Sinnliche Subjektivität bei Kant: Eine Studie vor dem Hintergrund der Phänomenologie Husserls [1. Aufl. 2021] 3662629356, 9783662629352

In diesem Buch bringt Jiuxing Mao die kantische Philosophie und Husserls Phänomenologie hinsichtlich der Thematik der si

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German Pages 224 [219] Year 2021

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Table of contents :
Zusammenfassung
Summary
Einleitung
Inhaltsverzeichnis
1 Kant und das Problem der Intentionalität: Die gegenständliche Einheit und deren zwei Arten
1.1 Die Einheit eines Sachverhalts
1.2 Die Einheit einer Erscheinung
1.2.1 Kritik an einer Missdeutung des kantischen Begriffs „Material“
1.2.2 Die Form der Erscheinung als die Leistung der kategorialen Synthesis
1.2.3 Die gegenständliche Gegebenheit des Materials und die Räumlichkeit
1.3 Eine kantische Kritik am Husserlschen Modell der Intentionalität
1.4 Die Vorzüge des Husserlschen Modells
1.5 Das Problem des transzendentalen Objekts
2 Kant und das Problem des inneren Sinns: Die Einheit der Vorstellung und deren vier Arten
2.1 Die Einheit einer primitiven empirischen Vorstellung: Die Selbst-Affektion
2.2 Die Einheit einer Urteilsvorstellung und die durch die innere Erfahrung ausgedrückte Einheit: Die Fundierung der objektiven Zeit auf der subjektiven Zeit
2.3 Die Einheit der Ichvorstellung: Der innere Sinn und das „Selbstbewusstsein“
3 Kants Kritik an der rationalen Psychologie: Die Anwendung der Thesen von sechs Arten der Einheit
3.1 Vorbemerkung
3.1.1 Das transzendentale Subjekt im ersten Sinn: Das logische Subjekt des Denkens
3.1.2 Das transzendentale Subjekt im zweiten Sinn: Das Substratum der Gedanken
3.1.3 Was versteht Kant unter Seele?
3.1.4 Was versteht die rationale Psychologie unter Seele?
3.2 Der erste Paralogismus der Substantialität
3.3 Der zweite Paralogismus der Simplizität
3.4 Der dritte Paralogismus der Personalität
3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität und die Widerlegung des Idealismus
4 Schluss
Literaturverzeichnis
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Sinnliche Subjektivität bei Kant: Eine Studie vor dem Hintergrund der Phänomenologie Husserls [1. Aufl. 2021]
 3662629356, 9783662629352

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Jiuxing Mao

Sinnliche Subjektivität bei Kant Eine Studie vor dem Hintergrund der Phänomenologie Husserls

Sinnliche Subjektivität bei Kant

Jiuxing Mao

Sinnliche Subjektivität bei Kant Eine Studie vor dem Hintergrund der Phänomenologie Husserls

Jiuxing Mao Philosophie und Geisteswissenschaften Freie Universität Berlin Berlin, Deutschland Dieses Buch ist eine Dissertation der Freien Universität Berlin

ISBN 978-3-662-62935-2 ISBN 978-3-662-62936-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-62936-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Anna Pietras J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Meinen Eltern und Brüdern in Dankbarkeit

Zusammenfassung

In meiner Dissertation schlage ich vor, dass hinsichtlich der Thematik „sinnliche Subjektivität“ ein Dialog zwischen der kantischen Philosophie und Husserls Phänomenologie sowohl unsere Untersuchung der ersteren als auch unsere Untersuchung der letzteren inspirieren kann. Einerseits kann ein kantisches Modell der Intentionalität, dessen Grundlage der äußere Sinn ist, ein verborgenes Moment im Husserlschen Modell der Akt-Intentionalität freilegen. Andererseits können die tiefsinnigen, in der Kant-Literatur allerdings oft unbeachtet gebliebenen Einsichten Kants zum inneren Sinn im Licht der Husserlschen Phänomenologie deutlich hervortreten. In diesen beiden komparativen Untersuchungen entfalten sich sechs Arten der Einheit, von denen die ersten beiden den noematischen und die übrigen den noetischen Aspekt des Begriffs „Einheit“ bzw. seinen Aspekt der reinen Ichvorstellung angehen. Indem in der Interpretation von Kants Kritik an den Paralogismen die Einheiten zur Anwendung kommen, sollen Kants Gedankengänge und die Aussagekraft seiner Argumente transparent werden.

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Summary

In my dissertation, concerning the topic of sensible subjectivity, I suggest that a dialogue between the Kantian philosophy and the Husserlian phenomenology can inspire our study of the first as well as our study of the latter. On the one hand, a Kantian model of intentionality, the basic layer of which is the outer sense, can uncover a hidden moment in the Husserlian model of act-intentionality. On the other hand, in the light of Husserlian phenomenology the Kantian profound insights into the inner sense, which are commonly ignored in the Kant-literature though, can become more comprehensible. In these two comparative studies six sorts of unity are expounded, the first two of which regard the noematic aspect of the concept “unity” und the other concern its noetic aspect. By applying these unities to the interpretation of Kant’s critique of the paralogisms the traits and dynamics of his thoughts and the meaningfulness of his arguments will become transparent.

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Einleitung

Husserls Ruf „Zurück zur Sache selbst!“ scheint eine Rebellion gegen die Aufforderung „Zurück zu Kant!“ einer früheren Generation zu sein. Jedoch widersprechen sich diese beiden Mottos nicht unbedingt, weil der Grund, aus dem man „Zurück zu Kant!“ fordert, plausibel darin besteht, dass man annimmt, dass Kant bei der Sache selbst gewesen sei und sie eingesehen habe. Die vorliegende Arbeit, welche eine Untersuchung der kantischen sinnlichen Subjektivität vor dem Hintergrund der Phänomenologie Husserls durchführt, möchte den Leser davon überzeugen, dass hinsichtlich der Thematik „Sinnliche Subjektivität“ die kantische Philosophie und Husserls Phänomenologie sich tatsächlich wechselseitig inspirieren, bestätigen und ergänzen können. Iso Kern hat in seiner Arbeit Husserl und Kant, die als eine der Grundlagen dient, auf die die vorliegende Studie sich stützt, die kantische Philosophie mit Husserls Phänomenologie umfassend und systematisch verglichen. Aber diese Art und Weise des Vergleichs ist unvermeidlich mit einer Schwäche verbunden, nämlich dass seine Untersuchung bei vielen Themen relevante Einzelaspekte nicht berücksichtigen kann, so dass sich der Leser mit einigen groben Umrissen und Hinweisen zufrieden geben muss. Eines dieser Themen ist die Sinnlichkeit. Ausgehend von der fundamentalen kantischen Prämisse, dass durch die Sinnlichkeit Gegenstände gegeben werden, behandle ich im ersten Kapitel die Sinnlichkeit bzw. den äußeren Sinn nach dem Gesichtspunkt der Intentionalität. Die Problematik der Intentionalität ist, grundsätzlich gesprochen, nichts anderes als die Problematik der Gegenständlichkeit. Aufgrund der kantischen Erörterungen darüber, wie Objektivität möglich ist, können wir ein kantisches Modell der Intentionalität entdecken. Man darf bei Kant die Sinnlichkeit und den Verstand auf keinen Fall zu schroff trennen. Dass Kant an einem bloß sinnlich

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Einleitung

gegebenen Gegenstand festhält, ist ein Mythos. Deshalb gehört der Verstand unbedingt zum thematischen Umkreis der Intentionalität. Ein Gegen-stand steht immer etwas gegenüber. D. h., dass ich etwas als Gegenstand vorstelle, impliziert, dass diese Vorstellung selbst zugleich bewusst werden muss. Gegenstandsbewusstsein und Selbstbewusstsein sind also voneinander untrennbar. Dies spricht für die Annahme, dass auch der innere Sinn ein unerlässliches Moment in diesem kantischen Modell der Intentionalität ausmacht. Im ersten Kapitel verfolgen die Erörterungen bzw. deren Gliederung zwei Leitfäden. Der eine ist die kantische Unterscheidung von zwei Arten der Gegenstände: 1. „Sachverhalt“ als der Gegenstand der Erfahrung in strengem Sinn, dessen korrespondierende Vorstellung „Urteil“ ist; 2. „Erscheinung“ als der „unbestimmte Gegenstand“ einer primitiven Wahrnehmung. Angesichts dieser Unterscheidung konkretisieren wir die Frage der Intentionalität, wie die Vorstellung einen Gegenstand haben kann, in zwei Fragen: 1. Wie ist die Gegenständlichkeit des Sachverhalts als „Wirklichkeit“ bzw. „objektive Realität“ möglich? 2. Wie ist die primitive Gegenständlichkeit der Erscheinung möglich? Der andere Leitfaden ist das kantische „Materie – Form“-Schema. Jede der obigen beiden Fragen lässt sich nach diesem Schema weiter als eine Frage nach der Möglichkeitsbedingung der Form und eine Frage nach der Möglichkeitsbedingung der Materie konkretisieren. Eine „Form“ bedeutet Kant zufolge nichts anderes als eine „Einheit“. Deshalb werden wir im ersten Kapitel die folgenden vier Fragen beantworten, die in den Umkreis der Problematik der Intentionalität gehören: 1. Wie ist die Einheit eines Sachverhalts möglich? 2. Wie ist seine Materie möglich? 3. Wie ist die Einheit einer Erscheinung möglich? 4. Wie ist ihre Materie möglich? Wir werden die erste gegenständliche Einheit auf die von den Relationenkategorien geleitete synthetisierende Aktivität und die zweite gegenständliche Einheit auf die von den Kategorien der Quantität und Qualität geleitete synthetisierende Aktivität zurückbeziehen und beide als „Leistungen“ der synthetisierenden Aktivität des Subjekts verstehen. Es wird insbesondere ausgeführt, dass das kantische Modell der Intentionalität die Vorgegebenheit eines „gegenständlichen“ Materials hervorhebt, das sich von den nicht-gegenständlichen Empfindungen unterscheidet. Kant schreibt der Räumlichkeit die Gegenständlichkeit dieses Materials zu. Mithilfe dieser Hervorhebung des kantischen Modells der Intentionalität entdecken wir, dass das Husserlsche Modell der Akt-Intentionalität in versteckter Weise ein

Einleitung

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gegenständliches Material voraussetzt, was weder von Iso Kern1 noch von Aron Gurwitsch2 bemerkt wird. Das Verhältnis zwischen dem Schlüsselbegriff „Deutung“ bzw. „Sinngebung“ im Husserlschen Modell der Akt-Intentionalität und dem Schlüsselbegriff „Synthesis“ im kantischen Modell der Intentionalität ist das Thema des vierten Paragraphen des ersten Kapitels. Es ist zu erwarten, dass der Begriff „transzendentales Objekt“ eine wichtige Rolle in einem kantischen Modell der Intentionalität spielt. Dies ist tatsächlich der Weg, den Gerold Prauss verfolgt, wenn er ein kantisches Modell der Intentionalität konstruiert. Deshalb verdient Prauss’ Theorie unsere Aufmerksamkeit und wird im letzten Paragraphen des ersten Kapitels dargestellt und überprüft. Der andere Grund, warum wir der Diskussion des Begriffs „transzendentales Objekt“ einen eigenen Paragraphen widmen, besteht darin, dass er auch für die im zweiten Paragraphen des zweiten Kapitels behandelte kantische Konstitution der objektiven Zeit und die Argumentation in der „Widerlegung des Idealismus“, welche das Thema des letzten Paragraphen des dritten Kapitels ist, wichtig ist. Eine die vorliegenden Untersuchungen insgesamt leitende Absicht ist, den Begriff der „Korrelation“ zwischen (empirischer) Vorstellung bzw. Wahrnehmung und Erscheinung aus den von Kant selbst teils missverständlich vorgetragenen Erörterungen herauszuholen und durch einsichtige Argumentationen hervortreten zu lassen, warum er für die Interpretation der theoretischen Philosophie Kants sinnvollerweise viel umfassender als bisher in Anspruch genommen werden muss. Wir werden diese Korrelation als eine Variante bzw. als eine konkrete Form der Korrelation zwischen Noesis und Noema betrachten, deren andere Variante in der theoretischen Philosophie Kants die Korrelation zwischen Urteil und Sachverhalt ist. Was die kantische Theorie des inneren Sinns anbelangt, werden wir mit Hilfe der Husserlschen Phänomenologie im zweiten Kapitel zeigen, dass sie viel tiefsinniger ist, als die weit verbreiteten Interpretationen es annehmen. Zwei Missverständnisse sind hier zu nennen. Zum einen wird Kants Konzeption der Selbst-Affektion als der Affektion der spontanen Aktivität auf den inneren Sinn einfach damit gleichgesetzt, dass diese Aktivität sich auf sich selbst richtet und sie

1 Vgl.:

Kern, Iso, Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus, § 24 „‚Synthesis‘ und Empfindung“, Den Haag: Martinus Nijhoff 1964. 2 Vgl.: Gurwitsch, Aron, Der Begriff des Bewusstseins bei Kant und Husserl, in: Kant-Studien 55/4 (1964), S. 410–427.

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Einleitung

sich selbst bestimmt, d. h. synthetisiert.3 Zum anderen wird oft behauptet, dass „die“ Zeit nach Kant die Form des inneren Sinns sei. Von der von Kant selbst eingeführten Unterscheidung zwischen der subjektiven Zeit und der objektiven Zeit ist kaum die Rede, geschweige denn von der kantischen Theorie von der Fundierung der objektiven Zeit auf der subjektiven Zeit. Wir werden ausführlich aufklären, dass die eigenen Einsichten Kants nichts mit diesen Missverständnissen zu tun haben. Die kantischen Einsichten zum inneren Sinn werden allerdings durch seine verschwommenen, undeutlichen, inkonsequenten und zerstreuten Formulierungen verdeckt. Warum kann Husserls Phänomenologie einen tiefer dringenden und klareren Einblick in die Position Kants zur Thematik „innerer Sinn“ ermöglichen? Gestützt werden kann eine Untersuchung der Lehre Kants vom inneren Sinn deswegen von der Husserlschen Phänomenologie, weil Husserl die gleiche Thematik „innerer Sinn“ erforscht und „die Sache selbst“ überzeugend eingesehen hat. Obwohl Kant seine Einsichten zum inneren Sinn gehabt hat, sind wir aus den gerade genannten Gründen ihnen gegenüber blind. Aber mit Hilfe der relevanten Einsichten Husserls als „Index“ oder „Leitfaden“ ändert sich die Sachlage: Wir wissen, wonach wir bei Kant suchen möchten. Es ist dann relativ einfach nachzuweisen, ob das Suchen gelingt oder nicht. Zwischen der reflektiven „inneren Erfahrung“ des psychologischen Bewusstseins und der „transzendentalen Erfahrung“ des reinen Bewusstseins besteht nur eine „dünne“ phänomenologische Reduktion. Dass Kant der Begriff der phänomenologischen Reduktion fehlt, impliziert nicht, dass Kants Forschung sich „faktisch“ nicht schon auf phänomenologischen Boden bewegt,4 sondern dass diese transzendentale Dimension seiner Forschung nicht „methodologisch“ erarbeitet und versichert wird.5 Husserls Thematisierung der Angewiesenheit der Einheit der Vorstellung auf die Einheit ihres intentionalen Korrelats, der Fundierung der objektiven Zeit auf der subjektiven Zeit und der verschiedenen Arten des Selbstbewusstseins wird entsprechend für unsere Untersuchung über die Selbst-Affektion, die Zeitlichkeit der äußerlichen Erscheinung und das Verhältnis zwischen dem inneren Sinn und der „Apperzeption“ bei Kant im zweiten Kapitel sehr hilfreich sein. Die kantische Konzeption der Selbst-Affektion hebt die „Mittelbarkeit“ der Konstitution bzw. der Individualisierung der Vorstellung in der immanenten Zeit 3 Vgl.: Haag, Johannes, Affektion, in: Willaschek, Marcus / Stolzenberg, Jürgen / Mohr, Georg

/ Bacin, Stefano (Hrsg.), Kant-Lexikon, Berlin / Boston: De Gruyter 2015, S. 27–30, hier S. 30. Husserl, Ideen I, Hua III, S. 133. 5 Vgl.: Kern, Iso, Husserl und Kant, a. a. O., S. 92. 4 Vgl.:

Einleitung

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und die Abhängigkeit dieser Individualisierung von der Korrelation der Vorstellung zur äußerlichen Erscheinung hervor. Konkreter ausgedrückt verdankt die Vorstellung ihre eigene Einheit ihrer Korrelation zur einheitlichen Erscheinung. Dies liefert ein bedeutsames Argument einerseits gegen das seit Descartes weit verbreitete Vorurteil des Gewissheits-Privilegs der Innenwelt, weil das bloße Gegebensein „einer“ Vorstellung allein durch den inneren Sinn nicht geleistet werden kann, und andererseits gegen jegliche Anwendung der Kategorien auf die Innenwelt, weil die Einheit der Vorstellung nicht dadurch konstituiert wird, dass die synthetisierende Aktivität sich unmittelbar an dem Mannigfaltigen des inneren Sinns betätigt. Wenn das Mannigfaltige des inneren Sinns in Abstraktion von den Empfindungen betrachtet wird, ist es das reine Mannigfaltige des inneren Sinns, welches mit den Zeitphasen bzw. Zeitpunkten gleichzusetzen ist.6 Jede sich in der immanenten Zeit befindende Vorstellung hat notwendig ihre Zeitstrecke, welche aus mehreren Zeitphasen besteht. Die Möglichkeitsbedingung für die „Einheit“ zwischen diesen Zeitphasen ist das Thema im ersten Paragraphen des zweiten Kapitels. Die kantische Vorstellungstheorie bezieht sich teilweise auf die „Transparenz“ bzw. „Sich-selbst-Durchsichtigkeit“ des Bewusstseins. Aber sie verbindet diese Eigenheit nicht mit einem epistemischen Evidenz-Privileg der Vorstellung, wie der Cartesianismus es tut, sondern im Gegenteil mit der Angewiesenheit der Einheit der Vorstellung auf die Einheit der äußerlichen Erscheinung als ihres Korrelats, wie Husserl es tut. Kants Enthüllung, dass die fundamentale Struktur des Bewusstseins nicht eine einzel-lineare Reihe von Vorstellungen bzw. Cogitationen, sondern eine Korrelation zwischen Vorstellung und Erscheinung ist, und seine Widerlegung des Gewissheits-Privilegs der Innenwelt sind zwei Punkte, welche die innere positive Beziehung der kantischen Theorie auf Husserls Phänomenologie und ihre fundamentale Abgrenzung zum Cartesianismus besonders deutlich machen. Im zweiten Paragraphen des zweiten Kapitels handelt es sich um die Frage, wie die Zeitlichkeit der äußerlichen Erscheinungen sich im Rahmen der kantischen Theorie erklären lässt, wenn „die“ Zeit nicht die Form des äußeren Sinns, sondern nur die Form des inneren Sinns sei. Zuerst werden wir zwei mögliche 6A

77/B 102, A 138/B 177. Die Kritik der reinen Vernunft wird hier und im Folgenden nach der ersten oder zweiten Auflage in der Ausgabe von Jens Timmermann, Hamburg: Meiner Verlag 1998, zitiert; in allen anderen Fällen werden Kants Schriften und die bisher edierten Nachschriften seiner Vorlesungen nach der Akademie-Ausgabe seiner Gesammelten Schriften, Berlin 1902ff, mit Band- und Seitenangabe zitiert. Vgl. auch: Mohr, Georg, Das sinnliche Ich. Innerer Sinn und Bewusstsein bei Kant, Würzburg: Königshausen und Neumann 1991, S. 77.

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Einleitung

Antworten ablehnen, zum einen, dass die Vorstellung des inneren Sinns eigentlich die Erscheinung des äußeren Sinns sei, zum anderen, dass die Erscheinung des äußeren Sinns tatsächlich eine Art Vorstellung sei. Dann werden wir für die These argumentieren, dass Kants Position der dritten Möglichkeit entspricht: Die Form des inneren Sinns ist nur die subjektive Zeit; die Erscheinungen stehen aufgrund ihrer Korrelation zu den sukzessiven Vorstellungen miteinander zunächst im subjektiven, sozusagen rudimentären und vorläufig postulierten Zeitverhältnis und dieses Zeitverhältnis wird dann weiter objektiviert, d. h. objektiv bestimmt; für diese objektive Bestimmung ist die Anwendung der Relationenkategorien notwendig. Wir werden die kantische „Beschreibung“ der Fundierung der objektiven Zeit auf der subjektiven Zeit ausführlich darstellen. Die Konstitution der objektiven Zeit und die Konstitution der gegenständlichen Einheit des Sachverhalts sind eine und dieselbe Sache. Daraus, dass die Erscheinungen durch das Denken, nämlich durch die von den Relationenkategorien geleitete synthetisierende Aktivität als ein Sachverhalt, d. h. in die objektive zeitliche Einheit vereinheitlicht werden, entstehen auf der subjektiven Seite zwei zusätzliche Wirkungen. Zum einen wird aus den entsprechenden Wahrnehmungen ein Gedanke als eine komplexe Urteilsvorstellung. Diese Wirkung besagt jedoch nicht, dass die jeweiligen Zeitstrecken der Wahrnehmungen als die Zeitstrecke bzw. Zeitdauer der Urteilsvorstellung zusammengesetzt werden. Zum anderen wird das Zeitverhältnis zwischen diesen Wahrnehmungen als solchen durch ihre Korrelation zur Reihe der Erscheinungen objektiv bestimmt, so dass die innere Erfahrung gebildet wird. Die Einheit zwischen den objektivierten bzw. verdinglichten Vorstellungen als den psychologischen Ereignissen wird durch die innere Erfahrung ausgedrückt. Diese Einheit mit der Einheit in der Urteilsvorstellung, welche von der gleichen Art wie die subjektiv zeitliche Einheit einer Wahrnehmung als solcher ist, zu verwechseln, führt zu einer Variante des Paralogismus der Substantialität. Kant redet von drei Arten von „Selbstbewusstsein“. Zum einen ist die Sachlage gemeint, dass eine anschauliche Vorstellung durch sich selbst bewusst ist, ich also selbstbewusst anschaue. Zum anderen geht es darum, dass die spontane synthetisierende Aktivität sich selbstbewusst vollzieht, ich also selbstbewusst denke. Im Zusammenhang nennt Kant demnach die transzendentale Apperzeption das Selbstbewusstsein. Schließlich wird die reine Ichvorstellung im prägnanten Sinn als Selbstbewusstsein bezeichnet, weil das Ich synonym mit dem Selbst ist. Die Ichvorstellung ist keine eigenständige Vorstellung. Sie kann nur die eine andere Vorstellung begleitende Vorstellung sein. Diese Begleitung zeigt die Meinigkeit der Vorstellung, die nichts anderes bedeutet, als dass die Vorstellung aus der Erste-Person-Perspektive bewusst wird. Das Verhältnis der drei Arten von

Einleitung

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Selbstbewusstsein zum inneren Sinn und zum „Ich denke“ wird im dritten Paragraphen des zweiten Kapitels behandelt. Der Schwerpunkt unserer Betrachtung ist das Verhältnis zwischen der „Einheit“ bzw. Identität der Ichvorstellung und der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption. Das erste und das zweite Kapitel sind zwar jeweils in sich geschlossen und für sich verständlich, kreisen aber beiden um den Begriff „Einheit“ und ergänzen sich daher wechselseitig. Der Begriff „Einheit“ ist der Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Arbeit. Er spielt also nicht nur in jedem Kapitel eine zentrale Rolle, sondern gibt auch den inneren Zusammenhang und die Struktur aller drei Kapitel, so dass sie ein System bilden. Anhand der Ergebnisse der im ersten und zweiten Kapitel durchgeführten Untersuchungen, nämlich der sechs Arten der „Einheit“ und deren Relationen, versucht das dritte Kapitel, das kantische Textstück „Paralogismen“ aufzuschlüsseln. Indem in der Interpretation von Kants Kritik an den Paralogismen die Einheiten zur Anwendung kommen, sollen Kants Gedankengänge und die Aussagekraft seiner Argumente transparent werden. Mit „Anwendung“ ist gemeint, dass in den Paralogismen genau die sechs Arten der „Einheit“ und deren Relationen verhandelt werden. Konkreter ausgedrückt: 1. Kant kritisiert zwei Versionen des Paralogismus der Substanzialität. Die erste Version ergibt sich daraus, die eigenartige Ichvorstellung als eine „stehende und bleibende“ Anschauung in der immanenten Zeit zu verkennen. Was zur anderen Version führt, haben wir gerade erwähnt. 2. Der Paralogismus der Einfachheit behandelt das Verhältnis zwischen der Einheit der Ichvorstellung und der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption bzw. der ersten gegenständlichen Einheit. 3. In Kants Kritik sind auch zwei Versionen des Paralogismus der Personalität zu unterscheiden. Die erste ist mit der ersten Variante des Paralogismus der Substanzialität einerlei und die zweite ist mit dem Paralogismus der Einfachheit zu identifizieren. 4. Im Paralogismus der Idealität und in der „Widerlegung des Idealismus“ handelt es sich um den echten Sinn der beiden Arten der gegenständlichen Einheit und deren Relationen zu den ersten drei Arten der Einheit der Vorstellung, vor allem zu der durch die innere Erfahrung ausgedrückten Einheit. Einige Bemerkungen zu Kants Argumentationen in seiner Kritik am Paralogismus der Einfachheit bzw. an der zweiten Version des Paralogismus der Personalität und in der „Widerlegung des Idealismus“ sind noch zu ergänzen. Da die Begleitung der Ichvorstellung die Meinigkeit einer Vorstellung bedeutet, ist ihre Begleitung mit der Frage, wessen Vorstellung bzw. wessen Vorstellungsfluss es ist, auf engste verbunden. Ein und derselbe Vorstellungsfluss muss von einer und derselben Ichvorstellung begleitet werden. Dies impliziert, dass das Problem der Identität bzw. der echten Kontinuität „eines“ Vorstellungsflusses

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Einleitung

mit dem Problem der Identität der reinen Ichvorstellung gleichzusetzen ist. Die identische Selbstzuschreibung der mannigfaltigen Vorstellungen verlangt die Identifikation der jede der Vorstellungen begleitenden Ichvorstellung. Die völlige inhaltliche Leerheit der Ichvorstellung ist der Anlass für Kant, die Selbstzuschreibbarkeit der Vorstellungen mit der synthetischen Einheit der Vorstellungen bzw. deren gegenständlichen Inhalte in einen Zusammenhang zu bringen. Mit seinem Gedankenexperiment des „Zustände-Übertragens“ versucht Kant nachzuweisen, dass die numerische Identität bzw. Einheit der Ichvorstellung, nämlich dieselbe Selbstzuschreibung der Vorstellungen, nicht dadurch garantiert werden kann, dass diese Vorstellungen in die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption gebracht werden können, bzw. dass ihre gegenständlichen Inhalte in die objektive zeitliche Einheit gebrachte werden können. Seine Begründung dafür besagt, dass das Verhältnis zwischen Vorstellung und Erscheinung als ihrem gegenständlichen Inhalt ein Vieles-zu-Einem-Verhältnis ist. Eine und dieselbe Erscheinung kann sowohl von einem Subjekt zu verschiedenen Zeiten als auch von „verschiedenen Subjekten“ vorgestellt werden. Der innere Sinn als das empirische Selbstbewusstsein und die innere Erfahrung als die empirische Selbsterkenntnis sind keineswegs gleichbedeutend. Hinsichtlich dieses Aspekts lassen sich in Kants Theorie wichtige Differenzierungen nachweisen, die für Kants Argumentation in der „Widerlegung des Idealismus“ entscheidend sind. Im letzten Paragraphen des dritten Kapitels werden wir zeigen, welche Rolle das „Beharrliche“ in dieser Argumentation spielt, die in Kant„Rekonstruktionen“ jedoch häufig missdeutet wird. Wir werden einerseits das Beharrliche mit dem im letzten Paragraphen des ersten Kapitels behandelten transzendentalen Objekt und dadurch unmittelbar mit der Möglichkeit der äußerlichen Erfahrung in einen Zusammenhang bringen. Andererseits begründen wir, dass sowohl die Interpretation des „Bezugssystems“ über das Beharrliche als auch die unmittelbare Abhängigkeit der Möglichkeit der inneren Erfahrung vom Beharrlichen abgelehnt werden müssen. Wir werden uns besonders mit Henry Allison auseinandersetzen, der für diese unmittelbare Abhängigkeit argumentiert.

Inhaltsverzeichnis

1 Kant und das Problem der Intentionalität: Die gegenständliche Einheit und deren zwei Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Einheit eines Sachverhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Einheit einer Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Kritik an einer Missdeutung des kantischen Begriffs „Material“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die Form der Erscheinung als die Leistung der kategorialen Synthesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Die gegenständliche Gegebenheit des Materials und die Räumlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Eine kantische Kritik am Husserlschen Modell der Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Vorzüge des Husserlschen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Das Problem des transzendentalen Objekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Kant und das Problem des inneren Sinns: Die Einheit der Vorstellung und deren vier Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Einheit einer primitiven empirischen Vorstellung: Die Selbst-Affektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Einheit einer Urteilsvorstellung und die durch die innere Erfahrung ausgedrückte Einheit: Die Fundierung der objektiven Zeit auf der subjektiven Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Einheit der Ichvorstellung: Der innere Sinn und das „Selbstbewusstsein“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

3 Kants Kritik an der rationalen Psychologie: Die Anwendung der Thesen von sechs Arten der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Das transzendentale Subjekt im ersten Sinn: Das logische Subjekt des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Das transzendentale Subjekt im zweiten Sinn: Das Substratum der Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Was versteht Kant unter Seele? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Was versteht die rationale Psychologie unter Seele? . . . . . 3.2 Der erste Paralogismus der Substantialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der zweite Paralogismus der Simplizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Der dritte Paralogismus der Personalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität und die Widerlegung des Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kant und das Problem der Intentionalität: Die gegenständliche Einheit und deren zwei Arten

Der Terminus „Intentionalität“, der auf die mittelalterlich-scholastische Begriffsverwendung zurückgreift, wird erstmals bei Brentano und Husserl thematisiert. Mit Intentionalität bezeichnen Brentano und Husserl eine Wesenseigenschaft bzw. einen Grundcharakter des Bewusstseins: Bewusstsein von etwas zu sein. Eine Vorstellung ist Vorstellung von etwas. Sie stellt dieses etwas vor und bezieht sich auf es als ihren Gegenstand. Was hat Kant mit der Problematik der Intentionalität zu tun? Diese Fragestellung mag merkwürdig und unangemessen klingen, weil Kant den Terminus selbst nie benutzt hat. Die Problematik der Intentionalität besagt jedoch nichts anderes als die Problematik der Gegenständlichkeit und die Möglichkeitsbedingung für die Gegenständlichkeit bzw. für die Gegenstandskonstitution ist eines der Kantischen Zentralthemen.1 Im ersten Kapitel wird versucht, Kants Theorie von Vorstellung und Gegenstand als eine der Intentionalität zu interpretieren. Husserl ist der Auffassung, dass Kant „in seiner tiefsinnigen Lehre von der Synthesis die Eigenart intentionaler Zusammenhänge im Grunde schon entdeckt und echt intentionale Analysen, in einiger Naivität, schon geübt hat.“2 Damit hat Husserl darauf hingewiesen, dass eine intentionalistische Interpretation von Kants Theorie von Vorstellung und Gegenstand möglich sei und dass man dafür insbesondere Kants Lehre von der Synthesis beachten solle. Kant macht eine grundlegende Unterscheidung von zwei Arten von Gegenständlichkeit, von denen jede ihre entsprechende Vorstellung hat: der Sachverhalt der Newtonschen Physik und dessen Vorstellung, nämlich das 1 Vgl.: „Ich frug mich nämlich selbst: auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desjenigen,

was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?“ (Kant, Briefwechsel (1747–1788), Kants gesammelte Schriften, AA, Band X, S. 130.) „Wir haben Vorstellungen in uns, deren wir uns auch bewusst werden können. […] Wie kommen wir nun dazu, dass wir diesen Vorstellungen ein Objekt setzen […]?“ (A 197/B 242) 2 Hua VII, S. 237. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 J. Mao, Sinnliche Subjektivität bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62936-9_1

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Kant und das Problem der Intentionalität …

Urteil als die Erfahrung im strengen Sinn auf der einen Seite und die Erscheinung als „der unbestimmte Gegenstand“3 und deren Vorstellung, nämlich die schlichte Wahrnehmung auf der anderen Seite. Angesichts dieser Unterscheidung konkretisieren wir die Frage der Intentionalität, wie die Vorstellung einen Gegenstand haben kann, in zwei Fragen: 1. Wie ist die Gegenständlichkeit des Sachverhalts als „Wirklichkeit“ bzw. „objektive Realität“ möglich? 2. Wie ist die primitive Gegenständlichkeit der Erscheinung möglich?4 Es ist vor allem Kants Lehre von der Synthesis in der Kritik der reinen Vernunft, mit der sich das erste Kapitel intensiv auseinandersetzen wird. Es wird sich zeigen, dass die höherstufige Gegenständlichkeit des Sachverhaltes auf der primitiven Gegenständlichkeit der Erscheinung fundiert ist. Er wird dadurch konstituiert, dass die Erscheinungen die als die Materialien dienen, durch die Relation-Kategorie-mäßige Synthesis geformt werden. Aber die primitive Erscheinung selbst hat wiederum eine eigene Form und eigenes Material. Erstere ist Kant zufolge die Leistung der Quantität-Qualität-Kategoriemäßigen Synthesis. Kant schreibt die gegenständliche Gegebenheit des letzteren der Räumlichkeit zu. Vor dem Hintergrund des kantischen Modells der Intentionalität wird eine Schwäche des Husserlschen Modells der Akt-Intentionalität sichtbar. Weder die Synthesis noch die Sinngebung können die Gegenständlichkeit des Materials stiften. Die gegenständliche Gegebenheit des Materials wird im Husserlschen Modells der Akt-Intentionalität implizit vorausgesetzt.

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4 Wir werden der Reihe nach beide Fragen diskutieren. Der Grund, warum wir nicht der umge-

kehrten Reihe folgen, sondern zuerst die Gegenständlichkeit des Sachverhaltes und dann die primitive Gegenständlichkeit der Erscheinung behandeln, besteht darin, dass man zuerst an den physischen Gegenstand denkt, wenn man im Kontext der Kantischen Erkenntnistheorie von Gegenstand redet. Außerdem meint Kant selbst mit der Möglichkeitsbedingung der Gegenständlichkeit zunächst und meistens die Möglichkeitsbedingung der allgemeinen und notwendigen Gegenständlichkeit, wie die obigen beiden Zitate zeigen. Vgl. auch: „Bei Kant handelt es sich dabei um die Objektivität des Newtonschen Universums, d. h. der mathematischen Naturwissenschaft seiner Zeit. […] so kann es doch keinem Zweifel unterliegen, dass eine der vornehmsten Aufgaben dieser Theorie des Geistes eben darin besteht, die Newtonsche Naturwissenschaft zu begründen, sie ihrer Möglichkeit nach verständlich zu machen, und damit eine definitive Rechtfertigung ihrer Geltung zu geben.“ (Gurwitsch, Aron, Der Begriff des Bewusstseins bei Kant und Husserl, a. a. O., S. 412 f.)

1.1 Die Einheit eines Sachverhalts

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Die Einheit eines Sachverhalts

Der sechsten „Logischen Untersuchung“ zufolge kann der Sachverhalt als höherstufige Gegenständlichkeit nur in einem synthetischen kategorialen Akt konstituiert werden. Der synthetische kategoriale Akt bezieht die durch die schlichten Wahrnehmungen vorgegebenen Gegenstände aufeinander und bringt sie zu synthetischer Einheit, so dass ein Sachverhalt konstituiert wird. Deshalb ist er als komplexer Akt auf den schlichten Wahrnehmungen fundiert. Entsprechend ist sein Gegenstand als höherstufiger Gegenstand auf den schlichten Gegenständen der Wahrnehmungen fundiert. Damit bietet Husserl uns einen Index bzw. Leitfaden für unsere Untersuchung der kantischen Lehre von der Gegenständlichkeit des Sachverhaltes: Wir müssen erforschen, wie das synthetische einheitliche Verhältnis zwischen den schlichten Gegenständen der Wahrnehmungen im Rahmen der kantischen Theorie möglich ist. Diese schlichten Wahrnehmungsgegenstände selbst werden in dieser Untersuchung vorausgesetzt. Es ist in den „Analogien der Erfahrung“, wo Kant diejenigen apriorischen Bedingungen betrachtet, unter denen die (zeitlichen) Verhältnisse zwischen den Erscheinungen als den schlichten Gegenständen der empirischen Anschauungen bestimmbar sind. Folglich hat dieser Paragraph viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen und häufig wird aus ihm das folgende Textstück zitiert, wenn es um die kantische Lehre von der Gegenständlichkeit des Sachverhaltes geht: „Wenn wir untersuchen, was denn die Beziehung auf einen Gegenstand unseren Vorstellungen für eine neue Beschaffenheit gebe, und welches die Dignität sei, die sie dadurch erhalten, so finden wir, dass sie nichts weiter tue, als die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig zu machen, und sie einer Regel zu unterwerfen; dass umgekehrt nur dadurch, dass eine gewisse Ordnung in dem Zeitverhältnisse unserer Vorstellungen notwendig ist, ihnen objektive Bedeutung erteilet wird.“5

Damit meint Kant, dass eine Vorstellung, wenn sie mit den anderen Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig verbunden wird, bzw. wenn sie mit den anderen Vorstellungen unter einer notwendigen Regel und Ordnung steht, objektive Bedeutung erhält. Unter der bezüglichen Bedingung bedeutet diese Vorstellung also etwas Objektives bzw. Wirkliches. D. h. der Inhalt bzw. der Referenzgegenstand dieser Vorstellung wird inzwischen als objektiv bzw. wirklich angesehen. So lehnen wir ein weit verbreitetes Missverständnis ab, welchem zufolge die Vorstellungen selbst objektiviert werden, d. h. sie selbst Gegenstände werden, 5A

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(wessen?), wenn sie miteinander nach Regeln verbunden werden.6 Das Missverständnis stammt aus der Verwechslung des Inhalts der Vorstellung mit der Vorstellung selbst. Nachdem die Vorstellung mit den anderen Vorstellungen in die notwendige Ordnung eingegangen ist, bleibt die Beziehung der Vorstellung auf ihren Gegenstand, bzw. dieser besondere Gegenstandsbezug der Vorstellung ist zuerst dadurch entstanden. Es ist unvorstellbar, dass die Beziehung der Vorstellung auf ihren Gegenstand, der gegenüber dieser Vorstellung steht und deshalb nicht sie selbst, sondern anders als sie ist, mit der Beziehung der Vorstellung auf sich selbst identisch sein könnte. Es ist auch nicht plausibel, dass die Beziehung der Vorstellung auf sich selbst irgendeine Bedingung und zwar als eine äußerliche Relation verlangen würde. Wir haben erwähnt, dass Kant die für die transzendentale Philosophie wesentliche Frage stellt: „Wir haben Vorstellungen in uns, […] Wie kommen wir nun dazu, dass wir diesen Vorstellungen ein Objekt setzen, […]?“7 Wenn der Gegenstand der Vorstellung selbst „Vorstellung in uns“ wäre, müsste dieselbe Frage nach dem Gegenstand des Gegenstandes wieder gestellt werden. Kant macht deutlich, dass „das Bewusstsein das einzige ist, was alle Vorstellungen zu Gedanken macht“.8 Dadurch, dass die Vorstellungen vom Bewusstsein miteinander verknüpft werden, werden aus den Vorstellungen Gedanken, welche komplexe höherstufige Vorstellungen, nämlich Urteile von Sachverhalten sind. Wenn die Vorstellungen selbst durch die Verknüpfung objektiviert würden, würden aus den Vorstellungen nicht die Gedanken als Urteile, sondern das Gedachte als das Beurteilte, nämlich ein jeweiliger Sachverhalt. Die Frage, ob aus meinen Vorstellungen Erkenntnisse von Objekten im strengen Sinn werden können, darf keineswegs damit gleichgesetzt werden, ob aus meinen Vorstellungen Objekte im strengen Sinn werden können. Die Erkenntnisse von den Gegenständen unterscheiden sich ontologisch von den Gegenständen selbst. Kant zeigt in der „Widerlegung des Idealismus“, dass die Möglichkeit der inneren Erfahrung die der äußeren Erfahrung voraussetzt. Dies schließt aus, dass

6 Kant hat selbst mit unbedachter Formulierung, nämlich der Vermengung der Vorstellung als

solchen und ihres gegenständlichen Inhalts als des Vorgestellten, das gravierende Missverständnis heraufbeschworen. Es ist gerechtfertigt, dass Husserl im Hinblick auf die „Analogien der Erfahrung“, aus denen das obige Zitat stammt, bemerkt, dass „[a]uch hier der Mangel einer klaren Unterscheidung zwischen Anschauungen und Angeschautem, Formen der Erscheinungen als Modus des Bewusstseins und Formen der erscheinenden Gegenständlichkeit“ vorherrscht. (Hua VII, Beil. XX, S. 387.) 7 A 197/B 242. 8 A 350.

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die innere Erfahrung sich auf irgendeine Weise in die äußere Erfahrung verwandeln kann. Konkreter gesprochen: Unter der inneren Erfahrung versteht Kant das Erkennen der Zeitverhältnisse zwischen den Vorstellungen und unter der äußeren Erfahrung das Erkennen der Zeitverhältnisse zwischen den Gegenständen der Vorstellungen, nämlich zwischen den Erscheinungen. Kant zufolge ist die Möglichkeit der Bestimmung der Zeitverhältnisse der Vorstellungen auf ihre Korrelation zur Reihe von Erscheinungen angewiesen. Deshalb ist es unmöglich, dass die Reihe von Vorstellungen sich unter irgendeiner Bedingung in die Reihe von Erscheinungen verwandeln kann. Wir haben oben ausgeführt, dass die Vorstellung Objektives bzw. Wirkliches bedeutet, wenn sie mit den anderen Vorstellungen nach Regeln im notwendigen Zusammenhang steht. Was durch die notwendige Verbindung objektiviert wird, ist nicht diese Vorstellung selbst, sondern ihr Inhalt bzw. Referenzgegenstand. Es stellt sich dabei die Frage, was sich durch die notwendige Verbindung an dieser Vorstellung und ihrem Inhalt selbst geändert hat. Die einzige Antwort ist: nichts. Diese Vorstellung an sich muss von vornherein ihren gegenständlichen Inhalt bzw. Gegenstand haben. Die Fragen, ob der Gegenstand der Vorstellung objektiv bzw. wirklich ist und nach welchem Kriterium man darüber urteilen kann, setzen voraus, dass die Vorstellung von vornherein bereits ihren Gegenstand hat. Was von der notwendigen Regel und Ordnung abhängig ist, ist nicht, dass die Vorstellung ihren gegenständlichen Inhalt bzw. Gegenstand überhaupt haben kann, sondern dass ihr Inhalt bzw. Gegenstand als objektiv bzw. wirklich angesehen werden kann. Anders ausgedrückt: In Hinsicht auf die notwendige Regel und Ordnung handelt es sich nicht darum, ob die Vorstellung etwas bedeutet, sondern darum, ob die Vorstellung etwas Objektives bzw. Wirkliches bedeutet. Wir können feststellen: 1. Die Problematik der Objektivierung besagt nichts weniger als dass die Vorstellung selbst objektiviert wird, bzw. dass sie selbst als ein Gegenstand betrachtet wird. 2. Im bezüglichen Kontext muss die Objektivierung in einem engeren Sinn verstanden werden. Sie bedeutet daher die Verwirklichung bzw. das Als-wirklich-betrachtet-Werden. Kant bezeichnet bekanntlich die Erscheinung als den unbestimmten Gegenstand der empirischen Vorstellung.9 Ein unbestimmter Gegenstand ist offensichtlich bereits gegenständlich. Der Zusammenhang zwischen den Erscheinungen geht nur deren weitere Bestimmung als wirkliche Gegenstände an. D. h. vor ihrem Einbezogensein in den bezüglichen Zusammenhang darf man über ihre Gegenständlichkeit reden, welche allerdings von anderer Art als die Gegenständlichkeit der Wirklichkeit als Dasein ist. 3. Was durch die notwendige Verbindung und Ordnung objektiviert bzw. verwirklicht 9A

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wird, ist eben die Erscheinung als der gegenständliche Inhalt der Vorstellung. D. h. durch die notwendige Verbindung und Ordnung wird ihr Referenzgegenstand als wirklich angesehen. Man darf sich an der Gleichsetzung des Inhalts der Vorstellung mit deren Gegenstand nicht stoßen. Zwei anschauliche Vorstellungen durchzugehen, zu vergleichen und zu verbinden, bedeutet vor allem, ihre Inhalte durchzugehen, zu vergleichen und zu verbinden. Die Frage „Was ist der Inhalt der Vorstellung?“ kann berechtigt mit der Frage „Was wird durch die Vorstellung vorgestellt?“ und ferner mit der Frage „Was ist das Vorgestellte, nämlich der Gegenstand der Vorstellung?“ gleichgesetzt werden. Einerseits betont Kant oft, dass die Kategorien nicht auf die Vorstellungen selbst, sondern nur auf ihre Gegenstände, nämlich die räumlichen Erscheinungen angewendet werden können.10 Andererseits betrachtet er überall die folgenden zwei Ausdrücke als gleichwertig: die Kategorien-mäßige Synthesis der mannigfaltigen Vorstellungen und die Kategorien-mäßige Synthesis der Erscheinungen. D. h. es ist Kant zufolge selbstverständlich, das Zusammenstehen aller Vorstellungen in der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption mit der Vereinheitlichung aller Erscheinungen untereinander zu identifizieren. Zum Beispiel, wenn Kant schreibt, „dass alle Erscheinungen, sofern uns dadurch Gegenstände gegeben werden sollen, unter Regeln a priori der synthetischen Einheit derselben stehen müssen“11 , ist es ersichtlich, dass er damit dieselbe These wie in jenem obigen Zitat12 ausdrückt. Diese Nichtübereinstimmung lässt sich aber auflösen, wenn die Erscheinung eben der gegenständliche Inhalt der Vorstellung ist. In diesem Zusammenhang sollte auch an „the transparence of experince“ erinnert werden: Wenn man herauszufinden versucht, was in der Vorstellung enthalten ist bzw. was der Inhalt der Vorstellung ist, sieht man immer die Vorstellung selbst durch und findet direkt ihren Gegenstand. Husserl betont: Ein erster Begriff von Inhalt des intentionalen Erlebnisses „betrifft den intentionalen Gegenstand, z. B., wenn wir ein Haus vorstellen, eben dieses Haus.“13 Es lässt sich feststellen, dass die Kategorie-mäßige Synthesis von Vorstellungen in diesem Kontext eigentlich die Kategorie-mäßige Synthesis von Erscheinungen als Vorgestelltem bedeutet. Obwohl die Kategorien nicht auf die Vorstellungen als solche, sondern nur auf die Erscheinungen angewendet werden können, ist der erstere Ausdruck jedoch nicht völlig falsch, weil die Erscheinung 10 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Kants gesammelte Schriften, AA, Band IV, S. 479, KrV B 291, B 155. 11 A 110. 12 A 197/B 242. 13 Hua XIX, Logische Untersuchungen, A 376/ B 400. 1

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als das Vorgestellte der (gegenständliche) Inhalt der Vorstellung ist. Den Inhalt der einen Vorstellung mit dem Inhalt der anderen Vorstellung zu verknüpfen, darf in gewissem Sinn damit gleichgesetzt werden, die eine Vorstellung mit der anderen Vorstellung zu verknüpfen. Was die Synthesis der Vorstellungen als solchen und die dadurch aus den Vorstellungen als solchen resultierende Einheit bedeuten, wird im zweiten Kapitel behandelt. Das erste Kapitel ist der Synthesis auf der gegenständlichen Seite und der dadurch gestifteten gegenständlichen Einheit gewidmet. Wir möchten vorgreifend betonen, dass der Begriff „Einheit“ der Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Arbeit ist. Er spielt also nicht nur in jedem Kapitel eine zentrale Rolle, sondern gibt auch den inneren Zusammenhang bzw. die innere Struktur zwischen allen drei Kapiteln, so dass sie ein System bilden. Was ist das Verhältnis zwischen der Erscheinung als dem gegenständlichen Inhalt der Vorstellung und dem objektiven wirklichen Gegenstand als dem Gegenstand der Erfahrung im strengen Sinn? Nach den obigen Zitaten werden die Erscheinungen als objektiv bzw. als Bestandteile der objektiven Gegenstände angesehen, wenn die Erscheinungen miteinander in der synthetischen Einheit bzw. unter der notwendigen Ordnung stehen. Dies impliziert, dass der objektive Gegenstand der Erfahrung durch, oder besser, als die synthetische Einheit der Erscheinungen gegeben wird. Genauer gesprochen: Er ist nichts anderes als die einheitlich synthetisierten Erscheinungen und deswegen ein auf den Erscheinungen fundierter höherstufiger Gegenstand. Folglich fordert er mehr Bedingungen als die Erscheinungen, um sich darzustellen. Zum Beispiel, das Urteil „Der Tisch existiert.“ besagt viel mehr als „Der Tisch wird wahrgenommen.“ Damit der Tisch als wirklich dargestellt werden kann, genügt es nicht, dass ich ihn wahrnehme bzw. in der Anschauung apprehendiere. Ich muss ihn dazu auch in der Einbildung reproduzieren, d. h. in der Erinnerung immer wieder auf ihn zurückkommen und wiederholt rekognoszieren und identifizieren können. Mit anderen Worten, der existierende Tisch kann sich nur als die Einheit bzw. Einstimmigkeit des Wahrgenommenen im Prozess von Wahrnehmungen darbieten. Die wahrgenommenen, nämlich die mit diesen Wahrnehmungen korrelierenden Erscheinungen müssen also miteinander in notwendigen Verhältnissen stehen, zum Beispiel im Verhältnis, sich miteinander zu identifizieren, einander zu ergänzen und aufeinander zu verweisen, damit

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die wechselnden Erscheinungen als Zustände bzw. Gegebenheit desselben realen Dinges aufgefasst werden können.14 Dass dasselbe wirkliche Objekt in der Zeit unterschiedlich erscheinen kann, bzw. dass dasselbe wirkliche Objekt in der Zeit verschiedene Zustände haben kann, zeigt die Notwendigkeit, den wirklichen Gegenstand selbst von der Erscheinung als dessen jeweiligem Zustand bzw. als dessen jeweiliger Gegebenheit zu unterscheiden. Seine Wirklichkeit bzw. sein Dasein rechtfertigt sich durch die Einstimmigkeit seiner Erscheinungen bzw. durch den geregelten einheitlichen Zusammenhang zwischen seinen Erscheinungen. Anders gesprochen: Wenn die Gegenstände meiner Vorstellungen, nämlich die Erscheinungen als vorgestellte miteinander in geregelter Ordnung stehen, dann glaube ich und zwar mit Recht, dass ich eine wirkliche Welt erfahre. Auf keine andere Weise könnte der ExistenzGlaube vernünftig zustandekommen bzw. verständlich gemacht werden. D. h. der echte Sinn der Daseinsgeltung der Welt kann nicht anders aufgeklärt werden. Kant macht es deutlich: Die Natur überhaupt bedeutet nichts anderes „als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit“15 . Die Erscheinung in diesem Sinn, nämlich als Erscheinung vom wirklichen Gegenstand der Erfahrung, unterscheidet sich von der Erscheinung in einem anderen Sinn. Kant zufolge können wir das Ding an sich nicht erkennen, sondern nur seine Erscheinung erkennen. Der wirkliche Gegenstand der Erfahrung selbst ist deshalb im zweiten Sinn Erscheinung vom Ding an sich. In dieser vorliegenden Arbeit wird die Erscheinung nicht als Erscheinung vom Ding an sich, sondern nur als Erscheinung vom Gegenstand der Erfahrung verstanden. Anders ausgedrückt: Die für diese Arbeit relevante Erscheinung ist nicht der Gegenstand der Erfahrung selbst als Erscheinung (vom Ding an sich), sondern Erscheinung vom Gegenstand der Erfahrung. Laut der bisherigen Ausführungen lässt sich festlegen, dass Kant die Gegenständlichkeit des Sachverhalts als die synthetische Einheit der Erscheinungen versteht. Die Frage, ob die Erscheinung etwas Wirkliches bzw. Bestandteil eines wirklichen Gegenstands ist, ist mit der Frage identisch, ob die Erscheinung mit den anderen Erscheinungen in der notwendigen synthetischen Einheit steht. Dies impliziert, dass wir die synthetischen einheitlichen Verhältnisse zwischen den Erscheinungen bestimmen bzw. erkennen können müssen, um erstere Frage zu beantworten. Kant versteht die synthetischen einheitlichen Verhältnisse zwischen den Erscheinungen ausschließlich als die zeitlichen synthetischen einheitlichen 14 Vgl.: „Das Ding ist eine Regel möglicher Erscheinungen. Das sagt: das Ding ist eine Realität als Einheit einer Mannigfaltigkeit geregelt zusammengehöriger Erscheinungen.“ Hua IV, Ideen II, S. 86. 15 B 165

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Verhältnisse. Die Möglichkeitsbedingung dafür, dass die zeitlichen Verhältnisse zwischen den Erscheinungen bestimmt bzw. erkannt werden können, ist eben die Möglichkeitsbedingung dafür, dass die Erscheinungen als wirklich bzw. als Zustände oder Bestandteile der wirklichen Gegenstände angesehen werden können. Den „Analogien der Erfahrung“ zufolge ist das Bestimmen bzw. Erkennen der objektiven zeitlichen Verhältnisse zwischen den Erscheinungen nur durch die Anwendung der Relationen-Kategorien möglich. Konkret gesagt: Es soll in der zweiten Analogie der Erfahrung nachgewiesen werden, dass außer der Annahme der Beharrlichkeit der Substanz als einer allgemeinen Voraussetzung, welche als die apriorische Bedingung dafür gilt, dass die mannigfaltigen Erscheinungen demselben Gegenstand zugeschrieben werden können, das Kausalprinzip als Normierungsprinzip verlangt wird, um das Zeitverhältnis der Folge zwischen den Erscheinungen bestimmen zu können; in der dritten Analogie der Erfahrung will Kant nachweisen, dass außer der allgemeinen Voraussetzung der Substanz das Normierungsprinzip der Wechselwirkung für die Bestimmbarkeit des Zeitverhältnisses des Zugleichsein erforderlich ist. Darauf werden wir noch zurückkommen, wenn wir im zweiten Kapitel über die Fundierung der objektiven Zeit auf der subjektiven Zeit diskutieren. Die synthetische Einheit bzw. der objektive zeitliche Zusammenhang zwischen den Erscheinungen wird also von Kant auf die synthetisierende Funktion bzw. Aktivität des Subjekts, welche sich durch die Anwendung der RelationenKategorien ausdrückt, rückbezogen und ist nur als deren Korrelat möglich. D. h. man kann bei Kant die die mannigfaltigen Erscheinungen synthetisierende Tätigkeit des Subjekts und ihre Leistung, nämlich die Gegenständlichkeit des Sachverhalts finden. Die höherstufige Gegenständlichkeit, nämlich die Wirklichkeit bzw. das Dasein ist also Kant zufolge auf die durch die Relationen-Kategorien geregelte transzendentale Synthesis als die Verstandeshandlung angewiesen. Es ist darin leicht einzusehen, warum die sogenannte Philosophie von Subjektivität zugleich eine Gegenstandstheorie ist. Die Subjektivität ist die Möglichkeitsbedingung der Gegenständlichkeit. Husserl sieht sich daran mit Kant einig, dass sie beide „in der Subjektivität, bzw. in der Korrelation zwischen Subjektivität und Objektivem die letzte Bestimmung des Sinnes der Objektivität, die durch Erkenntnis erkannt wird“ suchen.16 Kant bezeichnet das Denken als „die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen.“17 Im Zusammenhang ist dies zu verstehen, 16 Hua 17 A

VII, S. 386. 247/B 304.

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dass die Denktätigkeit gegebene Anschauung auf einen realen bzw. wirklichen Gegenstand bezieht. Da die anschauliche Vorstellung von vornherein ihren gegenständlichen Inhalt bereits gehabt hat, bedeutet dies bloß, dass das von den Relationen-Kategorien geleitete Denken dem Gegenstand der Anschauung, d. h. dem Angeschauten, einen neuen „Rechtstitel“, nämlich „Dasein“ bzw. „objektive Realität“ verleiht. Mit anderen Worten: Das von den Relationen-Kategorien geleitete Denken legalisiert, sanktioniert und ratifiziert, dass das Angeschaute als etwas Reales bzw. Wirkliches angesehen wird.18 Da die Erscheinung selbst von vornherein gegenständlich gewesen ist, ist die neue Objektivierung, die sie in diesem Kontext aufgrund ihres notwendigen Zusammenhangs mit den anderen Erscheinungen wieder erfährt, die höherstufige Objektivierung, nämlich das „AlsWirklich-Betrachtet-Werden“. Gemäß dem kantischen Schema der Konstitution „Materie-Form“ besteht also die Konstitution der höherstufigen Gegenständlichkeit des Sachverhalts darin, dass die von den Relationen-Kategorien geleitete Synthesis den primitiven Erscheinungen die regelmäßige Organisationsform verleiht. Anders ausgedrückt: Die höherstufige Gegenständlichkeit des Sachverhaltes ist auf den primitiven Erscheinungen fundiert. Im Vergleich zum Sachverhalt sind die Erscheinungen nur „Material“. Eine Parallele zur kantischen These, dass die Wirklichkeit eines Dings nichts anderes als den gesetzmäßigen bzw. regelmäßigen Zusammenhang der Erscheinungen als des Gegebenseins des Dings besagt, befindet sich bei Husserl. Er betont, dass dieser konsequente Zusammenhang vollständig das ausmacht, was die Wirklichkeit von der Illusion bzw. die Wahrnehmung von der Halluzination unterscheidet: „Konsequente Halluzination ist keine Halluzination mehr. Wenn ich immerfort wahrnehme und meine Wahrnehmungen unbestritten zusammenhängen würden, so hatte ich eine Wahrnehmungswelt, und sie wäre wirkliche Wahrnehmungswelt, sie hätte ihr Recht in dem Sinne, wie phänomenale Wirklichkeit ihr Recht hat.“19 Dass die „Analogien der Erfahrung“ als eine Lehre von Intentionalität, konkreter von der Objektivierung bzw. dem Als-wirklich-betrachtet-Werden von Erscheinung als dem Inhalt der Vorstellung interpretiert werden können, hat Derk Pereboom eingesehen. Er schreibt: „I suspect that what Kant has in mind is that organization among representations leads us to experience the content of these representations as objects phenomenologically over against us. [...] the content takes on an apparent life of its own [...] through 18 Vgl.: Gurwitsch, Aron, Kants Theorie des Verstandes, Seebohm, Thomas M. (Hrsg.), Dordrecht u. a.: Kluwer Academic Publishers 1990, S. 43. 19 Kern, Iso, Husserl und Kant, a. a. O., S. 172.

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preceding and succeeding parts of the content being related in a lawlike way, that is, causally.“20

Durch die regelmäßige Organisationsform bekommen die Inhalte der Vorstellungen „an apparent lift of their own“. Sie scheinen sich unserem Willen widersetzen zu können und werden deswegen phänomenologisches Gegen-uns-Sein. In diesem Sinn werden die Inhalte der Vorstellungen als objektiv angesehen. Es ist im Auge zu behalten, dass nicht die Vorstellungen als solche, d. h. nicht die Vorstellungen selbst, sondern ihre Inhalte Pereboom zufolge aufgrund der regelmäßigen Organisationsform als objektiv angesehen werden, was mit unserer obigen Darstellung übereinstimmt. Es ist aber auch unverkennbar, dass von vornherein, d. h. vor ihrem Einbezogensein in die Organisationsform, die Vorstellungen schon die Inhalte gehabt haben müssen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ohne ihr Einbezogensein in die Organisationsform, d. h. ursprünglich, die Inhalte der Vorstellungen phänomenologisch nicht auf diese Weise „gegen uns“ sind, sich unserem Willen nicht so widersetzen und uns nicht so „nötigen“.21 Sie sind deshalb (noch) keine Gegenstände im strengen Sinn, bzw. keine hochstufigen Gegenstände, sondern primitive Gegenstände. Wir haben erwähnt, dass Kant die Erscheinungen die unbestimmten Gegenstände der Vorstellungen nennt. Die unbestimmten Gegenstände werden eben durch ihr Einbezogensein in die Organisationsform bestimmt. Ein unbestimmter Gegenstand ist jedoch sicherlich auch gegenständlich. In Übereinstimmung mit Kant schreibt Husserl: „Ist dieses Erlebnis präsent, so ist eo ipso, das liegt, betone ich, an seinem eigenen Wesen, die intentionale ‚Beziehung auf einen Gegenstand‘; denn das eine und andere besagt genau dasselbe.“22 Die Beziehung des Erlebnisses auf seinen Gegenstand liegt also an seinem eigenen Wesen, anstatt dass sie auf irgendeinen äußerlichen Zusammenhang, z. B. auf das Verhältnis dieses Erlebnisses zu anderen Erlebnissen angewiesen wäre. Diese primitivere gegenständliche Beziehung, nämlich die Beziehung der Vorstellung auf die Erscheinung als ihren gegenständlichen Inhalt bleibt bei Pereboom ungesehen und unbehandelt. Übrigens findet sich eine andere Schwäche im obigen Zitat Perebooms: Er verwechselt zwei Arten von Organisationsform bzw. Organisationseinheit miteinander. Die Organisationsform bzw. Organisationseinheit in den Vorstellungen als solchen darf keineswegs mit der in den vorgestellten Erscheinungen identifiziert werden. Das Gesetz der Kausalität geht ausschließlich die letztere an. Warum 20 Pereboom, Derk, Kant on Intentionality, in: Synthese 77/3 (1988), S. 321–352, hier S. 330. 21 A

197/B 242. XIX, Logische Untersuchungen, A 352/B1 373.

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dies so ist, wird im zweiten Kapitel eingehend erörtert. Die beiden Arten der Einheit, nämlich die Einheit der Vorstellung(en) und die gegenständliche Einheit der Erscheinung(en), und ihre jeweilige Differenzierung bilden das zentrale Thema der vorliegenden Arbeit. Für die Verdeutlichung des in Rede stehenden Unterschiedes zwischen der Vorstellung als solcher und der Erscheinung als ihrem gegenständlichen Inhalt und des Unterschiedes zwischen der primitiven Gegenständlichkeit der Erscheinung und der hochstufigen Gegenständlichkeit des Sachverhaltes kann das folgende Beispiel Kants hilfreich sein. Ich nehme den Sonnenschein auf einem Stein wahr und danach nehme ich die Erwärmung des Steins wahr. Daraus entstehen zwei Urteile, die man beide als Wahrnehmungsurteile bezeichnen kann: Wahrnehmungsurteil 1 : „Die Erwärmung des Steines folgt dem Bescheinen der Sonne.“ Wahrnehmungsurteil 2 : „Meine eine Wahrnehmung (der Erwärmung des Steines) folgt meiner anderen Wahrnehmung (des Sonnenscheins).“ Den beiden Wahrnehmungsurteilen steht das folgende Erfahrungsurteil gegenüber: Erfahrungsurteil: „Die Sonne erwärmt den Stein.“ Man kann sagen, dass das erste Urteil aufgrund der Wahrnehmungen bzw. über die gegenständlichen Inhalte der Wahrnehmungen als das Wahrgenommene, nämlich über die Erscheinungen und das zweite Urteil über die Wahrnehmungen als solche gefallen ist.23 Ein Wahrnehmungsurteil kann also sowohl ein Urteil über das Wahrgenommene, nämlich über den wahrgenommenen Gegenstand als auch ein Urteil über die Wahrnehmung als solche sein. In Husserls Terminologie kann über eine Wahrnehmung zu urteilen sowohl bedeuten, über ihren intentionalen Inhalt zu urteilen, als auch bedeuten, über ihren reellen Inhalt zu urteilen. Nennen wir das dritte Urteil „objektiv“, so müssen das erste und zweite Urteil im Vergleich dazu als „subjektiv“ bezeichnet werden. Aus einer anderen Sicht, welche uns mehr interessiert, sind jedoch das erste und das dritte Urteil von gleicher 23 Vgl.: „Es (sc. der Ausdruck einer Wahrnehmung) kann aber auch heißen, dass ich mein Urteil aus der Wahrnehmung schöpfe, dass ich die betreffende Tatsache nicht nur behaupte, sondern wahrnehme und sie so behaupte, wie ich sie wahrnehme. Nicht über die Wahrnehmung, sondern über das Wahrgenommene wird hierbei das Urteil gefällt. Wo man kurzweg von Wahrnehmungsurteilen spricht, sind in der Regel Urteile dieser eben charakterisierten Klasse gemeint.“ Hua XIX, Logische Untersuchungen, A 485/ B2 13.

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Art, welcher die Art des zweiten Urteils gegenübersteht: Während im zweiten Urteil über die subjektiven Zustände als solche geurteilt wird, wird im ersten Urteil über etwas Gegenständliches geurteilt, wie es im dritten Urteil auch der Fall ist. Wir müssen folglich zwischen dem einen gegenständlichen Urteil als „subjektivem“ Urteil und dem anderen gegenständlichen Urteil als „objektivem“ bzw. „wirklichem“ Urteil unterscheiden. Wie es im zweiten Urteil der Fall ist, kann im ersten Urteil von einem notwendigen Zusammenhang oder Verhältnis keine Rede sein. Mit den Worten Perebooms: Die Inhalte der Vorstellungen, über die das erste Urteil gefällt wird, sind phänomenologisch noch nicht so gegen uns. Davon, dass „the content takes on an apparent life of its own“, kann deshalb noch keine Rede sein. Aber auf dieser primitiven Ebene hat die Erwärmung des Steines bzw. das Bescheinen der Sonne sich durch das primitiv gegenständliche Sein bereits deutlich von meiner Wahrnehmung als solcher unterschieden. Nach der kantischen These, dass der Übergang vom Wahrnehmungsurteil zum Erfahrungsurteil auf der Notwendigkeit bzw. Gesetzmäßigkeit des Verhältnisses zwischen den beurteilten Gegenständen beruht, ist das Wahrnehmungsurteil ersichtlich nicht als das zweite, sondern das erste Wahrnehmungsurteil zu verstehen. D. h. die notwendige Gesetzmäßigkeit zwischen den wahrgenommenen gegenständlichen Inhalten „nötigt“24 uns, den gegenständlichen Inhalten einen neuen Titel, nämlich „Dasein“ bzw. „Wirklichkeit“ zu verleihen. Es ist absurd anzunehmen, dass die Wahrnehmung selbst den neuen Titel bekommen würde bzw. dass sie als etwas Wirkliches betrachtet würde. Die Frage, wie die Wahrnehmung ihren gegenständlichen Inhalt haben kann, geht also der Frage voran, wie ihr gegenständlicher Inhalt den neuen Titel bekommen kann, und ist primitiver als die letztere. Durch diese Erklärung der Bedeutung des Übergangs vom Wahrnehmungsurteil zum Erfahrungsurteil bestätigt sich erneut, dass nicht die Vorstellung selbst sich in einen Gegenstand verwandeln kann, sondern dass ihr gegenständlicher Inhalt, nämlich die Erscheinung als ein primitiver bzw. unbestimmter Gegenstand sich in einen völlig bestimmten Gegenstand verwandeln kann. Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass es von großer Wichtigkeit ist, die Anschauung als anschauliche Vorstellung als solche von dem Angeschauten als dem gegenständlichen Inhalt der Anschauung, nämlich von der Erscheinung streng und konsequent zu unterscheiden, obwohl diese strenge und

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konsequente Unterscheidung weder bei Kant selbst25 noch in der Kant-Literatur26 getroffen wird. Wie bekannt, scheint es unmöglich zu sein, die folgenden beiden grundsätzlichen kantischen Thesen miteinander zu vereinbaren: Die Anschauung bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand und die Anschauung ist ohne die Anwendung der Kategorien blind, d. h. ohne die Anwendung der Kategorien gibt es für die Anschauung keine gegenständliche Beziehung. Mit anderen Worten, Kant hält zugleich an der Unmittelbarkeit der gegenständlichen Beziehung der Anschauung und an der Mittelbarkeit ihrer gegenständlichen Beziehung fest. 25 Zwei

Beispiele: „Nach den letzteren [sc. Gesetzen der Assoziation von Vorstellungen] würde ich nur sagen können: wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere; aber nicht: er, der Körper ist schwer; welches so viel sagen will, als, diese beiden Vorstellungen sind im Objekt, das ist ohne Unterschied des Zustandes des Subjekts, verbunden, […]“ (B 142) Die beiden „Vorstellungen“, die sich von den Zuständen des Subjekts unterscheiden und „im Objekt“ sind, können nur die vorgestellten Erscheinungen sein. „Die synthetische Einheit des Bewusstseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis, […] unter der jede Anschauung sehen muss, um für mich Objekt zu werden, […]“ (B 138) Man darf nur sagen, dass unter dieser Bedingung die Anschauung Erkenntnis vom Objekt im strengen Sinn werden soll, bzw. dass unter der bezüglichen Bedingung die Anschauung sich auf das Objekt im strengen Sinn beziehen soll, d. h. ihr gegenständlicher Inhalt, nämlich die Erscheinung als das Angeschaute, zuerst für mich wirkliches Objekt bzw. dessen Bestandteil werden soll. Aber es ist keineswegs darunter zu verstehen, dass die Anschauung als solche unter der bezüglichen Bedingung selbst wirkliches Objekt werden soll. Der Unterschied zwischen den beiden Ausdrücken „die gegebenen Vorstellungen werden Erkenntnisse von Objekten“ und „die gegebenen Vorstellungen werden Objekte“ ist gewaltig. 26 Vier Beispiele: „So when I speak of temporal intuitions, I mean intuitions being given successively in inner sense. Those intuitions are also spatial, of course, they relate to spatial outer objects. Outer sense as well as inner sense is responsible for their production, so that is how they come to bear both a priori forms of intuition.“ (Schmitz, Friederike, On Kant’s Conception of Inner Sense: Self-Affection by the Understanding, in: European Journal of Philosophy 23/4 (2015), S. 1044–1063, hier S. 1048 f.) „We can immediately recognize that among our own representations there are some with the form of spatiality. […] the existence of objects (in space outside us) ontologically independent from our own representations.“ (Guyer, Paul, The Postulates of Empirical Thinking in General and the Refutation of Idealism, in: Mohr, Georg / Willaschek, Marcus (Hrsg.): Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin: Akademie Verlag 1998, S. 297–324, hier S. 310.) „Die dritte Gruppe der Grundsätze, die Analogien der Erfahrung, formulieren die Regeln, unter denen alle Wahrnehmungen stehen müssen, wenn wir sie als Objekte der Erfahrung konzipieren wollen. Ohne diese Regeln ist es nicht möglich, Erscheinungen eine objektive Stelle in der Zeit zu geben.“ (Emundts, Dina, Kant über innere Erfahrung, in: Kern, Udo

1.1 Die Einheit eines Sachverhalts

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Diese beiden Thesen sind nur dadurch miteinander vereinbar, dass die Gegenständlichkeit auf verschiedenen Ebenen verstanden wird. Der Sachverhalt als höherstufige Gegenständlichkeit unterscheidet sich von der schlichten Gegenständlichkeit der Erscheinung als des unbestimmten Gegenstandes der sinnlichen Anschauung und fundiert sich auf der letzteren. Das Fundiert-Sein impliziert Mittelbarkeit. Konkreter gesagt werden diejenigen Erscheinungen, die miteinander im objektiven zeitlichen Zusammenhang stehen, ferner als Sachverhalt, bzw. als Momente im Sachverhalt bestimmt. Mit dem Wort „ferner“ wird angedeutet, dass eine einzelne Erscheinung vor ihrem Einbezogensein in das relevante Verhältnis gewissermaßen bestimmt worden bzw. unbestimmt geblieben ist. Darauf, was die Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit der Erscheinung selbst bedeutet, werden wir bald zurückkommen, wenn wir im nächsten Paragraphen die Konstitution der einzelnen Erscheinung untersuchen. Die Thematik der Fundierung der höherstufigen Gegenständlichkeit wird im zweiten Kapitel in Bezug auf die Konstitution der objektiven Zeit aus der subjektiven Zeit noch diskutiert. Nachdem wir im Rahmen der kantischen Erkenntnistheorie dargestellt haben, wie der formale Aspekt der höherstufigen Gegenständlichkeit des Sachverhalts, nämlich die regelmäßige Organisationsform in den Erscheinungen möglich ist, müssen wir weiter fragen: Wie ist ihr materialer Aspekt möglich? D. h. wir müssen fragen, wie ist es bei Kant mit der tieferen und elementareren intentionalen Beziehung der Vorstellung auf die Erscheinung? Wie kann die Vorstellung überhaupt einen Gegenstand bzw. einen gegenständlichen Inhalt haben? Diese (Hrsg.), Was ist und was sein soll. Natur und Freiheit bei Immanuel Kant, Berlin: de Gruyter 1997, S. 189–205, hier S. 195.) „Since, on this interpretation, outer sense consists of the system of intentional spatiotemporal objekts, the sensory given – the matter on the basis of which these objects are formed – must arise in inner sense: for this matter contains neither space nor (objective) time. […] Thus it is the application of the categories to the sensory given which enables us to project the intentional objects onto, or constitute them in, the spatio-temporal matrix of outer sense.“ (Robinson, Hoke, The Priority of Inner Sense, in: Kant-Studien 79/1 (1988), S. 165–182, hier S. 171.) Es ist ersichtlich, dass Schmitz und Guyer die räumliche Form sowohl der Anschauung als auch ihrem Gegenstand zuschreiben und zugleich die Anschauung als Vorstellung von ihrem Gegenstand unterscheiden, dass Emundts die Wahrnehmung mit der Erscheinung als dem Wahrgenommenen identifiziert und zugleich zu beweisen versucht: „Daher ist etwas nur im inneren Sinn Gegebenes durch unsere a priori möglichen Bestimmungen nicht in vergleichbarer Weise wie etwas dem äußeren Sinn Gegebenes a priori zu bestimmen.“ (S. 198) Robinson verwechselt die Empfindungen in der Vorstellung mit dem gegenständlichen Material in der Erscheinung. Die Kategorien dürfen nicht auf die Empfindungen, sondern nur auf das Letztere als das räumlich Gegebene angewendet werden. Darauf werden wir im nächsten Paragraphen zurückkommen.

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Kant und das Problem der Intentionalität …

neue Frage unterscheidet sich von der oben bereits beantworteten Frage: Wie kann der Gegenstand der Vorstellung als objektiv bzw. wirklich angesehen werden? Die Beziehung der Vorstellung auf etwas Gegenständliches unterscheidet sich also von der Beziehung der Vorstellung auf etwas Objektives bzw. Wirkliches. Man könnte vermuten, die betreffende Erörterung Kants in den Passagen „Axiomen der Anschauung“ und „Antizipationen der Wahrnehmung“ finden zu können, weil es hier nicht um das Verhältnis der Erscheinungen untereinander, wie es in den „Analogien der Erfahrung“ der Fall ist, sondern um „Erscheinungen ihrer bloßen Möglichkeit nach“27 geht. Der folgende Abschnitt untersucht entsprechend, ob man in diesen Passagen Kants Erörterung über die tiefere und elementarere Beziehung der Vorstellung auf die Erscheinung finden kann. Im Fortgang unserer Überlegung wird sich zeigen, dass nur der formliche Aspekt der primitiven Gegenständlichkeit der Erscheinung durch deren notwendige Rückbezogenheit auf die von den Kategorien der Quantität und Qualität geleitete Synthesis erklärt werden kann. Zugleich wird sich zeigen, dass diese Synthesis nicht zur Gegenständlichkeit des Materials in der Erscheinung führen kann. Wir haben im vorliegenden Paragraphen die Möglichkeitsbedingung für die Gegenständlichkeit des Sachverhaltes als der Wirklichkeit bzw. des Daseins mit der Möglichkeitsbedingung für die Bestimmbarkeit der objektiven zeitlichen Verhältnisse der Erscheinungen gleichgesetzt. Die Gegenständlichkeit des Sachverhaltes bedeutet also die objektive zeitliche Einheit zwischen den Erscheinungen, deren beide „Modi“28 Folge und Simultaneität sind.29 Diese gegenständliche Einheit als die objektive zeitliche Einheit zwischen den Erscheinungen ist die erste Art der sechs Arten von Einheit, welche die vorliegende Arbeit untersucht. Sie unterscheidet sich von der Einheit in der einzelnen Erscheinung, welche auch eine gegenständliche Einheit ist und die zweite der sechs zu erforschenden Arten von Einheit bildet. Der übrige Teil dieses ersten Kapitels ist vor allem der zweiten Art Einheit gewidmet.

27 A

178/B 221. 182/ B 226. 29 Die Beharrlichkeit ist Kant zufolge kein Verhältnis zwischen den Erscheinungen, sondern das Verhältnis einer Erscheinung zur Zeit selbst. 28 A

1.2 Die Einheit einer Erscheinung

1.2

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Die Einheit einer Erscheinung

Kant verwendet das Materie-Form-Schema nicht nur in der Konstitution der höherstufigen Gegenständlichkeit des Sachverhalts, sondern auch in der Konstitution der primitiven Gegenständlichkeit der Erscheinung. In der Konstitution des Sachverhalts dient die primitive Erscheinung als „Material“. Aber wenn die primitive Erscheinung für sich betrachtet wird, hat sie eine eigene gegenständliche einheitliche Form und das der Form korrespondierende primitivere Material. Die Konstitution bzw. Apprehension der Erscheinung fordert die Formung bzw. Gestaltung des gegebenen Materials, welche, wie nicht anders zu erwarten, durch die Tätigkeit des Subjekts geleistet wird. Mit der Gegebenheit des Materials kann der Arkus „Ich denke“ „stattfinden“30 . Die Anwendung oder der Gebrauch des reinen intellektuellen Vermögens setzt das Empirische als Bedingung voraus, das „den Stoff zum Denken“ abgibt.31 Wie bekannt, bestimmt Kant die Aktivität und Spontaneität des Subjekts näher als das Verbinden bzw. Synthetisieren. Insofern das Verbinden bzw. Synthetisieren innerhalb des Gebiets der Sinnlichkeit fungiert, wird es spezifiziert der figürlichen Einbildungskraft zugeschrieben. Zuerst betrachten wir das in Rede stehende Material und dann erforschen wir, wie die Synthesis der Einbildungskraft es formt bzw. gestaltet.

1.2.1

Kritik an einer Missdeutung des kantischen Begriffs „Material“

Man geht davon aus, dass dasjenige Material bei Kant, welches als die primitive Erscheinung geformt wird, die Empfindungsdaten sind. Aber das ist nur eine weit verbreitete Missdeutung. Hinsichtlich der Entstehung der Empfindungsdaten schreibt Kant, dass „[…] die Vorstellungen äußerer Sinne den eigentlichen Stoff ausmachen, womit wir unser Gemüt besetzen, […]“32 . D. h., der innere Sinn hat keinen eigenen Stoff für sich selbst. Sein Stoff, nämlich die Empfindungsdaten, ist nur Stoff des äußeren Sinnes und stammt also aus dem äußeren Sinn. Damit leugnet Kant, dass es zwei Arten von Empfindungsdaten gibt, von denen die eine die Empfindungsdaten des äußeren Sinnes und die andere die des inneren Sinnes wären. Stattdessen werden Kant zufolge die einzigartigen Empfindungsdaten zugleich dem inneren und dem äußeren Sinn zugeschrieben. Einerseits 30 B

423. 423. 32 B 67. 31 B

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werden sie durch den äußeren Sinn gegeben. D. h., das Gemüt kann sich selbst die Empfindungsdaten nicht anbieten. Stattdessen kann es sie nur „antreffen“33 . Sie stammen also nicht aus dem Gemüt selbst, sondern sozusagen von „außen“ her. Diese äußere Vorgabe des Materials kennzeichnet die Endlichkeit des menschlichen Gemüts, welches durch Sinnlichkeit als Rezeptivität eingeschränkt wird. Im Vergleich dazu kann die unendliche göttliche Intelligenz sich selbst das Material anbieten. Andererseits sind die Empfindungsdaten das Material in der empirischen anschaulichen Vorstellung.34 Deshalb werden die Empfindungsdaten als Bestandteil wie das Ganze, nämlich die empirische Vorstellung selbst, auch durch den inneren Sinn bewusst. In diesem Sinn werden sie auch als der Stoff des inneren Sinnes bezeichnet. Da die Empfindungsdaten einerseits durch den äußeren Sinn entstanden und andererseits durch den inneren Sinn bewusst sind, ergibt sich, dass es nur eine Sache des Geschmacks ist, ob man die Empfindungsdaten das Mannigfaltige des inneren Sinns oder des äußeren Sinns nennen sollte.35 Wenn wir fragen, was in die Synthesis der figürlichen Einbildungskraft eingeht, was durch die Synthesis vereinheitlicht wird, scheint die Antwort offensichtlich zu sein: die einzigartigen Empfindungsdaten. Wenn man aber versucht, das resultierte Produkt der Synthetisierung bzw. der Vereinheitlichung der mannigfaltigen Empfindungsdaten zu verstehen, gerät man in eine missliche Lage: Warum wird nicht die Vorstellung, sondern die Erscheinung durch die Formung bzw. die Vereinheitlichung der einzigartigen Empfindungsdaten gegeben? Diese Schwierigkeit würde nicht bestehen, wenn die Erscheinung mit der Vorstellung identisch wäre oder auf Letztere reduziert werden könnte. Aber es ist absurd, die Erscheinung mit der Vorstellung zu identifizieren oder auf die Vorstellung zu reduzieren. Einer der Kantischen Kern-Thesen zufolge stellen wir uns vermittelst des äußeren Sinns Gegenstände als außer uns vor und vermittelst des inneren Sinns schaut das Gemüt die Vorstellung als seinen inneren Zustand bzw. als die Modifikation des Gemüts an.36 Wenn die Erscheinung mit der Vorstellung identisch wäre, wäre es weder nötig noch möglich, den äußeren Sinn vom inneren Sinn zu unterscheiden. Nur angesichts der Unterscheidung, dass die Erscheinung von einer anderen Art bzw. Natur als die Vorstellung ist, macht es Sinn 33 B

132. 42/B 60. 35 Vgl. „[…] according to Kant’s own account, inner sense has no manifold of its own. […] Kant’s position is that the only manifold available for inner intuition is that of outer sense and this, as we have seen, contains data only for the representation of outer objects.“ (Allison, Henry, Kant’s Transcendental Idealism, New Haven/London: Yale University Press 1983, S. 259.) 36 A 22/B 37. 34 A

1.2 Die Einheit einer Erscheinung

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zu sagen, dass ich jene „auf eine andere Art“37 als diese vorstellen muss. Kant bezeichnet den Unterschied zwischen der Erscheinung und der Vorstellung und die Unreduzierbarkeit ersterer auf letztere als „ein[en] Beweis des Dualismus“.38 Außerdem können wir noch einen Grund anführen, warum die Identifizierung der Erscheinung mit der Vorstellung abgelehnt werden muss. Im Abschnitt „Allgemeine Anmerkung zum System der Grundsätze“ macht Kant deutlich, dass wir „immer äußerer Anschauungen bedürfen“39 , um die objektive Realität der Kategorien darzutun. D. h. dasjenige, worauf die Kategorien angewendet werden können, muss durch den äußeren Sinn angeschaut werden bzw. etwas im Raum sein. Dass Kant das gültige Gebiet der Anwendung der Kategorien auf das durch den äußeren Sinn angeschaute Gebiet, nämlich das der Erscheinungen, einschränkt, bzw. dass Kant das durch den inneren Sinn angeschaute Gebiet, nämlich das der Vorstellungen aus dem gültigen Gebiet der Anwendung der Kategorien ausschließt, ist ein unbezweifelbarer Beweis gegen die Identifizierung der Erscheinung mit der Vorstellung. Dass die Anwendung der Kategorien die Gegebenheit der Erscheinungen voraussetzt, schließt auch aus, dass durch die Anwendung der Kategorien auf die Vorstellungen diese Vorstellungen sich in die Erscheinungen verwandeln würden, d. h. sie dadurch die Erscheinungen werden würden. Wenn es so wäre, wären die Erscheinungen nicht die Voraussetzung, sondern das Resultat der Anwendung der Kategorien. Wir haben auch ausgeführt, dass die berühmte These, die Kant in der „Widerlegung des Idealismus“ stellt, lautet, dass die innere Erfahrung die äußere Erfahrung voraussetzt. Damit meint Kant, dass das zeitliche Verhältnis zwischen den inneren Vorstellungen nur durch deren Korrelation zur Reihe der äußerlichen Erscheinungen bestimmbar ist.40 Diese These wäre durchaus sinnlos, wenn man die Erscheinung mit der Vorstellung identifizieren würde. Der folgende Vergleich des Seins der Vorstellung als des empirischen Bewusstseins selbst mit dem Sein der Erscheinung als des Gegenstandes des empirischen Bewusstseins kann ihren Unterschied weiter verdeutlichen. Die Vorstellung als Bewusst-sein ist bewusstes Seiendes. D. h., ihr Sein ist bewusstes Sein. Und weiter ist es von großer Bedeutung zu beachten, dass normalerweise, d. h. im Fall der Vor-Reflexion, die Vorstellung von sich selbst vorgestellt bzw. bewusst 37 R

5653, S. 309. 5653, S. 309. 39 B 291. 40 Vgl. auch: „Die Unmöglichkeit, sein Dasein in der Sukzession der Zeit durch die Sukzession der Vorstellungen in uns zu bestimmen, und doch die Wirklichkeit dieser Bestimmung seines Daseins ist ein unmittelbares Bewusstsein von etwas ausser mir, was diesen Vorstellungen korrespondiert“. (Kant, Reflexionen 6323, Kants gesammelte Schriften, AA, Band XVIII, S. 643.) 38 R

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wird, während in der Reflexion die Vorstellung als die reflektierte Vorstellung von einer anderen Vorstellung, nämlich der reflektierenden Vorstellung vorgestellt bzw. bewusst wird. Mit anderen Worten, das Sein der Vorstellung ist das Selbst-bewusst-sein. Diese einzigartige Kennzeichnung der Vorstellung ist die Reflexivität der Vorstellung, welche nicht zwei Momente, wie es bei der Reflexion der Fall ist, sondern nur eines, nämlich sich selbst impliziert. Im Vergleich dazu setzt die Reflexion die zwei Momente: das Reflektierende und das Reflektierte voraus. Der Tisch als Erscheinung ist der erscheinende bzw. gesehene Tisch. Deshalb ist gerechtfertigt zu sagen, dass das Sein der Erscheinung als des Gegenstandes des Bewusstseins auch das bewusste Sein ist. Aber diese Bewusstheit ist keineswegs eine Selbst-Bewusstheit. D. h. die Erscheinung kann nicht von sich selbst, sondern nur von einer Vorstellung vorgestellt werden. Ihr Sein bzw. ihr Vorgestellt-sein impliziert wie die Reflexion immer das andere Moment. Anders ausgedrückt: Ihr Sein ist immer das korrelative Sein zur Vorstellung als dem Selbst-bewusst-sein. Wie der Ausdruck „Gegen-stand des Bewusstseins“ zeigt, steht die Erscheinung als Korrelat des Bewusstseins dem Bewusstsein gegenüber. Das notwendige Korrelat-zur-Vorstellung-Sein bzw. Gegenüber-der-VorstellungSein der Erscheinung impliziert auch die Unmöglichkeit, die Erscheinung auf die Vorstellung zu reduzieren. Das Sein der Erscheinung als das notwendige Korrelat-zur-Vorstellung-Sein zeigt zugleich die transzendentale Idealität und die empirische Realität der Erscheinung. Die Erscheinung kann nicht an sich, sondern nur relativ zur Vorstellung sein. Deshalb unterscheidet ihr Sein sich von der transzendentalen bzw. absoluten Realität von Ding an sich, welches an sich und für sich sein kann. Im Vergleich dazu kann von der Realität der Erscheinung nur in der Erfahrung die Rede sein und sie ist folglich empirische Realität. Aber ihr Sein ist statt des Vorstellung-Seins eben Korrelat-zur-Vorstellung-Sein und unterscheidet sich ergo auch von der subjektiven Idealität der Vorstellung. Im Vergleich dazu, dass der transzendentale Idealismus die Außenwelt auf die Korrelate zu den Vorstellungen, nämlich auf die Erscheinungen reduziert und sie deswegen als nichts anderes als den Inbegriff der Erscheinungen betrachtet, reduziert der subjektive Idealismus die Außenwelt auf die Vorstellungen selbst und betrachtet sie als nichts anderes als den Inbegriff der Vorstellungen. In Husserlscher Terminologie: Der transzendentale Idealismus reduziert einerseits die Außenwelt auf die Noemata und anderseits die psychologische Innenwelt auf die Noesen. Die Noesis und das Noema sind zwar zwei untrennbare und einander wechselseitig fordernde Momente bzw. Korrelationsglieder in der einheitlichen Korrelation. Sie

1.2 Die Einheit einer Erscheinung

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sind aber aufeinander nicht mehr reduzierbar. Im Vergleich dazu glaubt der subjektive Idealismus, dass es letztlich nur die Vorstellungen bzw. Erlebnisse gebe. D. h., er begeht den Grundfehler, das Gegenständliche als das Vorgestellte mit der auf ihn bezogenen Vorstellung bzw. mit dem dem Gegenständlichen korrelierenden Erlebnis zu verwechseln. Die moderne Bezeichnung des so gekennzeichneten subjektiven Idealismus ist „Psychologismus“41 . Es lässt sich feststellen, dass die subjektiv idealistische Interpretation des Kantischen Begriffspaars „Vorstellung und Erscheinung“, die besagt, dass sie miteinander identisch sind bzw. die eine auf die andere reduziert werden kann oder sich in die andere verwandeln kann, für verfehlt erklärt werden muss.42 Unter „Wahrheit“ versteht man allgemein die Übereinstimmung der Vorstellung mit ihrem Gegenstand. Der transzendentale Realismus glaubt, dass die Vorstellung und ihr Gegenstand von verschiedener Natur sind. Deshalb ist es im Rahmen des transzendentalen Realismus schwer zu verstehen, wie die Vorstellung und ihr Gegenstand miteinander übereinstimmen können, weil sie wegen ihrer Heterogenität bzw. der verschiedenen Natur eigentlich miteinander unvergleichbar sein müssen, was seit Berkeley bekannt ist. Sein subjektiver Idealismus, der die gleiche Natur des Gegenstandes und der Vorstellung behauptet, scheint der einzige mögliche Weg zu sein, die Übereinstimmung der Vorstellung mit ihrem Gegenstand zu erklären. Das Rätselhafte der Übereinstimmung der Vorstellung mit ihrem Gegenstand entsteht eigentlich jedoch nur aus einem Missverständnis dieser Übereinstimmung. Man darf die Vorstellung mit ihrem Gegenstand 41 Genauer gesprochen: Der Psychologismus deckt sich nicht völlig mit dem subjektiven Idealismus. Der Psychologismus reduziert sowohl die realen als auch die idealen Gegenstände auf die psychischen. Dies impliziert, dass er zwei Grundfehler begeht. Einerseits vermengt er das Gegenständliche und das auf ihn bezogene Erlebnis. Dies ist eben der Grundfehler des subjektiven Idealismus. Andererseits verdinglicht, naturalisiert bzw. realisiert er das Erlebnis. D. h., er betrachtet das Erlebnis nicht in seiner Reinheit und Eigenwesentlichkeit, sondern bezeichnet es als raumzeitliches Ereignis. 42 Es ist nicht zu bestreiten, dass der Ausdruck „Erscheinung“ bei Kant vieldeutig ist. Kant verwendet ihn in mindestens drei Bedeutungen. Laut der ersten ist die Erscheinung „der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung“. (A 20/B 34) In diesem Sinn ist die Erscheinung selbst durchaus keine empirische Anschauung bzw. Vorstellung als solche, sondern deren gegenständlicher Inhalt bzw. deren gegenständliches Korrelat als das empirische Angeschaute. In der vorliegenden Arbeit wird der Ausdruck „Erscheinung“ ausschließlich in diesem Sinn verwendet. Im Ausdruck „die Erscheinung von dem wirklichen Gegenstand, der als der Gegenstand der Erfahrung im strengen Sinn kategorisch völlig bestimmt ist.“ ist auch die Erscheinung im ersten Sinn gemeint. Aber wenn Kant sagt, wir können „Ding an sich“ nicht erkennen, sondern nur dessen Erscheinung erkennen, bezeichnet er den wirklichen Gegenstand der Erfahrung selbst als Erscheinung. Laut der dritten Bedeutung ist Erscheinung synonym zu „eine empirische Anschauung bzw. Vorstellung“.

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wirklich nicht vergleichen, weil sie wegen der verschiedenen Natur tatsächlich unvergleichbar sind. Dies impliziert aber nicht, dass das oben erwähnte Kriterium der Wahrheit der Erkenntnis unmöglich ist und deshalb abgelehnt werden muss. Die Wahrheit besteht darin, dass der (leere) Begriff bzw. Gedanke mit der Anschauung übereinstimmt. Oder was damit gleichwertig ist: die Wahrheit ist die Übereinstimmung des gedachten Gegenstandes mit dem anschaulich gegebenen Gegenstand. Diese beiden Sätze sind nur verschiedene Deskriptionen derselben Sache. Konkreter in Husserls Terminologie ausgedrückt: der erstere ist in Hinblick auf die noetische Seite und der zweite auf die noematische Seite formuliert. Man darf also (die prätendierende) Vorstellung (nämlich den Begriff bzw. Gedanken) nur mit (der anschaulichen) Vorstellung oder (den gedachten) Gegenstand nur mit (dem angeschauten) Gegenstand vergleichen. Mit anderen Worten: es ist nur möglich, dass eine Vorstellung und eine andere Vorstellung sich decken und ein Gegenstand und ein anderer Gegenstand sich decken. Kants transzendentaler Idealismus, der die Anschauung als Vorstellung von dem Angeschauten als ihrem Gegenstand, nämlich der Erscheinung, zu unterscheiden versucht, kommt bezüglich der so verstanden Definition der Wahrheit nicht in Verlegenheit. Mithilfe der obigen Ausführungen können wir aus der Perspektive des Verhältnisses zwischen Vorstellung, Erscheinung und Außenwelt das Verhältnis Husserls zu Descartes und Kant besser verstehen. Dieses Verhältnis prägt sich Husserl zufolge so aus: Einerseits gebraucht er zur Bezeichnung seiner transzendentalen Phänomenologie den Kantischen Ausdruck „transzendentaler Idealismus“43 und sieht sich „in den wesentlichen Ergebnissen“ „nach großen Linien mit Kant einig“44 ; anderseits betont er: „Es ist natürlich ein lächerliches, obschon leider gewöhnliches Missverständnis, die transzendentale Phänomenologie als ‚Cartesianismus‘ bekämpfen zu wollen“45 . Die Beziehung des „cogito“ zur äußeren Erscheinung ist bei Descartes zweideutig. Einmal bezeichnet Descartes die äußere Erscheinung als eine Art „cogito“ und ein anderes Mal versteht er sie als den gegenständlichen Inhalt bzw. das gegenständliche Korrelat von „cogito“. Im Vergleich dazu ist das korrelative Verhältnis zwischen Vorstellung und Erscheinung bei Kant viel deutlicher, obwohl die Unterscheidung zwischen Vorstellung und Erscheinung bei ihm auch nicht streng und konsequent durchgeführt ist. Was das Verhältnis zwischen Erscheinung und Außenwelt anbelangt, besteht ein großes

43 „…die ganze Phänomenologie ist nichts anderes als die erste streng wissenschaftliche Gestalt dieses Idealismus.“ (Hua VIII, Erste Philosophie II, S. 181.) 44 Hua VII, S. 235. 45 Hua VI, Krisis, S. 193.

1.2 Die Einheit einer Erscheinung

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Problem bei Descartes. Mit diesem Problem ist die Cartesianische „Repräsentationstheorie“ der äußeren Erfahrung gemeint. Selbst wenn Descartes die äußere Erscheinung vom „cogito“ selbst unterscheidet und sie als den gegenständlichen Inhalt bzw. das gegenständliche Korrelat des „cogito“ versteht, versucht er immer noch, die Übereinstimmung der Erscheinung mit dem Ding in der Außenwelt zu sichern. Dies impliziert, dass Descartes eine „Repräsentationstheorie“ der äußeren Erfahrung vertritt, welcher zufolge das, was wir in dieser Erfahrung unmittelbar erfahren, nicht die Dinge in der Außenwelt, sondern die Erscheinungen als ihre Repräsentationen sind. Die Übereinstimmung der Erscheinungen mit der objektiven Außenwelt bzw. mit der Objektivität der Außenwelt wird bei Descartes durch Gottes Existenz und veracitas gesichert. Das sich daraus ergebende Problem ist nicht, dass der cartesianische Versuch, die Übereinstimmung der Erscheinungen mit der objektiven Außenwelt zu sichern, gescheitert ist, sondern dass dieser Versuch selbst unangebracht und überflüssig ist. Mit anderen Worten, das gegebene Problem ist nicht, dass die cartesianische Antwort auf die Frage nach der Übereinstimmung der Erscheinungen mit der objektiven Außenwelt nicht überzeugend ist, sondern dass diese Frage überhaupt gestellt und beantwortet wird. Sie darf nämlich weder gestellt noch beantwortet werden. Wir haben ausgeführt, dass man die Vorstellung nicht mit der Erscheinung vergleichen darf, geschweige dass sie miteinander übereinstimmen würden. Aber die Vorstellung und die Erscheinung können miteinander korrelieren, weil sie nicht eines, sondern zwei sind. Im Vergleich dazu kann die Erscheinung weder mit dem Ding in der Außenwelt übereinstimmen noch ihm korrelieren, weil sie nicht zwei, sondern eines sind. Im Vergleich zu Descartes weist Kant, einig mit Husserl, die Unmittelbarkeit der äußeren Erfahrung auf,46 wie wir im ersten Paragraphen dargestellt haben. Kant zufolge erfahren wir in der äußeren Erfahrung unmittelbar die Dinge selbst in der Außenwelt. Diejenigen Erscheinungen, die miteinander im gesetzmäßigen Zusammenhang stehen, sind nicht die Repräsentanten bzw. Vertreter der objektiven Dinge, sondern sie selbst. Deshalb hat Kant gar nicht versucht, die Objektivität der Dinge in der Außenwelt zu sichern bzw. beweisen. Stattdessen hat er nur den echten Sinn dieser Objektivität aufgeklärt. Diese Husserlsche Forderung47 ist bei Kant erfüllt.

46 Vgl.: „Es ist eine große Einsicht, die unter allerlei Verhüllungen schon bei Kant zutage getreten ist, dass nicht all das, was wir Wahrnehmung, Erfahrung und erfahrungsmäßige Naturerkenntnis nennen, ein bloß indirektes Bewusstsein ist.“ (Ms. transcr. B IV 6, S. 209.) 47 Vgl.: „Es gilt nicht, Objektivität zu sichern, sondern sie zu verstehen.“ (Hua VI, Krisis, S. 193.)

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Zurück zu unserem hier zu untersuchenden Thema. Wir möchten wissen, warum durch die Synthesis der einzigartigen Empfindungsdaten nicht die Vorstellung, sondern die Erscheinung entsteht. Die erste mögliche Antwort, dass die Vorstellung und die Erscheinung einerlei sein könnten, haben wir ausgeschlossen. Man könnte annehmen, dass die einzigartigen Empfindungsdaten auf zwei verschiedene Weisen synthetisiert und geformt werden, dass die Vorstellung und die Erscheinung dadurch entsprechend als zwei verschiedene Gebilde entstehen. Dies führt jedoch zu einer neuen Schwierigkeit. Wir können verstehen, dass die mannigfaltigen Empfindungsdaten sich zu einer einheitlichen Vorstellung organisieren. Sie sind deswegen ein Bestandteil bzw. ein konstitutives Moment in der Vorstellung, deren anderes konstitutives Moment die Organisationsform ist. Es ist aber unverständlich, wie die Empfindungsdaten zu einer Erscheinung geformt werden können, die durchaus einer anderen Ebene angehört bzw. in der die Empfindungsdaten kein Bestandteil sind. Wie ist es zu verstehen, dass die Empfindungsdaten kein Bestandteil bzw. kein konstitutives Moment im Gebilde sind, welches doch durch die Synthetisierung bzw. Vereinheitlichung der Empfindungsdaten entstanden sein soll? Kant betont, dass das Reale bzw. die Materie in allen Erscheinungen nicht die Empfindungen selbst sind, sondern der Gegenstand der Empfindung, nämlich das, „was der Empfindung korrespondiert“.48 Was der Empfindung korrespondiert, bzw. was als Gegenstand der Empfindung gegenübersteht, kann mit der Empfindung selbst nicht identisch sein. Die zu verschiedener Zeit gegebenen Empfindungen können nie miteinander identisch sein. Wenn die Empfindung ein Bestandteil bzw. ein konstitutives Moment in der Erscheinung als dem jeweiligen Gegenstand wäre, könnten wir zu verschiedenen Zeiten nie einen identischen Gegenstand haben, weil seine Identität nicht nur die Identität seiner Form, sondern auch die seiner Materie verlangt. Die Organisationsform in der Erscheinung mag ganz anders als die in der Vorstellung sein. Wie kann den Empfindungsdaten die besondere Form oder Ordnung verliehen werden, in der sie danach jedoch nicht stehen? Ist die Form oder Ordnung nicht gerade die Beziehung zwischen den verschiedenen Empfindungsdaten als „Materie“?49 Dies ist eine rätselhafte und zugleich entscheidende Frage. Das Synthetisieren setzt dasjenige als Materie voraus, was synthetisiert wird. Was synthetisiert wird, muss ein Bestandteil bzw. ein konstitutives Moment in 48 A

20/B 34, A 166/B 207. „Mit ‚ordnen‘ und ‚in eine gewisse Form stellen‘ meint Kant hier offenbar jede Art von Beziehung zwischen verschiedenen Empfindungen.“ Willaschek, Marcus, Der transzendentale Idealismus und die Idealität von Raum und Zeit. Eine „lückenlose“ Interpretation von Kants Beweis in der „Transzendentalen Ästhetik“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 51 (1997), S. 538–564, hier S. 550. 49 Vgl.:

1.2 Die Einheit einer Erscheinung

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demjenigen Gebilde sein, das durch diese Synthesis der Materie entsteht, dessen anderes Moment die durch die Synthesis gestiftete Form bzw. Struktur ist. Mit anderen Worten, die Materie geht selbst in das Gebilde ein, weil das Gebilde dadurch entsteht, dass die Synthesis die Materie strukturiert und ergo ihr die Form bzw. Struktur gibt. Wir haben ausgeführt, dass der Sachverhalt durch die Synthetisierung der Erscheinungen nach den Relationen-Kategorien als Regeln gegeben wird. Die Erscheinungen sind deshalb Bestandteil bzw. konstitutives Moment des Sachverhaltes. Das ist der Fall der Synthesis in Hinsicht auf die Entstehung des höherstufigen Gegenstandes „Sachverhalt“, in welchem die Erscheinungen als „Material“ in die Synthesis gebracht werden. Die Sachlage der Synthesis in Hinsicht auf die Entstehung der Erscheinung als primitiven Gegenstandes muss ebenso sein. Diejenigen Kategorien, nach denen die letztere Synthesis geregelt wird, mögen anders als die RelationenKategorien sein. Die eine im zu synthetisierenden Material gestiftete Einheit mag auch anders als die andere im zu synthetisierenden Material gestiftete Einheit sein. Aber dies kann offensichtlich der in Rede stehenden Sache nichts schaden. Wenn die Erscheinung selbst durch die Synthesis eines Materials gebildet wird und die Empfindungen kein Bestandteil in der Erscheinung sind, muss man außer den Empfindungsdaten eine andere Art Material annehmen, welche ein konstitutives Moment in der Erscheinung und deshalb ein gegenständliches Material ist, um das obige Rätsel zu lösen. Kant hat das tatsächlich getan, wie das obige Zitat aus A 20 zeigt. Er betont an einer anderen Stelle, dass die Synthesis als die Handlung des Subjekts „die Synthesis des Mannigfaltigen im Raum“ ist.50 Die Empfindungsdaten können nicht „das Mannigfaltige im Raum“ sein. Um die Konstitution der Vorstellung und die der Erscheinung zu erklären, lehnt Kant also das verführerische Modell „eine Materie – zwei Arten Form“ ab und führt das Modell „zwei Arten Materie – zwei Arten Form“ ein. Dass durch den äußeren Sinn zugleich zwei Arten Stoff, nämlich die nichtgegenständliche Empfindung und die gegenständliche Materie gegeben werden, widerspricht nicht der Auffassung, dass der innere Sinn vom äußeren Sinn seinen Stoff bekommt, bzw. dass wir mit dem Stoff des äußeren Sinns unser Gemüt besetzen. Dass der innere Sinn von äußerem Sinn den Stoff bekommt, bedeutet nicht, dass aller Stoff des äußeren Sinns zugleich der Stoff des inneren Sinns ist, sondern dass aller Stoff des inneren Sinns zugleich der Stoff des äußeren Sinns ist. Die Sachlage ist so: Obwohl zwei Arten Stoff durch den äußeren Sinn gegeben werden, wird nur eine von ihnen, nämlich die nicht-gegenständliche Empfindung 50 B

155.

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durch den inneren Sinn bewusst und kann daher zugleich als den Stoff des inneren Sinns bezeichnet werden. Die gegenständliche Materie wird nicht durch den inneren Sinn bewusst und wir können nicht mit ihr unser Gemüt besetzen. Man mag gegen unsere These, dass das Modell „zwei Arten Materie – zwei Arten Form“ im Rahmen der Kantischen Theorie erforderlich ist, argumentieren, dass zwei Arten Form zwei Arten Synthesis verlangen, weil jede Art Form Kant zufolge eine Art Einheit impliziert, welche nur durch eine eigene Art Synthesis als Tätigkeit des Subjekts geleistet werden kann. Kant redet jedoch nicht von zwei Arten Synthesis, von denen die eine für die Einheit der Vorstellung und die andere für die Einheit der Erscheinung zuständig wäre. Stattdessen ist nur von der einzigen Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft die Rede. Darauf antworten wir: Dadurch, dass die einzige Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft sich unmittelbar an der gegenständlichen Materie betätigt, wird sie als die einheitliche Erscheinung gebildet. Aber außer diesem direkten Resultat bzw. Produkt hat die Tätigkeit der transzendentalen Einbildungskraft an der gegenständlichen Materie eine Nebenwirkung bzw. ein zusätzliches Resultat, nämlich dass die nicht-gegenständlichen Empfindungsdaten in demselben Gang als eine einheitliche Vorstellung synthetisiert werden und zwar aufgrund der Korrelation der Vorstellung zur einheitlichen Erscheinung, obwohl die einzige Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft sich unmittelbar an der Empfindungsdaten gar nicht betätigen kann. Darauf werden wir noch zurückkommen, wenn wir uns im zweiten Kapitel mit Kants Lehre von Selbstaffektion auseinandersetzen. Aber die Annahme zweier Arten von Materie ist in Kants Theorie durch den Doppelsinn des Ausdrucks „Sinnesdaten“ verdeckt. Darunter kann man sowohl die Empfindungsdaten in der Vorstellung als solche als auch das verstehen, was in der Erscheinung den Empfindungsdaten entspricht. Es muss also zwei Arten von sinnlichem Material geben, von denen die eine Bestandteil bzw. konstitutives Moment in der empirischen Vorstellung als solche ist und die andere die gleiche Rolle in der Erscheinung spielt. Sie sind mit einander nicht identisch, sondern stehen einander als Korrelate gegenüber. Zum Beispiel kann in der Synthesis der Apprehension und Reproduktion kann nur von dem sinnlichen Material der zweiten Art die Rede sein, weil durch diese Synthesis die Erscheinung gebildet wird. Im Gegensatz zu den Empfindungen in der Vorstellung müssen die Sinnesdaten in der Erscheinung als gegenständliche Sinnesdaten bezeichnet werden. Da sie ein konstitutives Moment der Erscheinung als Gegenstand sind, sind sie selbst auch gegenständlich. Wenn Kant sagt, dass die Synthesis der Apprehension „das Mannigfaltige der Anschauung“ durchgeht, aufnimmt und verbindet, meint er eigentlich nur, dass sie sich an dem Mannigfaltigen des Angeschauten,

1.2 Die Einheit einer Erscheinung

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nämlich an den gegenständlichen Sinnesdaten betätigt. Deshalb betont Husserl, „Anschauung ist bei Kant in der Regel gegenständlich zu fassen.“51 Die Frage der Intentionalität bzw. der Gegenständlichkeit, wie die Vorstellung ursprünglich ihren gegenständlichen Inhalt haben kann, bzw. wie die primitive Gegenständlichkeit der Erscheinung möglich ist, wird dadurch nur teilweise bzw. eingeschränkt beantwortet, dass die Erscheinung durch die Synthetisierung bzw. Vereinheitlichung der gegenständlichen Sinnesdaten gegeben wird. Die Synthesis stiftet die Form der Erscheinung, aber die Gegenständlichkeit des in der Erscheinung enthaltenen Materials ist keine Leistung der Synthesis, sondern die Voraussetzung dafür, dass die Synthesis überhaupt vollzogen werden kann. Im Folgenden werden wir dies ausgehend von Kants Deskription, wie die Synthesis der Einbildungskraft die Erscheinung konkret konstituiert, beweisen.

1.2.2

Die Form der Erscheinung als die Leistung der kategorialen Synthesis

Die Synthesis ist Kant zufolge die Wirkung der Einbildungskraft als „einer blinden obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele“52 . Obwohl in der ersten Auflage der KrV die Einbildungskraft ein selbständiges Vermögen und ihre Synthesis an sich blind ist, wird der Vollzug dieser Synthesis vom Verstand geleitet und geregelt und ist deshalb regelmäßig. D. h. in der Synthesis der Einbildungskraft spielt der Verstand mit und seine Kategorien dienen dabei als Regeln. Das Verhältnis zwischen der Synthesis der Einbildungskraft und dem Verstand ist in der zweiten Auflage der KrV deutlicher und stärker: Die Synthesis der Einbildungskraft ist die erste Anwendung des Verstandes auf die Sinnlichkeit. D. h. sie ist nicht mehr bloß vom Verstand sozusagen von außen bzw. von oben geleitet, sondern direkt die Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit. Die Einheit zwischen den Erscheinungen, die eine der beiden Arten von gegenständlicher Einheit und die erste Art der in der vorliegenden Arbeit untersuchten sechs Arten von Einheit ist, wird Kant zufolge durch die Synthesis nach den Relationen-Kategorien als Regeln geleistet. Wie ist es bei der Gegebenheit der einzelnen Erscheinung? Dagegen, dass die Gegebenheit der einzelnen Erscheinung schon die Leistung der Synthesis enthalten kann, könnte man einwenden, dass derjenige Ort, an dem Kant die Gegebenheit der Erscheinung behandelt, die transzendentale Ästhetik ist, in der es nicht um die synthetische Aktivität 51 Hua 52 A

VII, Beil. XX, S. 387 Anm. 78/B 103.

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Kant und das Problem der Intentionalität …

des Subjekts und deren apriorische Regeln, sondern um die passive Rezeptivität des Subjekts und deren apriorische Form (Raum und Zeit) geht. Innerhalb des Gebiets der transzendentalen Ästhetik ist der Einwand in Hinsicht auf Raum und Zeit als den reinen Formen der Anschauung gerechtfertigt. Aber man darf nicht übersehen, dass Kant in der transzendentalen Analytik, vor allem im zweiten Teil der transzendentalen Deduktion in der zweiten Auflage nachträglich betont, dass in Hinsicht auf Raum und Zeit als reine formliche Anschauung bzw. als das reine formliche Angeschaute die Einheit in ihnen bzw. in den Zeit- und Raumgestalten die Synthesis auch voraussetzt. Er schreibt, „Der Raum, als Gegenstand vorgestellt, (wie man es in der Geometrie bedarf,) enthält mehr, als bloß Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen“53 . Die Zusammenfassung ist nur ein anderer Name der Synthesis. Dass die Einheit des reinen formlichen Angeschauten die Synthesis der Einbildungskraft voraussetzt, impliziert, dass die Einheit der Erscheinung als des empirischen Angeschauten auch die Synthesis der Einbildungskraft voraussetzt. Wenn man dagegen einwendet, dass die Synthesis der Einbildungskraft als „transzendentaler“ oder „reiner“ im ersteren Fall mit der im letzteren Fall als „empirischer“ nicht gleichgesetzt werden darf und es bei Kant nicht von der letzteren, sondern von der ersteren die Rede ist, so finden wir darin nichts, was jener Implikation widersprechen könnte. Dass die transzendentale Synthesis sich nur auf die apriorische Einheitsform der Gegenstände bezieht, ist eine Abstraktion der transzendentalen Betrachtung. Tatsächlich liegt sie als die Bedingung der Möglichkeit der empirischen Synthesis zugrunde und ist deshalb immer in dieser enthalten. Daraus erhellt, dass die Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung bzw. des Korrelates zur Wahrnehmung, nämlich der Erscheinung als des Wahrgenommenen ist.54 Kant zufolge ist für die Gegebenheit der Erscheinung nicht nur die figürliche Synthesis der produktiven Einbildungskraft, sondern auch die Anwendung der Kategorien erforderlich. „Folglich steht alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter den Kategorien“55 . Welche Kategorien spielen in der Gegebenheit der einzelnen Erscheinung durch die Synthesis der Einbildungskraft mit und wie? Kant beschreibt die Gegebenheit der Erscheinung so: „Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit, in der Folge der 53 B

161. 120. 55 B 161. 54 A

1.2 Die Einheit einer Erscheinung

29

Eindrücke auf einander unterschiede: denn als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein.“56

Das Zitat behandelt eine der Bedingungen, unter denen ein Mannigfaltiges durch eine anschauliche Vorstellung „als ein solches“, d. h. als „ein Mannigfaltiges“ vorgestellt bzw. erfasst werden kann. Jede anschauliche Vorstellung ist wegen ihrer zeitlichen Form selbst ein „Fluss“. D. h., sie hat notwendig ihre zeitliche Extension bzw. Strecke, welche aus einigen Zeitphasen, in Kants Terminologie aus einigen „Augenblicken“ bzw. „Eindrücken“ besteht, und ist deswegen, formal betrachtet, eine „Folge“ von Zeitphasen, Augenblicken bzw. Eindrücken. Ohne unseren späteren Ausführungen im zweiten Kapitel vorgreifen zu wollen, müssen wir doch betonen, dass der Begriff „Zeitphase“ von großer Bedeutung in der kantischen Konzeption des inneren Sinns und der Konstitution der Vorstellung als solcher ist. Die in Rede stehende Bedingung dafür, dass eine anschauliche Vorstellung ein Mannigfaltiges als solches vorstellen bzw. erfassen kann, besteht Kant zufolge eben darin, dass die anschauliche Vorstellung formlich als eine Folge bzw. Dauer von Zeitphasen betrachtet werden muss, wie wir aus dem obigen Zitat ersehen können. Die „absolute Einheit“, die man in einem Augenblick bzw. in einer Zeitphase „in einer Anschauung unmittelbar fassen“ kann, nennt Kant „Grundmaß“.57 Sacha Golob schlägt vor, dass das Grundmaß beispielsweise als „a specific spatial extent“ verstanden werden soll.58 D. h. ich kann in einem Augenblick ein bestimmtes Maß von räumlicher Größe erfassen bzw. apprehendieren. Dass dieses bestimmte Maß als absolute Einheit Grundmaß ist, bedeutet, dass es danach als „Einheit“ dient, deren Iteration zu „Vielheit“ bzw. „Mannigfaltigkeit“ führt.59 Die Tatsache, dass jedes Stück des Raumes immer teilbar und „kein Teil der kleinstmögliche (kein Teil einfach) ist“60 , widerspricht dem Grundmaß als absoluter Einheit nicht. Es ist gleichgültig, ob ein Grundmaß beispielsweise ein Meter oder ein Zentimeter ist. Das Grundmaß hat in sich immer seine Teile. Wenn ein Maß als Grundmaß gewählt wird, betrachte ich es jedoch als absolute Einheit bzw. als

56 A

99.

57 Kant,

Kritik der Urteilskraft, Kants gesammelte Schriften, AA, Band V, § 26.

58 Golob, Sacha, Kant on Intentionality, Magnitude and the Unity of Perception, in: European

Journal of Philosophy 22 (2011), S. 505–528, hier S. 509. 59 Vgl.: „Also ist die Zahl nichts anders, als die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt“. (A 143/ B 182) 60 A 169/B 211.

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1

Kant und das Problem der Intentionalität …

absolutes Ganzes. D. h., seine Teile werden mir in diesem Fall nicht bewusst.61 Dies schließt offensichtlich nicht aus, dass mit einem kleineren Grundmaß diese Teile bewusst werden können. Jeder Eindruck in der „Folge der Eindrücke“ erfasst ein Grundmaß von räumlichem Inhalt. Und danach gehen diese mannigfaltigen Grundmaß-Inhalte als die zu synthetisierenden Materialien in die Handlung der figürlichen Einbildungskraft ein. Sie werden durchlaufen und dann mithilfe eines Begriffs einer Zahl durch eine anschauliche Vorstellung zusammengenommen. Weil das Mannigfaltige nicht durch einen Eindruck, sondern durch eine Folge von Eindrücken gegeben wird, spielt auch die reproduktive Einbildungskraft im Durchlaufen und Zusammennehmen der Mannigfaltigkeit mit. Ihre Leistung besteht darin, das vorher gegebene und nicht mehr gegenwärtige Mannigfaltige im Moment des Durchlaufens und Zusammennehmens zu vergegenwärtigen. Durch die Synthesis der Apprehension entsteht die Korrelation zwischen einer anschaulichen Vorstellung, deren Zeitstrecke aus einigen Eindrücken bzw. Augenblicken besteht, und einem einheitlichen Ganzen, das die mannigfaltigen räumlichen Inhalte in sich enthält. Aber warum diese Bemühung? Warum muss ich zuerst die Teile des Ganzen erfassen und sie danach zum Ganzen synthetisieren? Warum kann ich nicht von Anfang an ein größeres Grundmaß, d. h. statt seines Teils das Ganze selbst als Grundmaß einführen? Kant würde zugestehen, dass man tatsächlich in einem Augenblick das in Rede stehende Ganze als absolute Einheit apprehendieren kann bzw. man von Anfang an die Größe des bezüglichen Ganzen als Grundmaß einführen kann. Aber wie erwähnt kann man sich in diesem Fall der Teile des Ganzen nicht mehr bewusst sein. D. h., das Ganze wird nicht mehr als ein Mannigfaltiges enthaltendes Ganzes, sondern als eine absolute Einheit vorgestellt, wie Kant im obigen Zitat aus A99 deutlich betont. Dass das Mannigfaltige einer Anschauung bzw. eines Angeschauten als ein solches vorgestellt bzw. bewusst werden kann, darf damit nicht gleichgesetzt werden, dass das Angeschaute bewusst werden kann. Das erstere verlangt zusätzlich das „Innewerden oder Bewusstwerden“ jedes seiner Teile.62 In der obigen Ausführung über die Synthesis der Einbildungskraft wird besonders die Apperzeptions-Funktion der Kategorien der Quantität hervorgehoben. Das Grundmaß ist in dieser Hinsicht die Regel der Apprehension, nach welcher die extensive Größe synthetisiert wird, bzw. es ist im Zusammenhang die 61 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Kants gesammelte Schriften, AA, Band VII, S. 135. 62 Vgl. die ähnliche Interpretation bei Gurwitsch: „[…], so daß die Synthesis der Apprehension ein entfaltetes, gegliedertes und das heißt eben ein als solches erfaßtes Mannigfaltiges liefert.“ Gurwitsch, Aron, Kants Theorie des Verstandes, a. a. O., S. 9.

1.2 Die Einheit einer Erscheinung

31

„Einheit“ der Apprehension, deren Iteration zur extensiven Größe führt. Das Wahrgenommene hat nicht nur eine bestimmte Größe von räumlicher Extension, sondern auch andere sinnliche Eigenschaften, die über intensive Größe verfügen. Deshalb sind auch die Kategorien der Qualität unentbehrlich, um sie erfassen zu können. Deshalb soll das Grundmaß von räumlichem Inhalt, welches wir in einem Augenblick bzw. in einer Zeitphase unmittelbar apprehendieren können, sowohl extensiv als auch intensiv verstanden werden. Die Iteration des jeweiligen Grundmaßes führt zur extensiven bzw. intensiven Größe. Es lässt sich festlegen, dass die Anwendung der Kategorien der Quantität und Qualität notwendig ist, damit die Erscheinung als ein extensives und intensives Mannigfaltiges in sich enthaltene Einheit vorgestellt werden kann. Wir haben erwähnt, dass der Begriff „Einheit“ der Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Arbeit ist. Ihre sechs Arten sind der Leitfaden unserer Ausführungen. Die Einheit zwischen den Erscheinungen, welche die eine der beiden Arten der gegenständlichen Einheit ist, ist die erste Art. Wir haben sie als eine objektive zeitliche Einheit, deren zwei Modi Kant zufolge Folge und Zugleichsein sind,63 gekennzeichnet. Kant nennt sie die „dynamische“ Einheit.64 Die zweite Art, welche die andere Art der gegenständlichen Einheit ist, ist die Einheit in der einzelnen Erscheinung. Wie wir gerade gesehen haben, wird sie durch die Synthesis nach den Kategorien der Quantität und Qualität gestiftet. Sie wird also von Kant auf die synthetisierende Funktion bzw. Aktivität des Subjekts, welche sich durch die Anwendung der Kategorien der Quantität und Qualität ausdrückt, rückbezogen und ist nur als deren Korrelat möglich. Die Frage stellt sich, ob sie auch eine zeitliche Einheit ist. Die Antwort scheint dies bejahend ausgefallen zu sein. Die Anwendung der Kategorien ist Kant zufolge nichts anders als deren Versinnlichung, die Kant ausschließlich als die Verzeitlichung der Kategorien versteht. Deshalb bezeichnet er eine schematisierte Kategorie als eine transzendentale Zeitbestimmung: Das zeitliche Schema der Größe sei die Zahl und das zeitliche Schema einer Realität sei der Grad, wie die Zeit erfüllt wird.65 Aber, ist es nicht plausibler, die Zahl als eine transzendentale Bestimmung des Raums zu bezeichnen? Ist es nicht plausibler, dass diejenige Einheit im räumlichen Mannigfaltigen, welche durch eine Zahl ausgedrückt wird, nicht als eine zeitliche Einheit, sondern als eine räumliche Einheit verstanden wird? Wie wir oben ausgeführt haben, macht Kant deutlich, dass ein bestimmtes Maß von räumlicher Größe als „Grundmaß“ bzw. „Einheit“ dient, deren Iteration zu „Zahl“ bzw. „Vielheit“ führt. 63 A

182/B 226, B 224. 162/ B 201. 65 A 143/ B 183. 64 A

32

1

Kant und das Problem der Intentionalität …

Was das Schema einer Realität anbelangt, sind die Bedenken nicht weniger. Die Kantische Theorie verlangt zwei Arten von Material. Dasjenige Material, welches ein Stück Raum erfüllen kann, sind nicht die Empfindungen, sondern es ist das gegenständliche Material. Im Vergleich dazu können die Empfindungen nur die innere Zeit erfüllen. Im gegenwärtigen Kontext, in dem wir nicht über die Einheit der Vorstellung als solcher, d. h. die Konstitution der Vorstellung als solcher, sondern über die gegenständliche Einheit, d. h. über die Konstitution der Erscheinung reden, ist es berechtigt, den Grad nur als eine räumliche Bestimmung zu verstehen. Er bezeichnet also die Intensität, wie ein Stück Raum durch das gegenständliche Material erfüllt wird. Darauf werden wir noch zurückkommen, wenn wir im zweiten Kapitel über die Anwendbarkeit der Kategorien auf die Vorstellungen als solche diskutieren. Nach der vorstehenden Darstellung ist klar, dass die zweite Art in unseren sechs Arten Einheit vor allem mit räumlicher Bestimmung verbunden ist, während die erste eine objektive zeitliche Einheit ist. Kant teilt die die zweite Art Einheit stiftende Synthesis in die der „Aggregation und Koalition“ ein und nennt sie die „mathematische“ Einheit.66 Aber es ist nicht zu bestreiten, dass für die Schematisierung bzw. Versinnlichung der Kategorien der Quantität und Qualität die Zeit auch eine Rolle spielt. Die Iteration des Grundmaßes, verstanden als „extensive Einheit“, führt zu extensiver Größe. Durch die Iteration des Grundmaßes entsteht intensive Größe, wenn das Grundmaß als intensive Einheit verstanden wird. Jede Iteration setzt die Zeitlichkeit voraus. Kants konstitutive Deskription der Gegebenheit der Erscheinung zeigt also, dass die primitive Apprehension der Erscheinung bereits durch die Kategorien der Quantität und Qualität geregelt wird, d. h. normgemäss ist. Eine primitivere Erscheinung, nämlich eine Erscheinung ohne dergleichen kann nicht gegeben werden. Man erinnere sich der grundlegenden kantischen Unterscheidung: durch die Sinnlichkeit, vor allem durch den äußeren Sinn, wird der Gegenstand gegeben und durch den Verstand wird der Gegenstand gedacht bzw. bestimmt. Es ist plausibel, dass der bezügliche Gegenstand die Erscheinung ist. Kant nennt wie bekannt Erscheinung den unbestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauung. Aber in der Gegebenheit der Erscheinung haben der Verstand und einige von dessen Kategorien bereits eine Rolle gespielt. D. h., nicht nur der Gedanke bzw. die Erfahrung von Gegenständen im strengen Sinn ist Synthesis, sondern auch die schlichte Gegebenheit der einzelnen Erscheinung ist auch schon eine Leistung der Synthesis und zwar nach einigen Kategorien. Eine doppelt fungierende Synthesis

66 A

162/ B 201.

1.2 Die Einheit einer Erscheinung

33

findet sich also bei Kant. Je nach den verschiedenen Stufen der Konstitution der Gegenständlichkeit soll man sie entsprechend unterschiedlich verstehen.67 Im Zusammenhang kann man nur annehmen: Was Kant mit der Bezeichnung der Erscheinung als „dem unbestimmten Gegenstand der empirischen Anschauung“ wirklich meint, ist, dass die Erscheinung der nicht vollständig bzw. partiell bestimmte Gegenstand der empirischen Anschauung ist. D. h., die Erscheinung ist zwar bereits ein kategorial geformter Gegenstand, aber ihre Normhaftigkeit impliziert nur die minimale Anwendung von Kategorien. Die apriorische Bedingung der Gegebenheit der Erscheinung betrifft also nicht nur die transzendentale Ästhetik, sondern auch einen Teil der transzendentalen Analytik. Husserl bezeichnet die kantische These, dass der Verstand sich sowohl an der Konstitution des Sachverhalts als auch an der schlichten Gegebenheit der Erscheinung betätigt, als die „große Kantische Entdeckung“ vom „doppelt fungierenden Verstand“68 . Daraus ist zu entnehmen: Wenn man die verschiedenen Stufen der Konstitution des Gegenstands der Erfahrung bzw. dessen Konstitutionsschichten bei Kant in Erscheinung und Sachverhalt einteilt, darf man diese Teilung mit der kantischen Scheidung von transzendentaler Ästhetik und transzendentaler Analytik nicht einfach parallel setzen. Es lässt sich ferner feststellen, dass man die Sinnlichkeit und den Verstand bei Kant wie bei Husserl nicht streng oder „in schroffer Weise“ trennen darf, da sie, selbst in der Gegebenheit der sogenannten unbestimmten, nämlich schlichten und primitiven Erscheinung, ineinander überfließen. Aus der obigen Kantischen konstitutiven Deskription der Entstehung der Erscheinung ist es ersichtlich, dass der Kernpunkt von Kants Theorie der Intentionalität der primitiven Stufe darin besteht, dass in jedem Moment bzw. Augenblick das Grundmaß von räumlichem Inhalt, welches sowohl extensiv als auch intensiv verstanden werden soll, unmittelbar gegenständlich apprehendiert wird, bzw. dass die intentionale Korrelation zwischen der Apprehension bzw. dem Eindruck und dem Grundmaß von räumlichem Inhalt unmittelbar entsteht. Auf dieser Basis entsteht die Korrelation zwischen einer anschaulichen Vorstellung und einer solchen Erscheinung, die formlich über eine extensive und eine intensive Größe verfügt. Es ist auch ersichtlich, dass diese Korrelation sich von jener im ersten Paragraphen dieses Kapitels behandelten Korrelation, nämlich der zwischen der Erfahrung als synthetisierten Vorstellungen und dem Sachverhalt als der objektiven Gegenständlichkeit, unterscheidet und als deren Fundament fungiert. In 67 Vgl.: „[W]as er (sc. Kant) unter dem Titel der, Synthesis’ nicht nur mit einem Wort bezeichnet, sondern schon nach Stufen gliedert, ist ein theoretischer Anfang, der dazu berufen war, ein Keimpunkt für eine ganze Wissenschaft zu werden.“ Hua VII, Beil. XXI, S. 404. 68 Vgl.: Hua VI, Krisis, §§ 25, 28, S. 106.

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Kant und das Problem der Intentionalität …

Hinblick auf die beiden Arten von Korrelation führt Husserl aus: „Kant stößt auf die im Bewusstsein sich stufenweise aufbauende Intentionalität, in der eine äußere Gegenständlichkeit Gegenständlichkeit für das erfahrende und denkende Bewusstsein ist.“69 Das erfahrende Bewusstsein ist zuerst das apprehendierende Bewusstsein. Auf dem Boden der transzendentalen Analytik wird diese Korrelation zwischen der Apprehension und dem Grundmaß von räumlichem Inhalt selbst nicht befragt, sondern bloß vorausgesetzt. Kant kümmert sich darin also nicht darum, wie diese Korrelation überhaupt entsteht, sondern nur darum, was für ein räumlicher Inhalt als ein Korrelationsglied in die Korrelation eingeht. Anders ausgedrückt: Kant beschäftigt sich in seiner Erklärung der Konstitution der Erscheinung nur mit der Frage, wie wir einen Gegenstand mit solcher Form apprehendieren können. Die Voraussetzung dieser Problematik, dass wir überhaupt einen Gegenstand apprehendieren können, wird jedoch damit nicht erklärt. Das, was durch die kategoriale Synthesis erklärt werden kann, ist nur der formliche Aspekt der gegenständlichen Gegebenheit. Dass ich ein Mannigfaltiges als solches erfassen kann, bzw. dass ich einen Gegenstand mit einer extensiven und einer intensiven Größe erfassen kann, wird von Kant durch die kategoriale Synthesis bzw. Verbindung erklärt: „[I]n der Anschauung, […], kann es [sc. Mannigfaltiges] nur gegeben und durch Verbindung in einem Bewusstsein gedacht werden.“70 Die Synthesis kann jedoch nicht erklären, dass etwas Gegenständliches überhaupt gegeben werden kann, bzw. dass ich einen Gegenstand überhaupt anschauen kann. Keine Synthesis kann dazu führen, dass ein Verhältnis von Spaltung bzw. Korrelation entsteht, welches zum Wesen der Gegenständlichkeit als des Gegenüber-Seins gehört, weil das zu synthetisierende Material immer als ein konstitutives Moment innerhalb des durch die Synthesis entstandenen Gebildes besteht. Die Sachlage ist sowohl bei der durch die Kategorien der Relationen geregelten Synthesis als auch bei der durch die Kategorien der Quantität und Qualität geregelten Synthesis so. Im ersten Fall werden die Erscheinungen als die unbestimmten Gegenstände weiter als ein Sachverhalt bestimmt. Da die Erscheinungen von vornherein als gegenständlich betrachtet werden, ist es kein Problem, dass die Synthesis nicht dazu führen kann, von einer Seite auf die andere Seite überzugehen. Man bleibt von vornherein auf einer Seite, nämlich auf der gegenständlichen Seite. Im zweiten Fall ist es jedoch ein großes Problem, dass die Synthesis nicht dazu führen kann, von einer Seite auf die andere Seite überzugehen, weil man oft behauptet, dass die durch die Kategorien der Quantität 69 Hua 70 B

VII, Beil. XXI, S. 404. 135.

1.2 Die Einheit einer Erscheinung

35

und Qualität geregelte Synthesis die Empfindungen, welche nicht gegenständlich sind, als eine gegenständliche Erscheinung vereinheitlichen kann. Man hat nicht bemerkt, dass in diesem Prozess eine Überschreitung von einer Seite auf eine andere Seite geschehen muss, die jedoch durch die kategoriale Synthesis nicht geleistet werden kann. Die kategoriale Synthesis betätigt sich also nur an dem vorgegebenen gegenständlichen Material, anstatt dass sie die Gegenständlichkeit des Materials stiften würde. Anders gesprochen: Die Synthesis findet innerhalb des primitiven gegenständlichen Gebiets statt, anstatt dass sie dessen Gegenständlichkeit zuerst ermöglichen würde. Wie ist die gegenständliche Gegebenheit des Materials möglich? Dass wir unmittelbar etwas Räumliches als Gegenständliches apprehendieren können, weist darauf hin, worin die Erklärung zu finden ist.

1.2.3

Die gegenständliche Gegebenheit des Materials und die Räumlichkeit

Das Wesen der Intentionalität der Vorstellung besteht darin, dass die Vorstellung etwas als ihren Gegenstand vorstellen kann. Der Gegen-stand der Vorstellung ist also nicht die Vorstellung selbst oder „in“ ihr, sondern steht ihr gegenüber. Mit anderen Worten, die Intentionalität der Vorstellung ist die Fähigkeit bzw. Funktion der Vorstellung, sich selbst zu überschreiten und sich auf etwas Anderes und Äußerliches zu beziehen. Einen Gegenstand vorzustellen ist deshalb nichts anderes als Etwas-sich-gegenüber vorzustellen. Mit dem Anders-sein und Gegenüber-sein ist das gegenständliche Sein jedoch nicht erschöpft. Die Vorstellung bezieht sich gerade auf diesen Gegenstand und nicht auf jenen Gegenstand. Der Gegenstand steht also nicht jener Vorstellung, sondern gerade dieser Vorstellung gegenüber. Es muss zwischen der Vorstellung und ihrem Gegenstand ein innerlicher Zusammenhang bestehen, der macht, dass die Vorstellung gerade diesen Gegenstand vorstellt.71 Es lässt sich festlegen, dass man sowohl das äußerliche Gegenüber-Sein als auch diesen innerlichen Zusammenhang erklären muss, wenn man die Beziehung der Vorstellung zu etwas als ihrem Gegenstand zu erklären versucht. Der transzendentalen Ästhetik zufolge haben wir den äußeren Sinn. Durch den äußeren Sinn wird etwas räumlich apprehendiert. Dass die Vorstellung etwas räumlich vorstellt, bedeutet nichts anderes, als dass die Vorstellung etwas als äußerlich bzw. als anders als sie selbst vorstellt. Die Räumlichkeit als solche

71 Hua

XIX, Logische Untersuchungen, VI, § 25.

36

1

Kant und das Problem der Intentionalität …

impliziert also Äußerlichkeit, Anders-Sein und Gegenüber-Sein.72 Etwas räumlich vorzustellen, bedeutet folglich, etwas gegenständlich vorzustellen. Es ist wichtig zu beachten, „etwas räumlich vorstellen“ von „etwas Räumliches vorstellen“ zu unterscheiden. Mit dem ersten Ausdruck ist gemeint, dass die in Rede stehende Räumlichkeit nicht das Verhältnis zwischen verschiedenen Gegenständen bzw. verschiedenen Teilen eines Gegenstandes, sondern das Verhältnis zwischen Subjekt und Gegenstand angeht. Im Vergleich dazu bedeutet die Räumlichkeit im zweiten Ausdruck das Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilen eines Gegenstandes. Dem Unterschied zwischen den beiden Ausdrücken entspricht der zwischen „der Raum als die Form des Anschauens“ und „der Raum als das formliche Angeschaute“. Wir legen fest, dass die in Rede stehende Thematik der Räumlichkeit sich von einer anderen unterscheidet, welche in der „Transzendentalen Ästhetik“ auch behandelt wird. Hinsichtlich der Räumlichkeit werden die folgenden drei miteinander eng verbundenen Thematiken oft ausgeführt. Bei der ersten handelt es sich um die partielle bzw. perspektivische Gegebenheitsweise eines räumlichen Gegenstands, welche von Husserl als „Abschattung“ gekennzeichnet und von Kant nicht behandelt wird. Die zweite geht um die Räumlichkeit als Extension bzw. als Ausdehnung. Das ist einer der beiden Begriffe von Räumlichkeit in der „Transzendentalen Ästhetik“. Kants Darlegung zu diesem Begriff von Räumlichkeit hat zur Aufgabe, die Grundlage der Geometrie zu erklären. Der dritte bestimmt die Räumlichkeit als Gegenüber-Sein bzw. als „Außer mir“-Sein. Das ist der zweite Begriff von Räumlichkeit in der „Transzendentalen Ästhetik“, welchen wir mit kantischer Theorie von Gegenständlichkeit bzw. Intentionalität in Zusammenhang bringen. Deshalb würde Kant auf die Frage, wie wir etwas Gegenständliches überhaupt apprehendieren können, bzw. worauf die Korrelation zwischen der Apprehension und der Erscheinung als ihrem Gegenstand beruht, antworten: Wir haben den äußeren Sinn, dessen Form der Raum ist. D. h., durch den äußeren Sinn wird uns etwas räumlich gegeben und das Räumliche ist etwas vom Subjekt Unterschiedenes und ergo etwas Gegenständliches.73 Das durch den äußeren Sinn gegebene gegenständliche Material geht weiter in die synthetisierende Tätigkeit des Subjekts 72 Vgl.: „[…] the intuition of space is simply the form in which we represent the fact that an object is distinct from us and our own representations – as it were, outerness represents otherness.“ Guyer, Paul, The Postulates of Empirical Thinking in General and the Refutation of Idealism, a. a. O., S. 319. 73 Vgl.: „Der Raum beweiset eine Vorstellung, die nicht aufs Subjekt (als Gegenstand) bezogen wird; denn sonst würde es die Zeitvorstellung sein. Dass sie nun darauf nicht, sondern unmittelbar auf etwas vom Subjekt unterschiedenes als existierend bezogen wird, das (g ist) das

1.2 Die Einheit einer Erscheinung

37

ein. Ein räumlich gegebenes Material kann nichts anderes als ein gegenständliches Material sein. Es ist aber im Auge zu behalten, dass außer dem gegenständlichen bzw. räumlich vorgestellten Material zugleich etwas Nicht-Gegenständliches, nämlich die Empfindungsdaten durch den äußeren Sinn gegeben werden. Obwohl sie durch den inneren Sinn bewusst werden, zeigt ihre Gegebenheit durch den äußeren Sinn, dass sie nicht aus dem Gemüt selbst, sondern sozusagen „von außen“ herstammen. Man könnte annehmen, dass die Empfindungsdaten sich in das gegenständliche Material in der Erscheinung dadurch verwandeln würden, dass ihnen die räumliche Form verliehen würde, bzw. dass sie in der räumlichen Form geordnet würden. Aber diese Annahme ist irrtümlich. Die Empfindungen sind keine Komponente in der räumlichen Erscheinung. D. h. diejenigen Material-Komponenten, welche in der räumlichen Form geordnet werden, sind nicht die Empfindungen selbst. Es ist nicht plausibel, dass die Empfindungen in die räumliche Organisationsform eingehen würden und danach jedoch diese Form nicht haben bzw. miteinander nicht unter dieser räumlichen Ordnung stehen. Auch die Annahme, dass die Empfindungen durch ihr Einbezogensein im Raum das gegenständliche Material „werden“ und ergo nicht selbst die räumliche Form haben, muss abgelehnt werden. In meiner Wahrnehmung vom Tisch finde ich beispielsweise immer die Empfindungen als ihren Bestandteil. Sie sind immer da, anstatt zu verschwinden oder sich in etwas anderes zu verwandeln. Zusammengefasst: Wir haben daher zwei mögliche Thesen über die Gegebenheit der nicht-gegenständlichen Empfindungsdaten und des gegenständlichen Materials. Nach der einen werden die beiden zugleich gegeben. Nach der anderen ergibt sich das eine Material aus dem anderen, welches jedoch zugleich es selbst bleibt. Die erste These ist offensichtlich plausibler. Einen Gegenstand vorzustellen, ist Kant zufolge, etwas als außer mir und als anders als ich selbst vorzustellen. Das Außer-mir-Sein bzw. das Anders-als-selbstSein wird von Kant ferner damit identifiziert, „in einem andern Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde,“74 zu sein. D. h., die Beziehung der Vorstellung auf etwas von mir Verschiedenes wird aufgrund der räumlichen Relation zwischen dem vorstellenden Subjekt und dem vorgestellten Objekt erklärt. Der dem primitiven Vergegenständlichen zugrunde liegende Begriff von Räumlichkeit unterscheidet sich deutlich vom Begriff von Räumlichkeit als Extension

Bewusstsein des Objects als Dinges außer mir.“ (Kant, Reflexionen 5653, Kants gesammelte Schriften, AA, Band XVIII, S. 310.) 74 „damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden (d.i. auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde)“ (A 23/B 38)

38

1

Kant und das Problem der Intentionalität …

bzw. Ausdehnung, wie wir gerade erwähnt haben. Der letztere betrifft ausschließlich die eine Seite in der Beziehung bzw. Korrelation zwischen Vorstellung und Gegenstand, nämlich die gegenständliche Seite. Konkreter gesagt: Er betrifft die Form eines Gegenstandes der Anschauung bzw. dessen formliche Bestimmung. Der Raum ist in diesem Sinn selbst ein (reiner) Gegenstand der Anschauung. Kant zufolge ist der Raum als „die formale Anschauung“ von dem Raum als „d[er] Form der Anschauung“75 zu unterscheiden.76 Die formale Anschauung bzw. das formale Angeschaute entspricht der Räumlichkeit als Extension bzw. Ausdehnung. Der Raum als die Form der Anschauung ist der der primitiven Objektivierung zugrunde liegende Begriff von Räumlichkeit, welche die Beziehung bzw. Korrelation zwischen Vorstellung und Gegenstand selbst betrifft anstatt eines ihrer Glieder. Kant schreibt, „Der Raum ist nicht ein Gegenstand der Anschauung (ein Objekt oder dessen Bestimmung), sondern die Anschauung selbst, die vor allen Gegenständen vorhergeht“77 . Bevor etwas vergegenständlicht wird, kann also vom Gegenstand keine Rede sein. Die Räumlichkeit ist eben die Möglichkeitsbedingung dafür, dass etwas vergegenständlicht werden kann. Etwas als Gegenstand anzuschauen ist Kant zufolge nichts anderes als die Verschiedenheit zwischen Subjekt und dem Etwas zu stiften, d. h. das Etwas als ein Anderes anzuschauen. Sodann wird die Verschiedenheit anhand der räumlichen Relation zwischen Subjekt und dem Etwas verstanden. Die objektivierende Anschauung ist deswegen die Vorstellung des Raums selbst. Da sie das Gegenüber-Sein überhaupt möglich macht bzw. sie selbst das Gegenüber-Sein ist, geht sie allen Gegenständen, die ohne das Gegenüber-Sein keinen Sinn haben können, vorher. Es ist bemerkenswert, dass das Kantische vorstellende bzw. objektivierende Subjekt nicht bloßer „Geist“ ist. D. h. es hat einen Körper, der im Raum lokalisiert ist. Diese Verortung des verkörperten Subjekts im Raum ist ursprünglich unmittelbar gegeben. Sie ist die Basis, aufgrund derer andere Sachen erklärt werden, anstatt dass sie durch andere Sachen erklärt würde. Daher finden wir bei Kant die Keime der Diskussion von „embodiment“. Kant schreibt: „Vermittelst des äußeren Sinnes (einer Eigenschaft unsres Gemüts) stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im Raume vor.“78 Reinhard Brandt hat darauf hingewiesen, dass „das ‚und diese insgesamt‘ demnach die Gegenstände 75 B

161.

76 Vgl.: „Aber Raum und Zeit sind nicht bloß als Formen der sinnlichen Anschauung, sondern

als Anschauungen selbst (die ein Mannigfaltiges enthalten), also mit der Bestimmung der Einheit dieses Mannigfaltigen in ihnen a priori vorgestellt (siehe transz. Ästhet.)“ (B 160) 77 R 4673, Band XVII, S. 638. 78 A 22/ B 37.

1.3 Eine kantische Kritik am Husserlschen Modell der Intentionalität

39

außer uns und uns selbst als Wesen im Raum [umfasst].“79 Der Grund dafür ist deutlich: Ein Subjekt als bloßer Geist kann sich mit Gegenständen nicht in einem räumlichen Verhältnis befinden. Das kantische Modell der Intentionalität der Vorstellung erklärt dadurch die ursprüngliche Korrelation zwischen der Vorstellung und der Erscheinung, dass es sie auf die Tatsache, dass wir die beiden Sinne, nämlich den äußeren und den inneren Sinn haben, zurückbezieht. Ist diese Erklärung ausreichend? Die Frage muss verneint werden. Das kantische Modell kann jedes von den beiden Korrelationsgliedern als solches und deren Gegenüberstehen erklären. Wir haben jedoch erwähnt, dass in Hinblick auf die Thematik der Beziehung der Vorstellung auf ihren Gegenstand sowohl das Gegenüber-Sein als auch ihr innerlicher Zusammenhang erklärt werden müssen. Das kantische Modell kann nur das erstere erklären. Der innerliche Zusammenhang zwischen den nicht-gegenständlichen Empfindungen und der gegenständlichen Erscheinung bleibt bei dem kantischen Modell jedoch rätselhaft. Wir müssen weiter fragen: Warum kann die Vorstellung die Empfindungen überschreiten und sich auf diese zu einer anderen Ebene gehörigen Erscheinung beziehen? Warum bezieht die Vorstellung mit solchen Empfindungen sich gerade auf diese Erscheinung und nicht auf eine andere Erscheinung? Das Husserlsche Modell der Akt-Intentionalität kann als ein Versuch in diese Richtung verstanden werden. Aber der Versuch ist gescheitert. Das Husserlsche Modell übersieht einen vom kantischen Modell bereits eingesehenen Punkt, nämlich die Vorgegebenheit des gegenständlichen Materials.

1.3

Eine kantische Kritik am Husserlschen Modell der Intentionalität

Husserls Deskription der intentionalen Struktur der bloßen Wahrnehmung in den Logischen Untersuchungen und Ideen I zufolge werden die Empfindungen vom Subjekt gegenständlich gedeutet bzw. aufgefasst.80 Die Deutung bzw. Auffassung ist nichts anderes als „Sinngebung“. Dadurch, „dass die Empfindungen hier eine gegenständliche ‚Deutung‘ oder ‚Auffassung‘ erfahren“81 , wird ihnen ein 79 Brandt, Reinhard, Raum und Zeit in der „Transzendentalen Ästhetik“ der Kritik der reinen Vernunft, in: Großheim, Michael / Waschkies, Hans-Joachim (Hrsg.), Rehabilitierung des Subjektiven, Bonn: Bouvier Verlag 1993, S. 441–458, S. 444. 80 Hua XIX, Logische Untersuchungen, I und V, A 329/B 351, A 360/B 381, A 383/B 362, 1 1 1 A 364/B1 386. 81 Hua XIX, Logische Untersuchungen, V, A 370/B 392. 1

40

1

Kant und das Problem der Intentionalität …

„Sinn“ verliehen. Danach beschäftigt das Subjekt sich nicht mehr mit demjenigen, was es deutet, nämlich den nicht-gegenständlichen Empfindungen, sondern mit demjenigen, was durch die Deutung entstanden ist, nämlich der zu einer anderen Ebene gehörigen gegenständlichen Erscheinung, welche Husserl „raumzeitliches Phantom“ nennt. Die Überschreitung von den nichtgegenständlichen Empfindungen zur gegenständlichen Erscheinung soll also Husserl zufolge in der „Deutung“, „Auffassung“, „Sinngebung“, „Beseelung“ bzw. „Apperzeption“ der Empfindungsdaten bestehen,82 bzw. darin, dass ein „Sinn“, bzw. eine „Seele“ den Empfindungsdaten vom Subjekt gegeben werden soll. Nicht durch das Synthetisieren bzw. Verbinden, sondern nur durch das Deuten bzw. die Sinngebung sollen also Husserl zufolge die Überschreitung von einer Ebene zur anderen Ebene und der innerliche Zusammenhang zwischen den beiden Ebenen erklärt werden können. Dass die Erscheinung durch die Deutung bzw. Beseelung der Empfindungen entsteht, impliziert, dass einerseits die Erscheinung nicht die Empfindungen selbst, sondern anders als sie ist, dass andererseits die Erscheinung nicht nichts mit den Empfindungen zu tun hat, sondern eben durch die Deutung bzw. Beseelung dieser Empfindungen entstanden ist und ihnen deswegen korrespondiert. Den Empfindungen wird nicht jener „Sinn“, sondern dieser „Sinn“, bzw. nicht jene „Seele“, sondern diese „Seele“ verliehen. Deshalb beziehen sie sich nicht auf jene Erscheinung, sondern auf diese Erscheinung. Das Husserlsche Modell der Akt-Intentionalität, nämlich das Inhalt(Materie)-Auffassung(Deutung/Formung/Sinngebung)-Schema, hebt nicht nur den innerlichen Zusammenhang zwischen den Empfindungen und der Erscheinung hervor. Es scheint auch so zu sein, dass die Sinngebung besser die Heterogenität zwischen den Empfindungen und der Erscheinung und ergo die Überschreitung der Empfindungen erklären kann, als die Synthesis es tun kann. Dem Husserlschen Modell der Akt-Intentionalität zufolge ist die VorstellungErscheinung-Korrelation bzw. die Noesis-Noema-Korrelation dadurch entstanden, dass den Empfindungen ein Sinn verliehen wird. Es stellt sich jedoch die Frage: Wie lässt sich die Zugehörigkeit dieses Sinns bestimmen? Wo ist dieser Sinn lokalisiert, nachdem der Sinn den Empfindungen gegeben worden ist? In der Vorstellung bzw. den Empfindungen oder in deren gegenständlichem Korrelat, nämlich der Erscheinung? Die Antwort lautet offensichtlich: In der Erscheinung. Zum Beispiel, ich sehe eine rote Rose. Es ist widersinnig zu sagen, dass meine 82 Vgl.: „Individuelle, raumdingliche Gegenstände konstituieren sich durch ‚Auffassung‘, ‚Apperzeption‘ von Empfindungsdaten.“ Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchung zur Genealogie der Logik, redigiert und herausgegeben von Ludwig Landgrebe, Hamburg: Claassen Verlag 1954, S. 305.

1.3 Eine kantische Kritik am Husserlschen Modell der Intentionalität

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Empfindungen rot und rose-lich sind, bzw. dass sie den Sinn von „Rot“ und „Rose“ haben. Stattdessen ist ihr „Gegenstand“ rot und rose-lich, d. h. hat den Sinn von „Rot“ und „Rose“. Wie ist es zu verstehen, dass einerseits den Empfindungen ein Sinn gegeben bzw. verliehen wird, dass andererseits der Sinn danach jedoch nicht zu den Empfindungen gehört? Wie ist es zu erklären, dass einerseits die Empfindungen beseelt werden, dass andererseits die „Seele“ jedoch danach nicht den Empfindungen, sondern ihrem Gegenstand, bzw. ihrem Korrelat, nämlich der Erscheinung gehört? Wie ist es möglich, dass die Empfindungsdaten kein zur Erscheinung gehöriges konstitutives Moment sind83 , welche jedoch dadurch gestaltet worden sei, dass der Sinn als Form den Empfindungsdaten als Materie verliehen werde? Der Widerspruch zeigt, dass die Deutung bzw. Sinngebung wie die Synthesis nicht in der Lage ist, das Verhältnis von Gegenüber- und Gespalten-Sein bzw. die Überschreitung von einer Seite auf die andere Seite zu stiften. D. h. keine von ihnen kann zur ursprünglichen Gegenständlichkeit führen. Dasjenige, was synthetisiert bzw. verbunden wird, muss ein Bestandteil dessen sein, was durch die Synthetisierung bzw. Verbindung entstanden ist, wie wir ausgeführt haben. Das impliziert, dass das bloße Synthetisieren bzw. Verbinden nie zum Gegenüberund Spaltungs-Verhältnis führen kann. Wie dargelegt wird das Gegenüber-Sein in der Beziehung der Vorstellung auf ihren Gegenstand im kantischen Modell der Intentionalität in der Tat nicht durch das Synthetisieren, sondern durch die Räumlichkeit erklärt. Das Material im kantischen Modell der Intentionalität als „Materie-Synthesis-Schema“ ist deswegen nicht die Empfindungen in der Vorstellung, sondern das gegenständliche räumliche Material in der Erscheinung. Ebenso ist es im Fall der Deutung bzw. Sinngebung. Dasjenige, was gedeutet wird bzw. dem ein Sinn gegeben wird, muss „in“ dem durch diese Deutung bzw. Sinngebung entstandenen Gebilde enthalten sein. Es kann also dem Gebilde nicht gegenüberstehen. Es ist nur plausibel anzunehmen, dass dasjenige Material, welchem ein Sinn durch die Deutung gegeben wird und welches deswegen „beseelt“ und aufgefasst wird, nicht die Empfindung in der Vorstellung, sondern das gegenständliche Material in der Erscheinung ist. Die Erscheinung ist eben das durch die Sinngebung entstandene Gebilde. Es ist also entscheidend zu beachten, dass die nicht-gegenständlichen Empfindungsdaten beispielsweise nicht als das „Haus“, sondern nur als die Vorstellung vom Haus aufgefasst werden können.84 Im Vergleich dazu kann das mannigfaltige gegenständliche Material als das Haus 83 Vgl.: „In die konstituierte Raumwelt gehören die Empfindungsdaten nicht hinein, weder sie selbst noch ihre inhaltlichen oder zeitlichen Bestimmungen.“ Ebd., S. 306. 84 An einer Stelle (Hua XIX, LU, B 236) wird fälschlicherweise ausgeführt, dass die bezüg2 lichen Empfindungen als das Haus aufgefasst werden. Aber einiger Seiten später (A 715/ B2

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Kant und das Problem der Intentionalität …

aufgefasst werden. Wir dürfen feststellen: Wie das kantische Modell muss das Husserlsche Modell auch zwei Arten von Material voraussetzen. Die These, dass dasjenige Material, dem der Auffassungssinn gegeben wird, das also beseelt und aufgefasst wird, nicht die Empfindungen sein können, wird durch folgende Textbeweise gestützt: 1. Dadurch, dass dem Material ein Sinn gegeben wird, soll die gegenständliche Erscheinung als das intentionale Objekt entstehen. Aber Husserl bezeichnet die einheitliche Komplexion von Empfindungen und Auffassungssinn als „Repräsentation“85 . Die Repräsentation, welche Husserl zufolge ein reeller Bestandteil der Vorstellung ist, kann offenkundig mit dem intentionalen Objekt der Vorstellung nicht identifiziert werden, weil ihr Objekt als ihr intentionales Korrelat keineswegs reell in ihr enthalten ist. Anstatt selbst das Objekt zu sein, ist sie Repräsentation des Objekts und korrespondiert dem Objekt. 2. Wenn der Auffassungssinn den Empfindungen gegeben würde, müssten sie danach den Auffassungssinn haben. Husserl macht es doch deutlich, dass der Auffassungssinn zur noematischen Seite in der Korrelation von NoesisNoema gehört.86 Im Vergleich dazu gehören die Empfindungen zur noetischen Seite und sind mit dem Vorstellungsakt zu einer innigsten Einheit verwoben. Nach Husserl sind die Empfindungsdaten „Repräsentant“ des Noema, nämlich der Erscheinung im Vorstellungsakt. Die eine und selbe Erscheinung kann zu verschiedenen Zeiten viele Repräsentanten als „Vertreter“ haben, die sich miteinander aufgrund ihrer temporalen Intervalle nie identifizieren können. Folglich schließt die Annahme, dass die Empfindungsdaten zur noematischen Seite gehören, d. h. Bestandteil in der Erscheinung wären, die Möglichkeit aus, dass eine und dieselbe Erscheinung zu verschiedenen Zeiten angeschaut werden kann. Es ist jedoch wohl denkbar, dass das gegenständliche Material zur noematischen Seite gehört. Es wird dadurch aufgefasst und beseelt, dass ihm ein Sinn gegeben wird. 244) schreibt Husserl, dass die betreffenden Empfindungen „sich zum Bewusstsein vom Bildobjekt ausgestalten, sind reelle Bestandstücke dieses Bewusstseins“. Sie werden also jedoch nicht als das Bildobjekt selbst, sondern als seine Vorstellung aufgefasst. Deshalb sind sie keine reellen Bestandstücke des Objekts, sondern reelle Bestandstücke seiner Vorstellung. 85 Hua XIX, LU, A 563/ B 91. 2 86 Vgl.: „The intentional matter is what Husserl will call in the Ideas I the noematic nucleus als distinguished from the full noema.“ Mohanty Jitendrannath, The Concept of Intentionality, St. Louis: Warren H. Green 1972, S. 75. Mit „intentional matter“ ist keine der zwei Arten von Material, sondern der Auffassungssinn gemeint. „noematic nucleus“ gehört offensichtlich nicht zur noetischen, sondern zur noematischen Seite. Vgl. auch: „[D]as jeweilige noematische Korrelat ‚ist‘ noch nicht ohne weiteres der idealidentische Sinn, sondern impliziert bzw. ‚hat‘ ihn bloss“. Bernet, Rudolf, Husserls Begriff des Noema, in: Jsseling, Samuel (Hrsg.), Husserl-Ausgabe und Husserl-Forschung, Dordrecht u. a.: Kluwer Academic Publishers 1990, S. 61–80, S. 76.

1.3 Eine kantische Kritik am Husserlschen Modell der Intentionalität

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Und danach hat es diesen Sinn. Mit Recht hält Mohanty die Bezeichnung der Empfindungen als „Auffassungsinhalt“ für sehr bedenklich, „for the term ‚Auffassungsinhalt‘ may lead one to suppose that it is this content that is being apprehended in the act which however is not the case: what is being apprehended is the intentional object.“87 Wir nehmen an, dass nicht das nicht-gegenständliche Material in der Vorstellung, nämlich die Empfindung, sondern das gegenständliche Material im Objekt aufgefasst wird. Durch diese Auffassung wird das Objekt gebildet. Deshalb kann man auch sagen, dass das Objekt dadurch apprehendiert wird.88 Im sogenannten Materie-Form-Schema handelt es sich also bei Husserl wie bei Kant nur um die noematische Seite, nämlich die gegenständliche Seite in der intentionalen Korrelation zwischen Vorstellung und Gegenstand. D. h. das Materie-Form-Schema ist kein Erklärungsmodell für die Korrelation, sondern nur ein Erklärungsmodell für ein Korrelationsglied. Dasjenige Schema, welches diese Vorstellung-Gegenstand-Korrelation erklären kann, ist bei Kant nicht das „gegebener Inhalt – subjektive Form“ – Schema, sondern das „gegebener Inhalt1 (Empfindungen) – gegebener Inhalt2 (gegenständliches Material) / subjektive Form“ – Schema und bei Husserl nicht das „sensuelle Hyle – intentionale Morphe“ – Schema, sondern das „sensuelle Hyle – gegenständliche Hyle / intentionale Morphe“ – Schema. Seien wir genauer. Der Gegenstand ist nicht bloß das gegenständliche Material, sondern dessen vereinheitlichtes Gebilde. Eine Formung des gegenständlichen Materials ist also für die Gegebenheit des Gegenstandes erforderlich. Die Vorstellung ist ebenso nicht bloß die Empfindung, sondern das Gebilde der Vereinheitlichung der Empfindungen. Seine Bildung verlangt also eine eigene Formung der Empfindungen. Daraus ist zu entnehmen, dass auf jeder Seite der Vorstellung-Gegenstand-Korrelation ein „Materie / Form“ – Schema bestehen muss. Das Modell, welches die Vorstellung-Gegenstand-Korrelation erklären kann, muss bei Kant als „gegebener Inhalt1 (Empfindungen) / Synthesis1 – gegebener Inhalt2 (gegenständliches Material) / Synthesis2 “ – Schema und bei Husserl als „sensuelle Hyle / Synthesis – gegenständliches Material / intentionale Morphe“ – Schema bezeichnet werden. Wir müssen jedoch daher wiederholt betonen, dass diejenige Synthesis, welche (indirekt) zur Formung bzw. Vereinheitlichung der Empfindungsdaten führt, eben dieselbe Synthesis ist, die sich unmittelbar am 87 Mohanty,

Jitendranath, The Concept of Intentionality, a. a. O., S. 70.

88 Husserl hat tatsächlich auf die Annahme des von den Empfindungen unterschiedenen gegen-

ständlichen Stoffs hingewiesen. Vgl.: „Man mag allenfalls sagen, dass die erscheinenden Dinge als solche, die bloßen Sinnendinge, aus analogem Stoff konstituiert sind, als welchen wir als Empfindungen zum Bewusstseinsinhalt rechnen.“ (Hua XIX, LU, A 706/B2 234)

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gegenständlichen Material betätigt und es als eine einheitliche Erscheinung konstituiert. Die Vorstellung verdankt ihrer Korrelation zur einheitlichen Erscheinung ihre Einheit. Die Einheit der Vorstellung ist also auf die Einheit der Erscheinung als ihres Korrelates angewiesen. Wie dies zu verstehen ist, ist das Thema des ersten Paragraphen des zweiten Kapitels. Iso Kern hat darauf hingewiesen, dass Husserl in der Synthesis das Moment der „Thesis“ hervorhebt, „während bei Kant der Akzent allein auf dem ‚syn‘, auf dem Verbinden liegt.“89 Damit meint Kern, dass Kant mit seiner Bezeichnung der Synthesis als „Zusammensetzung“ das Moment „Syn-“ in der „Synthesis“ betont und Husserl mit seiner Bezeichnung der Synthesis als „Sinngebung bzw. Deutung“ das Moment „-thesis“ in der „Synthesis“ hervorhebt. Diesen beiden verschiedenen Charakteristiken der Synthesis entsprechen die zwei Arten von Synthesis bzw. von deren Leistung, deren eine in der Gestaltung der Vorstellung und deren andere in der Gestaltung des Gegenstandes funktioniert. Diejenige Synthesis, welche die mannigfaltigen Empfindungen in die Vorstellung vereinheitlicht, kann ersichtlich nicht als eine Sinngebung, Auffassung oder Deutung, sondern nur als eine Zusammensetzung oder Zusammenstellung verstanden werden. In diesem Zusammenhang betont Husserl: „[N]icht jede Konstitution hat das Schema Auffassungsinhalt-Auffassung.“90 Da er unter „Auffassung“ ausschließlich „Deutung“ bzw. „Sinngebung“ versteht, kann das Konstitutionsschema nicht auf diese in Rede stehende Seite, nämlich nicht auf die Konstitution der Vorstellung als solche angewendet werden. Mit anderen Worten, diejenige Synthesis, welche die Vorstellung als solche bildet, ist Husserl zufolge nicht von der Art „Deutung bzw. Sinngebung“. Durch diese Synthesis wird dem Mannigfaltigen kein Sinn gegeben. Das Mannigfaltige wird bloß als „Teilen“ verstanden und durch die Synthesis als ein „Ganzes“ zusammengesetzt. Es ist aber im Auge zu behalten, dass die in Rede stehende Differenzierung sich nicht auf die Synthesis als solche, sondern auf die Art und Weise, wie die Synthesis fungiert, bezieht. Eine und dieselbe Synthesis kann sich unmittelbar nur auf der gegenständlichen Seite bestätigen. Aber diese Tätigkeit hat auf der Seite der Vorstellung eine Nebenwirkung. Darauf werden wir im zweiten Kapitel noch zurückkommen. Die Sachlage auf der anderen Seite der bezüglichen Korrelation, nämlich auf der Seite der Gegenstands-Gestaltung ist ganz anders, wo dieses Schema „Auffassungsinhalt-Auffassung“ jedoch gilt. Das gegenständliche Material wird dadurch vereinheitlicht, dass ihm ein Sinn verliehen wird, bzw. dass es als so 89 Kern,

Iso, Husserl und Kant, a. a. O., S. 249. V, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2013, S. 7, Anm. 90 Hua

1.3 Eine kantische Kritik am Husserlschen Modell der Intentionalität

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und so bestimmtes etwas gedeutet wird. Es lässt sich feststellen, dass die weit verbreitete Gleichsetzung des Husserlschen Modells der Intentionalität „Noesis/Noema“ mit dem Modell „Materie/Form“ bzw. „Inhalt/Auffassung“ abgelehnt werden muss. In der Tat besteht sowohl auf der noetischen Seite als auch auf der noematischen Seite ein eigenes „Materie / Form“ – Modell. D. h. wir haben nicht nur das Problem der Konstitution des Gegenstandes, sondern auch das der Konstitution der Vorstellung, von denen jedes ein eigenes „Materie / Form“ – Modell verlangt. Das jeweilige Material ist selbstverständlich anders. Ebenso ist die jeweilige Form. Die Sachlage ist bei Kant nicht anders. Es ist bei Kant nicht von einer Art „Materie/Form“, sondern von zwei Arten „Materie/Form“ die Rede. Wir werden das Verhältnis zwischen den beiden Arten von formender Synthesis konkret im zweiten Kapitel betrachten. Da es sich im ersten Kapitel grundsätzlich um die Konstitution des Gegenstandes handelt und die Konstitution der Vorstellung als solcher ausführlich im zweiten Kapitel behandelt wird, nennen wir das Husserlsche Modell der Akt-Intentionalität einfach das „Materie / Sinngebung“ – Modell und das Kantische das „Materie / Synthesis“ – Modell, wenn wir im folgenden Teil des ersten Kapitels die beiden Modelle miteinander vergleichen. Angesichts dessen, dass die Korrelation der nicht-gegenständlichen Empfindungen zur gegenständlichen Erscheinung bzw. die Überschreitung der ersteren auf letztere weder durch die Synthesis noch durch die Deutung bzw. Sinngebung erklärt werden kann, kann man nur annehmen, dass die Korrelation-Struktur zwischen Vorstellung und Erscheinung, in Husserlscher Terminologie zwischen Noesis und Noema, eine nicht-zurückziehbare Faktizität ist. Sie ist einfach vorgegeben und kann nicht erklärt werden. Diese Korrelation-Struktur fungiert als die letzte Basis, auf welcher alle anderen Sachen erklärt werden. Dies schließt jedoch nicht aus, dass jedes Glied der Korrelation seine eigene beschreibbare Struktur und eigene konstitutive Momente hat, dass man seine Konstitution statisch und genetisch beschreiben kann. Aber diese konstitutive Beschreibung bzw. Erklärung eines jeden Korrelationsglieds ist keine Erklärung der Korrelation selbst. Sie ist einfach da und unerklärbar. Die ursprüngliche Korrelation bzw. Spaltung von Subjekt und Objekt ist das vorgegebene Fundament, auf dem die Synthesis oder Sinngebung erst etwas erklären kann. Sie kann das Fundament jedoch nicht erklären. Aus der Perspektive der kantischen Theorie kann man sagen, dass wir einfach die beiden Arten von Bewusstsein, nämlich den äußerlichen Sinn und den inneren Sinn haben. Durch das erstere wird das eine Glied der Korrelation, nämlich die Erscheinung, und durch das letztere das andere Glied, nämlich die Vorstellung,

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bewusst bzw. angeschaut.91 Der äußerliche Sinn kann allein nicht leisten, dass etwas als ein Gegenstand vorgestellt wird. Die Form des äußerlichen Sinnes, nämlich die Räumlichkeit soll erklären, dass etwas Äußerliches und Anderes gegeben wird. Aber wir müssen genauer sein. Warum kann ich sagen, dass das Etwas anders ist? Womit vergleiche ich es? Ich vergleiche es mit mir selbst: es ist anders als ich selbst; es ist nicht ich selbst; stattdessen steht es mir gegenüber. Ein Gegenstand steht also immer etwas gegenüber. D. h. das gegenständliche Bewusstsein impliziert das Selbstbewusstsein. Zwischen meiner Vorstellung und ihrem Gegenstand unterscheiden zu können, setzt voraus, dass jedes von den beiden bewusst werden muss. Deshalb muss die Vorstellung, gegenüber der der Gegenstand steht, auch bewusstwerden. Das ist eben die Leistung des inneren Sinnes, obwohl er das allein nicht schaffen kann, wie wir noch sehen werden. Es lässt sich zusammenfassen: Damit ein Gegenstand vorgestellt wird, genügt es nicht, dass das Subjekt über einen äußeren Sinn, dessen Form Raum ist, verfügt, es muss darüber hinaus einen inneren Sinn haben. Wir haben im ersten Teil des Kapitels ausgeführt, dass die Wirklichkeit bzw. das Dasein als die Gegenständlichkeit höherer Stufe, nämlich als die des Sachverhaltes, vor allem auf den Verstand angewiesen ist. Es lässt sich daher feststellen, dass nicht der Verstand, sondern die Sinnlichkeit diese primitivere Gegenständlichkeit der Erscheinung bzw. des in ihr enthaltenen Materials stiftet. Anstatt der Synthesis des Verstandes ist nur die Sinnlichkeit in der Lage, die ursprüngliche Korrelation bzw. Spaltung zwischen Subjekt und Objekt zu leisten. Die Synthesis des Verstandes kann also nur die Form der Erscheinung erklären. Die Gegenständlichkeit ihres Materials, welche vor aller Verstandestätigkeit bereits gestiftet worden ist, beruht auf der Funktion der Sinnlichkeit. Dies zeigt, dass die Funktion der Sinnlichkeit sich in Hinblick auf die Konstitution der Gegenständlichkeit nicht in der Funktion des Verstandes auflösen lässt.

1.4

Die Vorzüge des Husserlschen Modells

Das Husserlsche Modell der Akt-Intentionalität „Inhalt (Materie) / Deutung (Sinngebung)“ -Schema hat die gegenständliche Gegebenheit des zu formenden Materials übersehen, die das kantische Modell „Inhalt (Materie) / Synthesis“ – Schema eingesehen hat. Jedoch verfügt das Husserlsche Modell selbst gegenüber 91 Demnach ist offensichtlich nicht zu bestreiten, dass der Verstand unmittelbar in der Gegebenheit der Erscheinung auch eine Rolle spielt, wie wir ausgeführt haben. Was für eine mittelbare Rolle der Verstand in der Bewusstheit der Vorstellung spielt, werden wir im zweiten Kapitel betrachten.

1.4 Die Vorzüge des Husserlschen Modells

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dem kantischen Modell über drei Vorzüge. Dasjenige Material, das synthetisiert wird bzw. dem ein Sinn gegeben wird, müssen beide Modelle von vornherein für gegenständlich halten und es deswegen vom nichtgegenständlichen Material in der Vorstellung, nämlich von den Empfindungen, unterscheiden. Die Gegenständlichkeit des zu formenden Materials wird also von beiden Modellen als eine Vorgegebenheit vorausgesetzt. Dem Husserlschen Modell zufolge wird das Material durch die Deutung bzw. Sinngebung als die Erscheinung gebildet. Das Material mag an sich mannigfaltig sein. Aber nach der Deutung bzw. Sinngebung ist es als die Erscheinung ein einheitliches Ganzes. Eine bedeutungsstiftende Aktivität ist notwendig eine einheitsstiftende Aktivität. Das impliziert, dass die Deutung bzw. Sinngebung eine Synthesis in sich enthält. In gewissem Sinn ist sie selbst eine Synthesis.92 Wir haben erwähnt, dass Kant mit seiner Bezeichnung der Synthesis als „Zusammensetzung“ das Moment „Syn-“ in der „Synthesis“ betont und Husserl mit seiner Bezeichnung der Synthesis als „Sinngebung bzw. Deutung“ das Moment „-thesis“ in der „Synthesis“ hervorhebt. Die in der Synthesis enthaltene „Thesis“ ist ersichtlich eng mit jener Deutung bzw. jenem gegebenen Sinn verbunden. Der erste Vorzug des Husserlschen Modells besteht also darin, dass es das kantische Modell in sich enthält. Dass jedes der beiden Modelle ein verschiedenes Moment in der Synthesis hervorhebt, führt direkt zum folgenden zweiten Vergleich. Dass ein Gegenstand überhaupt vorgestellt wird, wie ausgeführt, kann durch die Synthesis nach Kategorien nicht erklärt werden. Was dadurch erklärt werden kann, ist, was für ein Gegenstand gegeben wird, bzw. was für eine Form der gegebene Gegenstand hat. D. h., es geht darin nur um die formale Bestimmung des Gegenstands. Aber ein Gegensand hat nicht nur die formale Bestimmung, sondern auch die materiale bzw. inhaltliche Bestimmung. Wir können direkt fragen: Was ist der Gegenstand? Was sind seine Eigenschaften? Diese Fragen unterscheiden sich von den Fragen: Wie groß ist er? Wie intensiv ist seine Farbe? Welche Ursache hat er? Die „Was“-Bestimmung betrifft die in Rede stehende materiale bzw. inhaltliche Bestimmung, welche eng mit dem gegebenen „Sinn“ verbunden ist. Die materiale bzw. inhaltliche Bestimmung darf mit demjenigen gegenständlichen Material, das synthetisiert wird bzw. dem ein Sinn gegeben wird, offensichtlich nicht gleichgesetzt werden. Das Husserlsche „Materie / Sinngebung“ – Schema hat folglich den zweiten Vorzug: Es kann sich auch um die materiale bzw. inhaltliche Bestimmung des Gegenstands kümmern. Im Vergleich dazu scheint das 92 Vgl.: „Alle Gegenstände sind nach Husserl synthetische Einheiten: Sie haben ihren Sinn aus irgendeiner Synthesis; sie sind synthetische Einheiten, weil sie als objektiv seiende immer Identitäten mannigfaltiger Intentionalitäten sind. Korrelativ liegt in allen Bewusstseinserlebnissen Synthesis;“ Kern, Iso, Husserl und Kant, a. a. O., S. 248.

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Kant und das Problem der Intentionalität …

Kantische „Materie / Synthesis“ – Schema unfähig zu sein, den Was-Gehalt des Gegenstands zu behandeln. Die mannigfaltigen Gegenstände können die gleichen formlichen Bestimmungen haben. Aber ihre inhaltlichen Bestimmungen sind sehr unterschiedlich. In Hinsicht auf die letztere Bestimmung scheint das kantische Modell nichts zu sagen zu haben. Kants Vernachlässigung der Seite der Sinnstiftung in der Intentionalität ist nicht ohne Konsequenz. Der in Rede stehende Vergleich zwischen dem Kantischen „Materie / Synthesis“ – Schema und dem Husserlschen „Materie / Sinngebung“ – Schema macht dies auch deutlich: 1. Man kann bei Kant nur eine formale Ontologie finden. Die materiale Ontologie muss außerhalb der kantischen Problematik bleiben und ist nur im Rahmen des Husserlschen Schemas zugänglich. 2. Kant kann in Hinblick auf die Konstitution von Gegenständlichkeit nur die statische Analyse ausüben. Die genetische Konstitution von Gegenständlichkeit kann im Rahmen des Kantischen „Materie / Synthesis“ – Schemas nicht erfragt werden. Das Schema behandelt nur die formale Struktur von Gegenständlichkeit und nur diese. Da diese formale Struktur, welche bekanntlich bei Kant durch die Kategorien ausgedrückt wird, fest, fertig und unverändert ist, bleibt für Kant nichts übrig, als diese feste, fertige und unveränderte Struktur statisch zu beschreiben. An dieser Kantischen formalen Struktur fehlt also die Zeitlichkeit bzw. Geschichtlichkeit. Obwohl die materialen Bestimmungen des Objektes, konkreter gesagt, der Zusammenhang zwischen der Was-Bestimmtheit im Objekt bzw. seinen Was-Gehalten, vor allem ihre Verträglichkeit, auch bei der kantischen Konstitution des Objekts eine Rolle spielt, gehört diese Verträglichkeit nicht zur genetischen Konstitution im eigentlichen Sinn. D. h., sie ist auch nur eine Problematik der statischen Konstitution. Bei der genetischen Konstitution handelt es sich um den Zusammenhang zwischen den Sinnen im speziellen Sinn: Wie können die vormals gestifteten Sinne jede aktuelle Sinnstiftung mitbestimmen? Mit anderen Worten, in der genetischen Konstitution wird die „Sinngeschichte“ befragt.93 Da das kantische Schema den Was-Gehalt des Objekts nicht behandeln kann, muss die Problematik der genetischen Konstitution Kant unzugänglich bleiben. Dem kantischen Modell zufolge ist die Erscheinung durch die Synthetisierung bzw. Verbindung des gegenständlichen Materials entstanden. Deshalb soll die Erscheinung auf das Material reduzierbar sein, weil die Synthesis bzw. Verbindung immer die Möglichkeit der umgekehrten Richtung, nämlich die der 93 Vgl.: „Zeitliche Konstitution ist mithin nicht bloß Konstitution während einer Zeitspanne, sondern sie ist zeitlich wesentlich darin, dass zumal früher Geleistetes mit eingeht in gegenwärtige Konstitution. Erst darin ist sie genetische Konstitution.“ Ströker, Elisabeth, Intentionalität und Konstitution. Wandlung des Intentionalitätskonzepts in der Philosophie Husserls, in: Dialectica 38/2-3 (1984), S. 191–208, hier S. 202.

1.4 Die Vorzüge des Husserlschen Modells

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Reduktion impliziert. Aber es ist tatsächlich nicht ersichtlich, dass die Erscheinungen, welche inhaltlich sehr unterschiedlich sind, auf das gleiche Material reduziert werden können. Husserl betont, dass die Auffassung bzw. Deutung selbst sich nie und nimmer auf die Empfindungen reduzieren lässt.94 Wir können ferner sagen, dass sie auch nicht auf ein gegenständliches Material reduziert werden kann. Die Annahme, dass es so viele Arten von gegenständlichem Material wie Arten von Erscheinung geben könnte, kann einerseits die Sachlage nicht verbessern. Sie hat das Problem nicht gelöst, sondern nur auf einer anderen Weise formuliert. Anders ausgedrückt: Es ist nur ein Schein, dass sie eine Erklärung bietet. Aber in der Tat enthält sie dasselbe Problem wie das, was sie zu erklären versucht, in sich. Deshalb kann man auch sagen, dass sie das zu lösende Problem nur verschoben hat. Die Annahme, dass es viele Arten von Material gebe, widerspricht andererseits der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs „Material“. Er wird originär im Gegensatz zum Begriff „Form“ konzipiert. Es ist letztere, welche dazu dienen soll, die Vielfältigkeit der Gegenstände zu erklären. Dem Husserlschen Modell zufolge wird die Erscheinung dadurch konstituiert, dass dem Material ein „Sinn“ gegeben wird. Die Unmöglichkeit, die Erscheinung auf das Material zu reduzieren, kann deshalb durch die Heterogenität zwischen Material und Sinn garantiert werden. Das ist der dritte Vorzug des Husserlschen Modells. Weil der identische Sinn in einer Vielheit von Bewusstseinsakten bzw. Vorstellungen den (gegenständlichen) Sinnesdaten gegeben werden kann, können die verschiedenen Vorstellungen eine und dieselbe Erscheinung vorstellen. D. h. jede von ihnen kann die Sinnesdaten als dasselbe Etwas auffassen, bzw. ihnen denselben Was-Gehalt verleihen. Mit dem Husserlschen „Materie / Sinngebung“ – Modell kann also das Bewusstsein der Identität des wahrgenommenen Gegenstands eindeutig erklärt werden. In diesem Zusammenhang, behauptet Aron Gurwitsch, werde die Unzulänglichkeit des Kantischen „Materie / Synthesis“ – Modells bloßgelegt, weil es vor solchen Problemen des Bewusstseins der Identität des wahrgenommenen Gegenstandes versagen soll. Konkreter gesagt: Mit dem kantischen Modell konnte nicht das Bewusstsein der Identität des wahrgenommenen Gegenstandes, sondern nur das Bewusstsein der Gleichheit der wahrgenommenen Gegenstände erklärt werden. Die Erscheinung werde dem kantischen Modell zufolge, meint Gurwitsch, dadurch gebildet, dass die Empfindungen durch die identische synthetische Tätigkeit und zwar nach den identischen Kategorien geformt werden. Da die jeweiligen Empfindungen niemals identisch

94 Hua

XIX, LU, A 361/B2 381.

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Kant und das Problem der Intentionalität …

bleiben, kann die gebildete Erscheinung aufgrund der gleichen Form mit einer anderen Erscheinung höchstens gleich, aber nicht identisch sein.95 Aber dieser Vorwurf Gurwitschs ist nicht gerechtfertigt. Wir haben ausgeführt, dass dasjenige Material, welches durch die identische synthetische Tätigkeit des Subjekts nach Kategorien vereinheitlicht wird und deswegen ein konstitutives Moment im dadurch entstandenen Gebilde, nämlich in der Erscheinung ist, nicht die nicht-gegenständlichen Empfindungen, sondern das gegenständliche Material, d. h. das räumliche Material ist. Die Empfindungen sind ihrer Eigenheit nach niemals identische Sinnesdaten. Aber dies schließt nicht aus, dass die durch temporale Intervalle unterschiedenen Empfindungen dem identischen gegenständlichen räumlichen Material korrespondieren können. Hinsichtlich des identischen gegenständlichen Materials und der durch die identische synthetische Tätigkeit des Subjekts gestifteten Form kann man sagen, dass auch das Bewusstsein der Identität der Erscheinung als des wahrgenommenen Gegenstands mit dem Kantischen „Materie / Synthesis“ – Modell erklärt werden kann. Man mag einwenden, dass kein Grund zu der Annahme besteht, dass das gegenständliche Material identisch gegeben werden kann. Es ist jedoch ersichtlich, dass das Husserlsche „Materie / Sinngebung“ – Modell wie das Kantische „Materie / Synthesis“ – Modell vor dem Problem des Bewusstseins der Identität des wahrgenommenen Gegenstandes versagen würde, wenn die Identifikation des gegenständlichen Materials wie die der Empfindungen auch unmöglich wäre. Wir haben gezeigt, dass dasjenige Material, welchem dem Husserlschen „Materie / Sinngebung“ – Modell zufolge ein Sinn gegeben wird und welches dadurch „als“ die Erscheinung aufgefasst wird, nicht die Empfindungen, sondern das gegenständliche Material ist. Der verliehene Sinn bleibt seiner Eigenheit nach identisch. Aber er ist nicht die gebildete Erscheinung selbst. D. h., er besteht nur als ein Moment in der Erscheinung. Anders ausgedrückt: „[D]as jeweilige noematische Korrelat ‚ist‘ noch nicht ohne weiteres der ideal-identische Sinn, sondern impliziert bzw. ‚hat‘ ihn bloss“96 . Wenn die Identifikation des gegenständlichen Materials als eines konstitutiven Moments in der in einer Vielheit von Vorstellungen wahrgenommenen Erscheinung unmöglich wäre, dann könnte auch die wahrgenommene Erscheinung als Ganzes nicht identisch bleiben. Man könnte

95 Vgl. „Die identische Funktionsweise der reinen transzendentalen Apperzeption kommt auf für identische Organisationsformen [z. B. Kausalität] der zeitlichen Verhältnisse zwischen sinnlichen Materialien, aber nicht für die Identifikation der Materialien selbst, die jeweils in die fragliche Organisationsform eingehen.“ Gurwitsch, Aron, Kants Theorie des Verstandes, a. a. O., S. 155. 96 Bernet, Rudolf, Husserls Begriff des Noema, a. a. O., S. 76.

1.5 Das Problem des transzendentalen Objekts

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also höchstens sagen, dass die den verschiedenen Wahrnehmungen korrespondierenden Erscheinungen wegen ihres identischen Kerns, nämlich des identischen Sinns als ihrer Was-Bestimmtheit, gleich sind. Nach den bisherigen Darstellungen ist deutlich geworden, dass sowohl die primitive Gegenständlichkeit einer Erscheinung als auch die höherstufige Gegenständlichkeit eines Erfahrungsgegenstands im strengen Sinn Kant zufolge nur auf die subjektiven Funktionen als solche bzw. auf die subjektiven Vermögen als solche angewiesen sind. Konkreter gesprochen: Erstere beruht auf dem äußeren Sinn, dem inneren Sinn und teilweise auch auf der Verstandessynthesis, nämlich auf der durch die Kategorien der Quantität und Qualität geregelten Synthesis. Für die Möglichkeit der letzteren, d. h. der Gegenständlichkeit des Sachverhalts ist außerdem auch die durch die Kategorien der Relation geregelte Synthesis erforderlich. Entsprechend wird die in der jeweiligen Gegenständlichkeit enthaltene Einheit als die Leistung der bezüglichen Synthesis angesehen. Damit haben wir die erste Art Einheit, nämlich die gegenständliche Einheit eines Sachverhaltes als die objektive zeitliche Einheit, mit Kants Worten, als die „dynamische“ Einheit zwischen den Erscheinungen, und die zweite Art Einheit, nämlich die gegenständliche Einheit einer primitiven Erscheinung als die „mathematische“ Einheit in den sechs zu erforschenden Arten der Einheit ausgeführt. Was wir oben mit dem Ausdruck „die Funktionen bzw. Aktivitäten als solche“ bzw. „die Vermögen als solche“ hervorheben, ist, dass keine Ich-Vorstellung für die Möglichkeit der Gegenständlichkeit bzw. für die Möglichkeit der Gegenstandserkenntnisse erforderlich ist.

1.5

Das Problem des transzendentalen Objekts

Im Vorangehenden wird Kants Theorie von Vorstellung und Gegenstand so interpretiert: Die primitive Erscheinung wird zuerst direkt gegenständlich apprehendiert bzw. vorgestellt; daran sind sowohl der äußere Sinn und der innere Sinn als auch die von den Kategorien von Quantität und Qualität geregelte Synthesis der figürlichen Einbildungskraft beteiligt. Dann werden die Erscheinungen mittels ihrer notwendigen Verhältnisse auf den objektiven bzw. wirklichen Gegenstand bezogen, d. h. sie werden als Zustände oder konstitutive Momente des wirklichen Gegenstands angesehen. Diese fernere Bestimmung der Erscheinungen bzw. die Beziehung der Erscheinungen auf den Sachverhalt als den höherstufigen Gegenstand, nämlich als den Gegenstand der Erfahrung im strengen Sinn wird der Leistung der Synthesis nach den Kategorien der Relation zugeschrieben. Die Erscheinung ist weder eine Vorstellung noch etwas als ein vermittelndes Drittes zwischen der Vorstellung und dem wirklichen Gegenstand, das als eine besondere

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Kant und das Problem der Intentionalität …

Entität betrachtet werden könnte. Der wirkliche Gegenstand ergibt sich (durch die Vorstellungen) als die synthetisch einheitlichen Erscheinungen. Man könnte einwenden, dass das Objekt, auf welches sich die Erscheinung bezieht, Kant zufolge nicht der Gegenstand der Erfahrung, sondern der transzendentale Gegenstand ist. Kant schreibt: „Das Objekt, worauf ich die Erscheinung überhaupt beziehe, ist der transzendentale Gegenstand, d.i. der gänzlich unbestimmte Gedanke von Etwas überhaupt“97 . Aber wenn man das Wort „überhaupt“ nicht übersieht, lässt sich diese scheinbare Nichtübereinstimmung leicht auflösen. Der transzendentale Gegenstand ist „vor alle Erscheinungen einerlei“98 . Er liegt als ein apriorisches konstitutives Moment jedem Gegenstand der Erfahrung zugrunde. Der Gegenstand der Erfahrung ist nichts anderes als das Resultat der Realisierung bzw. der Konkretisierung des transzendentalen Gegenstandes als des Objekts überhaupt durch die Erscheinungen, welche als „Bestimmung“ bzw. „Prädikat“ dem transzendentalen Gegenstand als „Träger“ bzw. „Subjekt“ inhärieren. Die Rede, dass die Erscheinung sich auf den transzendentalen Gegenstand bezieht, ist deswegen nur eine transzendentale Abstraktion davon, dass die Erscheinung sich auf den Gegenstand der Erfahrung bezieht. Gerold Prauss nimmt an, was den transzendentalen Gegenstand konkretisiere bzw. realisiere, sei nicht die Erscheinung als etwas Gegenständliches, sondern es seien die Empfindungsdaten selbst. Nach dem Modell der Intentionalität, welches Prauss bei Kant gefunden hat, ist das, was zuerst entworfen wird, das Objekt überhaupt, nämlich der transzendentale Gegenstand, der weiter mit Hilfe der Empfindungsdaten, d. h. durch die Erfüllung der Empfindungsdaten, konkret zu einem empirischen Objekt bestimmt wird. Er schreibt: „Dieser transzendentale Gegenstand, der in Konkretion mit empirischen Erscheinungen jeweils die einzelnen erdeuteten empirischen Objekte ausmacht, liegt mithin in jedem solchen empirischen Objekt durchaus mit vor, jedoch gerade so, dass er ihm dabei zugrunde liegt.“99

Wörtlich kann man in diesem Zitat nichts Streitbares finden. Aber unter „empirischer Erscheinung“ bzw. „subjektiver Erscheinung“ versteht Prauss die Empfindungen. Die einzige mögliche andere Art von Erscheinung sei Prauss zufolge die objektive Erscheinung, welche er mit dem empirischen Objekt selbst identifiziert. Darin liegt der Irrtum dieses Praussischen Modells: Das einzelne empirische 97 A

253. 253. 99 Prauss, Gerold, Erscheinung bei Kant. Ein Problem der „Kritik der der reinen Vernunft“, Berlin: Walter de Gruyter 1971, S. 93. 98 A

1.5 Das Problem des transzendentalen Objekts

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Objekt bestehe aus zwei Momenten, von denen das eine der ihm zugrundeliegende transzendentale Gegenstand sei und das andere die Empfindungen. Wenn die Empfindungen ein konstitutives Moment des Gegenstandes wären, müssten sie selbst gegenständlich sein. Das ist jedoch absurd. Transzendental betrachtet ist es plausibel, dass der transzendentale Gegenstand als „Träger“ bzw. „Subjekt“ zum Beispiel dieser Rose zugrunde liegt. Die „Rose“, das „Rot“ usw. sind seine inhaltlichen Bestimmungen bzw. „Prädikate“. Aber meine Empfindungen (von Rot) sind keineswegs eine Bestimmung bzw. ein Prädikat des transzendentalen Gegenstandes. Mit anderen Worten, man muss streng die Empfindungen von Rot vom Roten selbst unterscheiden. Was der transzendentale Gegenstand tragen kann, bzw. was als Bestimmung dem transzendentalen Gegenstand inhärieren kann, muss auch selbst gegenständlich sein. Es ist ersichtlich, dass ein Moment im Gegenstand auch selbst gegenständlich ist. Aber meine Empfindungen sind nicht gegenständlich. Sie stehen meiner Vorstellung nicht gegenüber, sondern innerhalb meiner Vorstellung. Deshalb ist das, was der transzendentale Gegenstand tragen kann, bzw. was als Bestimmung dem transzendentalen Gegenstand inhärieren kann, nicht die Empfindung, sondern die gegenständliche Erscheinung. Die Empfindungen sind kein Bestandteil der Erscheinung und folglich auch kein Bestandteil des Gegenstands der Erfahrung, sondern nur Bestandteil der Vorstellung, die als Korrelat der Erscheinung gegenübersteht. Es lässt sich zusammenfassen, dass der einzelne empirische Gegenstand aus zwei Momenten besteht, von denen das eine der ihm zugrundeliegende transzendentale Gegenstand ist und das andere nicht die Empfindungen sind, sondern die gegenständlichen Erscheinungen. In Kants Theorie der Konstitution von Gegenstand spielt das transzendentale Objekt eine wichtige Rolle. Es ist eine apriorische Möglichkeitsbedingung dafür, dass wir etwas als denselben Gegenstand in der Zeit erfahren können, bzw. dass wir die verschiedenen Erscheinungen als die verschiedenen Zustände desselben Gegenstandes ansehen können. Um diese kantische Einsicht hervorzuheben, kann man seine Theorie der Konstitution des Gegenstands mit Husserls entsprechender Theorie vergleichen. Das transzendentale Objekt ist der transzendentalen Deduktion in der AAuflage der KrV zufolge nur eine der drei apriorischen Möglichkeitsbedingungen dafür, dass wir etwas als denselben Gegenstand in der Zeit erfahren können. Die anderen beiden sind die Vermögen von Wahrnehmung und Erinnerung, in Kants Worten: „die Synthesis der Apprehension in der Anschauung“ und „die Synthesis der Reproduktion in der Einbildung“. Derselbe Gegenstand kann sich in der Zeit sowohl unverändert als auch unterschiedlich ausprägen. Wir können diese beiden Fälle separat diskutieren. Es gibt im inneren Sinn nichts Beharrliches. Im Fluss

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1

Kant und das Problem der Intentionalität …

von Vorstellungen entsteht und vergeht die eine nach der anderen. Einerseits kann keine Wahrnehmung beharren. Anderseits kann keine Wahrnehmung mit einer anderen identisch sein, weil jede eine eigene Stelle in der inneren Zeit hat. Daraus ist zu entnehmen, dass ich in der Tat eine Reihe von Wahrnehmungen habe, obwohl derselbe wahrgenommene Gegenstand sich völlig unverändert bekundet. Anders ausgedrückt: In der Zeit t1 apprehendiere ich durch die Wahrnehmung W1 die Erscheinung E1 und in der Zeit t2 durch die Wahrnehmung W2 dieselbe Erscheinung E1, wenn derselbe Gegenstand in der Zeit unverändert erscheint. Wenn derselbe Gegenstand sich in der Zeit unterschiedlich bekundet, habe ich in der Zeit t1 die Wahrnehmung W1 von der Erscheinung E1 und in der Zeit t2 die Wahrnehmung W2 von der Erscheinung E2. Die verschiedenen Erscheinungen können sowohl als die verschiedenen Zustände desselben Gegenstands als auch als derselbe Gegenstand, welcher jedoch aus verschiedenen Aspekten betrachtet werden kann, verstanden werden. Es ist ersichtlich, dass ich in der Zeit t2 durch die Wiedererinnerung die durch die Wahrnehmung W1 in der Zeit t1 apprehendierte Erscheinung E1 vergegenwärtigen können muss, um sie in der Zeit t2 mit der durch die Wahrnehmung W2 apprehendierten Erscheinung E1 zu vergleichen und zu identifizieren. Das ist der Fall, wo der Gegenstand sich in den verschiedenen Zeiten identisch ergibt. Die Sachlage ist nicht anders, wenn derselbe Gegenstand sich in der Zeit t1 und t2 unterschiedlich bekundet. D. h., ich muss in der Zeit t2 durch die Wiedererinnerung die durch die Wahrnehmung W1 in der Zeit t1 apprehendierte Erscheinung E1 vergegenwärtigen können, um sie mit der durch die Wahrnehmung W2 apprehendierten Erscheinung E2 zu vergleichen und ferner die beiden als die verschiedenen Zustände oder Aspekte desselben Gegenstands zu betrachten. Es kann sein, dass die Erscheinung E1 und E2 sehr unterschiedlich sind. Aber dies bedeutet nicht, dass alle Bestimmungen in E1 anders als die in E2 sind. Es kann in E1 und E2 derselbe Kern von inhaltlicher Bestimmung bestehen, der ermöglicht, dass sie als die verschiedenen Zustände oder Aspekte desselben Gegenstands betrachtet werden können, obwohl die anderen inhaltlichen Bestimmungen in der einen anders als in der anderen sind. Aber dies ist keine apriorische, sondern empirische Bedingung dafür, dass die Erscheinungen demselben Gegenstand zugeschrieben werden können. Dass Wahrnehmung und Wiedererinnerung die ersten beiden subjektiven Möglichkeitsbedingungen dafür sind, dass wir etwas in der Zeit als denselben

1.5 Das Problem des transzendentalen Objekts

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Gegenstand erfahren können, wird sowohl von Kant als auch von Husserl hervorgehoben.100 Husserl hat eine sehr ähnliche Theorie ausgeführt, die von M. Flatscher prägnant in folgender Weise zusammengefasst wird. Er schreibt: „Husserl hebt somit mit Nachdruck hervor, dass die jeweilige Wahrnehmung allein nicht für diese identitätsstiftende Dimension ausreicht. Sie ist zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Möglichkeit jeder Gegenstandskonstitution. Ihr müssen Vergegenwärtigungen in Form von Wiedererinnerungen zur Seite gestellt werden, um eine Identifizierung – gerade auch unter geänderten Bedingungen – vollziehen zu können.“101 Außer diesen ersten beiden Möglichkeitsbedingungen sind sowohl Kant als auch Husserl der Auffassung, dass eine dritte Bedingung notwendig ist, damit wir etwas in der Zeit als denselben Gegenstand erfahren können. Angesichts der Bestimmung der dritten Möglichkeitsbedingung findet man jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen Kants und Husserls Theorie, obwohl sie auch einige Gemeinsamkeiten aufweisen. Kant zufolge ist die dritte apriorische Bedingung das transzendentale Objekt als „etwas überhaupt = X“102 . Das transzendentale Objekt drückt diejenige Einheit aus, welche jedem Gegenstand als einem bzw. als „Einheit“ zugrunde liegt. Es ist also das Subjekt, dem jede der bezüglichen Erscheinungen als seine Bestimmung bzw. als sein Prädikat inhäriert. Es ist wichtig zu beachten, dass Kant zufolge die von dem transzendentalen Objekt ausgedrückt Einheit nicht einfach gegeben werden kann. Stattdessen ist sie auf die entsprechende subjektive Funktion angewiesen. Die zwei in verschiedener Zeit durch verschiedene Wahrnehmungen apprehendierten Erscheinungen können faktisch völlig gleich sein. Aber daraus kann ich nicht schließen, dass ich zur Zeit t1 und t2 denselben Gegenstand anstatt zwei gleiche Gegenstände wahrgenommen habe, wenn ich nicht in der Lage bin unterstellen, dass es sich in beiden Fällen um einen bleibenden Gegenstand handelt. Kant schreibt: „Ohne Bewusstsein, dass das, was wir denken,

100 Vgl.:

„Ebenso können aber getrennte Akte, wie z. B. zwei Wahrnehmungen oder eine Wahrnehmung und eine Erinnerung, sich zu einer ‚einstimmigen‘ Einheit zusammenschließen, und vermöge der Eigenart dieses Zusammenschlusses, […] ist nun das evtl. einmal so und das andere Mal anders bestimmt Etwas der zunächst getrennten Kerne bewusst als dasselbe Etwas, oder als einstimmig derselbe ‚Gegenstand‘.“ Hua III, Ideen I, S. 272. 101 Flatscher, Matthias, Kraft der (Wieder-)Erinnerung. Bemerkungen zu Husserls Erörterungen eines vielschichtigen Phänomens, in: Stoller, Silvia / Unterthurner, Gerhard (Hrsg.), Entgrenzungen der Phänomenologie und Hermeneutik. Festschrift für Helmuth Vetter zum 70. Geburtstag. Nordhausen: Bautz 2012, S. 103–128, S. 119 f. 102 A 104.

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Kant und das Problem der Intentionalität …

eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein.“103 Das transzendentale Objekt als apriorischer Begriff und die durch ihn ausgedrückte Einheit sind Kant zufolge nicht empirisch gegeben, sondern subjektive Bedingung. Anders gesprochen: Dass der Gegenstand sich in der Zeit empirisch identisch bekundet, bedeutet noch nicht, dass er in der Zeit als identisch erfasst wird. Dazu ist auch erforderlich, dass ich das Vermögen habe, ihn in der Zeit als identisch zu erfassen. Dieser subjektiven Bedingung entspricht der Begriff des transzendentalen Objekts. Es ist daher also sowohl von der subjektiven apriorischen Bedingung als auch von der empirischen Bedingung die Rede, unter denen ein Gegenstand in der Zeit als identisch bestimmt bzw. erkannt werden kann. In Hinblick auf den Kantischen Schematismus können die beiden Bedingungen so umformuliert werden: Einerseits muss die Art und Weise, wie der zu bestimmende bzw. zu erkennende Gegenstand sich empirisch bekundet, mit den schematisierten Kategorien übereinstimmen. Andererseits muss das erkennende Subjekt über das Vermögen, welches sich durch die Anwendung der Kategorien ausdrückt, verfügen, den Gegenstand als solchen zu erfassen. Anders ausgedrückt: Einerseits muss der Gegenstand sich in der Zeit als identisch betrachten lassen, d. h. seine Erscheinungen müssen sich miteinander identifizieren lassen bzw. übereinstimmen. Anderseits muss ich dies tun können, d. h. ich muss in der Lage sein, den Gegenstand identisch zu erfassen, bzw. die Erscheinungen demselben Gegenstand zuzuschreiben. Während Kant die subjektive Bedingung von der empirischen Bedingung unterscheidet, betrachtet Husserl sie als eine Bedingung. Die in Rede stehende dritte Bedingung ist Husserl zufolge der Gegenstandspol bzw. das bestimmbare Etwas = X. Husserl bezeichnet sie im Paragraphen § 131 „Der ‚Gegenstand‘, das ‚bestimmbare X im noematischen Sinn‘“ in Ideen I als Pol einer mannigfaltige Bedeutungen umspannenden Identitätsprädikation: „Es scheidet sich als zentrales noematisches Moment aus: der ‚Gegenstand‘, das ‚Objekt‘, das ‚Identische‘, das ‚bestimmbare Subjekt seiner möglichen Prädikate‘ – das pure X in Abstraktion von allen Prädikaten.“ „Mehrere Aktnoemata haben hier überall verschiedene Kerne, jedoch so, dass sie sich trotzdem zur Identitätseinheit zusammenschließen, zu einer Einheit, in der das ‚Etwas‘, das Bestimmbare, das in jedem Kern liegt, als identisches bewusst ist.“

103 A

103.

1.5 Das Problem des transzendentalen Objekts

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Das vollständige Noema als der jeweilige gegebene Gegenstand als solcher enthält verschiedene Momente in sich. Das eine ist der Sinn-Kern, welcher die jeweilige gegebene Was-Bestimmung im Gegenstand zeigt. Das zweite ist der Gegenstandspol, aufgrund dessen mehrere Noemata auf denselben Gegenstand bezogen werden.104 Mehrere Noemata können verschiedene Sinn-Kerne haben. Aber sie können auch zugleich dasselbe Moment, nämlich den Gegenstandspol haben und deswegen als verschiedene Gegebenheit desselben Gegenstands betrachtet werden. Nach dem obigen Zitat in A 103 ist das transzendentale Objekt = X bei Kant mit derjenigen subjektiven Bedingung verbunden, unter der das, was wir denken, mit dem identifiziert werden kann, was wir einen Augenblick zuvor dachten. Husserl führt daher aus, dass der Gegenstandspol = X mit derjenigen Bedingung verbunden ist, unter der mehrere Noemata bzw. deren Kerne als Was-Bestimmungen sich zusammenschließen können. Es ist klar, dass sowohl das, was wir denken, als auch ein Noema bzw. dessen Kern als eine gegebene Was-Bestimmung auf keinen Fall mit den Empfindungsdaten gleichgesetzt werden dürfen. Es ist also daher von den Empfindungsdaten gar keine Rede. Die These Prauss’, dass das transzendentale Objekt durch die Empfindungsdaten konkretisiert wird und sie als Bestimmung bzw. Prädikat trägt, muss abgelehnt werden. Es ist ersichtlich, dass Husserl zufolge die dritte Bedingung zusammen mit der Erscheinung und zwar als deren Moment gegeben wird. Er schreibt sie also nicht zugleich der Leistung der Subjektivität, sondern nur der Gegebenheit der Faktizität zu. Daher ist es kein Wunder, dass man die dritte Möglichkeitsbedingung in Husserls Theorie darüber, wie wir etwas in der Zeit als denselben Gegenstand erfahren können, einfach übersieht. Zum Beispiel behauptet Flatscher, Husserl „gesteht ihr (‚Wiedererinnerung‘) allein das identifikatorische Potenzial zu, sich der Selbigkeit von etwas als etwas allererst versichern zu können.“105 Es ist wichtig zu beachten, dass Husserl zufolge zwei Noemata allein, weil sie den gleichen Sinn-Kern als die Was-Bestimmung in sich enthalten, noch nicht auf denselben Gegenstand bezogen werden können, weil sie auch auf zwei völlig gleiche Gegenstände bezogen werden könnten. Wie ausgeführt ist Kant auch dieser Auffassung. In seiner Terminologie: Zwei gleiche Erscheinungen könnten 104 Das

übrige Moment im vollständigen Noema ist der Hof bzw. Horizont von Sinn. Der Hof bzw. Horizont besteht aus denjenigen Sinnen, die potenziell sind. D. h. sie können sich bekunden, obwohl sie noch nicht wie der jeweilige Sinn-Kern gegenwärtig gegeben werden. 105 Flatscher, Matthias, Kraft der (Wieder-)Erinnerung. Bemerkungen zu Husserls Erörterungen eines vielschichtigen Phänomens, a. a. O., S. 116 f.

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Kant und das Problem der Intentionalität …

zwei gleichen Gegenständen anstatt einem und demselben Gegenstand zugeschrieben werden. Ein Unterschied besteht jedoch. Damit die gegebenen Erscheinungen auf denselben Gegenstand bezogen werden können, muss Kant zufolge außer der empirischen Bedingung, dass jede der gegebenen Erscheinungen ein identisches Moment in sich enthält, die subjektive Bedingung erfüllt werden, dass das Subjekt das Vermögen hat, dies zu tun. Im Vergleich dazu nimmt Husserl an, dass es genügt, dass jede der gegebenen Erscheinungen ein identisches Moment in sich enthält, damit sie auf denselben Gegenstand bezogen werden können. Meines Erachtens ist die Kantische Theorie plausibler.

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Kant und das Problem des inneren Sinns: Die Einheit der Vorstellung und deren vier Arten

Kants Theorie vom inneren Sinn ist besonders kontrovers. Der Hauptgrund dafür besteht wohl darin, dass seine Einsichten in seinen verschwommenen, undeutlichen und zerstreuten Formulierungen verborgen sind. Geleitet von Husserls Kant-Interpretation und seinen Gedanken zum inneren Sinn wollen wir in diesem Kapitel versuchen, diese verborgenen Einsichten sichtbar zu machen. Husserls Phänomenologie dient dabei zwar als „Index“ oder „Leitfaden“ für unsere Untersuchung der kantischen Theorie vom inneren Sinn. Sie ist vor allem eine werkimmanente Interpretation. Es handelt sich vielmehr um eine exakte und eindeutige Formulierung der von uns erkannten Position Kants als um eine rekonstruierende Interpretation. Anders gesprochen: Kants Theorie vom inneren Sinn ist viel tiefsinniger, als die weit verbreiteten Interpretationen es annehmen. Die in diesem Kapitel durchgeführte Untersuchung dient nur der Aufgabe, Kants eigene Einsichten durch Husserls Phänomenologie zu erleuchten, um sie auf diese Weise luzid zu machen. Konkret befasst sich das Kapitel mit den folgenden drei Problemen, die aufs engste mit dem inneren Sinn verknüpft sind: 1. Keine Kategorie darf auf eine Vorstellung als solche angewandt werden. Aber diejenige Synthesis, die eine Wahrnehmung ermöglicht, steht unter den Kategorien. 2. Die Zeit ist nicht die Form des äußeren Sinns, sondern nur die des inneren Sinnes. Die Erscheinungen, die vermittelst des äußeren Sinns gegeben werden, haben jedoch die zeitliche Form.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 J. Mao, Sinnliche Subjektivität bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62936-9_2

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Kant und das Problem des inneren Sinns …

3. Unter dem inneren Sinn versteht Kant das Vermögen der Selbstanschauung bzw. „der inneren Anschauung meiner selbst“1 . Aber Kant bezeichnet die transzendentale Apperzeption auch als „das Bewusstsein seiner selbst“2 , nämlich als das Selbstbewusstsein. Welches der beiden Vermögen verdient den Namen „Selbstbewusstsein“?

2.1

Die Einheit einer primitiven empirischen Vorstellung: Die Selbst-Affektion

Kant zufolge ist der innere Sinn dasjenige Vermögen, vermittelst dessen das Gemüt seine inneren Zustände anschaut.3 Aufgrund der passiven Rezeptivität des inneren Sinns muss er affiziert werden und zwar innerlich, damit die inneren Zustände durch ihn bewusst werden können. Die Quelle der in Rede stehenden Affektion liegt also nicht „außer mir“, sondern „in mir“. Deshalb ist der innere Sinn mit der sogenannten Selbst-Affektion verbunden. D. h., im Fall des inneren Sinns sind das Affizierende und das Affizierte dasselbe, nämlich das Selbst. Dasselbe Subjekt, betrachtet aus verschiedenen Perspektiven, ist zugleich als das aktiv bestimmende bzw. affizierende und das passiv zu bestimmende bzw. zu affizierende Subjekt zu verstehen. Oder: es bestehen innerhalb desselben Subjekts ein aktives und ein passives Moment. Es ist ersichtlich, dass das passive Moment im Subjekt bzw. das Subjekt verstanden aus dem passiven Aspekt, der innere Sinn ist. Was ist das aktive Subjekt? Kant schreibt: „Das, was den inneren Sinn bestimmt, ist der Verstand und dessen ursprüngliches Vermögen das Mannigfaltige der Anschauung zu verbinden […] Er also übt, unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, diejenige Handlung aufs passive Subjekt, dessen Vermögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, dass der innere Sinn dadurch affiziert werde.“4

Was den inneren Sinn affiziert, ist also die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft. Dass das Gemüt „durch sich selbst“ affiziert wird, wird an einer anderen Stelle5 auch damit identifiziert, dass das Gemüt „durch eigene Tätigkeit“ affiziert wird. 1A

362. 68, A 117. 3 B 37. 4 B 153. 5 B 67. 2B

2.1 Die Einheit einer primitiven empirischen Vorstellung: Die Selbst-Affektion

61

Obwohl das, was durch den äußeren Sinn gegeben ist, keineswegs nur die Empfindungsdaten sind, kann man sagen, dass vermittelst des äußeren Sinns die Empfindungsdaten im inneren Sinn entstehen. D. h., das Gemüt kann sich selbst die Empfindungsdaten nicht anbieten. Sie sind sozusagen von „außen“ her entstanden, was Kant zufolge die Endlichkeit des menschlichen Gemüts kennzeichnet. Es wurde erwähnt, dass das Gemüt mithilfe des inneren Sinns die Vorstellung als den inneren Zustand anschaut. Damit der innere Zustand durch den inneren Sinn bewusst werden kann, muss der innere Sinn Kant zufolge durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft affiziert werden. Was es bedeutet, dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft den inneren Sinn affiziert, ist deshalb damit gleichzusetzen, was und wie die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft zur Konstitution der Vorstellung aus den mannigfaltigen Empfindungsdaten beiträgt. Im ersten Kapitel haben wir ausgeführt, dass Kant tatsächlich zwei Arten von Material unterscheidet, die zugleich vermittels des äußeren Sinnes gegeben werden. Die erste umfasst die Empfindungsdaten in der anschaulichen Vorstellung, die selbst nicht gegenständlich sind. Die anschauliche Vorstellung als der innere Zustand bzw. die Modifikation des Gemüts ist selbst im normalen Fall nicht gegenständlich.6 Deshalb sind die Empfindungsdaten als ihr Bestandteil auch nicht gegenständlich. Die zweite ist das gegenständliche Material in der Erscheinung als dem Gegenstand der empirischen anschaulichen Vorstellung. Kant nennt das gegenständliche Material „das Reale“ in der Erscheinung und bezeichnet es ferner als „Gegenstand der Empfindung“7 , bzw. als das, was der Empfindung „entspricht“8 . Der Gegenstand der Empfindung bzw. was ihr entspricht, darf offensichtlich mit der Empfindung selbst nicht gleichgesetzt werden. Dass jede der beiden Arten von Material vermittels des äußeren Sinns entsteht, zeigt ihre Gemeinsamkeit: Das Gemüt kann sich selbst keine von ihnen anbieten. Stattdessen müssen die beiden Materialien dem Gemüt gegeben werden und zwar sozusagen „von außen“. Ihr Unterschied besteht in ihren unterschiedlichen Beziehungen zur empirischen anschaulichen Vorstellung als dem inneren Zustand bzw. als der Modifikation des Gemüts. Die Empfindungsdaten werden als Bestandteil des inneren Zustandes des Gemüts betrachtet. Deshalb sind sie im engeren Sinn „in“ dem Gemüt. Im Vergleich dazu ist das gegenständliche Material ein konstitutives Moment in der Erscheinung als dem Gegenstand der anschaulichen Vorstellung. Deshalb steht es wie die Erscheinung als Ganzes dem Gemüt 6 Die

Vorstellung kann jedoch Gegenstand einer Reflexion werden. 166/B 207. 8 A 166/B 207. 7A

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2

Kant und das Problem des inneren Sinns …

bzw. der anschaulichen Vorstellung als dessen inneren Zustand gegenüber. Wir haben Kant zufolge die Gegenständlichkeit dieses Materials auf die Räumlichkeit zurückgeführt. Man könnte dazu neigen, nur die erste Art von Material hinzunehmen und die zweite zu verneinen. D. h., man könnte annehmen, dass es nur die Empfindungsdaten als die einzige Art von Material gibt. Zum Beispiel schreibt F. Schmitz: „[O]bjects would affect outer sense and produce sensation which is brought into the a priori form of space and thus modelled to intuitions relating to outer appearances.“9 Damit bringt Schmitz prägnant ein weit verbreitetes Missverständnis zum Ausdruck. Es lautet, dass eine Anschauung dadurch gebildet wird, dass den Empfindungsdaten als Material eine räumliche Form verliehen wird, bzw. dass die Empfindungsdaten in die räumliche Form gebracht werden. Die daraus resultierende Anschauung verfügt selbst nicht über die räumliche Form, bezieht sich jedoch auf eine äußerliche, nämlich räumliche Erscheinung. Die folgende Überlegung wird den darin enthaltenen Irrtum aufzeigen. Die Anschauung bzw. die anschauliche Vorstellung bezieht sich auf die äußerliche Erscheinung. Dies impliziert, dass sie miteinander nicht gleichgesetzt werden dürfen. Dass die äußerliche Erscheinung eine räumliche Form hat, schließt aus, dass die Anschauung bzw. die anschauliche Vorstellung auch über eine räumliche Form verfügt. Laut Schmitz wird etwas dadurch gebildet, dass den Empfindungsdaten als Material eine räumliche Form verliehen wird, bzw. dass die Empfindungsdaten in die räumliche Form gebracht werden. Es stellt sich die Frage: Was ist das Gebilde? Es könnte entweder die anschauliche Vorstellung oder die äußerliche Erscheinung sein. Aber jede der beiden möglichen Alternativen führt zu Absurdität. Dass das Gebilde durch die Vereinheitlichung der Empfindungsdaten als Material und dem Raum als Form entstehe, impliziert, dass das Gebilde einerseits die Empfindungsdaten als ein konstitutives Moment in sich enthalten und andererseits die räumliche Form haben muss. Die anschauliche Vorstellung hat jedoch keine räumliche Form, welche nur die Form der äußerlichen Erscheinung sein kann. Deshalb kann die anschauliche Vorstellung nicht das Gebilde sein. Die Empfindungsdaten können jedoch kein Bestandteil der äußerlichen Erscheinung sein,10 weil dieselbe äußerliche Erscheinung eine Vielheit von Empfindungsdaten „bewirken“ kann bzw. weil ihr eine Vielheit von Empfindungsdaten entsprechen kann, die zwar gleich sein, aber wegen ihrer unterschiedlichen 9 Schmitz, Friederike, On Kant’s Conception of Inner Sense: Self-Affection by the Understan-

ding, a. a. O., S. 1045. 10 Vgl.: „In die konstituierte Raumwelt gehören die Empfindungsdaten nicht hinein, weder sie

selbst noch ihre inhaltlichen oder zeitlichen Bestimmungen.“ Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 306.

2.1 Die Einheit einer primitiven empirischen Vorstellung: Die Selbst-Affektion

63

Stellen in der inneren Zeit miteinander nicht identifiziert werden können. Deshalb kann auch die äußerliche Erscheinung nicht das Gebilde sein. Es ist folglich unmöglich, dass die Empfindungen in die räumliche Form gebracht werden können. Man muss eine andere Art von Material, welche räumlich und gegenständlich ist und als ein konstitutives Moment in der räumlichen Erscheinung besteht, annehmen, um die oben festgestellte Absurdität zu vermeiden. Es wurde auch gezeigt, dass sich die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft nicht an der ersten Art von Material, sondern nur am gegenständlichen Material betätigt. Was damit gemeint wird, möchten wir mithilfe der entsprechenden Ausführung Husserls noch einmal andeuten. Über die bloße äußere Wahrnehmung schreibt Husserl: „Ich sehe nicht Farbenempfindungen, sondern gefärbte Dinge, ich höre nicht Tonempfindungen, sondern das Lied der Sängerin usw.“11 Damit meint Husserl, dass dasjenige, woran sich der Akt der Wahrnehmung betätigt bzw. worauf sich der Akt der Wahrnehmung richtet, etwas Gegenständliches ist. Die Wahrnehmung ist im für uns in Frage kommenden Zusammenhang keine reflexive Tätigkeit.12 Sie beschäftigt sich weder mit sich selbst noch mit ihrem eigenen Bestandteil, sondern mit etwas Gegenständlichem. Diejenige Tätigkeit, die sich an den Empfindungen betätigt und von Husserl „Erleben“ genannt wird, ist von anderer Art als die Tätigkeit der Wahrnehmung. D. h. der Gegenstand wird wahrgenommen, während die Empfindungen, die dem Gegenstand entsprechen und gegenüberstehen, erlebt werden. Die Einbildungskraft ist wie die Wahrnehmung auch eine objektivierende Tätigkeit. Wenn ich mir etwas einbilde, ist das Etwas gegenständlich. Ich bilde mir weder die Tätigkeit meiner Einbildung noch deren Bestandteil, sondern das Eingebildete ein. Die Tätigkeit der Einbildungskraft richtet sich also nicht auf die Empfindungen, sondern auf das, was den Empfindungen gegenübersteht. Wenn die Einbildungskraft sich überhaupt nicht auf die Innenwelt, sondern nur auf die gegenständliche Außenwelt richtet, stellt sich die Frage, wie Kant plötzlich behaupten kann, dass der innere Sinn durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft affiziert bzw. bestimmt wird, dass nur aufgrund dieser Affektion die anschauliche Vorstellung durch den inneren Sinn bewusst werden kann. Wir haben sie mit der Frage gleichgesetzt, wie es zu verstehen ist, dass die Empfindungsdaten auch durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft in die anschauliche Vorstellung vereinheitlicht werden. 11 Hua

XIX, LU, A 353/ B1 374. gesprochen: Obwohl die Wahrnehmung sowohl über die Reflexivität als auch das Auf-einen-Gegenstand-gerichtet-Sein verfügt, müssen diese beiden Eigenschaften voneinander streng unterschieden werden. 12 Genauer

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Kant und das Problem des inneren Sinns …

Der Unterschied, der zwischen dem inneren Zustand als der anschaulichen Vorstellung und den Empfindungsdaten besteht, ist dadurch entstanden, dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft den inneren Sinn affiziert bzw. bestimmt. D. h. dieser Unterschied ist eben der von der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft in der Innenwelt geleistete Beitrag. Der innere Zustand als die anschauliche Vorstellung ist eins und unterscheidet sich deshalb deutlich vom „Bündel“ von Empfindungsdaten. Daraus folgt, dass nur in dem ersteren die Einheit besteht. Diese Einheit ist eben das, was die Leistung der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft in Bezug auf die innere Affektion konkret ist. Aber dies kann nicht bedeuten, dass die Einbildungskraft unmittelbar die mannigfaltigen Empfindungsdaten in eine Anschauung, nämlich in eine anschauliche Vorstellung, bzw. eine Wahrnehmung synthetisiert, weil sich die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft nicht direkt an den Empfindungsdaten betätigen kann. Stattdessen kann sie sich unmittelbar nur am gegenständlichen Material in der Erscheinung betätigen. Die eine und selbe Betätigung der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft am gegenständlichen Material hat jedoch eine Nebenwirkung. Einerseits wird das gegenständliche Material dadurch als eine Erscheinung synthetisiert. Andererseits werden in demselben Prozess die mannigfaltigen Empfindungsdaten als eine Vorstellung vereinheitlicht. Die Bildung der Vorstellung wird zwar in demselben Prozess der Bildung der Erscheinung geleistet, aber sie kann in konstitutionstheoretischem Sinne nur nachträglich erklärt werden, weil sie konstitutionstheoretisch von der Bildung der Erscheinung abhängig ist. Wie diese Abhängigkeit konkret zu verstehen ist, bzw. wie die Vorstellung indirekt durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft konstituiert wird, d. h. indirekt dadurch, dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft unmittelbar die Erscheinung konstituiert, ist das erste zentrale Thema dieses zweiten Kapitels. Die anschauliche Vorstellung befindet und erstreckt sich in der inneren Zeit. Sie hat also notwendig ihre zeitliche Extension. Diese Zeitstrecke besteht aus einigen momentanen Zeitphasen. Sich der anschaulichen Vorstellung bewusst zu sein, impliziert, dass die anschauliche Vorstellung als eine immanent-zeitliche Einheit bzw. als ein einheitliches Ganzes betrachtet13 und zugleich von den anderen anschaulichen Vorstellungen bzw. deren Zeitphasen abgegrenzt werden kann. Dies kann als eine Art „Individualisierung“ der Vorstellungen in der inneren Zeit verstanden werden. Sie ist ersichtlich eine Tätigkeit des Gemütes, welche von Kant

13 Vgl.: „Jedes konkrete Erlebnis ist eine Werdenseinheit und konstituiert sich als Gegenstand im inneren Bewusstsein in der Form der Zeitlichkeit.“ Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 304.

2.1 Die Einheit einer primitiven empirischen Vorstellung: Die Selbst-Affektion

65

als das „Setzen“ der Vorstellungen in der immanenten Zeit bezeichnet wird.14 Das Setzen der Vorstellungen in der Zeit besagt deren Platzierung in der Zeit und ist ergo eng mit der zeitlichen Demarkation bzw. Abgrenzung verbunden. Wie ist die Individualisierung der Vorstellungen in der immanenten Zeit möglich? Wie können diejenigen Zeitphasen, aus denen die Dauer bzw. Strecke einer und derselben Vorstellung bestehen, einerseits von anderen Zeitphasen abgegrenzt und anderseits miteinander vereinheitlicht werden? Kant nennt die in einer anschaulichen Vorstellung enthaltenen Zeitphasen „Eindrücke“ oder „Augenblicke“. Dass die Vorstellung aus einigen Zeitphasen besteht, bzw. dass sie eine Folge von Zeitphasen ist, ist Kant zufolge eine Möglichkeitsbedingung dafür, dass sie ein Mannigfaltiges als solches vorstellen kann.15 Warum dies so ist, haben wir im ersten Kapitel ausgeführt. Diese Zeitphasen, welche noch nicht von den Empfindungen erfüllt werden, oder besser: welche in Abstraktion von den Empfindungen betrachtet werden, sind als das zu verstehen, was Kant mit dem in der Zeit enthaltenen reinen Mannigfaltigen oder dem in der Zeit enthaltenen Mannigfaltigen a priori meint.16 Die Individualisierung der Vorstellung in der immanenten Zeit bzw. im inneren Sinn verlangt deswegen eine zusätzliche Erklärung, weil „der innere Sinn die bloße Form der Anschauung, aber ohne Verbindung des Mannigfaltigen in derselben, mithin noch gar keine bestimmte Anschauung enthält“17 . Woher kommt die einheitliche Verbindung zwischen den Zeitphasen? Diese Einheit, welche in einer Vorstellung enthalten ist und sie zu einer Vorstellung macht, bzw. welche ermöglicht, dass aus den mannigfaltigen Zeitphasen eine Vorstellung werden kann, ist die erste der vier in der vorliegenden Arbeit untersuchten Arten von Einheit der Vorstellung und die dritte der untersuchten Arten von Einheit überhaupt.

14 B

67.

15 Vgl.:

„Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit, in der Folge der Eindrücke auf einander unterschiede: denn als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein.“ (A 99) 16 A 77/B 102, A 138/B 177, Vgl. auch: „Die elementare Formbestimmtheit von Vorstellungen ist ihre Sukzessivität. Das ‚reine Mannigfaltige‘ des inneren Sinns sind dementsprechend die sukzessiven Zeitpunkte. Von ihnen ist es im Rahmen der Kantischen Theorie auch sinnvoll zu sagen, daß die Zeit sie als ihr Mannigfaltiges a priori ‚enthält‘.“ Mohr, Georg, Das sinnliche Ich. Innerer Sinn und Bewusstsein bei Kant, Würzburg: Königshausen und Neumann 1991, S. 77. 17 B 154.

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Kant und das Problem des inneren Sinns …

Man könnte vermuten, dass die in Rede stehende Individualisierung durch die Beschaffenheiten bzw. Eigenschaften der Empfindungsdaten, welche die immanenten Zeitphasen erfüllen, geleistet werden kann. Aber das ist unmöglich. Die Empfindungsdaten sind notwendig mit der Mannigfaltigkeit verbunden und können selbst keine Einheit stiften. Außerdem sind die Empfindungsdaten als solche kaum beschreibbar. Das liegt daran, dass „diese innere Anschauung keine Gestalt gibt“18 . Hier muss man sich Moores Konzeption „the transparence of experience“19 in Erinnerung rufen. Schmitz schreibt zum Beispiel: „We are unable to focus our attention on a sensible impression as such; all we can do is focus our attention on the (outer) content of the impression.“20 D. h., wenn ich beispielsweise herauszufinden versuche, was in meiner Wahrnehmung (vom Apfel) selbst liegt, sehe ich immer durch meine Wahrnehmung als solche hindurch und finde unmittelbar diejenigen Beschaffenheiten bzw. Eigenschaften des Apfels. Meine Wahrnehmung selbst und die darin enthaltenen Empfindungsdaten scheinen transparent zu sein. Sie sind weder rot noch süß noch rund. Alle Bestimmungen bzw. Eigenschaften, die zum Apfel gehören, darf man nicht der Wahrnehmung (vom Apfel) selbst und den in ihr enthaltenen Empfindungsdaten zuschreiben, sonst würde man einen kategorialen Fehler begehen. 18 A

33/B 50.

19 Allgemein wird die Entdeckung von „the transparence of experience“ Moore zugeschrieben.

Hinsichtlich der Wahrnehmung von Blau schreibt Moore 1903: „[T]he other element which I have called ‘consciousness’ […] seems to escape us: it seems, if I may use the metaphor, to be transparent – we look through it and see nothing but the blue.“ (Moore G., The Refutation of Idealism, in: Philosophical Studies, Totowa, NJ: Littlefield, Adams & Co. (1965), S. 20. Zitiert nach: Kriegel, Uriah, Subjective Consciousness: A Self-Representational Theory, Oxford Scholarship Online (2009), S. 68 Anmerkung 10.) Husserl hat bereits 1901, zwei Jahre zuvor, dieselbe Sachlage genau beschrieben. Husserl nennt „die präsentierenden Empfindungen“ in der Wahrnehmung „die erlebten sinnlichen Inhalte“: „Ist ein äußerer Gegenstand wahrgenommen (das Haus), so sind in dieser Wahrnehmung die präsentierenden Empfindungen erlebt, aber nicht wahrgenommen. […] Wollte man einwenden, es seien sinnliche Inhalte immer und notwendig gegenständlich aufgefasst; sie seien immer Träger einer äußeren Anschauung und wir könnten auf sie nur achten, indem wir sie als Inhalte einer solchen Anschauung beachten: so brauchen wir hierüber nicht zu streiten.“ (Hua XIX, LU, A 709/ B2 238) Damit macht Husserl deutlich: Wenn wir auf unsere Wahrnehmung vom Haus zu achten versuchen, sehen wir immer und notwendig das Haus. Noch deutlicher ist der Satz: „Es ist schlechterdings nicht möglich, die meinenden Akte zu beschreiben, ohne im Ausdruck auf die gemeinten Sachen zu rekurrieren.“ (Hua XIX, LU, A 11/B1 11) Dieser Satz drückt genau das gleiche wie der folgende Satz von Schmitz aus, mit dem sie „the transparence of experience“ erklärt. 20 Schmitz, Friederike, On Kant’s Conception of Inner Sense: Self-Affection by the Understanding, a. a. O., S. 1048 f.

2.1 Die Einheit einer primitiven empirischen Vorstellung: Die Selbst-Affektion

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Wenn die Möglichkeit ausgeschlossen wird, dass die Individualisierung der Vorstellung auf der Beschaffenheit bzw. den Eigenschaften der darin enthaltenen Empfindungsdaten beruhen kann, ergibt sich eine andere Möglichkeit: Die Empfindungsdaten bzw. die durch die Empfindungsdaten erfüllten Zeitphasen würden durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft in eine anschauliche Vorstellung, nämlich in eine Wahrnehmung, vereinheitlicht. Auf den ersten Blick scheint diese Alternative selbstverständlich zu sein. Die Leistung einer Synthesis besteht eben darin, Einheit zu stiften. Dieses Verständnis der Individualisierung könnte sich auf den ersten Blick auch auf die folgende Stelle stützen: „Der Verstand findet also in diesem (sc. dem inneren Sinn) nicht etwa schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn affiziert.“21 Wie dieser Satz jedoch tatsächlich zu verstehen ist, werden wir bald herausfinden. Das reine Mannigfaltige im inneren Sinn bzw. das Mannigfaltige a priori im inneren Sinn sind, wie ausgeführt, die Zeitphasen. Entsprechend bedeutet das Mannigfaltige des inneren Sinns die durch die Empfindungen erfüllten Zeitphasen. Die Wahrnehmung ist in Hinblick auf ihre Zeitstrecke eine aus einigen Zeitphasen gebildete empirische Vorstellung und ergo durch die Verbindung bzw. Vereinheitlichung des Mannigfaltigen des inneren Sinnes entstanden, welche obigem Zitat zufolge vom Verstand dadurch geleistet wird, dass er den inneren Sinn affiziert. Dass die Verbindung des Mannigfaltigen des inneren Sinns durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft hervorgebracht wird, bedeutet oder impliziert jedoch nicht, dass die Einbildungskraft sich unmittelbar an dem Mannigfaltigen des inneren Sinns betätigt und es verbindet. Das letztere Verständnis führt zu Absurdität und muss ergo auch ausgeschlossen werden. Nachdem im Folgenden erklärt wird, worin die Absurdität besteht, wird die dritte Alternative bzw. was Kant mit der eben zitierten, verkürzten und kaum verständlichen Formulierung meint, dargelegt werden. Über die Konstitution der Wahrnehmung schreibt Kant: „Folglich steht alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter den Kategorien“.22 Auf den ersten Blick scheint Kant damit zu behaupten, dass die Wahrnehmung tatsächlich dadurch konstituiert wird, dass die Empfindungsdaten durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft und zwar nach den Regeln der Kategorien vereinheitlicht werden. Aber Kant betont mehrmals23 , dass das Gebiet, auf welches die Kategorien angewendet werden können, nur das des im Raum 21 B

155. 161. 23 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA 4, S. 479, KrV B 291. 22 B

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Gegebenen ist, nämlich das der Erscheinungen als des äußeren Angeschauten. D. h., wir bedürfen „immer äußerer Anschauungen“, um „die objektive Realität“ der Kategorien darzutun.24 Das gültige Gebiet, auf dem die Kategorien angewendet werden können, ist also nicht die Innenwelt, sondern nur die Außenwelt. Aber warum ist das so? Bevor wir bezüglich jeder einzelnen Kategorie den Grund dafür untersuchen, sei zunächst erwähnt, dass die Anwendbarkeit der Kategorien auf das innerlich anschaulich Gegebene der von Kant in der „Widerlegung des Idealismus“ gestellten berühmten These widerspricht, dass die innere Erfahrung die äußere Erfahrung voraussetzt. Die innere Erfahrung ist deswegen von der äußeren abhängig, weil das innerlich anschaulich Gegebene nicht anhand der Kategorien bestimmt werden kann. Konkreter gesagt: Die Zeitverhältnisse der innerlichen Vorstellungen sind nur anhand ihrer Korrelation zur Reihe der äußerlichen Erscheinungen, deren Zeitverhältnisse durch die Anwendung der Kategorien objektiv bestimmt werden, objektiv bestimmbar. Die Annahme, dass die Kategorien auf die Innenwelt angewendet werden könnten, führt noch zu einer anderen Absurdität: Die inneren Gegenstände würden die gleiche Form bzw. Struktur wie die äußeren Gegenstände haben, weil die formale ontologische Struktur der Gegenstände Kant zufolge auf die subjektive Synthesis nach den Kategorien zurückzuführen sei und als ihr konstitutives Korrelat gelte. Kant verneint jedoch in seiner Kritik an der rationalen Psychologie deutlich, dass wir die Seele wie ein physisches Ding erkennen können. Damit kommen wir direkt zum nächsten Punkt. Es soll daran erinnert werden, dass die transzendentale Logik, anders als zu erwarten, Kant zufolge nicht zur allgemeinen Logik, sondern zur besonderen Logik gehört. Die allgemeine Logik kümmert sich nicht um die Verschiedenheit der Gegenstände und ist ergo für alle Arten von Gegenständen gültig. Im Vergleich dazu enthält die besondere Logik „die Regeln, über eine gewisse Art von Gegenständen richtig zu denken.“25 Die transzendentale Logik ist also nur für eine gewisse Art von Gegenständen gültig. Wenn man die Kategorien als Begriffe von Gegenstand überhaupt versteht, muss man beachten, dass die Rede von Gegenstand überhaupt nicht ohne Einschränkung ist. Die Kategorien gehen nur die allgemeinen Bestimmungen derjenigen Gegenstände an, die zu einer besonderen Region gehören. Überdenken wir jetzt in Hinblick auf die Innenwelt die Anwendbarkeit der einzelnen Kategorien. Der Leitfaden dieser Betrachtung, gleichgültig, ob von der 24 B 25 A

291. 52/B 76.

2.1 Die Einheit einer primitiven empirischen Vorstellung: Die Selbst-Affektion

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Innenwelt oder von der Außenwelt die Rede ist, besteht darin, dass die empirische Bedingung der Anwendung einer Kategorie erfüllt werden muss. Konkreter gesprochen: Die Art und Weise, wie ein Gegenstand sich anschaulich bekundet, muss mit dem Schema einer Kategorie übereinstimmen, wenn sie berechtigt auf ihn angewendet werden darf. Was die Kategorie „Substanz“ anbelangt, ist vor allem diese Sachlage in der Innenwelt merkwürdig: „[A]lles, was im inneren Sinn ist, [fließt] beständig“26 . D. h. alle Vorstellungen als solche sind „sehr wandelbar und wechselnd“27 . Deshalb kann durch den inneren Sinn „etwas Beharrliches“, das die Anwendung der Kategorie der Substanz ermöglichen würde, jedoch nur durch den äußeren Sinn „im Raum“ anschaulich gegeben werden kann, nicht bewusst werden.28 Die Art und Weise, wie eine Vorstellung sich im inneren Sinn ergibt, kann also die sinnliche Bedingung der Anwendung der Kategorie der Substanz nicht erfüllen, lässt sich also mit ihrem Schema, nämlich der Beharrlichkeit nicht in Übereinstimmung bringen. Der Grund, warum die Kategorie der Substanz auf die Vorstellungen, welche in diesem Kontext als die durch die Empfindungsdaten erfüllten Zeitphasen verstanden werden sollen, nicht anwendbar ist, besteht jedoch nicht nur darin, dass alle Vorstellungen beständig wechseln, weil alle Erscheinungen auch in der (objektiven) Zeit stets wechseln. Kant nennt tatsächlich auch die Erscheinung „das Wandelbare.“29 Aber im Wechsel der Erscheinungen kann etwas als derselbe Gegenstand in der Zeit betrachtet werden, d. h. als eine Substanz existieren. Der tieferliegende Grund ist aus phänomenologischer Perspektive vielmehr, dass die eigenartige Gegebenheitsweise einer Vorstellung einmalig vollständig und adäquat ist. Deshalb können die verschiedenen Vorstellungen nicht als die verschiedenen Gegebenheiten eines und desselben Gegenstandes, als dessen Aspekte oder Zustände, sondern nur als viele verschiedene Gegenstände betrachtet werden. D. h., jede der Vorstellungen muss als ein „selbständiger“ Gegenstand, der sich einmalig, adäquat und vollständig darbietet, betrachtet werden. Im Vergleich dazu ist die Gegebenheit eines Räumlichen nicht einmalig fertig und vollständig. Es ergibt sich im Prozess von Erscheinungen, die als seine Aspekte oder Zustände betrachtet werden können. Nach der grundsätzlichen phänomenologischen Einsicht, dass die Art bzw. der Typ eines Gegenstandes sich durch die Art und Weise, wie der Gegenstand sich ergibt, bestimmen bzw. erschöpfen lässt, schließt die Art und Weise, wie die Vorstellung sich darbietet, die Vorstellung aus dem Gebiet 26 B

291. XLIV. 28 B 291. 29 A 182. 27 B

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bzw. der Region der Substanz aus. Diejenigen Gegenstände, die unter die „Kategorie“ Substanz subsumiert werden können, müssen sich auf einer anderen Weise, welche sich mit dem Schema der Substanz, nämlich mit der Beharrlichkeit, in Übereinstimmung bringen lässt, bekunden. Derselbe Gegenstand als Substanz ergibt sich also im Wechsel der Erscheinungen, die nur zu der Art, wie diese Substanz existiert, mithin zu ihren Bestimmungen bzw. Zuständen gehören.30 Die gleiche Sachlage scheint im Fall des Ich vorzuliegen. Alle Vorstellungen sind meine Vorstellungen. Sie sind meine inneren Zustände und als die Bestimmungen bzw. Modifikationen meines Gemütes gelten sie als die Art, wie das Ich existiert. Die Vorstellungen sind die verschiedenen Zustände desselben Ich. Warum ist dies nicht in Analogie dazu zu verstehen, dass die Erscheinungen die verschiedenen Zustände desselben Gegenstands als Substanz sind? Warum kann das Ich nicht als eine Substanz betrachtet werden, die im Wechsel ihrer Vorstellungen bzw. ihrer inneren Zustände verharrt? Wir haben den Satz, dass der Gegenstand sich als die Erscheinung darbietet, vom Satz unterschieden, dass der Gegenstand sich (als die Erscheinung) durch die Vorstellung darbietet. Hier finden wir das dritte Moment, nämlich das reine Ich, das als identisches Korrelat jede meiner Vorstellungen begleitet. Die Begleitung zeigt die Ich-Zugehörigkeit der Vorstellung bzw. die Erste-Person-Perspektive der Gegebenheit der Vorstellung. Der vollständige Ausdruck lautet deshalb so: Der Gegenstand bietet sich dem Ich als die Erscheinung durch die Vorstellung dar. Oder: Der Gegenstand wird dem Ich, d. h. aus der Ersten-Person-Perspektive, als die Erscheinung vorgestellt. Die Zugehörigkeit der Erscheinung als der Bestimmung bzw. des Zustandes der Substanz zu dieser Substanz ist also ganz anders als die Zugehörigkeit der Vorstellung als der Bestimmung bzw. des Zustandes des Ich zum Ich. Die Substanz als derselbe Gegenstand ergibt sich als die Erscheinungen und ist in jedem Moment mit einer der Erscheinungen identisch. Im Vergleich dazu ergibt sich die Vorstellung dem Ich. Es ist absurd zu sagen, dass das (reine) Ich sich als die Vorstellung darbietet, was die Behauptung „Das Ich beharrt als Substanz im Wechsel der Vorstellungen“ jedoch voraussetzt. Der Unterschied zwischen den folgenden Sätzen könnte nicht größer sein: „Das Ich ergibt sich als die Vorstellung.“ bzw. „Die Vorstellung ergibt sich als das Ich.“ und „Die Vorstellung ergibt sich dem Ich.“ bzw. „Das reine Ich begleitet als Korrelat die Vorstellung.“ Im Fall des Letzteren sind zwei Elemente, nämlich die Vorstellung und das reine Ich in jedem Moment zu finden, die einander gegenüberstehen. Deshalb ist das reine Ich keine Substanz der Vorstellungen.

30 A

183/ B 227.

2.1 Die Einheit einer primitiven empirischen Vorstellung: Die Selbst-Affektion

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Man darf auch nicht sagen, dass das empirische Ich sich als derselbe Gegenstand im Fluss von Vorstellungen ergibt. Das empirische Ich ist einfach mit dem Fluss der Vorstellungen identisch und ergo keine Substanz, welcher die Vorstellungen inhärieren würden. Dass die Substanz im Wechsel der Erscheinungen als ihrer Zustände oder Bestimmungen beharrt, bzw. dass die Substanz sich im Erscheinungen-Prozess ergibt, bedeutet durchaus nicht, dass die Substanz mit dem Strom der Erscheinungen identisch sei. Die Substanz hat nichts mit dem Verhältnis von Teil und Ganzem zu tun, unter welchem die Vorstellung als ein Ausschnitt des Vorstellungsflusses und das empirische Ich als der Vorstellungsfluss selbst jedoch stehen. In gewissem Sinn kann man einen physischen Fluss als eine Substanz betrachten. Aber jede seiner Erscheinungen bzw. jeder seiner Zustände, nämlich die Art und Weise, wie er in jedem Moment existiert und sich ergibt, ist nicht ein Ausschnitt des ganzen Flusses, sondern eine Modifikation des ganzen Flusses. Der physische Fluss modifiziert sich in der Zeit. Aber die Modifikation eines Flusses ist kein Fluss-Ausschnitt, sondern ein ganzer Fluss. Im Vergleich dazu, dass ein physischer Fluss sich in jedem Moment als ein ganzer Fluss ergibt, ist das empirische Ich in jedem Moment mit einem Ausschnitt des Vorstellungsflusses, nämlich mit einer Vorstellung identisch. Deshalb kann das empirische Ich nicht als eine Substanz und die Vorstellung nicht als dessen Zustand betrachtet werden. Da die Anwendung der Kategorien der Kausalität und Wechselwirkung den „Analogien der Erfahrung“ zufolge die Anwendung der Kategorie der Substanz voraussetzt, ist es folglich auch unmöglich, die Kategorien der Kausalität und Wechselwirkung auf die anschaulichen Vorstellungen als solche anzuwenden. In seinen Ausführungen zum Schematismus schreibt Kant auch, „bloß an ihr (sc. der Substanz) kann die Folge und das Zugleichsein der Erscheinungen der Zeit nach bestimmet werden.“31 Es soll in der zweiten und dritten Analogie der Erfahrung nachgewiesen werden, dass außer der Voraussetzung, dass die Erscheinungen demselben Gegenstand als Substanz zugeschrieben werden, die Anwendung der Relationskategorien von Kausalität und Wechselwirkung auf die Erscheinungen auch notwendig ist, um die objektiven Zeitstellen der Erscheinungen zu bestimmen. Warum das so ist, ist ein Thema des nächsten Paragraphen. Der „Widerlegung des Idealismus“ zufolge können den Vorstellungen die objektiven Zeitstellen nur vermittelst ihrer Korrelation zur Reihe der zeitlich bestimmten Erscheinungen zugeordnet werden. D. h., die Zeitstellen der Vorstellungen können nur mittelbar bestimmt werden, anstatt dadurch, dass die Relationskategorien von Kausalität und Wechselwirkung direkt auf die Vorstellungen angewendet würden. 31 A

144/B 183.

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Daraus folgt auch, dass nach Kants Ansicht von der Anwendung der Relationskategorien von Kausalität und Wechselwirkung auf die Vorstellungen keine Rede sein kann. Wie ist es mit den Kategorien von Quantität? Können wir apriorisch wissen, dass eine anschauliche Vorstellung als solche extensive Größe hat? Das ist widersinnig. Die Vorstellung als solche, die nicht im Raum ist, kann keine extensive Größe haben. Es ist also nur sinnvoll zu sagen, dass ihr Gegenstand, nämlich die Erscheinung als das im Raum Vorgestellte, notwendig über extensive Größe verfügt. Was Kant mit „Axiomen der Anschauung“ meint, sind also eigentlich Axiomen des Angeschauten. Wir haben im ersten Kapitel Kants Beschreibung der Apprehension der Erscheinung folgenderweise dargestellt: Wir können in einem Augenblick ein bestimmtes Maß von räumlicher Größe, nämlich von gegenständlichem Material, unmittelbar erfassen bzw. apprehendieren. Dieses bestimmte Maß von gegenständlichem Material wird als absolute Einheit betrachtet und dient ergo als Grundmaß, dessen Iteration zu „Vielheit“ führt. Diese Vielheit ist nichts anderes als die extensive Größe. Sie geht also ausschließlich das räumlich Gegebene an. Nach dieser Darstellung ist es klar, dass man das Schema der Quantitätskategorien, nämlich die Zahl, nicht nur als die transzendentale Bestimmung der Zeit verstehen darf, weil für die Versinnlichung bzw. Schematisierung der Quantitätskategorien auch der Raum eine Rolle spielt. Es ist gerechtfertigt zu sagen, dass das Schema der Quantitätskategorien auch die transzendentale Bestimmung des Raums umfasst. Dies widerspricht der Kantischen Lehre vom Schematismus der Kategorien, welche die Schematisierung der Kategorien ausschließlich als die Verzeitlichung der Kategorien versteht. Das ist eine Schwäche in dieser Lehre. Man mag einwenden, dass es plausibel sei, dass die Vorstellung zeitlich ausgedehnt sei, weil jede Vorstellung sich über eine Zeitspanne erstrecken müsse, sonst könne sie nicht in der Zeit sein.32 Dass die Vorstellung sich über eine aus einigen Zeitphasen gebildete Zeitspanne erstrecht, ist Kant zufolge auch eine Möglichkeitsbedingung dafür, dass ein Mannigfaltiges als solches durch die Vorstellung vorgestellt werden kann. Ist daraus, dass die Zeitspanne einer Vorstellung notwendig aus einigen Zeitphasen besteht, nicht zu entnehmen, dass die Vorstellung notwendig über zeitlich extensive bzw. ausgedehnte Größe verfügt? Man darf aber nicht übersehen, dass diejenige Zeit, in der sich die Vorstellung als solche notwendig befindet, nur die subjektive bzw. immanente Zeit und nicht messbar ist. Dies schließt aber nicht aus, dass die verdinglichte Vorstellung, nämlich die Vorstellung als psychologisches Ereignis oder Vorkommnis sich über eine messbare 32 Vgl.:

Emundts, Dina, Kant über innere Erfahrung, a. a. O., S. 192.

2.1 Die Einheit einer primitiven empirischen Vorstellung: Die Selbst-Affektion

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Zeitspanne erstreckt. D. h., die verdinglichte Vorstellung ist nicht mehr in der subjektiven Zeit, sondern in der objektiven Zeit und kann zeitlich extensive Größe haben. Die objektive Zeit als die messbare Zeit muss räumlich als eine Zeitlinie repräsentiert werden. Dies zeigt, dass diese zeitlich extensive Größe auch auf die räumliche Bestimmung zurückgeführt werden muss. Aber die Kategorien der Qualität scheinen eine Ausnahme zu sein. Es scheint plausibel zu sein, dass sowohl die anschauliche Vorstellung als solche als auch die Erscheinung als das räumliche Angeschaute notwendig intensive Größe, d.i. einen Grad, haben müssen, sonst könnten sie nicht sein, d. h. nicht gegeben werden. Im Fall der Erscheinungen als räumlich Angeschautes geht es um die qualitative Erfüllung der räumlichen Extension und die Gradualität dieser Erfüllung. Das ist Kants Thema in „Antizipationen der Wahrnehmung“. Dasjenige Material, das eine räumliche Extension erfüllen kann, muss über die Räumlichkeit verfügen und kann ergo nicht aus den Empfindungsdaten bestehen. Deshalb sollte Kant in diesem Textabschnitt nicht die Empfindungsdaten und deren Gradualität in der Wahrnehmung als solcher, sondern das gegenständliche Material in der Erscheinung als dem Wahrgenommenen und die Gradualität dieses Materials behandeln. Entsprechend sollte der genauere Titel des Textabschnitts „Antizipationen des Wahrgenommenen“ sein. Im Vergleich dazu betrifft die intensive Größe im Fall der anschaulichen Vorstellung den „Reichtum“, „Umfang“ oder die „Lebendigkeit“ der Empfindungen.33 Zum Beispiel mag es sinnvoll zu sein, sowohl nach der Intensität bzw. dem Grad eines Stücks Rot selbst als auch nach der Intensität bzw. dem Grad der Empfindungen in meiner Wahrnehmung von Rot zu fragen. Kant schreibt: „[…], so wird ihr (s.c. der Empfindung) zwar keine extensive, aber doch eine Größe […], also eine intensive Größe zukommen, welcher korrespondierend allen Objekten der Wahrnehmung, sofern diese Empfindung enthält, intensive Größe, d.i. ein Grad des Einflusses auf den Sinn, beigelegt werden muß.“34 Eine intensive Größe bzw. ein Grad kommt also Kant zufolge sowohl den Empfindungen in der Wahrnehmung, deswegen auch der Wahrnehmung selbst, als auch dem Gegenstand der Wahrnehmung, nämlich der Erscheinung zu. Es ist aber sehr bedenklich, die eine intensive Größe mit der anderen intensiven Größe gleichzusetzen, obwohl sie einen innerlichen und wesentlichen Zusammenhang miteinander haben. In diesem Zitat redet Kant in der Tat über zwei Arten von intensiver Größe, die miteinander korrespondieren und ergo nur mit zwei Arten von Material verbunden werden müssen. Die Stichhaltigkeit unserer Zwei-Arten-Materie-These bestätigt sich hier 33 Vgl.: 34 B

Hua XIX, LU, A 555/B2 83. 208.

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erneut. Es ist bemerkenswert, dass Husserl zwei Arten von Extension unterscheidet, von denen die eine die Räumlichkeit der Erscheinung und die andere die „präphänomenale“ bzw. „präempirische“ Ausdehnung der Empfindungen ist.35 Die Art der extensiven Größe in der Wahrnehmung selbst ist Husserl zufolge also anders als die in der Erscheinung. Wahrscheinlich aus gleichem Grund unterscheidet Kant die eine Art der intensiven Größe in der Erscheinung von der anderen Art der intensiven Größe in der Wahrnehmung. Es ist nicht zu bestreiten, dass in Kants Erörterung über das Schema der Qualitätskategorien der Grad der Empfindungen, welche die immanente Zeit erfüllen, in den Vordergrund rücken.36 Dies führt zu dem falschen, jedoch weit verbreiteten Verständnis, dass das Schema der Qualitätskategorien der Grad der Erfüllung der Zeit ist. Diese Hervorhebung des Grads der Erfüllung der Zeit ist nicht berechtigt. Wie wir oben ausgeführt haben, hat Kant tatsächlich außer der intensiven Größe der Empfindungen, d. h. außer dem Grad der Erfüllung der Zeit, auch die intensive Größe des gegenständlichen Materials, nämlich den Grad der Erfüllung des Raums konzipiert. Das letztere muss in Wahrheit in den Vordergrund treten, wenn wir über die apriorische Bestimmung bzw. die gegenständliche Einheit der Erscheinung sprechen. Konkreter gesprochen: Im Übergang von Realität zur Negation erfüllt das gewiss intensive gegenständliche Materials mehr oder weniger ein Stück Raum bis es in Nichts aufhört. Diesem Übergang korrespondiert, dass „man von der Empfindung, die einen gewissen Grad hat, in der Zeit bis zum Verschwinden desselben hinabgeht, […]“37 Obwohl diese beiden Vorgänge miteinander im innigsten Zusammenhang stehen, darf man den einen mit dem anderen nicht verwechseln. Streng gesagt ist das Schema der Qualitätskategorien der Grad der Erfüllung des Raums, was der Annahme widerspricht, dass das Schema einer Kategorie nur die transzendentale Bestimmung der Zeit angeht. Wir finden die gleiche Schwäche wie im Fall des Schematismus der Quantitätskategorien. Wie ist es zu verstehen, dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, durch die die Wahrnehmung möglich ist und die bzw. deren Leistung eine notwendige Ingredienz der Wahrnehmung selbst ist, unter den Kategorien steht, wenn keine Kategorie auf die anschauliche Vorstellung als solche, bzw. auf die Wahrnehmung selbst angewendet werden darf? Das ist das erste Problem, das 35 Vgl.:

Hua XVI, §§ 20, 21, 22. „Nun hat jede Empfindung einen Grad oder Größe, wodurch sie dieselbe Zeit, d.i. den inneren Sinn in Ansehung derselben Vorstellung eines Gegenstandes, mehr oder weniger erfüllen kann, bis sie in nichts (= 0 = negatio) aufhört.“ A 143/ B 182. 37 A 143/B 183. 36 Vgl.:

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mit dem inneren Sinn verbunden ist. Die Lösung des Problems besteht in der Unterscheidung von der Wahrnehmung und der Erscheinung als dem Wahrgenommenen. In Anbetracht dessen, dass die Kategorien auf die Wahrnehmung selbst nicht angewendet werden dürfen, ist nicht zu entnehmen, dass die Kategorien auch auf das Wahrgenommene als Erscheinung nicht angewendet werden dürfen. Wir haben im ersten Kapitel ausgeführt, dass die Kategorien von Quantität und Qualität für die Konstitution der Erscheinung notwendig sind. Sie funktionieren als leitende Regeln für die Synthesis der Einbildungskraft, durch die aus dem mannigfaltigen gegenständlichen Material die einheitliche Erscheinung wird. Anders gesprochen: Die Anwendung der Kategorien von Quantität und Qualität ist notwendig, um die Erscheinung als eine extensives und intensives Mannigfaltiges in sich enthaltende Einheit zu erfassen. Allerdings ist zu beachten, dass diejenigen Kategorien, unter welchen diese Synthesis steht, nur die Kategorien von Quantität und Qualität sind. Kant bezeichnet diese Klasse als mathematische Kategorien, die auf die Erscheinung selbst als den Gegenstand der Anschauung gerichtet sind.38 Die Relationskategorien, die die Verhältnisse der Erscheinungen zueinander regeln, kommen noch nicht ins Spiel, wenn die einzelne Erscheinung betrachtet wird. Die andere Klasse, zu der die Relationskategorien gehören, ist die der dynamischen Kategorien, die entweder auf die „Beziehung (der Erscheinung) auf einander oder auf den Verstand“ gerichtet sind.39 Man kann wohl ein Haus wahrnehmen, ohne daran zu denken, dass das Haus notwendig in der Zeit beharrt. Aber das wahrgenommene Haus muss eine bestimmte Gestalt im Raum haben und seine Farbe muss eine bestimmte Intensität haben, sonst könnte es überhaupt nicht wahrgenommen werden. D. h., ohne dergleichen können es nicht gegeben werden. Die Sachlage ist also so: Die Möglichkeit der anschaulichen Vorstellung ist auf gewisse Weise von der durch die Kategorien geleiteten transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft abhängig, welche sich jedoch nicht direkt an der Konstitution der anschaulichen Vorstellung, sondern nur an der Konstitution der Erscheinung betätigt. Angesichts dieser Bemerkung lässt sich vermuten, dass die Möglichkeit der Konstitution der anschaulichen Vorstellung die der Konstitution der Erscheinung voraussetzt. Wenn es so ist, ist es auch gerechtfertigt zu sagen, dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft mittelbar dadurch die Wahrnehmung als die anschauliche Vorstellung ermöglicht, dass sie unmittelbar die Erscheinung als das Wahrgenommene ermöglicht.

38 B 39 B

110. 110.

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Wie ist die Abhängigkeit der Möglichkeit der anschaulichen Vorstellung von der Möglichkeit der Erscheinung zu verstehen? Sie kann nichts anderes bedeuten, als dass die Erscheinung die Individualisierung der anschaulichen Vorstellung in der immanenten Zeit leistet und zwar anhand ihrer Korrelation zur anschaulichen Vorstellung. Anders gesprochen: Die anschauliche Vorstellung verdankt ihre Einheit der Erscheinung als ihrem Korrelat. Ihre Einheit, welche die erste der vier zu erforschenden Arten Einheit der Vorstellung ist, und die sie bildenden Zeitphasen zu einer macht, stammt mithilfe dieser Korrelation aus der Einheit der Erscheinung. „The transparence of experience“ schließt einerseits aus, dass die Empfindungsdaten die Individualisierung und Identifikation der Vorstellung in der immanenten Zeit stiften können. Andererseits weist sie auf die richtige Alternative, nämlich die Erscheinung hin, weil diese das notwendige Korrelat der Vorstellung ist, welches wir immer unmittelbar finden, wenn wir die transparente Vorstellung durchschauen. Aron Gurwitsch schreibt: „Überhaupt kann von der Dauer ‚eines‘ Aktes nur im Hinblick auf das identische Noema die Rede sein. Der Akt selbst ist den Gesetzen der phänomenalen Zeitlichkeit unterworfen; was den aufeinander folgenden Phasen Einheit gibt und sie zu Phasen eines Aktes macht, ist die noematische Vermeintheit, die als identische in allen Phasen intendiert ist.“40

Damit weist Gurwitsch darauf hin, dass die Individualisierung bzw. Identifikation der Vorstellung in der inneren Zeit nur in Korrelation zur Gestaltung der Erscheinung möglich ist. Was die Abgrenzung der einen Vorstellung von der anderen Vorstellung, bzw. die Abgrenzung der die eine Vorstellung bildenden Zeitphasen von der die andere Vorstellung bildenden Zeitphasen möglich macht, sind ihre verschiedenen Korrelate, nämlich die verschiedenen Erscheinungen. Wenn die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft eine Erscheinung gebildet hat, ist auch die Vorstellung, welche der Erscheinung entspricht, in der immanenten Zeit individualisiert worden. D. h., die diese Strecke bildenden Zeitphasen werden abgegrenzt und vereinheitlicht. Die Vorstellung kann folglich als eine immanente Einheit bzw. ein Ganzes durch den inneren Sinn bewusstwerden. Dass die Vorstellung nur durch die Affektion der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft

40 Gurwitsch, Aron, Kants Theorie des Verstandes, a. a. O., S. 153. Vgl. auch: „[…] no account of the temporality and especially the duration of an act of consciousness is possible without reference to the noema involved.“ Gurwitsch, Aron, Husserl’s Theory of the Intentionality of Consciousness, in: Dreyfus, Hubert (Hrsg.), Husserl, Intentionality, and Cognitive Science, Cambrige / Mass.: The MIT Press 1982, S. 65.

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auf den inneren Sinn bewusstwerden kann, bedeutet also, dass die Individualisierung der Vorstellung in der immanenten Zeit von der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft abhängig ist. Aber die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft betätigt sich nicht unmittelbar an den Empfindungsdaten. Stattdessen bildet sie unmittelbar nur die Erscheinung, welche als das notwendige Korrelat der Vorstellung entspricht und die Individualisierung der Vorstellung bzw. deren Abgrenzung von den anderen Vorstellungen in der immanenten Zeit ermöglicht. Die Verbindung des Mannigfaltigen des inneren Sinns wird zwar durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft hervorgebracht, d. h., sie ist „synthetischer Einfluss des Verstandes auf den inneren Sinn“41 . Aber sie ist nur eine Nebenwirkung bzw. ein zusätzliches Resultat davon, dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sich unmittelbar am Mannigfaltigen des äußeren Sinns, d. h. an dem gegenständlichen bzw. räumlichen Material betätigt. Anders gesprochen: Eine „bestimmte Anschauung“42 kann nur das Korrelat zu einer bestimmten Erscheinung als dem bestimmten Angeschauten sein. Ihre Möglichkeit ist also auf diese Korrelation angewiesen. Da eine bestimmte Erscheinung durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft gebildet wird, ist es berechtigt zu sagen, dass die bestimmte Anschauung als solche mittelbar nur durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft möglich ist. Gegen die These, dass die Individualisierung bzw. Einheit der Vorstellung auf die Korrelation der Vorstellung zur entsprechenden Erscheinung und ergo mittelbar auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft angewiesen ist, mag man einwenden, dass der Erlebnisstrom Husserl zufolge seine Einheit weder einem anderen Strom, d. h. weder seiner Korrelation zu einem anderen Strom, noch der Einbildungskraft verdankt. Stattdessen entsteht seine Einheit aus seiner eigenen Zeitform. Ebenso ist die Einheit bzw. Identifizierung des einzelnen Erlebnisses auf seine Zeitstruktur angewiesen.43 Konkreter gesprochen: Jede momentane Phase des Erlebnisses ist nicht ein absoluter, diskreter Punkt. Ihre zeitliche Form ist vielmehr ein „Zeitfeld“ bzw. „Zeithof“, der eine aus den drei Momenten „Retention, Urimpression und Protention“ bildende Kontinuität ist. Kontinuierlich wandelt sich Protention in Urimpression, frühere Urimpression in Retention, und diese in modifizierte Retention usw. Die Retention ist 41 B

154. 154. 43 Vgl.: „Dass diese Identifizierung möglich ist, dass hier ein Objekt konstituiert ist, das liegt an der Struktur der Erlebnisse, dass nämlich jede Phase des Stroms sich in Retention ‚von …‘ wandelt, diese wieder usw. Ohne das wäre ein Inhalt als Erlebnis nicht denkbar, Erlebnis wäre sonst prinzipiell nicht dem Subjekt als Einheit gegeben und zu geben und wäre somit nichts.“ Hua V, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 131. 42 B

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Retention von Urimpression. Die Retentionen höherer Stufe sind ein „kontinuierliches Ineinander von Retentionen von Retentionen.“44 In dieser Weise trägt die Retention „sozusagen in Form einer Abschattungsreihe das Erbe der ganzen vorangegangenen Entwicklung in sich.“45 Aufgrund dieser eigenartigen Struktur bzw. dieser eigenartigen Intentionalität im inneren Zeitbewusstsein, die ersichtlich ganz anders als die Akt-Intentionalität ist und mit letzterer zusammen die „doppelte Intentionalität des Bewusstseinsstromes“ bildet, konstituiert sich die Einheit des Erlebnisstroms.46 Aber dieser Husserlschen Sicht der Zeitkonstitution widerspricht nicht, dass die Individualisierung eines Erlebnisses, welches aus einigen Zeitphasen besteht, auf sein Korrelat angewiesen ist. Konkreter gesagt: Die oben beschriebene eigenartige Struktur bzw. Intentionalität im inneren Zeitbewusstsein ist keine hinreichende, sondern nur notwendige Bedingung für die Individualisierung eines jeweiligen Erlebnisses. Wenn jede momentane Phase des Erlebnisses ein absoluter, diskreter Punkt wäre, könnten die jeweiligen Phasen aufgrund ihrer Korrelation zu ein und derselben Erscheinung höchstens als ein „Haufen“ von Phasen betrachtet werden. D. h., sie könnten nicht als ein einheitliches Erlebnis, welches ein echtes Ganzes ist, konstituiert werden. Die bezügliche Struktur bzw. Intentionalität im inneren Zeitbewusstsein kann jedoch nur die Einheit des Erlebnisstroms erklären. Die Individualisierung des jeweiligen Erlebnisses innerhalb des einheitlichen Zeitstromes verlangt eine zusätzliche Bedingung. Jedes Erlebnis ist ein bestimmter Ausschnitt aus diesem einheitlichen Strom. Was diesen Ausschnitt als diesen bestimmt und die in ihm enthaltenen Zeitphasen von anderen Zeitphasen abgrenzt, ist eben seine Korrelation zu ein und derselben Erscheinung. Die gleiche These, dass die Individualisierung bzw. Einheit der Vorstellung auf die Korrelation der Vorstellung zur entsprechenden Erscheinung und ergo mittelbar auf die die Erscheinung konstituierende transzendentale Synthesis der Einbildungskraft angewiesen ist, findet man auch bei Kant. Er schreibt: „Bewegung als Handlung des Subjekts, (nicht als Bestimmung eines Objects,) folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir von diesem abstrahieren und bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt sogar den Begriff der Sukzession zuerst hervor.“47

44 Hua

III, Ideen I, S. 164. III, Ideen I, S. 327. 46 Hua V, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, S. 130. 47 B 155. 45 Hua

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Damit weist Kant hinsichtlich des Verständnisses der Beziehung zwischen dem inneren Sinn und der Handlung des Subjekts in die gleiche Richtung, wie die obige von Gurwitsch in Husserls Terminologie ausgedrückte These. Zuerst macht Kant deutlich, dass die Handlung des Subjekts, konkreter gesagt die Synthesis der Einbildungskraft, sich nicht an den Empfindungen, sondern am „Mannigfaltigen im Raum“, d. h. am gegenständlichen Material betätigt. Dies haben wir oben und vor allem im ersten Kapitel bereits vorgeschlagen. Die Stichhaltigkeit dieser Interpretation bestätigt sich hier erneut. Durch dieselbe Handlung bzw. Synthesis wird jedoch der innere Sinn bestimmt, was besagt, dass die mannigfaltigen Empfindungen im inneren Sinn in eine einheitliche Vorstellung und ferner in die Sukzession von Vorstellungen vereinheitlicht werden. Dass dies geschehen kann, verlangt eine Blickwendung vom Gegenstand der Handlung auf diese Handlung selbst. Das Entscheidende ist also das „Achthaben“ auf die Verstandeshandlung als solche. Um den inneren Sinn zu bestimmen, bzw. um das reine Mannigfaltige des inneren Sinns, nämlich die Zeitphasen zu bestimmen, muss eine Umkehrung der Anschauungs- und Denkrichtung vollzogen werden. Die Synthesis der Einbildungskraft als die gegenständliche Handlung des Subjekts betätigt sich unmittelbar nur am Mannigfaltigen im Raum, nämlich am gegenständlichen Material. Aber was bedeutet es, dass der innere Sinn bzw. das reine Mannigfaltige des inneren Sinns als die Zeitphasen auch durch diese Handlung bestimmt wird? Wie ist es zu verstehen, dass die eine und selbe Handlung der Synthesis der Einbildungskraft zugleich auf zwei Ebenen bzw. auf zwei sich gegenüberstehenden Seiten zwei verschiedene Wirkungen hat? Dies liegt an der umgekehrten Denkrichtung: Anstatt nur auf die gegenständliche Leistung der Handlung haben wir reflexiv auch auf die Handlung selbst Acht. Während im Vollzug der Verstandeshandlung meine Aufmerksamkeit auf ihren Gegenstand gerichtet ist, ist meine Aufmerksamkeit in der Reflexion auf die Verstandeshandlung selbst gerichtet. D. h., ich betrachte die Handlung als solche und zwar als „Bewegung“ in der immanenten Zeit. Dadurch, dass sie sich über einige Zeitphasen erstreckt, werden diese bzw. „ihre“ Zeitphasen von anderen Zeitphasen abgegrenzt und ergo in diesem Sinn verbunden. Aus dem Vorangehenden ist deutlich geworden, dass diese Abgrenzung und Verbindung keineswegs dadurch entstehen, dass die Verstandeshandlung diese Zeitphasen unmittelbar synthetisieren würde. Sonst würde die synthetisierende Verstandeshandlung bedeuten, dass sie anstatt etwas Anderen sich selbst synthetisieren würde. Kant lehnt also einerseits die Annahme ab, dass die eine Art Aktivität der Synthesis das gegenständliche Material als eine Erscheinung formt und die andere Art Aktivität der Synthesis die Empfindungsdaten bzw. die durch

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die Empfindungsdaten erfüllten Zeitphasen als die Vorstellung gestaltet. Anderseits verneint er, dass die eine und selbe Aktivität der Synthesis sich zugleich am gegenständlichen Material und an den durch die Empfindungsdaten erfüllten Zeitphasen betätigt und das erstere als die Erscheinung und letztere als die Vorstellung vereinheitlicht. Stattdessen betätigt sich die einzigartige Aktivität der Synthesis nur am gegenständlichen Material. Die von Johannes Haag vertretene folgende Deutung der Selbst-Affektion muss als Fehldeutung abgelehnt werden: „Sobald diese Aktivität sich gleichsam auf sich selbst richtet, bestimmt sie sich selbst.“48 bzw. „Durch unsere spontane Aktivität affizieren wir unseren inneren Sinn und synthetisieren diese Aktivität deshalb gemäß der Form der inneren Anschauung.“49 Diese Aktivität als „Bewegung“ des Subjekts differenziert, demarkiert und individualisiert jedoch die Zeitphasen als das Mannigfaltige im inneren Sinn, indem sie sich selbst im inneren Sinn hervorbringt, bzw. indem sie sich über die Zeitphasen im inneren Sinn erstreckt und „bewegt“. Der Vollzug der SynthesisAkte resultiert also in der Individualisierung der Zeitphasen als des Mannigfaltigen im inneren Sinn, wo die Synthesis-Akte geschehen. Die Sukzession von Vorstellungen im inneren Sinn ist nichts anderes als die Sukzession der Synthesis-Akte des Subjekts selbst. Dadurch, dass die Synthesis-Akte sich selbst hervorbringen, bringen sie auch den Begriff der Sukzession hervor. Es sollte daran erinnert werden, dass Husserl eine Vorstellung als solche mit Noesis gleichsetzt. Der wesentliche reelle Bestandteil in der Noesis ist der Akt der Sinngebung. Der andere reelle Bestandteil der Noesis sind die Empfindungen. Damit möchten wir hervorheben, dass die Vorstellung nicht etwas der Aktivität der Sinngebung bzw. der Synthesis Äußerliches ist. Stattdessen sind die Handlung und die Vorstellung miteinander verwoben. Wir haben zitiert: „Der Verstand findet also in diesem (sc. dem inneren Sinn) nicht etwa schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn affiziert.“50 Laut unserer Interpretation ist es ersichtlich, dass das Zitat nicht beweisen kann, dass der Verstand sich unmittelbar an dem Mannigfaltigen des inneren Sinns betätigt. Anders gesprochen: Dass die Tätigkeit der Synthesis des Verstandes die einheitliche Verbindung zwischen den Zeitphasen hervorbringt, bedeutet nicht, dass sie direkt die mannigfaltigen Zeitphasen synthetisiert.

48 Haag,

Johannes, Affektion, a. a. O., S. 30.

49 Ebd. 50 B

155.

2.1 Die Einheit einer primitiven empirischen Vorstellung: Die Selbst-Affektion

81

Um den inneren Sinn zu bestimmen, müssen wir Kant zufolge statt auf den Gegenstand der Synthesis als der Handlung des Subjekts auf diese Handlung selbst achten. Dies impliziert jedoch keineswegs, dass der Gegenstand der Handlung, d. h. die Erscheinung, in der Bestimmung des inneren Sinns bzw. in der Konstitution der Vorstellung keine Rolle spielen würde. Ganz im Gegenteil: Die Vorstellung verdankt ihre Einheit ihrer Korrelation zur einheitlichen Erscheinung. Der Grund dafür besteht darin, dass Kant die Handlung des Subjekts ausschließlich funktional bestimmt. Die Handlung, für sich betrachtet, ist sozusagen transparent. D. h., die Handlung als solche kann nur anhand ihrer Leistung bzw. Wirkung verstanden und identifiziert werden. Die Konstitution der Erscheinung ist eben die Leistung der Handlung des Subjekts. Aus den zuletzt herangezogenen Ausführungen folgt, dass eine bloße Sache wie „Ich habe eine Wahrnehmung von einem Ding“ das Resultat einer komplexen Wechselbeziehung des äußeren Sinns, des inneren Sinns und des Verstandes ist. Und ferner: Dass die Wahrnehmung selbst durch den inneren Sinn bewusstwird, ist damit gleichzusetzen, dass die Verstandestätigkeit durch den inneren Sinn bewusstwird. Die Wahrnehmung des äußeren Dings ist also die Verstandestätigkeit. Die folgende statische Beschreibung kann die in Rede stehende Sachlage verdeutlichen. Durch den äußeren Sinn wird das Mannigfaltige im Raum gegeben, welches sich als das gegenständliche Material von den Empfindungen als dem nicht-gegenständlichen Material unterscheidet, obwohl das letztere auch anhand des äußeren Sinns entsteht. Die Verstandestätigkeit synthetisiert das Mannigfaltige im Raum zu dem einheitlichen Ding bzw. zu dessen Erscheinung und zwar nach den Kategorien von Quantität und Qualität als Regeln. Dann kann die Wahrnehmung vom Ding als die in demselben Vorgang entstandene Vorstellung im inneren Sinn nichts anderes als das einheitliche Ganze sein, welches aus der operierenden Verstandestätigkeit selbst und denjenigen von den Empfindungen erfüllten Zeitphasen, über welche sie sich erstreckt, besteht. Die durch das Erstrecken bzw. den Vollzug der Verstandestätigkeit entstandene Verbindung zwischen den mannigfaltigen Zeitphasen ist eine Modifikation bzw. Abgrenzung in der Zeit als der Form des inneren Sinns. Deshalb kann man sagen, dass der innere Sinn durch das Erstrecken bzw. den Vollzug der Verstandestätigkeit affiziert wird. Dass die dadurch entstandene Verbindung zwischen den mannigfaltigen Zeitphasen von einer Art „Synthesis“ ist, dürfte der Grund für das weit verbreitete Missverständnis sein, dass die Verstandestätigkeit direkt die reinen mannigfaltigen Zeitphasen bzw. die von den Empfindungen erfüllten Zeitphasen synthetisiere, weil sie auch von einer Art „Synthesis“ ist. Selbst wenn die am gegenständlichen Mannigfaltigen des äußeren Sinns getätigten Operation des Verstandes gar nicht von einer Art „Synthesis“ wäre, könnte ihr Erstrecken bzw. ihr Vollzug in der immanenten

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2

Kant und das Problem des inneren Sinns …

Zeit auch zur Verbindung zwischen den mannigfaltigen Zeitphasen führen. Aber das Missverständnis, dass diese Verbindung das Produkt der Verstandestätigkeit an den mannigfaltigen Zeitphasen sei, würde nicht entstehen. Obwohl im obigen Zitat nicht zu finden ist, dass die Individualisierung der Handlung selbst in der immanenten Zeit von deren gegenständlichem Korrelat abhängig ist, bzw. dass die Individualisierung der Handlung selbst in der immanenten Zeit nur in Korrelation zur Individualisierung der Erscheinung als ihrer gegenständlichen Leistung möglich ist, hat Kant dennoch die entscheidende umgekehrte Denkrichtung deutlich betont. Für die Individualisierung der Handlung selbst vollziehen wir keine neue Synthesis. Die Umkehrung der Richtung besagt auch nicht, dass die Tätigkeit der Handlung der Synthesis nicht mehr auf das gegenständliche Material gerichtet wäre. D. h., sie wäre auf sich selbst oder die nicht-gegenständlichen Zeitphasen gerichtet. Stattdessen bleiben die einzige Handlung der Synthesis und ihr einziger Gegenstand, nämlich das gegenständliche Material, unverändert. Nur unsere Aufmerksamkeit überträgt sich vom Gegenstand der Synthesis auf diese Synthesis selbst. Die bloße Konversion der Denkrichtung schließt die Möglichkeit aus, dass die bezügliche Individualisierung als Vereinheitlichung durch die Betätigung der Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft an sich selbst bzw. an den nichtgegenständlichen Zeitphasen geleistet werden kann, weil diese eine und selbe Tätigkeit immer nur geradehin auf das gegenständliche Material gerichtet ist. Deshalb muss die folgende weit verbreitete Interpretation abgelehnt werden: Dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft den inneren Sinn affiziert bzw. bestimmt, bedeute, dass die Einbildungskraft die Empfindungen bzw. die Zeitphasen als das reine Mannigfaltige im inneren Sinn unmittelbar synthetisieren würde. Kant zeigt in der „Widerlegung des Idealismus“, dass es eine Illusion ist, dass die innere Erfahrung der äußeren Erfahrung vorzuziehen sei. Stattdessen setzt die innere Erfahrung die äußere Erfahrung voraus. D. h. die zeitlichen Stellen der Vorstellungen können nur durch ihre Korrelation zur Reihe von Erscheinungen bestimmt werden. Nach der obigen Ausführung können wir ferner festlegen, dass die Möglichkeit der einzelnen Vorstellung die Möglichkeit der einzelnen Erscheinung als ihres Korrelates voraussetzt. Konkreter gesagt: Die immanente Einheit der Vorstellung, aufgrund deren die in der Vorstellung enthaltenen Zeitphasen als ein Ganzes der Zeitstrecke betrachtet werden können, ist von der Korrelation der Vorstellung zur Erscheinung abhängig. Kant macht deutlich, „dass wir die Bestimmung der Zeitlänge, oder auch der Zeitstellen für alle inneren Wahrnehmungen, immer von dem hernehmen müssen, was uns äußere Dinge

2.2 Die Einheit einer Urteilsvorstellung …

83

Veränderliches darstellen“51 . Sowohl die Zeitstelle einer einzelnen Wahrnehmung als auch deren Zeitlänge, nämlich Zeitstrecke, sind also auf die entsprechende Erscheinung angewiesen. Wir haben im ersten Kapitel festgelegt, dass die primitive Apprehension der Erscheinung bereits durch die Kategorien von Quantität und Qualität geregelt worden ist, d. h. sie normgemäss ist. Die Erscheinung ist also bereits ein kategorial partiell bestimmter Gegenstand, bzw. ihre Apprehension ist nur anhand der Anwendung der Kategorien von Quantität und Qualität möglich. Dass die Einheit der anschaulichen Vorstellung von deren Korrelation zur entsprechenden Erscheinung abhängig ist, impliziert, dass sie auch auf das durch die Kategorien von Quantität und Qualität geregelte Denken angewiesen ist. Wenn Kant behauptet, dass eine Anschauung eine Vorstellung ist, „die vor allem Denken gegeben sein kann“52 bzw. dass die Erscheinung der unbestimmte Gegenstand der Anschauung ist,53 lässt sich daran erkennen, dass Kant sich daher zu stark von einer einzelnen Idee leiten lässt. Diese Idee besagt, dass das Denken vor allem mit der hochstufigen Gegenständlichkeit „Sachverhalt“ verbunden ist. Für die Bestimmung der Gegenständlichkeit des Sachverhaltes bzw. für die hochstufige Objektivierung als das Als-wirklich-angesehen-werden spielt das durch die Relationskategorien geregelte Denken die zentrale Rolle. Anders gesprochen: Kant bezieht das Denken und dessen Leistung, nämlich die durch das Denken gestiftete Bestimmung zunächst und zumeist nicht auf die Konstitution der einzelnen Vorstellung bzw. der korrelierenden Erscheinung als gegenständlichen Erscheinung, sondern auf die Konstitution des einheitlichen Zusammenhangs zwischen den Vorstellungen bzw. zwischen deren gegenständlichen Korrelaten.

2.2

Die Einheit einer Urteilsvorstellung und die durch die innere Erfahrung ausgedrückte Einheit: Die Fundierung der objektiven Zeit auf der subjektiven Zeit

Eine der kantischen zentralen Aussagen, von denen man oft verwirrt wird, ist die, dass die Zeit nur die Form des inneren Sinns und nicht wie der Raum die Form des äußeren Sinns ist. Kant schreibt, „Die Zeit ist nichts anders, als die Form des

51 B

156. 132. 53 A 20/ B 34. 52 B

84

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Kant und das Problem des inneren Sinns …

inneren Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustands. Denn die Zeit kann keine Bestimmung äußerer Erscheinungen sein;“54 Es scheint durchaus unmöglich zu sein, dass die Zeit keine Bestimmung äußerer Erscheinungen sein kann. Man erinnert sich daran, dass es sich in den „Analogien der Erfahrung“ um diejenigen apriorischen Bedingungen handelt, unter denen das Erkennen der objektiven zeitlichen Verhältnisse in den Erscheinungen möglich ist. Die Anwendung der Kategorien der Kausalität soll zum Beispiel erforderlich sein, um das Erkennen bzw. Bestimmen der objektiven Folge der Erscheinungen zu ermöglichen. Das Erkennen der objektiven Zeitordnung von Gleichzeitigkeit zwischen den Erscheinungen soll die Anwendung der Kategorien der Wechselwirkung voraussetzen. Die Rede von dem Erkennen bzw. der Bestimmbarkeit der zeitlichen Verhältnisse der Erscheinungen wäre absurd, wenn die Erscheinungen gar keine zeitliche Bestimmung hätten. Das ist das zweite Problem, das mit dem inneren Sinn verbunden ist. Der Kontext, wo und wie Kant die angeblich unverständliche These, dass die Zeit keine Bestimmung der Erscheinungen sein kann, stellt, ist im Auge zu behalten. Wenn man diese These und den ihr vorherliegenden Satz im obigen Zitat zusammenbetrachtet, dann lautet sie tatsächlich, dass diejenige Zeit, die die Form des inneren Sinns bzw. der Vorstellungen ist, keine Bestimmung der Erscheinungen sein kann. Diese vollständig formulierte These schließt offensichtlich nicht aus, dass eine andere Art von Zeit die Bestimmung der Erscheinungen sein kann. Dies weist darauf hin, dass die Lösung des in Rede stehenden Problems wieder in der strengen Unterscheidung der Vorstellung und der Erscheinung als dem Vorgestellten besteht, von denen jede eine eigenartige Zeitform hat. Um die zeitliche Bestimmung der Erscheinung zu erklären, werden drei Thesen als konkurrierende Alternativen in der Kant-Literatur vorgeschlagen. Der Fortgang unserer Überlegung wird zeigen, dass die ersten beiden Thesen falsifiziert werden müssen, weil sie auf der Identifizierung der Erscheinung als des Vorgestellten mit der Vorstellung selbst beruhen. Die Zeitlichkeit der Vorstellungen des inneren Sinns braucht wegen der Zeitform des inneren Sinns keine (zusätzliche) Erklärung. Wenn die Vorstellung des inneren Sinns zugleich selbst in der Tat „äußere Erscheinung“ oder die äußere Erscheinung zugleich selbst in der Tat eine Art Vorstellung wäre, wäre die Zeitlichkeit der Erscheinung ohne weiteres erklärt. Die beiden Thesen, von denen die erstere die Universalität des äußeren Sinns und die letztere die Universalität des inneren Sinns behauptet, stammen aus einem und demselben Missverständnis des Ausdrucks „die Vorstellung des äußeren Sinns“. 54 A

33/B 49.

2.2 Die Einheit einer Urteilsvorstellung …

85

Wenn man die Vorstellung des äußeren Sinns richtig als diejenige Vorstellung, die sich auf die äußerliche, d. h. räumliche Erscheinung bezieht und diese als ihren Gegenstand vorstellt, versteht und ergo die Vorstellung des äußeren Sinns streng von dem räumlichen Vorgestellten, nämlich von der Erscheinung selbst unterscheidet, dann kann man die eine und selbe Vorstellung des äußeren Sinns zugleich als die Vorstellung des inneren Sinns bezeichnen. Man darf ferner gleichzeitig sagen: „Alle Vorstellungen sind Vorstellungen des äußeren Sinns.“55 und „Alle Vorstellungen sind Vorstellungen des inneren Sinns.“ Diese beiden Sätze widersprechen sich nicht und schaden weder der Differenzierung zwischen dem äußeren und dem inneren Sinn noch der Differenzierung zwischen der Vorstellung und der Erscheinung. Sie werden beide von Kant vertreten. Mit ersterem Satz ist gemeint: 1. Alle Vorstellungen beziehen sich auf die äußerlichen Erscheinungen als ihre gegenständlichen Korrelate. 2. Die Empfindungsdaten, die ein materiales konstitutives Moment der Vorstellung sind, müssen sozusagen „von außen“ stammen, statt dass das Gemüt sie sich selbst anbieten könnte. 3. Die Konstitution der Vorstellung bzw. von deren Einheit ist, wie gezeigt worden ist, auf die entsprechende äußerliche Erscheinung angewiesen. Mit letzterem Satz ist gemeint: Alle Vorstellungen werden durch den inneren Sinn und ergo dessen Form entsprechend bewusst. Nach der obigen Interpretation des Satzes „Alle Vorstellungen sind Vorstellungen des äußeren Sinns.“ kann man feststellen, dass Kant mit den folgenden Textstellen nichts besonderes meint: Wir haben „doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unseren inneren Sinn“ von den „Dingen außer uns“56 . In innerer Anschauung machen „die Vorstellungen äußerer Sinne den eigentlichen Stoff aus […], womit wir unser Gemüt besetzen“57 . Damit meint Kant also auf keinen Fall, dass alle Vorstellungen selbst in der Tat äußerliche Erscheinungen sind. Deshalb muss der erste Vorschlag einer Erklärung der Zeitlichkeit der Erscheinung abgelehnt werden. Wir kommen jetzt zum zweiten Vorschlag. Der Satz „Alle Vorstellungen sind Vorstellungen des inneren Sinns.“ ist, wie ausgeführt, selbst richtig. Aber er wird fälschlicherweise als die „These von der Universalität des inneren Sinns“ 55 Die Vorstellungen beschränken sich im für uns in Frage kommenden erkenntnistheoretischen Kontext auf die Vorstellungsklasse von Wahrnehmung. 56 B XXXIX Anm. 57 B 67.

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Kant und das Problem des inneren Sinns …

verstanden und ergo in Verbindungen mit der Erklärung der Zeitlichkeit der äußeren Erscheinung gebracht. Die zweite These wird auch „Subordinationsthese“ genannt, weil sie die Subordination des äußeren Sinns unter den inneren Sinn behauptet. Mohr bringt die These auf den Satz: „Der innere Sinn ist ein alle Vorstellungen, auch die Vorstellungen des äußeren Sinns, umfassendes Vermögen.“58 bzw. „Die Vorstellungen des äußeren Sinns bilden eine Teilmenge der Vorstellungen des inneren Sinns.“59

Wenn man den Satz richtig versteht, enthält er nichts Bestreitbares. Er besagt nichts anderes, als dass Wahrnehmung eine Art Vorstellung ist. Sowohl die inneren Vorstellungen bzw. die Vorstellungen des inneren Sinns als auch die äußeren Vorstellungen bzw. die Vorstellungen des äußeren Sinns sind Vorstellungen, die als „Modifikationen des Gemüts“60 , „Modifikation[en] des inneren Sinns“61 , bzw. die inneren Zustände des Gemüts62 im inneren Sinn und ergo in der Zeit sind. Dass einige Vorstellungen besonders als die äußeren Vorstellungen bzw. als die Vorstellungen des äußeren Sinns gekennzeichnet werden, heißt nicht, dass sie als solche zugleich im Raum sind, sondern dass sie sich auf die räumlichen Gegenstände, nämlich die Erscheinungen beziehen. Einige Vorstellungen, nämlich die Wahrnehmungen, stellen also die räumlichen Erscheinungen dar und haben sie als ihre gegenständlichen Korrelate. Angesichts dieser Aussage der zweiten These verdient sie nicht den Namen „Subordinationsthese“. Die äußere Vorstellung muss streng vom äußeren Vorgestellten als ihrem Gegenstand unterschieden werden. Dass die äußere Vorstellung selbst wie alle anderen Vorstellungen vermittelst des inneren Sinns vorgestellt bzw. bewusstwird, heißt nichts weniger, als dass ihr Gegenstand, nämlich die Erscheinung als ihr gegenständliches Korrelat vermittelst des inneren Sinns bewusstwird. Deshalb wird die Ungleichartigkeit der Vorstellung und der Erscheinung durch die Festlegung, dass die äußeren Vorstellungen, bzw. die Vorstellungen des äußeren Sinns, im inneren Sinn sind, gar nicht berührt. Sie besagt ergo keine Subordination des äußeren Sinns unter den inneren Sinn. Mit der richtigen These, dass alle Vorstellungen des äußeren Sinns im inneren Sinn sind, kann man also die Zeitlichkeit der Erscheinung nicht erklären. Sie besagt nicht, dass 58 Mohr, 59 Ebd., 60 A

Georg, Das sinnliche Ich. Innerer Sinn und Bewusstsein bei Kant, a. a. O., S. 84. S. 86.

99. 367. 62 A 22/B 37. 61 A

2.2 Die Einheit einer Urteilsvorstellung …

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die Erscheinungen als die Wahrgenommenen im inneren Sinn sind, sondern dass die Wahrnehmungen im inneren Sinn sind. Man nennt die zweite These „Subordinationsthese“ und nimmt am, dass die Zeitlichkeit der Erscheinung damit erklärt werden kann. Dies ist deswegen möglich, weil man fälschlicherweise die Vorstellung des äußeren Sinns mit der äußeren Erscheinung selbst identifiziert. Zum Beispiel behauptet Mohr, die Annahme, dass die Vorstellungen, „die äußere Phänomene zum Inhalt haben, eine Teilmenge der Klasse der »psychologischen Phänomene«“ bilden, sei zugleich die Annahme der Subordination des äußeren Sinns unter den inneren Sinn,63 weil er die erstere Annahme mit dem folgenden Satz gleichsetzt: „Alle Vorstellungen gehören zum inneren Sinn und stehen unter der Zeitform, einige von ihnen gehören darüber hinaus noch zum äußeren Sinn und stehen unter der Raumform.“64 Es stellt sich in Hinblick auf erstere Annahme die entscheidende Frage: Was heißt es, dass die Vorstellungen „äußere Phänomene zum Inhalt haben“? Mohr versteht darunter offensichtlich, dass die Vorstellungen nichts anderes als die äußeren Phänomene selbst sind, weil diese Vorstellungen selbst Mohr zufolge „unter der Raumform stehen“. Sie seien also mit den äußeren Phänomenen identisch.65 Dass die äußeren Phänomene zum äußeren Sinn gehören und unter der Raumform stehen, besage Mohr zufolge eben, dass diejenigen Vorstellungen selbst, welche diese äußeren Phänomene zum Inhalt haben, zum äußeren Sinn gehören und unter der Raumform stehen. Dass die Vorstellungen die äußeren Phänomene zum Inhalt haben, besagt unserer Ausführung im ersten Kapitel zufolge jedoch, dass die äußeren Phänomene die gegenständlichen Inhalte bzw. die gegenständlichen Korrelate der Vorstellungen sind. Man darf keineswegs die Vorstellung selbst mit der Erscheinung als ihrem gegenständlichen Inhalt identifizieren,66 obwohl sie als untrennbare Korrelationsglieder in einer einheitlichen Korrelation einander entsprechen. Die Vorstellung 63 Mohr,

Georg, Das sinnliche Ich, a. a. O., S. 92.

64 Ebd. 65 Wir werden bald sehen, dass Mohr an einer anderen Stelle eine ganz andere These über die Vorstellung und deren Inhalt vertritt. 66 Dies ist eben die These, welche Mohr einige Seiten später nach obigem Zitat vertritt. Er schreibt: „Dabei kommt dem äußeren Sinn die Funktion zu, die sinnliche Qualität eines raumzeitlichen Gegenstandes, den Inhalt einer Wahrnehmung, vorzustellen (»Ich sehe rot«), wohingegen aufgrund des inneren Sinns das Vorstellen als solches sinnlich gegeben ist (»Ich sehe rot«).“ (Mohr, Georg, Das sinnliche Ich, a. a. O., S. 104.) Es ist damit deutlich, dass einerseits der Inhalt einer Vorstellung, nämlich der Inhalt einer Wahrnehmung (von Rot), das äußere Phänomen „Rot“ ist, dass andererseits diese Vorstellung selbst das „Sehen“ ist. Das Vorstellen und das Vorgestellte als dessen Inhalt werden dabei von Mohr voneinander streng unterschieden.

88

2

Kant und das Problem des inneren Sinns …

ist Vorstellung vom äußeren Phänomen. D. h., sie stellt das äußere Phänomen vor und bezieht sich auf es als ihren Gegenstand, was vor allem die Leistung des äußeren Sinns ist. Aber es ist ein völlig anderer Vorgang, dass dieselbe Vorstellung zugleich sich selbst vorstellt und in diesem Sinn Selbstanschauung ist. Für die letztere Sache ist vor allem der innere Sinn als das Vermögen der „Selbstanschauung“67 zuständig. Deshalb ist die These, dass die Vorstellungen, die die äußeren Phänomene zum Inhalt haben, zum inneren Sinn gehören und unter der Zeitform stehen, nicht damit gleichbedeutend, dass die äußeren Phänomene bzw. Erscheinungen zum inneren Sinn gehören und unter der Zeitform stehen würden. Sie besagt also gar nicht die Subordination des äußeren Sinns unter den inneren Sinn und kann auch die Zeitlichkeit der Erscheinungen nicht erklären. Kann man zugleich die Erscheinung als das Vorgestellte streng von der Vorstellung unterscheiden und die Zeitlichkeit der Erscheinung erklären? Kann man einerseits ablehnen, dass die Vorstellung in Wirklichkeit Erscheinung ist, bzw. dass die Erscheinung in der Tat eine Art Vorstellung ist, und anderseits die Zeitlichkeit der Erscheinung erklären? In den folgenden Zitaten findet man Kants Hinweis auf die dritte Alternative, welche auch der von Husserls Phänomenologie verfolgte Weg ist: „[…], so ist die Zeit eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt, und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch mittelbar auch der äußern Erscheinungen.“68 „Die Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung ist jederzeit sukzessiv. Die Vorstellungen der Teile folgen auf einander. Ob sie sich auch im Gegenstande folgen, ist ein zweiter Punkt der Reflexion, der in dem ersteren nicht enthalten ist.“69

Mit den Begriffspaaren „unmittelbar und mittelbar“ und „erste und zweite“ weist Kant darauf hin, dass die Zeitlichkeit der Vorstellung mit der Zeitlichkeit der Erscheinung nicht identisch ist und die diversen Schichten der Zeit folglich voneinander zu differenzieren sind.70 Auf der ersten Ebene ist die Zeit die unmittelbare Bedingung der anschaulichen Vorstellung als solche im Gemüt und auf der zweiten Ebene bezeichnet Kant dieselbe Zeit als die mittelbare Bedingung der

67 B

157. 34/B 50. 69 A 189/B 234. 70 Der Unterscheidung der beiden Schichten der Zeit entspricht Kants Unterscheidung zwischen der Zeit als der Form der sinnlichen Anschauung und der Zeit als dem (bestimmten) formlichen Angeschauten. 68 A

2.2 Die Einheit einer Urteilsvorstellung …

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Erscheinungen als der Gegenstände der Erfahrung. Die Zeitlichkeit der Erscheinung ist zwar nicht die Zeitlichkeit der Vorstellung. Aber die letztere ist ihre notwendige Bedingung. Es ist ersichtlich, dass diejenige Zeit, die die Form des inneren Sinns ist und in der alle Vorstellungen als solche, d. h. in ihrer Eigenwesentlichkeit und Reinheit, notwendig bestehen, die subjektive Zeit ist. Im Vergleich dazu befinden sich die Erscheinungen als die objektiven Gegenstände der Erfahrung in der objektiven Zeit. Trotzdem ist es nicht so, dass die Erscheinungen nichts mit der subjektiven Zeit zu tun haben. Die subjektive Zeit gilt jedoch (mittelbar) als eine Bedingung der Zeitlichkeit der Erscheinungen als der Gegenstände der Erfahrung. Dies ist deshalb nur zu verstehen, dass die objektive Zeit derivativ und zwar auf der subjektiven Zeit als der originären und primitiven Zeitschicht fundiert ist. Die Fundierung der Zeitlichkeit der Erscheinung auf der Zeitlichkeit der Vorstellung impliziert, dass die erstere Zeitlichkeit einerseits auf irgendeiner Weise die letztere in sich enthält und anderseits etwas mehr als diese besagt. Mit letzterem Punkt ist gemeint, dass die Zeitlichkeit der Erscheinung allein aus der Zeitlichkeit der Vorstellung nicht ableitbar ist. Die subjektive Zeitlichkeit ist keine hinreichende, sondern nur notwendige Bedingung für die objektive Zeitlichkeit. Für die Möglichkeit der Zeitlichkeit der Erscheinung ist also zusätzliche Bedingung erforderlich. Um das Verhältnis der in Rede stehenden Fundierung zu verstehen, muss also erklärt werden: 1. Was bedeutet es, dass die subjektive Zeitlichkeit eine notwendige Bedingung für die Konstitution der objektiven Zeitlichkeit ist? Bzw. wie ist das Enthalten-Sein zu verstehen? 2. Was ist die andere notwendige Bedingung für diese Konstitution? Was ist die Leistung des zusätzlichen Faktors? Die beiden notwendigen Bedingungen bilden Kant zufolge der hinreichenden Bedingungen für die Konstitution der objektiven Zeitlichkeit der Erscheinung. Man mag einwenden, dass die Herausarbeitung diverser Zeitschichten wie der objektiven physikalischen Zeit und der subjektiven Zeit und ihres FundierungVerhältnisses nicht der kantischen Theorie, sondern nur der Phänomenologie zugeschrieben werden kann. Folgende Zitate mögen andeuten, dass Kant trotz seiner oft missverständlich vorgetragenen Erörterungen und der Inkonsequenz seiner Terminologie jedoch de facto die obige Konzeption und zwar nicht nur in Ansätzen dargelegt hat. Es ist bekannt, dass Kant an verschiedenen Stellen zwei verschiedene Auskünfte über das Zeitverhältnis gibt. Mit „Zeitverhältnis“ ist ausschließlich dasjenige Verhältnis gemeint, in welchem das, was in der Zeit existiert, untereinandersteht. D. h. sein Verhältnis zur Zeit selbst, nämlich die Dauer, bzw. die Beharrlichkeit und die Wandelbarkeit, ist dabei nicht gemeint. Nach der einen

90

2

Kant und das Problem des inneren Sinns …

Auskunft ist das Nacheinander das einzige Zeitverhältnis. Nach der anderen sind das Nacheinander und das Zugleichsein die beiden Zeitverhältnisse. Diese Schwierigkeit lässt sich aber leicht auflösen, wenn man bemerkt, dass die eine Auskunft im Hinblick auf das subjektive Zeitverhältnis zwischen den Vorstellungen und die andere in Bezug auf die objektiven Zeitverhältnisse zwischen den Erscheinungen gegeben wird. Über das subjektive Zeitverhältnis zwischen den Vorstellungen, nämlich Sukzession (Nacheinander-sein), schreibt Kant: „Unsere Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung ist jederzeit sukzessiv, und ist also immer wechselnd.“71 Die Apprehension bzw. die apprehendierende Vorstellung als solche, welche sich vom Apprehendierten, nämlich vom Mannigfaltigen der Erscheinung unterscheidet, ist also jederzeit und immer nacheinander. D. h., sie kann mit einer anderen Apprehension nicht zugleich sein. Die einzige subjektive lagezeitliche Bestimmung vom Verhältnis der Vorstellungen ist nach dieser Stelle das Nacheinander. Kant bezeichnet das Wesen der (subjektiven) Zeit, nämlich das, was die Zeit qua Zeit auszeichnet, als Folge. Sich der Vorstellungen nach der Form des inneren Sinns, d. h. nach der Zeitform bewusst zu sein, bedeutet deshalb, sich ihrer als in einer Zeitfolge bewusst zu sein.72 Das relationale lagezeitliche Bestimmung zwischen den Vorstellungen ist also nur das „Früher und Später“. Da die Redeweise „y ist später als x.“ dasselbe wie die Redeweise „x ist früher als y.“ bedeutet, kommen wir mit der einzigen Redeweise „x ist früher als y.“ aus, um das einzige lagezeitliche Verhältnis zwischen den Vorstellungen zu beschreiben. Über die objektiven Zeitverhältnisse zwischen den Erscheinungen, nämlich Sukzession (Veränderung, Nacheinander-sein, Wechsel, Folge) und Zugleichsein (Simultaneität) schreibt Kant: „Simultaneität und Sukzession sind die einzigen Verhältnisse in der Zeit“.73 „Alle Erscheinung sind in der Zeit, in welcher, […], das Zugleichsein sowohl als die Folge allein vorgestellt werden kann.“74 „Aller Wechsel (Sukzession) der Erscheinungen ist nur Veränderung; […]“75

71 A

182/B 225.

72 Vgl.: „[W]ir sind uns ihrer (sc. der Vorstellungen), als in einer Zeitfolge, d.i. nach der Form

des innern Sinnes, bewusst.“ (A 37/B 54 Anm.) 73 A 182/B 226. 74 B 224. 75 B 233.

2.2 Die Einheit einer Urteilsvorstellung …

91

Aus diesen Stellen folgt, dass Kant die objektiven Zeitverhältnisse der Erscheinungen in die objektive Aufeinanderfolge und das objektive Zugleichsein der Erscheinungen einteilt. D. h., im Vergleich zu den Vorstellungen als solchen können die Erscheinungen miteinander außer nacheinander auch zugleich sein. Deshalb ist die Frage, wie die objektive Zeit konstituiert wird, damit gleichzusetzen, wie diese beiden objektiven Zeitverhältnisse der Erscheinungen bestimmt werden können, was bekanntlich die Thematik der „Analogien der Erfahrung“ ist. Die Fundierung der objektiven Zeitverhältnisse auf dem subjektiven Zeitverhältnis, bzw. der Übergang von der subjektiven Zeitordnung zur objektiven besagt nichts weniger als dass das subjektive Zeitverhältnis der Vorstellungen objektiviert wird und die Vorstellungen danach als objektive Ereignisse betrachtet werden, wie wir im Anfang des ersten Kapitels anhand der Konstitution der hochstufigen Gegenständlichkeit des Sachverhaltes ausgeführt haben. Dass das subjektive Zeitverhältnis der Vorstellungen objektiviert wird und die Vorstellungen danach als objektive Ereignisse betrachtet werden, ist das, was Kant mit der Bildung der inneren Erfahrung meint. Aber sie setzt der „Widerlegung des Idealismus“ zufolge die äußere Erfahrung voraus, welche das Erkennen der objektiven Zeitverhältnisse der Erscheinungen besagt. Deshalb geschieht die innere Erfahrung auf einer noch höheren, nämlich dritten Ebene und wird auf den objektiven Zeitverhältnissen der Erscheinungen fundiert. Eine Vorstellung als solche unterscheidet sich streng von der Erscheinung als ihrem Gegenstand. Auch eine objektivierte bzw. verdinglichte Vorstellung als objektives (psychisches) Ereignis darf nicht mit der Erscheinung als Ereignis gleichgesetzt werden. Wenn die objektivierte Vorstellung keine objektive Erscheinung ist und das objektivierte Zeitverhältnis der Vorstellungen nicht das zu konstituierende objektive Zeitverhältnis der Erscheinungen ist, wie ist die Fundierung der objektiven Zeitverhältnisse auf dem subjektiven Zeitverhältnis zu verstehen? Es kann nur sein, dass die Erscheinungen aufgrund ihrer Korrelation zu den sukzessiven Vorstellungen miteinander zuerst im subjektiven, sozusagen rudimentären und vorläufig postulierten Zeitverhältnis stehen und dieses Zeitverhältnis danach unter irgendwelchen Bedingungen weiter objektiviert, d. h. objektiv bestimmt wird. Unter „Wahrnehmungsurteil“ versteht Kant dasjenige Urteil, welches nicht über die Wahrnehmungen als solche bzw. deren Zeitverhältnisse, sondern über die Erscheinungen als die Wahrgenommenen als solche bzw. deren Zeitverhältnisse gefallen ist. Als Beispiel für ein solches Wahrnehmungsurteil haben wir im ersten Kapitel „Die Erwärmung des Steins folgt dem Bescheinen der Sonne.“ erwähnt. Es unterscheidet sich also deutlich von der anderen Art Wahrnehmungsurteil: „Meine Wahrnehmung (von der Erwärmung des Steins) folgt meiner anderen Wahrnehmung (des Sonnenscheins).“ Entsprechend besagt der Übergang

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Kant und das Problem des inneren Sinns …

von Wahrnehmungsurteil zu Erfahrungsurteil, dass nicht die Wahrnehmungen als solche und deren Zeitverhältnis, sondern die Erscheinungen als solche und deren Zeitverhältnisse objektiv bestimmt werden. Im Zusammenhang lautet das Erfahrungsurteil: „Die Sonne erwärmt den Stein.“ Damit bestätigt sich, dass die in Rede stehende Art Wahrnehmungsurteil über das subjektive Zeitverhältnis zwischen den Erscheinungen als solchen anstatt zwischen den Vorstellungen gefallen ist. Wie ist aber das subjektive Zeitverhältnis zwischen den Erscheinungen als solchen zu verstehen? Unsere Apprehension der Erscheinungen ist jederzeit sukzessiv, gleichgültig, ob die Erscheinungen „an sich“ objektzeitlich nacheinander oder zugleich sind, wie Kants Beispiele „die Apprehension von den Positionen eines den Strom hinabgleitenden Schiffes“ und „die Apprehension von den Teilen eines Hauses“ zeigen. Da die Vorstellungen sukzessiv sind, ist es berechtigt anzunehmen, dass die jeweiligen Vorgestellten, nämlich die Erscheinungen als solche als ihre respektive Korrelate auch sukzessiv sind. Mit „als solche“ ist hervorgehoben, dass die in Rede stehende Erscheinung der korrelative Gegenstand der Vorstellung ist, soweit und so wie er durch diese Vorstellung vorstellig ist. Entsprechend sind die Erscheinungen an sich mit den objektiv bestimmten Gegenständen der Erfahrung gleichzusetzen. Der Gegensatz „Erscheinung als solche und Erscheinung an sich“ hat deshalb mit dem anderen Gegensatz „Erscheinung und Ding an sich“ nichts zu tun. Der erstere Gegensatz ist eine Differenzierung innerhalb des ontologischen Gebietes der Erscheinung, welche als ein Oberbegriff im Gegensatz zu „Ding an sich“ verstanden wird. Es lässt sich ferner feststellen, dass die jeweilige Erscheinung als das Vorgestellte als solches vermöge ihrer Korrelation zur jeweiligen Vorstellung dieselbe Zeitstelle wie diese Vorstellung hat.76 Die Annahme, dass die Erscheinungen als solche wegen ihrer notwendigen Korrelation zu den Vorstellungen über die subjektive Zeitlichkeit verfügen, unterscheidet sich deutlich von der falschen Behauptung, dass die Erscheinungen deswegen diese subjektiv zeitliche Form haben, weil sie selbst eine Art Vorstellung wären, d. h. eine Teilmenge der Vorstellungen des inneren Sinns bilden würden. Die gleiche Konzeption befindet sich bei Husserl. Er unterscheidet die Vorstellung als intentionales Erlebnis von der Erscheinung als ihrem intentionalen Korrelat, nämlich als dem intentionalen Gegenstand streng und konsequent. Nachdem Husserl die immanente bzw. subjektive Zeitlichkeit als die notwendige Form der Erlebnisse gekennzeichnet hat, stellt er die Frage: Welchen Einfluss hat diese 76 Vgl.: „Halten wir also fest, dass das noematische Korrelat eines jeweiligen intentionalen Aktes, wenn es in voller Konkretion genommen wird, zeitlich individuiert ist, gerade wie dieser Akt selbst.“ Bernet, Rudolf, Husserls Begriff des Noema, a. a. O., S. 65.

2.2 Die Einheit einer Urteilsvorstellung …

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Eigenschaft der Erlebnisse auf die intentionalen Gegenstände? Seine Antwort lautet: „[D]ie immanente Zeit, in der sich die Erlebnisse konstituieren, ist damit zugleich die Gegebenheitsform aller in ihnen vermeinten Gegenstände.“77 Nach diesem Zitat schreibt Husserl die subjektive Zeitlichkeit nicht den intentionalen Gegenständen, sondern nur ihrer Gegebenheitsform zu. Wie ist das konkret zu verstehen? In Hinblick auf die Zeitlichkeit der realen Gegenständlichkeit macht Husserl eine Unterscheidung von „Gegebenheitszeit“ und objektiver Zeit bzw. „Naturzeit“.78 Diese Gegebenheitszeit gehört dem jeweiligen Gegebenen des realen bzw. objektiven Gegenstandes, d. h., sie gehört der jeweiligen Erscheinung des Gegenstandes und wird mit der subjektiven Zeit gleichgesetzt. Anders gesprochen: Die Erscheinung als solche, d. h. als das jeweilige Vorgestellte verfügt aufgrund ihrer Korrelation zur Vorstellung vorerst nur über die subjektive Zeitlichkeit als die Gegebenheitszeit, welche sich von der objektiven Zeitlichkeit des realen Gegenstandes unterscheidet. „Wie in gewisser Weise schon Kant bemerkt hat“, „… ein gegebenes Nacheinander braucht nicht ein objektives Nacheinander zu sein, …“79 Husserl knüpft hier also an Kant an. Die folgende Schwierigkeit erhebt sich hinsichtlich der Annahme, dass es berechtigt ist, von der subjektiven Zeitlichkeit der Vorstellung auf die subjektive Zeitlichkeit des Vorgestellten, nämlich der Erscheinung als solche, welche das intentionale Korrelat zur Vorstellung ist, zu schließen. Während das Denken des Satzes des Pythagoras zeitlich ist, verfügt sein gegenständliches Korrelat, nämlich der Satz des Pythagoras als das Gedachte, über keine zeitliche Bestimmung. Das Korrelation-Verhältnis, betrachtet für sich, unterscheidet sich in den beiden Fällen nicht. Was führt dazu, dass der Schluss der Zeitlichkeit des einen Korrelationsglieds auf die Zeitlichkeit des anderen Korrelationsglieds im einen Fall berechtigt und im anderen Fall nicht berechtigt ist? Es lässt sich vermuten, dass der Unterschied darauf zurückzuführen ist, dass das gegenständliche Material im einen gegenständlichen Korrelationsglied, nämlich in der Erscheinung besteht und im anderen gegenständlichen Korrelationsglied, nämlich im idealen Gegenstand nicht. Die Fundierung der objektiven Zeit auf der subjektiven Zeit, welche den Übergang von der subjektiven Zeitordnung zur objektiven meint, ist also nicht damit gleichzusetzen, die subjektive Vorstellungsfolge als die objektive Ereignisfolge zu bestimmen, sondern damit, den miteinander im subjektiven, sozusagen rudimentären und vorläufig postulierten Zeitverhältnis stehenden Erscheinungen objektive 77 Husserl,

Erfahrung und Urteil, S. 305. S. 305. 79 Ebd., S. 307 f. 78 Ebd.,

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Zeitstellen zuzuordnen. Da die einzige subjektive Zeitordnung, in der die Vorstellungen sich unterstehen, wie gezeigt worden ist, die des Nacheinander ist, ist das aufgrund der Korrelation der Erscheinungen als solchen zu den Vorstellungen entstandene Zeitverhältnis der Erscheinungen als solchen nur das Nacheinander. Die Aufgabe, die Fundierung der objektiven Zeit auf der subjektiven Zeit zu erklären, besteht folglich noch darin, die objektiven topologischen Zeitverhältnisse der Erscheinungen, welche Kant in die objektive Aufeinanderfolge und das objektive Zugleichsein der Erscheinungen einteilt, auf der Basis ihres einzigen rudimentären postulierten lagezeitlichen Verhältnisses, nämlich des Nacheinander aufzubauen.80 Wir nehmen an: x und y seien irgendwelche Dinge bzw. Ereignisse, denen die objektiven topologischen zeitlichen Ordnungen „Aufeinanderfolge und Zugleichsein“ eingeprägt werden sollen. Diese Zuordnungen sollen nach Kant folgenden Bedingungen genügen, welche nach der vorstehenden Darstellung nur die Redeweise von der einzigen subjektiven lagezeitlichen Relation des Nacheinanders bzw. Früher (und Später) enthalten dürfen: x ist früher als y genau dann, wenn x früher als y wahrgenommen wird und y niemals früher als x wahrgenommen wird, bzw. wenn eine Wahrnehmung von x früher als eine Wahrnehmung von y ist und keine Wahrnehmung von y früher als eine Wahrnehmung von x ist. x ist gleichzeitig mit y genau dann, wenn x einmal früher als y wahrgenommen und y ein andermal früher als x wahrgenommen wird, bzw. wenn eine Wahrnehmung von x früher als eine Wahrnehmung von y ist und eine Wahrnehmung von y früher als eine Wahrnehmung von x ist. Durch jede Wahrnehmung wird eine eigene Erscheinung apprehendiert. Diese Erscheinung als das eigene Korrelat dieser Wahrnehmung, nämlich als das Wahrgenommene als solches hat die gleiche subjektive zeitliche Stelle wie diese Wahrnehmung. Wir haben ausgeführt, dass unter „Wahrnehmungsurteil“ Kant 80 Vgl.: „Das Nacheinander ist von der Folge bzw. dem Wechsel grundsätzlich zu unterscheiden und Grundlage des letzteren. […] Mit dem ersteren ist die reine Struktur, mit dem zweiten deren gesetzmäßige Bestimmung gemeint. Diese Unterscheidung […], wird erst verständlich bei der topologischen Bestimmung der Zeit.“ Karen, Gloy, Studien zur theoretischen Philosophie Kants, Würzburg: Königshausen und Neumann 1990, S. 47 (Fußnote 17). Auch: „[D]ie Grundform der Zeit ist das Nacheinander. Zugleichsein und Dauer bzw. Beharrlichkeit (was mit dem Nacheinander zugleich ist) sind nach Kant Bestimmungen, die auf die Grundform des Nacheinander aufbauen und diese voraussetzen“. Mohr, Georg, Transzendentale Ästhetik, in: Mohr, Georg / Willaschek, Marcus (Hrsg.), Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin: Akademie Verlag 1998, S. 107–130, S. 116.

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dasjenige Urteil versteht, welches über das subjektive Zeitverhältnis zwischen den wahrgenommenen Erscheinungen gefallen ist. Die Erscheinungen erhalten das Zeitverhältnis nur wegen ihrer Korrelation zu den im subjektiven Zeitverhältnis stehenden Wahrnehmungen. Deshalb ist das erstere Zeitverhältnis nicht nur subjektiv, sondern ganz gleich wie das letztere. Es hat den einzigen Modus: Aufeinanderfolge. Deshalb sind die obigen Bedingungen in folgender Weise umzuformulieren: x ist früher als y genau dann, wenn eine Erscheinung von x früher als eine Erscheinung von y und keine Erscheinung von y früher als eine Erscheinung von x wahrgenommen wird. x ist gleichzeitig mit y genau dann, wenn eine Erscheinung von x früher als eine Erscheinung von y und eine Erscheinung von y früher als eine Erscheinung von x wahrgenommen wird. Es ist von großer Bedeutung zu beachten, dass eine und dieselbe Erscheinung durch vielfache Wahrnehmungen zu verschiedener Zeiten apprehendiert werden kann, dass diese Wahrnehmungen von einer und derselben Erscheinung sind, dass ein und dasselbe Ding bzw. Ereignis in der Zeit sowohl unverändert als auch unterschiedlich erscheinen kann, dass die zu verschiedenen Zeiten apprehendierten Erscheinungen, gleichgültig, ob sie miteinander gleich sind oder nicht, Erscheinungen von einem und demselben Ding bzw. Ereignis sein können. Deshalb darf man an der obigen definierten Bedingung für die Bestimmung des Zugleichsein keinen Anstoß nehmen, obwohl sie widersprüchlich zu sein scheint. Jede der beiden topologischen Zeitordnungen wird oben durch zwei lagezeitliche Bedingungen definiert. Es soll in der zweiten Analogie der Erfahrung nachgewiesen werden, dass außer der Annahme der Beharrlichkeit der Substanz als einer allgemeinen Voraussetzung, welche als die apriorische Bedingung dafür gilt, dass die bezüglichen mannigfaltigen Erscheinungen demselben Gegenstand zugeschrieben werden können, das Kausalprinzip als Normierungsprinzip verlangt wird, um die obigen Bedingungen, vor allem die zweite Bedingung für die Bestimmung des topologischen Zeitverhältnisses der Folge zu erfüllen. In der dritten Analogie der Erfahrung will Kant nachweisen, dass außer der allgemeinen Voraussetzung der Substanz das Normierungsprinzip der Wechselwirkung für die Erfüllung der obigen beiden mit der Definition der topologischen Zeitbestimmung des Zugleichsein verbundenen Bedingungen erforderlich ist. Diesem Verfahren entspricht der Übergang des Kantischen Wahrnehmungsurteils zum Erfahrungsurteil, bzw. die Fundierung des letzteren auf dem ersteren. Ob Kant tatsächlich in der

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Lage ist, seine jeweiligen Thesen erfolgreich zu verteidigen, soll hier nicht weiter betrachtet werden. Hier geht es hauptsächlich darum, wie Kant die objektive Zeitlichkeit der Erscheinung erklärt, bzw. wie die objektive Zeit Kants Auffassung nach auf der subjektiven Zeit fundiert wird. Wir möchten noch einmal betonen, dass die Fundierung der objektiven Zeitbestimmung auf der subjektiven Zeitbestimmung keineswegs die Ableitung bzw. Deduktion der ersteren aus der letzteren bedeutet. Die subjektive Zeitbedingung ist also nicht hinreichende, sondern nur notwendige Bedingung für die Konstitution der objektiven Zeitbestimmung. Die Anwendung der Relationskategorien ist Kant zufolge zusätzlich erforderlich. Husserl behandelt das Problem der Konstitution der objektiven Zeit unter dem gleichen Gesichtspunkt. Er nennt die Kantische wahrgenommene Erscheinung als solche „Phantom“ und fragt nach den Möglichkeitsbedingungen, unter denen das objektive Ding auf den Phantomen bzw. unter denen die Zeitlichkeit des ersteren auf der Zeitlichkeit des letzteren fundiert wird: „Das Problem ist, was für Regeln müssen für Zeitphantome gelten, …, damit auf Grund des Phantoms sich das individuelle Ding (zeitlich-real) konstituieren kann?“81 Wie Kant bezeichnet Husserl das Kausalgesetz als die entscheidende Regel. Die wahrgenommenen Phantome müssen kausal bestimmt sein, damit ihre objektive bzw. topologischen Zeitordnungen erkennbar wird, was nichts anderes ist, als dass sie sich so als objektives Ding bzw. Sachverhalt bekunden können.82 Die These, dass die objektive Zeit auf der subjektiven Zeit basiert, findet ihre Bestätigung vor allem im Text zu den „Analogien der Erfahrung“, welcher den Bedingungen des Erkennens bzw. der Konstitution der objektiven Zeitverhältnisse der Erscheinungen gewidmet ist. Kant verdeutlicht seine Überlegung anhand von zwei Beispielen.83 Das eine Mal sehe ich ein Schiff den Strom hinabtreiben und das andere Mal sehe ich ein Haus von oben nach unten. Die eine Sachlage, dass die Stelle des Schiffs unterhalb objektiv zeitlich auf seine Stelle oberhalb 81 Der zitierte Text steht unter dem Titel: „Sehr wichtige Forschungen zur Konstitution einer ‚logischen Individualität‘, einer im logischen Sinn seienden Dinglichkeit, Realität, Welt. Sein der Phantome … zugehörige ‚Wahrnehmungsurteile‘. Bedingungen der Möglichkeit von Kantischen Erfahrungsurteilen. Apriorität des Kausalgesetzes, von Trägheitsgesetzen transzendental deduziert …“ Ms. Orig. A I 36, S. 128a (1919). Zitiert nach: Kern, Iso, Husserl und Kant, a. a. O., S. 169. 82 Vgl.: „SolI eine einstimmig erfahrbare, in getrennten Wahrnehmungen immer wieder identifizierbare und bewährbare Welt konstituiert sein, so müssen die Dinge als kausal auffassbar und bewährbar sein, als ‚Substanzen‘ veränderlicher Akzidenzien. […] Die phänomenologischen Parallelen zu Kants Analogien.“ Ms. Orig. A VII 14, S. 17a (1925), Zitiert nach: Kern, Iso Husserl und Kant, a. a. O., S. 170. 83 A 192/B 237.

2.2 Die Einheit einer Urteilsvorstellung …

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folgt, unterscheidet sich deutlich von der anderen Sachlage, dass die Spitze des Hauses mit seinem Unten objektiv zeitlich zugleich ist. Trotzdem ist „die Sukzession im Apprehendieren allerwärts einerlei.“84 D. h., meine Wahrnehmung von dem Unten des Hauses folgt auf meine Wahrnehmung von seiner Spitze, ebenso wie meine Wahrnehmung des Schiffs unterhalb auf die Wahrnehmung desselben Schiffs oberhalb folgt. Wir können weiter sagen: Subjektiv betrachtet bieten sich das Unten des Hauses und seine Spitze als die jeweiligen notwendigen Korrelate der jeweiligen Wahrnehmungen, nämlich als die Wahrgenommenen als solche, im Zusammenhang mit den jeweiligen Wahrnehmungen auch in der subjektiven zeitlichen Ordnung, d.i. in der subjektiven zeitlichen Sukzession dar, ebenso wie die Stelle des Schiffs unterhalb und seine Stelle oberhalb. Aber im Fall des Schiffs „[könne] ich die Apprehension nichts anders anstellen, als gerade in dieser Folge.“85 Der Sukzession der Wahrgenommenen liegt eine Regel zugrunde, die eine umgekehrte Folge von den Wahrgenommenen ausschließt, was laut der obigen Definition von der objektiven Aufeinanderfolge nichts anderes bedeutet, als dass die Regel uns „nötigt“86 , diese zeitliche Ordnung als objektiv zu betrachten. Mit anderen Worten, da die Ordnung in der Folge des Wahrgenommenen „nach einer Regel“87 bestimmt ist, wird diese zeitliche Ordnung „ratifiziert, sanktioniert und legalisiert“88 . Im Vergleich dazu ist im Fall vom Haus die zeitliche Folge des Wahrgenommenen nicht notwendig. Es besteht darin keine Nötigung, diese zeitliche Folge zu ratifizieren und zu sanktionieren. Im Gegensatz dazu ist die umgekehrte Folge des Wahrgenommenen immer möglich, was laut der obigen Definition vom objektiven Gleichsein nichts anderes besagt, als dass darin anstatt der objektiven Aufeinanderfolge das objektive Zugleichsein besteht. Die kantische These, dass die Konstitution der objektiven Zeitverhältnisse aus dem subjektiven Zeitverhältnis nur durch die Funktion der Normierung der Relationskategorien möglich ist, erhebt eine Reihe von Fragen. Nach Kants Ausführungen ist es deswegen möglich, die objektive Zeitfolge im Schiffsbeispiel zu etablieren, weil die Positionen eines den Strom hinabgleitenden Schiffes sich nach dem Gesetz der Kausalität bestimmen und regeln lässt. Im Vergleich dazu kann die objektive Zeitfolge im Hausbeispiel nicht etabliert werden, weil die räumlichen Teile eines Hauses sich dem Gesetz von Ursache und Wirkung nicht 84 A

194/B 239. 193/B 238. 86 A 196/B 242. 87 A 193/B 238. 88 Gurwitsch, Aron, Kants Theorie des Verstandes, a. a. O., S. 43. 85 A

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Kant und das Problem des inneren Sinns …

unterwerfen lassen. Es ist jedoch nicht plausibel, dass die Ortsbewegung eines Schiffes mit dem Ursache-Wirkungsverhältnis gleichzusetzen ist. Ein größeres Problem besteht im Hausbeispiel. Laut Kants Darlegung in der dritten Erfahrungsanalogie soll das objektive Zugleichsein der räumlichen Teile eines Hauses nur dadurch etabliert werden können, dass sie nach dem Gesetz der wechselseitigen Kausalität interpretiert werden. Die räumlichen Teile eines Hauses sollen sich also nicht nur dem Gesetz der Kausalität, sondern auch dem der wechselseitigen Kausalität unterwerfen lassen. Dies widerspricht dem, was Kant in der zweiten Analogie behauptet. Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass ich unterstellen muss, dass die zwei Teile eines Hauses zwei Erscheinungen bzw. Zustände von zwei Substanzen und zwar gegenseitig kausal bedingt sind, um ihr Verhältnis der Gleichzeitigkeit erkennen zu können. Laut der ersten und der zweiten Analogie ist die Kategorie der Kausalität nur auf die wechselnden Zustände derselben Substanz anwendbar. Wie kann Kant sie in der dritten Analogie auf die Zustände von zwei Substanzen anwenden? Wir haben das kantische Konzept, dass die objektiven Zeitverhältnisse auf dem subjektiven, bzw. psychologischen Zeitverhältnis fundiert sind, dargestellt. Mit dieser Fundierung ist nicht gemeint, dass das erstere sich auf das letztere reduzieren oder aus ihm deduzieren lassen. Der Grund dafür ist offensichtlich: Die Sinnlichkeit kann objektive Zeitverhältnisse nicht allein bestimmen. Für die Konstitution der objektiven Zeitverhältnisse ist außer dem subjektiven Zeitverhältnis als dem Fundament die zusätzliche Bedingung, nämlich der Verstand bzw. die Anwendung der Verstandeskategorien als Normierungsprinzips erforderlich. Unter dem subjektiven bzw. psychologischen Zeitverhältnis versteht Kant ausschließlich die lagezeitliche Bestimmung „Nacheinander“ bzw. „früher und später“. Wie ist es mit den modalzeitlichen Bestimmungen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, welche in der Husserlschen Phänomenologie von Zeit die zentrale Rolle spielen? Fehlt der Bezug auf die Modalzeit in Kants Theorie gänzlich? Diese Thematik können wir daher nicht behandeln und müssen uns mit dem folgenden Hinweis darauf begnügen. Da die subjektive lagezeitliche Bestimmung, dass eine Vorstellung früher als eine andere Vorstellung ist, über ihre modalzeitliche Bestimmung, d. h. darüber, ob sie gegenwärtig, vergangen oder zukünftig sind, nichts besagt, kann man die letztere nicht anhand der ersteren verstehen. Vor allem lässt sich der Begriff „Gegenwärtigkeit“ nicht aus den Begriffen der Relation „früher und später“ ableiten. Wie ist es aber mit der umgekehrten Richtung? Lässt sich die subjektive lagezeitliche Bestimmung auf die modalzeitliche Bestimmung reduzieren, d. h. in Begriffen von Modalzeit analysieren? Lässt sich diese ergo als originär nachweisen? Auf dem ersten Blick scheinen die Fragen verneint werden zu müssen,

2.2 Die Einheit einer Urteilsvorstellung …

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weil man ohne die lagezeitliche Bestimmung „früher als“ beispielsweiser die modalzeitliche Bestimmung „Vergangenes“, welches „früher als Gegenwärtiges“ besagt, nicht verstehen kann. Die modalzeitlichen Bestimmungen müssten also die lagezeitliche Bestimmung voraussetzen.89 Wir haben im ersten Kapitel zwei Arten gegenständlicher Einheit eingeführt, von denen die eine die Einheit zwischen den Erscheinungen bzw. in einem Sachverhalt und die andere die Einheit in einer Erscheinung ist. Die erste wird als objektiv zeitliche bzw. dynamische Einheit bezeichnet. Die zweite ist vor allem mit der räumlichen Bestimmung verbunden und kann als mathematische Einheit bezeichnet werden. Da Kant den Grad auch auf die Größe zurückführt, ist die zweite Art allgemein die Einheit der Größe. Im letzten Paragraphen wird die erste Art Einheit der Vorstellung eingeführt. Sie ist die subjektiv zeitliche Einheit in der einzelnen Wahrnehmung als solcher. Kant versteht Erkenntnis im strengen Sinn als „Urteil“, welches „verknüpfte Wahrnehmungen“90 meint. Das Korrelat der Urteilsvorstellung ist ein Sachverhalt. Es ist ersichtlich, dass die Urteilsvorstellung als solche ihre Einheit ihrer Korrelation zum Sachverhalt verdankt. Diese Einheit in einer Urteilsvorstellung als solcher ist die zweite der vier in der vorliegenden Arbeit untersuchten Arten Einheit der Vorstellung. Aber wir müssen vorsichtig sein und sie streng von der dritten Art Einheit der Vorstellung, welche die (objektiv) zeitliche Einheit zwischen den realisierten bzw. verdinglichten Wahrnehmungen ist und durch die innere Erfahrung ausgedrückt wird, unterscheiden. Der Ausdruck „verknüpfte Wahrnehmungen“ ist zweideutig. Dass die Urteilsvorstellung verknüpfte Wahrnehmungen ist, bedeutet keineswegs, dass sie eine Sukzession bzw. ein Fluss von Wahrnehmungen ist, bzw. dass alle Zeitphasen, die die bezüglichen Wahrnehmungen bilden, die Zeitphasen der Urteilsvorstellung ausmachen. Die Urteilsvorstellung als solche erstreckt sich offensichtlich in der inneren Zeit und verfügt ergo über eine Zeitstrecke, die aus einigen Zeitphasen besteht. Die Urteilsvorstellung ist eine Einheit der Zeitphasen. Die zweite Art Einheit der Vorstellung als die Einheit in der Urteilsvorstellung ist deshalb wie die erste Art Einheit der Vorstellung, nämlich die in einer Wahrnehmung, eine subjektiv zeitliche Einheit. Dass die Urteilsvorstellung aus der Verknüpfung der Wahrnehmungen konstituiert wird, bedeutet jedoch nicht, dass die Zeitstrecke der Urteilsvorstellung die Zusammensetzung aller Zeitphasen ist, die zu den 89 Vgl.: „Die Vorstellung der Reihe: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft basiert bereits aus relationalen Bestimmungen wie »früher« und »später«, sofern Vergangenes früher ist als Gegenwärtiges und dieses früher als Zukünftiges“. Karen, Gloy, Studien zur theoretischen Philosophie Kants, a. a. O., S. 69. 90 B161.

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Kant und das Problem des inneren Sinns …

zu verknüpfenden Wahrnehmungen gehören. Wie ist es dann zu verstehen, dass die Urteilsvorstellung aus der Verknüpfung bzw. Zusammensetzung der Wahrnehmungen wird? Auf der gegenständlichen bzw. noematischen Seite ist es klar, dass die gegenständlichen Korrelate der Wahrnehmungen, nämlich die Erscheinungen als die Wahrgenommenen, als ein Sachverhalt synthetisiert werden. Auf der subjektiven Seite kann die Komplexität der Urteilsvorstellung nur als die Zusammengesetztheit der Bedeutungen, die separat zu den bezüglichen Wahrnehmungen gehören, verstanden werden. Diese Zusammensetzung der Bedeutungen hat also nichts mit der Zeitlichkeit zu tun und ist keine zeitliche Einheit. (Husserl nennt die in Rede stehende Bedeutung die intentionale „Materie“ der Vorstellung, welche dasjenige Moment „in“ der Vorstellung ist, welches ermöglicht, dass die Vorstellung eine gewisse Gegenständlichkeit vorstellig macht. Es ist ersichtlich, dass diese Materie weder mit den Empfindungen noch mit dem gegenständlichen Material verwechselt werden darf.91 ) Die andere Bedeutung des Ausdrucks „verknüpfte Wahrnehmungen“ meint eben die Zusammensetzung aller Zeitphasen, die separat zu den zu verknüpfenden Wahrnehmungen gehören. Im ersten Kapitel haben wir die kantische Theorie der Konstitution der höherstufigen Gegenständlichkeit als der Wirklichkeit bzw. als der objektiven Realität ausgeführt. Damit die Vorstellungen sich auf einen wirklichen Gegenstand beziehen können, müssen sie in die synthetische Einheit der Apperzeption gebracht werden. Dieselbe Sachlage kann sowohl noetisch als auch noematisch beschrieben werden: Einerseits werden diese Vorstellungen, nämlich die Wahrnehmungen, als eine Urteilsvorstellung synthetisiert, was nicht bedeutet, dass die Zeitphasen der Wahrnehmungen als die Zeitstrecke der Urteilsvorstellung zusammengesetzt werden, sondern dass die Bedeutungen der Wahrnehmungen als die Bedeutung der Urteilsvorstellung zusammengesetzt werden. Anderseits werden ihre Korrelate, nämlich die Erscheinungen, als ein Sachverhalt vereinheitlicht. Aus demselben Prozess resultiert noch eine dritte Wirkung: Die innere Erfahrung wird gebildet. Unter der inneren Erfahrung versteht Kant, dass jeder der Wahrnehmungen eine objektive Zeitstelle zugeschrieben wird, bzw. dass sie in die objektive zeitliche Ordnung gebracht werden, was die andere Bedeutung des Ausdrucks „verknüpfte Wahrnehmungen“ ist. Diese durch die innere Erfahrung ausgedrückte Einheit ist die dritte Art Einheit der Vorstellung. Kant zufolge sind die Zeitstellen der verdinglichten Vorstellungen als der psychologischen Phänomene nur aufgrund der Korrelation der Vorstellungen zur Reihe von zeitlich 91 Vgl.: „Die Materie galt uns als dasjenige Moment des objektivierenden Aktes, welches macht, dass der Akt gerade diesen Gegenstand und gerade in dieser Weise, d. h. gerade in diesen Gliederungen und Formen, mit besonderer Beziehung auf diese Bestimmtheiten oder Verhältnisse vorstellt.“ (Hua XIX, LU, VI, § 25)

2.3 Die Einheit der Ichvorstellung …

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bestimmten Erscheinungen bestimmbar. Es ist ersichtlich, dass die dritte Art Einheit der Vorstellung sich nicht wesentlich von der ersten Art der gegenständlichen Einheit unterscheidet. Erstere ist die objektive zeitliche Einheit zwischen den verdinglichten Vorstellungen als den inneren psychologischen Phänomenen bzw. als den psychologischen Ereignissen. Es handelt sich demnach um die zeitliche Einheit in der Sukzession bzw. dem Fluss von verdinglichten Vorstellungen, die sich deshalb deutlich von der Einheit in der Urteilsvorstellung als einer komplexen Vorstellung unterscheidet. Letztere ist die objektive zeitliche Einheit zwischen den Erscheinungen als den äußeren Phänomenen.

2.3

Die Einheit der Ichvorstellung: Der innere Sinn und das „Selbstbewusstsein“

Als Kernstück von Kants theoretischer Philosophie ist das Verhältnis in der terminologischen Trias, „die transzendentale Apperzeption, das Selbstbewusstsein und das ‚Ich denke‘“, in der Literatur immer strittig.92 Sind sie eigentlich einerlei? Ist eines von ihnen ursprünglicher als die anderen? Diese Fragen werden kontrovers diskutiert. Im Zusammenhang sind aber drei Momente zu unterscheiden, obwohl offen ist, wie sie der Trias zugeteilt werden sollen: (1). Das „Ich denke“ wird von Kant als objekt-gerichtetes Denken, nämlich Gegenstandsbewusstsein aufgefasst, mit welchem das Moment „Denken“ im „Ich denke“ hervorgehoben ist. Das Denken ist Denken von etwas und zwar von etwas Gegenständlichem. D. h., das Etwas ist nicht das Denken selbst. Mein Denken intendiert also einen Gegenstand und ist objektgerichtet. Dies kennzeichnet es als „Gegenstandsbewusstsein“ und unterscheidet es von „Selbstbewusstsein“, welches sich auf sich selbst bezieht. Kant versteht das Denken konkreter als Synthetisieren, Verknüpfen bzw. Verbinden, welches die verschiedenen Benennungen von Einheit-stiftender Aktivität sind. Dass ich einen Gegenstand denke, besagt, dass ich das mannigfaltige Material zu einem einheitlichen Gegenstand synthetisiere. Im Vergleich zu einem einheitlichen Sachverhalt sind die ihn bildenden Erscheinungen mannigfaltig. Im Vergleich zu einer einheitlichen Erscheinung ist das sie bildende gegenständliche Material mannigfaltig. Entsprechend haben wir zwei Arten der gegenständlichen Einheit zu unterscheiden, von denen die eine durch die Synthesis mach 92 Vgl.: Zöller Grünter, Apperzeption, in: Willaschek, Marcus / Stolzenberg, Jürgen / Mohr, Georg / Bacin, Stefano (Hrsg.), Kant-Lexikon, Berlin / Boston: Walter de Gruyter 2015, S. 145–150, hier S. 150.

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Kant und das Problem des inneren Sinns …

den Regeln der Relationskategorien und die andere durch die Synthesis nach den Regeln der Kategorein der Quantität und Qualität geleistet wird. Ohne die Anwendung der Kategorien kann ich das jeweilige Mannigfaltige nicht als eins erfassen. D. h. ohne die Anwendung der Kategorien kann keine der beiden Arten der gegenständlichen Einheit gestiftet werden und kann es ergo kein Gegenstandsbewusstsein geben, gleichgültig, ob damit gemeint ist, dass eine Erscheinung als unbestimmter, d. h. primitiver Gegenstand bewusst wird, oder dass ein Sachverhalt als hochstufiger Gegenstand bewusst wird. Aber die Gegenständlichkeit des letzten Materials, welches die primitive Erscheinung bildet, kann keiner Synthesis, sondern nur der Räumlichkeit zugeschrieben werden. Das letzte Material wird also durch den äußeren Sinn vorgegeben und ist von vornherein selbst gegenständlich und wird nicht erst durch das Synthetisieren gegenständlich. Es lässt sich also feststellen, dass das Denken bei Kant anstatt des Gegenstandsbewusstseins nur dessen Moment bildet. Das andere konstitutive Moment des Gegenstandsbewusstseins ist der äußere Sinn. Es ist ersichtlich, dass die Kennzeichnung „Gegenstandsbewusstsein“ die Funktion des „Ich denke“, Einheit zu stiften, hervorhebt. Wenn Kant diese Funktion des „Ich denke“ betont, nennt er es die transzendentale Apperzeption. (2). Das „Ich denke“ wird durch „Selbstbewusstsein“ gekennzeichnet. Mit Kants Worten: Das „Ich denke“ „[drückt] die Wahrnehmung seiner selbst aus“93 . Ich denke einen Gegenstand und zwar bewusst. D. h., ich bin mir nicht nur des Gegenstands, sondern auch zugleich des Denkens bewusst. Husserl schreibt, „Jeder Akt ist Bewusstsein von etwas, aber jeder Akt ist auch bewusst. Jedes Erlebnis ist ‚empfunden‘, ist immanent ‚wahrgenommen‘ (inneres Bewusstsein)“94 . D. h., „Was immer [das Bewusstsein] sonst in sich bewusst haben mag,“ bzw. was immer sein Gegenstand sein mag, ist das Bewusstsein „zugleich Bewusstsein seiner selbst.“95 In Übereinstimmung damit findet man bei Kant, dass das „Ich denke“ einerseits explizit „Gegenstandsbewusstsein“ und andererseits implizit „Selbstbewusstsein“ in sich enthält und ergo genauer als das „Ich denke selbstbewusst (Gegenstand)“ ausgedrückt werden soll. Diese beiden Arten Bewusstsein „Selbstbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein“ haben verschiedene Namen. Zum Beispiel nennt Zahavi sie respektive „self-awareness and phenomenal consciousness“.96 93 A

342/B 400. X, S. 126. 95 Hua XVII, S. 279. 96 Vgl.: Zahavi, Dan, Subjectivity and selfhood: investigating the first-person perspective, Cambridge / Mass.: MIT Press 2005, S. 13–17. 94 Hua

2.3 Die Einheit der Ichvorstellung …

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Das Denken ist also eine selbstbewusste Aktivität. D. h., das Denken indiziert Reflexivität und Selbstbezüglichkeit. Diese Reflexivität unterscheidet sich von der Reflexion, die das erstere als Möglichkeitsbedingung voraussetzt. Konkreter gesagt: Das Denken wird durch sich selbst bewusst. Seine Bewusstheit verlangt nicht, dass eine andere Vorstellung sich auf es richtet und es vorstellt, sonst würde es den Namen „Selbstbewusstsein“ nicht verdienen. Selbstbewusstsein bedeutet, dass nur eine und dieselbe Vorstellung präsent ist und sie aufgrund der Selbstbezüglichkeit, d. h. durch sich selbst bewusst bzw. vorgestellt wird. Aber diese Bewusstheit ist unmittelbar, präreflektiv und unthematisiert. Mit Brentanoschen Worten: Das Denken hat einerseits das Gedachte als seinen primären Gegenstand und anderseits sich selbst als seinen sekundären Gegenstand. Im Vergleich dazu kann das Denken nachträglich durch eine neue Vorstellung, nämlich eine Reflexion thematisiert werden, d. h. es kann der primäre Gegenstand der reflektierenden Vorstellung werden. Diese Thematisierung impliziert zwei Momente: die reflektierende Vorstellung und die reflektierte Vorstellung. Deshalb ist die Reflexion kein Selbstbewusstsein: Sie bezieht sich nicht auf sich selbst, sondern auf eine andere Vorstellung. Die Reflexion setzt jedoch das Selbstbewusstsein voraus, weil man nicht wissen würde, was zu thematisieren sei und worauf man reflektiere, wenn man vor der Reflexion überhaupt nichts über die zu reflektierende und zu thematisierende Vorstellung wissen würde, d. h. wenn diese davor nicht irgendwie schon bewusst wäre. Das Kennzeichen der Reflexion besteht also darin, etwas zu thematisieren, was irgendwie schon bewusst ist. Der andere Grund, warum die primitive Selbstbewusstheit der Vorstellung angenommen werden muss, ist, dass ein unendlicher Regress entstehen würde, wenn jede Bewusstheit einer Vorstellung die Richtung bzw. die Beziehung einer zusätzlichen Vorstellung als Reflexion verlangen würde. Die Bewusstheit der Reflexion würde eine dritte Vorstellung implizieren und so weiter. Die Behauptung, dass alle Bewusstheit von reflexiver Natur ist, wird also von einem infiniten Regress bedroht, wie Husserl bereits in Logischen Untersuchungen erwähnt hat.97 (3). Das dritte Moment im „Ich denke selbstbewusst (Gegenstand)“ ist das Ich. Das „Ich denke“ identifiziert sich nicht mit dem Denken, sondern enthält etwas mehr als das Denken, nämlich die Ichhaftigkeit. Das Denken ist also bei Kant keine ichlose oder anonyme Tätigkeit. Mit der Ichvorstellung ist gemeint, dass ein Ich anwesend ist. Da der andere Name des Ich das Selbst ist, besagt die Ichvorstellung, dass das Selbst vorgestellt bzw. bewusst wird. Deshalb ist die Ichvorstellung auch eine Art von Selbstbewusstsein. 97 Hua XIX, Logische Untersuchung, A 334 / B

1 356, A 345/ B1 357. Vgl. auch: Zahavi, Dan, Subjectivity and selfhood: investigating the first-person perspective, a. a. O., S. 25–29.

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Kant und das Problem des inneren Sinns …

Die Ichvorstellung begleitet als identisches Korrelat jede Vorstellung in demselben Vorstellungsstrom. Die Einheit bzw. Identität der Ichvorstellung ist die vierte der vier in der vorliegenden Arbeit untersuchten Arten Einheit der Vorstellung. Sie ist einerseits eine numerische Identität, welche besagt, dass dasselbe Ich jede Vorstellung in demselben Vorstellungsstrom erlebt bzw. begleitet. Andererseits ist sie eine überzeitliche Einheit. Die Ichvorstellung ist also nicht in der immanenten Zeit, sondern „eine Transzendenz in der Immanenz“98 . Es wird sich zeigen, dass die Frage, wie die Einheit bzw. Identifikation der Ichvorstellung möglich ist, eine wichtige Rolle in Kants Kritik an der rationalen Psychologie spielt. Darauf werden wir im dritten Kapitel zurückkommen. Wenn man annehmen würde, dass das Ich nichts anderes als die Komplexion von Vorstellungen, nämlich der Inbegriff bzw. Strom von inneren Zuständen ist, müssen man zugestehen, dass mit dieser Gleichsetzung ein gewisser, wesentlicher Sinn des Ichbegriffs verloren ginge. Es ist unverkennbar, dass ein Unterschied zwischen „Ich bin mir meiner Selbst bewusst“ und „Ich bin mir meiner Vorstellung bzw. meines inneren Zustandes bewusst“ besteht. Kant bezeichnet den inneren Sinn als dasjenige Vermögen, „vermittelst dessen das Gemüt sich selbst, oder seinen inneren Zustand anschauet“99 . Die Zeit als die Form des innern Sinnes ist eben die Form „des Anschauens unserer selbst und unsers innern Zustandes.“100 Das Wort „oder“ bzw. „und“ hebt den in Rede stehenden Unterschied bzw. die bezügliche Unmöglichkeit jener Gleichsetzung hervor. Wenn mein Selbst in jedem Moment mit meiner Vorstellung identisch wäre, könnte die Identität meiner selbst nicht in Frage kommen, weil eine Vorstellung sich mit einer anderen Vorstellung nicht identifizieren kann. Die Tatsache, dass ich in der Introspektion bzw. in der inneren Anschauung immer eine Vorstellung finde und finden muss, schließt nicht aus, dass die Vorstellung zugleich von dem Ich begleitet wird, bzw. dass ich in der Introspektion bzw. in der inneren Anschauung immer eine vom Ich begleitete Vorstellung finde. Die Tatsache besagt also nur, dass ohne irgendeine Vorstellung das Ich nicht sein kann, bzw. dass die Ichvorstellung nicht selbständig ist und nur eine eine andere Vorstellung begleitende Vorstellung sein kann. An dieser Stelle unterscheidet Kant sich also von Hume. Außer der einen Art Selbstbewusstsein, welche besagt, dass ich mir einer Vorstellung bewusst bin, bzw. dass die Vorstellung durch sich selbst bewusst bzw. 98 Vgl.: „Verbleibt uns als Residuum der phänomenologischen Ausschaltung der Welt und der ihr zugehörigen Subjektivität ein reines Ich (und dann für jeden Erlebnisstrom ein prinzipiell verschiedenes), dann bietet sich mit ihm eine eigenartige – nicht konstituierte – Transzendenz, eine Transzendenz in der Immanenz dar.“ Hua III, Ideen I, S. 110. 99 A 22/B 37. 100 A 33/B 49.

2.3 Die Einheit der Ichvorstellung …

105

vorgestellt wird, besteht also eine andere Art Selbstbewusstsein, nämlich die Ichvorstellung, die zeigt, dass ich mir meiner Selbst bewusst bin. In der Begleitung der eigenartigen Ichvorstellung wird jede Vorstellung nicht nur durch sich selbst bewusst, sondern es wird bewusst, dass dies aus der Ersten-Person-Perspektive geschieht. Entsprechend ist der Satz, dass ohne irgendeine Vorstellung das Ich nicht sein kann, bzw. dass die Ichvorstellung nicht selbständig ist und nur als eine eine andere Vorstellung begleitende Vorstellung sein kann, damit gleichzusetzen, dass ohne das, was es aus der Perspektive gibt, von der Perspektive keine Rede sein kann. D. h., wenn das Ich als die Erste-Person-Perspektive nur eine Eigenschaft der Gegebenheit einer Vorstellung bezeichnet, dann kann ohne irgendeine Vorstellung allein vom Ich keine Rede sein. Seine Aktualisierung ist also notwendig mit dem faktischen Auftreten einer Vorstellung verbunden. Die Ichvorstellung, die Zahavi als „the minimal self or the core self“101 bezeichnet, lässt sich durch die Erste-Person-Perspektive erschöpfen und hat nichts mit einem Träger, Handelnden bzw. Akteur zu tun. Um das ein Selbstbewusstsein vom anderen zu unterscheiden, meinen wir im Folgenden mit „Selbstbewusstsein“ nur „die Vorstellung einer Vorstellung“ bzw. „die Selbstbewusstheit einer Vorstellung“ und nennen das Ichbewusstsein nicht „Selbstbewusstsein“, sondern „Ichvorstellung“. Es ist ersichtlich, dass das erste und das zweite Moment aus transzendentalphilosophischer Sicht viel wichtiger als das dritte Moment sind. Genauer gesprochen: Zum Zweck der Erklärung der Objektkonstitution, der Möglichkeit der Gegenstandserkenntnis bzw. der Beziehung des Subjekts auf die Objektwelt ist die Subjektivität als das selbstbewusste Denken102 ausreichend und die reine Ichvorstellung kann dazu nichts beitragen. Die Subjekt-Objekt-Spaltung wird auf folgende Weise geleistet: 1. Durch den äußeren Sinn wird etwas Gegenständliches gegeben bzw. vorgestellt. Die primitive Gegenständlichkeit beruht vor allem auf der Räumlichkeit und ist auch teilweise auf die Synthesis des Verstandes angewiesen. Auf dieser Basis der ersten Stufe wird ferner etwas Objektives bzw. Wirkliches konstituiert, was vor allem die Leistung des Denkens, nämlich des oben dargestellten ersten Moments ist. Damit wird jedoch nur ein Relat in jenem Spaltung-Verhältnis erklärt. 2. Das Subjekt, bzw. die Vorstellung selbst, welche das Objekt vorstellt, muss auch bewusstwerden, was durch das oben dargestellte zweite Moment, nämlich (die erste Art) Selbstbewusstsein zusammen mit dem inneren Sinn beigetragen wird, sonst hätten wir keine Spaltung, sondern nur eins. 101 Zahavi, Dan, Subjectivity and selfhood: investigating the first-person perspective, a. a. O.,

S. 106. 102 Damit

ist offensichtlich nicht zu bestreiten, dass das selbstbewusste Denken zu diesem Zweck noch von der sinnlichen Subjektivität ergänzt werden muss.

106

2

Kant und das Problem des inneren Sinns …

Damit wird das andere Relat in jener Spaltung erklärt. In dieser Konstitution der Subjekt-Objekt-Spaltung kann die Ichvorstellung also ihren Platz nicht finden. Man kann deshalb K. Gloy Recht geben, wenn sie schreibt: „Tatsächlich erfüllt das nicht-egologische Selbstbewusstsein, das reine sich selber denkende Denken, alle Funktion des Ego, so dass Kant hier einer Verwechslung erlegen sein könnte, wenn er meinte, das Ego zu analysieren, tatsächlich jedoch nur das ichlose Selbstbewusstsein zergliederte.“103 Es mag eingewandt werden, dass Kant in seinem Argument am Anfang der B-Deduktion betont, dass die Möglichkeit der Identifikation der Ichvorstellung die Gegenstandserkenntnis im strengen Sinn voraussetzt. Die Ichvorstellung könnte zur Erklärung der Gegenstandserkenntnis doch etwas beitragen. Aber es ist ersichtlich, dass nichts über die Möglichkeitsbedingung der Gegenstandserkenntnis dadurch erklärt wird, dass man ausführt, dass die Gegenstandserkenntnis selbst die Möglichkeitsbedingung für etwas anderes ist. Deshalb ist die Konzeption der reinen Ichvorstellung in epistemologischer Hinsicht tatsächlich nutzlos. Aus dem gleichen Grund weist Husserl darauf hin, dass „für viele Untersuchung die Fragen des reinen Ich in suspenso bleiben können“.104 Konkreter gesprochen: Angesichts dessen, „was zur ‚Konstitution‘ der Objektivität für die Subjektivität gehört“, „[…] kann aber in umfassenden Untersuchungen analytisch oder synthetisch erforscht und beschrieben werden, ohne dass man sich mit dem reinen Ich und seinen Weisen der Beteiligung dabei irgend tiefergehend beschäftigt.“105 Das reine Ich ist gar kein Ursprung der Einheit zwischen den Vorstellungen bzw. deren gegenständlichen Inhalten. Im Gegenteil, wie Kant in seinem Argument am Anfang der B-Deduktion deutlich macht, ist das reine Ich bzw. dessen Identifikation von der ersten Art der gegenständlichen Einheit abhängig. Deshalb ist Husserl in der 1. Auflage der Logischen Untersuchungen in der Lage, die Möglichkeitsbedingungen der Gegenständlichkeit aufzuklären, obwohl er dort das reine Ich noch nicht zu finden gelernt hat.106 Es gibt also keinen epistemischen Grund, das reine Ich anzunehmen. Angesichts Kants Festhalten an der egologischen Struktur des Selbstbewusstseins lässt sich vermuten, dass Kants Interesse in seinem Unternehmen der Vernunft-Kritik nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch phänomenologisch deskriptiv ist. Mit der obigen Charakterisierung des „Ich denke“ drängen sich die folgenden Fragen auf, welche aufs engste mit dem inneren Sinn verbunden sind. Das Wort 103 Gloy,

Karen, Studien zur theoretischen Philosophie Kants, a. a. O., S. 133. III, Ideen I, S. 110. 105 Hua III, Ideen I, S. 161. 106 Hua XIX, LU, A 331/B 353. 1 104 Hua

2.3 Die Einheit der Ichvorstellung …

107

„Apperzeption“ stammt von lat. ad perceptio, das bezeichnet, was zu einer Wahrnehmung hinzu wahrgenommen wird.107 Dies lässt sich in zwei Weisen verstehen. Die Apperzeption ist entweder die Wahrnehmung der Wahrnehmung, nämlich eine Art Selbstbewusstsein, oder dasjenige Vermögen, welches dadurch einen einheitlichen Gegenstand vorstellt, dass es die mannigfaltigen Wahrnehmungen bzw. deren (gegenständliche) Inhalte einheitlich synthetisiert, bzw. dass es den mannigfaltigen Wahrgenommenen einen Überschuss bringt. Während die Apperzeption im ersteren Fall eine Art Selbstbewusstsein im prägnanten Sinn ist, ist sie als das Einheit-stiftende Vermögen im letzteren Fall das Gegenstandsbewusstsein. Es ist ersichtlich, dass der Überschuss bei Kant die Form ist, welche entweder die dem gegenständlichen Material verliehene mathematische Form oder die den primitiven Erscheinungen verliehene dynamische Form ist, wie wir im ersten Kapitel ausgeführt haben. Er ist bei Husserl auch eine Form, welche jedoch von der Art „Sinn“ ist,108 was wir auch im ersten Kapitel dargestellt haben. Den beiden Verständnisweisen von Apperzeption entsprechend unterscheidet Kant zwischen der empirischen und transzendentalen Apperzeption. Er identifiziert die empirische Apperzeption mit dem inneren Sinn.109 Der innere Sinn als das Vermögen der Selbstanschauung bzw. „der inneren Anschauung meiner selbst“110 ermöglicht, dass eine Vorstellung durch sich selbst bewusst bzw. vorgestellt wird, bzw. dass eine Wahrnehmung durch sich selbst wahrgenommen wird. Deshalb ist es gerechtfertigt, den inneren Sinn „Apperzeption“ zu nennen: Die erste Bedeutung von „Apperzeption“ ist eben Selbstbewusstsein bzw. die Wahrnehmung der Wahrnehmung. Die transzendentale Apperzeption wird von Kant vor allem mit der Einheit-stiftenden Aktivität, d. h. mit dem Gegenstandsbewusstsein verbunden.

107 Vgl.:

Gloy Karen, Studien zur theoretischen Philosophie Kants, S. 121.

108 Vgl.: „Apperzeption ist uns der Überschuss, der im Erlebnis selbst, in seinem deskriptiven

Inhalt gegenüber dem rohen Dasein der Empfindung besteht;“ (Husserl, LU, A 363/ B 385) „Sollte da die Antwort nicht zutreffend sein, dass zwar beiderseits verschiedene Empfindungsinhalte gegeben, dass sie aber in ‚demselben Sinne‘ aufgefasst, apperzipiert sind“. (Hua XIX, LU, A 361/ B1 383) Wir haben im ersten Kapitel die These aufgestellt, dass das Husserlsche Modell von Akt-Intentionalität zwei Arten von Material verlangt. Das Material, von dem im Zitat die Rede ist, kann nicht die Empfindungen, sondern nur das gegenständliche Material sein. 109 A 107. 110 A 362.

108

2

Kant und das Problem des inneren Sinns …

Aber Kant bezeichnet die transzendentale Apperzeption auch als „das Bewusstsein seiner selbst“111 , nämlich als eine Art Selbstbewusstsein. Wie oben ausgeführt, versteht Kant diese Art Selbstbewusstsein, welche sich von der Ichvorstellung als einer anderen Art Selbstbewusstsein unterscheidet, auch als ein im „Ich denke“ enthaltenes Moment. Die Konfundierung bzw. Verwebung von der als Selbstbewusstsein verstandenen transzendentalen Apperzeption und dem „Ich denke“ führt zu keiner Schwierigkeit. Das „Ich denke“ unterscheidet sich jedoch streng vom inneren Sinn. Kant betont, dass das Bewusstsein des bestimmenden Selbst nicht mit dem Bewusstsein des bestimmbaren Selbst als meiner inneren Anschauung gleichgesetzt werden darf.112 Damit drängen sich die folgenden Fragen auf: 1. Welches Vermögen, der innere Sinn oder das „Ich denke“ bzw. der Verstand, ist dafür zuständig, dass eine Vorstellung bewusst wird? Anders ausgedrückt: Welches von ihnen verdient den Namen „Selbstbewusstsein“? 2. Was ist das Verhältnis zwischen der Kennzeichnung der transzendentalen Apperzeption als „das Selbstbewusstsein bzw. das Bewusstsein meiner Selbst“ und deren anderer von Kant so betonten Kennzeichnung „Funktion der synthetischen Einheit“? Warum können die beiden bzw. drei differenten Funktionsweisen „Selbstbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein“, nämlich das Ichbewusstsein, die Vorstellung der Vorstellung und die Einheit im Mannigfaltigen stiftende Synthesis widerspruchslos in der transzendentalen Apperzeption konfundiert bzw. zusammengedacht werden? Anders ausgedrückt: Wir haben Kant folgend im Anfang des Paragraphen das „Ich denke“ in drei Momente zerlegt. Warum ist es möglich, die verschiedenen Momente im „Ich denke“ zu konfundieren bzw. zu verweben? Auf die Frage, ob der Name „Selbstbewusstsein“ dem inneren Sinn oder dem „Ich denke“ zugeschrieben werden soll, mag man antworten: Kant teilt Bewusstsein in Anschauen und Denken ein, welche sich als zwei Arten von Bewusstsein dem Oberbegriff „Bewusstsein“ subsumieren. Deshalb sollten sowohl der innere Sinn als auch das „Ich denke“, denen das selbstbewusste Anschauen und das selbstbewusste Denken entsprechen, den Namen „Selbstbewusstsein“ verdienen. Gegen diese scheinbar selbstverständliche Annahme, den inneren Sinn und das „Ich denke“ bzw. den Verstand als zwei Arten Selbstbewusstsein, nämlich das selbstbewusste Anschauen und das selbstbewusste Denken, zu bezeichnen, werden wir die These aufstellen, dass jedes Selbstbewusstsein zugleich die Leistung des inneren Sinns, die des Verstandes und implizit auch die des äußeren Sinns in sich einschließt. Da jedes Selbstbewusstsein nur durch das Zusammenarbeiten von 111 B 112 B

68, A 117. 407.

2.3 Die Einheit der Ichvorstellung …

109

innerem Sinn und Verstand möglich ist, verdienen sie beide den Namen „Selbstbewusstsein“. Anders gesprochen: Die Vorstellung einer Vorstellung ist sowohl auf den inneren Sinn als auch auf die Einheit-Stiftende Aktivität angewiesen. Wir haben im ersten Paragraphen dieses Kapitels ausgeführt, dass der innere Sinn Kant zufolge von der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft affiziert werden muss, damit eine Vorstellung im inneren Sinn bewusst bzw. vorgestellt werden kann. Dies impliziert, dass der innere Sinn allein nicht schaffen kann, dass eine Vorstellung bewusst wird. Die Vorstellung als ein einheitliches Ganzes setzt die Individualisierung bzw. Abgrenzung und Vereinheitlichung in der immanenten Zeit voraus. Konkreter gesprochen: Die Möglichkeit der Gestaltung der einheitlichen Vorstellung, welche sich in der immanenten Zeit erstreckt und ergo aus einigen Zeitphasen besteht, die durch die Empfindungen erfüllt worden sind, wenn die Vorstellung empirisch ist, setzt die Vereinheitlichung der mannigfaltigen Zeitphasen voraus. Wir haben im ersten Paragraphen des Kapitels auch dargelegt, dass die von der Gestaltung der Vorstellung verlangte Vereinheitlichung bzw. Individualisierung in der immanenten Zeit weder durch die Beschaffenheit der Empfindungen noch durch den inneren Sinn selbst bzw. dessen Form aufgeklärt werden kann. Sie kann nur durch die Korrelation der Vorstellung zu der Erscheinung als dem Gegenstand der Vorstellung entstehen. Dass der innere Sinn durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft affiziert wird, besagt also nicht, dass die Einbildungskraft sich unmittelbar an den Zeitphasen als dem reinen Mannigfaltigen des inneren Sinns betätigt. Stattdessen kann die Einbildungskraft als Gegenstandsbewusstsein unmittelbar nur das gegenständliche Material, nämlich das räumlich Gegebene, synthetisieren. Die Gegebenheit des gegenständlichen Materials ist die Leistung des äußeren Sinnes. Das unmittelbare Gebilde dieser Synthesis ist die Erscheinung. Aber die eine und selbe Synthesis hat eine Nebenwirkung: Sie führt zur Individualisierung und Angrenzung in der immanenten Zeit, weil diese Synthesis als die „Bewegung“ des Subjekts in dem inneren Sinn bzw. in der immanenten Zeit geschieht, was damit gleichgesetzt wird, dass sie den inneren Sinn affiziert. Dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft die gegenständliche Einheit in der Erscheinung stiften kann, ist jedoch von der Anwendung der Kategorien der Quantität und Qualität abhängig. Deshalb ist die Einheit der Vorstellung auch auf die Anwendung dieser Kategorien angewiesen. Aber diese Dependenz besagt keineswegs, dass die Kategorien unmittelbar auf die Innenwelt anwendbar sind, wie es manchmal behauptet worden ist.113 Weil sowohl der innere Sinn als auch das „Ich denke“ erforderlich 113 Vgl.: „His (sc. Kant’s) account of inner sense entails that our cognitive awareness of our own

inner mental life is both as passively receptive and actively conceptualized as our awareness

110

2

Kant und das Problem des inneren Sinns …

sind, damit eine (einheitliche) Vorstellung bewusst werden kann, bzw. damit eine Vorstellung der Vorstellung möglich ist, verdienen sie beide den Namen „Selbstbewusstsein“. Aus dem Vorangehenden ist deutlich geworden, dass die Annahme von zwei Arten Selbstbewusstsein abgelehnt werden muss. Es ist nicht angemessen zu behaupten, dass man unter Selbstbewusstsein entweder die selbstbewusst anschauende Tätigkeit oder die selbstbewusst denkende Tätigkeit verstehen kann. Einerseits kann die denkende Tätigkeit ohne eine anschauende Tätigkeit, welche dem Denken das empirische Material anbietet, nicht stattfinden. Andererseits schließt die primitive anschauende Tätigkeit „Wahrnehmen“ die denkende Tätigkeit, konkreter gesprochen die Synthesis nach den Regeln der Kategorien der Quantität Qualität, in sich ein, sonst könnte keine gegenständliche Einheit erfasst werden. Anhand ihres gegenständlichen Korrelats wird diese anschauende Tätigkeit selbst bzw. ihre Zeitstrecke auch in der inneren Zeit individualisiert und abgegrenzt. Das selbstbewusste Anschauen und das selbstbewusste Denken sind also voneinander untrennbar und wechselseitig erforderlich. Damit ist die oben gestellte zweite Frage, warum die beiden differenten Funktionsweisen „Selbstbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein“ in der transzendentalen Apperzeption konfundiert bzw. zusammengedacht werden können, partiell beantwortet worden. Wenn man unter „Selbstbewusstsein“ versteht, dass eine Vorstellung durch sich selbst bewusst bzw. vorgestellt wird, dann ist es berechtigt, das Selbstbewusstsein und das Denken als Gegenstandsbewusstsein, nämlich als das gegenständliche Einheit stiftende Vermögen, in der transzendentalen Apperzeption zu konfundieren bzw. zusammenzudenken, weil das Selbstvorstellen in der oben erklärten Weise immer das Gegenstandsdenken in sich einschließt. Wir haben erwähnt, dass das Ichbewusstsein auch eine Art Selbstbewusstsein ist. D. h., wir haben die eine Art Selbstbewusstsein „Ich bin mir meiner Vorstellung bewusst“ von der anderen Art Selbstbewusstsein „Ich bin mir meiner Selbst bewusst“ unterschieden. Mit dem ersteren ist gemeint, dass ich mir meiner anschauenden und denkenden Tätigkeit bzw. meines inneren Zustandes bewusst bin. Im letzteren Fall bin ich mir der Ichvorstellung bewusst. Es stellt sich daher die Frage, warum Kant auch das Ichbewusstsein und das Denken als Gegenstandsbewusstsein in der transzendentalen Apperzeption konfundieren bzw. zusammendenken kann? Bekannt ist der kantische synonyme Gebrauch von „Ich bin mir meiner Selbst bewusst“ und „Ich denke“. Um diese Frage zu beantworten, of empirically mind-independent outer objects in space. […] Inner sense for Kant is thus a responsive yet conceptualized awareness of our own successive experiencings“. O’Shea, James R., Kantian Reflections on the Givenness of Zahavi’s Minimal Experiential Self, in: International Journal of Philosophical Studies 23/5 (2015), S. 619–625, S. 622.

2.3 Die Einheit der Ichvorstellung …

111

ist im Auge zu behalten, dass ich mir nicht nur meiner selbst, sondern auch meines identischen Selbst bewusst bin. Darin konfrontieren wir uns mit dem Problem „der Identität des Selbstbewusstseins“. Die Identität bzw. Einheit der Ichvorstellung ist die letzte der vier in der vorliegenden Arbeit untersuchten Arten der Einheit der Vorstellung. Das Denken als das Gegenstandsbewusstsein, welches die transzendentale Apperzeption im prägnanten Sinn ausdrückt, ist nicht nur dafür, dass eine einheitliche Vorstellung sich selbst bewusst ist, sondern auch dafür, dass ich mir meines identischen Selbst bewusst bin, unentbehrlich. Was bedeutet die Identität des Selbstbewusstseins? Ich stelle einen Gegenstand vor, d. h. ich bin mir des Gegenstands bewusst. Dies ist Gegenstandsbewusstsein. Aber zugleich bin ich der Vorstellung (vom Gegenstand) bewusst und zwar durch sich selbst. Dies ist eine Art von Selbstbewusstsein: Die Vorstellung wird durch sich selbst vorgestellt. Kann man von der Identität dieser Art Selbstbewusstseins reden? Was kann damit gemeint sein? Die Identität der einen bewussten Vorstellung mit der anderen muss ausgeschlossen werden, weil sie sich miteinander nicht identifizieren können. Durch diese Art Selbstbewusstsein „würde ich ein so vielfärbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewusst bin.“114 Kann es die Identität der Bewusstheit der einen Vorstellung mit der Bewusstheit der anderen sein? Die Antwort muss verneinend ausfallen, weil die Identität der Bewusstheit keinen Sinn macht. Es kann also nur bezüglich der anderen Art von Selbstbewusstsein, nämlich des Bewusstseins meiner selbst, von der Identität des Selbstbewusstseins die Rede sein. Darin tritt die Ichvorstellung ins Spiel. Die Ichvorstellung begleitet als ein identisches Korrelat zu verschiedener Zeit verschiedene Vorstellungen. Die verschiedenen Vorstellungen beziehen sich also auf das identische Ich und werden in diesem Sinn demselben Subjekt zugeschrieben. Dies ist damit gleichzusetzen, dass alle diese Vorstellungen aus der Ersten-Person-Perspektive und zwar aus derselben bewusst sind. Die Identität der wiederholt mit jeder Vorstellung zusammen auftretenden Ichvorstellung kann jedoch nicht durch sich selbst, d. h. nicht auf Grund ihres Inhalts bestimmt werden, weil sie nach Kant inhaltlich völlig leer ist. Die Möglichkeit ihrer Identifikation ist wieder von der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption abhängig.115 Wie diese Abhängigkeit konkret zu verstehen ist, ist eines unserer

114 B

134. „Diese Beziehung [der Vorstellungen auf die Identität des Subjekts] geschieht […] dadurch noch nicht, dass ich jede Vorstellung mit Bewusstsein begleite, sondern dass ich eine zu der anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewusst bin.“ (B 133)

115 Vgl.

112

2

Kant und das Problem des inneren Sinns …

Themen im dritten Kapitel. Wegen der Abhängigkeit der Identifikation der Ichvorstellung von der synthetischen Funktion der transzendentalen Apperzeption als des Gegenstandsbewusstseins werden Ichbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein von Kant auch in der transzendentalen Apperzeption zusammengedacht und verschmolzen. Kant betrachtet die verschiedenen Momente sogar als identisch: „Das Bewusstsein seiner selbst (Apperzeption) ist die einfache Vorstellung des Ich“.116

116 B

68.

3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie: Die Anwendung der Thesen von sechs Arten der Einheit

3.1

Vorbemerkung

Die rationale Psychologie befasst sich mit dem denkenden Wesen. Der Ausdruck „das denkende Wesen“ ist Kant zufolge zweideutig. Darunter kann man sowohl das Subjekt als das bestimmende und erkennende Subjekt, d. h. das transzendentale Subjekt, als auch das bestimmte und erkannte Subjekt, nämlich das empirische Selbst als Objekt der inneren Erfahrung verstehen. Besonders irreführend ist, dass Kant hinsichtlich des Letzteren, d. h. des empirischen Subjekts als des Objekts der inneren Erfahrung, von einem „Substrat“ redet, welches auch „als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x“ wird.1 Die Unterscheidung des transzendentalen Subjekts im einen Sinn von dem im anderen Sinn und die Erklärung ihrer Beziehungen auf die Gedanken und auf das empirische Subjekt als das Objekt der inneren Erfahrung sind für das Verständnis der Kantischen Kritik an den Paralogismen der rationalen Psychologie entscheidend. Der Fortgang unserer Überlegung wird zeigen, dass das transzendentale Subjekt im zweiten Sinn, nämlich als das Substrat des empirischen Subjekts, nicht nachvollziehbar ist, d. h., dass die Rede vom Substrat des empirischen Subjekts nicht gerechtfertigt ist.

1A

346/B 404.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 J. Mao, Sinnliche Subjektivität bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62936-9_3

113

114

3.1.1

3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Das transzendentale Subjekt im ersten Sinn: Das logische Subjekt des Denkens

Wir haben im dritten Paragraphen des zweiten Kapitels ausgeführt, dass das bestimmende Subjekt, welches Kant als das „Ich denke“ bezeichnet, sich durch drei Merkmale charakterisieren lässt bzw. drei Momente in sich enthält. (1). Eine einfache und vollständig inhaltslose Vorstellung, nämlich die identische Ich-Vorstellung:2 Sie kennzeichnet die Erste-Person-Perspektive, aus welcher die Handlung, Aktivität bzw. Funktion von Denken vollzogen wird. Das Ich als „Vorstellung a priori“ unterscheidet sich von „dem psychologischen Ich als empirischem Bewusstsein“.3 (2). Das Denken als ein Akt der Spontaneität:4 Die vom Akt gestiftete synthetische Einheit ermöglicht die Gegenständlichkeit und deren Erkenntnis. Das zweite Moment bezeichnet das mit der Anwendung der Kategorien verbundene höhenstufige Gegenstandsbewusstsein, d. h. das kategoriale Gegenstandsbewusstsein, zu dem sowohl das Bewusstsein vom Sachverhalt als auch das von der primitiven Erscheinung gehören. (3). Das Selbstbewusstsein, mit dem gemeint ist, dass das Denken auch bewusst wird und zwar durch sich selbst. Das dritte Moment unterscheidet sich dadurch vom ersten und zweiten Moment, dass weder ein Ich noch ein Gegenstand im prägnanten Sinn, sondern das Denken bzw. der Gedanke als der innere Zustand durch sich selbst bewusstwird. Wir haben im zweiten Kapitel ausgeführt, dass Kant sowohl das selbstbewusste Denken als auch das selbstbewusste Anschauen als „Selbstbewusstsein“ bezeichnet. Als Grund dafür wurde vor allem die Abhängigkeit der Einheit der anschaulichen Vorstellung vom Denken genannt. Meistens bezeichnet Kant das zweite Moment als die transzendentale Apperzeption, die sich von der empirischen Apperzeption, nämlich dem inneren Sinn, abgrenzt. Vermittelst des inneren Sinns kann ich meinen inneren Zustand anschauen. Kant nennt meine innere Anschauung, nämlich „die Anschauung meiner selbst“5 , „das bestimmbare Selbst“6 . Im Gegensatz zu den mannigfaltigen 2A

345/B 404, A 350, A 363, B 135. XX 270. 4 B132. 5 B 406. 6 B 407. 3 AA

3.1 Vorbemerkung

115

Vorstellungen, deren ich mir bewusst bin bzw. die ich innerlich anschaue, ist das bestimmende Selbst das transzendentale Subjekt als der identische Akt der transzendentalen Apperzeption. Wenn wir das erste und dritte Moment hinzufügen, dann ist das transzendentale Subjekt im ersten Sinn nichts anderes als der sich aus der Ersten-Person-Perspektive vollziehende Akt, der selbstbewusst unmittelbar die gegenständliche Einheit stiftet. Wir haben Kant folgend die gegenständliche Einheit in zwei Arten, nämlich die Einheit eines Sachverhalts und die einer einzelnen Erscheinung, eingeteilt. Indirekt werden die vier Arten der Einheit der Vorstellung als Nebenwirkung auch durch den Akt konstituiert. Das transzendentale Subjekt „[macht] alle Vorstellungen zu Gedanken“7 , indem es die mannigfaltigen Vorstellungen indirekt in einem Urteil verknüpft, das einen Gedanke ausdrückt bzw. ein Gedanke ist. Mit „indirekt“ ist gemeint, dass sein verknüpfender Akt sich unmittelbar nicht an den Vorstellungen als solchen, sondern nur an den Erscheinungen betätigt, wie wir im ersten und zweiten Kapitel ausgeführt haben. Indem die Erscheinungen als ein Sachverhalt verknüpft werden, wird aus den entsprechenden Wahrnehmungen ein Urteil als das subjektive Korrelat des Sachverhalts. Die Einheit des Urteils als solchem ist die zweite Art der Einheit der Vorstellung. Sie unterscheidet sich zwar von der Einheit einer einzelnen Wahrnehmung als der ersten Art der Einheit der Vorstellung, aber der Unterschied zwischen den beiden ist nicht wesentlich. Das Urteil als „verknüpfte Wahrnehmungen“ ist eine (komplexe) Vorstellung, welche sich deutlich von der Sukzession bzw. dem Fluss von Vorstellungen unterscheidet. Die Einheit in der Sukzession ist nämlich die dritte Art der Einheit der Vorstellung. Das transzendentale Subjekt in diesem Sinn ist „das logische Subjekt des Denkens“8 und der „Grund des Denkens“9 . Konkreter gesprochen: Es ist nicht nur eine Möglichkeitsbedingung der Gedanken, sondern auch ein konstitutives Moment in jedem Gedanken. (Genauer gesagt bildet seine Leistung ein konstitutives Moment, nämlich den formlichen Aspekt in jedem Gedanken bzw. jedem Gedachten.10 Wir müssen jedoch wiederholt betonen, dass das transzendentale Subjekt nur dadurch einen Gedanken als Urteil konstituiert, dass es unmittelbar einen Sachverhalt als das Gedachte bzw. Geurteilte konstituiert. Deshalb ist vom formlichen konstitutiven Moment eher in Hinblick auf das Gedachte die Rede. Aber dies beeinträchtigt offensichtlich nicht die Annahme, dass seine Leistung der Grund des Denkens ist.) Deshalb ist das transzendentale Subjekt bzw. seine 7A

350. 429. 9 B 429. 10 A 346/B 404. 8B

116

3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Leistung „in allen Gedanken“11 zu finden: „[D]iese Vorstellung [kömmt] bei allem Denken immer wiederum vor.“12 Es ist das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile als meiner Gedanken. Dies ist der erste Sinn des Ausdrucks „das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile als Gedanken“. Das absolute Subjekt in diesem Sinn geht die „transzendentale Elementarlehre“ des Urteils bzw. Gedankens an. Um das Subjekt und dessen Leistung zu verstehen, müssen wir den Gedanken bzw. dessen gegenständlichen Inhalt zerlegen, anstatt den Gedanken als ein Ganzes zu betrachten. Dies ist der entscheidende Punkt, der das transzendentale Subjekt im ersten Sinn von dem im zweiten Sinn unterscheidet. Das denkende Wesen in diesem ersten Sinn bedeutet nichts anderes als das logische Fungieren aus der Ersten-Person-Perspektive. D. h., es hat keinen Referenzgegenstand13 , sondern erschöpft sich völlig in synthetisierendem Fungieren.14 Deshalb nennt Kant das denkende Wesen „das beständige logische Subjekt des Denkens“15 . In diesem Sinn liegt das transzendentale Subjekt allen Gedanken zugrunde, was eine konstitutive Beschreibung ist. Anders gesprochen: Die Leistung des transzendentalen Subjekts bildet ein konstitutives Moment in jedem Gedanken bzw. Gedachten. Gegen diese Interpretation, dass das „Ich denke“ diese untrennbaren Momente, die Erste-Person-Perspektive und das aus dieser Perspektive die gegenständlichen Einheiten stiftende synthetische Fungieren, enthält, von denen das eine dem „Ich“ und das andere dem „Denken“ im ‚Ich denke‘ entspricht, könnte man einerseits einwenden, dass mit dieser Interpretation unverständlich bleibe, dass „[d]as: Ich denke, alle meine Vorstellungen begleiten können [muss]“.16 Es ist offensichtlich, dass nicht nur der Gedanke, sondern auch die Wahrnehmung Vorstellungen sind. (Der Gedanke als die verknüpften Wahrnehmungen ist also selbst eine zusammengesetzte komplexe Vorstellung.) Und sie werden beiden aus der ErstenPerson-Perspektive bewusst. D. h., man muss das erste Moment „Ichvorstellung“ bei jeder Vorstellung finden können. Aber es scheint so zu sein, dass das andere Moment, nämlich das synthetisierende Fungieren nur notwendig im Gedanken als den verknüpften Wahrnehmungen gefunden werden muss. Im Vergleich dazu enthalte die einzelne Wahrnehmung in sich das zweite Moment nicht. Das Problem 11 A

350. 350. 13 Vgl.: „[…], weil das Bewusstsein an sich nicht sowohl eine Vorstellung ist, die ein besonders Objekt unterscheidet“. A 346/B 404. 14 Vgl.: Gurwitsch, Aron, Der Begriff des Bewusstseins bei Kant und Husserl, a. a. O., S. 417. 15 A 350. 16 B 132. 12 A

3.1 Vorbemerkung

117

wird von Kant dadurch gelöst, dass die einzelne Wahrnehmung auch nur mittelbar durch die von den Kategorien geregelten Synthesis möglich und auf die Leistung der letzteren angewiesen ist.17 Wir haben im zweiten Kapitel ausgeführt, dass die Einheit der einzelnen Wahrnehmung als die erste Art der Einheit der Vorstellung nur aufgrund ihrer Korrelation zur Erscheinung als dem Wahrgenommenen möglich ist und die Einheit der Erscheinung als die zweite Art der gegenständlichen Einheit die Leistung der von den Kategorien der Quantität und Qualität geregelten Synthesis ist. Andererseits könnte man das zweite Moment annehmen, aber das erste Moment ablehnen. D. h., das „Ich denke“ sei bei Kant nichts anderes als eine Handlung. Beispielsweise nimmt Horstmann an, dass „das Ich in keiner Weise als Ding gedacht werden kann, sondern als Aktivität, als Handlung gedacht werden muss.“18 Aber in den folgenden Passagen führt Kant explizit aus, dass das Bewusstsein von dem identischen Ich nicht das Bewusstsein von der identischen synthetischen Aktivität ist, obwohl es mit der letzteren notwendig verbunden ist. Kant schreibt: „[…] das Gemüt könnte sich unmöglich die Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung vor Augen hätte, […]“19 „Der Gedanke: diese in der Anschauung gegebene Vorstellungen gehören mir insgesamt zu, heißt demnach so viel, als ich vereinige sie in einem Selbstbewusstsein, oder kann sie wenigstens darin vereinigen, und ob er gleich selbst noch nicht das Bewusstsein der Synthesis der Vorstellungen ist, so setzt er doch die Möglichkeit der letzteren voraus“20 . „Diese Beziehung [auf die Identität des Subjekts] geschieht also dadurch noch nicht, dass ich jede Vorstellung mit Bewusstsein begleite, sondern dass ich eine zu der andern hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewusst bin.“21

Damit wiederholt Kant dreimal eine seiner Kernthesen: Dass ich mir a priori der Identität meiner selbst in allen meinen Vorstellungen bewusst sein kann,

17 B161: „Folglich steht alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter den Kategorien“. 18 Horstmann, Rolf-Peter, Kants Paralogismen, in: Kant-Studien 84/4 (1993), S. 408–425, S. 420. 19 A 108. 20 B 134. 21 B 133.

118

3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

setzt also eine identische synthetische Aktivität voraus, die alle meine Vorstellungen bzw. deren gegenständlichen Inhalte in die transzendentale Einheit bringt. Wenn man begrifflich nicht unterscheiden könnte zwischen dem (identischen) Ich und der (identischen) synthetischen Aktivität, wäre dieses Kernstück aus dem Deduktionsargument wörtlich direkt widersinnig. Man muss deswegen zugeben, dass das identische Ich und die transzendentale Apperzeption als die identische synthetische Aktivität zwei verschiedene Momente sind.22 Das transzendentale Subjekt als das „Ich denke“, das aus „Ich“ und „denke“ besteht, enthält also zwei Momente: die einfache inhaltslose Ich-Vorstellung und die transzendentale Apperzeption, die zwar voneinander untrennbar, aber unterschiedlich sind. Da wir in diesem Kontext die Abhängigkeit der Möglichkeit der Identifikation der Ichvorstellung von der synthetischen einheitlichen Funktion des Denkens hervorheben, wird das dritte Moment, nämlich die Selbstbewusstheit des Denkens nicht berücksichtigt. Wenn das Wort „Ich“ alleinsteht, d. h., wenn Kant es nicht mit dem Wort „Denken“ im „Ich denke“ zusammen verwendet, betont Kant meistens nur die Leerheit bzw. Einfachheit der Ich-Vorstellung. Im Vergleich dazu hebt Kant die Einheit bzw. das die Einheit zwischen den mannigfaltigen Vorstellungen bzw. zwischen deren Inhalten stiftende Fungieren hervor, wenn er vom „Denken“ oder „Ich denke“ oder von der transzendentalen Apperzeption redet. Diese beiden Kennzeichnungen sind voneinander so verschieden, dass es kaum vorstellbar ist, dass die eine auf die andere reduziert werden kann. Die Funktion der synthetischen Einheit des Bewusstseins bzw. das Gegenstandsbewusstsein kann durch die Leerheit bzw. Einfachheit der Ich-Vorstellung gar nicht erklärt werden. Zur erkenntnistheoretischen Perspektive kann die Ich-Vorstellung nichts beitragen. Trotzdem erwähnt Kant diese Kennzeichnung oft. Der Grund dafür besteht wohl darin, dass das Kantische Motiv nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch phänomenologisch deskriptiv ist, wie wir im zweiten Kapitel vermutet haben. Deshalb muss man einräumen, dass Kant die Ich-Vorstellung als eine eigenartige Bestimmung bzw. ein eigenartiges Moment im „Ich denke“ versteht, dessen anderes Moment dem die Einheit stiftenden Fungieren entspricht. Aufgrund der Nutzlosigkeit der Ich-Vorstellung für die gegenständliche Konstitution bzw. für die Erklärung der Gegenstandserkenntnis ist oft die Rede von einer Subjektivitätsphilosophie ohne Subjekt. Es ist ersichtlich, dass man die kantische Theorie nicht so kennzeichnen darf. 22 Die ausführliche Argumentation gegen die Identifikation des Ich mit der synthetischen Aktivität findet man hier: Rosefeldt, Tobias, Kants Ich als Gegenstand, in: DZPhil 54 (2006), S. 277–293, S. 280 f.

3.1 Vorbemerkung

119

Kant identifiziert das ‚Ich denke‘ mit dem ‚Ich synthetisiere bzw. verknüpfe‘. Es ist ersichtlich, dass ohne das, was synthetisiert wird, die Handlung bzw. Aktivität des Synthetisierens nicht „stattfinden“ kann. D. h., das ‚Ich denke‘ als Tätigkeit setzt etwas Empirisches als „Stoff“ voraus.23 Deshalb ist es in diesem Sinn gerechtfertigt, das „Ich denke“ als einen empirischen Satz zu bezeichnen.24 Anders gesagt: Obwohl das „Ich denke“ in sich nichts Empirisches enthält, kann es nur ein Moment in einem einheitlichen Ganzen sein, dessen anderes Moment etwas Empirisches ist. Die Handlung des Synthetisierens impliziert Kant zufolge auch das Handelnde, nämlich „ein selbsttätiges Wesen.“25 Das denkende Wesen ist deswegen weder ein Schein noch nichts, sondern „etwas Reales“, d. h. „Etwas, was in der Tat existiert.“26 Aber es ist daher weder von den Kategorien „Realität und Dasein“ noch von irgendeiner Kategorie die Rede, weil alle Kategorien nur in Hinsicht auf das äußerlich bzw. räumlich Angeschaute anwendbar sind. Deshalb nennt Kant das denkende Wesen eine „Intelligenz“27 , die nicht zum Gebiet der äußerlichen Phänomene gehört. Es ist allerdings zu beachten, dass die vermeintliche Selbstverständlichkeit, dass das Handeln das Handelnde impliziert, bzw. das Denken das Denkende impliziert, nur ein Schein ist. Daher besteht die Gefahr, das transzendentale Subjekt zu realisieren, naturalisieren, hypostasieren bzw. verdinglichen. Man findet diese Implikation nur selbstverständlich, insofern man das transzendentale Subjekt in Analogie zum Ding im äußerlich anschaulich gegebenen Gebiet betrachtet, bzw. insofern man einen kategorialen Fehler begeht, d. h. das dem einen Gebiet einzig zugehörige Gesetz auf das andere Gebiet anwendet. Wenn Kant das transzendentale Subjekt als etwas Reales, was in der Tat existiert, betrachtet, könnte dies den Verdacht erwecken, dass er die Neigung hat, das transzendentale Subjekt zu realisieren und hypostasieren. Aber man darf nicht deswegen behaupten, dass er diesen Fehler tatsächlich begeht. Man pflegt das „Ich denke“ als das transzendentale Subjekt zu hypostasieren, nicht nur aufgrund der trügerischen Selbstverständlichkeit, dass das Denken das

23 Vgl.: „Allein ohne irgendeine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Arkus, Ich denke, doch nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung der Anwendung, oder des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens.“ B 423. 24 B 422, 428. 25 B 158. 26 B 423. 27 B 158.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

denkende Wesen impliziert, sondern auch aufgrund der Beziehung der Gedanken auf das transzendentale Subjekt: alle Gedanken als Vorstellungen sind meine Vorstellungen und deshalb meine Bestimmungen bzw. Zustände.28 Diese Beziehung, die alle Gedanken auf das „Ich denke“ als das gemeinschaftliche transzendentale Subjekt haben, unterscheidet sich deutlich von der Beziehung der Inhärenz bzw. der Akzidenzen auf das reale Subjekt als die Substanz. Die letztere Beziehung besteht nur zwischen Angeschautem: von denen eines ein stehendes und bleibendes Angeschautes ist, worauf sich alles übrige Angeschaute als wandelbare Bestimmungen bezieht.29 Obwohl das transzendentale Subjekt als die alle Gedanken begleitende und verknüpfende Vorstellung im gewissen Sinn steht und bleibt, ist es keine Anschauung. Einerseits sind die Gedanken keine Bestimmung des Ich und die Beziehung der Begleitung und Verknüpfung ist keine Beziehung des Inhärierens. Andererseits ist das als die Substanz bezeichnete beharrliche Angeschaute kein Grund des als ihre Bestimmung bezeichneten wandelbaren Angeschauten, d. h. die Substanz ist nicht das, was als deren konstitutives Moment die Inhärenz bzw. die Akzidenz möglich macht, wie es bei der Beziehung zwischen dem „Ich denke“ und den Gedanken der Fall ist. Deshalb darf das transzendentale Subjekt als das „Ich denke“ wegen der Ungleichartigkeit der ersteren Beziehung mit der letzteren Beziehung keineswegs hypostasiert werden. Dass das „Ich denke“ als das transzendentale Subjekt über Substantialität verfügt, ist folglich eine Illusion. Mit anderen Worten: Das „Ich denke“ als das transzendentale Subjekt ist nur die logische funktionale Bedingung einer möglichen gegenständlichen Erkenntnis. In Kants Worten: „Nun ist zwar sehr einleuchtend: daß Ich dasjenige, was ich voraussetzen muß, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen könne“30 . Zusammenfassend können wir sagen: Die Kategorie der Substanz auf das „Ich denke“ als das transzendentale Subjekt anzuwenden, nämlich die Hypostasierung der reinen Subjektfunktion des apperzeptiven Ich („Subjekt der Kategorien“31 ) zu einem Ich-Objekt („Objekt der Kategorien“32 ), ist ungerechtfertigt.

28 Unter „meine Vorstellung“ kann man sowohl die Vorstellung, welche zum transzendentalen Subjekt gehört bzw. vom transzendentalen Subjekt begleitet wird, als auch die, welche zum empirischen Selbst gehört bzw. einen Teil des empirischen Selbst bildet, verstehen. Es ist hier im ersten Sinn gemeint. Später wird der zweite Fall ausgeführt. 29 A 362. 30 A 402. 31 B 422. 32 B 422.

3.1 Vorbemerkung

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Da man aus den gerade erwähnten drei Gründen die Neigung hat, das denkende Wesen als das transzendentale Subjekt zu hypostasieren, wird sich außerdem zeigen, dass man dazu tendiert, das denkende Wesen als das empirische Selbst zu verdinglichen. Tatsächlich ist dieser zweite Schein so natürlich und verführerisch, dass Kant selbst ihm in der A-Auflage unterlag. In der B-Auflage korrigiert Kant jedoch den Fehler. Darauf werden wir bald zurückkommen.

3.1.2

Das transzendentale Subjekt im zweiten Sinn: Das Substratum der Gedanken

Das transzendentale Subjekt im zweiten Sinn ist das, was „allen Gedanken“ „als Substratum zum Grunde liegt.“33 Man darf aber dieses Zugrunde-liegen des Substrats mit jenem des transzendentalen Subjekts im ersten Sinn nicht verwechseln. Jenes Zugrunde-liegen richtet sich auf die Entstehung bzw. Gestaltung des Gedankens oder auf die immanente Struktur jedes Gedankens und dessen konstitutive Momente. Um das transzendentale Subjekt im ersten Sinn zu verstehen, müssen wir einen Gedanken zerlegen und dasjenige darin enthaltene Moment herausfinden, welches die Leistung des transzendentalen Subjekts ist. Im Vergleich dazu betrifft dieses Zugrunde-liegen die sozusagen „äußerliche“ Relation zwischen dem Gedanken als einem fertigen Ganzen und dem Substratum. D. h., das Subjekt an sich selbst bzw. mein Selbst als Objekt liegt als Substratum allen meinen Gedanken zugrunde.34 Kant nennt das denkende Wesen in diesem Sinn „das reale Subjekt der Inhärenz.“35 Ohne das Subjekt als Substratum, dem die Gedanken inhärieren müssen, können Kant zufolge die Gedanken nicht sein. Deshalb ist das Substratum auch eine Möglichkeitsbedingung der Gedanken. Dies ist der zweite Sinn des Ausdrucks „das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile als Gedanken“. Das Substratum ist keineswegs ein konstitutives Moment im Gedanken. Es ist absurd, das Substratum als das formliche Moment im Gedanken zu betrachten, wie es beim transzendentalen Subjekt im ersten Sinn der Fall ist.36 Obwohl das 33 A

350. 350. 35 A 350. 36 Auf diese Zweideutigkeit des Ausdrucks „das transzendentale Subjekt“ weist Strawson hin. Er schreibt: „Perhaps it is not fanciful to detect in that phrase, ‚the transcendental subject‘ the essential ambiguity which Kant sees as the source of illusion: on the one hand what is transcendental in the sense of being an a priori condition of empirical knowledge or experience, viz. self-consciousness in general and its condition; on the other hand what is transcendental 34 A

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Substratum als das Subjekt an sich wie das „Ich denke“ als das transzendentale Subjekt unerkennbar ist, sind die jeweiligen Gründe dafür sehr unterschiedlich. Der Grund, warum wir keine Erkenntnis vom Subjekt an sich als „Substratum“ haben können, besteht darin, dass nur die Erscheinungen vom Subjekt an sich, welche im für uns in Frage kommenden Zusammenhang nur die inneren Zustände als die inneren Erscheinungen sind, anstatt des Subjekts an sich selbst uns anschaulich gegeben werden können. Dagegen lautet der Grund für die Unerkennbarkeit des transzendentalen Subjekts: Das „Ich denke“ als das transzendentale Subjekt ist das, was die Möglichkeit der Erkenntnis voraussetzt. „Nun ist zwar sehr einleuchtend: daß ich dasjenige, was ich voraussetzen muss, um überhaupt ein Objekt zu erkennen, nicht selbst als Objekt erkennen könne“37 . Horstmann behauptet: „Kant argumentiert in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft nicht dagegen, dass die Ich-Vorstellung irgendetwas von der Art eines Objekts, eines Gegenstandes bezeichnet, ganz im Gegenteil: er insistiert darauf, dass diese Vorstellung auf irgendein Substratum bezogen werden muss.“38 D. h., Horstmanns Ansicht zufolge macht Kant „die Ich-Vorstellung letztlich doch zu einer gegenstandsbezogenen Vorstellung“39 . Nach den bisherigen Ausführungen ist es ersichtlich, dass diese Behauptung nicht berechtigt ist. Einerseits begleitet das „Ich denke“ jeden meiner Gedanken. Das „Ich denke“ ist die apriorische Möglichkeitsbedingung jedes meiner Gedanken und seine Leistung bildet das formale Moment in jedem meiner Gedanken. In diesem Sinn kann man sagen, dass jeder meiner Gedanken sich auf das „Ich (denke)“ als das transzendentale Subjekt bezieht. Vielleicht kann man auch sagen, dass das „Ich denke“ bzw. die Ich-Vorstellung sich auf jeden meiner Gedanken bezieht. Aber es ist offensichtlich, dass diese Beziehung zwischen dem „Ich denke“ und jedem meiner Gedanken nichts mit der Beziehung zwischen einer Vorstellung und ihrem Referenzgegenstand als dem Vorgestellten zu tun hat.

in the other sense of being inaccessible to experience or empirical knowledge.“ Strawson, Peter, Kant’s Paralogisms: Self-Consciousness and the „Outside Observer“, in: Cramer Konrad / Fulda Hans Friedrich / Horstmann, Rolf-Peter / Pothast Ulrich (Hrsg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt am Main: Suhrkamp (1987), S. 209. 37 A 402 38 Horstmann, Rolf-Peter, Kants Paralogismen, a. a. O., S. 418 f. 39 Ebd., S. 418.

3.1 Vorbemerkung

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Andererseits liegt ein Substratum als das transzendentale Objekt meinen Gedanken als den inneren Erscheinungen zugrunde40 . Meine Gedanken, betrachtet als die inneren Erscheinungen, sind also Erscheinungen des Substratums als des transzendentalen Objekts. In diesem Sinn kann man sagen, dass jeder meiner Gedanken sich auf das Substratum als seinen Träger bezieht. Diese Beziehung ist auch völlig anders als diejenige zwischen meinem Gedanken als einer Urteils-Vorstellung und seinem Referenzgegenstand, nämlich dem entsprechenden Sachverhalt. Aber es ist widersinnig zu behaupten, dass das „Ich denke“ bzw. die IchVorstellung sich auf das Substratum bezieht und es als ihr Gegenstand bezeichnet werden kann. Der Grund, der Horstmann zu der Annahme verleitet, dass Kant „die Ich-Vorstellung letztlich doch zu einer ‚gegenstandsbezogenen‘ Vorstellung macht“, besteht darin, dass Kant Horstmanns Interpretation zufolge „dem ‚Ich denke‘ als der notwendigen Begleitvorstellung aller meiner Gedanken ein, wenn auch unerkennbares, Substrat unterlegen“ würde.41 Es ist aber unverkennbar, dass Kant das in Rede stehende Substratum nicht dem „Ich denke“ bzw. der Ich-Vorstellung, sondern nur meinen Gedanken als den inneren Erscheinungen unterlegt. Kant schreibt: Das „Subjekte an sich selbst“ ist das, was „allen Gedanken, als Substratum zum Grunde liegt“.42 Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass das Substratum und die Ich-Vorstellung eigentlich zueinander kein unmittelbares Verhältnis haben, obwohl sie sich beide auf meine Gedanken und zwar auf jeweilig verschiedene Weise beziehen. Man kann Kant vorwerfen, dass er ein Substratum für das empirische Selbst, welches nichts anderes als der Strom der Gedanken als der inneren Erscheinungen ist, konstruiert. Aber Kant setzt das Substratum nirgends mit dem Gegenstand der Ich-Vorstellung gleich. Diese Gleichsetzung entspricht gerade dem von Kant kritisierten Vorgehen der rationalen Psychologie: „Hieraus folgt: dass der erste Vernunftschluss der transzendentalen Psychologie uns nur eine vermeintliche neue Einsicht aufhefte, indem er das beständige logische Subjekt des Denkens, vor die Erkenntnis des realen Subjekts der Inhärenz ausgibt“43 . Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass Horstmanns folgende These nicht plausibel ist: Kants Ausführung zum „Ich denke“ im Paralogismus-Kapitel in der A-Auflage richte sich 40 Vgl.: „Das transzendentale Objekt, welches den äußeren Erscheinungen, im gleichen das, was der inneren Anschauung zum Grunde liegt“. (A 379) Das „Subjekte an sich selbst“ ist das, was „allen Gedanken, als Substratum zum Grunde liegt“. (A 350) 41 Horstmann, Rolf-Peter, Kants Paralogismen, a. a. O., S. 418. 42 A 350. 43 A 350.

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auf die „gegenstandsbezogene“ Deutung.44 In der Tat versteht Kant das „Ich denke“ sowohl in der A-Fassung des Paralogismus-Kapitels wie in der B-Fassung nicht gegenständlich, sondern nur funktional.45 Das folgende Zitat ist hilfreich, um die in Rede stehenden Sachlage zu verdeutlichen: „Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können“.46

Man darf das transzendentale Subjekt in diesem viel zitierten und zugleich oft missdeuteten Diktum nicht im ersten Sinn, sondern nur im zweiten Sinn, d. h. nicht als das „Ich denke“ als das bestimmende Subjekt der Gedanken, sondern nur als das reale Subjekt bzw. das Substratum der Gedanken verstehen. Was in diesem Zitat besonders auffällt, ist der Ausdruck „dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt“. Damit erstaunt Kant seinen Leser sicherlich sehr, weil die ErstePerson-Perspektive, die Kant in der Deduktion und dem Paralogismus-Kapitel mit dem transzendentalen Subjekt als dem „Ich denke“ notwendig verbindet, in dieser Formulierung aufgegeben zu werden scheint. Wie kann Kant so weit kommen? Diese Nichtübereinstimmung lässt sich so auflösen, dass man unter dem transzendentalen Subjekt in diesem Zitat das Substratum des empirischen Selbst als des bestimmten Objekts versteht. Der scheinbare Widerspruch besteht nur, sofern man das in Rede stehende transzendentale Subjekt als das „Ich denke“, nämlich als das bestimmende Subjekt versteht. Die Erste-Person-Perspektive bzw. die reine Ich-Vorstellung ist dem bestimmenden Subjekt bzw. dem bestimmenden Fungieren unentbehrlich. Im Vergleich dazu ist sie für das empirische Selbst als ein Objekt und dessen Substratum nicht erforderlich. Dieser Punkt wird von Kant in seiner Kritik am dritten Paralogismus durch sein Gedankenexperiment von „einem äußeren Beobachter“47 44 „Die Richtung, in die Kants Interpretation der Ich-Vorstellung in den ParalogismusErörterungen der B-Auflage zielt, ist demnach einigermaßen deutlich: weg von der gegenstandsbezogenen’ Deutung, hin zu einer ‚handlungs- bzw. aktivitätsorientierten‘ Auffassung.“ Horstmann, Rolf-Peter, Kants Paralogismen, a. a. O., S. 424. 45 Vgl.: „Allein dieses Ich ist so wenig Anschauung, als Begriff von irgendeinem Gegenstande, sondern die bloße Form des Bewusstseins, welches beiderlei Vorstellungen begleiten, und sie dadurch zu Erkenntnissen erheben kann“. (A 382) 46 A 346/B 404. 47 A 362.

3.1 Vorbemerkung

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hervorgehoben. Wenn das denkende Wesen der anschauliche Gegenstand eines äußeren Beobachters wäre, würde er keine Ich-Vorstellung in diesem Gegenstand als dem Vorstellungsfluss finden, obwohl seine eigene Ichvorstellung notwendig mit seiner Anschauung von diesem Gegenstand verbunden ist. Darauf werden wir noch zurückkommen, wenn wir Kants Kritik am dritten Paralogismus untersuchen. Übrigens bestätigt sich diese Interpretation auch dadurch, dass Kant daher die Gedanken als die Prädikate des transzendentalen Subjekts bezeichnet. Wie mehrmals ausgeführt ist es absurd, die Gedanken als die Prädikate des bestimmenden Subjekts zu bezeichnen. Der Satz „Die Gedanken sind die Prädikate des transzendentalen Subjekts.“ macht aber relativ Sinn, insofern man das transzendentale Subjekt als das Substratum der Gedanken versteht und das empirische Selbst fälschlicherweise in Analogie zu „Ding“ betrachtet: Die Gedanken sind die Bestimmungen, Inhärenz bzw. „Erscheinungen“ des Substratums des dinglichen Objekts. Kant nennt tatsächlich das Subjekt in diesem Sinn „das Ding“.

3.1.3

Was versteht Kant unter Seele?

Zuerst ist festzulegen, dass die Seele Kant zufolge nicht das „Ich denke“ ist. Dafür gibt es zwei Gründe: (1) Der Begriff „Seele“ ist ein Vernunftbegriff, nämlich eine Idee. Im Vergleich dazu ist das „Ich denke“ ein Verstandesbegriff, „der oben, in der allgemeinen Liste der transzendentalen Begriffe, nicht verzeichnet worden, und dennoch dazu gezählt werden muss“48 . (2) Der dem Begriff „Seele“ entsprechende Gegenstand ist der Gegenstand des inneren Sinns,49 welcher ein Vermögen der sinnlichen Anschauung ist. Es ist aber mit dem „Ich denke“ nicht die mindeste Anschauung verbunden.50 In Übereinstimmung damit haben wir erwähnt, dass das „Ich denke“ Kant zufolge keinen Referenzgegenstand hat. (Dass die Seele der Gegenstand des inneren Sinns ist, widerspricht nicht der Annahme, dass ihr Begriff eine Idee ist. Die Seele als das absolute Ganze bzw. der Inbegriff aller inneren Phänomene kann nie adäquat und vollständig anschaulich gegeben werden. Deshalb 48 A

341/B 399. 427, A 342/B 400 „Ich, als denkend, bin ein Gegenstand des innern Sinnes, und heiße Seele.“ 50 A 350. 49 B

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

ist ihr Begriff nur eine regulative Idee. Dies schließt aber nicht aus, dass die Seele inadäquat bzw. partiell durch den inneren Sinn anschaulich gegeben werden kann.) Es wird sich bald zeigen, dass Kant die Seele mit dem empirischen Selbst als dem Fluss der empirischen Vorstellungen identifiziert. Da das „Ich denke“ sich streng von dem empirischen Selbst unterscheidet, ist es auch absurd, das „Ich denke“ mit der Seele zu identifizieren. Kant zufolge besteht die innere Erfahrung darin, jeder meiner Vorstellungen eine bestimmte Stelle in der Zeit zuzuschreiben. Das empirische Selbst bzw. mein Dasein als das Objekt der inneren Erfahrung ist folglich nichts anderes als die zeitlich bestimmte Sukzession bzw. Reihe von Vorstellungen. Die Spekulation, dass ein Substratum der Reihe bzw. dem Strom von Vorstellungen zugrunde liegt und das Letztere irgendwie trägt, ist weder nötig noch phänomenologisch nachvollziehbar. Dieses Verständnis der inneren Erfahrung schließt auch jede mögliche Hypostasierung des empirischen Selbst in Analogie zum Gegenstand der äußerlichen Erfahrung aus. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird die durch den inneren Sinn bewusste empirische Vorstellung als innerliches bzw. psychisches Phänomen bezeichnet. Deshalb versucht man immer das sogenannte innerliche Phänomen in Analogie zum äußerlichen Phänomen zu verstehen. Der Begriff „Phänomen“ bedeutet im Fall des äußerlichen Gebiets einen erscheinenden Gegenstand als solchen. Mit anderen Worten, der äußerliche Gegenstand kann sich nicht einmalig adäquat ergeben, sondern nur partiell in der Zeit erscheinen. Die Phänomene können deswegen als die Erscheinungen von einem und demselben Gegenstand bzw. als dessen verschiedene Zustände angesehen werden. Aber nichts Ähnliches kann durch den inneren Sinn gegeben werden. Die Art und Weise, wie ein inneres Phänomen sich ergibt, ist einmalig vollständig und adäquat. Sie ist also anders als die Gegebenheitsweise „Abschattung“. D. h., das innerliche Phänomen bezeichnet nicht einen erscheinenden Gegenstand als solchen.51 Stattdessen ist das Phänomen der Gegenstand selbst. Mit anderen Worten: Der Gegenstand kann keine verschiedenen Zustände als Gegebenheiten haben. Deshalb können die innerlichen Phänomene nicht als die Erscheinungen bzw. Zustände von einem und demselben Gegenstand, sondern nur als die verschiedenen Gegenstände selbst angesehen. Das Verhältnis zwischen einer einzelnen empirischen Vorstellung und dem empirischen Selbst als dem Strom bzw. der Komplexion von Vorstellungen 51 Aus diesem Grund hält Husserl es für unangemessen, eine Vorstellung bzw. ein Erlebnis „(innerliches oder psychisches) Phänomen“ zu nennen. Vgl.: „Wir werden gut daran tun, weder von psychischen Phänomenen noch überhaupt von Phänomenen zu sprechen, wo es sich um die Erlebnisse der in Rede stehenden Klasse handelt.“ Hua XIX, LU, A 350/B1 370.

3.1 Vorbemerkung

127

ist wörtlich ein Verhältnis von Teil und Ganzem bzw. Ausschnitt eines Stroms und dem Strom selbst, welches sich vom Verhältnis zwischen einem Gegenstand und dessen verschiedenen Zuständen sehr stark unterscheidet.

3.1.4

Was versteht die rationale Psychologie unter Seele?

Der Gegenstand der rationalen Psychologie als der rationalen Seelenlehre ist die Seele. Wie versteht die rationale Psychologie Kant zufolge die Seele? Es ist zu beachten, dass diese Frage sich von der Frage unterscheidet, was Kant selbst unter der Seele versteht. Selbstverständlich versteht Kant die Seele anders als die rationale Psychologie es tut, sonst würde er die Seelenlehre der rationalen Psychologie nicht kritisieren. Nachdem oben ausgeführt worden ist, wie Kant selbst die Seele versteht, fragen wir weiter: Wie versteht die rationale Psychologie nach Kant die Seele? Horstmann52 und Chotas53 behaupten, dass Kant das ‚Ich denke‘, von dem in der transzendentalen Deduktion die Rede ist, mit dem, was die rationale Psychologie unter „Seele“ versteht, identifiziert. D. h., nach Kant verstehe die rationale Psychologie unter der Seele das „Ich denke“. Ich gehe dagegen davon aus, dass Kant so zu verstehen ist, dass die Seele als der Gegenstand der rationalen Psychologie keineswegs mit dem ‚Ich denke‘ identisch sei. Die Begründung dieser Annahme findet sich im folgenden Zitat: „Ich, als denkend, bin ein Gegenstand des innern Sinnes, und heiße Seele. Dasjenige, was ein Gegenstand äußerer Sinne ist, heißt Körper. Demnach bedeutet der Ausdruck Ich, als ein denkend Wesen, schon den Gegenstand der Psychologie, welche die rationale Seelenlehre heißen kann, wenn ich von der Seele nichts weiter zu wissen verlange, als was unabhängig von aller Erfahrung (welche mich näher und in concreto bestimmt) aus diesem Begriffe Ich, sofern er bei allem Denken vorkommt, geschlossen werden kann.“54

52 Vgl. „Und diese Identifizierung von, Ich denke’ und Seele bestimmt zugleich Kants Beweisstrategie im Kampf gegen die Behauptungen der rationalen Psychologie.“ Horstmann, Rolf-Peter, Kants Paralogismen, a. a. O., S. 415. 53 Vgl. „Beginnen wir zunächst mit der Beobachtung, daß Kant in der ‚Einleitung‘ zum Paralogismus-Kapitel, die beiden Versionen gemeinsam ist, das ‚Ich denke‘ mit der Seele identifiziert.“ Chotas, Jiri, Das Ich als transzendentales Subjekt, in: Chotas, Jiri / Karasek, Jindrich / Stolzenberg, Jürgen (Hrsg.), Metaphysik und Kritik, Würzburg: Königshausen und Neumann 2010, S. 121. 54 A 342/B 400.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Wie wir aus dem Zitat ersehen können, ist Kant zufolge die Seele als der Gegenstand des inneren Sinns der Gegenstand der Psychologie. In dieser Definition unterscheidet Kant zunächst nicht die rationale Psychologie von der empirischen Psychologie. D. h., das Wort „Psychologie“ gilt im Definitionssatz als ein Oberbegriff, welcher sowohl die rationale Psychologie als auch die empirische Psychologie in sich enthält. Die Unterteilung wird dann im Hinblick auf das jeweilige Verfahren der Erforschung des Gegenstands gemacht. Dagegen mag man sofort Bedenken haben, weil dies impliziert, dass die rationale Psychologie denselben Gegenstand wie die empirische Psychologie hat. Aber dies ist tatsächlich so. Man darf nicht sagen, dass die transzendentale Philosophie nichts mit der Erfahrung und deren Gegenstand zu tun hat. Ihre Aufgabe besteht gerade darin, nach der (apriorischen) Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung und deren Gegenstand zu fragen. Ähnlich wie das Wort „transzendental“ bezeichnet das Wort „rational“ nicht den Gegenstand der rationalen Psychologie,55 sondern die Art und Weise bzw. das Verfahren der Forschung der rationalen Psychologie, nämlich „unabhängig von aller Erfahrung (welche mich näher und in concreto bestimmt)“56 allein aus diesem Begriff ‚Ich denke‘ analytisch zu schließen. Dass die Erfahrung den Gegenstand „näher und in concreto bestimmt“, wäre sinnlos, wenn die empirische und die rationale Psychologie nicht denselben Gegenstand hätten. Die rationale Psychologie hat also denselben Gegenstand wie die empirische Psychologie, welcher durch den inneren Sinn angeschaut werden kann. Deshalb darf der Gegenstand der rationalen Psychologie mit dem „Ich denke“ nicht identifiziert werden: Das „Ich denke“ enthält nichts sinnlich Anschauliches in sich. Es lässt sich feststellen, dass in Kants berühmtem Satz „Ich denke, ist also der alleinige Text der rationalen Psychologie, aus welchem sie ihre ganze Weisheit auswirken soll.“57 nicht vom Gegenstand der rationalen Psychologie, sondern von der Art und Weise bzw. vom Verfahren ihrer Forschung die Rede ist. Strawson hat das übersehen, wenn er schreibt: „For he (Kant) sees the illusory knowledgeclaims of rational psychology as relating, not to our empirical selves, but to

55 Kant nennt tatsächlich die rationale Psychologie auch die transzendentale Psychologie (A 351) oder die transzendentale Seelenlehre (A 345/B 403). 56 A 342/B 400. 57 A 343/B 401.

3.1 Vorbemerkung

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ourselves as we are in our selves, the underlying ground of the unity of consciousness.“58 Das Selbst an sich soll durch keine Erfahrung „näher und in concreto bestimmt“ werden können. Aus der obigen Ausführung ist jedoch nicht zu entnehmen, dass die Seele als der Gegenstand der rationalen Psychologie mit dem „Ich denke“ nichts zu tun hat. Kant zufolge wird die rationale Psychologie auf dem einzigen Satz: „Ich denke“ erbaut. Dass das, was die rationale Psychologie benutzt und wovon sie ausgeht und schließt, mit dem, was sie zu erreichen und zu erkennen versucht, nämlich worauf sie schließt, nichts zu tun hätte, macht das Verfahren der rationalen Psychologie, das ein Schluss sein soll, sinnlos. Ein ungültiger Schluss darf mit einem sinnlosen Schluss nicht gleichgesetzt werden. Kant macht deutlich, dass das Verfahren der rationalen Psychologie ist, „von etwas, das wir kennen, auf etwas anderes [zu] schließen, wovon wir doch keinen Begriff haben,“59 d. h. „von dem transzendentalen Begriff des Subjekts, der nichts Mannigfaltiges enthält, auf die absolute Einheit dieses Subjekts selber“60 zu schließen. Da Kant das „Ich denke“ von der Seele als dem empirischen Selbst streng unterscheidet, ist aus seiner Perspektive das Verfahren, vom ‚Ich denke‘ auf die Seele zu schließen, nicht gerechtfertigt. Das Verfahren des Vernunftschlusses über das denkende Wesen verläuft nach Kant folgendermaßen: Das denkende Wesen (im Sinne des transzendentalen Subjekts als des „Ich denke“) hat die Bestimmung p1 ; deshalb hat das denkende Wesen (im Sinne der Seele als des empirischen Selbst) die Bestimmung p2 . Formlich ausgedrückt: „S1 ist p1 . → S2 ist p2 .“ Aber die rationale Psychologie hält das Verfahren für gerechtfertigt und gültig. Deshalb kann es nur so lauten: Das denkende Wesen hat die Bestimmung p1 ; deshalb hat es die Bestimmung p2 . Formlich ausgedrückt: „S ist p1 . → S ist p2 .“ Mit Kants Worten besteht das Verfahren darin, „von dem transzendentalen Begriffe des Subjekts“ „auf die absolute Einheit dieses Subjekts selber“ zu schließen.61 Daraus ist zu entnehmen, dass die rationale Psychologie unter der Seele bzw. dem denkenden Wesen sowohl das „Ich denke“ als auch das empirische Selbst im Kantischen Sinn (und mehr) versteht. Mit anderen Worten, die von Kant festgestellte transzendentale Unterscheidung zwischen dem denkenden

58 Strawson, Peter, Kant’s Paralogisms: Self-Consciousness and the „Outside Observer“, a. a. O., S. 218. 59 A 339/B 397. 60 A 340/B 398. 61 A 340/ B 398.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Wesen als dem transzendentalen Subjekt, nämlich dem „Ich denke“, und dem denkenden Wesen als dem empirischen Selbst kennt der rationale Psychologe nicht. Deshalb vermengt er sie und betrachtet sie als verschiedene Bestimmungen oder Aspekte eines und desselben Gegenstandes, nämlich der Seele bzw. des denkenden Wesens. Nur insofern ist es möglich, dass die rationale Psychologie ihren Schluss für gültig hält. Es lässt sich zusammenfassen, dass die rationale Psychologie ihrem Gegenstand, nämlich der Seele als dem denkenden Wesen, sowohl diejenigen Bestimmungen, welche Kant dem bestimmenden Subjekt als dem „Ich denke“ zuschreibt, als auch diejenigen, die Kant dem bestimmbaren Subjekt als dem empirischen Selbst zuschreibt, und vieles mehr zurechnet. Dass die rationale Psychologie das „Ich denke“ und das empirische Selbst im kantischen Sinn als die beiden Aspekte des einen und selben denkenden Wesens betrachtet, hält Kant für akzeptabel. Sonst könnten die rationale und die empirische Psychologie nicht denselben Gegenstand haben. Das Verfahren, von einer Bestimmung des denkenden Wesens auf ihre andere Bestimmung zu schließen, ist, für sich betrachtet, nicht unbedingt problematisch. Das „Ich denke“ als der transzendentale Aspekt des denkenden Wesens, sofern es richtig verstanden wird, kann die Prämisse eines Schlusses sein, durch den man die andere Bestimmung des denkenden Wesens zu erkennen versucht. Deshalb besteht der Fehler des rationalen Psychologen nicht darin, von dem „Ich denke“ als dem transzendentalen Selbst auf das empirische Selbst zu schließen. Der Mittelbegriff im Untersatz, sofern der Untersatz für richtig gehalten werden darf, bedeutet nicht dasjenige, was er im Obersatz bedeutet. Wenn man den Mittelbegriff im Untersatz so versteht, wie die berechtigte Subsumtion des Untersatzes unter den Obersatz verlangt, dann kann der Untersatz nicht für richtig gehalten werden. Mit anderen Worten: Der richtig verstandene Untersatz darf nicht unter den Obersatz subsumiert werden. Die rationale Psychologie hält deswegen den Schluss für gültig und dessen Schlusssatz für richtig, weil sie den transzendentalen Aspekt des denkenden Wesens, nämlich das „Ich denke“ falsch verstanden hat. In seiner Kritik am Schluss der rationalen Psychologie versucht Kant zu zeigen, dass der Untersatz, in welchem eine Bestimmung des „Ich denke“ beschrieben wird, nicht unter den Obersatz subsumiert werden kann, sofern der Untersatz richtig verstanden wird. Die beiden Prämissen können folglich den Schlusssatz nicht implizieren. Der Schusssatz kann nur aus den Prämissen geschlossen werden, sofern der Untersatz falsch verstanden wird. Deshalb besteht der Fehler des rationalen Psychologen darin, von dem falsch verstanden „Ich denke“ (auf das empirische Selbst) zu schließen.

3.2 Der erste Paralogismus der Substantialität

3.2

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Der erste Paralogismus der Substantialität

Der erste Syllogismus, welchen Kant als Paralogismus bezeichnet und den die rationale Psychologie für gültig hält, lautet: „Dasjenige, dessen Vorstellung das absolute Subjekt unserer Urteile ist und daher nicht als Bestimmung eines andern Dinges gebraucht werden kann, ist Substanz. Ich, als ein denkend Wesen, bin das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile, und diese Vorstellung von Mir selbst kann nicht zum Prädikat irgend eines andern Dinges gebraucht werden. Also bin ich, als denkend Wesen (Seele), Substanz.“62

Der Obersatz ist die Definition der Kategorie „Substanz“. Er definiert, welche Bestimmungen und Beschaffenheit ein Gegenstand haben muss, damit er unter dem Begriff „Substanz“ subsumiert werden kann, bzw. damit wir auf ihn den Begriff „Substanz“ anwenden können. Nach der Definition der Kategorie „Substanz“ und deren Anwendungsbedingung bzw. deren Schema63 muss das denkende Wesen ein stehendes und bleibendes Angeschautes sein, worin die Gedanken als dessen wandelbare Bestimmungen wechseln, bzw. dem die Gedanken als die wandelbaren Bestimmungen inhärieren,64 sofern das denkende Wesen unter der Kategorie „Substanz“ subsumiert werden darf. Aus der Perspektive des rationalen Psychologen sind diese beiden Bedingungen erfüllt. Die erste Bedingung besagt, dass sich der substantielle Gegenstand als ein beharrliches Angeschautes darbieten soll. Die rationale Psychologie nimmt an, dass das denkende Wesen ein ebensolches ist. Diese Annahme stammt nach Kants Diagnose aus einer Verwechslung. Dazu, worin die Verwechslung besteht, äußert Kant sich jedoch unterschiedlich. Wir haben erwähnt, dass die Ichvorstellung Kant zufolge eine eigenartige Vorstellung ist. Sie ist nicht in der immanenten Zeit und kann nicht durch den inneren Sinn angeschaut werden, geschweige dass sie in der immanenten Zeit beharren würde. Die Ichvorstellung ist also kein innerliches, anschauliches Phänomen, welches sozusagen den inneren Sinn besetzt bzw. erfüllt. Wir haben die Identität bzw. Einheit der Ichvorstellung als die vierte 62 A348. 63 „Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit, d. i. die Vorstellung desselben, als eines Substratum der empirischen Zeitbestimmung überhaupt, welches also bleibt, indem alles andere wechselt“. (A 143 / B 183) 64 Man kann mit Recht sagen, dass die Definition der Substanz im Paralogismus-Kapitel anders ist als die in der ersten Analogie. Ein einzelnes physisches Ding ist laut der ersteren eine Substanz und laut der letzteren keine.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Art der Einheit der Vorstellung bezeichnet. Die rationale Psychologie verwechselt Kant zufolge diese überzeitliche Einheit bzw. Identität der Ichvorstellung mit einer Beharrlichkeit, nämlich mit einer wahrgenommenen Einheit in der immanenten Zeit. Wir werden in der folgenden Diskussion über Kants Kritik am dritten Paralogismus der Personalität sehen, dass Kant zwei Versionen des Paralogismus der Personalität in der A-Auflage kritisiert, dass der rationale Psychologe Kants Diagnose zufolge die gleiche Behauptung über das denkende Wesen und ergo den gleichen Fehler in der ersten der beiden Versionen des Paralogismus der Personalität wie hier macht. Wir werden die These aufstellen, dass die erste Version des Paralogismus der Personalität und der Paralogismus der Substantialität, sofern die von der rationalen Psychologie im Schluss der Substantialität begangene Verwechslung das Moment „Ichvorstellung“ im transzendentalen Subjekt als dem „Ich denke“ angeht, einerlei sind. Kant vertritt jedoch eine andere These, welcher zufolge die von der rationalen Psychologie begangene Verwechslung nicht das Moment „Ichvorstellung“ im transzendentalen Subjekt als dem „Ich denke“, sondern dessen anderes Moment „Denken“ angeht. Er schreibt: „Man sieht aus allem diesem, dass ein bloßer Missverstand der rationalen Psychologie ihren Ursprung gebe. Die Einheit des Bewusstseins, welche den Kategorien zum Grunde liegt, wird hier für Anschauung des Subjekts als Objekts genommen, und darauf die Kategorie der Substanz angewandt.“65 „Gleichwohl ist nichts natürlicher und verführerischer, als der Schein, die Einheit in der Synthesis der Gedanken für eine wahrgenommene Einheit im Subjekte dieser Gedanken zu halten.“66

Wie wir aus diesen Zitaten ersehen können, hebt Kant das die gegenständliche Einheit stiftende Denken im transzendentalen Subjekt als dem „Ich denke“, nämlich die transzendentale Apperzeption hervor. Die die gegenständliche Einheit stiftende Aktivität unterscheidet sich offensichtlich von der Ichvorstellung, welche besagt, dass diese Aktivität aus der Ersten-Person-Perspektive vollzogen wird. Die subjektive Aktivität kann durch die Anwendung der Relationenkategorien die Einheit zwischen den Erscheinungen stiften. Diese erste Art der gegenständlichen Einheit ist eine objektive zeitliche Einheit. Dass das Denken bzw. diese Aktivität die Erscheinungen in die objektive, zeitliche Einheit bringt, impliziert jedoch keineswegs, dass das Denken bzw. diese Aktivität als eine Vorstellung als solche sich durch diese zeitliche Phase erstrecken muss. Diejenigen Vorstellungen, 65 B 66 A

422. 402.

3.2 Der erste Paralogismus der Substantialität

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die sich durch diese zeitliche Phase erstrecken, sind die verdinglichten bzw. realisierten Wahrnehmungen als psychische Ereignisse, über deren Zeitverhältnisse die innere Erfahrung urteilt. Daraus, dass die Erscheinungen durch das Denken, nämlich durch die synthetisierende Aktivität als ein Sachverhalt, d. h. in die objektive, zeitliche Einheit vereinheitlicht werden, entstehen auf der subjektiven Seite zwei zusätzliche Wirkungen. Die eine Wirkung ist, dass aus den entsprechenden Wahrnehmungen ein Gedanke als eine komplexe Urteilsvorstellung wird. Diese Wirkung meint nicht, dass die jeweiligen Zeitstrecken der Wahrnehmungen als die Zeitstrecke bzw. Zeitdauer der Urteilsvorstellung zusammengesetzt werden, sondern dass die Bedeutungen dieser Wahrnehmungen als die Bedeutung der Urteilsvorstellung zusammengesetzt werden. Husserl nennt die für diese Fragestellung relevante „Bedeutung“ die „Materie“ des Aktes. Diese Einheit bzw. Zusammensetzung der Bedeutungen hat nichts mit der Zeitlichkeit zu tun. Die andere Wirkung besteht darin, dass das Zeitverhältnis zwischen diesen Wahrnehmungen als solchen objektiv bestimmt bzw. die innere Erfahrung gebildet wird. Unter der inneren Erfahrung versteht Kant, dass jeder der Vorstellungen eine objektive Stelle in der Zeit zugeordnet wird. Der „Widerlegung des Idealismus“ zufolge sind die Zeitstellen der Vorstellungen nur durch die Korrelation der Vorstellungen zur Reihe der objektiv bestimmten Erscheinungen bestimmbar. Indem die äußere Erfahrung gebildet wird, wird also auch die innere Erfahrung zugleich gebildet wird. Mit anderen Worten: Während die Erscheinungen als das Vorgestellte in die objektive zeitliche Einheit gebracht werden, also ihre Zeitstellen objektiv bestimmt werden, werden auch die Zeitstellen der Vorstellungen bestimmt werden, d. h., sie werden auch in eine parallele objektive zeitliche Einheit gebracht und zwar durch ihre Korrelation zur Reihe der Erscheinungen. Die durch die innere Erfahrung ausgedrückte Einheit zwischen den verdinglichten Vorstellungen als den psychischen Ereignissen, welche wir als die dritte Art der Einheit der Vorstellung bezeichnet haben, ist also eine objektive zeitliche Einheit und unterscheidet sich nicht wesentlich von der gegenständlichen Einheit zwischen den Erscheinungen. Aber sie darf keineswegs mit der Einheit in einer Urteilsvorstellung als solcher gleichgesetzt werden, welche wir als die zweite Art der Einheit der Vorstellung bezeichnet haben. Diese Einheit ist auch eine zeitliche Einheit, während die andere Einheit, die auch mit der Urteilsvorstellung verbunden ist, keine Einheit der Zeitlichkeit, sondern Einheit der Bedeutungen ist. Eine Urteilsvorstellung ist keine Sukzession bzw. Reihe von objektiv zeitlich bestimmten Wahrnehmungen. Dass das Denken als Urteilen die Wahrnehmungen bzw.

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deren gegenständliche Inhalte synthetisiert, impliziert deshalb nicht, dass das Denken sich über die jeweiligen Zeitstrecken erstreckt, in denen die Wahrnehmungen sich befinden. Wir haben ausgeführt, dass die Konstitution der Urteilsvorstellung und die Konstitution des Sachverhalts als ihres Korrelats einander wechselseitig fordern. Darin finden wir ihren Unterschied. Auf der gegenständlichen bzw. noematischen Seite geht die Konstitution die objektiv zeitliche Bestimmung an. Im Vergleich dazu ist die Konstitution auf der subjektiven bzw. noetischen Seite nicht mit zeitlicher Bestimmung, sondern mit Bedeutung verbunden. Es handelt sich dabei also nicht um die Zeitstrecke der Urteilsvorstellung als die Zusammensetzung der Zeitstrecken der entsprechenden Wahrnehmungen, sondern um die Bedeutung der Urteilsvorstellung als die Zusammensetzung der Bedeutungen dieser Wahrnehmungen. Damit ist die Verwechslung hinter der Behauptung der rationalen Psychologie, dass das denkende Wesen sich im inneren Sinn als ein beharrliches Angeschautes bekundet, ersichtlich. „Die Einheit des Bewusstseins, welche den Kategorien zum Grunde liegt,“ bzw. „die Einheit in der Synthesis der Gedanken“ besagt, dass die Aktivität des Denkens als Synthesis die gegenständliche Einheit zwischen den Erscheinungen stiften kann, welche eine objektive zeitliche Einheit ist. Diese Aktivität als eine Urteilsvorstellung kann durch den inneren Sinn angeschaut werden und ist ergo ein innerlich Wahrgenommenes. Wenn die Urteilsvorstellung als ein innerlich Wahrgenommenes als solches, nämlich als ein innerliches Phänomen betrachtet wird, rücken die sie bildenden Zeitphasen und deren Einheit in den Vordergrund. Diese Zeitphasen bestehen jedoch nicht aus denjenigen Zeitphasen, die diejenigen Wahrnehmungen, auf denen die Urteilsvorstellung fundiert ist, bilden. Es ist deswegen nicht nötig, dass die Urteilsvorstellung als die synthetisierende Tätigkeit sich über die gesamten Zeitstrecken erstreckt, in denen diese Wahrnehmungen sich befinden, weil die reproduzierende Einbildungskraft das vorherig Wahrgenommene vergegenwärtigen kann, damit es mit dem jetzigen Wahrgenommenen verknüpft werden kann. Wenn der rationale Psychologe diese Aktivität des Urteilens selbst als „eine wahrgenommene Einheit“ bzw. als ein innerlich Wahrgenommenes betrachtet, das durch die gesamten Zeitphasen hindurch beharrt, die zu den diese Urteilsvorstellung fundierenden Wahrnehmungen gehören, dann verwechselt er die zweite Art der Einheit der Vorstellung mit der dritten Art der Einheit der Vorstellung, welche als die objektiv zeitliche Einheit zwischen den verdinglichten Wahrnehmungen durch die innere Erfahrung ausgedrückt wird. Die zweite Art der Einheit der Vorstellung ist die zeitliche Einheit in der Urteilsvorstellung als solcher.

3.2 Der erste Paralogismus der Substantialität

135

Die rationale Psychologie behauptet, dass das denkende Wesen die erste Anwendungsbedingung der Kategorie der Substanz erfüllen kann, weil es sich als ein innerliches, beharrliches Wahrgenommenes bekunden soll. Nach der vorstehenden Darstellung wirft Kant einerseits der rationalen Psychologie vor, die überzeitlich beständige Ich-Vorstellung fälschlicherweise als eine in der immanenten Zeit stehende und bleibende Anschauung zu verstehen. Andererseits kritisiert er, dass die rationale Psychologie die objektive zeitliche Einheit zwischen den Erscheinungen, welche durch die äußere Erfahrung ausgedrückt wird, bzw. die objektive zeitliche Einheit zwischen den verdinglichten Wahrnehmungen, welche durch die innere Erfahrung ausgedrückt wird, fälschlicherweise als die zeitliche Einheit des Denkens als der synthetisierenden Aktivität selbst betrachtet, obwohl diese Denk-Aktivität bzw. Handlung unmittelbar die objektive zeitliche Einheit zwischen den Erscheinungen und mittelbar die objektive zeitliche Einheit zwischen den verdinglichten Wahrnehmungen stiftet. Kant hält beide Vorwürfe an einigen Stellen für einerlei. Aber es ist kaum begreifbar, dass die Denk-Aktivität bzw. Handlung mit der Ich-Vorstellung identisch sein kann. Um behaupten zu können, dass hinsichtlich des denkenden Wesens auch die zweite Anwendungsbedingung der Kategorie der Substanz erfüllt ist, versteht die rationale Psychologie nach Kants Diagnose das denkende Wesen als das Substratum der Gedanken. Alle Gedanken, die als innere Phänomene durch den inneren Sinn angeschaut werden, seien die wandelbaren Bestimmungen bzw. Erscheinungen des Substratums und sollten deswegen dem Substratum inhärieren. Daher wirft Kant der rationalen Psychologie also vor, einen zweiten Fehler zu begehen: Erkenntnisansprüche auf das unerkennbare Substratum aller Gedanken, nämlich das Subjekt an sich selbst, zu erheben.67 Aber dieser Vorwurf ist alles andere als gerechtfertigt. Genauer gesagt ist er ziellos. Die Behauptung der rationalen Psychologie lautet nicht, dass das denkende Wesen das Substratum der Gedanken als Inhärenz ist, sondern dass das denkende Wesen das reale Subjekt der Gedanken als Inhärenz ist. Anders gesprochen: Das Substanz-Inhärenz-Verhältnis besteht der rationalen Psychologie zufolge nicht zwischen dem denkenden Wesen an sich als einem Substratum und den Gedanken als den innerlichen, wechselnden anschaulichen Phänomenen, sondern zwischen dem denkenden Wesen als dem innerlichen, beharrlichen anschaulichen Phänomen und den Gedanken als den innerlichen, wechselnden anschaulichen Phänomenen. Deshalb ist Kants Vorwurf, dass das Substratum als das denkende Wesen an sich unerkennbar ist, nicht 67 Vgl.: „[…], und wir, außer dieser logischen Bedeutung des ich, keine Kenntnis von dem Subjekt an sich selbst haben, was diesem, so wie allen Gedanken, als Substratum zum Grunde liegt.“ (A 350.)

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treffend. Stattdessen würde eine treffende Kritik folgendermaßen lauten: Das denkende Wesen ist, gleichgültig, ob es transzendental oder empirisch betrachtet wird, kein reales Subjekt der Gedanken als Inhärenz. D. h., in Hinsicht auf das denkende Wesen kann von einem realen Subjekt in Korrelation zu den Gedanken als dessen Prädikate bzw. Inhärenz keine Rede sein. Der Begriff „Substratum“ ist für die Begründung, dass etwas Substanz ist, nicht nötig und kann dafür auch keine Rolle spielen. Alles, was die rationale Psychologie braucht, um ihre Behauptung „Das denkende Wesen ist eine Substanz“ zu begründen, ist, dass „es eine stehende und bleibende Anschauung sei, worin die Gedanken (als wandelbar) wechselten.“68 Wenn der unnötige, auf das Substratum bezogene Teil in Kants Kritik des ersten Paralogismus in der A-Fassung nicht berücksichtigt wird, lässt sich Kants Diagnose so zusammenfassen: Erstens versteht die rationale Psychologie die Eigentümlichkeit des „Ich denke“ als des transzendentalen Subjekts falsch, d. h., sie verwechselt die Einheit des transzendentalen Subjekts, die entweder dessen eines Moment „Ichvorstellung“ oder dessen anderes Moment „Einheit-stiftende Aktivität“ angeht, mit der innerlich angeschauten Beharrlichkeit. Zweitens wird das Verhältnis zwischen dem „Ich denke“ und den Gedanken, welches ein Begleitungs- und Konstitutions-Verhältnis ist, von der rationalen Psychologie fälschlicherweise als Subjekt-Prädikat-Verhältnis, nämlich ein Inhärenz-Verhältnis zwischen dem realen Subjekt und seinen Prädikaten, verstanden. Das BegleitungsVerhältnis zwischen der Ichvorstellung und einer Urteilsvorstellung als Ganzes ist ein Verhältnis des Gegenüberstehens zweier Korrelate, welches sich deutlich vom Subjekt-Prädikat-Verhältnis als einem Inhärenz-Verhältnis unterscheidet. Dass A B gegenübersteht, impliziert, dass B A gegenübersteht. Im Vergleich dazu ist die Umkehrung im Subjekt-Prädikat-Verhältnis unmöglich. Um das KonstitutionsVerhältnis zwischen der Einheit-stiftenden Aktivität und einer Urteilsvorstellung zu verstehen, muss man die Urteilsvorstellung nicht als Ganzes betrachten, sondern sie bzw. deren gegenständlichen Inhalt, nämlich den „Sachverhalt“, zerlegen und nach der Möglichkeitsbedingung seiner formlichen Einheit fragen. Im Vergleich dazu spielt es im Subjekt-Prädikat-Verhältnis gar keine Rolle, was für eine innerliche formliche Bestimmung die durch das Prädikat ausgedrückte Inhärenz hat. Der erste Schluss der rationalen Psychologie in der B-Fassung lautet: „Was nicht anders als Subjekt gedacht werden kann, existiert auch nicht anders als Subjekt, und ist also Substanz.

68 A

350.

3.2 Der erste Paralogismus der Substantialität

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Nun kann ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als Subjekt gedacht werden. Also existiert es auch nur als ein solches, d.i. als Substanz.“69

Der Mittelbegriff dieses Schlusses lautet „was nicht anders als Subjekt gedacht werden kann“. Im Vergleich dazu ist der Mittelbegriff in der A-Fassung „was das absolute Subjekt unserer Urteile ist und daher nicht als Bestimmung (bzw. Prädikat) eines anderen Dinges gebraucht werden kann“. Kant streicht also den Zusatz des Mittelbegriffs „was nicht als Bestimmung bzw. Prädikat gebraucht werden kann“ weg und behält nur den Bestandteil „was nicht anders als Subjekt gedacht bzw. gebraucht werden kann“. Es wird sich bald zeigen, dass mit dieser Veränderung die Mehrdeutigkeit des Mittelbegriffs ersichtlicher wird. Mit dem, was nur als Subjekt gedacht werden kann, wird im Untersatz das denkende Wesen als das transzendentale Subjekt, nämlich als das „Ich denke“, betrachtet „relativ auf das Denken und die Einheit des Bewusstseins“,70 gemeint. Das transzendentale Subjekt ermöglicht den Gedanken als eine Urteilsvorstellung, insofern es als die aus der Ersten-Person-Perspektive vollzogene Aktivität des Verknüpfens die zweifache Einheit herstellt. Einerseits stiftet das transzendentale Subjekt unmittelbar die gegenständliche Einheit als die objektiv zeitliche Einheit zwischen den Erscheinungen, nämlich die Einheit im Sachverhalt. Andererseits wird die Einheit in der Urteilsvorstellung als solcher bzw. zwischen den die Urteilsvorstellung bildenden Zeitphasen mittelbar in demselben Prozess vom transzendentalen Subjekt geleistet. Im Untersatz wird hervorgehoben, dass das transzendentale Subjekt die Gegenständlichkeit des Sachverhalts ermöglicht. Deshalb wird das denkende Wesen als das transzendentale „Subjekt“ im Untersatz relativ zum „Objekt“ betrachtet. Dem widerspricht nicht, dass das denkende Wesen als das transzendentale Subjekt im Untersatz Kant zufolge relativ zum „Denken“ bzw. „Urteilen“ betrachtet wird, weil der Sachverhalt der gegenständliche Inhalt des Gedankens bzw. der Urteilsvorstellung ist. Im Vergleich dazu wird das, was nur als „Subjekt“ gedacht werden kann, im Obersatz relativ zum „Prädikat“ betrachtet. D. h., im Obersatz ist davon, was durch den Subjektbegriff eines Urteils repräsentiert wird bzw. von diesem Subjektbegriff selbst die Rede. Das Subjekt bzw. das, was durch es repräsentiert wird, wird also als ein zu verknüpfendes Glied relativ zu dem „Prädikat“ bzw. zu dem, was durch es repräsentiert wird, betrachtet. Das Prädikat bzw. das, was durch es repräsentiert wird, ist also das andere zu verknüpfende Glied. Gegen diese 69 B 70 B

410. 411.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Diagnose der Mehrdeutigkeit des Mittelbegriffs kann man in Hinblick auf die Formulierung des Schlusses in der A-Fassung einwenden, dass „[…] sie nicht erklären [kann], weshalb auch der Mittelbegriff im Untersatz den Zusatz ‚kann nicht zum Prädikat irgend eines anderen Dinges gebraucht werden‘ enthält“.71 D. h., wenn der Begriff „Subjekt“ im Untersatz das die Gegenständlichkeit ermöglichende transzendentale Subjekt bezeichnet, dann ist seine Kennzeichnung durch den Vergleich mit dem Begriff „Prädikat“ im Untersatz absurd. Stattdessen kann sein Gegen-Begriff nur „Objekt“ sein. Mit der Streichung dieses Zusatzes im Untersatz in der B-Fassung wird also dieser Einwand aufgehoben. Die in Rede stehende Schwäche dieser Interpretation über die Mehrdeutigkeit des Mittelbegriffs besteht jedoch in der Formulierung des Schlusses in der AFassung, wo der bezügliche Zusatz im Untersatz enthalten ist. Deshalb schlägt Rosefeldt vor: „Diese Stellen kann man besser interpretieren, wenn man annimmt, dass der Mittelbegriff sowohl im Ober- als auch im Untersatz etwas bezeichnet, das nur als Subjekt, nie aber als Prädikat eines Urteils repräsentiert werden kann, und die Mehrdeutigkeit anders versteht: Um die Substanzdefinition im Obersatz zu erfüllen, muss etwas auch als Gegenstand der Anschauung dementsprechend repräsentiert werden, was nur im Falle beharrlicher Gegenstände der Anschauung der Fall ist.72 Diese Bedingung erfüllt man selbst als denkendes Wesen nicht: Zwar repräsentiert man sich selbst notwendigerweise als absolutes Urteilssubjekt, weil der Begriff ‚Ich‘ nicht prädikativ ist, d. h. in einem Urteil nicht an Prädikatstelle verwendet werden kann, aber es ist mit diesem Begriff keine „stehende und bleibende Anschauung […], worin die Gedanken (als wandelbar) wechselten“ verbunden.“73

Aber diese Interpretation bringt eigene Probleme mit sich. Nach dieser Interpretation ist der Untersatz absurd, welchen Kant jedoch für richtig hält.74 Kant macht deutlich, dass im Untersatz vom transzendentalen Subjekt als dem „Ich denke“ die

71 Rosefeldt, Tobias, Paralogismen der reinen Vernunft, in: Kant-Lexikon, De Gruyter (2015), S. 1733–1737, S. 1735. 72 Vgl. A 144 / B 183. 73 Rosefeldt, Tobias, Paralogismen der reinen Vernunft, a. a. O., S. 1735. 74 A402: „Wenn man den Paralogism in den dialektischen Vernunftschlüssen der rationalen Seelenlehre, so fern sie gleichwohl richtige Prämissen haben, logisch betiteln will: so kann er für ein sophisma figurae dictionis gelten“.

3.2 Der erste Paralogismus der Substantialität

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Rede ist.75 Wie kann der Satz „Das Ich ist der Subjektbegriff aller meiner möglichen Urteile.“ richtig sein? Alle meine möglichen Urteile schließen sowohl die aus der inneren Erfahrung als auch die aus der äußeren Erfahrung stammenden Urteile ein. Es ist unmöglich, dass alle äußeren Phänomene die Bestimmungen und Akzidenzen des Ich als des transzendentalen Subjekts bzw. dass sie das Ich prädizieren können. Wenn es so wäre, dann würde ein Urteil von der „MaterieSubstanz“, welches aufgrund der äußeren Anschauung gefallen ist, zugleich über zwei Subjektbegriffe, nämlich das „Ich“ und die „Materie-Substanz“, verfügen. Das ist absurd. Im Vergleich dazu ist es sehr wohl verständlich, dass das Ich als das transzendentale Subjekt das bestimmende Subjekt aller meiner möglichen Urteile ist, welches als apriorischer Grund alle meine möglichen Urteile ermöglicht. Man könnte einwenden, dass daher nur von den inneren Phänomenen die Rede ist. Aber der Satz „Das Ich als das transzendentale Subjekt ist der Subjektbegriff aller meiner aufgrund der inneren Anschauung gefallenen Urteile.“ kann auch nicht richtig sein. Wenn man die inneren Phänomene, z. B. die Traurigkeit im Satz „Ich bin traurig.“ oder den Gedanken im Satz „Ich habe einen solchen Gedanken.“ als die Bestimmungen, Zustände bzw. Akzidenzen des Ich betrachtet, dann ist das Ich nicht das Ich als das transzendentale Subjekt, nämlich als das „Ich denke“, sondern das empirische Selbst bzw. Ich oder dessen „Substratum“. Mit anderen Worten, dasjenige Ich, welches die inneren Phänomene prädizieren können, ist nur das empirische Ich als das Objekt der inneren Erfahrung. Dem widerspricht, dass es sich im Untersatz um das „Ich denke“ als das transzendentale Subjekt handelt. Außerdem kann das empirische Selbst tatsächlich kein Subjektbegriff aller meiner aus der inneren Erfahrung gefällten Urteile sein. Das empirische Selbst ist Kant zufolge nichts anderes als der Strom der inneren Phänomene. Der Satz „Ich bin traurig.“ besagt also: Es besteht im Strom der inneren Phänomene ein Stück bzw. Ausschnitt als die Traurigkeit. Ebenso bedeutet der Satz „Ich habe einen solchen Gedanken.“ nichts anderes, als dass der Gedanke als ein inneres Phänomen einen Ausschnitt des Stroms der inneren Phänomene bildet. Diese Beziehung von Teil und Ganzem bzw. vom Strom und dessen Ausschnitt ist alles andere als die von Subjektbegriff und Prädikat. Deshalb kann das empirische Selbst kein echter Subjektbegriff irgendeines Urteils sein. 75 A 343/B 401: „Ich denke, ist also der alleinige Text der rationalen Psychologie, aus welchem sie ihre ganze Weisheit auswirken soll.“ A 340/B 398: „In dem Vernunftschlusse der ersten Klasse schließe ich von dem transzendentalen Begriffe des Subjekts, der nichts Mannigfaltiges enthält, auf die absolute Einheit dieses Subjekts selber“.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Das Substratum als das transzendentale Objekt soll allen inneren Phänomenen zugrunde liegen, die als seine Bestimmungen und Akzidenzen betrachtet werden könnten. Betrachtet man das Substratum als das transzendentale Objekt allein, d. h. in Abstraktion von allen Bestimmungen und Akzidenzen, dann ist es das bloße Etwas = X. Man mag sagen, dass das Etwas = X der absolute Subjektbegriff in allen Urteilen ist, die aufgrund der inneren Erfahrung gefällt werden, von denen jedes die Form „Das Etwas ist p“ hat. Das „p“ steht für ein inneres Phänomen. Dem widerspricht, dass es sich im Untersatz um das „Ich denke“ als das transzendentale Subjekt handelt. Wir haben das transzendentale Subjekt im einen Sinn, nämlich als das „Ich denke“, streng vom transzendentalen Subjekt im anderen Sinn, nämlich dem Substratum, unterschieden. Außerdem ist das in Rede stehende Substratum phänomenologisch auch nicht nachvollziehbar. In gewissem Sinn kann man das Ich im Satz „Ich bin traurig.“ oder „Ich habe einen solchen Gedanken.“ als die Ich-Vorstellung, nämlich ein Moment im „Ich denke“ als dem transzendentalen Subjekt verstehen. Dann besagt dieser Satz dasselbe wie der Satz: Die Traurigkeit bzw. der Gedanke ist aus der Ersten-Person-Perspektive gegenwärtig. Es ist ersichtlich, dass das reine Ich in keiner Hinsicht als echter Subjektbegriff gedacht werden kann76 . Einerseits enthält das reine Ich als die vollständig inhaltslose Vorstellung nichts, was durch ein echtes Prädikat ausgedrückt bzw. prädiziert werden kann. Andererseits begleitet es nur als ein Korrelat jedes innere Phänomen. Diese Beziehung der Begleitung bzw. des Als-Korrelat-Gegenüberstehens ist nicht die Beziehung von Subjektbegriff und Prädikat. Wir haben ausgeführt, dass die Möglichkeit der Umkehrung der Richtung der Beziehung zwischen den Gliedern die erstere von der letzteren unterscheidet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Ich als das transzendentale Subjekt, wie das Ich als das empirische Selbst, weder an der Prädikatstelle noch an der Subjektstelle in einem Urteil verwendet werden kann. (Dem widerspricht nicht, dass wir vieles über das Ich sagen bzw. dass das „Ich“ in der alltäglichen Sprache sowohl an der Subjektstelle als auch an der Prädikatstelle verwendet werden kann, weil die grammatische Form der Sprache mit ihrer logischen Form nicht vollständig übereinstimmt.) Deshalb kann der Begriff „Subjekt“ im Untersatz im 76 Bernhard Thöle nimmt an, die Mehrdeutigkeit des Mittelbegriffs bestehe darin, dass „im Obersatz verlangt wird, dass etwas nur dann als Substanz gelten kann, wenn es in jeder Hinsicht als Subjekt gedacht werden muss, während im Untersatz von dem denkenden Wesen lediglich behauptet wird, dass es in einer bestimmten Hinsicht – nämlich ‚nur relativ auf das Denken‘ – als Subjekt gedacht werden muss.“ (Thöle, Bernhard, Kants Diagnose der Illusionen der rationalen Psychologie, in: Chotas/ Karasek/Stolzenberg (Hrsg.), Metaphysik und Kritik, a. a. O., S. 107 f.)

3.3 Der zweite Paralogismus der Simplizität

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ersten Schluss der rationalen Psychologie nicht als „Subjektbegriff“ relativ zum „Prädikatsbegriff“ verstanden werden. Will man die vorstehenden Betrachtungen über Kants Kritik am ersten Paralogismus der Substantialität in einige Sätze zusammenfassen, so sind es diese: Der rationale Psychologe begeht im Schluss der Substantialität eine Verwechslung von zwei Arten der Einheit. Auf die Frage, was die Verwechslung ist, bietet Kant jedoch zwei Antworten an, welche er fälschlicherweise für einerlei hält. Einerseits wirft er dem rationalen Psychologen vor, die numerische Identität bzw. Einheit der Ichvorstellung, nämlich die vierte Art der von uns untersuchten Einheit der Vorstellung mit einer beharrlichen Einheit einer anschaulichen Vorstellung als eines inneren Phänomens zu verwechseln. Andererseits erhebt er den Vorwurf, dass der rationale Psychologe die Einheit des Denkens als der synthetisierenden Aktivität als solchen, nämlich die zweite Art Einheit der Vorstellung, als eine beharrliche Einheit einer anschaulichen Vorstellung als eines inneren Phänomens verkennt. Daraus, dass das Denken (mittelbar) die objektive zeitliche Einheit zwischen den verdinglichten Vorstellungen, nämlich zwischen den psychischen Ereignissen stiftet, schließt der rationale Psychologe fälschlicherweise darauf, dass das Denken als eine Aktivität sich über die ganze Zeitspanne erstrecken muss.

3.3

Der zweite Paralogismus der Simplizität

Der zweite Paralogismus lautet in der A-Auflage: „Dasjenige Ding, dessen Handlung niemals als die Konkurrenz vieler handelnden Dinge angesehen werden kann, ist einfach. Nun ist die Seele, oder das denkende Ich, ein solches: Also etc.“77

Kants Kritik dieses Schlusses besteht aus drei Teilen. Die in Rede stehende Handlung bzw. deren Wirkung, welche der Seele als dem denkenden Wesen zugeschrieben wird, ist der Gedanke. Im ersten Teil formuliert Kant zuerst den Untersatz in einen positiven Satz um: „Ein Gedanke kann nur die Wirkung der absoluten Einheit des denkenden Wesens sein.“78 bzw. „Viele Vorstellungen [müssen] in der absoluten Einheit des denkenden Subjekts enthalten sein, um einen 77 A 78 A

351. 353.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Gedanken auszumachen.“79 Dann versucht er zu zeigen, dass dieser Satz weder analytisch noch empirisch noch a priori synthetisch ist. In Hinblick auf den zweiten Punkt kann man Kant Recht geben, dass dieser Satz sich wegen seiner Notwendigkeit, welche durch das Wort „können (nur)“ bzw. „müssen“ ausgedrückt wird, nicht aus der Erfahrung ableiten lässt. Was den dritten Punkt anbelangt, begründet Kant gar nicht, dass dieser Satz als synthetisches Urteil a priori nicht bewiesen werden kann, und begnügt sich mit der Wiederholung der Behauptung.80 Es besteht bezüglich des ersten Punkts ein großes Problem, weil dieser Satz dem „Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption“ sehr ähnlich sieht, welcher lautet, „dass alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption stehe,“81 damit die Gegenstandserkenntnis möglich ist. Kant zufolge stehen die anschaulichen Vorstellungen unter diesem Grundsatz, welchen er für analytisch hält,82 „sofern sie in einem Bewusstsein müssen verbunden werden können“83 . Wir haben im ersten Kapitel ausgeführt, dass die beiden Sätze „Die mannigfaltigen Vorstellungen stehen miteinander in der synthetischen Einheit.“ und „Wir haben die Gegenstandserkenntnis im strengen Sinn.“ einander wechselseitig fordern. Sie beschreiben dieselbe Sachlage aus verschiedenen Perspektiven. Da der Gedanke im strengen Sinn Urteil, d. h. Erkenntnis von einem Sachverhalt ist, ist im obigen Untersatz mit dem Gedanken die Gegenstandserkenntnis gemeint. Es ist klar, dass der Untersatz und der Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption die gleiche These ausdrücken, dass die Möglichkeit des Gedankens als der einheitlich verknüpften Vorstellungen das transzendentale Subjekt als die transzendentale Apperzeption voraussetzt.84 Wie diese These konkret zu verstehen ist, haben wir mehrmals ausgeführt. Die transzendentale Apperzeption wird vor allem als Gegenstandsbewusstsein verstanden. Deshalb bedeutet die Einheit der transzendentalen Apperzeption vor allem, dass die synthetisierende Aktivität die gegenständliche Einheit stiften kann. Aber dieselbe Aktivität hat auf der subjektiven Seite indirekt auch ihre Wirkung, 79 A

352. 353. 81 B 136. 82 B 138: „Dieser letzte Satz ist, wie gesagt, selbst analytisch, ob er zwar die synthetische Einheit zur Bedingung alles Denkens macht“. B 135: „Dieser Grundsatz, der notwendigen Einheit der Apperzeption, ist nun zwar selbst identisch, mithin ein analytischer Satz“. 83 B 137. 84 A 108, B 134. 80 A

3.3 Der zweite Paralogismus der Simplizität

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wie wir im zweiten Kapitel ausgeführt haben. In Übereinstimmung damit ist der Ausdruck „die Verknüpfung der Vorstellungen“ zweideutig. Sie bedeutet noematisch die zeitliche Verknüpfung der Erscheinungen als des Vorgestellten, nämlich als der gegenständlichen Inhalte der Vorstellungen. Noetisch kann sie entweder die Zusammensetzung der Bedeutungen der Vorstellungen oder die zeitliche Verknüpfung der Vorstellungen als der psychischen Ereignisse bedeuten. Die transzendentale Apperzeption als die synthetisierende Aktivität kann unmittelbar die gegenständliche Einheit zwischen den Erscheinungen als dem Vorgestellten, nämlich die Einheit im Sachverhalt als dem verknüpften Vorgestellten stiften, welche ein objektive zeitliche Einheit ist und durch die äußere Erfahrung ausgedrückt wird. Die entsprechende Vorstellung als das subjektive Korrelat zum Sachverhalt ist der Gedanke als Urteil, welches in demselben Prozess gestaltet wird. Die Konstitution der Urteilsvorstellung bzw. dass aus den Wahrnehmungen die Urteilsvorstellung wird, bedeutet nicht, dass die Zeitdauer bzw. Zeitstrecke der Urteilsvorstellung die Zusammensetzung der Zeitstrecken dieser Wahrnehmungen ist, sondern dass die Bedeutung der Urteilsvorstellung die Zusammensetzung der Bedeutungen dieser Wahrnehmungen ist. Deshalb muss man die objektive zeitliche Einheit zwischen den verdinglichten Wahrnehmungen als den psychischen Ereignissen, welche nur durch die Korrelation der Wahrnehmungen zur Reihe der Erscheinungen entsteht und durch die innere Erfahrung ausgedrückt wird, von der Einheit zwischen den Zeitphasen in der Urteilsvorstellung als solcher unterscheiden. Die drei Arten der Einheit, nämlich die objektive zeitliche Einheit zwischen den Erscheinungen, die Einheit zwischen den Zeitphasen in der Urteilsvorstellung als solcher und die objektive zeitliche Einheit zwischen den verdinglichten Wahrnehmungen als den psychischen Ereignissen, sind nicht einerlei, obwohl sie zugleich, d. h. in demselben Prozess konstituiert werden und voneinander untrennbar sind. Man kann also das denkende Wesen im Untersatz „Ein Gedanke kann nur die Wirkung der absoluten Einheit des denkenden Wesens sein.“ als das transzendentale Subjekt, nämlich als das „Ich denke“ verstehen und ferner den ganzen Satz als analytisches Urteil bezeichnen. Der Grund dafür ist ausreichend: Das handelnde und bewirkende Subjekt kann nur das bestimmende Subjekt, nämlich das transzendentale Subjekt sein. Außerdem kann der Untersatz auch nur das transzendentale Subjekt angehen, wenn „der ganze Grund, auf welchen die rationale Psychologie die Erweiterung ihrer Erkenntnisse wagt,“ bzw. das, woraus die rationale Psychologie zu schließen versucht, nur das „Ich denke“ als das transzendentale Subjekt ist.85 85 A

354.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Es lässt sich feststellen, dass Kant im ersten Teil seiner Kritik am zweiten Paralogismus in der A-Auflage fälschlicherweise den Untersatz als das Objekt seiner Kritik setzt. Seine Kritik besteht also im ersten Teil darin, die Unbeweisbarkeit des Untersatzes zu zeigen. In der Tat sollte jedoch der Untersatz seiner Definition des Paralogismus bzw. seiner allgemeinen Diagnose des Paralogismus86 zufolge für richtig und seiner Lehre in der transzendentalen Deduktion zufolge für analytisch gehalten werden. Diesen Fehler korrigiert Kant in seiner Kritik am zweiten Paralogismus in der B-Auflage. Das ist die erste Verbesserung in Kants Umschreibung seiner Kritik am zweiten Paralogismus in der B-Auflage. Er macht deutlich: Die absolute Einheit des denkenden Wesens als des transzendentalen Subjekts wird vom Gedanken als dessen Möglichkeitsbedingung vorausgesetzt und ist in gewissem Sinn als ein formales konstitutives Moment in jedem Gedanken analytisch enthalten. Kant schreibt: „Dass das Ich der Apperzeption, folglich in jedem Denken, ein Singular sei, der nicht in eine Vielheit der Subjekte aufgelöst werden kann, mithin ein logisch einfaches Subjekt bezeichne, liegt schon im Begriffe des Denkens, ist folglich ein analytischer Satz“87 .

Zur Begründung, dass der Untersatz nicht analytisch sei, schreibt Kant in der A-Auflage: „Der Satz: Ein Gedanke kann nur die Wirkung der absoluten Einheit des denkenden Wesens sein, kann nicht als analytisch behandelt werden. Denn die Einheit des Gedanken, der aus vielen Vorstellungen besteht, ist kollektiv und kann sich, den bloßen Begriffen nach, eben sowohl auf die kollektive Einheit der daran mitwirkenden Substanzen beziehen, (wie die Bewegung eines Körper die zusammengesetzte Bewegung aller Teile desselben ist) als auf die absolute Einheit des Subjekts.“88

In diesem Argument gegen die analytische Beweisbarkeit dieses Satzes behauptet Kant, dass es möglich ist, dass die mannigfaltigen Vorstellungen, aus denen der Gedanke werden könne, auf viele empirische Subjekte verteilt werden. Es ist ersichtlich, dass Kant daher mit dem denkenden Wesen nicht das transzendentale Subjekt, sondern das empirische Selbst meint. Dem widerspricht, dass im Untersatz nur von dem „Ich denke“ als dem transzendentalen Subjekt die Rede ist. Außerdem besteht im obigen Zitat eine Disanalogie. Es ist plausibel, dass 86 A 402: „Wenn man den Paralogism in den dialektischen Vernunftschlüssen der rationalen Seelenlehre, so fern sie gleichwohl richtige Prämissen haben, logisch betiteln will: so kann er für ein sophisma figurae dictionis gelten“. 87 B 407. 88 A 353.

3.3 Der zweite Paralogismus der Simplizität

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der Gedanke bzw. die Verknüpfung zwischen den Vorstellungen die Wirkung des denkenden Wesens ist. Aber man darf keineswegs diese Wirkung-Verhältnis in Analogie zum Verhältnis zwischen Substanz und Akzidenz verstehen, gleichgültig, ob man unter dem denkenden Wesen das transzendentale Subjekt oder das empirische Selbst versteht. Kant versucht also im ersten Teil seiner Kritik am zweiten Paralogismus in der A-Auflage die Unbeweisbarkeit des Untersatzes anstatt der Mehrdeutigkeit des Mittelbegriffs zu zeigen. Angesichts des Verfehlens des Kritikobjekts ist es verständlich, dass Kant diesen Teil in der Umarbeitung seiner Kritik am zweiten Paralogismus in der B-Auflage vollständig streicht. Man kann in ihr keinen diesem ersten Teil entsprechenden Inhalt finden. Diese Streichung und die Bestätigung, dass der Untersatz analytisch ist, bilden die erste Verbesserung in der Umschreibung. Nachdem dargestellt worden ist, dass Kants erster Einwand gegen den zweiten Paralogismus nicht überzeugend ist, kommen wir zum zweiten Teil von Kants Kritik am zweiten Paralogismus in der A-Auflage, welcher auch ihr Hauptteil ist. Zuerst wiederholt Kant seine im Abschnitt „Von den Paralogismen der reinen Vernunft“ gestellte berühmte These, dass die rationale Psychologie nur auf der Grundlage des „Ich denke“ die Erweiterung ihrer Erkenntnisse wagt. Danach stellt Kant die gleiche Diagnose wie in seiner Kritik des ersten Paralogismus: Im zweiten Paralogismus verstehe die rationale Psychologie fälschlicherweise die Einheit des denkenden Wesens als des transzendentalen Subjekts und schreibe ferner die falsch verstandene Einheit dem denkenden Wesen als dem Objekt zu. Anders ausgedrückt: Die rationale Psychologie verwechselt die absolute logische Einheit des denkenden Wesens als des transzendentalen Subjekts, welche von der Möglichkeit des Gedankens vorausgesetzt werden muss, mit der Einfachheit bzw. der NichtZusammengesetztheit des denkenden Wesens als des Objekts. Kant stellt also wie im Fall des ersten Paralogismus fest, dass im Untersatz des zweiten Schlusses nur vom transzendentalen Subjekt die Rede sein kann, wenn der Untersatz für richtig gehalten werden darf. Auf den ersten Blick scheint diese Diagnose plausibel zu sein. Sie legt fest, dass der Untersatz nur das transzendentale Subjekt angeht und man den so verstandenen Untersatz für richtig und analytisch halten darf: Die Einfachheit meines Selbst „liegt schon in jedem Gedanken selbst.“89 Damit korrigiert sie den Fehler des ersten Teils von Kants Kritik: Der Untersatz sei nicht analytisch. Kant weist auch darauf hin, dass diese durch das transzendentale Subjekt ausgedrückte logische Einheit nicht mit der Unteilbarkeit bzw. der Einfachheit des denkenden 89 A

354.

146

3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Wesens als des Gegenstands verwechselt werden darf. Damit findet Kant im zweiten Teil das richtige Objekt seiner Kritik: nicht der Untersatz selbst, sondern diese Verwechslung. Aber Kants konkrete Ausführung ist sehr problematisch. Zuerst versteht er die sogenannte absolute logische Einheit des transzendentalen Subjekts als dessen inhaltliche Leere: „Ich bin einfach, bedeutet aber nichts mehr, als dass diese Vorstellung: Ich, nicht die mindeste Mannigfaltigkeit in sich fasse, und dass sie absolute (obzwar bloß logische) Einheit sei.“90 Es ist jedoch unverständlich, dass diese so gekennzeichnete Einheit des transzendentalen Subjekts, nämlich die inhaltliche Leere der Ichvorstellung von der Möglichkeit des Gedankens bzw. von der synthetischen Einheit zwischen den Erscheinungen vorausgesetzt werden muss, bzw. dass nach dieser Erklärung der für richtig gehaltene Untersatz irgendeinen Sinn haben kann. Darin finden wir wiederholt, dass Kant die beiden Momente im „Ich denke“, nämlich die Ich-Vorstellung und die transzendentale Apperzeption als das Denken, miteinander vermengt. Wir haben im zweiten Kapitel festgestellt, dass nicht das erstere, sondern nur das letztere Moment erkenntnistheoretisch relevant, d. h. notwendig mit der Gegenstandserkenntnis verbunden ist. Dann kritisiert Kant die von der rationalen Psychologie begangene Verwechslung, nämlich mir selbst als einem Gegenstand diese dem transzendentalen Subjekt zugehörige Bestimmung zuzuschreiben. In Hinsicht auf die Aufdeckung dieser Verwechslung darf Kant sich mit dem Hinweis darauf begnügen, dass das „Ich denke“ als das transzendentale Subjekt mit dem denkenden Wesen als Gegenstand nicht gleichgesetzt werden darf. Aber Kants Begründung bietet vieles mehr: „Die Einfachheit aber der Vorstellung von einem Subjekt ist darum nicht eine Erkenntnis des Subjekts selbst“91 . Man darf also die Bestimmung einer Vorstellung selbst ihrem Gegenstand als dem Vorgestellten nicht zurechnen. Daraus ist zu entnehmen, dass das Ich bzw. das transzendentale Subjekt und das denkende Wesen als Gegenstand nicht nur nicht einerlei sind, sondern sich im Verhältnis von Vorstellung und Vorgestelltem bzw. deren Gegenstand befinden sollen. Es ist aber klar, dass diese Behauptung nicht richtig sein kann, weil sie fast allen Erörterungen Kants in der transzendentalen Deduktion widerspricht. Die Vorstellung

90 A 91 A

355. 355.

3.3 Der zweite Paralogismus der Simplizität

147

„Ich“ hat keinen Referenzgegenstand,92 geschweige denn, dass er das empirische Selbst oder das Selbst an sich als Substratum sein könnte. Das dritte Problem des zweiten Teils von Kants Kritik am zweiten Paralogismus besteht darin, dass Kants Diagnose mit seiner allgemeinen Definition des Paralogismus nicht übereinstimmt. Deswegen ist Kant nicht berechtigt, den zweiten Schluss der rationalen Psychologie als Paralogismus zu bezeichnen. Wenn man das allgemeine Diagnose-Modell – dass wegen der Mehrdeutigkeit des Mittelbegriffs der ganze Schluss, dessen beide Prämissen richtig sind, ungültig und sein Schlusssatz falsch sei – wie im Fall des ersten Paralogismus auch auf den zweiten Paralogismus anzuwenden versucht, wird man mit unlösbaren Problemen konfrontiert. Was den mehrdeutigen Mittelbegriff anbelangt, scheint Kant der Auffassung zu sein, dass der Begriff „Einfachheit“ sowohl in Hinsicht auf das transzendentale Subjekt als „eine absolute, aber logische Einheit des Subjekts (Einfachheit)“ als auch in Hinsicht auf das denkende Wesen als Objekt als „die wirkliche Einfachheit meines Subjekts“93 verstanden werden kann. Der Begriff „Einfachheit“ muss im Untersatz als logische Einheit verstanden werden, damit der Untersatz für richtig gehalten werden kann. Die Möglichkeit, dass der Untersatz unter den Obersatz subsumiert werden kann, verlangt jedoch „wirkliche Einfachheit“ als Mittelbegriff. Kants Diagnose zufolge ist eben diese Verwechslung der Fehler im zweiten Paralogismus. Es ergeben sich daraus drei Schwierigkeiten. 1. Was Kant mit der Einfachheit als der absoluten logischen Einheit meint, ist alles andere als eindeutig. Wenn Kant damit meint, dass das von der Möglichkeit des Gedankens vorausgesetzte Ich nicht als eine Vielheit, sondern nur als eine Einheit vorgestellt werden kann, bzw. dass diejenige Aktivität, welche die synthetische Einheit zwischen den Vorstellungen bzw. zwischen den Erscheinungen als den gegenständlichen Inhalten der Vorstellungen stiften kann, über die numerische Identität verfügen muss, ist es unverständlich, warum es sich im zweiten Paralogismus anstatt um den quantitativen Sinn von Einheit um den qualitativen Sinn von Einheit handeln solle. (Der Kategorientafel folgend erläutert Kant, dass der erste Paralogismus vom relationalen Sinn der Einheit, der zweite von ihrem qualitativen Sinn und der dritte von ihrem quantitativen Sinn handelt.) Wenn Kant das „Ich“ in qualitativer Hinsicht zu bestimmen versucht, d. h., wenn er seine inhaltliche Leere hervorhebt, dann muss man fragen, warum ein solches Ich die 92 Vgl.: „Allein dieses Ich ist so wenig Anschauung, als Begriff von irgendeinem Gegenstande, sondern die bloße Form des Bewusstseins, welches beiderlei Vorstellungen begleiten, und sie dadurch zu Erkenntnissen erheben kann“. (A 382) 93 A 356.

148

3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

synthetische Einheit im Gedanken bzw. zwischen den Vorstellungen stiften kann, wie wir ausgeführt haben. „Die Einheit des Bewusstseins, welche den Kategorien zum Grunde liegt,“94 kann nicht eine inhaltliche Leere bedeuten. Es ist nicht ersichtlich, dass diese Schwierigkeit sich auf irgendeine Weise lösen lässt. Keine der beiden Erklärungen der Einfachheit als der absoluten logischen Einheit des Ich ist problemfrei. Aber Kant hält es für wichtiger und zwar mit Recht, dass das von der Möglichkeit des Gedankens vorausgesetzte Ich nicht als eine Vielheit, sondern nur als eine Einheit vorgestellt werden kann. Deshalb ist Kant in seiner Kritik am zweiten Paralogismus in der B-Auflage gezwungen, diese Alternative zu wählen und ihren Widerspruch, dass es im zweiten Paralogismus nicht um die qualitative, sondern um die quantitative Einheit geht, in Kauf zu nehmen. Es ist also in seiner Kritik am zweiten Paralogismus in der B-Auflage von dem qualitativen Sinn der Einheit des Ich, nämlich dessen Leere bzw. dessen Bestimmung, nicht das mindeste Mannigfaltige in sich zu enthalten, keine Rede mehr. Kant schreibt: „Dass das Ich der Apperzeption, folglich in jedem Denken, ein Singular sei, der nicht in eine Vielheit der Subjekte aufgelöst werden kann, mithin ein logisch einfaches Subjekt bezeichne, liegt schon im Begriffe des Denkens“95 . Er versteht also die Einheit als „Singular“, nämlich als den Gegensatz zu „Vielheit“. Das ist die zweite Verbesserung in Kants Überarbeitung seiner Kritik am zweiten Paralogismus in der B-Auflage. 2. Was der qualitative Aspekt der wirklichen Einfachheit bedeutet, ist auch nicht eindeutig. Kant räumt ein, dass der Begriff „in keiner Erfahrung angetroffen werden kann“.96 Dies schließt aus, dass der Begriff „Einfachheit“ als eine qualitative Bestimmung irgendeine wirkliche Bedeutung haben kann. Kant ist am Ende gezwungen zu gestehen: „Wie das Einfache hier wiederum der Kategorie der Realität entspreche, kann ich jetzt noch nicht zeigen“97 . In der Tat versteht Kant die wirkliche Einfachheit in seiner Kritik am zweiten Paralogismus ausschließlich als eine quantitative Bestimmung, d. h. nur in Gegensatz zur Vielheit. Es lässt sich feststellen, dass es sich im zweiten Paralogismus wie im dritten Paralogismus um die quantitative Bestimmung des denkenden Wesens, konkreter gesagt, um die der Vielheit gegenüberstehende Einheit des denkenden Wesens handelt. Wir werden in der folgenden Diskussion über Kants Kritik am dritten Paralogismus der Personalität sehen, dass Kant zwei Versionen des Paralogismus der Personalität kritisiert. Der Fortgang unserer Überlegung wird weiter zeigen, dass Kants 94 B

421. 407. 96 A 361. 97 A 405. 95 B

3.3 Der zweite Paralogismus der Simplizität

149

Hauptargument in seiner Kritik am zweiten Paralogismus mit dem in der Kritik am dritten Paralogismus, welcher als die zweite Version verstanden wird, übereinstimmt. Damit werden wir die These beweisen, dass der zweite Paralogismus und der dritte Paralogismus in seiner zweiten Form miteinander einerlei sind. Kant ist der Ansicht, dass die von der Möglichkeit des Gedankens als des Urteils vorausgesetzte logische Einheit des transzendentalen Subjekts die Einheit des empirischen Selbst als des Objekts deswegen nicht garantiert, bzw. die Möglichkeit der Vielheit der empirischen Subjekte deswegen nicht ausschließt, weil diejenigen Vorstellungen, aus denen, oder besser, aufgrund derer der Gedanke als Urteil werden kann, unter verschiedenen empirischen Subjekten verteilt werden könnten. Mit anderen Worten, die logische Einheit des transzendentalen Subjekts schließt die Zusammengesetztheit des empirischen Selbst nicht aus. Man sollte sich daran erinnern, dass ein empirisches Selbst Kant zufolge nichts anderes als eine Komplexion bzw. ein Strom von Vorstellungen ist. Die Einheit des empirischen Selbst ist mit der numerischen Identität der Ichvorstellung, nämlich der vierten Art der Einheit der Vorstellung gleichzusetzen. Dass alle Vorstellungen originär zu demselben Strom gehören, bedeutet, dass jede von ihnen originär von derselben Ichvorstellung begleitet wird bzw. demselben Ich zugeschrieben wird. Dem ersten Schritt in der B-Deduktion zufolge ist es nötig, dass die Vorstellungen miteinander in der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption stehen, damit dieselbe Selbstzuschreibung dieser Vorstellungen möglich ist, bzw. damit die Identifikation der Ichvorstellung möglich ist. Wir haben im ersten und zweiten Kapitel ausgeführt, dass Kant die folgenden Sätze für gleichwertig hält bzw. als verschiedene Beschreibungen derselben Sachlage betrachtet: 1. Die Vorstellungen stehen miteinander in der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption. 2. Das Denken als die synthetisierende Aktivität bringt die gegenständlichen Inhalte der Vorstellungen, nämlich die Erscheinungen, in die objektive zeitliche Einheit. 3. Die Erscheinungen werden als etwas Wirkliches bzw. als dessen Momente angesehen. 4. Die Vorstellungen beziehen sich auf einen Sachverhalt als den wirklichen Gegenstand. 5. Aus den Vorstellungen wird der Gedanke als Urteil, d. h. als Gegenstandserkenntnis. Der erste Schritt in Kants Argument in der B-Deduktion besagt, dass die Möglichkeit derselben Selbstzuschreibung der Vorstellungen die logische Einheit des transzendentalen Subjekts, nämlich die transzendentale Apperzeption voraussetzt. Die logische Einheit des transzendentalen Subjekts ist keine hinreichende, sondern nur notwendige Bedingung für dieselbe Selbstzuschreibung der Vorstellungen, nämlich für die Einheit des empirischen Selbst als des Flusses von Vorstellungen. Der gegenständliche Inhalt einer Vorstellung, die originär Anderem

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3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

gehört, kann jedoch mit den gegenständlichen Inhalten meiner anderen Vorstellungen übereinstimmen. Dies ist möglich, weil dieselbe Erscheinung sowohl von mir zu verschiedenen Zeiten als auch von einem Anderen vorgestellt werden kann. Anders gesprochen: Die verschiedenen Vorstellungen, gleichgültig, ob sie originär demselben Subjekt oder den verschiedenen Subjekten zugeschrieben werden sollen, können denselben gegenständlichen Inhalt haben. Eine Vorstellung als solche kann nie mit einer anderen Vorstellung als solcher identisch sein. Aber sie können dasselbe gegenständliche Korrelat haben. Deshalb ist das korrelationale Verhältnis zwischen Vorstellung und Erscheinung ein Vieles-zu-Einem-Verhältnis.98 Es ist vorstellbar, dass die verschiedenen Vorstellungen, aus denen ein Gedanke als Urteil werden kann, d. h., deren gegenständlichen Inhalte in die objektive zeitliche Einheit gebracht werden können, originär Bestandstücke in den verschiedenen empirischen Subjekten sind. Ein Gedanke könnte dadurch gebildet werden, dass die verschiedenen empirischen Subjekte zusammengesetzt würden, oder dass einige Vorstellungen, die originär dem einen empirischen Selbst gehört haben, auf ein anderes empirisches Selbst übertragen und dann zusammen mit den originär dem letzteren zugehörigen Vorstellungen in die synthetische Einheit gebracht würden, wie Kants Gedankenexperiment des Zustände-Übertragens99 in seiner Kritik am dritten Paralogismus zeigt. Auf diesen Fall von „Einfühlung“ werden wir im nächsten Paragraphen noch zurückkommen. In seiner Kritik am dritten Paralogismus der rationalen Psychologie unterscheidet Kant zwei Begriffe von Personalität: (1). Die Person ist das, was sich seines beharrlichen und identischen Zustandes in verschiedenen Zeiten bewusst ist. (2). Die Person ist, wer als derselbe die verschiedenen ihm zu verschiedenen Zeiten bewussten Zustände erlebt. Es wird sich zeigen, dass der dritte Paralogismus der Personalität, verstanden im zweiten Sinn, einerlei mit dem zweiten Paralogismus der Einfachheit ist. Wir möchten zunächst andeuten: Damit ist gemeint, dass die Frage, ob das empirische Selbst zusammengesetzt ist, mit der Frage, ob das empirische Selbst über Personalität im zweiten Sinn verfügt, identisch ist. Dass das empirische Selbst über die personale Einheit verfügt, ist damit gleichzusetzen, dass die es bildenden Vorstellungen originär demselben Ich zugeschrieben werden können, wie wir gerade ausgeführt haben. Kant versteht unter einem empirischen Selbst nichts anderes als eine Komplexion bzw. einen Strom von Vorstellungen. Dass ein empirisches Selbst aus mehreren Vorstellungsströmen zusammengesetzt 98 Vgl.: „Further, the relationship between noesis and noema is not a simple one-to-one relationship. It is at one level one-one, at another many-one. Though each act has its noema, to each noema there corresponds a multiplicity of acts“. Mohanty, Jitendranath, The Concept of Intentionality, a. a. O., S. 103 f. 99 A 364.

3.3 Der zweite Paralogismus der Simplizität

151

wird, bedeutet, dass das empirische Selbst aus mehreren empirischen Selbstheiten besteht. Das letztere besagt weiter, dass das empirische Selbst in mehrere „Personen“ gespalten ist bzw. dass es keinen Anspruch auf „Personalität“ hat. Da der Paralogismus der Einfachheit mit der zweiten Version des Paralogismus der Personalität einerlei ist, werden wir sie im nächsten Paragraphen zusammen betrachten. Wir werden also die Überlegung, ob das Hauptargument in Kants Kritik am zweiten Paralogismus gerechtfertigt ist, in das nächste Kapitel verschieben. 3. Es ist auch klar, dass der Begriff „Einfachheit“ weder der Mittelbegriff im zweiten Schluss noch ein Teil des Mittelbegriffs ist. Außer dem Begriff „Einfachheit“ kann man in Kants Diskussion auch keine Alternative für einen möglichen mehrdeutigen Begriff finden. Im dritten Teil seiner Kritik am zweiten Paralogismus versucht Kant zu zeigen, dass man keinen Gebrauch vom Satz „Die Seele ist einfach.“ machen kann, selbst wenn man seine Gültigkeit einräumen würde. Derjenige Gebrauch, den Kant ablehnt, besteht darin, dass die rationale Psychologie die Seele durch deren einfache Natur von der zusammengesetzten Materie unterscheidet. Kants Begründung für diese Ablehnung lautet: Die Materie als der Gegenstand des äußeren Sinns ist nichts anderes als Erscheinung; dass die Seele und die Materie verschieden sind, schließt nicht aus, dass die Seele mit dem der Materie als Erscheinung zugrundeliegende Ding an sich bzw. Noumenon identisch sein kann. „[S]o könnte doch wohl dasjenige Etwas, welches den äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt, was unseren Sinn so affiziert, dass er die Vorstellungen von Raum, Materie, Gestalt etc. bekommt, dieses Etwas, als Noumenon (oder besser, als transzendentaler Gegenstand) betrachtet, könnte doch auch zugleich das Subjekt der Gedanken sein“100 . Die Zusammengesetztheit als das Prädikat äußerer Erscheinungen kann durchaus nicht dem Ding an sich bzw. Noumenon beigelegt werden. Aber die Einfachheit als das Prädikat des inneren Sinnes widerspreche ihm nicht.101 Weil das Ding an sich auch einfach sein könnte, kann man Kant zufolge die Seele durch deren Einfachheit vom Ding an sich nicht unterscheiden. An dieser Kritik ist zweierlei unbefriedigend. Zum einen macht Kant selbst einige Absätze später deutlich: Weil wir vom Ding an sich bzw. Noumenon „gar nichts wissen“, dürfen wir „auch nicht sagen, dass die Seele sich von diesem irgend worin innerlich unterscheide.“102 Aber aus demselben Grund dürfen wir auch nicht sagen, dass sie miteinander einerlei seien. Weder das Prädikat des 100 A

358.

101 A359: „Allein die Prädikate des innern Sinnes, Vorstellungen und Denken, widersprechen

ihm nicht.“ 360.

102 A

152

3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

äußeren Sinns noch das des inneren Sinns kann dem Ding an sich bzw. Noumenon zugeschrieben werden. Es ist also weder zusammengesetzt noch einfach. Man kann sich kaum vorstellen, dass die Seele als der Gegenstand des inneren Sinns mit dem Ding an sich bzw. Noumenon einerlei sein kann. Es lässt sich vermuten, dass Kant im obigen Zitat „[…], so könnte doch wohl dasjenige Etwas, welches den äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt, was unseren Sinn so affiziert, […], als Noumenon (oder besser, als transzendentaler Gegenstand) betrachtet, könnte doch auch zugleich das Subjekt der Gedanken sein, […]“ unter „dem Subjekt der Gedanken“ nicht die Seele als den Gegenstand des inneren Sinns, sondern „ein denkende Wesen an sich selbst“103 versteht. Dann muss man fragen, warum die rationale Psychologie sich darum kümmern soll, ob das, was der Seele als dem Gegenstand des inneren Sinns zugrunde liegt, mit demjenigen, was der Materie als dem Gegenstand des äußeren Sinns zugrunde liegt, einerlei ist, wenn sie nur annimmt, dass die Seele als der Gegenstand des inneren Sinns und die Materie als der Gegenstand des äußeren Sinns verschieden sind. Wir haben zu Beginn dieses Kapitels zwei Arten von Zugrunde-Liegen unterschieden. Einerseits kann man sagen, dass das transzendentale Subjekt als das „Ich denke“ einem Gedanken zugrunde liegt. Damit ist einerseits nichts anderes gemeint, als dass die Leistung des transzendentalen Subjekts ein konstitutives Moment des Gedankens bzw. des Gedachten, nämlich dessen Form, bildet. Andererseits wird von Kant manchmal ausgeführt, wie das obige Zitat zeigt, dass das denkende Wesen an sich, nämlich als Noumenon bzw. Substrat, einem Gedanken, betrachtet als eine innere Erscheinung, zugrunde liegt. Das Verhältnis des Zugrunde-Liegens zwischen den äußeren Erscheinungen und dem Ding an sich ist genau von der zweiten Art. Ein Gedanke ist also aus der zweiten Perspektive Erscheinung des denkenden Wesens an sich. Horstmann behauptet, dass Kant in der ersten Auflage der KrV der Annahme ist, dass „man dem ‚Ich denke‘ als der notwendigen Begleitvorstellung aller meiner Gedanken ein, wenn auch unerkennbares, Substrat unterlegen muss, welches die Ich-Vorstellung letztlich doch zu einer ‚gegenstandsbezogenen‘ Vorstellung macht“104 . Mit anderen Worten, Horstmann zufolge insistiert Kant in der ersten Auflage darauf, dass die Ichvorstellung „auf ein ‚Substratum‘ bezogen werden muss“105 . Nach der vorstehenden Darstellung ist ersichtlich geworden, dass diese Behauptung nicht nachvollziehbar ist. Diejenige Vorstellung, die unmittelbar auf das in Rede stehende Substratum, nämlich das denkende Wesen an sich, bezogen wird, ist nicht die Ichvorstellung, 103 A

360.

104 Horstmann, 105 Ebd.

S. 419.

Rolf-Peter, Kants Paralogismen, a. a. O., S. 418.

3.3 Der zweite Paralogismus der Simplizität

153

sondern nur der Gedanke als Vorstellung bzw. als innere Erscheinung. Die Ichvorstellung bzw. das „Ich denke“ und das denkende Wesen an sich als unerkennbares Substrat haben unmittelbar miteinander nichts zu tun, obwohl jedes von ihnen auf eigene Weise, d. h. in verschiedenem Sinn den Gedanken zugrunde liegt. Dass Horstmann die obige problematische These vertritt, zeigt, dass er den Unterschied zwischen den beiden Arten des Zugrunde-Liegens übersehen hat. Außerdem besteht derjenige Gebrauch, den die rationale Psychologie vom Satz „Die Seele ist einfach.“ zu machen versucht, gar nicht darin, dass sie die Seele durch die Eigenschaft der Einfachheit von der zusammengesetzten Materie unterscheidet, sondern darin, dass sie die Seele durch die Eigenschaft der Einfachheit von der Hinfälligkeit ausnimmt. In seiner allgemeinen Erörterung der rationalen Seelenlehre macht Kant selbst es deutlich: „Diese Substanz, bloß als Gegenstand des inneren Sinnes, gibt den Begriff der Immaterialität; als einfache Substanz, der Inkorruptibilität.“106 D. h., die rationale Psychologie verbindet die Einfachheit der Seele nicht mit deren Immaterialität, sondern mit deren Inkorruptibilität. Die Immaterialität der Seele kann bloß daraus, dass die Seele nur durch den inneren Sinn gegeben werden kann, abgeleitet werden, gleichgültig, ob sie einfach ist oder nicht, weil die Materialität notwendig mit der Gegebenheit durch den äußeren Sinn verbunden ist. Wenn Kant im dritten Teil seiner Kritik am zweiten Paralogismus der Einfachheit in der A-Auflage zu zeigen versucht, dass die Seele durch deren Einfachheit von der Materie nicht unterschieden werden kann, verfehlt er das richtige Beweisziel: Die einfache Seele kann auch hinfällig sein. Thöle hat darauf hingewiesen, dass Kant erst in der B-Auflage, konkreter gesagt, in der „Widerlegung des Mendelsohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele“ das richtige Ziel seiner Kritik, nämlich die Unzerstörbarkeit der einfachen Seele unmittelbar findet.107 Kant ist daher der Ansicht, dass „man noch ein Aufhören ihres Daseins durch Verschwinden annehmen könnte“108 , obwohl man der Seele als einem einfachen Wesen die einzig einem zusammengesetzten Wesen zugehörige Aufhörensweise der „Zerteilung“ nicht zurechnen könnte. Angesichts dieser zwei Probleme im dritten Teil in seiner Kritik am zweiten Paralogismus in der A-Auflage ist es kein Wunder, dass man keinen diesem dritten Teil entsprechenden Inhalt in Kants Kritik am zweiten Paralogismus in der BAuflage finden kann. D. h. Kant streicht diesen Teil in der Umarbeitung seiner

106 A

345/B 402. Bernhard, Kants Diagnose der Illusionen der rationalen Psychologie, in: Chotas / Karasek / Stolzenberg (Hrsg.), Metaphysik und Kritik, a. a. O., S. 114. 108 B 413. 107 Thöle,

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Kritik am zweiten Paralogismus völlig weg. Das ist die dritte Verbesserung in Kants Überarbeitung seiner Kritik am zweiten Paralogismus in der B-Auflage. Kants Kritik am zweiten Paralogismus der Einfachheit in der A-Auflage besteht aus drei Teilen. Der erste und der dritte Teil werden von Kant wegen der in ihnen enthaltenen Probleme in der B-Auflage weggestrichen. Der übrige zweite Teil lässt sich so zusammenfassen: Die numerische Identität bzw. Einheit der Ichvorstellung, nämlich dieselbe Selbstzuschreibung der Vorstellungen, kann dadurch nicht garantiert werden, dass diese Vorstellungen in die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption bzw. ihre gegenständlichen Inhalte in die objektive zeitliche Einheit gebrachte werden können.

3.4

Der dritte Paralogismus der Personalität

Der dritte Paralogismus lautet in der A-Auflage: „Was sich der numerischen Identität seiner Selbst in verschiedenen Zeiten bewusst ist, ist so fern eine Person; Nun ist die Seele etc. Also ist sie eine Person.“109

In Übereinstimmung mit seiner Kritik am ersten und zweiten Paralogismus hält Kant sowohl den Obersatz als auch den Untersatz für richtig. Der Untersatz, sofern er richtig verstanden wird, geht nur das denkende Wesen als das transzendentale Subjekt an, weil das, woraus die rationale Psychologie schließt, nur das „Ich denke“ sein soll. Der Obersatz ist eine Definition des Begriffs „Person“. Im Anfang seiner Kritik erklärt Kant den Obersatz in Analogie zur numerischen Identität im Fall eines äußeren Gegenstandes. Derjenige äußere Gegenstand, welcher als numerisch identisch in verschiedenen Zeiten betrachtet werden kann, ergibt sich durch den äußeren Sinn als eine beharrliche, identische und anschauliche Erscheinung. Auf ähnlicher Weise soll das denkende Wesen sich durch den inneren Sinn als eine beharrliche, identische, anschauliche und innere Erscheinung ergeben, sofern es eine Person sein soll, d. h., sofern es seine persönliche Identität in verschiedenen Zeiten beanspruchen darf. Es ist ersichtlich, dass die von diesem Begriff der Personalität verlangte Bedingung genau das sinnliche Kriterium der Substantialität bzw. der Beharrlichkeit ist. Wir werden die These vertreten, 109 A

361.

3.4 Der dritte Paralogismus der Personalität

155

dass der dritte Paralogismus der Personalität, welche nach der ersten Definition verstanden wird, mit dem ersten Paralogismus der Substanz einerlei ist. Wir haben im dritten Teil des zweiten Kapitels drei Arten von Selbstbewusstsein unterschieden. Eine von ihnen ist der innere Sinn. D. h., der innere Sinn als „Selbstanschauung“ verdient den Namen „Selbstbewusstsein“. Das Selbstbewusstsein bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine Vorstellung durch sich selbst vorgestellt bzw. bewusstwird. Es kennzeichnet also die Reflexivität der Vorstellung, welche sich von deren Intentionalität unterscheidet. Wenn diese Vorstellung als identische in verschiedenen Zeiten beharren würde, wäre sie sich der numerischen Identität ihrer selbst in verschiedenen Zeiten bewusst. Jedoch kann keine empirische Vorstellung als solche beharrlich sein. Mit Humes Worten: „But there is no impression constant und invariable.“110 „[D]a wir an der Seele keine beharrliche Erscheinung antreffen,“111 darf die Seele laut der ersten Definition des Begriffs „Person“ ihre Personalität nicht beanspruchen. Die Ichvorstellung im „Ich denke“ als dem transzendentalen Subjekt ist eine andere Art von Selbstbewusstsein. Das Ichbewusstsein kann deswegen im prägnanten Sinn „Selbstbewusstsein“ genannt werden, weil das Selbst synonym zum Ich ist. Das denkende Wesen als das transzendentale Subjekt ist jedoch nichts Anschauliches. „[D]ieses Ich (ein bloßer Gedanke)“112 ist also von anderer Art als eine Anschauung bzw. Erscheinung.113 Obwohl es als ein numerisch identisches Korrelat jede durch den inneren Sinn angeschaute Vorstellung begleitet, ist es selbst keine anschauliche Vorstellung und ergo auch nicht in der inneren Zeit. In Hinsicht auf seinen transzendentalen Aspekt bzw. dessen Moment „Ichvorstellung“ darf das denkende Wesen also laut der obigen Definition von Personalität seine Personalität nicht beanspruchen. Was das andere Moment des transzendentalen Subjekts anbelangt, haben wir in der Auseinandersetzung mit Kants Kritik am ersten Paralogismus ausgeführt, dass die Einheit der transzendentalen Apperzeption als der synthetisierenden Aktivität keineswegs die Beharrlichkeit dieser Aktivität in der immanenten Zeit bedeutet. Hinsichtlich des dritten Paralogismus wirft Kant der rationalen Psychologie vor, dass sie die numerisch identische und unanschauliche Ich-Vorstellung mit einer numerisch identischen und anschaulichen Vorstellung verwechselt. Wir haben ausgeführt, dass Kant denselben Vorwurf in seiner Kritik am ersten Paralogismus erhebt. Mit der Verwechslung glaubt die rationale Psychologie, dass das 110 Hume,

David, A Treatise of Human Nature, Oxford: Clarendon Press 2007, S. 251. 364. 112 A 364. 113 Vgl.: „Allein dieses Ich ist so wenig Anschauung“. (A 382) 111 A

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3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

denkende Wesen die erste Definition des Begriffs „Person“ erfüllt. Diese Verwechslung ist deswegen möglich und sogar natürlich und unvermeidlich, weil das denkende Wesen zugleich seinen transzendentalen Aspekt, welcher in diesem Zusammenhang besonders mit der begleitenden Ichvorstellung verbunden ist, und seinen empirischen Aspekt findet, wenn es sich selbst beobachtet. Ohne diese Selbst-Beobachtung, d. h. auf eine andere Weise könnte man sich ein denkendes Wesen nicht vorstellen, wie Kant betont.114 Mit seinem Gedankenexperiment von „einem äußeren Beobachter“115 weist Kant darauf hin, dass die Illusion dieser Verwechselung ersichtlicher wäre, wenn das denkende Wesen nicht von sich selbst, sondern von einem äußeren Beobachter betrachtet würde. Der äußere Beobachter hat den Vorzug, dass er das denkende Wesen nur als einen Gegenstand, nämlich als einen Strom von Vorstellungen anschauen könnte. D. h., er könnte die Neigung vermeiden, irgendeine Ich-Vorstellung, selbst sein eigenes „Ich“, mit dem Gegenstand zu vermengen, obwohl er seinerseits pflegt, sein eigenes Ich mit sich selbst als seinem innerlichen Gegenstand, d. h. mit seinem eigenen Vorstellungsstrom zu vermengen. Im Vergleich dazu findet das denkende Wesen die Neigung, seinen transzendentalen Aspekt, besonders sein unabweisbares, als identisch auftauchendes „Ich“, mit seinem gegenständlichen Aspekt zu vermengen, sehr verführerisch, wenn es sich selbst beobachtet.116 Ich mag die Ichvorstellung als eine verharrende Vorstellung „im“ Fluss meiner Vorstellungen verkennen. Aber ich werde sie keineswegs als ein Glied im Fluss meiner äußeren Erscheinungen, nämlich meiner äußeren Vorgestellten betrachten. Wenn ein äußerer Beobachter meinen Vorstellungsfluss beobachten würde, wäre jede meiner Vorstellungen sein äußeres Vorgestelltes. Er würde seine Ichvorstellung nicht als ein fixes bzw. verharrendes Glied in der Reihe seines äußeren Angeschauten, nämlich in meinem Vorstellungsfluss verkennen. Außerdem würde er darin auch meine Ichvorstellung nicht finden können, weil er seine eigene Erste-Person-Perspektive hat und meine Erste-Person-Perspektive für ihn nichts ist. In diesem Fall würde seine eigene Erste-Person-Perspektive meine ersetzen und diese würde deshalb völlig verschwinden.

114 A

354. 362. 116 Diese Interpretation von Kants Gedankenexperiment von einem äußeren Beobachter ist eine modifizierte Version von Strawsons Interpretation. Vgl.: Strawson, Peter, Kant’s Paralogisms: Self-Consciousness and the „Outside Observer“, a. a. O., S. 218. 115 A

3.4 Der dritte Paralogismus der Personalität

157

Kant schreibt: „[S]o ist die Identität, die mit meinem Bewusstsein notwendig verbunden ist, nicht darum mit dem seinigen, d.i. mit der äußeren Anschauung meines Subjekts verbunden.“117 Mit „seinigen Bewusstsein“ meint Kant das Bewusstsein des äußeren Beobachters. In diesem Zitat vergleicht Kant den einen Fall, dass ich mein empirisches Selbst beobachte, mit dem anderen, dass ein äußerer Beobachter mein empirisches Selbst beobachten würde. Wenn ich mich selbst als Gegenstand durch den inneren Sinn beobachte, d. h., wenn ich mein empirisches Selbst beobachte, ist mein empirisches Selbst notwendig mit meinem identischen „Ich“ verbunden. Ihre notwendige Verbindung ist der Anlass, dass das eine mit dem anderen vermengt wird. Wenn der äußere Beobachter mein empirisches Selbst als seinen äußeren Gegenstand beobachten würde, bzw. wenn mein empirisches Selbst der Gegenstand der äußeren Anschauung des äußeren Beobachters wäre, wäre mein empirisches Selbst nicht mit dem identischen Ich des äußeren Beobachters verbunden. Der äußere Beobachter mag sein identisches Ich mit dieser Anschauung als solcher notwendig verbinden und sogar verwechseln. Aber er würde sein identisches Ich nicht mit dem Gegenstand dieser Anschauung, nämlich meinem empirischen Selbst als seinem äußerlichen Angeschauten verwechseln. Der äußere Beobachter würde also im denkenden Wesen als seinem Gegenstand nichts anderes als die Sukzession von entstehenden und vergehenden Vorstellungen anschauen können. Mit anderen Worten, er würde darin keine beharrliche Vorstellung anschauen118 und folglich die Subsumtion des denkenden Wesens als seines Gegenstandes unter den Begriff „Person“ ablehnen. Diese Kritik gegen die Subsumtion des denkenden Wesens unter den Begriff „Person“ ist offensichtlich angemessen. In unserer Diskussion über Kants Kritik am Paralogismus der Substantialität haben wir festgestellt, dass die erste Diagnose Kants über die Verwechslung der rationalen Psychologie im Paralogismus der Substantialität darin besteht, dass sie die Ichvorstellung als eine beharrliche Anschauung bzw. als ein beharrliches, innerliches Angeschautes verkennt. Deshalb sollte die erste Anwendungsbedingung der Kategorie „Substanz“ erfüllt werden. Nach den vorstehenden Darstellungen ist es klar, dass der rationale Psychologe Kant zufolge die gleiche Verwechslung im Paralogismus der Substantialität und im Paralogismus der Personalität begeht. Damit soll erwiesen sein, dass der erste und der dritte Paralogismus in seiner ersten Version einerlei sind.

117 A 118 A

363. 364: „[D]a wir an der Seele keine beharrliche Erscheinung antreffen“.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Aber in seiner Kritik am dritten Paralogismus in der A-Auflage versteht Kant den Begriff „Person“ bzw. „Personalität“ auch in einem anderen Sinn. Entsprechend besagen der Obersatz und der ganze Schuss etwas anderes als das, was in den bisherigen Ausführungen dargelegt wurde. Der Fortgang unserer Überlegung wird die These erweisen, dass Kant tatsächlich zwei sehr verschiedene Versionen des Paralogismus der Personalität kritisiert hat. Der zweite Sinn des Begriffs „Person“ kann durch den Vergleich der folgenden beiden Sätze angedeutet werden: „Die mannigfaltigen Vorstellungen gehören zum denkenden Wesen.“ und „Die mannigfaltigen Vorstellungen gehören dem denkenden Wesen.“ Es ist ersichtlich, dass das denkende Wesen im ersten Satz nur als das empirische Selbst verstanden werden kann, welches als der Strom von Vorstellungen aus den Vorstellungen besteht. Wenn eine der Vorstellungen sich zu verschiedenen Zeiten als beharrlich und identisch ergeben würde, könnte das empirische Selbst unter dem Begriff „Person“ im ersten Sinn subsumiert werden. Da das empirische Selbst nichts anderes als die Reihe bzw. der Strom von den Vorstellungen ist und keine von ihnen zu verschiedenen Zeiten beharrlich und identisch bleibt, darf das empirische Selbst keine Personalität im ersten Sinn beanspruchen. Der Begriff „Person“ im ersten Sinn verlangt die beharrliche, identische und anschauliche Gegebenheit eines Gegenstands, der unter den Begriff subsumiert werden kann. Kant macht deutlich, dass dieser Begriff der Personalität notwendig mit dem Begriff der Substanz, dessen Schema die Beharrlichkeit ist, verbunden ist. „Person“ bedeutet „intellektuelle Substanz“119 . Man kann die erste Definition des Begriffs als eine strenge bezeichnen. Das denkende Wesen im zweiten Satz „Die mannigfaltigen Vorstellungen gehören dem denkenden Wesen.“ kann nur als das transzendentale Subjekt verstanden werden. In diesem Satz wird das Begleitverhältnis zwischen dem einen Moment des transzendentalen Subjekts, nämlich der Ichvorstellung, und den mannigfaltigen Vorstellungen hervorgehoben. Keine der Vorstellungen ist sein Bestandstück. Stattdessen steht jede Vorstellung als ein Korrelat dem transzendentalen Subjekt bzw. der Ich-Vorstellung gegenüber. Die Vorstellungen, betrachtet für sich, können sehr unterschiedlich sein. Aber sie gehören demselben transzendentalen Selbst bzw. demselben Ich. Es ist das Ich, „welches alle Vorstellungen zu aller Zeit in meinem Bewusstsein, und zwar mit völliger Identität, begleitet“120 . In diesem Sinn kann ich sagen, dass ich mich als dieselbe Person in verschiedenen Zeiten in meinen verschiedenen Zuständen befinde. Ich erlebe jetzt diese Vorstellung, d. h., ich bin jetzt in diesem Zustand. Und es war auch ich, der in jener Zeit 119 A 120 A

345/B 402. 363.

3.4 Der dritte Paralogismus der Personalität

159

jene Vorstellung erlebte bzw. in jenem Zustand war. Deshalb bin ich in den verschiedenen Zeiten numerisch identisch und habe meine Personalität inne. Damit haben wir die numerische Identität der Ichvorstellung, welche die vierte Art der Einheit der Vorstellung ist, mit der Personalität bzw. Nicht-Zusammengesetztheit des empirischen Selbst gleichgesetzt. Die Ichvorstellung ist auf engst mit der Frage, wessen Vorstellungsfluss es ist, verbunden. Die numerische Identität der Ichvorstellung verlangt deshalb die numerische Identität des Vorstellungsflusses. Die numerische Identität eines Vorstellungsflusses kann jedoch nichts anderes als dessen Kontinuität bedeuten. Ein kontinuierlicher Vorstellungsfluss kann nur einem einzigen Erlebenden gehören. Seine echte Kontinuität schließt sowohl die Übertragung des einen Vorstellungsflusses auf den anderen, d. h. die Zusammengesetztheit von zwei Flüssen, als auch die Übertragung eines Ausschnittes, nämlich einer Vorstellung des einen Vorstellungsflusses auf den anderen, aus. Deshalb können wir feststellen, dass die numerische Einheit bzw. Identität der Ichvorstellung und die Personalität einander wechselseitig fordern, obwohl der Begriff „Personalität“ auf den ersten Blick nicht das transzendentale Subjekt bzw. dessen Moment „Ichvorstellung“, sondern nur das empirische Selbst als den Vorstellungsfluss angeht. Der Begriff „Person“ im zweiten Sinn verlangt keine beharrliche, identische und anschauliche Vorstellung bzw. keinen beharrlichen Zustand im denkenden Wesen zu finden, damit es unter den Begriff subsumiert werden kann. Stattdessen ist dazu nur nötig, dass die numerische Identität der Ich-Vorstellung, welche jede der verschiedenen Vorstellungen bzw. jeden der verschiedenen Zustände begleitet, bewusst ist. Es ist aber entscheidend im Auge zu behalten, dass es tatsächlich so sein muss, d. h., dass dieses Wissen wahr sein muss. Die bisherigen Ausführungen lassen sich folgend zusammenfassen. In seiner Kritik am dritten Paralogismus unterscheidet Kant zwei Bedeutungen des Begriffs „Person“: 1. Die Person ist, war sich seines beharrlichen und identischen Zustandes in verschiedenen Zeiten bewusst ist. 2. Die Person ist, was als dieselbe in verschiedenen Zeiten die verschiedenen Zustände erlebt. Entsprechend wird der ganze Schluss in zwei verschiedenen Weisen verstanden. Das Gedankenexperiment von einem äußeren Beobachter spielt nur im ersten Fall eine Rolle. In Hinsicht auf das denkende Wesen als den beobachteten Gegenstand weist Kant durch den Vorzug der äußeren Beobachtung gegenüber der

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3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Selbst-Beobachtung darauf hin, warum man die Neigung hat, die identische Ichvorstellung als eine beharrliche und identische Anschauung zu verkennen und ferner sie dem empirischen Selbst als dem Vorstellungsstrom zuzuschreiben.121 Was den zweiten Fall anbelangt, kann meine Erinnerung, dass es ich war, der dies oder jenes erlebte, offensichtlich falsch sein. Aber in Hinsicht auf die Korrektur meiner Erinnerung hat ein äußerer Bobachter keinen Vorzug gegenüber mir selbst. Um mein Erinnerungsurteil in der soeben dargestellten Form zu bestätigen, muss ich den gegenständlichen Inhalt bzw. den Gegenstand meiner Erinnerungsvorstellung bemerken, anstatt sie nur als solche bzw. durch den inneren Sinn zu betrachten. D. h., dazu brauche ich die äußere Erfahrung.122 Die Außenwelt ist jedem denkenden Wesen zugänglich und zwar prinzipiell auf gleicher Weise. Hinsichtlich der äußeren Erfahrung kann deshalb kein denkendes Wesen einen Vorzug gegenüber einem Anderen beanspruchen.123 Deshalb spielt das Gedankenexperiment von einem äußeren Beobachter im zweiten Fall keine Rolle. Angesichts dessen, dass ein äußerer Beobachter bezüglich der Bestätigung meines Erinnerungsurteils in der Form „Es war ich, der dies oder jenes erlebte.“ keinen Vorzug gegenüber mir selbst hat, bzw. dass die Bedeutung dieses Gedankenexperiments gar nicht darin besteht, behauptet Strawson, „there is not the slightest textual support for the view that Kant was in the least concerned with the possibility of a subject’s making particular mistakes about his own past history.“124 Meines Erachtens hat Kant sich doch mit dieser Problematik beschäftigt. Der Text-Beweis dafür ist Kants anderes Gedankenexperiment in seiner Kritik am dritten Paralogismus in der A-Auflage, welches man das Gedankenexperiment der Übertragung von Zuständen nennen kann. Strawson hat im soeben zitierten Aufsatz dieses Gedankenexperiment mit keinem Wort erwähnt. In diesem an Locke erinnernden Gedankenexperiment macht Kant deutlich, dass es prinzipiell möglich ist, dass diejenige Reihe von Zuständen, die von mir bewusst und deswegen als meine betrachtet werden kann, in Wirklichkeit einem anderen Subjekt gehört hat und von ihm auf mich übertragen worden sein könnte,

121 Vgl.:

„Das Ich scheint beständig, ja notwendig da zu sein, und diese Beständigkeit ist offenbar nicht die eines stupiden verharrenden Erlebnisses, einer ‚fixen Idee‘.“ Hua III, Ideen I, S. 123. 122 Ob die äußere Erfahrung dafür hinreichend ist, werden wir bald sehen. 123 Strawson hat auf diesen Punkt hingewiesen. Vgl.: Strawson, Peter, Kant’s Paralogisms: Self-Consciousness and the „Outside Observer“, a. a. O., S. 215. 124 Ebd., S. 215.

3.4 Der dritte Paralogismus der Personalität

161

wie ein Bewegungszustand von einer elastischen Kugel auf eine andere übertragen werden kann.125 In diesem Fall würde ich mir zwar dieser Zustände als meiner eigenen bewusst sein. Aber ich würde „doch nicht eben dieselbe Person in allen diesen Zuständen gewesen sein.“126 D. h., mein Erinnerungsurteil über meine eigene Geschichte in der Form „Es war ich, der diese Zustände erlebte.“ würde falsch sein. Das Gedankenexperiment der Übertragung von Zuständen zeigt daher deutlich, wie Kant den Begriff „Personalität“ versteht: Wenn alle diese Zustände ursprünglich dem denkenden Wesen gehören, darf es seine Personalität beanspruchen, obwohl keiner dieser Zustände beharrlich ist. Damit ist ersichtlich, dass dieser Begriff von „Personalität“ anders als der im Gedankenexperiment von einem äußeren Beobachter ist. In diesem Gedankenexperiment des äußeren Beobachters spielt die Frage, ob ein beharrlicher Zustand im empirischen Selbst als dem Zustände-Strom besteht oder ob er in Wahrheit nur eine Verfälschung der jeden Zustand im Zustände-Strom begleitenden Ichvorstellung ist, die zentrale Rolle. Diese beiden Gedankenexperimente haben eine verschiedene Bedeutung und Funktion für Kants Kritik am dritten Paralogismus der Personalität. Kant versteht den Begriff „Personalität“ auf zwei verschiedene Weisen. Entsprechend hat Kant in der Tat zwei ungültige Schlüsse bzw. zwei Versionen des dritten rationalen Schlusses kritisiert, was in der mir bekannten Literatur kaum bemerkt wird. Deshalb hat er dazu zwei Gedankenexperimente entworfen. In seiner Kritik am zweiten Paralogismus der Einfachheit versteht Kant, wie ausgeführt, den Begriff „Einfachheit“ ausschließlich in Hinsicht auf den quantitativen Sinn von Einheit, d. h. nur relativ zu Vielheit. Im zweiten Paralogismus handelt es sich also um die Frage, ob das denkende Wesen aus mehreren denkenden Wesen zusammengesetzt ist. Wie soeben dargestellt, behandelt der dritte Paralogismus in seiner zweiten Version die Frage, ob alle das denkende Wesen bildenden Vorstellungen bzw. Zustände ihm ursprünglich zugehörig sind oder manche von ihnen von anderem denkenden Wesen auf es übertragen worden sind. Kant zufolge ist ein empirisches Selbst nichts anderes als der Strom von Vorstellungen bzw. Zuständen. Damit ist ersichtlich, dass sowohl die Einfachheit des denkenden Wesens als auch dessen Personalität die Kontinuität des Flusses der Vorstellungen bedeuten. Ein identischer kontinuierlicher Vorstellungsfluss kann nicht aus mehreren Vorstellungsflüssen zusammengesetzt sein. Dass ein Vorstellungsfluss über keine Kontinuität verfügt, impliziert, dass er aus mehreren

125 A 126 A

364. 364.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Vorstellungsflüssen zusammengesetzt ist. Die Übertragung eines Vorstellungsflusses bzw. dessen Ausschnittes auf einen anderen Vorstellungsfluss würde auch letzteren der echten Kontinuität berauben. Aus dem folgenden Grund haben wir es dabei eigentlich nur mit einem und demselben Fall zu tun: Die das eine denkende Wesen bildenden Zustände auf das andere denkende Wesen zu übertragen, bedeutet, die beiden denkenden Wesen zusammen zu setzten. Die Zusammengesetztheit des empirischen Selbst bedeutet eben, dass es aus mehreren empirischen Selbst besteht, bzw. dass die anderen Ströme auf das in Rede stehende empirische Selbst als den größeren Strom übertragen worden sind. Dasjenige empirische Selbst, welches aus mehreren Strömen von Zuständen zusammengesetzt würde, von denen jeder ursprünglich bzw. originär ein eigenes empirisches Selbst bildete, darf laut Kants Definition die Personalität im zweiten Sinn nicht beanspruchen. Damit ist die These erwiesen, dass der zweite Paralogismus der Einfachheit und der dritte Paralogismus der Personalität in der zweiten Version einerlei sind. Das Argument der transzendentalen Deduktion in der B-Auflage besteht aus zwei Schritten. Im ersten Schritt bringt Kant die Möglichkeit der Selbstzuschreibung der mannigfaltigen Vorstellungen, d. h. die Möglichkeit, die mannigfaltigen Vorstellungen demselben Ich zuzuschreiben, und die synthetische Einheit der Vorstellungen bzw. ihrer Inhalte in einen Zusammenhang. Konkreter gesagt versucht Kant im ersten Schritt zu beweisen, dass die erstere die letztere voraussetzt. Im zweiten Schritt der Deduktion der Kategorien soll gezeigt werden, dass die Anwendung der Kategorien notwendig ist, damit die synthetische Einheit der Vorstellungen bzw. ihrer Inhalte, nämlich die zeitliche Einheit zwischen den Erscheinungen objektiv bestimmt werden kann. Erst im zweiten Schritt wird also eine Deduktion von Kategorien explizit in Betracht gezogen. Im folgenden Abschnitt werden wir den ersten Schritt in der B-Deduktion mit Kants Hauptargument in seiner Kritik am dritten Paralogismus der Personalität in der zweiten Version und dem zweiten Paralogismus der Einfachheit, nämlich dem Argument der Übertragung von Zuständen vergleichen und dabei prüfen, ob das Hauptargument Kants gerechtfertigt ist. Der Schwerpunkt unserer Betrachtung sind Einbildung und Einfühlung. Kant beginnt sein Deduktionsargument in der B-Auflage mit dem folgenden berühmten Satz: „Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben

3.4 Der dritte Paralogismus der Personalität

163

so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.“127

Alle meine Vorstellungen, die von mir bewusstwerden und in diesem Sinn meine Vorstellungen sind, werden aus der Ersten-Person-Perspektive bewusst. Das Auftreten der bewussten Vorstellung ist notwendig mit der Ersten-Person-Perspektive bzw. mit der Begleitung der Ichvorstellung verbunden. Es ist daher davon, was die Inhalte dieser Vorstellungen sind, was für einen Gegenstandsbezug sie haben und ob sie epistemisch relevant sind, noch keine Rede. D. h., dass die Vorstellungen aus der Ersten-Person-Perspektive bewusst werden können, ist davon nicht abhängig, dass ich sie bzw. ihre gegenständlichen Inhalte in die synthetische Einheit bringen kann. Meine Einbildung, meine „Begierden“, „meine Gefühle der Lust und Unlust“ und meine Einfühlung können genau wie meine Wahrnehmung aus der ErstenPerson-Perspektive bewusstwerden. Die ersten drei Arten gehören selbstverständlich mir, d. h. sie werden von meiner Ichvorstellung begleitet. Die Sachlage bei der vierten, nämlich bei „Einfühlung“, verlangt jedoch eine zusätzliche Erklärung. Zum Beispiel kann ich mich an ein konkretes Erlebnis in einem Urlaub erinnern. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es am eigenen Leib erlebt habe, weil es auch sein kann, dass jemand vor langer Zeit mir in schwungvollen Worten eben jenes Erlebnis geschildert haben könnte. Ich mag also meine ehemalige Einfühlung als meine ehemalige Wahrnehmung verkennen. Aber diese Einfühlung selbst als „meine“ Vergegenwärtigung wird aus der Ersten-Person-Perspektive bewusst und gehört mir, gleichgültig, ob das vergegenwärtigte Erlebnis mir oder jemandem anderen gehörte.128 Wenn ich den Urlaub am eigenen Leib erlebt habe, ist das vergegenwärtigte Erlebnis meine damalige Wahrnehmung.129 Sonst ist es meine damalige Einfühlung, die eine jemandem anderen gehörende Wahrnehmung vergegenwärtigt. Der Fall der Einfühlung zeigt, dass Kants Gedankenexperiment der Übertragung von Zuständen nicht bloß eine theoretische Spekulation ist, sondern eine reale Basis hat. Es lässt sich feststellen, dass meine Vergegenwärtigung genau wie meine Wahrnehmung als mein Gegenwärtiges mir gehört, gleichgültig, ob die vergegenwärtigte Vorstellung mir, jemandem anderen oder niemandem gehört 127 B

132.

128 Husserl

zufolge gehört die Einfühlung als Bewusstsein von Fremdem auch zu dem Eigentlichen meiner Seele. Vgl. Hua I, S. 131. 129 Husserl fasst die allgemeine Struktur der Erinnerung als der anschaulichen Vergegenwärtigung in einer „Formel“ zusammen: Es gilt „R(Wa) = Va. Die Vergegenwärtigung eines Hauses z. B. [Va] und die Reproduktion der Wahrnehmung dieses Hauses [R(Wa)] zeigen dieselben Phänomene.“ Hua X, S. 128.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

hat, d. h., ob meine Vergegenwärtigung meine Erinnerung, meine Einfühlung oder meine Einbildung ist.130 Jede meiner Vorstellungen wird deshalb notwendigerweise von der Ichvorstellung begleitet, welche die Erste-Person-Perspektive kennzeichnet, sofern ich das Bewusstsein davon habe, dass ich sie habe und folglich meine Vorstellung nennen kann. Sonst wäre es unmöglich, dass ich mir der Vorstellung bewusst bin. Meine Bewusstheit der Vorstellung ist also identisch mit der Gegebenheit der Vorstellung aus der Ersten-Person-Perspektive. Die Bewusstmachung einer Vorstellung, bzw. „dass ich jede Vorstellung mit Bewusstsein begleite“131 , ist nur aus der Ersten-Person-Perspektive möglich. Anders ausgedrückt: Das Ich muss alle meine Vorstellungen begleiten können. Damit schließt Kant diejenigen Vorstellungen aus, die zum Gebiet des Unbewussten gehören. Meine Vorstellungen bedeuten also in dem für uns in Frage kommenden Zusammenhang nicht diejenigen Vorstellungen, die nur „in mir“ sind, sondern diejenigen, die auch „für mich“ sind. Im Satz „Das Ich muss alle meine Vorstellungen begleiten können.“ muss der Terminus „meine Vorstellung“ zunächst am weitesten verstanden werden. Sie bedeutet alles, was von mir bewusst werden kann. Das Wort „können“ im Satz „Das Ich muss alle meine Vorstellungen begleiten können.“ bezeichnet die Sachlage, dass nicht jede meiner Vorstellungen aktuell von der Ichvorstellung begleitet wird. Aber die potentielle Vorstellung lässt sich explizieren, sofern sie als meine bezeichnet werden kann. D. h., jede meiner Vorstellungen muss über das Potenzial verfügen, von der Ichvorstellung aktuell begleitet zu werden. Das Ich muss sie also begleiten können. Kant fügt sofort im obigen Zitat die erste Beschränkung hinzu: Durch die Vorstellung muss etwas vorgestellt werden. Deshalb müssen meine Begierde und mein Gefühl der Lust und Unlust ausgeschlossen werden. Meine Begierde stellt selbst ihren Gegenstand nicht vor, obwohl sie voraussetzt, dass ihr Gegenstand vorgestellt wird. D. h., sie hat eine ihren Gegenstand vorstellig machende Vorstellung zur „Grundlage“132 . Mein Gefühl der Lust und Unlust bezieht sich auf keinen Gegenstand. In dem gegebenen theoretischen Kontext, wo es sich um die Bedingungen a priori unserer Erkenntnis von Gegenständen handelt, müssen die 130 Im

Vergleich dazu, dass die Erinnerung die Reproduktion einer eigenen ehemaligen wirklichen Wahrnehmung ist, ist die Einbildung als die Reproduktion einer möglichen bzw. unmöglichen Wahrnehmung zu verstehen. Die Modifikation bei der Erinnerung enthält keine Ausschaltung der Existenz-Setzung, welche jedoch in der letzteren Modifikation impliziert wird. 131 B 133. 132 Vgl.: Hua XIX, LU, A 458/B 494. 1

3.4 Der dritte Paralogismus der Personalität

165

Zustände von Wunsch, Wille und Gefühl also außer Betracht bleiben, welche im strengen Sinn keine Vorstellungszustände sind. Aber Kants These lautet nicht, dass das Ich alle meine Vorstellungen begleiten können muss, sondern dass das „Ich denke“ alle meine Vorstellungen begleiten können muss. Durch den inneren Sinn kann ich mir der Vorstellungen bewusst sein. Die Bewusstmachung der Vorstellungen wird vom inneren Sinn notwendigerweise aus der Ersten-Person-Perspektive vollzogen. D. h., ich kann jede Vorstellung nur aus der Ersten-Person-Perspektive mit Bewusstsein begleiten. Die Bewusstheit einer Vorstellung und ihre Meinigkeit sind voneinander untrennbar. Der innere Sinn und die Begleitung der Ichvorstellung können leisten, dass ich aktuell eine Vorstellung als meine bezeichne.133 Wenn die bloße Bewusstheit der Meinigkeit jeder Vorstellung sich durch den inneren Sinn und die Ichvorstellung erklären lassen kann, warum brauche ich noch das zusätzliche Denken, um alle diese Vorstellungen meinem Selbst zuzuschreiben? Dass ich jede dieser Vorstellungen unmittelbar meinem Selbst zuschreiben, d. h. mit der Ichvorstellung begleiten kann, scheint offensichtlich zu implizieren, dass ich diese Vorstellungen insgesamt meine nennen kann. Das letztere scheint bloß durch die Verallgemeinerung eines Einzelfalls geschehen zu können. Kant argumentiert aus den folgenden Aspekten gegen diese vermeintliche Implikation bzw. Verallgemeinerung. Das Ich begleitet jede mir durch den inneren Sinn bewusste Vorstellung. Es tritt also bei allem Vorstellen immer wieder auf. Dass die diversen Vorstellungen demselben Ich zugeschrieben werden können, bzw. dass sie auf das einzige Ich bezogen werden können, verlangt jedoch eine Ich-Identifikation. Wir müssen deshalb fragen: Wie ist die numerische Identität der Ichvorstellung, nämlich die vierte Art der Einheit der Vorstellung möglich? Wenn die Ichvorstellung sich bei jeder Begleitung als identisch bekunden würde, könnte aufgrund der Eigenschaft der „Meinigkeit“ als dieses gemeinsamen und identischen Merkmals aller dieser Vorstellungen direkt gesagt werden, dass alle diese Vorstellungen dem identischen Ich gehören, bzw. dass das Ich in allen diesen Fällen verschiedener Vorstellungen ein und dasselbe ist. Anders gesprochen: Wenn die Ichvorstellung aufgrund ihres identischen Inhalts, d. h. bloß betrachtet für sich, ihre numerische Identität gegenüber der Mannigfaltigkeit der von ihr begleiteten Vorstellungen beanspruchen 133 Wir

haben im zweiten Kapitel ausgeführt, dass die Gestaltung einer einheitlichen Vorstellung, welche aus einigen Zeitphasen besteht, nur aufgrund der Korrelation der Vorstellung zur entsprechenden Erscheinung möglich ist. Die Gegebenheit der Erscheinung enthält jedoch teilweise die Leistung des Denkens in sich. Deshalb setzt die Bewusstheit einer Vorstellung in strengem Sinn sowohl den inneren Sinn als auch das Denken voraus. Aber die Meinigkeit der aktuellen Vorstellung darf allein die Leistung des inneren Sinns und der Begleitung der Ichvorstellung sein.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

könnte, dann wäre kein weiteres Moment, nämlich keine Funktion des Denkens bzw. der Synthesis dieser Vorstellungen für die Selbstzuschreibbarkeit dieser Vorstellungen erforderlich. Kant lehnt diese Annahme ab. Das Ich ist Kant zufolge inhaltlich völlig leer. Das impliziert, dass es unmöglich ist, das Ich aufgrund seines identischen Inhalts zu identifizieren, weil man darin keinen beschreibbaren Inhalt finden kann. Was ist die Alternative? Wie kann die Identifizierung des Ich in Bezug auf eine Pluralität der vom Ich begleiteten Vorstellungen geleistet werden? Kants Antwort lautet folgendermaßen: Die Identifizierung der begleitenden Ichvorstellung bzw. die Selbstzuschreibung der Vorstellungen „enthält eine Synthesis der Vorstellungen, und ist nur durch das Bewusstsein dieser Synthesis möglich.“134 Wie ist aber dies zu verstehen? Kant zufolge ist die Form des inneren Sinns die (subjektive) Zeit. Alle von mir durch den inneren Sinn bewusste Vorstellungen können nur in der Zeit gegeben werden. Aus der Vergänglichkeit einer jeden Vorstellung und aus der Sukzession von Vorstellungen lässt sich ableiten, dass es unmöglich ist, dass eine Pluralität von Vorstellungen zugleich gegenwärtig ist. Dass ich diese Vorstellungen meinem Selbst jedoch aktuell zuschreibe, ist folglich nur dadurch möglich, dass ich diejenigen Vorstellungen, welche nicht mehr gegenwärtig sind, vergegenwärtige. Anders gesprochen: Die Vergegenwärtigung der Vorstellungen ermöglicht zuerst die Auffassung einer Pluralität von Vorstellungen. Aber die von mir jetzt vergegenwärtigte Vorstellung kann meinem Selbst, einem anderen Selbst oder niemandem gehört haben. Die Identifikation der Ichvorstellung bzw. die Selbstzuschreibung der Vorstellungen verlangt, die verschiedenen Fälle voneinander zu unterscheiden. Was Kant mit der Selbstzuschreibung der Vorstellungen meint, ist also nicht eine angebliche Selbstzuschreibung oder ein Glauben, sondern eine echte bzw. berechtigte Selbstzuschreibung.135 Diese Selbstzuschreibung der Vorstellungen ist Kant zufolge notwendig mit dem Denken verbunden. Das Denken muss also eine Funktion haben, über welche das bloße Vorstellen nicht verfügen kann. Wie der Fortgang des oben zitierten Textes zeigt, ist der Unterschied zwischen dem bloßen Vorstellen und dem Denken für das Verständnis der SelbstzuschreibungsArgumentation in der B-Deduktion von entscheidender Bedeutung. Daher finden

134 B

133.

135 Vgl.: „I must begin with the belief

that I have had a certain manifold of representations, but genuine knowledge that I have actually experienced all the representations in this manifold may have to await successful empirical interpretation of this initial impression.“ Guyer, Paul, The transcendental deduction of the categories, in: The Cambridge Companion to Kant, Guyer, Paul (Hrsg.), Cambridge u. a.: Cambridge University Press 1992, S. 144.

3.4 Der dritte Paralogismus der Personalität

167

wir die zweite Beschränkung: Der vorgestellte Gegenstand muss von mir gedacht werden können. Was bedeutet es, dass etwas gedacht wird? Konrad Cramer interpretiert „etwas in mir“ im Satz „denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte“ als „mentales Ereignis“ oder „mentalen Zustand“, der in mir geschieht, bzw. als dasjenige, „was man in uns Vorstellung nennt.“136 Während ein äußere Erscheinung vorgestellt wird, d. h., während ich eine Vorstellung von einer äußeren Erscheinung habe, wird diese Vorstellung selbst, wie wir mehrmals erwähnt haben, durch sich selbst vorgestellt, was das Selbstbewusstsein im prägnanten Sinn bedeutet. Deshalb ist es unproblematisch zu sagen, dass eine Vorstellung vorgestellt wird. Außer dass die Vorstellung im Selbstbewusstsein unthematisch, d. h. peripher vorgestellt wird, kann sie darüber hinaus in der Reflexion thematisch vorgestellt werden. Aber eine gewaltige Schwierigkeit erhebt sich in Bezug darauf, dass eine Vorstellung gedacht wird. Nach Kramer meint Kant damit: Wenn die (vorgestellte) Vorstellung gedacht werden kann, weiß ich, „um was für eine Art von Vorstellung es sich bei einer Vorstellung handelt, von der ich vorstelle, dass ich sie habe.“137 Anders ausgedrückt, eine Vorstellung denken zu können, heißt, dass ich in der Lage bin, über die Vorstellung zu urteilen und zwar in der Form „»Ich weiß, dass ich ϕ«, wobei ϕ eine Prädikatenvariable ist, deren Werte Begriffe von Typen von Vorstellungen sind“.138 Aber gegen diese Lesart sprechen die folgenden Gründe: 1. Etwas zu denken ist nach Kant notwendig mit der Anwendung der Kategorien verbunden. D. h., das Denken wird von Kant nur im engeren Sinn, nämlich als kategoriales Denken verstanden. Da die Kategorien auf die Vorstellungen als solche, d. h. als mentale Zustände bzw. die Bestimmungen des Gemüts nicht angewendet werden können, wie wir im zweiten Kapitel ausführlich dargelegt haben, darf das „etwas in mir“ im Satz „denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte“ nicht als mentale Zustände bzw. Bestimmungen des Gemüts verstanden werden. Mit anderen Worten: Alles, was im strengen Sinn gedacht werden kann, kann nicht zur Innenwelt, sondern nur zur Außenwelt gehören. Das kategoriale Denken kann also Kant zufolge nur mit dem räumlich Vorgestellten bzw. Gegebenen verbunden werden.139 2. In der inneren Erfahrung ist zwar das Urteil 136 Cramer,

Konrad, Über Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellung begleiten können, in: Kramer, Konrad / Fulda, Hans Friedrich / Horstmann, Rolf-Peter / Pothast, Ulrich (Hrsg.), Theorie der Subjektivität, a. a. O., S. 182 f. 137 Ebd. S. 189. 138 Ebd. S. 191. 139 Dass nicht eine Vorstellung als solche, sondern nur ihr Gegenstand als das Vorgestellte gedacht werden kann, wird auch von Mohr übergesehen. Er schreibt: „Die Bedingung dafür,

168

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

über die Vorstellungen gefallen. Aber es handelt sich nach Kant im Urteil in der inneren Erfahrung gar nicht darum, was für eine Art von Vorstellung ich habe, sondern darum, dass der Vorstellung eine bestimmte Stelle in der Zeit zugeordnet wird. Wenn „etwas in mir“ im Satz „denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte“ nicht als Vorstellung als solche, d. h. nicht als „mentales Ereignis“ oder „mentaler Zustand“ verstanden werden darf, was ist die Alternative? Ist „etwas in mir“ nicht notwendig eine Vorstellung? Cramer weist darauf hin, dass Kants Formulierung „denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte“ grammatisch mehrdeutig ist. Man kann seine grammatische Form sowohl durch den Satz „Etwas wird in mir vorgestellt.“ als auch durch „Etwas in mir wird vorgestellt.“ ersetzen.140 Im ersten Satz bedeutet „in mir“ „von mir“. Das Etwas wird nicht von jemand anderem, sondern von mir vorgestellt. Entscheidend ist dabei, dass das Etwas selbst nicht „in mir“, d. h. nicht mein mentaler Zustand bzw. keine Bestimmung des Gemüts ist, obwohl die Vorstellung des Etwas dies ist. Mit anderen Worten, das Etwas selbst ist außer mir, nämlich das raum-zeitliche Phänomen. Im Vergleich dazu kann das Etwas im Satz „Etwas in mir wird vorgestellt.“ nur eine Vorstellung als mein mentaler Zustand bzw. die Bestimmung meines Gemüts sein. Was vorgestellt wird, ist also nicht etwas außer mir, sondern etwas in mir.141 Zusammengefasst: Laut der ersten Lesart ist nur die Vorstellung als mein Zustand in mir und ihr Gegenstand als das Vorgestellte nicht; laut der zweiten sind sowohl das Vorgestellte als auch die Vorstellung in mir, nämlich mein Zustand. Cramer lehnt die erste Leseart ab und nimmt die zweite an. Plausibler ist es gerade umgekehrt. Die Gründe, warum die zweite Leseart problematisch ist, sind oben ausgeführt worden. Was besagt es, dass der vorgestellte Gegenstand nicht gedacht werden könnte? Kant unterscheidet zwei Fälle von Denkbarkeit: Die Vorstellung von diesem Gegenstand „würde entweder unmöglich, oder wenigstens dass eine Vorstellung gedacht werden kann, ist nach Kant die, dass das »Ich denke« sie begleiten können muss. Erfüllt eine Vorstellung diese Bedingung, so gehört sie „zu [m]einem Selbstbewusstsein“ und ist daher „meine Vorstellung“. Nur dadurch kann demnach eine Vorstellung etwas vorstellen, was gedacht werden kann, dass ich sie »meine Vorstellung« nennen kann.“ (Mohr, Georg Das sinnliche Ich, a. a. O., S. 128.) Einerseits kann Mohr zufolge die Vorstellung als solche, d. h. die Vorstellung selbst gedacht werden. Andererseits soll das, was gedacht werden kann, das Etwas sein, was durch die Vorstellung vorgestellt wird. Es ist also ersichtlich, dass Mohr die beiden verschiedenen Fälle vermengt. 140 Cramer, Konrad Über Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellung begleiten können, a. a. O., S. 181 f. 141 Ebd. S. 182.

3.4 Der dritte Paralogismus der Personalität

169

für mich nichts sein“142 . Im ersten Fall wird der Gegenstand aus der Perspektive der formalen Logik betrachtet. D. h., es ist von seiner formal logischen Denkbarkeit die Rede. Derjenige Gegenstand, dessen Begriff sich selbst widerspricht, d. h. die minimale Bedingung der formalen Logik nicht erfüllen kann, kann nicht gedacht werden. Entsprechend würde seine Vorstellung unmöglich sein. Im zweiten Fall ist von der transzendentalen Logik als der Möglichkeitsbedingung der Objekterkenntnis die Rede. Es geht also um die transzendental logische Denkbarkeit des Gegenstands. In diesem engeren Sinn ist das Denken mit der Anwendung der transzendentalen Kategorien verbunden. Es ist hier demnach ausschließlich das kategoriale Denken gemeint. Derjenige Gegenstand, auf welchen die Kategorien nicht angewandt werden können, bzw. welcher sich den aus den Kategorien abgeleiteten Gesetzen nicht unterstellen lässt, kann nicht gedacht werden. In diesem erkenntnistheoretischen Kontext würde seine Vorstellung für mich nichts sein. Demnach ist sie für mich epistemisch irrelevant und kann kein Moment in der Erfahrung von den Gegenständen bilden. Aus ihr kann also keine Gegenstandserkenntnis im strengen Sinn werden. Die hier entwickelte These lautet also, dass eine echte oder berechtigte Selbstzuschreibung der Vorstellungen die Einstimmigkeit der Vorstellungen bzw. ihrer Inhalte voraussetzt. Wir erinnern uns daran, dass das Fazit aus unserer Untersuchung über Kants Kritik am zweiten Paralogismus der Einfachheit auch vom Zusammenhang zwischen der Selbstzuschreibung der Vorstellungen und ihrer synthetischen Einheit handelt: Die numerische Identität bzw. Einheit der Ichvorstellung, nämlich dieselbe Selbstzuschreibung der Vorstellungen, kann nicht dadurch garantiert werden, dass diese Vorstellungen in die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption gebracht werden können, bzw. ihre gegenständlichen Inhalte in die objektive zeitliche Einheit gebrachte werden können. Es ist ersichtlich, dass die beiden Thesen sich nicht widersprechen, sondern einander ergänzen. Kant ist also der Annahme, dass die synthetische Einheit der Vorstellungen keine hinreichende, sondern nur notwendige Bedingung für ihre Selbstzuschreibung ist. Betrachten wir, wie sich die Sachlage bei Einbildung und Einfühlung darstellt. Nach der obigen Annahme sollte ich nicht in der Lage sein, meine ehemalige Einbildung meinem Selbst berechtigt zuzuschreiben, weil ihr Inhalt mit den Inhalten meiner anderen Vorstellungen nicht in der synthetischen Einheit steht, so dass aus ihr keine Erkenntnis von Gegenständen werden kann. Mit anderen Worten: Ich kann nicht wirklich wissen, ob ich tatsächlich diese Vorstellung gehabt habe, sofern sie eine Einbildung ist. Dies mag überzeugend sein. Wie ist es mit 142 B

132.

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

der Einfühlung? Wir haben mehrmals erwähnt, dass das Verhältnis zwischen Vorstellung und Erscheinung als ihrem gegenständlichen Inhalt ein Vieles-zuEinem-Verhältnis ist. Eine und dieselbe Erscheinung kann sowohl von einem Subjekt zu verschiedenen Zeiten als auch von verschiedenen Subjekten vorgestellt werden. Deshalb ist es möglich, dass ich meine ehemalige Einfühlung als meine ehemalige Wahrnehmung verkenne. In dieser Einfühlung habe ich eine einem Anderen zugehörige Wahrnehmung vergegenwärtigt. Der Inhalt der fremden Vorstellung kann sehr wohl mit den Inhalten meiner anderen Vorstellungen in der synthetischen Einheit stehen. Deshalb ist es auch plausibel, dass die synthetische Einheit der Inhalte der Vorstellungen für ihre Selbstzuschreibung nicht hinreichend ist. Allein, indem ich ihren gegenständlichen Inhalt mit den gegenständlichen Inhalten meiner anderen Vorstellungen vergleiche, kann ich demnach nicht wirklich wissen, ob ich es war, der die Vorstellung hatte. Wir haben Kants Argument in der Deduktion der Kategorien in der BAuflage in folgender Weise zusammengefasst: Die Selbstzuschreibbarkeit der Vorstellungen beweist die synthetische Einheit der Vorstellungen bzw. ihrer (gegenständlichen) Inhalte, welche die Gültigkeit der Kategorien beweist. Dass Kant in dieser Argumentation von der Selbstzuschreibbarkeit der Vorstellungen ausgeht, bzw. dass er überzeugt ist, dass die synthetische Einheit der Vorstellungen bzw. ihrer (gegenständlichen) Inhalte durch die Selbstzuschreibbarkeit der Vorstellungen bewiesen werden kann, zeigt, dass er annimmt, dass die Selbstzuschreibbarkeit der Vorstellungen evidenter bzw. unbestrittener als die synthetische Einheit der Vorstellungen bzw. ihrer (gegenständlichen) Inhalte ist. Aber es ist ersichtlich, dass diese Annahme grundlos ist. Daraus ist zu entnehmen, dass der erste Schritt der kantischen Argumentation der Deduktion in der B-Auflage unnötig ist. Für die Deduktion der Kategorien ist der zweite Schritt der Argumentation ausreichend: Ohne die Anwendung der Kategorien können wir keine Erkenntnisse von Gegenständen im strengen Sinn erhalten. Anders gesprochen: Ohne die Anwendung der Kategorien sind die Zeitverhältnisse zwischen den Erscheinungen als die erste Art der gegenständlichen Einheit unbestimmbar – oder wie im zweiten Kapitel bereits formuliert: Ohne die Anwendung der Kategorien ist die Fundierung der objektiven Zeit auf der subjektiven Zeit unmöglich. Wir werden noch sehen, dass aus dem gleichen Grund Kants Argumentation in der „Widerlegung des Idealismus“ problematisch ist. Man kann die vorstehenden Betrachtungen über Kants Kritik am dritten Paralogismus der Persönlichkeit folgendermaßen zusammenfassen: Kant kritisiert zwei Versionen des Paralogismus der Personalität, von denen er die erste mit dem Paralogismus der Substantialität und die zweite mit dem Paralogismus der Einfachheit gleichsetzt. Deshalb ist Kants Diagnose über den Paralogismus der

3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität …

171

Persönlichkeit eine Zusammensetzung derjenigen Diagnosen, welche er über den ersten und zweiten Paralogismus gestellt hat. Einerseits wirft er dem rationalen Psychologen vor, die numerische Identität bzw. Einheit der Ichvorstellung, nämlich die vierte Art der von uns untersuchten Einheit der Vorstellung mit einer beharrlichen Einheit einer anschaulichen Vorstellung als eines inneren Phänomens zu verwechseln. Andererseits erhebt er den Vorwurf, dass der rationale Psychologe die notwendige Bedingung für die Identifikation der Ichvorstellung bzw. für dieselbe Selbstzuschreibung der Vorstellungen, nämlich dass die Vorstellungen in die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption gebracht werden können, bzw. dass ihre gegenständlichen Inhalte in die objektive zeitliche Einheit gebrachte werden können, als die hinreichende Bedingung dafür verkennt.

3.5

Der vierte Paralogismus der Idealität und die Widerlegung des Idealismus

„Dasjenige, auf dessen Dasein, nur als einer Ursache zu gegebenen Wahrnehmungen, geschlossen werden kann, hat eine nur zweifelhafte Existenz: Nun sind alle äußere Erscheinungen von der Art: dass ihr Dasein nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern auf sie, als die Ursache gegebener Wahrnehmungen, allein geschlossen werden kann: Also ist das Dasein aller Gegenstände äußerer Sinne zweifelhaft. Diese Ungewissheit nenne ich die Idealität äußerer Erscheinungen und die Lehre dieser Idealität heißt der Idealismus, in Vergleichung mit welchem die Behauptung einer möglichen Gewissheit von Gegenständen äußerer Sinne, der Dualismus genannt wird.“143

Mit diesem Schluss versucht die rationale Psychologie nach Kants Ansicht also zu beweisen, dass das Dasein aller Gegenstände äußerer Sinne zweifelhaft ist. In dieser Annahme scheint es gar nicht um eine vermeintliche wesentliche Eigenschaft des denkenden Wesens zu gehen. Aber eine Umformulierung dieser Annahme kann das Problem leicht lösen: Das denkende Wesen steht nur im zweifelhaften bzw. möglichen Verhältnis zu den Gegenständen im Raum, zu denen mein Körper gehört. Daraus soll der Ansicht der rationalen Psychologie zufolge zu entnehmen sein, dass „ich also bloß als denkend Wesen (ohne Mensch zu sein) existieren könne.“144 Kants Kritik am vierten Paralogismus lässt sich inhaltlich in drei Teile unterscheiden. Im ersten Teil weist Kant darauf hin, dass die äußeren Gegenstände 143 A 144 B

367. 409.

172

3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

unmittelbar wahrgenommen werden. D. h., die äußere Wahrnehmung beweist unmittelbar das Dasein ihres Gegenstands im Raum und dafür ist gar kein Schluss nötig. Der Untersatz im vierten Paralogismus wird also im ersten Teil der Kritik Kants eindeutig verneint, was Kants Kritik am vierten Paralogismus von der an den anderen drei unterscheidet. Im zweiten Teil handelt es sich um den Unterschied zwischen der äußeren Wahrnehmung vom Gegenstand und der Einbildung vom Gegenstand. Kant versucht darin zu zeigen, dass wir tatsächlich die äußere Wahrnehmung vom Gegenstand haben. Damit soll das Dasein der Gegenstände außer mir bewiesen werden. Der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Einbildung steht im Fokus der Kantischen Kritik am vierten Paralogismus in der ersten Auflage. Aber Kant ist wahrscheinlich mit seiner Erklärung des Unterschieds nicht zufrieden. Dies dürfte der Grund sein, warum er in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft den Abschnitt „Widerlegung des Idealismus“ als eine neue Fassung des vierten Paralogismus in der ersten Auflage eingefügt hat. Der Schwerpunkt unserer Überlegung ist, Kants Motiv der Überarbeitung konkret zu verstehen. Im dritten Teil seiner Kritik handelt es sich um den Obersatz im vierten Paralogismus. Kant zufolge kann man den Obersatz für richtig halten, nur insofern in ihm von dem transzendentalen Gegenstand, verstanden als Ding an sich, die Rede sein soll. In seiner Begründung dafür, dass das Dasein eines wirklichen Gegenstands außer mir unmittelbar wahrgenommen wird, geht Kant auf zwei verschiedene Aspekte ein. Obwohl sie auf keinen Fall miteinander identisch sind, betrachtet Kant sie offenbar als einerlei. Kant schreibt: „Denn weil er (sc. der transzendentale Idealist) diese Materie und sogar deren innere Möglichkeit bloß vor Erscheinung gelten lässt, die, von unserer Sinnlichkeit abgetrennt, nichts ist: so ist sie bei ihm nur eine Art Vorstellungen (Anschauung), […]“145 „Alle äußere Wahrnehmung also beweiset unmittelbar etwas Wirkliches im Raume, oder ist vielmehr das Wirkliche selbst und in sofern ist also der empirische Realismus außer Zweifel, d.i. es korrespondiert unseren äußeren Anschauungen etwas Wirkliches im Raume.“146

Im ersten Zitat lässt sich der Begriff „Erscheinung“ sehr unterschiedlich verstehen: 1. Die Erscheinung ist selbst eine Art Vorstellung. Deshalb ist sie von unserer Sinnlichkeit abhängig und kann von ihr abgesondert nicht sein. 2. Die Erscheinung ist nicht eine Art Vorstellung, sondern ein untrennbares Korrelat zu einer 145 A 146 A

370. 375.

3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität …

173

Vorstellung. Weil die Erscheinung nur als das Korrelat zur sinnlichen Vorstellung sein kann, ist sie, von unserer Sinnlichkeit abgetrennt, nichts. Dass eine Farbe ohne eine Ausdehnung nicht sein kann, gefährdet nicht, dass sie sich von der letzteren unterscheidet. Ebenso findet man im obigen zweiten Zitat zugleich diese beiden Ansichten. Einerseits identifiziert Kant die äußere Wahrnehmung als Vorstellung mit dem Wirklichen im Raum. Andererseits macht er deutlich, dass die äußere Wahrnehmung dem Wirklichen im Raum korrespondiert, was offensichtlich ausschließt, dass sie miteinander identisch sein können. D. h., dass die äußere Wahrnehmung als die sinnliche Vorstellung der Erscheinung als dem Wirklichen im Raum korrespondiert, bzw. dass sie als Korrelat einander gegenüberstehen, impliziert, dass sie miteinander nicht identisch sind. Erstaunlicherweise unterscheidet Kant in seiner Kritik am vierten Paralogismus diese beiden Ansichten gar nicht. Er vertritt oft an einer und derselben Stelle, wie die obigen beiden Zitate zeigen, diese beiden sich widersprechenden Ansichten, von denen die erstere als die Identifizierungsthese von Wahrnehmung und Erscheinung und die letztere als die Korrelationsthese von Wahrnehmung und Erscheinung bezeichnet werden kann. Kant nennt im Schlusssatz des vierten Paralogismus die Korrelationsthese von Wahrnehmung und Erscheinung „Dualismus“. Man kann so viele Textbeweise für die erstere wie für die letztere Ansicht finden. Als Beispiele für die Identifizierungsthese von Wahrnehmung und Erscheinung: „Ich habe in Absicht auf die Wirklichkeit äußerer Gegenstände eben so wenig nötig zu schließen, als in Ansehung der Wirklichkeit des Gegenstandes meines inneren Sinnes, (meiner Gedanken), denn sie sind beiderseitig nichts als Vorstellungen, deren unmittelbare Wahrnehmung (Bewusstsein) zugleich ein genügsamer Beweis ihrer Wirklichkeit ist.“147 „dahingegen in unserem System diese äußeren Dinge, die Materie nämlich, in allen ihren Gestalten und Veränderungen, nichts als bloße Erscheinungen, d.i. Vorstellungen in uns sind, deren Wirklichkeit wir uns unmittelbar bewußt werden.“148 „[…], und die Wirklichkeit im Raume, als einer bloßen Vorstellung, [ist] nichts anders als die Wahrnehmung selbst.“149

Diesen Zitaten zufolge sind die äußeren wirklichen Dinge als Erscheinungen also nichts anderes als Vorstellungen. Als Beispiele für die Korrelationsthese von Wahrnehmung und Erscheinung: 147 A

371. 372. 149 A 376. 148 A

174

3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

„[…], die Vorstellungen aber, welche ausgedehnte Wesen bezeichnen, [werden] auch auf den äußeren Sinn bezogen.“150 „Allein dieses Materielle oder Reale, dieses Etwas, was im Raum angeschaut werden soll, setzt notwendig Wahrnehmung voraus, […], welche die Wirklichkeit von Etwas im Raume anzeigt, […]“151 „Diese Wahrnehmung stellt also etwas Wirkliches im Raume vor.“152

Die äußeren wirklichen Dinge als Erscheinungen, welche von den Vorstellungen „bezeichnet“, „angezeigt“ und „vorgestellt“ werden und die Vorstellungen „voraussetzen“, können sich offensichtlich mit den Vorstellungen selbst nicht identifizieren. Es ist ersichtlich, dass die erste Ansicht Kants allgemeiner Lehre in der transzendentalen Ästhetik und Analytik widerspricht, die nur die zweite Ansicht unterstützt, wie wir im ersten und zweiten Kapitel ausgeführt haben. In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hat Kant den Abschnitt „Widerlegung des Idealismus“ als eine neue Fassung des vierten Paralogismus in der ersten Auflage eingefügt. In Kants Argumentation in der „Widerlegung des Idealismus“ spielt das Korrelationsverhältnis zwischen der Reihe von Vorstellungen und der von Erscheinungen eine zentrale Rolle. Daraus ist zu entnehmen, dass Kant in der neuen Fassung hinsichtlich der Natur der Erscheinung die erste Ansicht ablehnt und die zweite hervorhebt. D. h., Kant stellt in der neuen Fassung fest, dass die Erscheinung keine Art Vorstellung, sondern ein Korrelat zur Vorstellung ist. Diese Änderung ist sicherlich eine Verbesserung. Die Korrelationsthese ist jedoch in der ersten Auflage vorhanden, obwohl sie darin mit der falschen Identifizierungsthese verwoben ist. Deshalb dürfte diese Verbesserung nicht das entscheidende Motiv für Kants grundsätzliche Überarbeitung seiner Kritik des vierten Paralogismus sein. Selbst wenn man einräumt, dass die äußere Wahrnehmung das Dasein des Gegenstands im Raum unmittelbar beweist, könnte man noch das Dasein des Gegenstands im Raum bestreiten, weil es sein könnte, dass wir nur eine Einbildung vom Gegenstand haben. D. h., wir könnten in der Tat über keine Wahrnehmung vom Gegenstand verfügen. Um das Dasein des Gegenstands im Raum zu beweisen, versucht Kant im zweiten Teil seiner Kritik am vierten Paralogismus, diese Möglichkeit auszuschließen, was als der zweite Schritt seiner Argumentation dient. 150 A

371. 373. 152 A 374. 151 A

3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität …

175

Kants Einwand gegen die Möglichkeit, dass alle unsere Vorstellungen von Gegenständen nur Einbildungen sind, lautet, „dass ohne Wahrnehmung selbst die Erdichtung und der Traum nicht möglich seien.“153 Wenn es so wäre, hätte Kant bewiesen, dass wir in der Tat Wahrnehmungen haben. Niemand kann bestreiten, dass wir Vorstellungen von Gegenständen haben. Dass wir Vorstellungen von Gegenständen haben, würde implizieren, dass manche von ihnen Wahrnehmungen von Gegenständen sind, bzw. dass nicht alle von ihnen Einbildungen von Gegenständen sind, sofern die trüglichen Vorstellungen nur aus Wahrnehmungen entspringen könnten. Die Einbildung setzt Kant zufolge deswegen die Wahrnehmung voraus, weil die Empfindungen, welche als die unentbehrliche Basis dazu dienen, dass manche Gegenstände in der Einbildung gedichtet werden können, nur durch Wahrnehmungen gegeben werden können.154 Diese Begründung ist jedoch nicht befriedigend. Man kann einräumen, dass die Empfindungen notwendig mit der Wahrnehmung verbunden sind und deshalb nur mit ihr zusammengegeben werden können. Es ist ferner kaum zu bestreiten, dass auch die Einbildung ihre Basis braucht, welche die gleiche Rolle für die Einbildung wie die Empfindungen für die Wahrnehmung spielt. Aber es ist nicht plausibel, dass die eigene Basis bzw. der eigene Anhaltspunkt in der Einbildung auch die Empfindungen sein muss oder letztere voraussetzt. Husserl nennt die in Rede stehende Basis in der Einbildung „Phantasmen“155 und unterscheidet sie von den „Empfindungen“ in der Wahrnehmung. In der Widerlegung des Idealismus findet man den gleichen Grund: Die Einbildung ist „bloß durch die Reproduktion ehemaliger äußerer Wahrnehmungen“156 möglich. Wie bereits erläutert ist daraus zu entnehmen, dass mein Vorstellungsstrom nicht nur aus Einbildungen bestehen kann. Aber der Grund selbst ist nicht überzeugend. Kant glaubt jedoch, dass die bloße Rezeptivität der äußeren Wahrnehmung sich von der Spontaneität der Einbildung unterscheidet.157 Der neue Grund scheint auch nicht hilfreich zu sein, weil die Rezeptivität auch jede Halluzination charakterisiert. Deshalb kann man sie allein dadurch von der äußeren Wahrnehmung nicht unterscheiden. Es lässt sich vermuten, dass Kant mit seinem Beweis im zweiten Teil seiner Kritik am vierten Paralogismus in der A-Auflage, dass manche unserer Vorstellungen Wahrnehmungen seien, um zu widerlegen, dass alle unsere Vorstellungen 153 A

377. 374. 155 Hua XIX, LU, A 468 / B 504. 1 156 B 278. 157 B 277. 154 A

176

3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Einbildungen sein könnten, nicht zufrieden ist. Dies dürfte der entscheidende Grund sein, warum er in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft den Abschnitt „Widerlegung des Idealismus“ in einer neuen Fassung des vierten Paralogismus aus der ersten Auflage eingefügt hat, weil genau eine neue Argumentation dafür, dass manche unserer Vorstellungen Wahrnehmungen sind, in der neuen Fassung geboten werden soll. Kant argumentiert in der „Widerlegung des Idealismus“, dass die Möglichkeit der inneren Erfahrung, welche besagt, dass ich die zeitliche Stelle der Vorstellungen bestimmen kann, nicht erklärt werden könnte, wenn alle meine Vorstellungen Einbildungen wären. Wir werden bald sehen, dass diese neue Argumentation sehr problematisch ist. Wir haben im ersten Kapitel erörtert, dass die Inhalte der Vorstellungen Kant zufolge als objektive Realität angesehen werden, wenn sie miteinander im gesetzmäßigen Zusammenhang stehen. Dies impliziert, dass die Vorstellungen als Wahrnehmungen angesehen werden, wenn ihre gegenständlichen Inhalte miteinander im gesetzmäßigen Zusammenhang stehen. Die Wahrnehmungen können sich also durch den gesetzmäßigen Zusammenhang ihrer gegenständlichen Inhalte doch von den Einbildungen unterscheiden. Die folgende Überlegung wird zeigen, dass wir mit der These zufrieden sein müssen. Manchmal habe ich keine Wahrnehmung, sondern nur eine Halluzination von der Außenwelt. Warum kann es nicht immer so sein? Warum kann die Außenwelt nicht das Produkt einer Super-Einbildungskraft sein, die nicht nur mannigfaltige Erdichtungen, sondern auch gesetzmäßige Halluzinationen produziert? In diesem Fall kann diejenige Vorstellung, deren Inhalt bzw. deren Gegenstand sich nicht dem allgemeinen Gesetz unterstehen lässt, als Halluzination 2.0 bezeichnet werden. Zu dieser Hypothese haben wir das folgende zu sagen. Diejenige Vorstellung, deren Gegenstand in einer notwendigen Regel und Ordnung steht, „definieren“ wir Kant zufolge als Wahrnehmung, und sonst als Halluzination. In Übereinstimmung damit betont Husserl: „Konsequente Halluzination ist keine Halluzination mehr. Wenn ich immerfort wahrnehme und meine Wahrnehmungen unbestritten zusammenhängen würden, so hatte ich eine Wahrnehmungswelt, und sie wäre wirkliche Wahrnehmungswelt, sie hätte ihr Recht in dem Sinne, wie phänomenale Wirklichkeit ihr Recht hat.“158 Die Hypothese, diejenigen Vorstellungen, deren Inhalte in einer notwendigen Regel und Ordnung stehen, als Halluzination und die anderen, deren Inhalten es an bezüglicher Gesetzmäßigkeit mangelt, als Halluzination 2.0 zu bezeichnen, ist gegen das Sparsamkeitsprinzip und führt auch zu infinitem Regress. Wenn es möglich wäre, dass eine SuperEinbildungskraft die ganze äußere Welt produzierte, wäre es auch möglich, dass 158 Kern,

Iso, Husserl und Kant, a. a. O., S. 172.

3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität …

177

eine Super-Ur-Einbildungskraft produziert, dass eine Super-Einbildungskraft die ganze äußere Welt produziert. Und so weiter. Drittens stammt diese Hypothese aus einer Anwendung der Kategorien von Ursache und Wirkung, die aber nicht legitim ist. Die Ursache einer Erscheinung kann nicht eine Super-Einbildungskraft, die hinter oder außer der Reihe von Erscheinungen ist, sondern nur eine andere Erscheinung in der Reihe von Erscheinungen sein. Dem problematischen Skeptizismus nach kann die Einbildungskraft die Ursache der Wahrnehmung sein. Man hat die unvermeidliche, obzwar nicht unauflösliche Neigung zu fragen: Woher kommt die Wahrnehmung? Was ist die Ursache oder der Grund der Wahrnehmung? Manchmal nimmt Kant an, es könne nur so sein, dass die Wahrnehmung das Resultat der Affektion des äußeren Gegenstands sei, wie Guyer prägnant zusammenfasst: „the explanation of our mere possession of spatial representation, whatever their use, implies the existenz of objects distinct from a passive self but capable of affecting it.“159 Obwohl diese beiden Antworten, dass die Ursache der Wahrnehmung entweder die Einbildungskraft oder die Affektion des äußeren Gegenstands ist, sehr unterschiedlich zu sein scheinen, sind sie wesentlich einerlei und begehen den gleichen Fehler. Was wir tun sollen, besteht nicht darin, eine plausible Antwort auf die Frage, was die Ursache oder der Grund der Wahrnehmung ist, zu finden, sondern darin, diese Frage selbst zu analysieren und zu verstehen. Eigentlich ist sie sinnlos und darf deswegen nicht gestellt werden. Der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Einbildung lässt sich nicht von ihren scheinbar verschiedenen „Ursachen“ oder von ihrer „Herkunft“ her, bzw. daraus, dass die eine von einer äußerlichen Affektion und die andere von keiner äußerlichen Affektion verursacht würde, erklären, sondern ausschließlich in ihnen selbst bzw. in ihrer Wesensstruktur begründen. Ebenso geht es in der äußeren Erfahrung nur um die gegebenen Erscheinungen und deren Zusammenhänge, anstatt um die hinter oder außer dem Gebiet des Gegebenen liegende „Ursache“. Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass alles, was wir hinsichtlich der Erklärung der Erkenntnis brauchen und wonach wir sinnvoll fragen können, sich überhaupt von der Beschreibung des innerlichen und äußerlichen Gegebenen ableitet. Dies ist Husserl zufolge „das Prinzip aller Prinzipien“: Die Rechtsquelle der Erkenntnis ist die originäre Gegebenheit.160 Jetzt kommen wir zum dritten Teil von Kants Kritik am vierten Paralogismus in der A-Auflage. Kant hält es für absurd, das Verhältnis zwischen einer Wahrnehmung und ihrem Gegenstand im Raum als Kausalitätsverhältnis zu betrachten. 159 Guyer,

Paul, Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 1987, S. 318. 160 Hua III, Ideen I, S. 44.

178

3

Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

In Hinsicht auf die Erklärung der Gemeinschaft zwischen Seele und Materie stammen alle vermeintlichen Schwierigkeiten Kant zufolge nur daraus, dass man diese Gemeinschaft fälschlich durch ein Modell von Kausalität zu erklären versucht. Die Kausalität, welche sich nur als ein Verhältnis zwischen den äußerlichen Erscheinungen findet, ist deshalb notwendig mit „Ort, Bewegung, Gestalt oder Raumesbestimmung“161 verbunden. Die inneren Erscheinungen, aus denen die Seele besteht, und die äußerlichen Erscheinungen sind „höchst ungleichartig“162 . D. h., diejenigen Bestimmungen, welche die äußerlichen Erscheinungen kennzeichnen und mit welchen die Kausalität notwendig verbunden ist, haben nichts mit den inneren Erscheinungen zu tun. Deshalb führt der Versuch, die äußerliche Erscheinung als eine Ursache und die innere Erscheinung als ihre Wirkung zu betrachten, nur zu Widersinn. Jedoch glaubt Kant im dritten Teil seiner Kritik am vierten Paralogismus in der A-Auflage, dass das Verhältnis zwischen dem Gegenstand im Raum als Erscheinung und dem ihr zugrunde liegenden transzendentalen Objekt ein Kausalitätsverhältnis sein kann.163 Weil das transzendentale Objekt durch keine mögliche Erfahrung gegeben werden kann, d. h. es „im transzendentalen Verstande außer uns sein mag“164 , könnten wir nur aus der Erscheinung als der Wirkung auf das transzendentale Objekt als die Ursache schließen. Deshalb sei im Obersatz des vierten Paralogismus „Dasjenige, auf dessen Dasein, nur als einer Ursache zu gegebenen Wahrnehmungen, geschlossen werden kann, hat eine nur zweifelhafte Existenz“ nur vom transzendentalen Objekt die Rede, sofern der Obersatz für richtig gehalten werden könnte. In diesem Kontext meint Kant mit dem transzendentalen Objekt offenkundig nur das Ding an sich bzw. „Noumenon“. Allerdings muss man unter dem Ausdruck der „gegebenen Wahrnehmungen“ im Obersatz die Erscheinungen, nämlich das gegebene Wahrgenommene verstehen. Da Kant genau genommen die Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung und dem Wahrgenommenen nicht streng und konsequent einhält, ist dies kein Problem. Im dritten Teil seiner Kritik formuliert Kant einmal so: „Nun kann man zwar einräumen, dass von unseren äußeren Anschauungen etwas, was im transzendentalen Verstande außer uns sein mag, die Ursache sei, […]“165 und einmal so: „Das transzendentale Objekt, welches den äußeren Erscheinungen 161 A

387. 386. 163 A 380. 164 A 372. 165 A 372. 162 A

3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität …

179

zum Grunde liegt, […], ist […] ein uns unbekannter Grund der Erscheinungen, […]“166 Er unterscheidet in seiner Ausdrucksweise demnach also die Erscheinung als das Angeschaute bzw. das Wahrgenommene nicht von der Anschauung bzw. der Wahrnehmung. Derjenige Gegenstand, welcher aus der Sicht der rationalen Psychologie nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, sondern geschlossen werden muss, ist der Gegenstand im Raum. Über das transzendentale Objekt, welches dem Gegenstand im Raum als dessen Ursache zugrunde liegen soll, hat die rationale Psychologie gar nicht geurteilt und es ist auch plausibel, dass sie davon sogar keinen Begriff hat. Deshalb ist nicht klar, was der dritte Teil von Kants Kritik am vierten Paralogismus beitragen kann. Tatsächlich ist er ziellos, geschweige dass die Anwendung der Kategorie der Kausalität auf das transzendentale Objekt als Ding an sich im Rahmen der kantischen Theorie nicht akzeptabel ist. Diese Anwendung würde vielmehr dazu führen, dass eine äußerliche Erscheinung zwei (ungleichartige) Ursachen haben würde, nämlich das transzendentale Objekt als Ding an sich und eine andere vorherige, äußerliche Erscheinung. In der „Widerlegung des Idealismus“ kann man keinen, dem dritten Teil in Kants Kritik am vierten Paralogismus in der A-Auflage entsprechenden Abschnitt finden. Es ist also in Kants Umarbeitung vom transzendentalen Objekt als Noumenon keine Rede mehr. Dies ist Kants zweite Verbesserung seiner Kritik am vierten Paralogismus. Wir haben die gleiche Sachlage in Kants Umarbeitung seiner Kritik am ersten und zweiten Paralogismus gefunden. Konkreter gesprochen: In Kants Kritik an den drei Paralogismen in der A-Auflage finden wir, dass er von einem transzendentalen Objekt als Substratum oder Noumenon redet, welches als Ursache bzw. Grund entweder hinter den äußeren Erscheinungen oder hinter den Vorstellungen als den inneren Phänomenen fungiert. In der Version seiner Kritik in der B-Auflage kann keine entsprechende Erörterung über das transzendentale Objekt als Substratum oder Noumenon gefunden werden. Kant streicht also die Konzeption vom transzendentalen Objekt als Substratum oder Noumenon, welches als Ursache bzw. Grund entweder hinter den äußeren Erscheinungen oder hinter den Vorstellungen als den inneren Phänomenen fungiert, völlig weg. Was Kant in „Widerlegung des Idealismus“ zu beweisen versucht, ist die durch den folgenden „Lehrsatz“ formulierte These: „Das bloß, aber empirisch bestimmte Bewusstsein meines eigenen Daseins beweiset das Dasein der Gegenstände im

166 A

380.

180

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Raum außer mir.“167 Kant identifiziert diese These damit, dass die innere Erfahrung die äußere Erfahrung voraussetzt, und baut seinen Beweis darauf, dass „Alle Zeitbestimmung etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus[setzt].“168 Durch den inneren Sinn bin ich mir meiner Vorstellungen, nämlich meiner inneren Zustände, bewusst. Weil alle meine Vorstellungen „sehr wandelbar und wechselnd“169 sind, kann ich mir in jedem Moment durch den inneren Sinn nur einer meiner Vorstellungen bewusst sein. Deshalb ist außer dem inneren Sinn die reproduktive Einbildungskraft nötig, die die vorher gegebenen und nicht mehr gegenwärtigen Vorstellungen reproduziert bzw. vergegenwärtigt, damit ich mir der Sukzession, nämlich des Wandels meiner Vorstellungen in der Zeit bewusst sein kann. Dass ich mir der Sukzession meiner Vorstellungen in der Zeit bewusst sein kann, setzt außer dem inneren Sinn und der reproduktiven Einbildungskraft nichts voraus. Die Art meiner Vorstellungen in der Sukzession, nämlich ob sie Wahrnehmung, Einbildung, Halluzination oder Einfühlung sind, spielt daher keine Rolle, geschweige irgendein Beharrliches. Selbst wenn mein Vorstellungsstrom nicht aus Wahrnehmungen bestehen würde, bzw. wenn ich von äußeren Dingen keine Erfahrung, sondern bloß Einbildungen hätte, könnte ich mir dennoch der Sukzession meiner Vorstellungen in der Zeit bewusst sein. So kann z. B. im Traum die Sukzession meiner Vorstellungen in der Zeit auch bewusstwerden. Nach der vorstehenden Darstellung ist es klar: Was Kant mit „dem bloß, aber empirisch bestimmten Bewusstsein meines eigenen Daseins“ meint, bzw. was „die innere Erfahrung“ bedeutet, ist mehr als das Bewusstsein der Sukzession meiner Vorstellungen in der Zeit, weil die Möglichkeit des ersteren mehr Bedingungen als die Möglichkeit des letzteren verlangt. Kant schreibt, „Allein ich bin mir meines Daseins in der Zeit durch innere Erfahrung bewusst, und dieses ist mehr als bloß mich meiner Vorstellung bewusst zu sein“170 . Um Kants Argument in der „Widerlegung des Idealismus“ zu verstehen, ist es entscheidend zu verstehen, was es besagt, dass das empirisch bestimmte Bewusstsein meines eigenen Daseins bzw. die innere Erfahrung etwas mehr als das Bewusstsein der Sukzession meiner Vorstellungen in sich enthält. Mein eigenes Dasein ist nichts anderes als der Fluss meiner Vorstellungen. Der Gegenstand der inneren Erfahrung, nämlich das empirische Selbst, ist kein Produkt der Hypostasierung aufgrund der inneren Anschauung, sondern einfach mit

167 B

275. 275. 169 B XLI. 170 B XL. 168 B

3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität …

181

der (zeitlich bestimmten) Sukzession der Vorstellungen identisch.171 Was durch den inneren Sinn gegeben wird, ist kein Gegenstand, sondern nur eine Vorstellung als solche. Wie Allison betont, „Once again, all that we inwardly intuit is the appearing (to ourselves) of our own representations.“172 Man kann beispielsweise zwar sowohl „die Wahrnehmung von dem Tisch“ als auch „die(selbe) Wahrnehmung von dem empirischen Selbst“ sagen. Aber diese beiden „von“ bzw. was sie bezeichnen, nämlich die Beziehung der Wahrnehmung auf den Tisch und die Beziehung derselben Wahrnehmung auf das empirische Selbst, müssen sehr unterschiedlich sein. Die äußere Wahrnehmung ist von ihrem Gegenstand. Sie richtet sich auf den Gegenstand und stellt direkt den Gegenstand dar. Ihr Gegenstand wird dadurch als ihr untrennbares Korrelat vorstellig. Aber das Verhältnis zwischen einer Vorstellung und dem empirischen Selbst ist ganz anders als das intentionale Verhältnis. Man darf nicht im gleichen Sinn sagen, die Vorstellung ist von dem empirischen Selbst und stellt das empirische Selbst als ihr Korrelat dar. In jedem Moment sind sie einfach miteinander identisch. Es ist besser, das zweite „von“ durch „gehören zu“ bzw. „in“ zu ersetzen. Wir haben dieses Verhältnis als das Verhältnis von Bestandstück und Ganzem bezeichnet. Kant betont, der innere Sinn gebe keine Anschauung von einem Objekt, sondern nur die anschauliche Vorstellung selbst bzw. als solche.173 Eigentlich ist das empirische Selbst nur ein Begriff von Haufen. Abgesehen von der Ungleichartigkeit der Verknüpfungsweise ist das Verhältnis zwischen einer einzelnen Vorstellung und dem empirischen Selbst als einer Sequenz von Vorstellungen ähnlich wie das zwischen einem einzelnen Apfel und einem Haufen Äpfeln. Es gibt also keine Vorstellung von dem empirischen Selbst, sondern nur Vorstellung im empirischen Selbst bzw. als das empirische Selbst. Die Sachlage wird auch von Hume durch seine berühmte Sätze beschrieben: „When I enter most intimately into what I call myself , I always stumble upon some particular impression…I never catch myself at any time without am impression, and can never perceive anything but the impression.“174 Wir können die Sachlage mit einem Zitat von Allison zusammenfassen: „Accordingly, the self cannot be said to appear to itself through inner sense; rather what appears to it are its representations of outer objects, which through a reflexive act are taken as its representations in the possessive sense

171 Vgl.

„Denn alle Bestimmungsgründe meines Daseins, die in mir angetroffen werden können, sind Vorstellungen, […]“ (B XXXIX Anm.) 172 Allison, Henry, Kant’s Transcendental Idealism, a. a. O., S. 299. 173 A 22/B 37. 174 Hume, David, A Treatise of Human Nature, a. a. O., S. 165.

182

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

of belonging to itself rather than in the intentional sense as representation of itself .“175 Die innere Erfahrung ist allerdings nicht nur die Sukzession meiner Vorstellungen, sondern die zeitlich bestimmte, d. h. geordnete Sukzession meiner Vorstellungen. Dass ich mir der Sukzession meiner Vorstellungen in der Zeit bewusst bin, bedeutet nicht, dass ich jeder meiner Vorstellungen eine eindeutig bestimmte Stelle in der Zeit zuordnen kann, bzw. dass ich objektiv über ihre Zeit-Stelle urteilen kann. Was Kant mit „dem bloß, aber empirisch bestimmten Bewusstsein meines eigenen Daseins“ bzw. mit der inneren Erfahrung meint, ist das Letztere. Dass die innere Erfahrung als die empirische Erkenntnis vom empirischen Selbst sich vom empirischen Bewusstsein vom empirischen Selbst unterscheidet, wird von Kant auch in R 6313 betont, wo er im Vergleich zur gewöhnlichen Unterscheidung vom transzendentalen und empirischen Bewusstsein meiner selbst eine dreifache Unterscheidung hervorhebt: „Bei dem Unterschiede des Idealismus und Dualismus ist zu unterscheiden: 1. das transzendentale Bewusstsein meines Daseins überhaupt. 2. meines Daseins in der Zeit, folglich nur in Beziehung auf meine eigenen Vorstellungen, so fern ich durch dieselbe mich selbst bestimme. Dieses ist das empirische Bewusstsein meiner selbst. 3. Das Erkenntnis meiner selbst als in der Zeit bestimmten Wesens. Dies ist die empirische Erkenntnis.“176

Diese Unterscheidung zwischen dem empirischen Selbstbewusstsein und der empirischen Selbsterkenntnis ist entscheidend für Kants Argument gegen den problematischen Idealismus. Alle meine Vorstellungen können durch den inneren Sinn gegeben bzw. bewusstwerden. Obwohl sie sehr wandelbar und wechselnd sind, sind sie durch die reproduktive Einbildungskraft reproduzierbar. Jetzt reproduziere bzw. vergegenwärtige ich zwei Vorstellungen (V1 und V2 ), die vorher gegeben wurden und nicht mehr gegenwärtig sind. Wie kann jeder von ihnen eine bestimmte Stelle in der Zeit zugeordnet werden? Wie kann ich wissen, dass V1 zeitlich vor V2 und nicht umgekehrt war? David Hume würde antworten, dass wir nach dem Kriterium von „lively and vivid“ ihre Zeit-Stellen bestimmen können. Diejenige, die „more lively and vivid“ ist, war zeitlich nach der anderen. Mit anderen Worten,

175 Allison, Henry,

Kant’s Transcendental Deduction, Oxford: Oxford University Press 2015, S. 395. 176 R 6313, 18:615.

3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität …

183

nach Hume gibt es in Hinsicht auf die Lebendigkeit der Vorstellung einen phänomenologischen Unterschied zwischen den Vorstellungen, der für die Bestimmung der Zeit-Stellen der Vorstellungen als Norm dienen kann. Kants Antwort ist anders: Wir können ihre Zeit-Stellen durch ihre gegenständlichen „Inhalte“ bestimmen und dies ist auch von der Art der Vorstellungen abhängig. Wenn V1 und V2 äußere Wahrnehmung sind, sind ihre gegenständlichen „Inhalte“ die Erscheinungen, die als ihre Gegenstände bzw. ihre Korrelate notwendig mit ihr verbunden sind, wie wir im ersten und zweiten Kapitel ausführlich dargelegt haben. Die Zeit-Stellen aller Erscheinungen sind bestimmt. Vermittelst der Korrelation meiner Vorstellungen zu den Erscheinungen können auch die Zeit-Stellen meiner Vorstellungen bestimmt werden. Es stellt sich daher die Frage: Warum müssen V1 und V2 (äußere) Wahrnehmung sein, damit ihre Zeit-Stellen durch ihre gegenständlichen Inhalte bestimmbar sind? Mit anderen Worten, warum sind ihre Zeit-Stellen durch ihre gegenständlichen Inhalte nicht bestimmbar, wenn sie Einbildung sind? Man kann nicht bestreiten, dass jede Einbildung wie jede Wahrnehmung auch ihren gegenständlichen Inhalt bzw. ihren Gegenstand hat, der als ihr Korrelat notwendig mit ihr verbunden ist. Wenn ich mir etwas einbilde, ist das Etwas nicht nichts und meine Einbildung nicht inhaltlich leer. Kann ich die Zeit-Stellen von zwei Einbildungen durch ihre gegenständlichen Inhalte bzw. durch ihre Gegenstände bestimmen? Die Antwort muss verneinend ausfallen. Der Grund besteht darin, dass die Zeit-Stellen der Inhalte bzw. der Gegenstände der Einbildungen selbst nicht bestimmt sind. Deshalb ist es unmöglich, jeder der Einbildungen eine bestimmte Stelle in der Zeit durch ihre Inhalte zuzuordnen. Kant betont, was das empirisch bestimmte Bewusstsein meines eigenen Daseins ermögliche, sei Erfahrung und nicht Erdichtung, der äußere Sinn und nicht die Einbildungskraft.177 Die Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand ist einzigartig und keineswegs mit irgendeiner Beziehung zwischen zwei Gegenständen vergleichbar. Die Vorstellung darf nicht als psychisches Bild ihres Gegenstandes betrachtet werden. Trotzdem kann die folgende Metapher Kants Überlegung gut andeuten. Wenn ich einen Film anschaue, schaue ich statt einer Reihe von Bildern eine Geschichte an, die aus einer Reihe von Episoden bzw. Ereignissen besteht. Aber inzwischen kann ich „reflektieren“, d. h. diese Reihe von Bildern selbst zu Gegenständen machen. Ich richte meine Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Geschichte, nämlich auf die Reihe von Ereignissen, sondern auf die Reihe von Bildern. Wenn jemand

177 B

XL.

184

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den Film in einen Haufen von Bildern geschnitten hat, wie kann ich sie wieder zeitlich ordnen? Ich kann den Bildern eine zeitliche Reihe zuordnen, indem dass ich ihre Inhalte, d. h. die von ihnen vorgestellten Episoden bzw. Ereignisse und deren Zusammenhänge vergleiche. Wenn diese Ereignisse zusammenhanglos und chaotisch sind, kann ich durch den Vergleich der Ereignisse die Zeitstellen der jeweiligen Bildsequenzen jedoch nicht bestimmen. Entsprechend kann ich durch den Vergleich der gegenständlichen Inhalte bzw. der Gegenstände meiner Einbildungen die Sukzession meiner Einbildungen als solchen auch nicht bestimmen, weil diese Gegenstände nicht wie die Gegenstände meiner Wahrnehmungen zeitlich bestimmt sind. Dabei sollten zwei Missverständnisse aufgeklärt werden. Paul Guyer hat darauf hingewiesen, dass die Zeit-Stellen von zwei Vorstellungen bestimmt werden können, „only if they are judged to be severally simultaneous with the severally successive states of some enduring object.“178 Aber er glaubt, dass diese Korrespondenz der Vorstellung und der Erscheinung auf der Kausal-Relation zwischen der Vorstellung und der Erscheinung beruht.179 Wenn es so wäre, würde Kants Kritik an dem problematischen Idealismus, der wegen der Unzuverlässigkeit des Schlusses aus der Vorstellung als der gegebenen Wirkung auf ihren Gegenstand als die bestimmte Ursache die Existenz der Dinge im Raum für zweifelhaft hält, nicht darin bestehen, dass das Verhältnis zwischen der Vorstellung und ihrem Gegenstand auf keinen Fall eine Kausal-Relation ist, sondern darin, dass der Kausal-Schluss aus der Vorstellung auf ihren Gegenstand nötig und unbezweifelbar ist. Was Kant tatsächlich zeigt, ist, dass dieser Kausal-Schluss nicht nur unnötig, sondern auch widersinnig ist. Man hat die Neigung zu glauben, dass das Ding an sich als Noumenon die (unerkennbare) Ursache der Erscheinung ist und die Erscheinung die Ursache der ihr entsprechenden Vorstellung ist und die Erscheinung zugleich auch die Ursache der ihr folgenden, nächsten Erscheinung ist, als ob die Kategorie der Ursache ein universales Heilmittel wäre, das alles erklären könnte. Aus der falschen Behauptung, die Zeitbestimmung meiner Vorstellungen „depends on the causal relation of the successive states of the enduring objects to the sucessive states of the self“180 , schließt Guyer, dass das beharrliche Objekt ontologisch unabhängig von dem empirischen Selbst bzw. seinen Vorstellungen ist, weil das beharrliche Objekt sich zum Selbst kausal verhält. Diese Konklusion der ontologischen Unabhängigkeit scheint zu stark zu sein. Daraus, dass A und B miteinander korrelieren, ist 178 Guyer,

Paul, Kant and the Claims of Knowledge, a. a. O., S. 306. S. 308. 180 Ebd., S. 309. 179 Ebd.,

3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität …

185

nur gültig zu schließen, dass sie sich numerisch oder ontologisch voneinander unterscheiden, anstatt dass sie voneinander unabhängig und trennbar sind. Übrigens ist diese Korrelation alles, was Kants Argumentation braucht. Die Annahme der ontologischen Unabhängigkeit ist dafür gar nicht nötig. Jonathan Vogel argumentiert, „there is no reason why time-determination has to proceed by establishing correlations between one’s particular mental states and other states numerically distinct from them. Instead, awareness of the mental states themselves might be sufficient.“181 Demnach können die verschiedenen Inhalte meiner inneren Zustände unmittelbar bewusst werden und dadurch können die Zeit-Stellen meiner Zustände direkt bestimmt werden. Aber in diesem Verfahren sind meine Vorstellung als mein innerer Zustand und die Erscheinung als ihr Inhalt bzw. ihr Gegenstand bereits miteinander korreliert worden. Wir haben diesbezüglich im ersten Kapitel Husserls Annahme zitiert: „Ist dieses Erlebnis präsent, so ist eo ipso, das liegt, betone ich, an seinem eigenen Wesen, die intentionale ‚Beziehung auf einen Gegenstand‘ vollzogen, eo ipso ist ein Gegenstand ‚intentional gegenwärtig‘; denn das eine und andere besagt genau dasselbe.“182 Dass die Inhalte meiner Vorstellungen unterschiedlich sind, bedeutet nichts anderes, als dass ihre Gegenstände, nämlich die ihnen korrespondierenden Erscheinungen, unterschiedlich sind. Der (intentionale) Inhalt meiner Vorstellung ist einfach mit ihrem intentionalen Gegenstand, nämlich dem Gegenstand, so wie er durch die Vorstellung dargestellt wird, identisch. Außerdem kann man in der Vorstellung nichts Erkennbares und Vergleichbares als ihren Inhalt finden. Wir haben dies im ersten und zweiten Kapitel ausführlich untersucht. Bisher ist gezeigt worden, dass die Zeit-Stellen meiner Vorstellungen nur bestimmbar sind und zwar durch ihre Korrelation zu ihren gegenständlichen Inhalten bzw. ihren Gegenständen, sofern sie Wahrnehmungen sind, weil die Gegenstände der Wahrnehmungen, nämlich die Erscheinungen, zeitlich bestimmt sind. Kants Argumentation für die These, „Das bloß, aber empirisch bestimmte Bewusstsein meines eigenen Daseins beweiset das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir.“ bzw. dass die innere Erfahrung die äußere Erfahrung voraussetzt, scheint vollständig und überzeugend zu sein. (Wir haben im ersten Kapitel erwähnt, dass Kant das Dasein bzw. die objektive Realität der Außenwelt mit dem objektiven zeitlichen Zusammenhang der Erscheinungen identifiziert.) Warum braucht man dazu noch irgendein Beharrliches? Wie ist es zu verstehen, dass

181 Vogel, Jonathan, The Problem of Self-Knowledge in Kant’s “Refutation of Idealism”: Two

Recent Views, in: Philosophy and Phenomenological Research 53 (1993), S. 875–887, S. 885. XIX, LU, A 352 / B1 373.

182 Hua

186

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Kants Kritik an der rationalen Psychologie …

Kant die These, dass „[a]lle Zeitbestimmung etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus[setzt]“, als einen unentbehrlichen Bestandteil in seiner Widerlegung des Idealismus betrachtet? Das Beharrliche kann weder eine Vorstellung im empirischen Selbst noch das empirische Selbst als die zeitlich bestimmte Sukzession von Vorstellungen selbst sein. Kant betont, alle unsere Vorstellungen als solche sind „sehr wandelbar und wechselnd“183 . „[I]n dem was wir Seele nennen, ist alles im kontinuierlichen Flusse und nichts Bleibendes“184 . Man könnte daher vermuten, dass ein Gegenstand im Raum das Beharrliche sein mag. Die Existenz der Gegenstände im Raum ist eben Kants Beweisziel. Aber das in Rede stehende Beharrliche kann nicht irgendein Gegenstand im Raum sein. Die Existenz der Gegenstände im Raum ist nichts anderes als eine objektive Erfahrungswirklichkeit, in der allen Erscheinungen eine eindeutig bestimmte Stelle zugewiesen wird, und setzt deshalb selbst nach der zu beweisenden These, dass alle Zeitbestimmung etwas Beharrliches voraussetzt, das Beharrliche voraus. Was Kant mit dem Beharrlichen meint, muss also von dem Dauernden des Gegenstandes im Raum unterschieden werden. Tatsächlich bezeichnet Kant alle Gegenstände im Raum als Erscheinungen nicht als „das Beharrliche“, sondern nur als „das Wandelbare“.185 Der nächste Schritt der Argumentation Kants ist zu beweisen, dass etwas Beharrliches eine allgemeine Voraussetzung dafür ist, den Erscheinungen objektive Zeitstellen zuzuordnen, d. h., dass die äußere Erfahrung die beharrliche Substanz voraussetzt. Aber wie ist dies zu verstehen? Zuerst möchten wir die „Bezugssystem“-These ablehnen und dann eine alternative These stellen. Kant argumentiert in der „Erste[n] Analogie“ der Erfahrung: Weil die Zeit selbst nicht wahrnehmbar sei, brauche man etwas Wahrnehmbares als Ersatz für die Zeit, der als ein empirisches Bezugssystem dient, um jeder Erscheinung eine eindeutig bestimmte Stelle in der Zeit zuzuordnen. Der Ersatz, der die Zeit überhaupt vorstellt, muss beharrlich sein, weil „die Zeit […] bleibt und wechselt nicht.“186 Aber man kann die Zeit selbst weder als wechselnde noch als beharrlich bezeichnen. Kant gesteht zu, „[…] der Wechsel trifft die Zeit selbst nicht, sondern nur die Erscheinungen in der Zeit.“187 Der Grund ist offenkundig: „Wollte man der Zeit selbst eine Folge nach einander beilegen, so müsste man noch eine

183 B

XLI. 381. 185 A 182. 186 B 225. 187 B 226. 184 A

3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität …

187

andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wären.“188 Aus dem gleichen Grund ist es eben unsinnig, die Zeit selbst als beharrlich zu bezeichnen: Wollte man der Zeit selbst die Beharrlichkeit beilegen, so müsste man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Beharrlichkeit möglich wäre. Selbst wenn wir hinnehmen würden, dass etwas Beharrliches zu jeder Zeit existiert, könnte es als Bezugssystem der Datierung der Erscheinungen nichts beitragen. Was ist in Hinsicht auf die Zeitbestimmung das Verhältnis der Erscheinungen zu diesem Beharrlichen? Die Antwort lautet: Jede Erscheinung ist mit diesem Beharrlichen zugleich. Dadurch ist nichts über die Zeit-Stellen der Erscheinungen bestimmt. Tatsächlich muss das, was die Funktion eines empirischen Bezugssystems übernehmen kann, wechselnd sein. Die Geburt von Jesus findet nicht zu jeder Zeit statt, sondern nur zu einer bestimmten Zeit. Deshalb können relativ zu ihr als Bezugssystem alle anderen Ereignisse datiert werden. Gott existiert nicht in einer bestimmten Zeit, sondern zu jeder Zeit. Relativ zu der Existenz Gottes kann man eigentlich nichts über die Datierung eines Ereignisses sagen. Deshalb können wir feststellen, dass die Voraussetzung des Beharrlichen als eines Bezugssystems für die Datierung der Erscheinungen weder nötig noch möglich ist. Im Vergleich dazu setzt alle Zeitbestimmung etwas Wechselndes als empirisches Bezugssystem voraus. Was Kant mit dem von aller Zeitbestimmung vorausgesetzten Beharrlichen meint, ist deshalb nicht im Sinn eines Bezugssystems zu verstehen. Erstaunlicherweise behauptet Caranti Luigi, die Notwendigkeit des Beharrlichen als „a comparison term“ für die Zeitbestimmung „can be grasped intuitively“189 . Wir haben oben ausgeführt, dass die Rolle, die das Beharrliche für die Zeitbestimmung der Erscheinungen spielt, nicht die des Bezugssystems sein kann. Jetzt wird sich zeigen, wie diese Rolle verstanden werden muss. Wir bringen das Beharrliche und den im letzten Paragraphen des ersten Kapitels erklärten Begriff „das transzendentale Objekt“ in einen Zusammenhang. Wenn man unter „Substanz“ das versteht, was niemals durch ein Prädikat, sondern bloß durch den Subjektbegriff repräsentiert werden kann, ist nur der transzendentale Gegenstand = X die Substanz. Alle Erscheinung, zu der sowohl eine Rose als auch ein Rot gehören, ist die Bestimmung bzw. das Prädikat der Substanz. Diese Sachlage kann durch die Satzform „X ist etwas bzw. so und so.“, z. B., „X ist Rose.“ und „X ist rot.“, ausgedrückt werden. Derselbe Gegenstand erscheint mir in der Zeit nicht nur als „rot“, sondern auch als „Rose“. D. h., 188 A

183.

189 Caranti,

Luigi, Kant and the Scandal of Philosophy: The Kantian Critique of Cartesian Skepticism, Toronto: University Press of Toronto 2007, S. 139.

188

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sowohl das Rot als auch die Rose sind „Erscheinung“ und deshalb Bestimmung bzw. Zustand der Substanz, nämlich die Art und Weise, wie die Substanz existiert.190 Zur Zeit t1 wird die Erscheinung E1 von mir wahrgenommen und zur Zeit t2 die Erscheinung E2 . Ich kann zur Zeit t2 die Wahrnehmung von E1 reproduzieren und die ganze Gleichheit von E1 und E2 feststellen. Aber daraus kann ich nicht schließen, dass ich zur Zeit t1 und t2 eine selbe Rose anstatt zwei gleiche Rosen wahrgenommen habe. Es ist dazu noch nötig, dass ich unterstelle, dass es sich in beiden Fällen um einen bleibenden Gegenstand handelt. Ich muss also in der Lage sein, dies zu unterstellen. Durch den Vergleich des Kantischen Begriffs „transzendentaler Gegenstand“ mit dem Husserlschen Begriff „Gegenstandspol“ im letzten Paragraphen des ersten Kapitels haben wir ausgeführt, dass es nicht bloß empirisch gegeben werden kann, dass zwei Erscheinungen, gleichgültig, ob sie gleich oder unterschiedlich sind, auf einen und denselben Gegenstand bezogen werden. Dies verlangt auch ein Können des Subjekts. Dass die Erscheinungen als die Erscheinungen von dem einen und selben Gegenstand betrachtet werden können, muss also auf die Subjektivität zurückbezogen werden. Das Beharrliche als die Substanz, nämlich das transzendentale Objekt als die apriorische Bedingung, die uns ermöglicht, etwas als einen und denselben Gegenstand in der Zeit betrachten zu können, ist deshalb auch notwendig, um die objektiven Verhältnisse der Gegenstände in der Zeit (Folge und Zugleichsein) zu erkennen. Darauf sind wir im Paragraphen „Die Fundierung der objektiven Zeit auf der subjektiven Zeit“ im zweiten Kapitel ausführlich eingegangen. Daher muss hier nicht widerholt werden, welche Rolle die Kategorien der Substanz, der Kausalität und der Wechselwirkung in dieser Konstitution der objektiven Zeit spielen. In der vorstehenden Erläuterung wurde versucht zu zeigen, wie Kants Argumentation gegen den problematischen Idealismus funktioniert. Zusammenfassend lässt sich Kants Argumentationsgang wie folgt umformulieren: (A) Ich habe die innere Erfahrung, d. h., „Ich bin mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewusst.“191 (B) Die innere Erfahrung setzt die äußere Erfahrung voraus. (C) Ich habe die äußere Erfahrung. (D) Die äußere Erfahrung beweist unmittelbar das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir.

190 A 191 B

184/B 227. 275.

3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität …

189

Dieser Argumentationsgang unterscheidet sich von geläufigen Interpretationen. Zum Beispiel lautet er Jonathan Vogel zufolge so: „(A)’ I have knowledge of myself: “I am conscious of myself as determined in time.” (B)’ In order to have such knowledge, I must have knowledge that something “permanent” existed from the time of my previous mental state through to the present. (C)’ This permanent could not be one of my mental states. (D)’ Therefore, the permanent of which I have knowledge must be something “outside me,” i.e., an object in the external world.“192

Was die innere Erfahrung unmittelbar voraussetzt, ist jedoch nicht etwas Beharrliches, sondern nur die äußere Erfahrung. (Und die äußere Erfahrung setzt etwas Beharrliches voraus.) Der Beweis der beharrlichen Substanz spielt eigentlich keine unmittelbare Rolle für Kants Erklärung der Möglichkeit der inneren Erfahrung. Dem Grundsatz der ersten Analogie der Erfahrung zufolge setzt alle Zeitbestimmung etwas Beharrliches voraus. Kant wiederholt den Grundsatz am Anfang seines „Beweises“ gegen den problematischen Idealismus. Man nimmt an, daraus sei selbstverständlich zu schließen, dass die Zeitbestimmung meiner Vorstellungen direkt etwas Beharrliches voraussetze. Durch die Spekulation über die unmittelbare Abhängigkeit der Zeitbestimmung meiner Vorstellungen von dem Beharrlichen entstehen mannigfaltige Interpretationen in der Literatur. Zum Beispiel, hält auch Allison wie Vogel den Schluss für selbstverständlich: „The present step merely extends this principle to the domain of inner experience. […] this extension is warranted by the generality of the claim of the First Analogy“193 . Tatsächlich ist in der Ersten Analogie der Erfahrung nur von der Zeitbestimmung der Erscheinungen die Rede. Die Grundsätze werden von den Kategorien abgeleitet, welche nicht auf die Innenwelt der Vorstellungen, sondern nur auf die Außenwelt der Erscheinungen angewendet werden dürfen, wie wir im ersten und zweiten Kapitel mehrmals erwähnt haben. Wenn man aus der Annahme, dass alle Zeitbestimmung der Erscheinungen etwas Beharrliches voraussetzt, schießt, dass die Zeitbestimmung meiner Vorstellungen direkt etwas Beharrliches voraussetzt, muss man im Ergebnis zugestehen, dass die Gültigkeit des Schlusses voraussetzt, dass die Beziehung der Vorstellungen auf das Beharrliche entsprechend der Beziehung 192 Vogel, Jonathan, The Problem of Self-Knowledge in Kant’s “Refutation of Idealism”: Two

Recent Views, a. a. O., S. 876. Kant’s Transcendental Deduction, Oxford: Oxford University Press 2015, S. 298.

193 Allison, Henry,

190

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der Erscheinungen auf das Beharrliche sein muss. Im für uns in Frage kommenden Zusammenhang ist die relevante Beziehung speziell diejenige, aufgrund deren das Beharrliche seine Rolle für die jeweilige Zeitbestimmung spielen kann. Aber diese Voraussetzung ist keineswegs erfüllt. Der ersten Analogie der Erfahrung zufolge müssen die mannigfaltigen Erscheinungen als die Bestimmungen bzw. Zustände einer beharrlichen Substanz, nämlich als die Art und Weise, wie die Substanz existiert, betrachtet werden, damit die Zeitbestimmungen der Erscheinungen erkannt werden können. Daher ist Allison auch der Auffassung: „The crucial point here, […], ist that the assignment of the successively represented states of affairs to an enduring substratum (as its successive states) functions as the rule through which we think a replacement change.“194 Es stellt sich die Frage: Können meine Vorstellungen auch als die Bestimmungen bzw. Zustände irgendeiner beharrlichen Substanz betrachtet werden? Die Antwort muss sicherlich verneinend ausfallen. Kant lehnt eindeutig ab, dass man unter dem empirischen Selbst irgendeine geistige Substanz verstehen kann. Es ist auch unmöglich, dass meine Vorstellung die Bestimmungen bzw. Zustände irgendeiner Substanz sind. Der Grund dafür besteht darin, dass die Gegebenheitsweise einer Vorstellung einmalig adäquat ist, wie wir im zweiten Kapitel ausgeführt haben. Die verschiedenen Vorstellungen können deshalb nicht als die verschiedenen „Erscheinungen“ des einen und selben Gegenstands, nämlich die Art und Weise, wie derselbe Gegenstand existiert, sondern nur als verschiedene Gegenstände als solche betrachtet werden. Allison sieht auch ein, dass die Vorstellungen nicht die Bestimmungen bzw. Zustände des Beharrlichen sind, das seiner Meinung nach von der Zeitbestimmung der Vorstellungen vorausgesetzt wird: „[O]ne’s body funktions as the enduring objekt, […] the temporal order of one’s mental states is determined by their correlation with one’s bodily states“195 . Es ist ersichtlich, dass Allison zufolge die Beziehung der Vorstellungen auf das von der Zeitbestimmung der Vorstellungen vorausgesetzten Beharrliche, auf der die Funktion des Beharrlichen für die Zeitbestimmung der Vorstellungen beruht, ganz anders als die Beziehung der Erscheinungen auf das von der Zeitbestimmung der Erscheinungen vorausgesetzte Beharrlichen ist. Konkreter gesprochen: Im ersten Fall wird eine Korrelation zwischen zwei Reihen von Allison hervorgehoben: Die Zeitbestimmung meiner Vorstellungen als meiner psychischen Zustände ist nur dadurch möglich, dass sie sich der Reihe meiner körperlichen Zustände korrelieren, welche die Zustände des Beharrlichen sind. Im Vergleich dazu ist im zweiten Fall von einer Korrelation 194 Ebd., 195 Ebd.,

S. 206. S. 303.

3.5 Der vierte Paralogismus der Idealität …

191

keine Rede: Die Zeitbestimmung meiner körperlichen Zustände als Erscheinungen ist Allison zufolge nur dadurch möglich, dass mein Körper als ein beharrlicher Gegenstand betrachtet wird. Dies beweist direkt die Ungültigkeit des Schlusses, dass die unmittelbare Abhängigkeit aller Zeitbestimmung (der Erscheinungen) von dem Beharrlichen die unmittelbare Abhängigkeit der Zeitbestimmung der Vorstellungen von dem Beharrlichen impliziert. Diese Richtung der Interpretation, dass die Zeitbestimmung meiner Vorstellungen auch unmittelbar etwas Beharrliches voraussetzt, ist also ganz falsch. Das einzige Gebiet, auf dem die Grundsätze angewandt werden können, ist das der Erscheinungen. Wären dieselben Grundsätze sowohl für die Gegenstände im Raum als die Erscheinungen als auch für die Vorstellungen gültig, so wären die Erscheinungen und die Vorstellungen von der gleichen Natur. Das ist eben der von Kant kritisierte subjektive Idealismus, der die Gegenstände auf die Vorstellungen reduziert. Deshalb darf man daraus, dass alle Zeitbestimmung etwas Beharrliches voraussetzt, nicht schließen, dass die Zeitbestimmung meiner Vorstellungen unmittelbar etwas Beharrliches voraussetzt. Es kann sein und kann auch nur sein, dass die Zeitbestimmung meiner Vorstellungen A voraussetzt und das A etwas Beharrliches voraussetzt. Mit anderen Worten, die Zeitbestimmung meiner Vorstellungen setzt nur mittelbar etwas Beharrliches voraus. D. h., die innere Erfahrung setzt die äußere Erfahrung voraus und die äußere Erfahrung setzt die beharrliche Substanz voraus. Der Lehrsatz, welcher von Kant in der „Widerlegung des Idealismus“ aufgestellt wird, lautet, dass die Tatsache, dass die Vorstellungen zeitlich geordnet sind, das Dasein der Gegenstände im Raum außer mir beweist. Kants Begründung ist, wie wir dargestellt haben, eindeutig: Die Zeitverhältnisse der Vorstellungen sind nur aufgrund ihrer Korrelation zur Reihe der zeitlich geordneten Erscheinungen bestimmbar. Das Dasein der Gegenstände im Raum ist Kant zufolge mit der zeitlichen gesetzmäßigen Ordnungsstruktur bzw. mit der zeitlichen Einstimmigkeit der Erscheinungen gleichzusetzen. Kants Argumentationsstrategie in der „Widerlegung des Idealismus“ besteht also darin, dass die eine Tatsache, dass die Reihe der Vorstellungen zeitlich geordnet ist, die andere Tatsache, dass die Reihe der Erscheinungen zeitlich geordnet ist, beweist. Kant hält es für möglich und nötig, dass die erstere Tatsache die letztere beweist. Dies zeigt, dass er annimmt, dass die erstere eher Evidenz beanspruchen kann als die letztere. Ist diese Annahme gerechtfertigt? Die Antwort muss negativ ausfallen. Die Reihe der Vorstellungen und die Reihe der Erscheinungen sind hinsichtlich ihrer phänomenologischen Gegebenheiten nicht bloß korrelativ, sondern auch gleichermaßen evident. Es ist also weder möglich noch nötig, dass die zeitlich geordnete Reihe der Erscheinungen von der zeitlich geordneten Reihe der Vorstellungen erwiesen

192

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wird. Die Unmittelbarkeit der anschaulichen Gegebenheit des Gegenstands im Raum unterscheidet sich von der Unmittelbarkeit der anschaulichen Gegebenheit der Wahrnehmung selbst nicht. Man mag für Kants Argumentationsstrategie in der „Widerlegung des Idealismus“ argumentieren, dass Kant sie ausschließlich in Hinblick auf den subjektiven Idealismus entwirft. Ein subjektiver Idealist bezweifle nicht die Gültigkeit der inneren Erfahrung, sondern nur die der äußeren Erfahrung. Kants Argumentation bestehe also darin, dass man die Gültigkeit der äußeren Erfahrung nicht bezweifeln kann, sofern man die Gültigkeit der inneren Erfahrung nicht bezweifelt. Aber diese Rechtfertigung ist nutzlos. Ein subjektiver Idealist bezweifelt die äußere Erfahrung im kantischen Sinn nicht. Da der subjektive Idealist die Erscheinung als das Vorgestellte mit der Vorstellung selbst identifiziert, ist die von ihm verstandene und akzeptierte innere Erfahrung in Wirklichkeit die äußere Erfahrung im kantischen Sinn. D. h., der subjektive Idealist bezweifelt nicht, dass die Erscheinungen, welche er als eine Art Vorstellungen betrachtet, miteinander im regelmäßigen Zusammenhang stehen. Trotzdem bezweifelt er das Dasein bzw. die Wirklichkeit der Außenwelt, weil er sie nicht mit der Regelmäßigkeit der Erscheinungen identifiziert, sondern als absolute Realität, die hinter oder außer den Erscheinungen steht und von ihnen unabhängig ist, versteht. Der einzig mögliche und nötige Beweis des Daseins bzw. der Wirklichkeit der Außenwelt ist deshalb die Aufklärung, was das Dasein bzw. die Wirklichkeit der Außenwelt bedeutet. Sie ist nichts anderes als die objektive, d. h. allgemeine und notwendige Einheit der Erscheinungen, wie wir im ersten Kapitel ausgeführt haben. Man muss damit zufrieden sein und darf einen Beweis der transzendentalen bzw. absoluten Realität der Außenwelt nicht verlangen. Dass man sich damit nicht zufrieden gibt und immer noch einen Beweis der Außenwelt verlangt, ist ein echter Skandal der Philosophie.

4

Schluss

Die vorliegende Arbeit hat hinsichtlich der Thematik „sinnliche Subjektivität“ innerhalb der Erkenntnis- und Selbstbewusstseinstheorie die kantische Philosophie und Husserls Phänomenologie in Dialog gebracht. Dieser Dialog ergab sich uns als ein wechselseitiges Inspirieren und Zusammenstimmen. Er kann im Problemkreis der sinnlichen Subjektivität als fruchtbarer Ansatzpunkt einerseits für die Untersuchung der kantischen Philosophie und andererseits für die der Husserlschen Phänomenologie dienen. Im ersten Kapitel konnten wir feststellen, dass sich ein kantisches Modell der Intentionalität entdecken lässt, welches das verborgene Moment eines gegenständlichen Materials im Husserlschen Modell der Akt-Intentionalität sichtbar macht. Kant versteht die höherstufige Gegenständlichkeit des Sachverhalts als die synthetische Einheit von Erscheinungen. Diese synthetische Einheit, die die objektiven zeitlichen Verhältnisse bezeichnet, ist nur durch die Anwendung der RelationenKategorien bestimmbar. Sie wird also auf die synthetisierende Aktivität des Subjekts nach den Relationen-Kategorien rückbezogen und kann nur als deren Korrelat bzw. Leistung sein. In Hinblick auf diese kantische Rückwendung zur Subjektivität erklärt Husserl sich „nach großen Linien mit Kant einig“. Die primitive Erscheinung, die für die Konstitution des Sachverhalts als „Material“ dient, hat wiederum eine eigene Form und ein eigenes Material. Die durch die Kategorien der Quantität und Qualität geregelte Synthesis kann nicht die Gegebenheit des gegenständlichen Materials in der Erscheinung, sondern nur die förmliche Bestimmung der Erscheinung erklären. Kant schreibt die Gegenständlichkeit ihres Materials der Räumlichkeit zu. Was synthetisiert wird, muss ein Bestandteil bzw. ein konstitutives Moment in demjenigen Gebilde sein, das durch diese Synthesis entsteht. Durch die „Synthesis“ bzw. Gestaltung der nicht-gegenständlichen Empfindungen kann deshalb nicht die diesen Empfindungen gegenüberstehende Erscheinung, sondern nur die © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 J. Mao, Sinnliche Subjektivität bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62936-9_4

193

194

4

Schluss

diese Empfindungen in sich enthaltende Vorstellung konstituiert werden. Die Sachlage ist beim „Deuten“ bzw. „Sinngeben“ nicht anders. Daraus ist zu entnehmen, dass weder das Synthetisieren noch das „Sinngeben“ zum Verhältnis des Gegenüber-Seins bzw. zum Übergang von der nicht-gegenständlichen Seite auf die gegenständliche Seite führen können. Keines von ihnen kann die primitive Gegenständlichkeit des Materials stiften. Stattdessen können beide sich nur an der vorgegebenen gegenständlichen Materie betätigen. Das Husserlsche „gegenständliche Materie-Sinngebung-Schema“ hat den Vorzug: Es kann auch die materiale bzw. inhaltliche Bestimmung des Gegenstands erklären. Im Vergleich dazu scheint das Kantische „gegenständliche Materie-Synthesis-Schema“ unfähig zu sein, den Was-Gehalt des Gegenstands zu behandeln. Das zweite Kapitel hat die tiefsinnige, jedoch durch die verschwommenen, undeutlichen, inkonsequenten und zerstreuten Formulierungen Kants verdeckte Position zum inneren Sinn, konkreter gesprochen, zur Selbst-Affektion, zur Zeitlichkeit der Erscheinungen und zum Selbstbewusstsein in einem neuen Licht erscheinen lassen. Diese Licht ergibt sich aus Husserls Hervorhebung der Angewiesenheit der Dauer bzw. Einheit „eines“ Aktes auf seine identische noematische Vermeintheit, aus der Fundierung der objektiven Zeit auf der subjektiven Zeit und besonders auch aus seinen Analysen der verschiedenen Arten von Selbstbewusstsein. Es ist in der Literatur herausgestellt worden, dass Kants Thesen über den inneren Sinn untereinander besonders in zweierlei Hinsicht inkompatibel seien. Zum Ersten widerspreche die Selbst-Affektion, die die Affektion der Verstandesaktivität auf den inneren Sinn bedeutet, der Unanwendbarkeit der Kategorien auf die Innenwelt. Zweitens führe Kants Bestimmung der Zeit als Form des inneren Sinns entweder dazu, dass die Zeitlichkeit der Vorstellungen des äußeren Sinns nicht erklärt werden können, oder zum Idealismus-Problem. Eine Inkompatibilität besteht jedoch nicht, wenn man Kants Thesen über den inneren Sinn genau interpretiert. Die Selbst-Affektion betrifft die Individualisierung der Vorstellung in der immanenten Zeit. Die Vorstellung verdankt ihre Individualisierung bzw. ihre Einheit ihrer Korrelation zur einheitlichen Erscheinung. Die Verbindung des Mannigfaltigen des inneren Sinns ist zwar durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft hervorgebracht, d. h. sie ist „synthetischer Einfluss des Verstandes auf den inneren Sinn“1 . Aber sie ist nur eine Nebenwirkung bzw.

1B

154.

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Schluss

195

ein zusätzliches Resultat davon, dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sich unmittelbar am Mannigfaltigen des äußeren Sinns, d. h. an der gegenständlichen bzw. räumlichen Materie betätigt. Um den inneren Sinn zu bestimmen, müssen wir Kant zufolge statt auf den Gegenstand der Synthesis als der Handlung des Subjekts auf diese Handlung selbst achten. Der Vollzug der Synthesis-Akte resultiert also in der Individualisierung der Zeitphasen als des Mannigfaltigen im inneren Sinn, wo die Synthesis-Akte geschehen. Die Sukzession von Vorstellungen im inneren Sinn ist nichts anderes als die Sukzession der Synthesis-Akte des Subjekts selbst. Die Handlung als solche kann nur anhand ihrer Leistung bzw. Wirkung verstanden und identifiziert werden. Die Konstitution der Erscheinung ist eben die Leistung der Handlung des Subjekts. Die Form des inneren Sinns ist die subjektive Zeit. Die einzige subjektive lagezeitliche Bestimmung der durch den inneren Sinn bewussten Vorstellungen ist Kant zufolge das Nacheinander. Er teilt die objektiven Zeitverhältnisse der Erscheinungen in die objektive Aufeinanderfolge und das objektive Zugleichsein ein. Deshalb ist die Frage, wie die objektive Zeitlichkeit der Erscheinungen möglich ist, damit gleichzusetzen, wie diese beiden objektiven Zeitverhältnisse der Erscheinungen bestimmt werden können. Kant beschreibt die Konstitution der objektiven Zeit so: Zuerst verfügen die Erscheinungen wegen ihrer notwendigen Korrelation zu den Vorstellungen über die subjektive Zeitlichkeit. D. h., die Erscheinungen befinden sich zunächst in einem einzigen, rudimentären und vorläufig postulierten lagezeitlichen Verhältnis. Der zweite Schritt der Aufgabe, die objektive Zeitlichkeit der Erscheinungen zu erklären, besteht folglich darin, die objektiven topologischen Zeitverhältnisse der Erscheinungen auf der Basis ihres einzigen lagezeitlichen Verhältnisses, nämlich des Nacheinanders aufzubauen. Jede der beiden topologischen Zeitordnungen wird durch zwei Bedingungen definiert, von denen jede nach der vorstehenden Darstellung nur die Redeweise von der einzigen subjektiven lagezeitlichen Relation des Nacheinanders enthalten darf: x ist früher als y genau dann, wenn eine Erscheinung von x früher als eine Erscheinung von y und keine Erscheinung von y früher als eine Erscheinung von x wahrgenommen wird. x ist gleichzeitig mit y genau dann, wenn eine Erscheinung von x früher als eine Erscheinung von y und eine Erscheinung von y früher als eine Erscheinung von x wahrgenommen wird.

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4

Schluss

Es soll in der zweiten Analogie der Erfahrung nachgewiesen werden, dass außer der Annahme der Beharrlichkeit der Substanz als einer allgemeinen Voraussetzung, welche als die apriorische Bedingung dafür gilt, dass die mannigfaltigen Erscheinungen demselben Gegenstand zugeschrieben werden können, das Kausalprinzip als Normierungsprinzip verlangt wird, damit die beiden mit der Definition der topologischen Zeitbestimmung der Aufeinanderfolge verbundenen Bedingungen erfüllt werden können. In der dritten Analogie der Erfahrung will Kant nachweisen, dass außer der allgemeinen Voraussetzung der Substanz das Normierungsprinzip der Wechselwirkung für die Erfüllung der beiden mit der Definition der topologischen Zeitbestimmung des Zugleichsein verbundenen Bedingungen erforderlich ist. Die Konstitution der objektiven Zeit und die Konstitution der gegenständlichen Einheit des Sachverhalts sind eine und dieselbe Sache. Diese im zweiten Kapitel ausführlich dargestellte kantische Beschreibung der Konstitution der objektiven Zeit hat das im ersten Kapitel aufgefasste kantische Modell der Intentionalität unterstützt und ergänzt. Die Korrelation zwischen Vorstellung und Erscheinung, welche eine Variante bzw. eine konkrete Form der Korrelation zwischen Noesis und Noema ist, spielt bei Kant sowohl in der Konstitution der Vorstellung als auch in der Konstitution der objektiven Zeit eine wichtige Rolle. Dies zeigt einerseits die Verwandtschaft von Kants und Husserls Begriff von Bewusstsein und anderseits die Divergenz zwischen Kants Begriff von Bewusstsein und dem Bewusstseinsbegriff im Cartesianismus und englischen Empirismus (von Locke bis Hume), der vor allem das Bewusstsein als eine einzel-lineare Reihe von Cogitationen bzw. Vorstellungen bezeichnet, die als innere Phänomene isoliert auftreten können. Das Selbstbewusstsein kann entweder das selbstbewusste Anschauen oder das selbstbewusste Denken oder die Ichvorstellung bedeuten. Aber das Bewusstsein meiner synchronen und diachronen Identität bei allem Wechsel der mannigfaltigen Vorstellungen kann nur die Ichvorstellung angehen. Die identische Selbstzuschreibung der mannigfaltigen Vorstellungen bedeutet entsprechend, dass diese Vorstellungen von der identischen Ichvorstellung begleitet werden, bzw. dass sie sich aus derselben Ersten-Person-Perspektive vollziehen. Die Identität der wiederholt mit jeder Vorstellung zusammen auftretenden Ichvorstellung kann jedoch nicht durch sich selbst, d. h. nicht auf Grund ihres Inhalts bestimmt werden, weil die Ichvorstellung Kant zufolge inhaltlich völlig leer ist. Die Möglichkeit ihrer Identifikation ist von der synthetischen Einheit der gegenständlichen Inhalte der Vorstellungen abhängig. Die Gliederung der ersten beiden Kapitel folgt zwei Leitfäden. Der eine ist die kantische Einteilung der Sinnlichkeit in den äußeren Sinn und den inneren Sinn. Der andere umfasst die drei fundamentalen Gesichtspunkte, aus denen der

4

Schluss

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Begriff „Einheit“ betrachtet werden kann. Konkret gesprochen haben wir nacheinander den noematischen, den noetischen Aspekt des Begriffs „Einheit“ und besonders auch im letzten Paragraphen des zweiten Kapitels seinen Aspekt der reinen Ichvorstellung untersucht. Insgesamt haben wir sechs Arten der Einheit festgestellt, genau jene Einheiten, deren Verhältnisse in den Paralogismen der rationalen Psychologie verhandelt werden. Das dritte Kapitel ist bestrebt, die Argumentationsgänge und die Aussagekraft der Argumente in Kants Kritik an der rationalen Psychologie dadurch einsichtig zu machen, dass die im ersten und zweiten Kapitel aufgestellten Thesen auf die Interpretation dieses Abschnitts angewendet werden. Wir haben feststellen können, dass Kant in der A-Auflage sowohl zwei Versionen des Paralogismus der Substanzialität als auch zwei Versionen des Paralogismus der Personalität kritisiert. Die eine Version des Paralogismus der Substanzialität verkennt die Einheit der Ichvorstellung als eine Beharrlichkeit in der immanenten Zeit, was ebenso der Fall bei der einen Version des Paralogismus der Personalität ist. Die andere Version des Paralogismus der Substanzialität verwechselt die Einheit in der Urteilsvorstellung mit der durch die innere Erfahrung ausgedrückten Einheit. Der Paralogismus der Einfachheit verkennt die synthetische Einheit der gegenständlichen Inhalte der Vorstellungen, die die notwendige Bedingung für die Einheit bzw. Identität der Ichvorstellung ist, als deren hinreichende Bedingung genauso, wie wir es bei der anderen Version des Paralogismus der Personalität vorfinden. Konkreter gesprochen: Diejenigen gegenständlichen Inhalte, deren Vorstellungen von der identischen Ichvorstellung begleitet werden, bzw. die aus derselben Ersten-Person-Perspektive vorgestellt werden, stehen notwendig miteinander im allgemeinen und notwendigen Zusammenhang. Diejenigen Vorstellungen, deren gegenständlichen Inhalte miteinander im allgemeinen und notwendigen Zusammenhang stehen, müssen sich jedoch nicht unbedingt aus derselben Ersten-Person-Perspektive vollziehen. D. h., sie können von verschiedenen Ichvorstellungen begleitet werden. Der Grund dafür besteht darin, dass verschiedene Subjekte eine und dieselbe Erscheinung und zwar jeweils aus ihrer eigenen Ersten-Person-Perspektive vorstellen können. Die Sachlage bei der „Einfühlung“ dient Kant als Beispiel. Was den vierten Paralogismus der Idealität anbelangt, besteht Kants Kritik allein darin, den echten Sinn der gegenständlichen Einheit aufzuklären. Man muss sich jedoch mit dieser Kritik zufriedengeben. Die kantische Unterscheidung zwischen dem bloßen Gegebensein der Vorstellungen und der Bestimmung ihrer zeitlichen Stellen, die die innere Erfahrung in strengem Sinn bedeutet, spielt eine zentrale Rolle in seiner Argumentation in der „Widerlegung des Idealismus“. Diese durch die innere Erfahrung ausgedrückte objektive zeitliche Einheit

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4

Schluss

zwischen den verdinglichten Vorstellungen als den psychologischen Ereignissen beruht auf der äußeren Erfahrung und geschieht ergo auf einer höheren Ebene. Nur auf der Ebene der äußeren Erfahrung kann vom Beharrlichen als einer unmittelbaren Bedingung der Konstitution die Rede sein. Dass die Korrelation zwischen der Reihe der Vorstellungen und der Reihe der Erscheinungen die Bestimmung der zeitlichen Stellen der Vorstellungen ermöglicht, schließt jegliche Spekulation über die unmittelbare Abhängigkeit der inneren Erfahrung vom Beharrlichen aus.

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© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 J. Mao, Sinnliche Subjektivität bei Kant, https://doi.org/10.1007/978-3-662-62936-9

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