mit ihrer Tochter einen Auslandsaufenthalt in einem Land verbringt, in dem Mari als »Native« »durchgehen« kann. Die Suche nach diesem Platz scheint wie eine Suche nach einem »third space« (Bhabha 1994), wo es möglich wird, die Hybridität, die Mari verkörpert, zu leben. Es scheint, als ob rassistische und diskriminierende Strukturen und Repräsentationen in Deutschland einen Teil von Katris Zugehörigkeitskonstruktion in Hinsicht auf »Passing« formierten. Die Erfahrung von Anderssein und die Unmöglichkeit, als Einheimische gesehen zu werden, obwohl sie sozial und ökonomisch als »integriert« gilt, wird durch Katris Position als Alleinerziehende verstärkt. Das Zugehörigkeitsbedürfnis einerseits, und das Bedürfnis, eine Familie zu haben, andererseits, führen Katri dazu, ihre familiären Beziehungen über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg zu intensivieren und transnationale Familienbeziehungen zu konstruieren. In Seijas Fall dagegen konstituiert sich die transnationale Positionierung auf der Ebene der intimen Beziehungen. Nach ihrer Heirat mit dem Briten indischer Herkunft ist Seija mit seinen Familien-, kulturellen und religiösen Traditionen konfrontiert. An diesem Punkt distanziert sie sich von ihren Schwiegereltern durch die Herstellung eines »counter-belongingness« entlang der ethnischen Zugehörigkeit als »eine finnische Frau«. Diese Zugehörigkeit fungiert hier als biographische Bewältigungsstrategie, um die Machtverhältnisse zwischen Seija und ihren Schwiegereltern auszuhandeln. Seija baut eine folkloristische, symbolische, emotionale und imaginierte ethnische Zugehörigkeit auf, die zu einem wichtigen Teil ihrer Handlungsfähigkeit wird. Später werden Seija und ihr Mann zu transnationalen Pendelmigranten, die aus beruflichen und familiären Gründen zwischen Deutschland und England pendeln. Transnationale Pendelmigration kann in diesem Fall als eine Art Konstruktion von transnationaler Handlungsfähigkeit betrachtet werden, die durch die physische und emotionale Verbindung und gleichzeitige Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Orten gekennzeichnet ist. Als das Paar später nach Deutschland einwandert, pendelt Seija weiterhin zwischen Deutschland und England, wo die Familie noch ihr Haus hat. Seija fasst ihre transnationale Positionierung mit den Worten zusammen: »Bald hat man in jedem Land etwas …« (HE18/603) Allen diesen Beispielen für die transnationale Positionierung ist gemeinsam, dass sie eine Zugehörigkeit erlauben, die komplex und vielfältig ist und ein Pendeln zwischen den Ländern oder ein »sich nicht auf einen Kontext festlegen« als einen Bestandteil ihrer biographischen Handlungsfähigkeit wiedergeben. Diese Einstellung ermöglicht auch ein Denken, das sich nicht nur in nationalen Kate-
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gorien bewegt (Deutschland oder Finnland), sondern einen biographischen Handlungsraum schafft, der die nationalstaatlichen Grenzen überschreitet und es erlaubt, das Beste für sich herauszuholen, um biographisch handlungsfähig zu bleiben. Wie die eingeführten Beispiele verdeutlichen, kann für die Herausbildung transnationaler sozialer Räume festgehalten werden, dass sie als Verbindung und Verflechtung unterschiedlicher Relevanzsysteme und Erfahrungsstrukturen zu fassen und durch die Herstellung biographischer Kontinuität gekennzeichnet sind (Ruokonen-Engler 2005: 67). Zugleich fungierte jeweils die Herstellung der transnationalen Positionierung als ein Korrektiv der biographischen Verlaufskurve, die das biographische Handlungsschema bedrohte und somit zu einem kreativen Transformationsprozess führte. Dadurch stellt die transnationale Positionierung eine biographische Ressource dar und wirkt als eine Bewältigungsstrategie zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit und zur Erweiterung des jeweiligen Handlungsspielraumes.
9. Abschließende Betrachtungen
Das zentrale Anliegen der vorgelegten empirischen Studie bestand in der Untersuchung von Migrationsprozessen und Subjektkonstruktionen in Biographien von Migrantinnen am Beispiel der von der bundesdeutschen Migrationsforschung wenig wahrgenommenen Gruppe von Migrantinnen finnischer Herkunft. Es lag in meinem Interesse, herauszufinden, wie die Migrantinnen sich selbst aus einer biographischen Perspektive beschreiben, welche Arten von Migrationsprozessen sich dabei rekonstruieren lassen und in welcher Art und Weise verschiedene gesellschaftliche und diskursive Differenzkonstruktionen eine biographische Relevanz, handlungsableitende und/oder -verhindernde Bedeutung erlangen und welche biographische Handlungs- und Verortungsstrategien daraus folgen. Die biographieanalytische und -theoretische Perspektive in Kombination mit der Transnationalitätsperspektive bot dabei einen epistemologisch interessanten und offenen Zugang, um mich den biographischen Erfahrungen und ihren Deutungen zu nähern. Da Biographien nicht nur Auskunft über das Subjektive des Individuums geben, sondern immer auch die gesellschaftlichen Strukturen und Strukturierungen thematisieren, erhoffte ich mir, Differenzkonstruktionen in Bezug auf Geschlecht und Ethnizität und deren Intersektionalitäten im Zusammenhang von Erfahrungen rekonstruieren zu können. So beanspruchte ich in dieser empirischen, biographieanalytischen Studie, einen biographietheoretisch begründeten Beitrag zur Erweiterung von Debatten zu Migrationsprozessen von Frauen und andererseits zu den vergeschlechtlichten und ethnisierten Subjektivierungen zu leisten, und damit zum Erkenntnisgewinn im Bereich der interdisziplinären, qualitativ-rekonstruktiven Migrationsforschung beitragen zu können. Im Folgenden möchte ich die Ergebnisse dieser Studie als gegenstandsbezogene theoretische Schlussfolgerungen formulieren und gleichzeitig über die Ergebnisse aus den diskutierten Fallanalysen hinausweisen.
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9.1.
M IGRATION
ALS BIOGRAPHISCHER
P ROZESS
Migrationsprozesse werden oft unter einem unidirektionalen phasenartigen Modell der Emigration und Immigration gefasst, wobei die Migrationserfahrungen in Beziehung zum Eingliederungsprozess, der sich zum Beispiel in gängigen Termini wie Akkulturation, Integration und Assimilation ausdrückt (siehe zum Beispiel Esser 1980), gestellt werden. Dass sich die Migrationsentscheidung und das Migrationsgeschehen nicht nur als ein psychosozialer Prozess oder als ein Resozialisations- und Vergesellschaftungsprozess, sondern vor allem als ein biographischer Prozess gestaltet, zeigen die in dieser Studie diskutierten exemplarischen biographieanalytischen Fallanalysen. Dementsprechend kann die jeweilige Migrationsentscheidung erst aus der Gesamtperspektive der jeweiligen Biographie, die sowohl Auskunft über die gesellschaftliche Lage als auch über das subjektive Handeln aus einer verzeitlichten Perspektive heraus gibt, in ihrer Komplexität erfasst werden. Dabei ermöglicht die biographische Perspektive Einblicke in die biographischen Erfahrungen und ihre Ausarbeitung, die die Migrationsentscheidung sowie das weitere Leben in der Migration überlagern. Die biographische Prozesshaftigkeit der Migrationsprojekte entfaltet sich aus einem rekonstruierten Zusammenhang von biographischen Ereignissen und Erfahrungen sowie von anderen Bedingungen wie Informationen, Wissen, Imaginationen, Träumen, Netzwerken, strukturellen Bedingungen, Mobilitätsmöglichkeiten usw., die an der Entwicklung eines Migrationsprojektes beteiligt sind. Dementsprechend wurde in der vorliegenden Studie die eingangs vorgestellte Definition der »Individualwanderung« (Treibel 1990) revidiert. Denn es konnte aus der biographischen Perspektive gezeigt werden, dass die als individuell definierte Migration in der Tat mit einem biographischen Prozess der familiären Ablösung und der Individuierung verbunden war. Die transkulturellen und transnationalen Verflechtungen von Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften trugen außerdem dazu bei, dass die Bearbeitung des Individuierungsprozesses in Form von »InsAusland-Gehen« sowie der späteren Migration stattfand. Dabei eröffnete das Migrationsprojekt einen Möglichkeitsraum (King 2002, 2004) zur biographischen Selbstentfaltung und zur eigenständigen Lebensgestaltung. Die diskutierten Fallstudien sprechen außerdem gegen das Verständnis von Migration als ein unilinearer Prozess, der sich in Form von Emigration und Immigration gestaltet. Vielmehr kann hier von einem nicht abgeschlossenen, prozesshaften Phänomen, das auf den Ebenen des Psychosozialen, der Zugehörigkeitskonstruktion und der konkreten Migrationsbewegungen zum Ausdruck kommt, gesprochen werden, da es aus biographieanalytischer Perspektive möglich war, die Prozesshaftigkeit und Vielfältigkeit der Migrationsentscheidungen
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sowie die Unabgeschlossenheit der Migrationsprojekte und deren Einbindung in die biographischen Prozessen, zu rekonstruieren.
9.2.
M IGRATION ALS T EIL DES BIOGRAPHISCHEN T RANSFORMATIONSPROZESSES
Im Bereich der Migrationsforschung wird traditionell von der These ausgegangen, dass die Migration mit erheblichen und häufig auch negativ wirkenden Lebensveränderungen für die MigrantInnen verbunden ist. Diese Vorstellung, dass die Migration die Desozialisation der Migranten, die zur Marginalität und zum Zusammenbruch der »relativ natürlichen Weltanschauung« führt (Han 2000: 57f.), nach sich zieht, stellt diese Studie in Frage. Die präsentierten Fallstudien deuteten darauf hin, dass der Migrationsschritt an sich nicht zur Desozialisation und Marginalität führt, sondern dass erst eine genauere Beleuchtung des Zusammenhangs von biographischer Bearbeitung der subjektiven Erfahrungen und objektiven gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen über die Lebensveränderungen Auskunft geben kann. Die analysierten Fallstudien zeigen, dass der individuelle Migrationsschritt als eine positive Bearbeitung der jeweiligen biographischen Lebensphase gewertet werden kann.1 Somit wurde in der vorliegenden Studie eine Perspektive aufgenommen, die die Entfaltung des Migrationsprozesses als einen biographischen Umwandlungs- und Neubildungsprozess im Sinne eines kreativen und reflexiven biographischen Transformationsprozesses, versteht (vgl. Apitzsch 1999). Dabei rücken das Zusammenwirken von strukturellen gesellschaftlichen Bedingungen einerseits und inneren, biographisch erworbenen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern andererseits ins Zentrum der Betrachtung, wodurch biographische Transformationsprozesse konstatiert werden konnten, die jedoch nicht nur als direkte Folge des Migrationsgeschehens zu sehen sind. Vielmehr kann die Migration selbst, wie die in dieser Studie diskutierten Biographien anhand der Transformationsprozesse »Selbständig-Werden« und »Ins-Ausland-Gehen« aufzeigen, als Teil eines bereits vor der Migration begonnenen biographischen Transformationsprozesses gedeutet werden. Der Trans-
1
Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Kirsten Ricker, die in ihrer Studie über Französinnen in Deutschland feststellt: »Allein der Migrationsschritt und die Art der Gestaltung nachfolgender Prozesse besitzt einen besonderen Sinn in den jeweiligen Migrationsbiographien. Es gibt anscheinend einen »biographischen Moment«, wo der Migrationsschritt als Lösung von unbefriedigenden Lebenspassagen bzw. Konfliktsituationen im Herkunftsland angesehen wird« (a.a.O.: 335).
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formationsprozess »Ausländerin-Werden« wiederum, wie in dieser Studie gezeigt, deutet auf die biographische Auseinandersetzung mit der zugeschriebenen Position als Ausländerin hin, die zur Herstellung einer transnationalen biographischen Verortung und den sich daraus ergebenen Handlungsstrategien führen kann.
9.3.
B IOGRAPHISCHE K ONSTRUKTIONEN VON D IFFERENZEN UND I NTERSEKTIONALITÄTEN
Der Migrationsschritt an sich, der die migrierende Person als einen Ausländer/eine Ausländerin bzw. Migranten/Migrantin markiert, geht mit einem nationalstaatlich konzipierten Statuswechsel einher. Diese veränderte Subjektposition, die auf unterschiedlichen Ebenen oft als »Andersheit« oder »Fremdheit« beschrieben wird, beeinflusst die Subjektivierung und kann einen biographischen Transformationsprozess auslösen, in dessen Folge eine »migrantische Identität« (Lutz 1990) hergestellt wird. Dabei geht es nicht nur um die Feststellung der ethnischen Zu- und Selbstzuschreibung im Sinne von Grenzziehungen, sondern vor allem darum, wie diese Konstruktionen die Handlungsfähigkeit und die biographischen Verortungsstrategien der Subjekte beeinflussen. Anhand der biographischen Fallanalysen war es möglich, biographische Erfahrungsstrukturen und Transformationsprozsse zu rekonstruieren die Aufschluss über gesellschaftliche und diskursive Differenzkonstruktionen und über den individuell-biographischen Umgang mit ihnen gaben. Dies ermöglichte es, neben dem Geschlecht auch andere Differenzkonstruktionen wie zum Beispiel Klasse, Ethnizität und Generation im Zusammenhang mit Erfahrungen zu rekonstruieren und nach den handlungsableitenden bzw. -verhindernden Wirkungen dieser Konstruktionen für das Handeln der Subjekte zu fragen. Dadurch wurde nicht von vornherein festgelegt, wie die jeweiligen Differenzen zu definieren sind, sondern es wurde anhand des empirischen Materials der Frage nachgegangen, welche Differenzen zu biographisch bedeutenden Kategorien des Handelns sowie der Selbstpräsentation avancieren und wie diese aus der Biographie rekonstruiert werden können. Die Rekonstruktionen der biographischen Transformationsprozesse ermöglichten die Ausarbeitung der Wirkungsweise der Differenzkonstruktionen und ihre Intersektionalitäten mit den biographischen Erfahrungen. Somit konnte anhand des Materials festgestellt werden, dass die Ethnizität als eine nationalstaatliche Konstruktion der migrantischen Identität zu denken ist. Eine Strategie dafür stellte die Selbst-Ethnisierung im Sinne des »strategischen Essentialismus« (Spivak 1993) und der ethnischen Grenzziehung (Barth 1969) dar, die in der
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vorgelegten Studie als eine vergeschlechtlichte und ethnisierte Selbstbeschreibung als finnische Frau zum Ausdruck kam und strategisch benutzt wurde, um die eigenen Handlungsräume mit einer transnationalen Perspektive sowohl auf der Ebene der Zugehörigkeit als auch der Handlungsfähigkeit zu erweitern. Zugleich aber zeigte sich, dass die Konstruktion einer finnischen Frau und Migrantin mit anderen Differenzachsen durchkreuzt war und somit die Konstruktionen eines ethnischen Geschlechts zugleich mit den Konstruktionen von Klasse und »Rasse« zum Beispiel am Beispiel der ethnischen »Unauffälligkeit« (SchmalzJacobsen/Hansen 1997: 56) verknüpft war. Anhand der biographischen Analysen ließen sich sowohl Ethnizität als auch Geschlecht in ihrer prozesshaften Entfaltung, in ihren komplexen, vielfältigen und widersprüchlichen Bedeutungen in der individuellen Besonderheit des Falles sowie fallvergleichend als Teile der biographischen Prozesse und subjektiven Positionierungen rekonstruieren (siehe auch dazu Dausien 2002: 298). Den biographischen Differenzkonstruktionen war jedoch gemeinsam, dass sie sich im Zusammenspiel der Handlungsgeschichte, der Machtverhältnisse, der Hierarchisierungsvorgänge und der identitätsstiftenden Verortungsstrategien als biographische Grenzziehungen und biographische Positionierungen innerhalb vergeschlechtlichter, ethnisierter und rassifizierter Diskurse abbilden ließen.
9.4.
G RENZÜBERSCHREITUNGEN UND BIOGRAPHISCHE V ERORTUNGEN ALS TRANSNATIONALE P OSITIONIERUNGEN »Wir kennen die Wirkung der Schwerkraft, aber nicht ihren Ursprung; um uns zu erklären, warum wir an unserem Geburtsort hängen, geben wir uns als Bäume aus und sprechen von Wurzeln. […] Schauen Sie unter Ihren Füßen nach. Sie werden keine knorrigen Wurzeln sehen, die aus den Sohlen sprießen. Wurzeln, so denke ich manchmal, sind ein Mythos des Bewahrens, der uns an unserem Platz festhalten soll.« (Rushdie 1985: 102f)
Anhand der vorliegenden Studie kann nun davon ausgegangen werden, dass die individuelle Migration einerseits ein Ausdruck eines biographischen Transformationsprozesses ist, andererseits einen neuen biographischen Transformationsprozess anstoßen kann. Dementsprechend werden während der Migrationspro-
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zesse die jeweiligen kognitiven Wissensbestände und Relevanzstrukturen nicht durch neue ersetzt, vielmehr geht es um eine Erweiterung und Neukonstruktion dieser Wissensbestände und Relevanzstrukturen, die u.a. am Beispiel der »interkulturellen Disposition« (Apitzsch 1990) der »interkulturellen Zwischenwelten« (Gemende 2002), des »dritten Raums« (Bhabha 1994) und des dritten Stuhls« (Badawia 2002) diskutiert worden sind. Auch die neuere Forschung zu hybriden Identitäten (Mecheril 1997, 2003a, 2003b; Hein 2005) und transnationalen sozialen Räumen (vgl. Pries 1997, Faist 2000a) ermöglicht hier einen längst überfälligen Perspektivenwechsel, der die Komplexität von Subjektivierung und Identitätsbildung besser auffassen kann (Jiménez Laux 2001: 209f.). Dabei erfährt auch die Konzeption der Hybridität durch die Perspektive der Transnationalität eine Erweiterung. Denn die seit den 1990er Jahren im Zuge der Globalisierung geführten Diskussionen zur Transnationalität, insbesondere im Bereich der Migrationsforschung, stellen einen weiteren Versuch dar, die Vielschichtigkeit der Konstituierung des Kulturellen sowie des Sozialen über nationale Grenzen hinweg zu betrachten und somit eine Perspektive auf das »transnationale Kontinuum migrantischer Lebensstrategien« (Hess 2005: 31) zu eröffnen. Auf den hier vorgestellten biographischen Studien basierend wurde in dieser Arbeit das Konzept der »Transnationalen Positionierung« als biographische Verortungsstrategie in Anlehnung an das Konzept der »Translokalität« (Anthias 2002) eingeführt, um die Vielschichtigkeit, Vielräumigkeit, Hybridität und die transnationale Dimension der Subjektkonstruktionen und Zugehörigkeiten analytisch deuten zu können. Dabei ließ sich darstellen, wie individueller Lebensentwurf, Zugehörigkeitskonstruktionen und die jeweilige biographische Verortung im Zusammenhang mit lokalen und transnationalen Bindungen, Räumen, Strukturen und Diskursen stehen. Dementsprechend kann die transnationale Positionierung als Resultat eines biographischen Transformationsprozesses, der in einer Auseinandersetzung mit den individuellen Ressourcen und gesellschaftlichstrukturellen Bedingungen geführt worden ist, verstanden werden. Dabei wurden insbesondere die strukturellen sowie interpersonellen Machtverhältnisse und deren Auswirkung auf die Konstitution transnationaler Positionierung als biographische Verortungsstrategie untersucht und exemplarisch dargestellt. Diese biographisch begründete Positionierung erlaubt es, das eigene Leben so zu gestalten, dass eine transnationale biographische Verortung als eine Handlungsstrategie jenseits der tradierten nationalstaatlichen Vorstellung von Privatheit und Öffentlichkeit ermöglicht wird.2 Somit problematisierten die in dieser Arbeit disku-
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Somit kann zum Beispiel aus dieser Perspektive das »Nähren einer Heimkehrillusion« (Hoffmann-Nowottny 1973: 176) bei der ersten Generation von MigrantInnen als eine
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tierten Fallstudien die Konstruktion der »Unauffälligen« bzw. »scheinbar nicht anderen« Migrantinnen durch die Identifizierung mit der »Dominanzgesellschaft« und weisen damit auf die Konstruktion einer biographischen Verortungsund Handlungsstrategie hin, die eine grenzüberschreitende, transnationale Dimension hat. Daraus folgend kann festgestellt werden, dass die migrantische Identität nicht adäquat im Rahmen einer nationalen oder kulturellen Zugehörigkeit gedeutet werden kann, sondern das diese eine Rekonstruktion von biographischen Prozessen erfordert. Dies verlangt eine Darstellung der Kontexte, Machtverhältnisse und biographischen Prozesse, die eine vergeschlechtlichte und ethnisierte Positionierung im Sinne einer Zuschreibung und Selbstzuschreibung erläutern können. Diese Perspektive ermöglicht es, die Identitäts- und Zugehörigkeitskonstruktionen nicht als essentialisierend, sondern als Resultat biographischer Aushandlungsprozesse zwischen strukturellem Identitätszwang und subjektiver Handlungsfähigkeit zu betrachten. Die transnationale Positionierung als biographische Verortungsstrategie fungiert dabei als eine »biographische Haltung«, die sich einerseits als eine Strategie darstellt, eine biographische Kontinuität herzustellen, aber gleichzeitig als ein Ergebnis der Zuschreibungs- und Selbstzuschreibungspraktiken im Kontext von sozial verfügbaren Deutungsmustern und hegemonialen und gegenhegemonialen gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Diskursen zu verstehen ist. Am Beispiel der analysierten Biographien fungiert die Herstellung des transnationalen Handlungs- und Zugehörigkeitsraums als ein Korrektiv der biographischen Verlaufskurve, die das biographische Handlungsschema bedrohte und schließlich zu einem kreativen Transformationsprozess und zu einer Erweiterung des jeweiligen Handlungsspielraums führte. Dementsprechend ist die transnationale Positionierung eine biographische Verortungsstrategie, die die defizitäre Vorstellung der Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen in Frage stellt und dagegen den migrantischen Zustand in ihrer Vielfältigkeit, Intersektionalität und Transnationalität anerkennt.
Strategie gedeutet werden, die zunächst dazu gedient hat, eine biographische Kontinuität herzustellen und handlungsfähig zu bleiben.
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Transkriptionsnotationen
-
mit Stimme Luft holen
--
kurze Pause
---
längere Pause
(4 sec)
Pause über 3 Sekunden
=
Wörter, die zusammengezogen gesprochen wurden
fett
laut gesprochen
easy
Wörter im Original
/schön/(lachend)
besondere Betonung durch Beschreibung
schön//wunderschön
Selbstkorrektur
(schön)
wenn Aussprache nicht klar: eigene Version in Klammern
(…)
unverständlicher Text bzw. eine Auslassung bei der Übersetzung
[text]
Ergänzung bzw. Erklärung
I:
Interviewerin
Segmentierung der exemplarischen Interviews
INTERVIEW MIT SAARA
Haupterzählung (HE)/Segmentierung Interviewvorbereitung (1/1) Eingangsfrage (1/2-1/3) I. 1. 1.1 1.2
Suprasegment: Der Ort der Kindheit: Herkunft und Lebensverhältnisse (1/1-4/115) Familienkonstellation (1/6-1/26) Selbsteinführung – Einführung der Geschwister (1/6-1/14) Die Einführung der Eltern (1/14-1/26)
Rahmenschaltelement (1/26-1/27) 2. 2.1 2.2 2.3 3. 3.1 3.2 3.3
Kindheit und Familienverhältnisse (1/27-4/115) Eifersüchtige Beziehung zum kleinen Bruder (1/27-2/40) Nahe Beziehung zur kleinen Schwester (2/40-2/45) Evaluation der Eltern und der Familienkonstellation (2/45-2/52) Das Leben in einer »Gemeinschaft« (2/52-3/100) Das freie, aber disziplinierte Leben auf dem Lande (2/52-3/70) Tante Alma als »Mutterersatz« (3/70-4/100) Die heutige Beziehung zum Ort der Kindheit (3/100-4/115)
Rahmenschaltelement (4/115-4/116) II. 1. 2. 2.1
1
Suprasegment: Das Verlassen des Ortes der Kindheit (4/116-8/272) Die Selbstverständlichkeit des Weggehens (4/116-4/128) Die Erziehung zur »Internationalität«1 (4/128-7/209) Die Auslandsreisen (4/128-5/139)
Die Internationalität wird hier als eine direkte Übersetzung des finnischen Wortes »kansainvälisyys«, das Saara in ihrem Interview, jedoch in einer anderen grammatikalischen Form, einführt, angewandt (4/134).
400 | »U NSICHTBARE« M IGRATION?
2.2 2.2.1
Das »Zwischenjahr« (5/139-7/215) Der Schüleraustausch zwischen Finnland und Deutschland (5/1395/170) 2.2.2 Saara im Ausland: die ersten Auslandserfahrungen (5/170-7/209) 2.2.3 Saara in der Heimvolksschule (7/210-7/215) 3. Schulabschluss und Berufswahl (7/215-8/272) III. 1. 2. 3. 4. 4.1 5. 6. 7.
Suprasegment: »Wanderjahre« (8/271-18/607) Der Auszug von Zuhause (8/271-9/280) Der Einzug in das christliche Studentenheim (9/280-9/299) Das Studium (9/299-12/398) Auslandsaufenthalte (12/398-14/473) Das-Sich-Verlieben (14/461-14/473) Die große Liebe und Pendeljahre (14/473-16/543) Die Arbeitssuche in Deutschland (16/543-17/574) Die Heirat und die Migration nach Deutschland (17/574-18/607)
IV. 1. 2. 3.
Suprasegment: Partnerschaft (18/607-22/728) Wohnungssuche (18/607-19/629) Lebensplanung (19/629-19/645) Eheprobleme (19/645-22/728/)
V. 1. 2. 3. 4. 5.
Suprasegment: »Kinder – Küche – Karriere« (22/728-37/1244) Geburt des ersten Kindes (22/728-23/775) Rückkehr zur Berufstätigkeit (23/775-24/793) Arbeitsstellenwechsel und die zweite Schwangerschaft (24/793-26/853) Umbau der Wohnung (26/859-26/871) Abschluss des Studiums und die Geburt des zweiten Kindes (26/87127/911) Der Mutterschaftsurlaub und die Rückkehr in die Berufstätigkeit (27/911-28/946) Schwangerschaft (29/946-29/961) Ehekrise und Geburt des dritten Kindes (29/961-30/1000) Entlassung und Arbeitslosigkeit (30/1000-31/1025) Dolmetscherprüfung und die Geburt des vierten Kindes (31/102531/1050) Zu Hause mit den Kindern (31/1051-33/1116) Kindererziehung (33/1116-35/1173) Beginn der Halbtagsberufstätigkeit (35/1173-37/1194) Bilanzierung des jetzigen Lebens (36/1194-37/1244)
6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.
Nachfrageteil (NFT)/Segmentierung I. II.
Bilanzierung des jetzigen Lebens (1/1-2/43) Das Finnischsein in Deutschland (2/44-6/171)
S EGMENTIERUNG
III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII. XIV.
DER EXEMPLARISCHEN I NTERVIEWS
Mutter-Tochter-Beziehung (6/172-8/249) Mutter und Saaras Kindheitsumgebung (8/250-9/297) Tod des Vaters (9/298-10/325) Mutters Umzug (10/325-11/359) Migration nach Deutschland (11/360-12/400) Bilanzierung des gesamten Lebens (12/401-14/457) Diskussionsveranstaltung über das Muttersein I (14/461-16/515) Muttersein-Frausein-Personsein (16/515-19/637) Diskussionsveranstaltung über das Muttersein II (19/638-21/704) Reproduktionsarbeit und Geschlechterverhältnis (21/705-23/772) Bilanzierung des Lebens als Frau (23/773-25/826) Coda (25/826-25/829)
| 401
402 | »U NSICHTBARE« M IGRATION?
INTERVIEW MIT KATRI
Haupterzählung (HE)/Segmentierung Verhandlung der Interviewsprache (1/1-1/28) Interviewvorbereitung (1/29-2/42) Eingangsfrage (2/42-2/43) I. II. III. IV. 1. 2. 3. 4. 5.
Suprasegment: Emigration als Begehren des Ausländischen (HE2/443/97) Suprasegment: Immigration als individuelles Bildungsprojekt (3/987/210) Suprasegment: Das Rückkehrprojekt (7/211-11/355) Suprasegment: Das Leben in der Migration (11/356-24/787) Evaluation der Einwanderung nach Deutschland (11/356-11/361) Das Berufsleben in der Bank (11/361-14/438) Das Studium (14/438-15/492) Berufliche Beschäftigung nach dem Studium (15/492-16/509) Migrationserfahrungen (16/509-18/594)
Rahmenschaltelement (18/594-18/595) 6.
Ehrenamtliche Arbeit im der finnischen Community (18/595-19/628)
Rahmenschaltelement (19/629) 7.
Bewegung/Mobilität und Wurzeln (19/629-23/752)
Rahmenschaltelement/»Blackout«/Coda (23/753-23/756) 8.
Beziehungen zu Männern (23/757-24/787)
Coda (24/785-24/787)
Nachfrageteil (NFT)/Segmentierung Gespräch über den Tee und das Wetter (es schneit) (1/1-1/20) I. Kindheit und Familie (1/21-7/209) II. Migration als Familienprojekt (7/210-10/336) 1. Gründe der Auswanderung (selbst und Schwester) (7/210-7/221) 2. Auswanderung des Bruders (7/222-8/239) 3. Auswanderung der Schwester (8/240-9/287) 4. Evaluation der Migrationen (9/288-10/309) 5. Die Brüder in Finnland (10/310-10/336) III. IV. V. 1. 2.
Kontakte nach Finnland (10/337-13/407) Auswanderung des Großvaters nach Amerika (13/408-14/459) Das Leben in einer Familie in Deutschland (14/460-15/491) Leben in A-Stadt (14/460-15/484) Leben in B-Stadt (15/485-15/492)
S EGMENTIERUNG
VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII.
DER EXEMPLARISCHEN I NTERVIEWS
| 403
Banken als Arbeitsumgebung (15/492-19/636) Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (19/637-21/694) Arbeit in Z-Land (21/695-24/778) Rückkehr nach Deutschland (24/779-25/838) Die Partnerschaft mit Maris Vater (24/839-28/942) Mutterschaft (28/943-13/1021) Ausländerin-Sein (31/1022-36/1202)
Bandwechsel XIII. XIV. XV. XVI. XVII. XVIII. XIX. XX. XXI. XXII. XXIII.
Maris Staatsangehörigkeit (36/1204-38/1269) Als Frau in der Migration (38/1270-41/1353) Aufenthaltserlaubnisse (41/1354-42/1394) Die Entscheidung, nach Deutschland zu gehen (42/1395-43/1427) Kontakte zu finnischen Organisationen in Deutschland (43/142844/1472) Betreuung von Mari (44/1473-45/1515) Bilanzierung des Lebens (45/1516-47/1565) Langjähriger Chef (47/1566-48/1611) Coda (48/1612-48/1615) Träume (48/1616-51/1692) Reflektion des biographisch-narrativen Interviews (51/1693-53/1766)
404 | »U NSICHTBARE« M IGRATION?
INTERVIEW MIT SEIJA
Haupterzählung (HE)/Segmentierung Eingangsfrage (1/1-1/2) I. II. 1. 2. 3. 4. 5.
Suprasegment: Herkunft als Entwurzelung (1/3-1/22) Suprasegment: Bildungsgeschichte (1/23-5/137) Schulbesuch und der »Kampf« um die Bildung (1/23-2/34) Autoritäre Erziehung (2/34-2/53) Zwischenjahr (2/53-3/75) Studiumsentscheidung (3/75-3/95) Studium (3/95-5/135)
III.
1. 2.
Suprasegment: Partnerschaftliche Lebensformen (5/135-9/285) Partnerschaften und Beziehungen (5/137-8/251) Scheitern der arrangierten Heirat (8/251-9/285)
IV. 1. 2. 3.
Suprasegment: Das Leben in der Migration (9/285-17/572) Umzug nach England und das »neue« Leben (9/285-11/360) Probleme mit den Schwiegereltern (11/360-14/463) Berufstätigkeit in einem multinationalen Kontext (14/463-17/572)
V. 1.
Suprasegment: Migrationsprozesse (17/572-25/831) Migration nach Deutschland (17/572-18/590)
Rahmenschaltelement (18/590-18/591) 2. 3. 4. 5.
Migration nach Z-Land (18/591-18/608) Bewältigung der Migrationen (18/608-20/675) Entfremdung von Finnland (20/675-21/700) Alternative zu Migration (21/700-22/717)
Rahmenschaltelement 22/719 6. 7.
Erziehung des Sohnes (22/719-22/740) Das eigene Leben und finanzielle Abhängigkeit (22/740-25/831)
Coda (25/832-25/835)
Nachfrageteil (NFT)/Segmentierung I. II. 1.
Beruf des Ehemannes (1/1-1/26) Erfahrungen mit dem deutschen Gesundheitssystem (1/27-12/387) Gesundheitsprobleme (1/27- 2/47)
Rahmenschaltelement 2/47 2.
Kritik der Gesundheitspflege (2/47-5/136)
S EGMENTIERUNG
DER EXEMPLARISCHEN I NTERVIEWS
3. 4. 5. 6.
Sprachprobleme (5/137-5/144) Geburt des Sohnes (5/145-7/217) Kritik des Krankenhausaufenthaltes (7/217-11/348) Bilanzierung (11/349-12/387)
III. 1. 2.
Alltag mit dem Sohn (12/388-15/503) Finnische Kindergruppe (12/388-13/435) Pflege des Kindes (13/435-15/503)
IV. 1. 2.
Kontakte zu der ethnischen Community (15/504-19/623) Kontakte in Deutschland (15/504-17/572) Kontakte in England (17/573-19/623)
V.
Leben in London (19/624-21/686)
| 405
Bandwechsel 21/687 VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII. XIV. XV. XVI. XVII.
Wohnverhältnisse in London (21/688-23/747) Arrangierte Heirat (23/748-25/816) Ehe (25/817-28/917) Stellung der Frau in unterschiedlichen Gesellschaften (28/918-31/1026) Bilanzierung der Migrationen (31/1027-33/1106) Finnische Community in Z-Land (33/1107-34/1131) Arbeitsmigration (34/1131-35/1149) Rassismuserfahrungen (35/1150-36/1207) Bilanzierung des Lebens (36/1208-37/1248) Coda (38/1249-38/1250) Reflektion des Interviews (38/1251-39/1283) Schluss (39/1284-39/1285)
Telefonat/Themen Allgemein (39/1286-39/1289) Staatsangehörigkeiten (39/1290-40/1346) Religiöse Zugehörigkeit des Kindes (40/1347-41/1376) Schluss (41/1377-42/1387)
406 | »U NSICHTBARE« M IGRATION?
Gesprächsleitfaden Diese Fragen dienten als grobe thematische Anhaltspunkte für die Durchführung des biographisch-narrativen Interviews. Sie wurden nur dann als externe Fragen im Nachfrageteil gestellt, wenn sie nicht im Laufe der biographisch-narrativen Erzählung angeschnitten wurden. •
Könntest Du mir bitte über Deine Kindheit erzählen? Mit welchen Erinnerungen ist sie verbunden?
•
Könntest Du mir bitte über Deinen Bildungsweg erzählen? Mit welchen Erinnerungen ist er verbunden?
•
Könntest Du mir bitte über Dein Leben nach der Schulzeit und über Deine Berufswahl erzählen? Mit welchen Erinnerungen ist es verbunden?
•
Könntest Du bitte darüber erzählen wie Du zu dem Gedanken kamst, Finnland zu verlassen? Mit welchen Erinnerungen ist dies verbunden?
•
Könntest Du mir bitte über Dein Leben in der BRD erzählen?
•
Könntest Du mir bitte Deine Beziehung zu Finnland und dem Finnischsein beschreiben?
•
Könntest Du bitte darüber erzählen wie Du die Stellung der Frau in der BRD und in Finnland erlebt hast?
•
Was möchtest Du noch über Dein Leben in der BRD erzählen, was erscheint Dir wichtig?
•
Wenn Du an Dein Leben denkst, möchtest Du daran etwas ändern?
Kultur und soziale Praxis Isolde Charim, Gertraud Auer Borea (Hg.) Lebensmodell Diaspora Über moderne Nomaden März 2012, 280 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1872-3
Monica Rüthers Juden und Zigeuner im europäischen Geschichtstheater »Jewish Spaces«/»Gypsy Spaces« – Kazimierz und Saintes-Maries-de-la-Mer in der neuen Folklore Europas August 2012, ca. 270 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2062-7
Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus Dezember 2012, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2089-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Adelheid Schumann (Hg.) Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz Juli 2012, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1925-6
Stefan Wellgraf Hauptschüler Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung April 2012, 334 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2053-5
Erol Yildiz Die weltoffene Stadt Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht August 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1674-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de