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German Pages 342 Year 2014
Ruth Reiche, Iris Romanos, Berenika Szymanski, Saskia Jogler (Hg.) Transformationen in den Künsten
Die Herausgeberinnen des Bandes danken dem Department für Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München für die finanzielle Unterstützung der Publikation. Ebenfalls möchten wir uns gemeinsam bei dem gesamten Organisationsteam für die unermüdliche Mitarbeit bei der Konzeption und Durchführung des Symposiums bedanken, aus dem die vorliegenden Beiträge hervorgingen. Unser herzlicher Dank gilt diesbezüglich Corinna Bauer, Jasmin Binder, Anna Dalle Mule, Miriam Drewes, Claudia Hahn, AnnKatrin Harfensteller, Nicole Heinzel, Susanne Kaufmann, Birgit Langhanke, Theresa Leonhardt und Monika Wermuth.
Ruth Reiche, Iris Romanos, Berenika Szymanski, Saskia Jogler (Hg.)
Transformationen in den Künsten Grenzen und Entgrenzung in bildender Kunst, Film, Theater und Musik
Tagungsband zum interdisziplinären Symposium Transformationen – Entgrenzung in den Künsten für Nachwuchswissenschaftler der Fächer Kunstgeschichte, Film-, Theater-, und Musikwissenschaft, Kunst- und Musikpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München am 22. und 23. Oktober 2010, unter Mitarbeit von Corinna Bauer, Jasmin Binder, Anna Dalle Mule, Miriam Drewes, Claudia Hahn, Ann-Katrin Harfensteller, Nicole Heinzel, Susanne Kaufmann, Birgit Langhanke, Theresa Leonhardt und Monika Wermuth.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Lichthof im Universitätshauptgebäude am GeschwisterScholl-Platz, Ludwig-Maximilians-Universität München, Christoph Olesinski, 2011. Gedruckt mit freundlicher Genehmigung der Pressestelle der LMU. Lektorat: Ruth Reiche, Iris Romanos und Berenika Szymanski unter Mithilfe von Saskia Jogler Satz: Iris Romanos unter Mithilfe von Ruth Reiche und Berenika Szymanski Bildredaktion: Ruth Reiche unter Mithilfe von Iris Romanos und Berenika Szymanski Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1919-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort
Miriam Drewes | 9
E INLEITUNG Transformationen, Grenzen und Entgrenzung
Ruth Reiche, Iris Romanos und Berenika Szymanski | 13
G RENZEN IN P RODUKTION UND REZEPTION Kalkulierte Kontrollverluste: Der Schwarzraum in Meg Stuarts Tanzperformance ALL TOGETHER NOW
Astrid Hackel | 33 Authentic Horror – Der authentische Kontakt in seiner transmedialen Konstitution
Lars Robert Krautschick | 47 Nach dem Film ist vor dem Film: Zur Wechselwirkung ästhetischer, technischer und ökonomischer Produktionsprozesse
Miriam Drewes | 63 Entgrenztes Erzählen. Blicklenkung bei typologischen Bildstrukturen in der altniederländischen Malerei
Isabella Augart | 77 If the image is valid. André Previn und die Rezeption musikalischer Diversifikation
Frédéric Döhl | 93
MEDIALE T RANSFORMATIONEN Wish I was there! – Zum Nach(er)leben von Videoinstallationen im Internet
Stephanie Sarah Lauke | 115 Multiperspektivität als eine Strategie des Narrativen in Eija-Liisa Ahtilas T HE H OUSE
Ruth Reiche | 131
E NTGRENZUNG ALS NEUE SICHTWEISE Interdisziplinarität in den Kunstwissenschaften als transformatorisches Prinzip
Johanna Gundula Eder | 149 Nam June Paiks H OMMAGE À J OHN C AGE. Entgrenzung als künstlerisches Prinzip zur Transformation der Gesellschaft
Alexandra Vinzenz | 171 Film, rilievo. Zum Verhältnis von Gegenständlichkeit, Licht und Bewegung
Jennifer Bleek | 191
AN DEN G RENZEN DER G ATTUNGEN Lebende Bilder in der Fotografie
Anastasia Dittmann | 215 Die Inszenierung von Gemälden bei Pasolini, Jarman und Greenaway
Julia Quandt | 229
Stockhausen unterwegs zu Wagner. Virtuelle Begegnungen zwischen zwei Musikerpersönlichkeiten
Magdalena Zorn | 243 S EA P ICTURES – See Pictures – Hear Pictures! Edward Elgars Liederzyklus als Aufforderung zur Grenzüberschreitung
Simone Fohr-Manthey | 259
G RENZE UND G EDÄCHTNIS Territorialität in der zionistischen und israelischen bildenden Kunst
Shelley Harten | 275 Performative Tagebuch-Archive. Die Transformation einer Gattung und eines sozialen Phänomens bei Raymond Depardon und Rinko Kawauchi
Stefanie Loh | 291 Zwischen Datenbank und Bilderschatz. Harun Farocki und sein Archiv filmischer Ausdrücke
Monika Wermuth | 305 Do you remember the time... Slater Bradleys D OPPELGANGER T RILOGY
Nadine Söll | 317 Autorinnen und Autoren | 331 Bildnachweis | 335
Vorwort M IRIAM D REWES
Im Februar 2009 wurde, vom GraduateCenter der Ludwig-MaximiliansUniversität München initiiert, ein Seminar zur Planung kunstwissenschaftlicher Tagungen durch den wissenschaftlichen Nachwuchs abgehalten. Dieses Seminar fand regen Zuspruch bei den Doktorandinnen und Doktoranden des Departments Kunstwissenschaften der LMU, insbesondere den Teilnehmern des Promotionsprogramms ProArt. Dieses Programm, das kurz davor gegründet worden war, ist der Idee verpflichtet, den Transformationen in den Künsten auch theoretisch Rechnung zu tragen. Demgemäß integriert es alle fünf Fächer des Departments – Kunstgeschichte, Kunstpädagogik, Musikwissenschaft, Musikpädagogik und Theaterwissenschaft. Darüber hinaus verfolgt es einen interdisziplinären Ansatz, der sowohl (inter-)kulturelle als auch (inter-)mediale Perspektiven mit aufnimmt. Während des Seminars stellte sich schon bald heraus, dass diese Grundidee des Programms auch das Thema der Tagung sein könnte: Der Gedanke von der Transformation in den Künsten wie Kunstwissenschaften wurde materialiter über die heterogene Gruppe der unterschiedlichen Kunstwissenschaftler gespiegelt. Die Doktoranden aus den unterschiedlichen Fächern merkten einerseits, dass sie ähnliche Fragen, sei es zu zeitgenössischen, sei es zu historischen Themen, beschäftigten. Sie stellten andererseits aber auch fest, dass ein integrativer Ansatz, der den immer stärker werdenden Transformationen gerecht würde, noch ausbaufähig sei. Der Aufruf für die Teilnahme an der Tagung (Call for Papers) wurde entsprechend offen formuliert, demgemäß wurden die einzelnen Schwerpunkte für die jeweiligen Panels induktiv ermittelt und strukturiert. Überhaupt weist die Tagung – an der in- und ausländische Doktoranden und Postdoktoranden teilnahmen – den Verdacht einer oft formulierten Überregulierung der Doktorandenausbildung im Zuge der Etablierung strukturierter Promotionsprogramme zurück. Sie ist vielmehr ein Beleg für die Chancen, die durch die Initiative derartiger Veranstaltungen den Doktoranden eröffnet werden, nicht
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zuletzt deshalb, weil sie allein auf freiwilliger Basis funktionieren. Diejenigen, die sich dafür interessieren, können während der Planung und Durchführung einer solchen Tagung – und später während der Vorträge – nicht nur für zukünftige Konferenzen lernen. Die Ergebnisse dieses vielschichtigen Prozesses in einer Publikation zu bündeln, ist der logische Schritt. Im vorliegenden, aus jener Tagung entstandenen Aufsatzband lässt sich schließlich nachlesen, wie groß die Schnittmengen trotz aller Divergenzen bei diesem Thema in den Künsten und Kunstwissenschaften sind. Wie die Herausgeberinnen in der Einleitung feststellen, herrscht vielleicht kein Konsens über Methoden und Analysekategorien, aber doch zumindest darüber, dass der Umstand der Entgrenzung auch auf wissenschaftlicher Ebene begrüßenswert ist. Im Zuge dessen werden hier Einblicke in aktuelle Forschungsprojekte von Doktoranden und Postdoktoranden ermöglicht und die Künste fernab von konventionellen disziplinären Kategorien erörtert.
EINLEITUNG
Transformationen, Grenzen und Entgrenzung R UTH R EICHE , I RIS R OMANOS UND B ERENIKA S ZYMANSKI
Der Begriff Transformation (lat. transformare) bezeichnet allgemein eine Umgestaltung oder Wandlung. Was sich dabei umgestaltet bzw. wandelt, ist diesem Begriff noch nicht inhärent, d. h. dieser legt an sich noch keinen Gegenstandsbereich fest, kann man sich doch Vieles vorstellen, das einem Wandel unterworfen ist. Fragt man danach, wie Wandlungen mit Phänomenen der Entgrenzung, d. h. der Auflösung von Grenzen, zusammenhängen, dann lässt sich dementsprechend konstatieren, dass jede Entgrenzung zwingend zu einer Transformation führt, aber nicht alle Transformationen auf Entgrenzungsphänomene zurückzuführen sind, können Transformationen doch nicht nur in einer Öffnung, sondern auch in einer Schließung von Grenzen bestehen. Transformationen gehen also in jedem Fall mit einer Veränderung von Grenzen einher, Entgrenzungen können dagegen als ein Spezialfall von Transformationen betrachtet werden. Transformationen in Form von Entgrenzungen sind in den Künsten seit jeher zu beobachten, doch angesichts der seit den 1960er Jahren verstärkt zu beobachtenden Tendenzen der Auflösung von Grenzen zwischen einzelnen Kunstformen bzw. deren Gattungen sind die Gegenstandsbereiche der einzelnen Kunstwissenschaften nicht mehr eindeutig zu unterscheiden, was eine interdisziplinäre Annäherung an Phänomene der Entgrenzung sinnvoll erscheinen lässt.
Zum Begriff der Grenze Wer von Transformationen in Form von Entgrenzungen spricht, kommt am Begriff der Grenze nicht vorbei. Umso erstaunlicher erscheint es, dass es sich hier-
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bei um einen in der Forschung vernachlässigten Terminus handelt.1 Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Grenze unter geopolitischen Aspekten als ein Phänomen des Raumes betrachtet. Dienten einst Gebirge und Flüsse als natürliche Grenzen zwischen Gebieten, so entwickelten sich durch jahrhundertelange Prozesse künstlich errichtete Grenzen, die in Auseinandersetzungen und Kriegen zwischen Herrschern und Staaten immer wieder neu verhandelt wurden und auch heute noch verhandelt werden. So ist Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bekanntermaßen in zwei Staaten geteilt worden. Die in diesem Zusammenhang 1961 errichtete Berliner Mauer, die den DDR-Teil der Stadt von der BRD trennte, diente nicht nur als Grenze, sondern wurde zu einem Symbol des Kalten Krieges. Ihr Fall im Jahr 1989 steht für den Beginn der Wiedervereinigung und die Aufhebung des Eisernen Vorhangs. Grenzen existieren also nicht von vorneherein, sie werden von Menschenhand geschaffen und sind Konstrukte, die das Ende des Einen und den Beginn des Anderen markieren. Sie besitzen daher eine doppelte Funktion: Auf der einen Seite schließen sie aus, auf der anderen schließen sie ein. Grenzen besitzen also sowohl einen Inklusions- als auch einen Exklusionscharakter und konstituieren damit einen identifizierbaren Sachverhalt.2 So legt Norbert Wokart dar: »Eine Sache gegen eine andere abzugrenzen, bedeutet daher nicht, von dem anderen abzusehen, sondern hat die Konsequenz, das andere als konstitutiv für die intendierte Sache anzuerkennen.«3 Grenzen können jedoch nicht nur räumlicher, sondern auch kultureller Natur sein. So definieren Menschen beispielsweise seit jeher ihre Identität durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Stammes- oder Religionsgruppe bzw. – allgemein ausgedrückt – durch die Abgrenzung vom Anderen. Aber auch in der wissenschaftlichen Praxis sind Grenzen anzutreffen, insofern sich einzelne Disziplinen durch ihren je spezifischen Gegenstand und ihre je eigene Methodologie voneinander unterscheiden. Konzentriert man sich auf den kunstwissenschaftlichen Bereich, so lässt sich auch innerhalb der Künste und ihrer Gattungen das Phänomen der Grenzziehung beobachten, etwa die mit diesem einhergehende Aufstellung von Regelwerken.
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So stellt Norbert Wokart fest, dass zu einzelnen Aspekten der Grenze Literatur vorhanden ist, nicht aber umfassend zum Begriff an sich. Vgl. Wokart, Norbert: Differenzierungen im Begriff »Grenze«. Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffs, in: Richard Faber und Barbara Naumann (Hrsg.): Literatur der Grenze – Theorie der Grenze, Würzburg: Könighausen & Neumann 1995, S. 275-289, hier S. 278.
2
Vgl. ebd., S. 278f.
3
Ebd., S. 279.
TRANSFORMATIONEN, GRENZEN UND ENTGRENZUNG | 15
So hat z. B. Johann Christoph Gottsched im 18. Jahrhundert4 in der Theaterkunst das improvisierte Stegreif, die Oper und das Ballett von dem seiner Meinung nach überlegenen literarischen Theater abgegrenzt. Damit verfolgte er zum einen das Ziel, die Vielfalt im Repertoire der Wanderbühnen zum Vorteil des Dramas einzuengen, zum anderen die Dramatik selbst einem strengen Regelkorsett zu unterwerfen,5 das der Frühaufklärung entsprechend als Instrument zur Erziehung und Aufklärung des Bürgers dienen sollte. Damit gab Gottsched den Anstoß zu einer nachwirkenden Theaterreform, die zur Verbürgerlichung des Theaters und durch die zeitweise Verbannung des Stegreifs zu einer Trennung vormals vereinter Kunstformen führte. Exemplarisch dafür kann der Wiener Hanswurst-Streit von 1747 betrachtet werden, der mit der Einführung des Extemporierverbots endete, welches das Stegreif untersagte.6 Um dieses Verbot zu umgehen, ließen Theatermacher Stücke anfertigen, in denen der Part des Hanswurst ausgeschrieben war, die dem Schauspieler aber weiterhin die Möglichkeit zur Improvisation boten. Das veränderte nicht nur die Figur des Hanswurst von einer rein improvisierten zur textbasierten, sondern auch die Theaterlandschaft Wiens erfuhr damit eine Veränderung, die sich auf das jeweilige Zielpublikum konzentrierte: das Burgtheater mit seinem klassischen Repertoire und die Vorstadtbühnen, auf denen Unterhaltung und somit auch die Narrenfigur Programm waren. An diesem Beispiel lässt sich konstatieren, dass Grenzen zwar ein normativer Status innewohnt, diese aber trotzdem überschritten, verschoben oder aufgelöst werden können. Das Auflösen und Neukonstituieren von Grenzen trägt also zu einer Dynamik der Veränderung und Weiterentwicklung bei. Gerade in der modernen Welt, die sich zunehmend als eine globalisierte und vernetzte versteht, gewinnt Entgrenzung auf allen Ebenen der Gesellschaft verstärkt an Bedeutung.
Entgrenzung in den Künsten Begreift man Entgrenzung allgemein als eine Auflösung von Grenzen, dann lässt sich dieser Terminus ebenso wie der Begriff der Grenze auf die unterschiedlichsten Bereiche anwenden. Von Belang seien im Folgenden aber, dem Interesse des
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So sei hier auch auf Gotthold Ephraim Lessings häufig zitierte Schrift Laokoon, oder über die Grenzen Mahlerey und Poesie (1766) verwiesen, in der er durch die Abgrenzung der Malerei von der Dichtung die normative Ästhetik entscheidend vorantrieb.
5
Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/Basel: Francke 1993, S. 88-98.
6
Vgl. ebd., S. 167.
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vorliegenden Bandes geschuldet, nur Entgrenzungsphänomene in den Künsten. Grenzen bestimmen die Form desjenigen, das sie begrenzen. Da sie veränderlich sein können, kann sich auch die Form desjenigen wandeln, das durch diese definiert wird. Die Form bzw. die Sache selbst bleibt aber immer durch Grenzen bestimmt, auch wenn sie sich selbst verändert und im Zuge dieser Veränderung Grenzen aufgelöst werden. Eine Auflösung von Grenzen mündet also zwangsläufig in eine Neukonstitution von Grenzen. Dementsprechend kann es auch keine völlig entgrenzten Künste geben, sondern nur Künste, die konventionelle Grenzziehungen überwinden, um diese durch neue zu ersetzen. Diesen Gedanken bestätigen Uta Degner und Norbert Christian Wolf im Rahmen ihrer Untersuchung zur medialen Dominanz in entgrenzten Künsten: »Wie die Rede von ›Entgrenzung‹ bereits nahelegt, bleiben die genannten Adaptionen auf (jeweils zu überwindende) Grenzen angewiesen. [...] Jede intermediale Grenzüberschreitung impliziert also zugleich (neue) Grenzziehungen – und auch eine (explizite oder im7
plizite) Thematisierung der Grenze [...].«
Wenn von Entgrenzung in den Künsten die Rede ist, dann ist es auffällig, dass der Transformationsprozess häufig stark vereinfachend dargestellt ist, so etwa wenn pauschal von der Auflösung der Grenzen zwischen den Gattungen sowie von der Grenze zwischen Kunst und Leben die Rede ist.8 Deshalb soll dieses Phänomen nun genauer betrachtet und der Frage nachgegangen werden, welche Arten von Entgrenzung es gibt. Um diese Fragestellung zu klären, muss darauf fokussiert werden, an welchen Stellen Grenzen existieren, die aufgelöst werden können. Nimmt man die kunstwissenschaftliche Kategorienbildung in den Blick, dann erhält man eine erste Antwort: Die Künste werden in unterschiedliche Kunstformen wie Literatur, Musik, darstellende und bildende Kunst gegliedert. Diese Kunstformen werden wiederum in Gattungen eingeteilt, im Falle der bildenden Kunst klassischerweise etwa in Baukunst, Malerei, Zeichnung, Bildhauerei oder Druckgrafik. Innerhalb der einzelnen Kunstgattungen wird zudem zwischen verschiedenen Untergattungen bzw. Genres unterschieden. Bleibt man im
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Degner, Uta und Norbert Christian Wolf: Intermedialität und mediale Dominanz. Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Der neue Wettstreit der Künste. Legitimität und Dominanz im Zeichen der Intermedialität, Bielefeld: transcript 2010, S. 7-17, hier S. 13.
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Zu beobachten ist dies z. B. bei Fischer-Lichte, Erika: Einleitung, in: dies., Kristiane Hasselmann und Markus Rautzenberg (Hrsg.): Ausweitung der Kunstzone. Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften, Bielefeld: transcript 2010, S. 7-29.
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Bereich der bildenden Kunst, dann ließe sich die Gattung Malerei etwa in die Untergattungen Historien- und Genremalerei, Porträt, Landschaft oder Stillleben gliedern. Es finden sich also drei Ebenen, auf denen Grenzen auszumachen sind, d. h. drei Ebenen, auf denen Entgrenzungsphänomene auftreten können. Dabei können sich Grenzen zwischen Kunstformen auflösen, zwischen ihren Gattungen oder wiederum zwischen ihren Untergattungen. Eine Entgrenzung auf Ebene der Untergattung führt dabei nicht zwangsläufig zu einer Entgrenzung auf Ebene der Gattung bzw. auf Ebene der Kunstform. Analoges gilt für die Entgrenzung auf Gattungsebene. Bei einer Entgrenzung auf Ebene der Kunstform sind dagegen zwangsläufig Entgrenzungen auf Gattungsebene zu konstatieren. Entgrenzungen müssen sich also nicht nur auf eine der drei genannten Ebenen beschränken, sie können auch ebenenübergreifend stattfinden. Lösen sich Grenzen zwischen Kunstformen bzw. (Unter-)Gattungen auf, dann entstehen Mischformen – so genannte Hybride9. Die Termini Materialität und Medialität spielen im kunstwissenschaftlichen Diskurs ebenfalls eine große Rolle, werden die Gattungskategorien doch nicht zuletzt anhand dieses Begriffspaars festgemacht. Die jeweiligen im Produktionsprozess zur Verwendung kommenden und in das Endprodukt eingehenden Werkstoffe der Künste, wie etwa Farben in der bildenden Kunst oder Töne in der Musik, werden als Materialien bezeichnet. Der Medienbegriff ist dagegen weit weniger eindeutig, kann man ihn doch sowohl sehr eng als auch sehr weit fassen. Folgt man Werner Wolf, dann lässt sich ein Medium als ein »konventionell als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv«10 begreifen, »das nicht nur durch bestimmte technische und institutionelle Übertragungskanäle, sondern auch durch die Verwendung eines oder mehrerer semiotischer Systeme zur öffentlichen Übermittlung von Inhalten gekennzeichnet ist.«11 Der geschriebene Text wäre demnach als ein Medium der Literatur, das Bild dagegen als ein Medium der bildenden Künste zu benennen.
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Unter einem Hybrid (lat. hybrida) wird allgemein das Produkt einer Hybridisierung, d. h. der Vermischung mindestens zweier verschiedenartiger Elemente, verstanden. Der Prozess der Hybridisierung hängt eng mit demjenigen der Entgrenzung zusammen, insofern jeder Vermischung die Auflösung von Grenzen vorangeht.
10 Wolf, Werner: Intermedialität und mediale Dominanz. Typologisch, funktionsgeschichtlich und akademisch-institutionell betrachtet, in: Uta Degner und Norbert Christian Wolf (Hrsg.): Der neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität, Bielefeld: transcript 2010, S. 241-259, hier: S. 241, Anm. 1. 11 Ebd.
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Nicht selten ist im kunstwissenschaftlichen Diskurs jedoch zu bemerken, dass die klar voneinander unterscheidbaren Begrifflichkeiten zunehmend verschwimmen. So kann beispielsweise in dem von Erika-Fischer Lichte mitherausgegebenen Sammelband zum Bereich der Interart Studies, der sich unter dem Credo Ausweitung der Kunstzone Grenzüberschreitungen widmet, angesichts der dort nicht explizit vorgenommenen Definition von Material, Medium und Kunstform bzw. (Unter-)Gattung ein Aufweichen der terminologischen Grenzen beobachtet werden.12 Ebenso häufig wie das Vermengen des Medienbegriffs mit demjenigen der Gattung findet sich die inexakte Auffassung vom Medium als Material. Diesen unscharfen Trennungen wird man auch im vorliegenden Band begegnen, doch soll hier ausdrücklich auf eine korrekte Unterscheidung der Begrifflichkeiten hingewiesen werden, da mit Materialität und Medialität zwei weitere Ebenen hinzukommen, auf denen spezifische Entgrenzungen stattfinden können. Die in letzter Zeit verstärkt in den Blick genommenen intermedialen Phänomene, die häufig unter dem Oberbegriff der Entgrenzung thematisiert werden, sind deshalb auch keinesfalls mit einer Auflösung von Gattungsgrenzen gleichzusetzen, obgleich sie mit ihnen einhergehen können.
Intermedialität, Intergenerik, Intermaterialität Entgrenzungstendenzen unterlaufen auf den ersten Blick die Annahme von zwei voneinander unterscheidbaren Größen, sprich ebenjene Grundannahme der Intermedialitätsforschung. Auch wenn »der grundlegende Konstruktcharakter von Medien- und Kunstbegriffen ebenso offenkundig [ist] wie deren historische Wandelbarkeit und Abhängigkeit vom je beobachtenden Subjekt oder System«13,
12 So folgert Fischer-Lichte unter Bezugnahme auf Lessings Laokoon, dass »Malerei und Dichtung als zwei grundlegend unterschiedliche Medien definiert« (Fischer-Lichte 2010, S. 10) sind. Diese hier sichtbare begriffliche Unschärfe besitzt mit der modernistischen Theoriebildung um Clement Greenberg einen prominenten Vorläufer: Nicht nur das Medium der Malerei, also das Bild, sondern auch die Malerei selbst wird dort als Medium bezeichnet, das sich auf die seiner Wesenhaftigkeit entsprechenden Ausdrucksmittel beschränken solle. Vgl. Greenberg, Clement und Karlheinz Lüdeking (Hrsg.): Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken 1939-1969, Dresden: Philo 1997. 13 Rajewsky, Irina O.: Medienbegriffe – reine diskursive Strategien? Thesen zum ›relativen Konstruktcharakter‹ medialer Grenzziehungen, in: Erika Fischer-Lichte, Kristiane
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so ist gerade aufgrund dieser Konventionalisierung die Vorstellung vom Einzelmedium im Rezipienten abrufbar, was es möglich macht, intermediale Praktiken in einem (entgrenzten) Werk zu verorten. Um intermediale Entgrenzungen genauer spezifizieren zu können und sie zu den verschiedenartigen Entgrenzungen auf Ebene der Kunstformen und (Unter-) Gattungen sowie auf Materialebene in Beziehung setzen zu können, soll nun auf den Begriff der Intermedialität eingegangen werden, da dieser weit fassbar ist. So bündelt Intermedialität die »Beschäftigung mit einer Vielzahl heterogener Phänomene unter [einem] Oberbegriff«14, so dass dieser zu einem Schirm für eine Reihe weiterer Begriffe und Phänomene wird, die teils als Subkategorien, teils synonym für den Begriff Intermedialität verwendet werden. So gilt Intermedialität auch als das Schlagwort, wenn vom Trend zur gegenseitigen Bezugnahme und Vermischung verschiedener medialer Ausdrucksformen die Rede ist.15 Da Intermedialität selten »als medienübergreifender, d. h. als ein Bereich erfaßt [sic] [wird], der unabhängig von der Spezifik der jeweils involvierten Medien Bestand hat«16, geraten intermediale Phänomene vielmehr objektgebunden in den Blick der jeweils zuständigen Fachdisziplin, so dass parallel ohne Austausch an denselben Spielarten von Intermedialität geforscht wird.17 Den Mangel an einer Klärung des Intermedialitätsbegriffs und an einer allgemeinen Intermedialitätstheorie, aber auch an einem einheitlichen Begriffsinstrumentarium zur Beschreibung intermedialer Phänomene, hat Irina O. Rajewsky zu beheben versucht, wobei ihr entscheidender methodischer Schritt darin besteht, dass sie Intermedialität von Intra- und Transmedialität abgrenzt:18 Intermedialität bezeichne Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei Medien involvieren. Unter Intramedialität fielen Phänomene, die nur ein Medium involvieren. Transmedialität umfasse dagegen medienunspezifische Phänomene, die in verschiedenen Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne dass hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist.
Hasselmann und Markus Rautzenberg (Hrsg.): Ausweitung der Kunstzone. Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften, Bielefeld: transcript 2010, S. 33-47, hier S. 41. 14 Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2002, S. 6. 15 Vgl. ebd., S. 1. 16 Ebd., S. 3f. 17 Vgl. ebd., S. 4. 18 Vgl. ebd., S. 12f.
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Der Nachteil eines solchen weit gefassten Intermedialitätsbegriffs besteht darin, dass keine einheitliche Theoretisierbarkeit des gesamten Gegenstandsbereiches möglich ist.19 Der Vorteil besteht neben einer klaren Abgrenzung von Intra- und Transmedialität nicht nur in einer Erfassung sämtlicher Subkategorien des Intermedialen, sondern auch in der transdisziplinären Anwendbarkeit dieses Begriffs. In Bezug auf Entgrenzungsphänomene zeigt sich Letzteres beispielhaft, insofern sich die eben vorgestellten Kategorien des Medialen sehr gut auf die verschiedenen Ebenen der Entgrenzung in den Künsten anwenden lassen, so dass man nicht nur auf Medialitätsebene von intra-, inter- und transmedialen Entgrenzungen sprechen, sondern diese Begrifflichkeiten auch auf die Ebene der Kunstformen und (Unter-)Gattungen übertragen kann: Eine Entgrenzung auf Ebene der Untergattungen ist dann als eine intragenerische, eine Entgrenzung auf Ebene der Gattungen als eine intergenerische und eine Entgrenzung auf Ebene der Kunstformen als eine transgenerische Entgrenzung zu bezeichnen. Analog lässt sich auch auf der Ebene des Materials zwischen intra-, inter-, und transmaterialer Entgrenzung sprechen. Innerhalb des intermedialen Gegenstandsbereiches lassen sich laut Rajewsky drei grundsätzlich verschiedene Phänomenbereiche, sprich Subkategorien, ausmachen: erstens die Medienkombination, zweitens der Medienwechsel und drittens der Bereich der intermedialen Bezüge, der häufig als Intermedialität im engeren Sinne gilt.20 Ein bestimmtes Medienprodukt kann dabei nicht nur eine, sondern auch in zwei oder sogar alle drei Kategorien fallen. Ein Werk kann also auf mehrere verschiedene Arten und Weisen intermediale Entgrenzung erfahren. Aber nur im Falle der Medienkombination kann es auch generisch und/oder material entgrenzt sein, nämlich dann, wenn Medien in einem Werk miteinander kombiniert werden, auf denen die Kunstformen bzw. (Unter-)Gattungen beruhen, d. h. wenn z. B. eine Kombination von Text (Literatur) und Bild (bildende Kunst) vorliegt. Um diese theoretischen Überlegungen etwas anschaulicher zu machen, sei ein Beispiel angeführt: das tableau vivant, auch lebendes Bild genannt, da es sich sehr gut eignet, verschiedene Ebenen der Entgrenzung vorzuführen. Versteht man unter einem tableau vivant die Nachstellung von Werken der Malerei und Bildhauerei durch lebende Personen, dann ist die dauerhafte Fixierung dieser Nachstellung nicht zwingend inbegriffen, da es bei seinem Aufkommen gegen
19 Ebd., S. 14. 20 Vgl. ebd., S. 15-18. Als intermedialer Bezug wird nach Rajewsky etwa »der Bezug eines literarischen Textes, eines Films oder eines Gemäldes auf ein bestimmtes Produkt eines anderen Mediums« (S. 17) bezeichnet.
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Ende des 18. Jahrhunderts noch vornehmlich der Unterhaltung im Rahmen gesellschaftlicher Anlässe diente. Diese kann ihr aber nachfolgen. So kann mit einem tableau vivant also sowohl die Nachstellung an sich als auch das Ergebnis der dauerhaften Fixierung, etwa eine Fotografie, bezeichnet werden. Insofern das Nachstellen von Gemälden, Plastiken oder Skulpturen durch lebende Personen nicht an eine bestimmte Kunstform bzw. (Unter-)Gattung oder ein bestimmtes Medium gebunden ist, kann das tableau vivant als ein transgenerisches sowie transmediales Konzept bezeichnet werden. So kann eine solche Nachstellung etwa im Theater zur Aufführung kommen, aber auch in einen Film Eingang finden. In jedem Fall findet aber ein (mehrstufiger) Medienwechsel statt. Aus diesem Grund und da sich die Nachstellung schon per definitionem auf Untergattungen der bildenden Kunst bezieht, finden sich in einem tableau vivant stets intermediale und intergenerische Bezüge. Trotz dieser Bezugnahmen ist das tableau vivant jedoch nicht notwendigerweise ein Hybrid, da das Gemälde, die Plastik oder die Skulptur völlig im kontaktnehmenden Medium aufgeht, d. h. dass es nur dann zu einem Hybrid wird, wenn es sich bei dem kontaktnehmenden Medium um ein Hybrid handelt.
Entgrenzung und Dominanzbildung Werden Kunstformen und (Unter-)Gattungen, Medien und Materialien und nicht zuletzt die einzelnen Disziplinen, die sich Entgrenzungsphänomenen gegenübersehen, entgrenzt, so ist zu untersuchen, welche Grenzen sich verschoben bzw. aufgelöst und infolgedessen neukonstituiert haben. Darüber hinaus ist aber auch das aus der Entgrenzung resultierende Endprodukt zu betrachten, d. h. das Mischungsverhältnis der ehemaligen Formen innerhalb der neuen Grenzen. Festzustellen ist hierbei, dass in der Forschung unter dem Stichwort der Dominanzbildung eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik stattfindet und hier weniger eine Analyse als eine schon kommentierende Interpretation des Verhältnisgefüges möglicher Konglomerate vorgenommen wird. So beschreiben Uta Degner und Norbert Christian Wolf einen Wettkampf, der sich zwischen Kunstformen und kunstwissenschaftlichen Disziplinen abspielt,21 so dass man unmittelbar an den paragone, den Rangstreit zwischen den Künsten bzw. ihren Gattungen, erinnert wird. Dessen moderne Variante soll aber gerade bei inter- und ebenso intramedialen Grenzübertretungen,22 also in den ge-
21 Vgl. Degner und Wolf 2010. 22 Vgl. ebd., S. 11.
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nannten Mischformen, zum Vorschein kommen. Degner und Wolf gehen davon aus, verschiedene Medien stünden innerhalb eines entgrenzten Werkes unweigerlich in einem hierarchischen Machtgefälle zueinander, aus dem sich ihre soziokulturelle Legitimität ableiten ließe.23 Die verschiedenen Künste, ebenso wie die Künstler selbst, würden sich – aus dieser Perspektive – als Konkurrenten in einem Wettstreit um Einfluss und Legitimität begegnen, in dem sich letzten Endes immer Dominanzen herausbilden werden, ja herausbilden müssen. Zwar sprechen Irina O. Rajewsky und Werner Wolf ebenfalls von medialen Dominanzen, aber dies zunächst zu Differenzierungszwecken, also etwa um Phänomene innerhalb der Subkategorie der Medienkombination exakter beschreiben und verschiedene Intermedialitätsmodelle klassifizieren und komparativ gegenüberstellen zu können.24 Allerdings wird diese zunächst nicht wertende Begriffsverwendung insofern von Werner Wolf selbst in einem normativen Sinne erweitert, wenn er Dominanzbildungen in einen Zusammenhang mit »Indizien für den Wechsel von Leitmedien und damit für Umschichtungen innerhalb ganzer Medienlandschaften«25 stellt. Da Kunst bekannterweise als Seismograf der Gesellschaft fungiert, folgert er, dass auch Dominanzen in den Künsten tiefer liegende kulturelle Veränderungen widerspiegeln, sich Dominanzen also analog zu gesellschaftlichen Strukturen bilden. Entsprechend fassen Degner und Wolf Intermedialität »weniger als ein Entgrenzungsphänomen, vielmehr als ein Medium im Kampf um kulturelle Avanciertheit«26 auf. Intermediale Kunstformen würden die Vorzüge eines externen Mediums nutzen, indem sie diese transferieren und zu ihrer je eigenen Qualität transformieren. Dabei würden sie sich aber, so Degner und Wolf, nicht nur aus purem Selbstzweck entgrenzen, sondern auch um einen Kampf auszutragen.27 Zwischen Kunstformen, die auf traditionellen Medien basieren, und Kunstformen, die sich technische Neuerungen zu Nutzen machen und sich insofern als zeitgemäßer empfinden könnten, mag es zwar einen Rangstreit um künstlerische Legitimität geben, der sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung eines Kunstwerks oder einer Kunstgattung niederschlägt. Aber ist es vom Standpunkt der kunstwissenschaftlichen Analyse aus fruchtbar, Dominanzen in den Kompositen von Kunstformen, (Unter-)Gattungen, Medien und Materialien zu suchen,
23 Vgl. ebd., S. 7f. 24 Vgl. Rajewsky 2002, S. 16. 25 Wolf 2010, S. 258. 26 Degner und Wolf 2010, S. 13. 27 Vgl. ebd., S. 13.
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zu thematisieren und sie durch diese erhöhte Aufmerksamkeit noch zu stärken – ja sogar disziplinäre Grabenkämpfe zu eröffnen?28 Vielmehr erscheint es sinnvoll, die Frage, welches Medium sich im Zuge der vielfältigen Entgrenzungsphänomene gegenüber einem anderen durchsetzt bzw. auf welche Weise es sich als dominant erweist, neutral zu formulieren. Es sollte also untersucht werden, wie ein Medium durch bloße Bezugnahme, direkte Transfers oder das Aufgehen in einer hybriden Mischform verändert bzw. wie es durch ein anderes im Sinne eines beidseitig möglichen Austauschs bereichert wird. Nur durch eine unvoreingenommene Analyse eines Kunstwerks kann letztlich beurteilt werden, ob ein Legitimitätsanspruch im Zentrum des Werks steht. Auch wenn eine solche Ausrichtung denkbar ist, so ist doch davon auszugehen, dass intermediale Grenzgänge Künstlern in erster Linie dazu dienen, die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern. Es erscheint also in jedem Fall unabdingbar, auch andere Dispositionen als die eines Wettstreits auszumachen. Anstelle des mitschwingenden Bildes von sich bekämpfenden Fronten könnte etwa die Vorstellung von wechselseitiger Kooperation und respektvoller Interaktion stärker hervortreten. Dies lässt sich wiederum parallel zu Degner und Wolf nicht nur zwischen den verschiedenen Medien, sondern auch zwischen unterschiedlichen Intermedialitätskonzepten denken.29 Analog gilt dies für Entgrenzungen auf Ebene der Kunstformen, Gattungen, Untergattungen und Materialien und damit ebenso für die hier vorgestellten Modelle von Intergenerik und Intermaterialität.
Kunst und Leben Bisher wurden nur Entgrenzungsphänomene betrachtet, die sich innerhalb der Künste verorten lassen, also werkzentriert sind. Eine weitere werkzentrierte Entgrenzung, die aber letztlich ins Leben überführt und deshalb im Kontext der Transformationen nicht außer Acht gelassen werden darf, ist die Entgrenzung zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Wirft man einen Blick auf die verschiedenen philosophischen Debatten, die es sich zum Ziel gesetzt haben, Kategorien zu finden, anhand derer sich ein Gegenstand eindeutig als Kunstwerk identifizieren lässt, dann lässt sich konstatieren, dass dieses Unterfangen äußerst problematisch ist. Die Grenze zwischen dem Bereich der Kunst und dem Bereich der NichtKunst scheint sich desto stärker einer exakten Bestimmung zu entziehen, je mehr
28 So z. B. der Disput zwischen Silvestra Mariniello und Werner Wolf. Vgl. Wolf 2010, S. 256-258. 29 Vgl. Degner und Wolf 2010, S. 13.
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man sie zu fassen versucht. Nichtsdestotrotz wird innerhalb der Kunstwissenschaften zwischen Kunst und Nicht-Kunst unterschieden, beruht doch die Festlegung des Gegenstandes aller kunstwissenschaftlichen Disziplinen auf dieser Grenzziehung. Was jedoch in der vagen Grauzone des Grenzgebiets liegt, wird gesondert erfasst und im Gegensatz zu den hohen Künsten nicht selten als low culture betitelt. Wenn etwa Künstler wie Roy Lichtenstein oder Andy Warhol in den 1950er Jahren Elemente des Comics oder der Werbegrafik, also Elemente der low culture, aufgegriffen und in ihre Werke einfließen haben lassen, dann fand dort nicht nur eine generische Entgrenzung, sondern auch eine Entgrenzung zwischen high und low, eine Entgrenzung an den Rändern von Kunst und NichtKunst statt. Da sich dieser Trend zur Entgrenzung in allen Künsten bis in die Gegenwart hinein fortsetzt, ist nun zu konstatieren, dass die Kategorisierung in high and low bei zahlreichen Kunstformen heute nicht mehr dienlich sein kann. Dies betrifft insbesondere Spielarten, die sich nicht durch ihre Distributionswege bzw. ihr Zielpublikum klassifizieren lassen, deren Status als Kunst also nicht durch ihre Einbindung in einen institutionellen Kontext gewährleistet wird. So verschwimmt z. B. bei Projekten wie dem Werbespot TRAIN DE NUIT (2009) für Chanel No 5 des französischen Regisseurs Jean-Pierre Jeunet die Trennlinie zwischen einem von Unternehmensinteressen geleiteten Clip und einem Kunstfilm bis zur Unkenntlichkeit. Wenn aber ehemals als low culture Wahrgenommenes in die high culture bzw. high art überführt wird, dann hat dies in umgekehrter Weise zur Folge, dass auch Gegenstände des Alltagslebens ästhetisiert erfahren werden. Man spricht im Zuge dessen häufig von einer Ästhetisierung der Alltags- oder der Lebenswelt.30 Ästhetik (griech. aisthesis) wird dabei – im Gegensatz zu seiner Verengung auf das Schöne im allgemeinen Sprachgebrauch – in seiner ursprünglichen Bedeutung als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis aufgefasst.31 Durch die Anwendbarkeit des eigentlichen Hintersinns sowohl auf das Kunstfeld als auch auf die Lebenswelt wird evident, dass es sich auch bei der Grenze zwischen Kunst und Leben lediglich um eine künstlich erschaffene Demarkation handeln könnte. Kunst wird konventionell also nicht nur von Nicht-Kunst im engeren
30 Zu den Auswirkungen der verstärkten Ästhetisierung in unserer Gesellschaft siehe Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam 1993. 31 Als Gründungsvater der philosophischen Ästhetik gilt Alexander Gottlieb Baumgarten. Vgl. Schweizer, Hans Rudolf: Einführung, in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der »Aesthetica« (1750/58), S. VII. Nicht außer Acht gelassen werden sollte in diesem Zusammenhang zudem Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser 2000.
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Sinne, sondern auch vom Leben im weiteren Sinne abgegrenzt, so dass auch in diesem Bereich Entgrenzungsphänomene festgemacht werden können, wie sie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts z. B. in den objet trouvés und Ready-mades im Umkreis des Dadaismus manifestierten. Im Grenzraum zwischen Kunst und Leben nimmt die Kunstform des Happenings eine bemerkenswerte Stellung ein, da in ihr das Verschmelzen von Kunst und Leben intendiert und die Unterscheidung zwischen Akteur und Zuschauer, Produzent und Rezipient aufgehoben wird Der Terminus Happening wurde von Alan Kaprow geprägt, als er im Herbst 1959 in der Reuben Gallery in New York mit seinen 18 HAPPENINGS IN 6 PARTS dem statischen Kunstwerkbegriff entsagte und die Besucher der Galerie durch Kärtchen mit Handlungsanweisungen aufforderte, im Rahmen seiner Installation in Aktion zu treten. Auf diese Weise wurden sie zum Teil des Kunstwerks. Happenings können jedoch auch diese Grenze überschreiten und in den Bereich des Gesellschaftlichen und Poltischen eindringen. Beispielhaft kann diese Art der Entgrenzung an der Breslauer Orangen Alternative verdeutlicht werden, die das Happening in den 1980er Jahren bewusst einsetzte, um im öffentlichen Raum mittels Kunstaktionen politische Umstände im sozialistischen Polen zu hinterfragen.32 So z. B. im Happening TAG DES AGENTEN am 1. März 1988, anlässlich dessen ein Flugblatt angefertigt wurde, in dem die Bewohner Breslaus aufgefordert wurden, sich als Agenten zu verkleiden und als solche in der Breslauer Innenstadt zu einem verabredeten Zeitpunkt zu agieren: » Benimm dich frei; fordere Passanten auf, dir ihre Dokumente zu zeigen. Zeige das Innere deines Mantels, wo deine Dienstmarke deutlich zu sehen sein wird.«33 Hunderte von Menschen folgten dem Aufruf und ließen sich die Papiere von Passanten zeigen.34 Das Eingreifen der Miliz ließ nicht lange auf sich warten. Und während die Happening-Akteure ihre Kontrollaktion fortführten und sich von den Milizionären nicht einschüchtern ließen, begannen auch diese, sich sowohl von unbeteiligten Passanten als auch von allen Beteiligten die Ausweise vorzeigen zu lassen. Auf diese Weise wurde die Miliz zum Teil des Happenings.
32 Mehr zur Orangen Alternative siehe Szymanski, Berenika: Theatraler Protest und der Weg Polens zu 1989. Zum Aushandeln von Öffentlichkeit im Jahrzehnt der Solidarność, Bielefeld: transcript 2012 (im Druck). 33 Flugblatt »Dzień Tajniaka«, im Breslauer Archiv: Archiwum Zakładu Narodowego im. Osolińskich, Pomarańczowa Alternatywa I-2, t. 2, lata 1988-1990. 34 Vgl. Interview mit Krzysztof Albin, in: Kenney, Padraic: Wrocławskie zadymy, Wrocław: Atut 2007, S. 303-313 und S. 319.
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Happenings, aber ebenso Performances, können teils augenfällige und teils subtil variierte Schwellenräume zwischen Kunst und Alltagswelt bilden. Eben diese Transformationen werden gerne von interdisziplinären Forschungsprojekten ausgelotet, wobei insbesondere die damit einhergehende und oben bereits angesprochene Ästhetisierung der Alltags- bzw. der Lebenswelt ins Blickfeld gerückt wird.35 Zwar werden innerhalb jener Diskurse u. a. wertvolle Aussagen zur Intermedialität und Hybridisierung entwickelt, die Untersuchung der Rezipientenseite erfährt aber eine starke, nicht immer gerechtfertigte Betonung.36 Während Fischer-Lichte noch konstatiert, dass die Kunstwissenschaft im Kontext des Entgrenzungsdiskurses »von der künstlerischen Praxis ausgehen«37 solle, lässt sich allgemein doch eher eine Tendenz zur Vernachlässigung der Produktionsseite ableiten. Entgrenzungen finden aber nicht nur in Bezug auf den Rezipienten, sondern ebenso und vor allem werkintern statt. Die vorliegende Publikation legt das Augenmerk auch auf das Auftreten von Entgrenzungen in den Werken selbst sowie auf die Produktionsprozesse, aus denen sie hervorgehen. Erst durch eine ausgewogene Betrachtungsweise können diesbezügliche, thematische Annexe der Entgrenzungsproblematik beschrieben werden, z. B. Funktionsweisen zwischen entgrenzten Werken und deren Rezeption ebenso wie Zusammenhänge zwischen nicht-entgrenzten Werken und deren grenzübertretender Rezeption.
Zu den Beiträgen des Bandes An diesem Punkt angelangt, erscheint es notwendig, die Praxis an den theoretischen Überlegungen zu messen: Zu welchem Schluss gelangen die Beiträger des vorliegenden Bandes und wie positionieren sich diese zu den vorgebrachten Thesen? Während im vorliegenden Band ein Konsens darüber herrscht, dass sowohl werkimmanente Entgrenzungen als auch Grenzauflösungen zwischen Kunst und Nicht-Kunst bzw. Kunst und Leben untersucht werden sollten,38 existiert keine Einigkeit, wie eine solche Analyse geartet sein sollte. Die Aufsätze entspringen zum großen Teil Promotions- aber auch Habilitationsprojekten, so
35 Vgl. dazu beispielsweise Fischer-Lichte 2010, S. 7f. 36 Identisches lässt sich über die gesamte Forschungslinie des Sonderforschungsbereichs 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der Freien Universität Berlin aussagen, in dem Fischer-Lichte eine Schlüsselrolle einnimmt. Vgl. http://www.sfb626.de (zuletzt aufgerufen am 19.07.2011). 37 Vgl. Fischer-Lichte 2010, S. 17. 38 Vgl. ebd., S. 11.
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dass in einer einzigartigen Weise aktuelle Forschungstendenzen gebündelt werden können. Die Beiträger kommen – entsprechend der interdisziplinären Ausrichtung des Bandes – aus unterschiedlichen Fachrichtungen: der Kunstgeschichte und der Kunstpädagogik sowie der Film-, Musik- und Theaterwissenschaft. Entsprechend breit gefächert sind die Ansätze der einzelnen Texte. Die Verwendung der zahlreichen Begrifflichkeiten wie Transformation und Entgrenzung, Intra-, Inter- und Transmedialität sowie Hybridisierung,39 deren Klärung hier vorgenommen wurde und die in einen übergreifenden Zusammenhang gestellt wurden, kann entsprechend der grundsätzlich differenten disziplinären Hintergründe der Autoren weder vorausgesetzt noch erwartet werden, weshalb jeder Beitrag seine eigene Begriffsklärung zu konstatieren sucht. Obwohl zahlreiche Aufsätze sich auf hybride Kunstformen des 20. Jahrhunderts stützen, in denen sich Transformationen leicht aufspüren lassen, versuchen doch einige Autoren Entgrenzungstendenzen auch in der vormodernen Zeit auszumachen: So gelingt es Isabella Augart im Kontext der altniederländischen Malerei oder Jennifer Bleek beim Rückgriff auf gedankliche Strukturen der Renaissance der häufig anzutreffenden, aber nicht korrekten Vorstellung von der Aufhebung der Gattungsgrenzen erst im 20. Jahrhundert ad acta zu legen. Der Sammelband gliedert sich in fünf Kapitel, deren Konzeption sich eher auf eine nachträgliche Sortierung als auf eine didaktische Vorgabe der Herausgeber zurückführen lässt. Festzustellen ist, dass bestimmte Themenblöcke sich aus den unausgesprochenen Bezügen zwischen den Beiträgen ergeben. Die Autoren argumentieren häufig aus einer gemeinsamen Perspektive: Sie fokussieren sich auf Aspekte von Entgrenzungsphänomenen, die sich unabhängig von der wissenschaftlichen Disziplin des Beiträgers und losgelöst von der analysierten Kunstgattung oder der zeitlichen Verortung des Inhalts in übergeordnete Rubriken kategorisieren lassen. Die Anthologie spiegelt also auch in dieser Hinsicht die Tendenz zur Auflösung von Grenzen wider. Der hier vorgestellte Abriss über die verschiedenen Gruppierungen soll die übergeordneten Zusammenhänge der Forschungsansätze sichtbar machen und für den Leser die Verbindung zu den erläuterten theoretischen Sachverhalten und Begriffsbestimmungen ergänzen. Im ersten Kapitel des Bandes – Grenzen in Produktion und Rezeption – reagieren die Autoren auf die aktuell in der Forschung präferierte Tendenz, die Rezeptionsseite der Produktionsseite vorzuziehen, obwohl beide Seiten gleichbe-
39 Ein ebenfalls anzutreffender Terminus ist Transgression (lat. transgressus). Eine Transgression bezeichnet im Allgemeinen ein Überschreiten oder ein Überwinden. Sie gewinnt im Bereich der Gender Studies eine spezifische Bedeutung, indem sie das Übertreten der Grenzen zwischen den Geschlechterrollen meint.
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rechtigt beleuchtet werden sollten. Astrid Hackel widmet sich der zunehmenden Verschmelzung der Rolle des Rezipienten mit der Position des Produzenten im (Tanz-)Theater. Sie untersucht, wie sich die Choreografin Meg Stuart in ALL TOGETHER NOW (2008) über Aufführungskonventionen hinwegsetzt und in ihrer Choreografie die klassischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen infrage stellt. Lars Robert Krautschick geht in seinem Beitrag der Produktionsästhetik von Horrorfilmen und ihrem Zusammenhang zum authentischen Erleben nach. Im Vordergrund seiner Untersuchung, die an den Filmen BLAIR WITCH PROJECT (1999) und PARANORMAL ACTIVITY (2007) verhandelt wird, steht die Frage, inwiefern transmediale Konfigurationen zur Evokation von Authentizität beitragen können. Auch Miriam Drewes konkretisiert die Wirkungsmöglichkeiten, die ein Film auf seine Zuschauer entwickeln kann, und analysiert am Beispiel von Steven Soderberghs Film BUBBLE die Wechselwirkung ästhetischer, technischer und ökonomischer Produktionsprozesse. Die Autorin demonstriert so die Vorteile einer nicht nur auf Fragen der Ästhetik konzentrierten Herangehensweise. Isabella Augart beschreibt bei Werken der altniederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts das Spannungsfeld an den Bildrändern im Übergang von Produkt und Rezipient. Sie zeigt auf, dass mit der typologischen Bildstruktur, die Szenen des Alten und des Neuen Testaments miteinander verknüpft, eine narrative Strategie vorliegt, die sich als entgrenztes Erzählen bezeichnen lässt. Frédéric Döhl konzentriert sich in seinem Aufsatz auf den in verschiedenen musikalischen Feldern tätigen Musiker André Previn und fragt, dessen Rezeption betrachtend, welche Rückschlüsse aus dem Trend zur Entgrenzung in den Künsten für die Produktions- wie Rezeptionsseite ausgemacht werden können. Die zweite Gruppe des Bandes hat Mediale Transformationen, d. h. den Wechsel eines Kunstwerks im Sinne eines Transfers zu anderen medialen Erscheinungsformen im Blick. Stephanie Sarah Lauke geht in ihrem Beitrag den medialen Transformationen von Doug Aitkens Videoinstallation SLEEPWALKERS (2007) nach, deren museale Präsentation räumlich und zeitlich entgrenzt wird: Einerseits geschieht dies durch virtuelle Hinzufügungen des Künstlers selbst, andererseits durch im Internet zirkulierende Videomitschnitte von Besuchern, die als Surrogate für einen unmittelbaren Wahrnehmungseindruck verstanden werden können. Ruth Reiche untersucht die narrativen Strategien in Eija-Liisa Ahtilas Dreikanal-Installation THE HOUSE (2002), wobei die installative Version des Werks am Ende einer Kette von Transformationen desselben Ausgangsmaterials steht. Die Autorin zeigt auf, inwiefern das Erzählen mit mehreren Leinwänden den Umgang mit Zeitlichkeit verändert. Zudem spiegelt THE HOUSE als Hybrid zwischen Raum- und Zeitkunst nicht nur formal, sondern auch inhaltlich allgegenwärtig zu beobachtende Entgrenzungstendenzen wider.
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Im darauffolgenden Kapitel Entgrenzung als neue Sichtweise werden Perspektiven vorgestellt, die sich von den Grenzen der gängigen wissenschaftlichen Betrachtungsweisen entfernen. So setzt sich Johanna Gundula Eder mit der Radiodokumentation THE IDEA OF NORTH (1967) von Glenn Gould auseinander und veranschaulicht, wie sich interdisziplinäres Denken als transformatorisches Prinzip verwirklichen und so für die kunstpädagogische Bildung fruchtbar gemacht werden kann. Sie greift dabei auf die für die intermediale Forschung besonders aufschlussreichen 1960er Jahre zurück, die von den Strömungen der Conceptual Art und des Fluxus maßgeblich geprägt wurden. Alexandra Vinzenz zieht aus der Beschäftigung mit dieser Phase dagegen völlig andere Rückschlüsse: Sie widmet sich der HOMMAGE À JOHN CAGE (1959) des koreanischen Künstlers Nam June Paik und zeigt, dass die Entgrenzung der künstlerischen Disziplinen als Prinzip Paiks verstanden werden kann, um transformierend auf die Gesellschaft wirken zu können. Zudem beschreibt sie, wie sich die Rezeptionswirkung und der beschriebene transformatorische Effekt eines Werks durch das Versetzen in einen externen Kontext verändern. Jennifer Bleek überträgt den Begriff rilievo, der untrennbar mit der italienischen Renaissance verbunden ist und dem die Dimension von Gegenständlichkeit und Plastizität innewohnt, auf einen filmwissenschaftlichen Diskurs. Die Gattungszusammenhänge überschreitende Perspektive spannt einen Bogen zum Film Noir der 1950er Jahre und spielt exemplarisch an THE MALTESE FALCON (1941) durch, welche Einblicke die Rückbesinnung auf traditionelles kunsthistorisches Rüstzeug ermöglichen kann. Die Beitragsgruppe An den Grenzen der Gattungen formiert sich um Mischformen bzw. Hybride aus verschiedenen Gattungen und geht der Frage nach, wie und ob sich die Aussagefähigkeit eines Mediums durch entgrenzte Verfahrensweisen verändert. Anastasia Dittmann analysiert die Stellung des tableau vivant40 als medial nicht fassbaren Zwitter zwischen den Gattungsgrenzen und stellt mit der académie eine ungewöhnliche Spielart desselben vor, bei der es sich um fotografische Aktdarstellungen handelt, die im akademischen Kontext als Ersatz für ein lebendes Modell fungierten. Das tableau vivant wird von Julia Quandt dagegen im Kontext des Films aufgegriffen, indem sie die Inszenierung von Gemälden in drei verschiedenen Filmen von Pier Paolo Pasolini, Derek Jarman und Peter Greenaway untersucht. Sie unterscheidet dabei Kopie, Imitat
40 Das tableau vivant wurde beim Symposium 2010 mehrfach thematisiert. Auch Wolfgang Ullrich streifte diesen Themenkomplex in seinem Vortrag. Vgl. Ullrich, Wolfgang: Gurskyesque: Das Web 2.0, das Ende des Originalitätszwangs und die Rückkehr des nachahmenden Künstlers, in: Julian Nida-Rümelin und Jakob Steinbrenner (Hrsg.): Kunst und Philosophie. Original und Fälschung, Ostfildern 2011, S. 93-113.
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und Zitat, d. h. sie differenziert drei Formen, durch die Malerei im Film erscheinen kann. Magdalena Zorn dagegen widmet sich dem Themenkomplex des Gesamtkunstwerks. In ihrem Aufsatz geht sie der virtuellen Begegnung zwischen den Komponisten Richard Wagner und Karlheinz Stockhausen nach und untersucht den Transformationsprozess von Wagners Werk und seine Spuren in Stockhausens Opernzyklus LICHT (1977-2003). Simone Fohr-Manthey arbeitet in ihrem Beitrag die Grenzüberschreitung in Edward Elgars Vokalwerk SEA PICTURES (1899) heraus, das auf fünf Gedichten unterschiedlicher Autoren basiert. Hierbei konstatiert sie diese sowohl auf der formal-medialen Ebene als auch hinsichtlich der narrativen Struktur sowie der Handlung des Werks. Den Abschluss bildet das Kapitel Grenze und Gedächtnis, das sich dem Grenzverlauf im kulturellen Gedächtnis widmet, aber ebenso Grenzgänge bei der Archivierung von kulturellem oder subjektivem Gedächtnis herausgreift.41 Shelley Harten wendet sich politischen und territorialen Grenzen in Israel/Palästina zu und gibt einen Abriss über die Entwicklung der zionistischen und israelischen bildenden Kunst, die unablässig von Fragen der Territorialität als soziale und kulturelle Bedingung tangiert wird und dadurch ihren autonomen Raum nicht wahrnehmen kann. Stefanie Loh analysiert in ihrem Beitrag zwei Arbeiten, die auf unterschiedliche Weise die Textgattung Tagebuch in eine künstlerischfotografische Form transformieren: Raymond Depardons Fotobuch PARIS JOURNAL (2004) und Rinko Kawauchis Foto-Blog RINKO’S DIARY (2004-2006). Verstanden als performative Tagebuch-Archive behandeln beide Werke die Themen Gedächtnis und Erinnerung. Monika Wermuth beleuchtet Harun Farockis Projekt der Erstellung eines Archivs filmischer Ausdrücke, für das dieser – dem Gedanken eines Nachschlagewerks folgend – vier Beiträge in Form von eigenständigen, abgeschlossenen Filmen erstellte. Wermuth beschreibt diese Form des Sammelns als intramediale Strategie und thematisiert die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Kunstformen bzw. semiotischer Systeme. Nadine Söll untersucht in ihrem Beitrag schließlich Slater Bradleys DOPPELGANGER TRILOGY (2001-2004): ein dreiteiliges Werk, das an den Schnittstellen von bildender Kunst, Performance sowie Musik- und Popkultur angesiedelt ist, und in dem Bradley mithilfe seines so genannten Doppelgängers, dem Schauspieler Benjamin Brock, die Grenzen von Erinnerung und Wahrnehmung transformiert, indem er nicht nur selbstinszenatorische Reflexionsräume eröffnet, sondern auch vergangene Ereignisse nacherlebbar macht.
41 Vgl. zum auf der Tagung vorgestellten globalen Bildatlas Haustein, Lydia: Global Icons. Globale Bildinszenierung und kulturelle Identität, Göttingen: Wallstein 2008.
GRENZEN IN PRODUKTION UND REZEPTION
Kalkulierte Kontrollverluste: Der Schwarzraum in Meg Stuarts Tanzperformance ALL TOGETHER NOW A STRID H ACKEL
Tanz- und theaterwissenschaftliche Aufsätze kommen nicht umhin, Aufführungen in Worte zu fassen. Selbst wenn es sich nur um eine spezifische Sequenz einer Inszenierung handelt, tauchen der Bühnenraum, die Akteure, ihre Bewegungen und der mitinszenierte Blick des Zuschauers an prominenter Stelle im Text auf. Dass etwas dargestellt wird, ist für Tanz und Theater gleichermaßen konstituierend; die Verbalisierung des Dargestellten bildet die Grundlage jeder Analyse. Die folgenden Überlegungen gehen von einer performativen Sequenz aus, die sich über diese Konvention hinwegsetzt. Meg Stuarts 2008 in Graz uraufgeführte Choreografie ALL TOGETHER NOW zeigt nichts: keine Bühne, keine Akteure, keine Bewegung und demnach auch keine Zuschauer. Sie stellt also nicht nur die aufführungsinhärente Fixierung auf die Darstellung, sondern auch die damit einhergehende, konstitutive Aufteilung in Akteure und Zuschauer infrage. Die Tänzerin und Choreografin Meg Stuart erreicht diese radikale Ausblendung durch den Einsatz eines Schwarzraums, wie er vor allem aus der Installationskunst bekannt ist. Im Unterschied zur bildenden Kunst begründet der Schwarzraum im (Tanz-)Theater keine Tradition, was mit den strengen Sicherheitsauflagen zusammenhängt, die das Ausschalten der Notbeleuchtung, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen gestatten.1
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Eingegangen in die Theaterannalen ist der legendäre Streit, den Thomas Bernhard und sein Regisseur Claus Peymann 1972 mit der Direktion der Salzburger Festspiele ausfochten, weil sie DER IGNORANT UND DER WAHNSINNIGE unbedingt in absoluter Finsternis enden lassen wollten. Als nach einer reibungslosen Generalprobe die Not-
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ALL TOGETHER NOW, aufgrund der technischen Schwierigkeiten nur in Graz und Brüssel aufgeführt, ist eine Seltenheit von bezwingender Radikalität. Die für die zeitgenössische Tanz- und Theaterästhetik symptomatische Rede von Formen der Abwesenheit und Leere als Kontrapunkte zum inszenierten Spektakel und seiner ausgestellten Präsenz wird hierin in einer Buchstäblichkeit umgesetzt,2 die innerhalb der darstellenden Medien ihresgleichen sucht und am ehesten mit ebenjenem Einsatz des Schwarzraums in der bildenden Kunst vergleichbar ist. So wie sich Black-Box-Installationen als Gegenentwürfe zum White Cube mit seiner Aufmerksamkeitsökonomie verstehen lassen, zeigt Meg Stuarts Schwarzraum ex negativo, wie sehr gerade die durch die Dunkelheit prononcierte Abwesenheit noch von Präsenz und Bedeutung durchdrungen ist. Als widersprüchliches und komplexes Gefüge bildet der Schwarzraum den Ausgangspunkt für die folgenden wahrnehmungsästhetischen Überlegungen, die den Körper des Zuschauers als Umschlagplatz dieser Erfahrungen ins Zentrum rücken. Einer ungewöhnlichen Situation ausgesetzt, die zunächst die Raumwahrnehmung des Zuschauers auf irritierende Weise verändert, interessiert vor allem der schöpferische Aspekt der Wahrnehmung, der durch den strategischen Lichtentzug aktiviert wird. Der Aufsatz zielt darauf, zu zeigen, dass das Ausblenden der Beleuchtung sich beim Zuschauer keineswegs auf den Versuch beschränkt, die künstlich aufgezwungene Blindheit zu überwinden; tatsächlich stellt der Lichtentzug nicht nur eine Herausforderung an den Gesichtssinn, sondern den gesamten Sinnes- und damit verschalteten Bewegungsapparat dar. Wo das Auge nicht länger in der Lage ist zu sehen, greifen unmittelbar die Hände ein und umgekehrt, wodurch zum einen die Ambivalenz des Raumes, zum anderen die in der Phänomenologie akzentuierte intermodale Verfasstheit der Sinne zum Ausdruck kommt. Der auf das Theater angewandten Definition von Sabine Schouten folgend, bezieht sich der Begriff der Intermodalität auf die »grundlegende Erfahrung einer Kommunikation der Sinne«3 und »ihre übergreifenden Verknüpfungen«. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Sinne über ihre mo-
beleuchtung zur Premiere überraschend an blieb, zogen Autor und Regisseur das Stück kurzerhand vom Spielplan zurück. 2
Vgl. Eiermann, André: Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste, Bielefeld: transcript 2009; vgl. Siegmund, Gerald: Abwesenheit: Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld: transcript 2006; vgl. Kruschkova, Krassimira (Hrsg.): OB?SCENE. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film, Wien: Böhlau 2005.
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Schouten, Sabine: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin: Theater der Zeit 2007, S. 54.
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dale Spezifik hinaus immer auch Gemeinsamkeiten aufweisen. Der Schwarzraum bringt diese Gemeinsamkeiten in besonderer Weise hervor, indem er die taktile Qualität des Sehens ebenso prononciert wie den visuellen Anteil am Tasten. Auch auf die Akustik wirkt er sich aus, wenngleich nicht derart, dass das Gehör, um den fehlenden Gesichtssinn zu kompensieren, hier besonders geschärft wäre. Im dritten Teil wird deshalb nach den signifikanten Auswirkungen des Schwarzraums auf Gehör und Stimme gefragt, um abschließend noch einmal den Bogen zur Wahrnehmung des Schwarzraums im Allgemeinen zu schlagen. Die Erwartungen der Zuschauer, die statt mit einer Performance mit dem Entzug einer Performance konfrontiert sind, werden im zentralen Teil von ALL TOGETHER NOW vielfach unterlaufen, gesteigert durch den Umstand, dass niemand damit rechnen konnte, Zeuge der radikalen und im Vorfeld geheim gehaltenen Ausblendung zu werden. Genau diesen Überraschungseffekt machte sich Meg Stuart zunutze.
Schwarz Von Anfang an steht die Choreografie ALL TOGETHER NOW im Zeichen der Zumutung. Vom Foyer der ehemaligen Grazer Fabrikhalle aus betreten die gut achtzig Besucher einen aus Brettern gezimmerten Raum, der ihrer Zahl nicht angemessen ist. Wie in einem überfüllten Fahrstuhl müssen sie sich eng aneinanderpressen; dann wird die Tür von außen geschlossen. Aus dem Off ertönt ein Text des Autors Tim Etchells, der stimmlich auf monotone, inhaltlich auf drastische Weise die Annäherung zwischen einem Mann und einer Frau schildert, deren Körper wie totes Fleisch emotionslos ineinander gleiten. Assoziationen mit der eigenen Situation, Körper an Körper in einer Art Käfig, sind unvermeidlich und gewollt; man kann sich kaum bewegen, die Temperatur steigt, die Luft wird schlechter. Als sich eine Tür zur anderen Seite hin öffnet, drängen die Zuschauer offenbar erleichtert in die dahinter liegende Aufführungshalle. Gleichzeitig ist ein entgegengesetzter Impuls spürbar, ein merkliches Zögern und Stocken, das sich nur damit erklären lässt, dass die klaustrophobische Enge mit dem Ortswechsel nicht wie zu erwarten aufgehoben, sondern gegen eine neue Art der komplexen Zumutung getauscht wird: Enge gegen Weite, Licht gegen Dunkelheit, Wärme gegen Kälte, Klang gegen Stille. Man könnte sich in der weiten, leeren Halle frei bewegen, wäre es nicht stockfinster und mucksmäuschenstill. Dann passiert eine Weile nichts; die Besucher sind auf sich gestellt, bewegen sich wie Blinde langsam tappend und tastend vorwärts und durchqueren auf die-
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se Weise einen unsichtbaren Raum, der ihre durch die ungewohnte Wahrnehmungsweise unmittelbar beeinflusste Bewegung auf aufdringliche und gleichzeitig vollkommen zurückgenommene Weise steuert. Formen der Fremdsteuerung sind charakteristisch für die Arbeiten von Meg Stuart. Allerdings bezieht sich die Fremdsteuerung in der Regel nicht auf das Publikum, sondern auf die szenisch agierenden Tänzer. Ihre Körper wirken oft, als seien sie regelrecht aus der Fassung geraten und unsichtbaren Kräften und Energien ausgesetzt, die sie in ihren natürlichen Bewegungen hemmen und gleichzeitig zu Handlungen veranlassen, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Dazu zählt das exzessive, unkontrollierbar wirkende Zittern, das Meg Stuart wiederholt in ihren Arbeiten einsetzt. Am Anfang von VISITORS ONLY (2003) beispielsweise zittert das ganze Ensemble minutenlang. Der Kultursoziologe und Dramaturg Rudi Laermans assoziiert solche Techniken der szenischen Verselbständigung von Armen und Beinen mit dem Tic und dem Handicap, motorischen Störungen aus dem Alltagsleben, die durch Meg Stuarts Einsatz auf der Bühne »normalisiert«4 würden. Sie werden jedoch nicht normalisiert, sondern bleiben auf befremdlich-vertraute Weise auffällig, ausgestellt; sie flimmern, auf den Titel einer Dokumentation über die Künstlerin anspielend, SOMEWHERE IN 5 BETWEEN, irgendwo zwischen Choreografie, Kunst und Alltag. In diesem Zwischen ist auch Stuarts Schwarzraum anzusiedeln, ein Übergangsraum zwischen dem zurückgelassenen Alltag und der noch ausstehenden Choreografie. Er rückt den Zuschauer ins Zentrum und prononciert seine Singularität, ohne diesen Vorgang für irgendjemanden sichtbar zu machen, wie man es im Theater gewohnt ist. Formal wird die visuelle Ausrichtung der Zuschauer so auf doppelte Weise infrage gestellt, denn die Unmöglichkeit zuzuschauen impliziert die Abwesenheit von etwas Dargestelltem. Nicht zu sehen ist in diesem Fall gleichbedeutend mit einem Nichts-Zu-Sehen-Geben. Damit lenkt der Schwarzraum die Aufmerksamkeit zurück auf den Zuschauer; er fordert ihn heraus, mit der ungewöhnlichen Situation umzugehen. Keine Distanz duldend, nimmt der Schwarzraum ihn radikal ein. Trifft der Besucher einer Black-Box-Installation im Museum meist selbst die Entscheidung, ob und wie lange er sich einer Lichtund Schallisolation aussetzt, lässt Stuart ihren Gästen keine Wahl. Während sie sich in konventionellen Formen des Partizipationstheaters durchaus entscheiden können, ob sie der Aufforderung zum Mitmachen nachkommen, ist hier niemand privilegiert, zuzusehen oder sich zu zeigen; jeder ist in seinem Zentrum, aber
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Laermans, Rudi: Dramatische Gesellschaftsbilder, in: Ballett International/Tanz Aktuell 8/9 (1995), S. 54-59, hier S. 56.
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SOMEWHERE IN BETWEEN (F 2004; R: Pierre Coulibeuf).
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keiner am richtigen Ort, weil der sich im Dunkeln verbirgt. Die Zuschauer, die ihre Zuschauerrolle einbüßen und zu Teilnehmern werden, sowie die Performer, sofern denn welche anwesend sind, nähern sich in Stuarts Schwarzraum einander bis zur Ununterscheidbarkeit an und bleiben doch intime Fremde6, die sich in der Dunkelheit zufällig berühren und wieder verlieren. Die Unzuordbarkeit körperlicher Begegnungen – oft nur ein flüchtiges Streifen –, die schon vergangen sind, kaum dass sich der Teilnehmer ihrer bewusst wird, verleiht der Atmosphäre etwas Gespenstisches. In der Regel darauf bedacht, Körperkontakt mit anderen Zuschauern zu vermeiden, entziehen sich diese unsichtbaren Prozesse seiner Kontrolle. Unwissentlich bewegt er sich stetig auf andere zu und entfernt sich wieder von ihnen. Es ist weniger das Publikum als die Szene, die darüber mit dem Körper in einen befremdlich-vertrauten Dialog tritt, sich an ihn schmiegt, ihn zu ihrem Zentrum macht und ihn über die Subjektivierung zu einer Reaktion nötigt. Während die Szene als Akteur hervortritt, tritt der Teilnehmer zwar sichtlich zurück, aber spürbar hervor. Seine Entfremdung als Zuschauer erinnert an Bernhard Waldenfels’ aisthetischen Zugriff auf die von Spannungen geladene phänomenologische Leiblichkeit, die den theoretischen Hintergrund der folgenden Überlegungen bildet; Dreh- und Angelpunkt der Selbstentfremdung ist die Einschränkung der Sicht, die auf nur scheinbar paradoxe Weise als Bedingung für eine Sichterweiterung erkennbar wird.
Raum In seinen als Sinnesschwellen betitelten fortgesetzten Studien zur Phänomenologie des Fremden hält Bernhard Waldenfels fest, dass man sich nur fassen kann, indem man sich entgleitet: »Leiblichkeit besagt, daß [sic] ich nur als Anderer ich selbst bin.«7 Von phänomenologischer Warte aus ist einem der eigene Körper immer nur partiell gegeben, während man den Anderen nur als Körper, nie als Leib wahrnehmen kann. Damit ist der Blick ins Spiel gebracht, der die spezifische, auf die Doppelnatur von Körper und Leib zurückführbare Fremdheit motiviert, indem er sich in einen subjektiven Blickappell und einen objektivierenden
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Anspielung auf den Titel einer Meg Stuart & Damaged Goods gewidmeten Veranstaltung: Intimate Strangers. Werkschau, Performances, Konzert, Symposium. Vom 12. bis 17.12.2006, Volksbühne Berlin.
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Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen – Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 51.
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Blickresponse spaltet, die wechselseitig miteinander verschränkt sind, wie JeanPaul Sartre ausführt.8 Auf diese Weise werden ideologische Blickordnungen motiviert, die die soziokulturelle Verfasstheit des Sehens und Gesehenwerdens selbstbezüglich bestätigen. Dieser Zirkelschluss wird im Schwarzraum durch die indirekte Ausschaltung des Gesichtssinns über den Entzug der Beleuchtung vorübergehend gestört. Der Zuschauer, der Stuarts Schwarzraum betritt, rechnet damit, ihn wie jeden anderen Raum auch wiederzuerkennen, indem er das Gesehene, in den Worten Jacques Rancières, unbewusst »mit vielen anderen Dingen«9 verbindet, die er »auf anderen Bühnen und an anderen Arten von Orten«10 gesehen hat. Dahinter steht die das abendländische Sehverständnis dominierende Hauptfunktion des Blicks, die sich auf das (Wieder-)Erkennen, Identifizieren und Deuten der Dinge bezieht. Doch der Schwarzraum verhindert all diese Funktionen; jegliches Vorwissen wird hier unbrauchbar. ALL TOGETHER NOW löst den Aufführungsort aus seinen Verankerungen und Zuschreibungen als Fabrik-, Kultur- oder Konzerthalle und mobilisiert ihn. Man kann diesen Raum bereits kennen und ihn dennoch zum ersten Mal betreten, denn die vormalige Funktionalität ist aus- und überblendet. Nicht der Raum selbst hat sich verändert, sondern die von der Choreografin forcierte gemeinsame Sicht auf ihn. Von semantischen und symbolischen Codierungen befreit, wirkt der Schwarzraum dennoch nicht leer und bestätigt Meg Stuarts szenisches Raumkonzept, wenn sie bekennt, »I never see an empty space. […] for me it’s packed. It’s full of presences, full of memories and people.«11 Ohne konkrete Anhaltspunkte über seine potenziellen Inhalte zu liefern, ist dieser Raum schon deshalb besetzt, weil er sein Geheimnis bewahrt und seinen tieferen Sinn auch nach Ende des auffälligen szenischen Einschnitts nicht verraten wird. Der Umstand, dass der Schwarzraum voller Erinnerungen und Menschen ist, birgt eine durchaus feindliche Komponente. Er heißt den Besucher nicht willkommen, sondern behandelt ihn wie einen blinden Passagier, einen in seiner Sicht- und Reichweite massiv eingeschränkten Fremdkörper. Er kaschiert seine Tiefen, Inhalte, Proportionen und vermittelt so ein unheimliches Gefühl. Vom Schwarzraum kann man sich keinen räumlichen Eindruck verschaffen, weil er sich nicht wie ein Raum,
8
Vgl. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006.
9
Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, aus dem Französischen von Richard Streuer, Wien: Passagen 2009, S. 23.
10 Ebd. 11 Stuart, Meg und Jeroen Peeters: Are we here yet? Damaged Goods, Dijon: Les presses du réel 2010, S. 230.
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sondern wie eine Fläche verhält. Damit widerspricht er seiner eigenen Logik – zumindest in den Augen des Besuchers; er könnte sich frei in ihm bewegen, würde ihn die künstliche Zone nicht von Anfang an abweisen, indem sie ihm, genauer gesagt seinem Blick, Raum entzieht. Wie zwei voneinander unabhängige Agenten geraten Blick und Körper an der Schwelle zum Schwarzraum und, wie wir gleich sehen werden, mit jedem Schritt erneut in Widerspruch, was den Besucher in seiner Integrität verunsichern muss. Während der Blick den Raum nicht durchmessen kann, widerspricht der Körper diesem Eindruck, indem er ihn zwar zögerlich, aber doch ungehindert durchdringt und durchschreitet. Anders als der Blick prallt er an der vor ihm aufscheinenden schwarzen Wand, als die sich die Dunkelheit präsentiert, nicht ab. Sie erweist sich als schwerelos und erscheint doch ganz anders als die von ihm nicht wahrnehmbare durchsichtige Luft. Dunkelheit wirkt im Gegensatz zum Licht stofflich, dicht, undurchdringlich – wohlgemerkt auf den Blick, nicht auf den Körper. Dieser grundsätzliche Widerspruch ist verantwortlich für die vom Schwarzraum ausgelösten Wahrnehmungsirritationen, die seine ungebrochene Faszinationskraft mitbegründen. Bezeichnend hierfür ist der Erfahrungsbericht der Kunsthistorikerin Antje von Graevenitz anlässlich ihres Besuchs einer Black-Box-Installation der Künstlerin Maria Nordmann: »[Man] meint […], in einem kleinen, länglichen Raum zu stehen, der tief verschattet daliegt. Bald darauf meint man, links einen dunklen Block zu erkennen, hinter dem merkwürdigerweise ein zweiter Raum, gleicher Abmessungen wie der, in dem ich stehe, erscheint. Der dunkle Block weicht einer dunklen Zone, die sich betreten läßt [sic]: Ich wage es und stehe nun in dem zweiten Raum dahinter. Als ich zurückblicke, stelle ich fest, 12
daß [sic] ich mich stets im selben Raum befunden habe, der sich nun als Saal entpuppt.«
Von Graevenitz’ Beobachtung, die sich auf die Wirkung von Stuarts Schwarzraum übertragen lässt, legt nahe, dass man in der Black Box selbst dann sieht, wenn es aufgrund des Lichtentzugs gar nicht möglich ist. Das zwischen Imagination und Halluzination anzusiedelnde Sehen stellt sich als wesentlich durch die Arbeit der Hände und Füße, das heißt durch den Tastsinn und die Fortbewegung motiviert dar, was vermuten lässt, dass man im Schwarzraum nicht vorrangig mit den Augen, sondern mit dem bewegten Körper und den übrigen Sinnen sieht. Damit betont der Schwarzraum die laut Waldenfels im Zuge der epistemischen
12 Graevenitz, Antje von: Selbsterfahrung durch die Sinne, in: Skulptur im 20. Jahrhundert, Kat. Ausst. Merian-Park Basel, Basel 1984, S. 180.
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Ausrichtung der Kulturgeschichte vernachlässigte leibliche Dimension des Sehvorgangs und seine darin aufgehobene heteroästhetische Verfasstheit.13
Körper »›Wer sieht?‹ […] Sieht das körperliche Auge oder sehen Seele und Geist mittels der Augen, wie schon Platon uns nahe legt [sic]?«14, fragt Waldenfels dementsprechend und zieht von der Kardinalfrage der Sehgeschichte aus eine deutliche Parallele zum Leib, der uns vor ähnliche Schwierigkeiten stellt wie das Auge, weil er »uns nahe rückt bis zur Ununterscheidbarkeit und uns in dieser Nähe dennoch fern bleibt.«15 Jene doppelte Problematik macht der Schwarzraum auf eindringliche Weise erfahrbar, weil er die Aufmerksamkeit des Zuschauers von den ihn normalerweise ständig umgebenden Zeichen und Gegenständen abzieht und ihn auf sich selbst lenkt, ihm andererseits aber ein Gefühl der Auflösung, des Kontur- wenn nicht gar Konsistenzverlusts vermittelt. Die Dunkelheit bedroht, formuliert der Soziologe Roger Caillios, den »Gegensatz […] von Organismus und Umgebung«16, indem sie ihn zunächst ganz schlicht überdeckt. Damit verliert der Besucher im Schwarzraum den Blick für sich selbst und für seine eigenen (Körper)Grenzen; denn wo hört der eigene Körper auf und wo beginnt der Raum, wenn es keine erkennbare Grenze mehr zwischen ihnen gibt? Ist uns unser Körper normalerweise zumindest in seiner partiellen Sichtbarkeit gegeben, können wir hier buchstäblich die Hand vor Augen nicht mehr sehen. Zwischen der Hand und dem Blick öffnet sich in Meg Stuarts Schwarzraum ein potenziell unendlicher Raum, der die für ihre Arbeiten typische Verselbständigung der Gliedmaßen in
13 Vgl. Williams, Linda: Pornografische Bilder und die ›körperliche Dichte des Sehens‹, in: Herta Wolf (Hrsg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 226-266; vgl. Hentschel, Linda: Pornotopische Techniken des Betrachtens: Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg: Jonas 2001; vgl. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1990. 14 Waldenfels 1999, S. 150. 15 Ebd. 16 Caillois, Roger: Meduse & Cie. Die Gottesanbeterin. Mimese und legendäre Psychasthenie, aus dem Französischen von Peter Geble, Berlin: Brinkmann & Bose 2007, S. 37.
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eine visuelle Isolation transponiert. Denn wo ist die eigene Hand, wenn sie nicht länger sichtbar ist, wo der Blick, wenn er nicht mehr an sie heranreicht? Was gehört überhaupt noch zum Eigenen, wenn mit der Endlichkeit des Blicks auch das Sein infrage gestellt ist? Blick und Gespür fallen an dem Punkt auseinander. Doch aus der Gegenbewegung heraus resultieren die unablässig im Entstehen und Vergehen begriffenen bildhaften Eindrücke, von denen bereits die Rede war. Der Besucher nimmt an, vor einer schwarzen Wand zu stehen, glatt, makellos und von Gewicht. Wenn er sich allerdings vorsichtig auf die Wand zubewegt, zerstört er diesen Eindruck mit seinen Händen. Indem er in die vermeintliche Wand hineingreift, muss er seine Auffassung von ihrer Körperlichkeit revidieren. Während der Blick dem Zuschauer Flächigkeit suggeriert, spürt die vorgreifende Hand einen Raum und korrigiert auf diese Weise den visuellen Eindruck; sie ertastet einen für den ganzen Körper passierbaren Durchgang. Der Blick passt sich dem sinnlichen Eindruck an und nimmt nun selbst einen Durchgang in Form eines sich abhebenden, helleren Bereichs an. Die in Taststellung gebrachten Hände sind bei Stuart also an vorderster Front damit beschäftigt, Raumeindrücke herzustellen, zu zerstören und im Akt ihrer Zerstörung neu zu konstituieren. Die Hände emanzipieren sich vom Blick, indem sie selbst voranschreiten und gewissermaßen sehend werden, während der Blick in seine Schranken gewiesen wird. So akzentuiert die Dunkelheit einerseits die Funktionen der beiden Sinne, die sich in ihren Kompetenzen überkreuzen, und macht andererseits gerade dadurch ihr verändertes, kooperatives Verhältnis deutlich. Dieser Chiasmus ist mehr als eine Metapher, soll aber keine Abwertung des einen Sinnes zugunsten des anderen implizieren. Indem die Hand im Schwarzraum sehend, der Blick tastend wird, tritt die im Alltag nachgerade überblendete, sich mit Funktion und Bedeutung der Hand deckende, leibliche Dimension des Sehens zutage. Ohne die neuronal-physiologischen Ursachen für das Zustandekommen von Halluzinationen zu thematisieren, lässt sich beobachten, dass das Sehen im Schwarzraum wesentlich auf eingebildeten Bildern basiert, die unabhängig von den gegenwärtigen Bedingungen aus in dieser spezifischen Ausnahmesituation aktivierten Erinnerungen gespeist werden. Das Verdienst der Einbildungskraft sei die Befreiung der Seele aus ihrer Abhängigkeit von den äußeren Erscheinungen der Welt, hält der sensualistische Erkenntnistheoretiker Etienne Bonnot de Condillac in seinem Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis 1746 fest. Dank des Gedächtnisses müsse man nicht mehr unmittelbar etwas sehen, um es sich vorstellen zu können.17 Andersherum ließe sich sagen, dass es
17 Vgl. Condillac, Etienne Bonnot de: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis: Ein Werk, das alles, was den menschlichen Verstand betrifft, auf ein einzi-
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aufgrund einer regen Vorstellungskraft gar nicht mehr möglich ist, nicht zu sehen, wie die Erfahrung im Schwarzraum lehrt. Phantom- oder Nachbildern auf der Netzhaut ähnlich, scheinen hier visuelle Eindrücke unabhängig von den physikalischen Gegebenheiten weiterzuwirken. Allein der Drang zu sehen und die Erfahrung, dass es keinen unmöglichen Raum gibt, rufen räumliche Imaginationen hervor. Aus dieser Verselbständigung lässt sich auf die Unhintergehbarkeit der Bilder schließen, da sie selbst im bildlosen Raum noch sichtbar sind. Außerdem verdeutlicht diese Beobachtung noch einmal, wie groß der Anteil der Hände am Zustandekommen dieser Eindrücke ist. Doch nicht nur die Hände arbeiten an den bildlichen Imaginationen mit, auch die Füße haben großen Anteil daran. Die Gravitationskraft sorgt dafür, dass die Teilnehmer den Boden unter den Füßen nicht verlieren und sich der nivellierenden Wirkung des Raumes vollkommen überantworten. Auch Waldenfels stellt in den Sinnesschwellen die Bedeutung des aufrechten Gangs für den Vorgang des Sehens heraus, der als eine fatale Selbstverständlichkeit kulturgeschichtlich zwar vorausgesetzt, jedoch kaum reflektiert werde.18 Dass das Sehen vom aufrechten Gang des Menschen abhängt und umgekehrt, lässt sich an Stuarts Schwarzraum exemplarisch verdeutlichen. Normalerweise alternieren beim Gehen Arme und Beine wechselseitig. Die Taststellung infolge der Finsternis führt jedoch zu einer Synchronisierung der beiden Bewegungsarten. Wenn sich mit dem linken Arm plötzlich auch das linke Bein vorwärts bewegt, werden nicht länger zwei Diagonalen, sondern zwei Vertikalen im Körper betont; das Gleichgewicht verändert sich infolge des Instabilität erzeugenden Faktors. Damit wirkt sich die Sichtlosigkeit nicht nur unmittelbar auf die Stellung und Funktion der Hände, sondern auf den gesamten Körper, seine Haltung und seine Art der Bewegung aus. Die körperliche Verunsicherung der Teilnehmer ist umfassend. Es ist offensichtlich, dass in Meg Stuarts Schwarzraum nichts gezeigt und nicht getanzt wird. Doch anknüpfend an die Beobachtung von der Emanzipation des Zuschauers als eigentliches, wenngleich unsichtbares Zentrum der Bühne ließe sich behaupten, dass der Zuschauer im Schwarzraum, der ihn herausfordert und ihm gleichzeitig Schutz vor fremden Blicken verspricht, zu einem vorübergehenden dancer in the dark wird. Denn im Dialog mit der provozierenden Szene entdeckt und aktiviert er ein ungeahntes Bewegungsvokabular, zumal er an seinem gewohnten Gang nicht länger festhalten kann. Allerdings ist dieser Status prekär; man geht, wenn man nichts sieht, in ständiger Sorge, zu stolpern und zu fallen. Selbst wenn man
ges Prinzip zurückführt, übersetzt und hrsg. von Angelika Oppenheimer, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. 18 Vgl. Waldenfels 1999, S. 173
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weiß, dass der Raum entleert ist, bewegt man sich vorsichtig, stockend in ihm. Er ist, um noch einmal an Stuarts Raumzitat zu erinnern, allem Anschein zum Trotz nicht leer, sondern angereichert – mit Personen, bildhaften Erinnerungen, Sehnsüchten und Risiken. In Susan Sontags Roman TODESSTATION fasst der Protagonist Diddy die Gefahr, in der Blinde leben, in folgende Worte: »Die Welt der Blinden […] ist schrecklich wenig verläßlich [sic]. Es ist da immer ein Loch, direkt vor deinen Füßen. Du weißt, daß [sic] das Loch da ist, und doch mußt [sic] du weitergehen.«19 Auch wenn es unwahrscheinlich ist, suggeriert die Abwesenheit aller Zeichen und jeglicher Gegenständlichkeit die stete Gegenwärtigkeit von Gefahren und Hindernissen. Auf diese Weise versetzt die Dunkelheit das Individuum in einen andauernden Alarm- und Ausnahmezustand.
Stimme Im Schwarzraum findet der Blick nirgends Halt, dennoch bemüht sich der Besucher um einen Anhaltspunkt, versucht seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen und durch Fokussierung und äußerste Konzentration wenigstens etwas zu erkennen. Wenn ein Ereignis auftritt, das die übliche Monotonie durchbricht, wird der Blick, der laut Waldenfels aus einer Beunruhigung erwachse, aufgestört, alarmiert, stimuliert.20 Dieser nicht mit dem wiedererkennenden, identifizierenden Blick zu verwechselnde Blick ist offen, suchend und tastend. Die Hände in der Taststellung und die über den Boden gleitenden Füße bieten dem Besucher eine zentrale Orientierungshilfe im Schwarzraum. Doch wie verhält es sich mit der Akustik? Man könnte annehmen, dass die Dunkelheit eine stärkere Orientierung an Geräuschen bewirkt, dass sich die Teilnehmer über den Klang ihrer Schritte, das Rascheln und Aneinanderreiben von Stoffen, bemerkbar machen und darüber einen Eindruck von Nähe oder Distanz vermitteln. So nahe diese Annahmen liegen, scheinen sie in Stuarts Schwarzraum doch kaum eine Rolle zu spielen. Auffällig ist, dass der Schwarzraum nicht nur von visuellen, sondern auch von akustischen Zeichen weitgehend entleert ist. Abgesehen von den beschriebenen Nebengeräuschen werden keine Klänge produziert, kein Laut dringt aus dem Off und selbst die unfreiwilligen Nebengeräusche erscheinen gedämpft, kaum wahrnehmbar oder zumindest im Nachhinein nicht zu erinnern. Obwohl
19 Sontag, Susan: Todesstation. Roman, aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius, Frankfurt a. M.: Fischer 1998, S. 150. 20 Waldenfels 1999, S. 124f.
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kein Teppichbelag den Klang der Schritte verschluckt, scheint der Schwarzraum jeglichen Ton zu absorbieren. In seinen bereits zitierten Beobachtungen zur Wirkung der Dunkelheit auf die Integrität des Subjekts zitiert Caillois den Philosophen und Psychiater Eugène Minkowski mit den Worten, dass »die Sinnesorgane, insofern sie die äußere Wahrnehmung ermöglichen, […] hier nur eine sehr untergeordnete Rolle«21, spielen. Wohlgemerkt sind damit der Gesichtssinn und das Gehör als die beiden traditionellen Fernsinne angesprochen, die auf die äußere Wahrnehmung programmiert sind. Die Dunkelheit scheint demzufolge nicht nur auf den Augen, sondern auch auf den Ohren zu lasten, was verwundert, da es sich doch eindeutig um eine visuelle Entzugserscheinung handelt. Die Überlegungen zur Wirkung der Finsternis und zu der in ihr hervorgekehrten heteroästhetischen Verfasstheit der Sinne lassen vermuten, dass die visuelle Entzugserscheinung die akustische verstärkt. Der Entzug der Geräusche ist in Meg Stuarts Schwarzraum folglich als ein forcierter Entzug wahrnehmbar. Er lässt sich mit der suggerierten Stofflichkeit der Dunkelheit erklären, die nicht nur die Augen, sondern auch das Gehör in seiner Funktion als Fernsinn betäubt: Wenn es sich nicht mehr nach außen richten kann, weil da nichts Vernehmbares ist, liegt es nahe, in sich hineinzuhorchen und sich auf das Innere seines Körpers zu konzentrieren. Je mehr sich der Besucher seiner selbst, das heißt explizit seines Körpers bewusst wird, desto stärker tritt die leibliche Verfasstheit seiner Sinne, insbesondere der beiden traditionellen Fernsinne zutage. Damit versetzt der Schwarzraum den Besucher in einen Zustand der künstlichen Blindheit und Taubheit und schärft über jene Einschränkung sein Bewusstsein für die Resonanz (ausbleibender) äußerer Reize. Ähnlich wie das kooperativ-chiastische Verhältnis zwischen Blick und Hand lässt sich aus dieser Beobachtung auf eine Verschaltung von Blick und Gehör schließen, die Waldenfels’ Annahme einer Übergängigkeit zwischen den einzelnen Sinnen noch einmal bestätigt. Es bleibt die Frage, warum niemand von den Besuchern das Wort ergreift, Unwohlsein oder Protest äußert, sich der Anwesenheit seiner Begleitung versichert. In ihren Überlegungen zum Ritornell, das ein im Chaos wurzelndes, räumlich-klangliches Gefüge markiert, berufen sich Gilles Deleuze und Félix Guattari auf das Kind, das in der als chaotisch empfundenen Dunkelheit unwillkürlich ein Lied anstimmt, um eine schützende Klangmauer um sich und gegen seine Angst zu errichten.22 Selbst wenn der Besucher keine kindliche Angst empfinden mag,
21 Zitiert nach Caillois 2007, S. 37. 22 Vgl. Deleuze, Gilles und Félix Guattari: 1837 – Zum Ritornell, in: dies.: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve 1993, S. 423-479.
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so ist doch eine massive Verunsicherung anzunehmen, die eine akustische Strukturierung des Schwarzraumes rechtfertigte. Condillac führt in seinem Essay aus, natürliche Laute wie spontane Freuden- und Schreckensäußerungen seien immer die Folge von etwas Wahrgenommenem.23 Es könnte also sein, dass es den Besuchern angesichts der Tatsache, im Schwarzraum weder sehen noch hören zu können, regelrecht die Sprache verschlägt, dass dieser radikale Entzug alle ihre Erwartungen unterläuft, sie schockiert und sprachlos zurücklässt und dass letzten Endes, Condillacs Gedanken zuspitzend, die Abwesenheit von Zeichen und Gegenständen auch jede spontane Verlautbarung im Keim erstickt. Im Moment des Schocks angesichts der unerwarteten Erfahrung mag dies zutreffen. Dahinter allerdings rückt analog zur Verfasstheit der Bilder die Unhintergehbarkeit der Sprache auf den Plan, die unabhängig von semantischsymbolischen Codierungen das Nicht-Wahrgenommene reflektiert. »Blindheit«, bemerkt Waldenfels, »bedeutet keinen bloßen Mangel, kein bloßes Nichtsehen; sie gleicht vielmehr dem Schweigen, das den Hintergrund der Rede bildet.«24 Demnach markiert die sich den Besuchern von Meg Stuarts Schwarzraum sowohl auf die Augen und Ohren, als auch den Mund legende Dunkelheit das Ineinandergreifen von Entbildlichungs- und Entsprachlichungsverfahren und fokussiert über die ihnen inhärente Entkörperung den Zuschauerkörper als Zentrum komplexer aisthetisch-phänomenologischer Spannungen.25
Schluss Die zurückliegenden Überlegungen gingen von einer unmöglichen performativen Sequenz aus und sind im Versuch, über das sich dem Blick Entziehende nachzudenken, das allzu Sichtbare, das heißt den weiteren Verlauf der Geschichte und den eigentlichen Beginn der Performance, schuldig geblieben. Einerseits mag das gerechtfertigt sein, insofern der autonome Schwarzraum mit seinem Sensibilisierungspotenzial für die intermodale, betont körperliche Verfasstheit des Sehens und der Wahrnehmung zur Diskussion stand. Andererseits wird damit außer Acht gelassen, dass die an ihn geknüpfte Raumerfahrung unmissverständlich am Anfang einer Performance steht und auf etwas vorbereitet, das noch
23 Vgl. Condillac 2006, S. 91-93. 24 Waldenfels 1999, S. 127. 25 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Verkörperung im Bild, in: Richard Hoppe-Sailer et al. (Hrsg.): Logik der Bilder. Präsenz – Repräsentation – Erkenntnis, Berlin: Reimer 2005, S. 17-34.
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im Kommen begriffen ist. Es erscheint jedoch sinnvoll, diesen Schritt zu gehen und den Schwarzraum aus der Zeitlichkeit der Performance herauszulösen, zumal er die progressive Umkehrung der institutionalisierten Aufmerksamkeitslenkung auf Auftakt und Ende als Fixpunkte der Inszenierung impliziert. ALL TOGETHER NOW beschließt den Prolog, in dem die Zuschauer bereits sich selbst überlassen sind, mit einem lang anhaltenden black, das weniger die Darstellbarkeit an sich hinterfragt als zu zeigen, dass Bildlichkeit nicht ohne Entbildlichung, Sprachlichkeit nicht ohne Entsprachlichung und Körperlichkeit nicht ohne Entkörperung zu denken sind. Das konventionalisierte Ende der Vorstellung markiert hier einen Anfang und die daraus resultierende Enttäuschung der Zuschauererwartungen setzt die von ihm ausgehenden sinnlich-reflexiven Prozesse erst in Gang: Entgegen der naheliegenden Vermutung, dass der Schwarzraum Wahrnehmungsformen außerhalb des Gesichtssinns verstärkt, zeigt sich, dass sich seine intensivierende Wirkung als Verstärker und Transformator von Selbst- und Fremderfahrung auf alle Sinne erstreckt. Der Zuschauer rückt auf diese Weise in den Mittelpunkt der Aufführungssequenz, die als ein wesentlich von ihm mitgestaltetes Produkt lesbar wird. Aus alldem lässt sich schlussfolgern, dass der Schwarzraum im (Tanz-) Theater wie in der bildenden Kunst eine Versuchsanordnung mit ungewissem Ausgang markiert, in der Konventionen und Grenzen des eigenen Mediums und zwischen den Künsten von einer selbstbewusst reklamierten Außenseiterposition aus thematisiert und dynamisiert werden. Als unmöglicher Raum ist er von allen decodierbaren Zeichen entleert, gleichzeitig aber mit unsichtbaren Bedeutungen angereichert; unendlich weit, scheint er sich doch eng an den Körper jedes einzelnen Zuschauers zu schmiegen. Der Schwarzraum ist widerspenstig, verschließt sich dem Einzelnen und nimmt ihn gleichzeitig in sich auf, absorbiert und transformiert ihn. Er ist unheimlich, aber die negative Vorsilbe rückt seine Verwandlung in einen heimlichen, das heißt vertrauten Ort, in greifbare Nähe. Auf nur scheinbar paradoxe Weise ist die Begrenzung der skopischen Sichtweise in ALL TOGETHER NOW also die Voraussetzung für die Entgrenzung der Zuschauerwahrnehmung über alltägliche und konventionelle Formen hinaus. Gleichwohl – das darf nicht vergessen werden – markiert Meg Stuarts Schwarzraum in seiner radikalen Form und der Suche nach Intensivierung der Wahrnehmung seinerseits eine Grenze, die überschritten werden kann.
Authentic Horror – Der authentische Kontakt in seiner transmedialen Konstitution L ARS R OBERT K RAUTSCHICK
Die ökonomische Anforderung an die Produktionsästhetik von Horrorfilmen lautet: Der erfolgreiche Horrorfilm muss sein Publikum erschrecken. Authentisches Erleben von Horror bildet deshalb auf Produktionsebene die ästhetische Leitlinie des Genres. So ist es kaum verwunderlich, dass gerade die – zwangsweise – marktorientierten Filmgesellschaften der Jetztzeit Horrorfilme hervorbringen, welche die Strategie verfolgen, Immersion in allen Belangen zu steigern. Folgend wird anhand von zwei konkreten Konzeptionen nachvollzogen, wie es gelingen kann, Fiktionalität in Authentizität zu übersetzen. Über die Hinleitung zur Problematisierung von aktuellen Authentifizierungsstrategien hinaus sollen die Exempel BLAIR WITCH PROJECT (USA 1999; R: Daniel Myrick und Eduardo Sánchez) und der Trailer zum Film PARANORMAL ACTIVITY (USA 2007; R: Oren Peli) konstatieren, inwiefern transmediale Konfigurationen unterstützend zur kinematografischen Evokation von Authentizität innerhalb einer medialisierten Sozialstruktur beitragen. Transmedialität versteht sich hierbei als ein Prozess, bei dem in ihrer Medienzugehörigkeit medienunspezifische Appendizes integrativ in andere Medien übertragen werden, ohne dabei eine systemverändernde Relation zu ihrer originären Herkunft in das transferierte Medium zu übernehmen; eine kommutierende Strukturveränderung ist damit nicht ausgeschlossen.1 Der vielzitierten Definition zur Begrifflichkeit der Intermedialität von Jürgen E. Müller zufolge,2 unter Berücksichtigung des »konzeptionellen Miteinanders«3 1
Vgl. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2002, S. 12-15 und
2
Müller, Jürgen E.: Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Kon-
S. 206. zept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte, in: Jörg Helbig (Hrsg.): Intermediali-
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mehrerer differenter Medien, subsumiert sich Transmedialität unter die Überkategorie Intermedialität und meint eine Sonderform: die mimetische Transformation medialer Oberflächenstrukturen.4 Diese variiert den Prozess der plurimedialen5 Symbiose in ihrer speziellen mono-transgressiven Ausprägung parasitärer Art, fremde Medieninhalte und -ästhetiken strukturell zu adaptieren. Deshalb liegt im Kontrast zu anderen intermedialen Prozessen im Falle von transmedialen Produkten keine Systemveränderung des adaptiv-tätigen Mediums vor, sondern es bleibt bei einem Zitat der Ästhetik oder des Inhalts anderer Medien, um u. a. der authentischen Nachbildung medialer Sozialstrukturen zuzuarbeiten.
Transmediale Experimentalkunst Im Falle der Authentizität fiktionaler Medienprodukte erweist sich das bisherige Als-Ob-Charakteristikum unter diesen Gesichtspunkten als unzulängliches Identifizierungskriterium. Vielmehr lässt sich konzeptionelle transmediale Glaubwürdigkeit mit dem Prinzip des Wie-Echt beschreiben, denn hierbei liegt das Gewicht auf einer autodynamischen Komparabilität zur Wirklichkeit. Dies meint zu einem nicht geringen Anteil bereits die Konstruktion der Realität in diegetischer Form unabhängig von bloßer Imitation, insofern der Informationssender zuzuordnen ist.
tät. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Berlin u. a.: Erich Schmidt 1998, S. 31-40, hier S. 31f: »In einem medientheoretischen Kontext impliziert der Begriff der ›Intermedialität‹ ein Abrücken von traditionellen Vorstellungen isolierter Medien-Monaden oder Medien-Sorten. […] Ein mediales Produkt wird dann inter-medial, wenn es das multi-mediale Nebeneinander medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander überführt, dessen (ästhetische) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen.« 3 4
Vgl. ebd., S. 31f. In diesem Sinne eine Nachahmung medialer Erscheinungsbilder über Adaption medienunspezifischer transgressiver Stilmittel zwecks Neukonstitution der Bedeutungsebene im Kontakt suchenden Medium.
5
Plurimedial entspricht in diesem Zusammenhang dem Begriff neutraler Staffelung zahlreicher Medien und den daraus erwachsenden Prozessualitäten, unter welche als Subkategorien Inter,- Trans- oder auch Multimedialität gefasst werden. Gerade Multimedialität als ein monadisches Nebeneinander wird hierbei bewusst in Kontrast gesetzt.
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Die Herstellung filmischer Fiktionalität funktioniert mittlerweile über identische Prozesse, aus denen die Basis medialer Alltagsrealität besteht. Informationen, die uns via Post, Internet oder TV erreichen, weisen denselben Authentizitätsgrad des Wie-Echt auf und müssen gleichzeitig keine reale Entsprechung finden. Sie stellen in der Kommunikation der Medien untereinander eine eigene Realität dar, die in ihrer Kontaktaufnahme zum Perzipienten eine immersive Implikation bedingt und somit authentisch in den Vordergrund tritt. Authentizität generiert sich über den Konnex transmedialer Strukturtranfers. Um dem authentischen Kontakt6 in seiner Relation zu filmischer Realitätskonstruktion begegnen zu können, muss man sich erst an das dazugehörige Paradoxon gewöhnen, denn im Allgemeinen gilt cineastische Emotionsinduktion, die sich im authentischen Kontakt konstituiert, als unantastbar in zwei Punkten: erstens in ihrem unumstößlich unwiderlegbaren Dasein und zweitens in ihrer fragwürdigen theoretischen Unbeschreibbarkeit. Eben das resultierende heterogene Kriterium eines nicht-existenten Bestehens in seinem antonymen Format schreckt seltsamerweise vor allem den Hermeneutiker davon ab, mit neuen Ansätzen ein bekanntes Problem zu betrachten. Dabei bieten sich gerade mit den aktuellen Mediendiskursen diverse Methodikentwürfe für eine Testphase auf diesem Gebiet an. Bereits Luhmann geht von einer »realen Realität«7 der Medien durch deren Funktionen aus und gesteht diesen im gleichen Atemzug das Ingenium einer »transzendentalen Illusion«8 zu, »nämlich im Sinne dessen, was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint. […] Bei diesem Verständnis wird die Tätigkeit der Massenmedien nicht einfach als Sequenz von Operationen angesehen, sondern als Sequenz von Beobachtungen, oder genauer: von beobachtenden Operationen. Um dieses Verständnis von Massenmedien zu errei9
chen, müssen wir also ihr Beobachten beobachten.«
So steht hinter diesem Entwurf der Versuch, einen vagen Einblick in das Verhältnis von transmedialen Ästhetiktransfers zu einem authentischen Kontakt, wie
6
Authentischer Kontakt wird in diesem Kontext als Moment verstanden, in welchem die Realitätskonstruktion die Realität ablöst, indem die Fiktion scheinbar einen Anteil der Wirklichkeit entleiht oder besetzt, um sich darüber Glaubwürdigkeit zu sichern.
7
Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, 2., erw. Aufl., Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 2.
8
Ebd., S. 14.
9
Ebd.
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es beispielsweise im Horrorfilm zum Einsatz kommt, zu wagen – jedenfalls soweit dieses für einen Einblick denkbar ist. Und trotz aller gebotenen Kürze sollten gerade die Anfänge nicht ausgespart bleiben, denn ausgerechnet diese bilden den Kontrapunkt zu einer immanenten Authentifizierungsstrategie des Films. Vor allem die ersten Filme zwischen 1900 und 1925, die – orientiert an einer narrativen Dramaturgie – über die dokumentarischen Qualitäten des Mediums hinaus experimentieren, sperren sich einer konzeptionellen Authentizität und stellen exemplarisch ihren fiktionalen Charakter in den Vordergrund. Georges Méliès’ LE VOYAGE DANS LA LUNE (F 1902) schickt als erster SciencefictionFilm seine Handlung mit einem Kanonenschuss von einer realitätsfernen zukünftigen Erde auf einen lebendigen Mond. DER STUDENT VON PRAG (D 1913; R: Paul Wegener), DER GOLEM (D 1915; R: Henrik Galeen und Paul Wegener) oder auch NOSFERATU (D 1922; R: Friedrich Wilhelm Murnau) zeigen Fiktionssysteme, die sich thematisch weit von unserer Realität entfernen. Dies resultiert einerseits aus den technischen Voraussetzungen der Filmvorführung zu dieser Zeit, die den schwarzweißen Stummfilm über 35-mm-Film mit 16 fps auf die Leinwand bannen. Eine Parallelvorstellung zur Realität ist damit nur schwer erreichbar, da die kinematische Darbietung dem echten Leben im ersten Moment so unähnlich ist. Andererseits versucht sich der Film seinerzeit bewusst auch formal als Experimentalkunst zu etablieren und rückt damit ebenfalls von einem Authentizitätspostulat ab. Guillaume Apollinaire (1880-1918) proklamiert z. B. in der frühen Phase des Kinos als einer der Ersten die avantgardistischen Tendenzen einer surrealistischen Filmkunst in seinem Drehbuch La Bréhatine10 – gemeinsam mit André Billy (1882-1971) – über das Franz-Josef Albersmeier entsprechend resümiert: »Die Verwendung bestimmter Filmtechniken steht ganz im Dienst der Erzeugung surrealer Atmosphäre: die häufige Verwendung der Überblende (›surimpression‹ bzw. ›fondu de la surimpression‹) ermöglicht die Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit; [...] der lineare Erzählduktus in Billys Episoden wird bei Apollinaire abgelöst durch einen zerklüfteten Erzählvorgang, der auf Ellipsen, eingeschobenen Einstellungen (›inserts‹) und der Montage unterschiedlicher Ebenen (Vergangenheit – Ge11
genwart, Traum – Wirklichkeit) beruht.«
10 Vgl. Apollinaire, Guillaume und André Billy: La Bréhatine. Cinéma-drame (Archives des lettres modernes, Bd. 126/Archives Guillaume Apollinaire, Bd. 5), Paris: Lettres moderne 1971. 11 Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, S. 99.
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So will sich der Film zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen eine Realität abgrenzen, die ihm tatsächlich verwandter ist, als es scheint. Zwar wird das Kino anfangs von der Kritik als Verdummungsapparat verdammt, denn es erfüllt, im Gegensatz zu den althergebrachten Künsten, nicht den Anspruch einer bürgerlichen Konservative, entwickelt sich aber dennoch überraschend schnell zu einem Massenmedium. Die konditionslose Integration kurz andauernder und kurzweiliger Filmclips der Lichtspielhäuser in den hauptsächlich arbeitsorientierten Alltag der Zivilbevölkerung lässt,12 neben der adäquaten metaphorischen Parallele einer sich rasend entwickelnden Fortschrittsgesellschaft mit ihrer Begeisterung für jedes technische Novum, den kurzfristigen Kinobesuch zu einem attraktiven Erlebnis werden. Spätestens mit Einführung des Tonfilms in den 1930ern rückt die Filmrezeption in die Nähe eines authentischen Erlebens fiktionaler Realität und damit auch in Richtung einer weiteren Distanzierung von sozialer Wirklichkeit unter der Headline Hollywood’s Golden Age. Eine Störung des authentischen Erlebnisses Kino durch den Kontrast zwischen Fiktion und Tatsächlichkeit wird dennoch keineswegs evoziert, schließlich muss nur der exklusive Moment des Erlebnisses authentisch sein, damit die Fiktionalität die Realität zeitweise verdrängen kann. Film wird mit großer Zustimmung als Wirklichkeitsnachahmung und nicht als Fiktionalitäts- bzw. Realitätskonstituierung angesehen. Daran anknüpfend verfolgt das Medium Film die Jahrzehnte hindurch in der Entwicklung technischer Novitäten die Perfektion eines mimetischen Konzepts. Die Filmindustrie sieht sich jedoch mit Anbruch des 21. Jahrhunderts erneut einer erzwungenen Neuorientierung ausgesetzt: Home Entertainment, Internet sowie der freie Markt der Raubkopien werben dem Kinofilm zunehmend Zuschauer ab, denn diesen wird unlängst ein engeres Verhältnis zur (medialisierten) Realität attestiert – zumindest durch vereinfachte Zugriffsmöglichkeit und die kommunikationsrelevante Integration in den Alltagsablauf.
12 Vergleichsweise mag das Theater herangezogen werden, das seiner Kundschaft einen hohen Grad an Flexibilität abverlangt. Dem Fabrikarbeiter der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beispielsweise wird im Anschluss an seinen Arbeitstag ein zweistündiger Abend, den er ruhig und konzentriert verbringen muss und zu welchem er zu einer bestimmten Zeit gepflegt zu erscheinen hat, weniger erholsam oder unterhaltend vorkommen als ein terminunabhängiges, permanent zugängiges Kino, das vornehmlich kurze Filme zeigt und daher zu jedem beliebigen Zeitpunkt wieder verlassen werden kann.
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Als Reaktion darauf investieren Kinohäuser verstärkt in Etablierung der 3DTechnologie zur Garantie des einmaligen authentischen Erlebnisses.13 Neben diesem ökonomisch wie auch technisch aufwändigen Prinzip hat der Film mittlerweile sein eigenes Potenzial vermittelbarer Authentizitätsevokation sowie deren Event-Charakter erkannt und es sich zur Methode gemacht, durch Medientransformationen das Versprechen eines authentischen Kontakts auszusprechen und auch einlösen zu wollen.
Transmediale Authentizitätskonzeption Entsprechend resultiert aus der oben ausgeführten Betrachtung die Entscheidung, eine Perspektiveneinschränkung für die Untersuchung unseres Interessengegenstandes vorzunehmen. Denn der Ausblick auf eine Untersuchung, deren Objekt sich in seinen subjektiven Ausprägungen als zu heterogen für eine nachvollziehbare Analyse erweist, wirkt nicht sehr vielversprechend. Das Rezeptionserlebnis in seiner Ausprägung authentischen Erlebens seitens der Zuschauer entzieht sich einem überprüfbaren Zugang und stellt sich deshalb als irrelevantes Analysekriterium seiner selbst dar. Schließlich liegt der menschlichen Wahrnehmung der Mangel zugrunde, Realität und Fiktionalität nicht ausreichend voneinander differenzieren zu können, da sich beide Status sensorisch über die gleichen Kanäle menschlicher Perzeption mitteilen. Weniger irrelevant erweist sich dies in Relation zu ökonomischen Auswirkungen auf die Filmindustrie, die – ungeachtet der theoretischen Wahrscheinlichkeit – den subjektiv wahrnehmenden Zuschauer mit speziellen Produktionskonzepten an sich zu binden sucht.14 Vielmehr darf demzufolge für die Bedeutungszuschreibung des Terminus authentischer Kontakt nicht von einer Induktion, sondern muss von einer Intention ausgegangen werden – d. h. die Betrach-
13 Entgegen der gängigen Vorstellung, 3D-Kino sei eine relativ neue Entwicklung, lassen sich erste Versuche dreidimensionaler Darstellung für die 1890er Jahre belegen. In den 1920ern werden erste Filme mit der Anaglyphenprojektion um die dritte Dimension erweitert und selbst CREATURE FROM THE BLACK LAGOON (USA 1954; R: Jack Arnold) wird für eine Vorführung in Polarisationsfiltertechnik gedreht. Die technische Verfeinerung des Vorgangs hat bislang nichts am prinzipiellen Verfahren der 3D-Projektion geändert, obwohl die aktuellen technischen Voraussetzungen zu Werbezwecken gerne als die Innovation schlechthin dargestellt werden. 14 Vgl. de Vany, Arthur: Hollywood economics. How extreme uncertainty shapes the film industry, London/New York: Routledge 2005.
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tung der Absicht einer Evokation seitens des Produzenten findet hier Berücksichtigung, nicht die Auswirkung im Rezipienten. Die Konsequenz der Intention auf die Präsentationsform, unabhängig von ihrem fiktionalen Gehalt, bildet das entscheidende Kriterium, sofern die Möglichkeit Berücksichtigung findet, ein fiktionales Objekt ebenso authentisch darzustellen wie ein reales, und zwar solange der Akt der Darstellung als Ausgangspunkt dient. Im Horrorfilm prallen zwei dramaturgische Konzeptionen aufeinander: die Nachbildung unserer Wirklichkeit als eine reflexive »reale Realität«15 sowie die Inszenierung fiktiver Realität. Die Evokation einer panischen Reaktion oder auch nur einer Gänsehaut, sozusagen die Assumtion der cineastischen Fiktion zur Tatsächlichkeit, erfordert einen authentischen Kontakt mit der ablaufenden Fiktion. Diesen verifiziert ein unzweifelhafter Eindruck der Präsentation, sowohl auf perzeptive als auch apperzeptive Instrumentarien, so dass eindeutig evoziert wird, dass die Präsentationsform der Fiktionalität tatsächlich existiert, respektive ihre fiktionale Basis in keinster Weise real ist, wobei beide Kriterien antidependent an Unabhängigkeit voneinander gewinnen. Authentizität bildet damit vielmehr eine Abweichung vom Begriff der Echtheit aus und konstituiert sich als ein Grad an Glaubwürdigkeit. Nicht echt gilt als Maßstab der Inszenierung, sondern Tatsächlichkeit, die sich im Bereich eines Wie-Echt verankern lässt. Hier stellt man mit Mersch fest: »Das Denken konzeptualisiert die Wahrnehmung«16, denn für den Filmproduzenten bedeutet dies reziprok, dass er für Authentizität eine essenzielle Realitätstransformation der Filmstruktur vornehmen muss. Nicht der Inhalt der Fiktion muss authentisch sein, sondern das Erlebte oder das Erleben. Insofern werden die formalen Mittel des Films einer Authentifizierungsstrategie folgen. Konfrontiert im Horrorfilm mit der subjektiven Einstellung bzw. der implizierten Subjektiven17 – wie sie uns u. a. im Fall von WHITE ZOMBIE (USA 1932; R: Victor Halperin) mit Bela Lugosi gegenübertritt, der damit immer noch unge-
15 Vgl. Luhmann 1996, S. 12f. 16 Mersch, Dieter: Aisthetik und Responsivität. Zum Verhältnis von medialer und amedialer Wahrnehmung, in: Erika Fischer-Lichte et al. (Hrsg.): Wahrnehmung und Medialität (Theatralität, Bd. 3), Basel/Tübingen: Francke 2001 S. 274f. 17 Unter implizierter Subjektive wird eine Kameraeinstellung verstanden, die gegenüber dem gefilmten Objekt, meist einem Menschen, die Position der subjektiven Einstellung (Beobachtung) einnimmt. Die Position wird dabei nicht von einer weiteren diegetisch-eingebundenen Person ausgefüllt, so dass die Präsenz des Beobachters nur impliziert wird.
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hindert aus dem Jahr 1932 direkt in unsere Seelen blicken kann – ist die Partizipation in der Rolle des Opfers nicht mehr nur Fantasie, nein, Lugosi versucht, den Zuschauer direkt zu hypnotisieren. Zumeist wird im Horrorfilm nicht die Hauptfigur in einer Totalen vom Monster attackiert, sondern konträr der Zuschauer in einem Close-Up, der das Monster zeigt. Das ist der Moment des authentischen Kontakts, in welchem die meisten Zuschauer zurückschrecken; der Moment, in dem die Gefahr auf sie zuspringt. Der Blick des Zuschauers wird reflektiert. Der direkte Augenkontakt verläuft tödlich. Die visuelle Komponente macht das Zuschauen bzw. Angesehenwerden selbst zur Gefahr und somit die Partizipation am Filmerlebnis per se. Innerhalb der Erlebnisgesellschaft18 ist dieser Blickaustausch laut Schulze ein Erlebnis mit maximalem Eventcharakter: »Wenn C ins Kino geht, weil er hofft, daß [sic] ihm der Film gefallen möge, so handelt er erlebnisorientiert, nicht dagegen, wenn er beispielsweise ins Kino geht, um sich ein Alibi zu verschaffen. Wir stehen vor dem Phänomen einer innengerichteten Modernisierung. Rationalitätstypen entstehen, die sich auf flüchtige psychophysische Prozesse richten. Erlebnisse werden dabei nicht bloß als Begleiterscheinung des Handelns angesehen, sondern 19
als dessen hauptsächlicher Zweck.«
Einerseits ermächtigt sich der Zuschauer nach diesem Prinzip zur authentischen, operativen Eigen- und Fremdwerbung für weiteres potenzielles Publikum, andererseits führt dies wiederum zu einer Instrumentalisierung innerhalb der Eventkultur. Sobald der Trailer zu PARANORMAL ACTIVITY die Reaktion der Rezipienten aus einem Testpublikum als Werbemittel einsetzt, um ein authentisches Erleben vorweg zu garantieren, ist dies nahezu ein zwingender Grund für den »sensation seeker«20, das Kino aufzusuchen.21 Um nun einen authentischen Kontakt zu gewährleisten, wird sich transmedialer Prinzipien und Strukturen bedient. Die Neukonstitution durch die konzeptionelle Synthese mindestens zweier Medienoberflächen äußert sich im ehemali-
18 Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Studienausgabe, New York: Campus 2000. 19 Ebd., S. 41. 20 Zuckerman, Marvin: Sensation Seeking and the Taste for Vicarious Horror, in: Ron Tamborini und James B. Weaver (Hrsg.): Horror Films. Current Research on Audience Preferences and Reactions (LEA’s Communication Series), Mahwah: Lawrence Erlbaum 1996, S. 147-160, hier S. 148f. 21 Siehe Abschnitt Transmedialer Authentizitätsköder.
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gen Leitmedium Film über die Transfusion systemfremder Medienstrukturen (Abb. 1). Zudem realisiert die produktionstechnische Seite durch die Akquisition uns umgebender Medien (Abb. 2) einen Übergriff der vulgären Alltagswelt auf die Fiktion. Der Schock über die Erweckung des extramedialen Geistes oder Monsters beginnt mit der Annahme des cineastischen Erlebens als eines tatsächlichen Bestandteils unserer Umwelt. Der Geist besetzt jede unserer Safe-Zones: Er ist unter dem Bett, hinter dem Schrank, vor dem Fenster, im Internet und durchbricht den Videoscreen. So gelingt eine vollständige Strukturtransformation durch Anwendung transmedialer Operation zu einem authentischen Erleben einer anderen Medienoberfläche im oder durch Film. Diese kann allerdings im kontaktnehmenden Medium eine partielle oder totale Ausprägung finden. Im Fall der partiellen Strukturtransformation werden entweder nur Teilreferenzen der anderen Medienstruktur übernommen oder aber Referenzteile des Films beziehen sich transmedial auf das kontaktgebende Medium in partieller Sequenzbildung, so dass die additive Qualität nur geringfügig Teilbereiche in dessen System neustrukturiert. Die totale transmediale Strukturübertragung hingegen transferiert komplette Strukturen bzw. Teilstrukturen gänzlich auf das andere Medium, woraus sich im Extremfall eine Überlagerung der Struktur des kontaktnehmenden Mediums ergibt (Abb. 1). Medien selbst sind nicht transparent. Selbstverständlich kennen wir teilweise ihre technischen Funktionsweisen, aber hauptsächlich vergessen wir ihr Dasein, wenn ihre formalen Mittel unsere Wahrnehmung dominieren, und in keinem Fall lässt sich ihre Wirkung auf unser Bewusstsein nachvollziehen.
Abbildung 1: Überlagernde transmediale Strukturübertragung. Im Horrorfilm begegnen wir uns selbst wieder, unserem verängstigten Ich, aber auch dem Anderen – dem fremden Medium, neben dem wir in unserer Welt
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existieren und das eine unvorstellbar unendlich größere Dimension einnimmt als es unsere ist. Schließlich wird nun diese prinzipielle Methode transmedialer Authentifizierungsstrategie im Folgenden anhand zweier Beispiele verdeutlicht: an THE BLAIR WITCH PROJECT sowie am Trailer zu PARANORMAL ACTIVITY. In beiden Fällen liegt eine totale transmediale Strukturübertragung vor und in beiden Fällen meinen die ersten Zuschauer tatsächlich, es mit originär abgefilmter Realität, quasi Dokumentarmaterial, zu tun zu haben.
Transmediale Authentifizierungsstrategie Wer Authentizität will, benötigt Präsenz. In THE BLAIR WITCH PROJECT (folgend BWP) bildet das Medium den präsenten Part und unterliegt einer kompletten transmedialen Ästhetiktransformation, die dem eigentlichen Spielfilm die Oberfläche einer Dokumentation verschafft. Was bei Seeßlen unter »authentisches Eingeständnis«22 fällt, ordnen Schreier, Navarra und Groeben einer authentischen Inszenierung zu: »Der Film […], so wird auf den Internetseiten suggeriert, stelle einen Zusammenschnitt dieses dokumentarischen Materials […] dar.«23 Tatsächlich geht der Filmpremiere 1999 eine akribische Inszenierung von Beweisen im Internet in Form von FakeInterviews, Fotos von Fundstücken und der offiziellen Suche nach den Vermissten sowie einer Digitalisierung von Heather’s Journal, das 37 handschriftliche Seiten mit Schreibfehlern etc. enthält und der vermissten Heather (Heather Donahue) gehören soll, voran.24 Im August 1998 geht die Website online und bereitet ein Jahr darauf den ersten Zuschauern des Films ein besonderes Erlebnis.25
22 Seeßlen, Georg und Fernand Jung: Horror. Geschichte und Mythologie des Horrorfilms (Grundlagen des populären Films), Marburg: Schüren 2006, S. 887. 23 Schreier, Margrit, Christine Navarra und Norbert Groeben: Das Verschwinden der Grenze zwischen Realität und Fiktion. Eine inhaltsanalytische Untersuchung zur Rezeption des Kinofilms The Blair Witch Project, in: Achim Baum und Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Fakten und Fiktionen. Über den Umgang mit Medienwirklichkeiten (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 29), Konstanz: UVK 2002, S. 271. 24 Diese Inszenierung lässt sich noch immer rekapitulieren anhand der offiziellen Homepage zu BWP unter http://www.blairwitch.com/ (zuletzt aufgerufen am 21.01.2011). 25 Hanich, Julian: Cinematic Emotion in Horror Films and Thrillers. The Aesthetic Paradox of Pleasurable Fear (Routledge Advances in Film Studies), London u. a.:
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Die Inszenierung des Films selbst zeigt sich jedoch weder als Symbol der Realität noch als Nachahmung, sondern als deren Zeugnis – eine Originalquelle. So findet keine direkte Wirklichkeitskonstruktion statt. Stattdessen verifiziert sich die Oberfläche über Bezugnahme auf eine konstruierte Wirklichkeit, die in der Vergangenheit (1994) liegen soll und somit zum Zeitpunkt 1998/1999 als real abgeschlossen gelten kann (Abb. 1), denn Abgeschlossenem wird in seinem Verhältnis zur Zeit stets Tatsächlichkeit musealen Formats attestiert. Sofern die Struktur der Inszenierung nicht erkennen lässt, dass manipulierend eingegriffen worden ist, steht diese im Gegensatz zu den Filmen der 1990er, die offensichtlich Manipulation unterliegen, und operiert damit authentisch, denn ebenso erscheinen unsere Wahrnehmung des Gezeigten und die Darstellung dessen deckungsgleich. So konstatiert Luhmann: »Dies alles gilt auch fürs Fernsehen. Immerhin hat das Fernsehen bei der Sendung von Nachrichten eine eigentümliche Beschränkung hinzunehmen, die sich als Glaubwürdigkeitsbonus auswirkt. Es ist beim Filmen des Geschehens an die Realzeit des Geschehens gebunden. Es kann das, was geschieht […] weder vor dem Geschehen noch nach dem Geschehen photographieren [sic], sondern nur gleichzeitig. […]. [Es] bleibt […] bei einer eigentümlichen Evidenz, die auf die realzeitliche Gleichzeitigkeit des Filmens (nicht natürlich: des Sendens und des Empfangens) zurückzuführen ist […]. Für die Manipulation hat das Fernsehen buchstäblich ›keine Zeit‹.«
26
Für den fiktiven Film gilt die Regel, dass der Anschauungszeitpunkt nicht identisch mit der Zeit des Entstehens des filmischen Produkts ist. Bei BWP synchronisieren die Macher jedoch ästhetisch mise en scène und Zuschauen für eine Form der Gleichzeitigkeit, in welcher die Kamera quasi als Zuschauer und gleichzeitig Dokumentator funktioniert. In diesem Moment scheint kein zwischengeschaltetes Medium zu existieren, welches die Wirkung nach sich ziehen würde, »daß [sic] keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfängern stattfinden kann. Interaktion wird durch Zwischenschaltung von Technik ausgeschlossen […].«27 Der Blick der Kamera ist mit dem des Zuschauers deckungsgleich. Der Schnitt ist in diesem Sinne auch kein Jump-Cut mehr, sondern, äquivalent zum Blinzeln des Auges, eine Sequenz im Film, die ein tatsächliches Zeit-
Routledge 2010, S. 93: »Think of the shocked early audience who thought that The Blair Witch Project was a documentary and not a fiction film.« 26 Luhmann 1996, S. 79. 27 Ebd., S. 11.
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loch arrangiert. Ein Schnitt kann nur erfolgen, wenn die Kamera nicht läuft, so dass diese verkürzt wirkende Zeit einerseits eine implizite Dauer zurückgewinnt und andererseits gerade deshalb mit Handlung angefüllt sein kann, die wir nicht sehen. Der Rezipient wird einer Nicht-Fiktion gegenübergestellt, da exakt der Produktionsprozess der visuellen Umsetzung, von Zusammenstellung des technischen Equipments bis zu Gewinn der Interviewpartner, Ausbreitung auf der Leinwand findet, dessen Ergebnis die Bilder sind, die er betrachtet. Daher benötigt die fiktionale Handlung auch zwei Kameras: eine, die den eigentlichen fiktiven Film herstellen soll, und eine weitere, welche diesen Prozess filmt. Beide bleiben konsequent identifizierbar anhand ihrer verschiedenen technischen Bewandtnis, die selbst für den Laien an Farbigkeit bzw. Schwarzweißaufnahme differenzierbar ist. BWP beginnt mit den Bildern zur Vorbereitung auf die Exkursion dreier Filmstudenten und wählt im Anschluss daran die Form der Interviewsituation; also einer filmischen Ausprägung direkter Kommunikation, die wiederum in Fremdreferenz auf eine Erfahrung aus unserer medialen Umwelt rekurriert. Während die Inszenierung ebenso Fremdreferenz zu einer im Vorhinein inszenierten und insofern parallel zur Produktionszeit konstituierten (fiktionalisierten) Realität in Gestalt der über Internet verbreiteten Authentizitätsgerüchte sucht und damit einen Realitätsanspruch deklariert, schiebt die Selbstreferenz die eigene Fiktionalität über den systematischen Handlungsbezug beiseite. Mit der Präsentation von tatsächlichen Filmstudenten, die unter eigenem Namen auftreten und mittels der dokumentarischen Kamera einer fiktionalen Geschichte auf die Spur kommen möchten, wird dem Mythos bereits eigenmächtig die Gestalt eines hoax (hinterhältiger Scherz) beigemessen, wie es auch im Film selbst thematisiert wird. Der intradiegetische Bezug auf die als irreal ausgewiesene Legende verleiht den handelnden Figuren in seiner komplexen Reziprozität zwischen Fiktion, fiktiver Realität, Fiktionalität, fiktionalisierter Realität und zusätzlich unserer Realität einen Grad an Glaubwürdigkeit (realer Fiktion), der keiner Störung unterworfen wird. Die Fiktionalitätswahrnehmung kann sich in den folgenden 81 Minuten auf die Legende der Hexe von Blair konzentrieren und nimmt damit Abstand von der extradiegetischen Darstellung. Die Kamera und mit ihr der beobachtende Zuschauer werden zum Zeugen der Geschehnisse um die Gruppe, die sich im Black Hills Forest nahe Burkitsville/Maryland verläuft, dort verängstigt umherirrt, bis sie schließlich in der Nacht in ein baufälliges Haus eindringt und die Filmaufnahmen mit einer zu Boden gefallenen Kamera abbrechen.
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Auffällig stellt sich bei dieser Variante, in der das filmische Sehen allein durch Präsentation des Mediums Videokamera sichtbar wird, dar, dass ausnehmend wenig zu sehen ist. So werden die vermeintlichen blutigen Überreste von Joshua (Joshua Leonard) nur kaum identifizierbar und unscharf gefilmt, bevor die Kamera weg schwenkt. Hanich findet in BWP äquivalentes Immersionspotenzial, das mit der Inszenierungsästhetik von Videoqualität konform geht: »In one scene the scared characters wake up utterly frightened, because they hear the agonized voice of their friend Josh coming from somewhere distant in the woods. In this scene the screen is kept in complete darkness for 46 seconds. Just as the viewers in the middle of the multiplex Dolby Surround system, the characters are surrounded by terrifying 28
noises.«
In diesem Moment hüllt sich der Kinosaal ebenfalls in vollständige Dunkelheit. Der Zuschauer befindet sich hinsichtlich des passiven Aktionsverhältnisses zum bzw. im Film auf einem identischen Apperzeptionsniveau mit den Hauptfiguren. Die Wahrnehmung von filmischer und subjektiver Realität ist in diesem Moment ein- und dieselbe. Die limitierte Perzeptionsfreiheit von Zuschauer wie auch fiktionaler Figur trifft an paralleler Nahtstelle aufeinander. Beide sind somit gleichsam den digitalen Geistern ausgeliefert. Den fiktionalen Figuren ist aus der Realität des Zuschauers heraus nicht mehr zu helfen. Er selbst muss gegen die Dunkelheit des Waldes ankämpfen. Dabei impliziert die eindeutig rückbezogene Aufnahme eine metaphysische Präsenz in der Welt der beobachteten beobachtenden Figuren, die über dargelegte Strategien der Zuschauerrealität zugeordnet werden.
Transmedialer Authentizitätsköder In seiner Präsentation muss das filmisch intradiegetische System nicht mehr authentisch wirken, denn das Medium Film erhält extradiegetisch den authentischen Darstellungsgrad eines Dokumentarfilms über die erwähnte Einbindung des Internets als ein Element der virtuellen Realität bzw. der realen Virtualität in seine Fiktionalitätskonstruktion. Dabei bedient sich der eindeutig fiktionale Spielfilm gleichzeitig einer totalen transmedialen Strukturtransformation, die – wie aus Abb. 1 ersichtlich ist – die Parallele zu einer authentischen Darstellungs-
28 Hanich 2010, S. 177.
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form konstituiert, wobei das kontaktgebende Medium in seiner Urerscheinungsform belassen und unverändert bestehen bleibt – ein Vorgang, der sich zumindest im letzten Punkt als kontradiktorisch zu intermedialen Prozessen erweist. Im Fall des Trailers zum Film PARANORMAL ACTIVITY ist dies ähnlich. Er adaptiert den Fall einer dokumentarischen Berichterstattung und proklamiert damit, Zeuge und Vermittler eines authentischen Erlebnisses zu sein. Es soll in keinem Fall ein Miterleben konstituiert werden, sondern ein Moment authentischen Nacherlebens. Während der eigentliche Film frei nach dem Prinzip dokumentarischen Charakters wie BWP verfährt und ein Pärchen auf die Suche nach einer dämonischen Erscheinung in seinem eigenen Haus schickt, verheißt der vorankündigende Trailer ein Erlebnis der anderen Art: »In September 2009 / A screening was held / in Hollywood, California / This audience was among the first / to experience the movie ›Paranormal Activity‹ / This is what they saw...«29 Doch anstatt einen konventionellen Trailer mit kurzen Sequenzen aus dem Film an diese Ankündigung anschließen zu lassen, werden nicht Bilder gezeigt, welche die Zuschauer sehen, sondern der Trailerrezipient erhält Aufnahmen einer Kamera in Night-Shot-Ästhetik von den Zuschauern des Screenings am 25. September 2002 sowie deren Reaktion auf die Filmbilder. Was wir sehen, ist die Angst, die bei Rezeption des Films empfunden wird. Dieses authentisch dargestellte Erlebnis verifiziert das Hauptprodukt als authentische Angstevokation und erhebt es damit zum Lockmittel für denjenigen, der überprüfen möchte, was vom Publikum im Trailer gesehen wird – der Erreger. Die transmediale Operation ist die einer Adaption von Berichterstattungsästhetik. Es wird ein Video präsentiert, das im Zusammenschnitt angeblich vergangene Ereignisse dokumentiert hat, die kaum zufällig in ihrer Night-ShotÄsthetik der Night-Shot-Ästhetik des filmischen Hauptprodukts gleichen. Zwar verhält es sich tatsächlich so, dass die Bilder vorher aufgenommen worden sind und damit vergangene Ereignisse reproduzieren, eine Verifizierung des authentischen Erlebens ist jedoch bloße Simulation. Über die Annahme einer Medienstruktur, die von einer real-medialen Erscheinung transmedial übernommen wird, verifiziert sich die Realitätskonstruktion des medialen Endprodukts: Hier wird der Medientransfer in seiner Auswirkung auf Authentizitätskonstruktion deutlich erkennbar (Abb. 2).
29 Offizieller Trailer zu PARANORMAL ACTIVITY (USA 2007; R: Oren Peli), 1. Minute; dieser Trailer ging einer Präsentation des Films in 13 ausgewählten Kinos in den USA voraus, wobei per Internet abgestimmt werden konnte, ob sich die Screenings auf weitere Städte ausdehnen sollten.
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Abbildung 2: Autoreferenzierendes Mediensimulacrum. Für ein authentisches Nacherleben wird insbesondere die einmalige Ereignishaftigkeit betont, die nur im Eigenversuch erfahrbar ist: »EXPERIENCE IT FOR YOURSELF«30 lautet die Tagline. Die totale Strukturtransformation einer medialen Berichtoberfläche greift das Prinzip Trailer jedoch nicht an – das Mediensystem bleibt erhalten und in seiner Funktionsweise ungetrübt.
Transmedial-authentische Autorenfigur »In der Authentizitätsfiktion fällt das Fiktive mit seinem potentiellen [sic] Gegensatz, dem Dokumentarischen zusammen.«31 Sobald der Rückbezug auf den Ursprung einen Realitätszusammenhang herstellt, bietet sich allein die Wirklichkeit als Autorfigur an. Der authentische Kontakt mit dem Medium funktioniert über eine transmediale Medienreflexion, die auf Alltagserscheinungen aus unserer Umwelt rekurriert: ein autoreferenzierendes Mediensimulacrum innerhalb eines real-virtuellen Raums (Abb. 2). Der adaptionsaffinen Oberfläche medialer Strukturen eröffnet sich die Möglichkeit, semipermeable Transformationsprozesse durch alle Ebenen medialer Erscheinungsformen hindurch zu vollziehen. Gleichzeitig schaffen Medien da30 Offizieller Trailer zu PARANORMAL ACTIVITY, 2. Minute. 31 Hattendorf, Manfred: Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung (CLOSE UP. Schriften aus dem Haus des Dokumentarfilms, Bd. 4), Konstanz/Stuttgart: Ölschläger 1994, S. 66.
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mit einen virtuellen Hyperspace, innerhalb dessen sich unsere Realitätsvorstellung als Medienderivat bewegt (Abb. 2). Eine Analyse dieses Phänomens bedarf in der Konsequenz einer Modalität, die es erreicht, äquivalent quantitative Level zu durchschreiten. Um sich jedoch dieser Option in seinem extramedialen Auftritt mittels transmedialer Ästhetikadaptionen sowie intermedialer System- und Strukturtransfers hermeneutisch annähern zu können, benötigt es neben traditionellen Analysemodellen, welche z. B. in Transformations- oder auch Strukturanalyse ihre Entsprechung finden, eine alternative Methodik, die angesichts intermedialer Tendenzen aller Künste, einem Ebenen entgrenzenden oder level-independent Modell folgt, das sich an erstgenannte Praktiken nahtlos ankoppeln lässt. Die mono-mediale Strategie transmedialer Prozesse fungiert gerade im gegenwärtigen Horrorfilm als zentrales stilistisches Funktionsmittel, um Authentizität herzustellen. Realitätskonstruktion funktioniert hierbei allerdings nicht länger über reine Imitation realer Vorbilder, sondern über die Anwendung interner Kommunikationsprozesse einer realen Medienrealität, die als Fremdbezug die Authentifizierung eines Simulacrums erfolgen lässt. Eingangs erwähnte medialisierte Sozialstrukturen erweisen sich dabei durch den potenzierten Erfahrungswert des Rezipienten sogar als zuträglich für den Authentizitätsgewinn, zumal sich Fiktionalität infolgedessen analog zu Informations- und Alltagsmedien darstellen oder inszenieren lässt bzw. diese adaptiert, um daraus einen extradiegetischen Gewinn zu erzielen.
Nach dem Film ist vor dem Film: Zur Wechselwirkung ästhetischer, technischer und ökonomischer Produktionsprozesse M IRIAM D REWES
Im Jahr 1913 schreibt Konrad Lange in Die Kunst des Lichtspieltheaters: »Es ist nachgerade höchste Zeit, daß [sic] die Auswüchse des Kinematographen [sic] beschnitten werden. Man sollte sie nicht nur literarisch bekämpfen, sondern auch auf dem Wege der Gesetzgebung eindämmen.«1 Der Film, so Lange, das Ressentiment vieler seiner Zeitgenossen aufgreifend,2 habe die Erziehung der Jugend nicht befördert, sondern verhindert. Derlei Gefechte um das Medium Film, welche auch Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung prägten, scheinen nun längst geschlagen. Zumindest innerhalb der Filmwissenschaft ist man sich der flüssigen Grenze von High- und Low-Culture längst bewusst, haben Blockbuster-Filme keinen geringeren Stellenwert mehr als so genannte experimentelle Kunstfilme.3 Die von Gegnern des Hollywood- und Unterhaltungskinos einst so vehement und dogmatisch vorgebrachte Apologie einer
1
Lange, Konrad: Die Kunst des Lichtspieltheaters, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für
2
Vgl. Kaes, Anton: Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film. 1909-
3
Dieser Perspektivwechsel ist vor allem seit den 1990er Jahren auszumachen, wo man
Politik, Literatur und Kunst (24) 1913, S. 507-518, hier S. 508. 1929, Tübingen: Niemeyer 1978. verstärkt auch Blockbuster-Movies sowie Genres zu erforschen begann, gefolgt von Studien, die sich den vermeintlich randständigen Genres wie dem Horror- bzw. Splatterfilm und schließlich den Computerspielen zuwandten. Der Spannung zwischen Avantgarde und Mainstream widmet sich u. a. Rüffert, Christine et al. (Hrsg.): Experiment Mainstream? Differenz und Uniformierung im populären Kino, Berlin: Bertz + Fischer 2006.
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Kunst mit hochkulturell universalistischem Geltungsanspruch hat ihren ideologischen Charakter weitgehend eingebüßt. Dabei sind nicht allein auf der Ebene des Ästhetischen damit verbundene Transformationen identifizierbar, sondern auch auf jener, die das Ästhetische präformieren. Ich sage weitgehend, weil ich in den folgenden Ausführungen die Auffassung vertrete, dass sich zwar die Perspektive auf den Film als solchen – zumindest innerhalb der Filmwissenschaft – weitgehend von a priori dogmatischen Vorannahmen gewandelt hat zugunsten der Akzeptanz unterschiedlichster divergierender Ästhetiken, die, je nach Produktionsrahmen eben einem sowohl ästhetischen wie auch technischen und kommerziellen Innovationsanspruch verpflichtet sein können. Dieser Perspektivwechsel hat aber nicht dazu geführt, dass sich genannte Interessenkonflikte um Funktion und Intention von Filmen generell in Wohlgefallen aufgelöst hätten. Aus systemtheoretischer Perspektive ließe sich folgende Arbeitshypothese aufstellen:4 Die oben beschriebenen Paradoxien lassen sich nunmehr innerhalb des (globalisierten) Filmsystems als sinnerzeugende Operationen des Systems beobachten und zwar interessanterweise mit nicht geringeren Effekten als zur Anfangszeit des Films. Nicht nur der gängige Topos, welcher besagt, dass spätestens seit der Postmoderne der Film selbstreflexiv geworden sei, ließe sich damit integrieren. Die Beobachterperspektive lässt sich über die Fokussierung auf die Filme als Artefakte hin zu jenen Prozessen erweitern, die diese überhaupt erst hervorbringen: Die (Selbst-)Beobachtung des Filmsystems ist umfassend und nicht allein anhand der Artefakte identifizierbar. Die im 20. Jahrhundert anzutreffenden Widersprüche lassen sich somit als komplexer Modus eines ausdifferenzierten Systems von Produktion und Rezeption beschreiben. Zugleich markiert diese Form der Beobachtung die auch durch Kritik und Wissenschaft kontinuierlich hervorgebrachte Dichotomie – der hochkulturell geprägte Autorenfilm oder auch, als nicht weniger bürgerliches Pendant hierzu, die subversiv-avantgardistische Filmkunst einerseits und der lediglich auf schnell verwertbare Massenunterhaltung abzielende affirmative Film der Filmindustrie andererseits – als Momente der Komplexitätsreduktion.
4
Zur Historisierung der Systemtheorie im Kontext kunstwissenschaftlicher Diskurse vgl. Drewes, Miriam: Theater als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz, Bielefeld: transcript 2010, S. 66-77. An dieser Stelle gilt es zu ergänzen, dass die Systemtheorie es ermöglichte, von geschichtsphilosophischen Deutungsmustern abzusehen. Gleichwohl hat die Kritik am systemtheoretischen Konstruktivismus nicht zu einer Absage, sondern zu einer Neubewertung der Kategorien von Handlung und Akteur geführt. Vgl. Schmidt, Sigfried J.: Geschichten & Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003.
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Die wechselseitigen, spannungsreichen und zum Teil Antinomien produzierenden Tendenzen finden sich dabei nach wie vor nicht nur in der Filmkritik oder in den Debatten über verschiedene ästhetische5 und filmpreispolitische6 Praktiken. Genauso lassen sie sich anhand von Herstellungs- und Produktionsweisen sowie anhand der Distribution, insgesamt also anhand der Produktionsbedingungen eines jeweiligen Films, identifizieren. Sie konturieren damit fast immer auch (film-)politische Entscheidungen. Darüber hinaus tragen die Bedingungen samt der Förderstrukturen, auf die sie (nahezu weltweit) angewiesen sind, überhaupt erst zur Entstehung und Standardisierung bestimmter Ästhetiken und Verwertungsweisen bei bzw. vermögen, sie zu verhindern, wo diese einem geforderten common sense nicht Folge leisten wollen. In meinen folgenden Ausführungen gilt es also nicht nur, darauf hinzuweisen, dass sich unterschiedliche kulturkritisch motivierte Spannungen – Film als Kunst oder Kulturgut versus Film als Wirtschaftsfaktor – innerhalb des Filmsystems auch heute noch identifizieren lassen. Meine daran anknüpfende These ist ferner, dass sich im Filmsystem, als mikroökonomischer Diskurs begriffen, die widerstreitenden Kräfte des makroökonomischen Diskurses wiederholen. Und nicht nur das: Sie werden schließlich im Filmbild zur Anschauung gebracht, sie werden sichtbar.
5
So lassen etwa die Ausführungen von Boris Groys tatsächlich auf herkömmliche Vorbehalte gegenüber dem Unterhaltungskino schließen. Groys affirmiert in seinen Groysaufnahmen nicht nur die Dichotomie Autorenfilm versus Entertainment. Zudem perpetuiert er die ideologiekritische Skepsis gegenüber dem Hollywoodfilm, indem er etwa unterstellt, Hollywood kenne ausschließlich Kriminelle oder Polizisten als Helden. Vgl. Groys, Boris: Groysaufnahmen. Philosophische Gedanken zum Kino, Köln: Schnitt – der Filmverlag 2007, S. 58f und S. 70f.
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Als ein Indiz hierfür gilt beispielsweise der in den Medien ausführlich besprochene Umstand, dass Til Schweiger mit seinem kommerziell äußerst erfolgreichen Film KEINOHRHASEN (D 2008; R: Til Schweiger) nicht für den Bundesfilmpreis nominiert wurde, woraufhin dieser aus Protest seine Mitgliedschaft in der Filmakademie kurzfristig niederlegte. Seinen Worten zufolge sei es ein Skandal, dass heute noch ein kommerziell erfolgreicher Film nicht als künstlerisch wertvoll gelte. Vgl. Zips, Martin: Die Rache des Keinohrhasen, in: Süddeutsche Zeitung Online (18.08.2008), http://www.sueddeutsche.de/kultur/til-schweigers-eigener-filmpreis-die-rache-deskeinohrhasen-1.194575 (zuletzt aufgerufen am 14.06.2011).
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Transformation und Ökonomie Gerade die gegenwärtige Situation vermittelt dabei zwar, dass es gar keine Auflösung der unterschiedlichen, divergierenden Interessen, der ästhetischen, der technischen, der ökonomischen, im Grunde genommen der gesamtsystemischen Interessen, gibt. Es lässt sich damit überhaupt darstellen, dass die faktische wie diskursive Unordnung, wie zu zeigen sein wird, durchaus äußerst produktiv sein kann. Insbesondere die Koppelung – und nicht die wechselseitige Abgrenzung – der Beobachtung von ästhetischen und technischen wie ökonomischen Produktionsprozessen vermag es hier, Antinomien als Antinomien zu veranschaulichen. Der Film reflektiert nämlich sowohl als Artefakt wie als Ware nicht nur auf die oben genannten, zum Teil nach wie vor dogmatischen, diskursiven Gegebenheiten. Vielmehr trägt er dazu bei, bestimmte Wahrheiten auch herzustellen und zu begründen. Diese Akzeptanz einer performativen Dimension des Films ermöglicht es zudem, bisher auch in der Filmwissenschaft eher marginalisierte – inzwischen aber vor allem in den USA erforschte –7 Aspekte wie etwa den kollektiven und prozessualen Herstellungs- und Distributionsprozess, also das Feld der Produktion insgesamt, als zeitlich integrative und nicht vom Resultat, dem fertigen Film, abgelöste Prozesse zu begreifen. In Anlehnung an Hartmut Winklers und den mit der systemtheoretischen Perspektive durchaus zu vereinbarenden Begriff der »Diskursökonomie«8 möchte ich im vorliegenden Kontext deshalb von einer pejorativen Bestimmung des Ökonomischen absehen. Das Ökonomische hat, gerade in Verbindung mit dem
7
Vgl. u. a. Caldwell, John Horton: Production Culture. Industrial Reflexivity and Critical Practice in Film and Television, Durham/London: Duke University Press 2008; vgl. Kunz, William M.: Culture Conglomerates. Consolidation in the Motion Pictures and Television Industries, Lanham u. a.: Rowman & Littlefield 2007; vgl. Grainge, Paul: Brand Hollywood. Setting Entertainment in a global Media Age, London u. a.: Taylor & Francis 2008. Auch hierzulande hat man sich in den letzten Jahren verstärkt diesen Fragen zugewandt: Vgl. den Sammelband Ökonomien des Medialen, insbesondere den Aufsatz Hediger, Vinzenz: The Product that Never Dies. Die Entfristung der kommerziellen Lebensdauer des Films, in: Ralf Adelmann et al. (Hrsg.): Ökonomien des Medialen. Tausch und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2006, S. 167-181; vgl. Hagener, Malte: Looking forward, moving back: The European Avantgarde and the Invention of film 1919-1939, Amsterdam: Amsterdam University Press 2007.
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Winkler, Hartmut: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.
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Medialen, nicht, wie Jean Baudrillard – auf ihn verweist Winkler – meinte, das Mediale desavouiert, da es angeblich im Simulakrum seiner eigenen Intention verlustig gegangen sei. Im Gegenteil, die Verbindung von Medialem und Ökonomischem generiert über Analogien und Strukturhomologien überhaupt erst ein Verständnis des Zusammenspiels von Ökonomischem und Ästhetischem, von Produktion und Rezeption, von Herstellung und Distribution jenseits epistemologischer oder auch ideologischer Vorannahmen. Um Hartmut Winkler an dieser Stelle zu folgen, bedeutet dies aber, den Begriff der Ware über seine ansonsten monetäre Zentriertheit hinaus zu denken: »Der Begriff des Tauschs scheint geeignet, symbolische und außersymbolische Prozesse ins Verhältnis zu setzen; ähnlich wie innerhalb der Ökonomie selbst, etwa wenn Texte gegen Geld oder Geld gegen Texte ausgetauscht werden.«9 Die Frage nach dem Tausch betrifft hier die technische Reproduktion und mithin die Form der Medienzirkulation. Dazu schreibt Winkler: »So liegt es nahe, ausgehend von der technischen Reproduktion nach den Quantitäten des zirkulierenden Materials zu fragen.«10 Winkler nennt dies »die ökonomische Dimension und, um nicht allein auf der volkswirtschaftlichen Ebene stehen zu bleiben, die »diskursökonomische Dimension.«11 Dieser Ansatz ermöglicht es – ebenso wie das Verständnis von performativen, also nicht festgelegten Handlungsvollzügen –, dass gerade der Fokus auf Begriffe wie Prozess und Produktion, als zeitlich ablaufende Vorgänge verstanden, essentialistische Vorannahmen infrage zu stellen vermag.12 Die Dynamik ästhetischer Prozesse lässt sich in letzter Konsequenz gar nicht getrennt von der ökonomischen untersuchen. Beide sind integrative Bestandteile nicht nur der Entertainment-, sondern eben auch der Kunstproduktion.
Steven Soderberghs B UBBLE als Ware Kunst Ich möchte meine These im Folgenden anhand eines meines Erachtens exemplarischen Falls erläutern, der zwar in erster Linie das amerikanische Kino betrifft,
9
Ebd., S. 12.
10 Ebd., S. 15. 11 Ebd. 12 Dies ist zudem einer der Grundgedanken der Rede von der Performativität als Aufwertung des Aufschiebens und immer wieder Neukontextualisierens, wie sie etwa Jacques Derrida in dem Aufsatz Signatur Ereignis Kontext formuliert hat. Vgl. Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 292-362.
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jedoch darüber hinausreichende Aspekte aufgreift. In dem Film BUBBLE (USA 2006; R: Steven Soderbergh), werden die oben beschriebenen Antinomien auf mehreren Ebenen verhandelt. Das Bemerkenswerte an diesem Beispiel ist dabei weder, dass sein Regisseur ohnehin immer wieder durch Grenzgänge, durch Genrewechsel, durch die Vielfalt seiner Interessen überraschte – zuletzt mit der Nachricht, er wolle sich aus dem Filmgeschäft zurückziehen.13 Noch ist das Beachtliche an dem Film die für einen im kommerziellen Hollywoodkino erfolgreich arbeitenden Regisseur ungewöhnliche Wahl des Sujets, des Settings sowie die Arbeit mit Laiendarstellern. Das Ungewöhnliche ist vielmehr die Art der Auswertung des Films und die Kombination mit der, weiter unten zu erläuternden, spezifischen Art der mise en scène. Doch zunächst kurz zum Inhalt: BUBBLE spielt in einem kleinen Nest am Ohio River im bescheidenen Umfeld von Arbeitern einer Puppenfabrik. Im Mittelpunkt stehen die drei Personen Martha (Debbie Doebereiner), Rose (Misty Wilkins) und Kyle (Dustin James Ashley). Martha, eine ältere, etwas dickliche Fabrikarbeiterin, die zusätzlich ihren kranken Vater (Omar Cowan) pflegt, unterhält eine fast freundschaftliche Beziehung zu ihrem um etliche Jahre jüngeren Kollegen Kyle. Sie verbringen zusammen die Arbeitspausen, sie essen gemeinsam und sie fahren zusammen zur Arbeit. Eines Tages erscheint die allein erziehende Mutter Rose, die bisher in einem Altenheim tätig war, und angeheuert wurde, um wegen eines zusätzlichen Großauftrags in der Fabrik auszuhelfen. Schon bald weiß sie sich Marthas Dienste als Babysitterin zunutze zu machen, um mit Kyle ausgehen zu können. Als Rose nach Hause kommt, überschüttet Martha sie mit Vorwürfen. Die Diskussion wird abrupt beendet, denn Roses Exfreund klopft zu nächtlicher Stunde an die Tür, um von Rose sein Geld zurückzufordern: Er bezichtigt sie des Diebstahls. Rose bestreitet die Vorwürfe und wirft ihn hinaus. Am nächsten Morgen wird Rose ermordet aufgefunden. Die Polizei verhört sämtliche Personen, die mit Rose zuletzt in Verbindung gestanden haben. Schließlich auch Martha, die, ebenso wie alle anderen, jegliche Schuld von sich weist. Doch die Beweislage ist allzu erdrückend, da Marthas Fingerabdrücke an Roses Hals nachgewiesen werden. Sie ist die eindeutige Mörderin, auch wenn sie ihre Tat bis zum Schluss nicht gesteht. Dieser recht reduktionistische Krimiplot in einer Kleinstadt hat auf den ersten Blick nur sehr bedingt mit den oben beschriebenen Erläuterungen, die eine diskursökonomische Zugangsweise rechtfertigen sollen, zu tun. Ein nahezu klas-
13 Vgl. Röhrig, Tobias: Steven Soderbergh macht Schluss!, in: Filmreporter.de (11.03. 2011), www.filmreporter.de/stars/news/7551;Steven-Soderbergh-macht-Schluss (zuletzt aufgerufen am 17.06.2011).
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sischer Plot, der Krimiaspekte mit denen des Melodramas mischt, scheint nicht gerade prädestiniert, als besondere Form einer reflexiven und performativen Instanz gelten zu können. Zunächst ist es auch eher die Art der Auswertung des Films, die das mediale Interesse erregt hat. Der Film erschien zeitgleich im Januar 2006 in den Kinos, im Fernsehen über den Kabelsender HDNet und auch auf DVD.14 Der ansonsten übliche zeitliche Abstand in der Verwertungskette,15 der dem Kino die optimale Auswertung zusichern sollte, wurde in die Gleichzeitigkeit aufgelöst. Soderberghs Argumentation für ein derartiges Vorgehen bietet hier allerdings nur eine Teilerklärung: Nach seinen Worten habe er diesen Weg der Auswertung nur deshalb gewählt, weil die Technik – der Film wurde auf HDV gedreht – es schlicht ermöglichte.16 Soderbergh bringt, zumindest in seiner eigenen Begründung, keine ökonomischen bzw. interessenpolitischen Argumente ins Spiel. Im Gegenteil: Seinen Worten zufolge sei dies ein nahezu natürlicher Prozess, schließlich habe das Kino einst auch die abendlichen Restaurantbesuche verdrängt.17 Abseits der Frage nach der historischen Stichhaltigkeit einer solchen Argumentation stellt sich im vorliegenden Kontext nun aber jene nach den Ursachen und Effekten eines derartigen Vorgehens. Denn bemerkenswerterweise lässt sich diese spezifische Wahl der Distribution, in Verbindung mit einem derartigen, nach klassischen Hollywood-Kriterien, nicht-kommerziell erzählten und inszenierten Film, überhaupt nicht kohärent begründen. Diese Form der Auswertung führt nämlich zunächst dazu, dass sie die Interessen der Kinobesitzer zurückdrängt, die weltweit davon profitieren, dass ein Film zunächst im Kino und nirgendwo sonst gezeigt wird. Um ein Schreckensszenario zu zeichnen: Die Filmindustrie trägt, würde diese Art der Verwertung universalisiert, zur Vernichtung der Filmkunst, also
14 Vgl. Gross, Terry: Soderbergh’s ›Bubble‹ Changes the Rules, in: www.npr.org/ templates/story/story.php?storyId=5167394 (zuletzt aufgerufen am 17.06.2011). 15 Für staatlich geförderte Filme gibt es gesetzlich festgelegte Sperrfristen, die in Deutschland gemäß § 20 I des FFG (Filmförderungsgesetz) gelten. Festgelegt sind sechs Monate für DVD/Video, neun Monate für entgeltliches Video on Demand (sechs Monate mit Zustimmung des Videoanbieters), 12 Monate für Pay TV sowie 18 Monate für das Free TV (und unentgeltliches Video on Demand). In Ausnahmefällen kann durch das Präsidium der FFA (Filmförderanstalt) die Sperrfrist verkürzt werden. In den meisten europäischen Ländern liegt die Sperrfrist bei sechs Monaten, in den USA bei vier Monaten. 16 Vgl. hierzu den Kommentar Steven Soderberghs im Ergänzungsmaterial der DVD BUBBLE (USA 2006; R: Steven Soderbergh). 17 Vgl. ebd.
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ihrer ureigensten Darstellungsform, bei. Über die Auswertung im Fernsehen oder im Internet würden möglicherweise aber auch die Zahlen der DVD-Verkäufe beschnitten: Die Konkurrenzsituation über die ohnehin sehr unterschiedlichen Formen der Zuschauerschaft erfährt durch die zeitgleiche Auswertung noch eine Zuspitzung. Das kapitalistische Prinzip des Wettberwerbs, das dem Kampf um die Zuschauer vorausliegt und durch die spezifische Form der Auswertung zum Ausdruck gebracht wird, wird durch die simultane Reproduktion noch forciert. In der Tat reagierten die Kinobetreiber mit der stärksten Ablehnung auf die Aufhebung der Zeitfenster in der Verwertungskette. So sprach der Vorsitzende der National Association of Theater Owners, John Fithian, angesichts der Auswertungspraxis von BUBBLE von einem Angriff auf die Mitglieder der Vereinigung und meinte: »[I]f [release] windows were eliminated, what you would have would be fewer movies, fewer total dollars for the industry, and less choice for the consumer.«18 Vertreter der Filmindustrie – und hier kann man durchaus von einer Synchronie im deutschen wie im amerikanischen System ausgehen –19 argumentieren an dieser Stelle nun entgegengesetzt, aber mit einer im Prinzip ähnlichen Begründung für eine Verkürzung der Auswertungszeiten. Es geht schlicht um die Tatsache, mehr finanzielle Mittel in noch kürzerer Zeit für die Produktion von Filmen zu generieren. So heißt es bei Peter Decherney in seiner Studie Hollywood and the Culture Elite, dass die Studios seit dem Aufkommen des Fernsehens interessiert daran waren, einen zweiten lukrativen Markt zu eröffnen.20 Angesichts dessen ist es nur logisch, dass ein Spitzenproduzent wie der ParamountCEO Rob Friedman formuliert: »Our jobs are to make 60 Million-Dollar movies and make a profit.«21 Soderbergh affirmiert hier also eine ökonomische Strategie der Studios – mehr Effizienz, mehr Profit –, die analog zu einer makroökonomischen Begründung verläuft, wie sie Joseph Vogl in seinem jüngst erschienen
18 Zitiert nach Mark Cuban to theater owners rejecting »Bubble« – get a clue, in: BoingBoing (23.1.2006), http://www.boingboing.net/2006/01/23/mark_cuban_to_theate. html (zuletzt aufgerufen am 17.06.2011). 19 Schon vor etlichen Jahren plädierte der Vorstand der Constantin Film, Fred Kogel, für eine Verkürzung der Sperrfristen. Vgl. Beier, Lars-Olav, Thomas Schulz und Martin Wolf: Goldrausch mit Silberlingen, in: Spiegel-Online (13.06.2005), http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-40712974.html (zuletzt aufgerufen am 20.06.2011). 20 Vgl. Decherney, Paul: Hollywood and the culture elite: how the movies became American, New York: Columbia University Press 2005, S. 209. 21 Zitiert nach ebd., S. 208.
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Buch Schatten des Kapitalismus mit dem Begriff der Oikozidee belegt hat. Historisch lässt sich, so Vogl, seit der Neuzeit, seit der Entwicklung des Marktes, ein Diskurskontinuum nicht nur bei (Handels- bzw. Industrie-)Vertretern eines liberalen Kapitalismus, sondern auch bei jenen der klassischen Wirtschaftslehre nachweisen, das dem Wirtschaftssystem nicht nur eine ordnende Kraft zugesteht, sondern auch der Glaubenslehre verpflichtet ist, dass der Markt der Ort »sozialer Ordnung schlechthin«22 und damit ausgleichend sei. Im Grunde lässt sich mit dieser Begründung auch das noch nicht absehbare Wohl der Filmlandschaft durch eine auf Akzeleration und Zeitverknappung abzielende Distribution rechtfertigen. Denn in letzter Konsequenz hieße das, dass langfristig die Verkürzung der Auswertungszeiten für eine Demokratisierung des Marktes sorge und schließlich auch den Kinobetreibern zugute komme, denn es werden ohnehin immer mehr und nicht weniger Filme produziert – allerdings bei gleichzeitigem Rücklauf der Besucherzahlen für das Kino und, bezogen auf Hollywood, dem Schrumpfen des heimischen Marktanteils.23 Abgesehen davon, dass die großen Studios wie Warner, Sony, Universal und Fox nun, u. a. als Reaktion auf massive illegale Downloadpraktiken, angekündigt haben – begleitet vom lautstarken Protest durch 23 Hollywoodregisseure –, das Verwertungsfenster zu verkürzen und künftig ihre Filme bereits nach zwei Monaten ins Internet zu stellen.24
Produktive Widersprüche Der Widerspruch zur oben beschriebenen Lesart von BUBBLE, den Soderbergh einbringt und der eine allzu glatte Interpretation des Films als Kunstwerk oder als Ware verhindert, manifestiert sich aber nicht über einen Kommentar zu seiner Auswertungsweise oder ein Versprechen, er wolle diese Form der Distribution zukünftig vermeiden. Der Widerspruch, die Kritik und damit auch eine Art ambivalenter Theoriebildung durch die Praxis läuft über den Film selbst, und zwar sowohl inhaltlich wie filmästhetisch. Bereits der Titel legt diese Viel-
22 Vogl, Joseph: Schatten des Kapitalismus. Das Gespenst des Kapitals, Zürich: diaphanes 2010, S. 45. 23 Vgl. Kreuzer, Hannes: Digitale Filmdistribution. Funktionsweisen und kritische Beleuchtung der Auswirkungen auf die Filmindustrie, Hamburg: Diplomica 2010. 24 Vgl. Vahabzadeh, Susan: Für ein paar Dollar mehr. Hollywoodstudios wollen Filme früher ins Netz stellen – viele Regisseure fürchten um die Zukunft des Kinos, in: Süddeutsche Zeitung (30.04.2011), S. 15.
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schichtigkeit, die der Regisseur insgesamt auffächert, offen. Bubble bezieht sich hier zunächst auf die aufgeblasenen Köpfe der Gummipuppen, die in der Fabrik hergestellt werden.
Abbildung 3: Kopf einer Gummipuppe in BUBBLE. Bubble könnte aber auch als Anspielung auf den Begriff der im Jahr 2000 geplatzten Dotcom-Blase interpretiert werden, einer Wirtschaftsmisere, die noch vor der jüngeren, hauptsächlich durch Immobilienspekulationen hervorgerufenen Krise der Jahre 2008/2009 ebenfalls zahlreiche Kleinanleger in Mitleidenschaft zog. Selbst die historische Konvention mit der die volatilen Schwankungen des Finanzmarktes herkömmlich Joseph Vogl zufolge als bubbles, als runs, busts und booms, bezeichnet werden, legt dies nahe, wobei der Begriff an dieser Stelle die vor allem in jüngster Zeit durch die virtuellen Finanzspekulationen auftretenden Krisenphänomene meinen dürfte, die allenthalben als irrational und rätselhaft bezeichnet werden25 und häufig das Agens der dubios wirkenden Machenschaften der oft als gierig bezeichneten Finanzspekulanten in irgendeiner Form kommunizierbar zu machen suchen. Doch nicht nur im Titel lässt sich eine mehr oder weniger offene oder latent kritische Anspielung vermuten. Auch in der Form der mise en scène wählt Soderbergh eine Ausdrucksform, die, so könnte man zugespitzt formulieren, sein eigenes Distributionsverfahren subvertiert. In einer Zeit, in der die zum Teil aggressive und mit virtuellen Geldern operierende Börsenspekulation floriert, zeichnet er ein recht schonungsloses Bild derer, die an diesem auf Gewinn abzielenden System nicht partizipieren und davon nicht profitieren. Die gesamte, im quasidokumentarischen Stil gehaltene Inszenierung zeigt einen mechanisierten Alltag, dessen standardisierte Abläufe in einer Reproduktion nicht erfüllter Bedürfnisse leerlaufen. Zugleich verweigert die Wahl von Laiendarstellern ein im industrialisierten Film- und auch Theaterbetrieb übliche und ihrerseits auf Re-
25 Vgl. Vogl 2010, S. 22f.
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produktion angewiesene Form von künstlerischer Könnerschaft und Höchstleistung. Die Wahl der Puppenfabrik wird hier zum Symbol einer fast schon marxistisch interpretierbaren, sich selbst-entfremdeten Subjektivität. Denn die Puppe verkörpert zum einen die durch die reproduktiven Arbeitsabläufe entstehende Objektivierung des Menschen, zugleich spiegelt sie ihm die Fragilität einer bzw. seiner Subjektkonstitution vor.
Abbildung 4: Debbie Doebereiner als Martha in BUBBLE. Die Verschaltung der Kameraperspektive auf die Puppen, die die Arbeiterinnen anblicken (Abb. 3), mit der Kameraperspektive einer vor ihrer eigenen Wahrheit, dem Mord, (möglicherweise) nicht länger zurückweichenden Martha (Abb. 4) – die bewusst inszenierte Ähnlichkeit der Physiognomien der Puppen und Marthas Gesichts ist unverkennbar – markiert hier am ambivalenten Filmende als Autorenkommentar den Blickwechsel von der Passivität zur Aktivität: Erst diese (Selbst-)Erkenntnis ermöglicht das Aussteigen aus einer scheinbar endlos zirkulären Schleife des unerfüllten Begehrens, als Motor des kapitalistischen Prinzips begriffen. Der, und nur der Kriminalfilm scheint damit das Genre zu sein, das nicht nur der Rätselhaftigkeit der ökonomischen Entwicklungen der Moderne wie auch der jüngsten Zeit analog und damit als Darstellungsform adäquat ist. Wie Joseph Vogl erörtert hat, bemühten selbst Wirtschaftsfachleute angesichts der jüngsten Bedrohung der Finanzstabilität wiederholt den Begriff der »Rätselhaftigkeit« oder »Undarstellbarkeit«26. Der Kriminalfilm führt quasi die anthropologische und ökonomische Ursünde vor, die das stabile Gleichgewicht immer wieder stört: Jedoch ist es nur auf den ersten Blick das Begehren dessen, was man nicht besitzt, das diese erste Interpretation durch Soderberghs Montage nahelegt. Etwa dann, wenn sich Rose in dem geräumigen Haus, wo sie als Zweitjob eigentlich
26 Vgl. ebd., S. 16f.
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putzen müsste, im luxuriös ausgestatteten Badezimmer ein Bad gönnt. Oder dann, wenn die Kamera Marthas Blick folgt, die, wenn sie Rose in jenem Haus besucht, wiederholt ihre Augen auf die materiellen Luxusgüter richtet, die sie selbst nicht besitzt. Als Erklärungsmodell hierfür fungierte in der Soziologie bisher die aus einem Mangel resultierende Kategorie des Begehrens, das ebenso libidinösen wie unbewussten Triebstrukturen unterliege.27 In der Tat ist der Mangel im Genre des Krimis ein auf den ersten Blick zentraler (anthropologischer) wie dramaturgischer Modus, das Böse oder die Handlungen des/der Bösen zu begründen. Abseits dieser doch eher ausschließlichen und einseitigen Ursache-Wirkungs-Erklärung vermag allerdings das Konzept der Emotion das ebenso prozessuale wie widersprüchliche und sprunghafte Verhalten des Konsumenten – das ja nicht nur die Figuren im Film, sondern auch jene des Films als solchen auszeichnet – eher zu begründen. Wie Eva Illouz erörtert hat, kann das Konzept der Emotion als Pendant zur oben beschriebenen Auffassung vom Ökonomischen nicht allein Erkenntnis und Kultur des Konsums einerseits und Motivationsstrukturen der Triebe und Körper andererseits erklären. Es erlaubt darüber hinaus, sowohl positive wie negative Aspekte des Konsumanreizes, das dem Konsum vorausgeht und damit die Struktur des Ökonomischen mitbestimmt, gleichermaßen zu erschließen.28 Soderberghs Film vermittelt eben erst durch die Koppelung des klassischen Plots mit einer, für den Hollywood-Kontext unüblichen Form der mise en scène (und ferner der beschriebenen Auswertungsweise), genau diese Form der widersprüchlichen emotionalen Verfasstheit seiner Akteure, die zudem nicht nur Konsumenten, sondern auch Diebe sind, also Konsumenten von Gütern, die ihnen nicht zustehen. Er führt über die quasidokumentarische Ästhetik vor, dass strukturelle Gegebenheiten (provinzielles Umfeld mit wenig Kultur- und Freizeitangeboten, Eingebundensein in den eintönigen Arbeitsalltag, topografische Aufteilung der sozial unterschiedlichen Schichten am Ohio River) ebenso prägend sein können, wie situative emotionale und kontextabhängige Gegebenheiten, die das individuell je unterschiedliche Konsumieren (der immer gleiche Verzehr von Nahrung aus derselben Fast Food-Kette oder aus dem Kaffeeautomaten am Arbeitsplatz) oder gar die wiederholt angespielte Überschreitung der bisweilen fließenden Grenze vom Konsum zum Diebstahl, strukturieren. Dabei spielen als
27 Vgl. Illouz, Eva: Emotion, Imagination und Konsum: Eine neue Forschungsaufgabe, in: Heinz Drügh, Christian Metz und Björn Weyand (Hrsg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011, S. 4792, hier S. 52. 28 Vgl. ebd., S. 54 und S. 57f.
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»Hintergrundemotion«29 Aspekte wie Enttäuschung und Langeweile eine ebenso gravierende Rolle wie die Kategorien Neid und (Status-)Angst.30 Zudem zeigt die Semantik der Emotionen, die der Film bereithält, dass Reglementierung und Negation von Emotionen nicht nur Bestandteil von Kommunikation sind, sondern auch zur Stabilisierung kultureller Muster beitragen.31 Der Film führt damit auch die Störung eines reibungslosen Tauschprozesses vor, der die Fixierung auf rein monetäre Zusammenhänge übersteigt.
Neue Perspektiven Keineswegs liefert die hier beschriebene Ästhetik und die Form der Auswertung eine abschließende Erklärung ästhetischer, kultureller und schließlich ökonomischer gesellschaftlicher Funktionsweisen des Films. Gleichwohl markiert Soderberghs Ansatz einen Wandel innerhalb der Filmindustrie und, damit verbunden, seiner spannungsgeladenen Wahrnehmungsweisen von Film als Kunst und Ware, die zugleich einen einseitig negativen Reproduktionsbegriff ad absurdum führt. Er demonstriert die Insuffizienz von der rein auf (rezeptions-)ästhetische Fragestellungen fokussierten Herangehensweise der Kunstwissenschaften gleichsam exemplarisch. Transformation in den Künsten meint hier schließlich nicht allein die Transformation zwischen den Künsten und die damit verbundene Transformation ästhetischer Formen. Transformation zielt vor allem auch auf eine Transformation von Perspektiven auf die (Film-)Kunst.
29 Ebd., S. 64f. und S. 67f. 30 Vgl. ebd., S. 64-67. 31 Vgl. Simon, Fritz B.: Zur Systemtheorie der Emotionen, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für Soziologische Theorie 10 (2004), S. 111-139.
Entgrenztes Erzählen. Blicklenkung bei typologischen Bildstrukturen in der altniederländischen Malerei I SABELLA A UGART
Wenn wir uns auf die Suche nach spezifisch bildlichen Erzählmechanismen begeben, können uns typologische Darstellungen in der altniederländischen Malerei als ein besonders geeignetes Beispiel für die Funktionsweise von visueller Erzählung dienen. In den Bildwerken ergänzen dabei als kleinformatige Nebenregister präsentierte Szenen aus dem Alten Testament die neutestamentliche Hauptdarstellung. Diese typologische Verknüpfung betont die Zusammengehörigkeit beider Testamente, bei der das Alte Testament als Ankündigung des Neuen Testaments und das Neue Testament als Erfüllung des Alten Testaments ausgelegt werden.1 In Bildern legt diese Verschränkung eine interpiktoriale Deutung im Sinne von Bild-Bild-Beziehungen nahe.2 Dabei kommt dem Blick des Betrachters, der die Szenen aus dem Alten und Neuen Testament im Bild miteinan-
1
Vgl. Cardon, Bert: Typologische beeldvoorstellingen in de late 15de en de vroege 16de eeuw, in: Maurits Smeyers (Hrsg.): Dirk Bouts (ca. 1410-1475): een Vlaams primitief te Leuven, Leuven: Peeters 1998, S. 97-107; vgl. auch Bloch, Peter: Typologie, in: Engelbert Kirschbaum (Hrsg.): Lexikon der Christlichen Ikonographie 4, Freiburg: Herder 1990, S. 395-403; vgl. Mohnhaupt, Bernd: Beziehungsgeflechte: typologische Kunst des Mittelalters, Bern: Lang 2000; vgl. Sears, Elizabeth: Typological cycles, in: Jane Turner (Hrsg.): The Grove History of Art, New York: Grove/London: Macmillan 1996, S. 498-501.
2
Vgl. Kemp, Wolfgang: Praktische Bildbeschreibung. Über Bilder in Bildern, besonders bei van Eyck und Mantegna, in: Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer (Hrsg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München: Fink 1995, S. 99-109.
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der in Beziehung setzt, wesentliche Bedeutung zu. Im Folgenden soll mit dem typologischen Blick eine Wahrnehmungspraktik beschrieben werden, die in den altniederländischen Bildwerken bildimmanent eingeschrieben ist und durch die visuelle Erzählung aktiv generiert wird.3 Wenn wir von Räumlichkeit und Zeitlichkeit als Paradigmen visueller Erzählung ausgehen, ist Typologie einerseits ein Modell der räumlichen Narrativierung. Die Darstellungen aus dem Alten und Neuen Testament werden im Bildraum inhaltlich, stilistisch und narrativ miteinander verschränkt. In Form von architekturgebundenen Einbettungen, etwa als Fußboden, als Kapitellskulptur, als Glasfenster oder als Portalbogen4, an der ästhetischen Grenze zwischen Bildund Betrachterraum5 bereichern die alttestamentlichen Szenen die Hauptszene mit einer Ebene der Alterität in Stil, Inhalt und Medium.6 Typologie schlägt sich andererseits in einer visuellen Erzählweise nieder, in welcher der Erzählraum durch den Blick des Betrachters als eine Verknüpfung von Raum und Zeit erschlossen wird. Der typologische Blick betont das aktive Potenzial des Blickes zur Erzeugung von Bedeutung. In Abgrenzung zu Otto Pächts Annahme einer »Stillegung [sic] des Blickes«7 als Charakteristikum der
3
Die typologische Blicklenkung konstituiert sich in Anlehnung an die Unterscheidung zwischen gaze und glance nach Bryson, Norman: Vision and Painting: The Logic of the Gaze, London: Macmillan 1983, S. 94f. Bryson diskutiert die Verbindung von Körperlichkeit und Zeitlichkeit in skopischen Praktiken. Während gaze als entkörperlichter Sehprozess verstanden wird, thematisiert glance die Zeitlichkeit des betrachtenden Subjekts. Das Wahrnehmungsmodell des typologischen Blickes betont den Aspekt der Zeitlichkeit für die Bedeutungsstiftung als wesentliches Blickpotenzial.
4
Vgl. Panofsky, Erwin: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und Wesen [Early Netherlandish Painting, 1953], hrsg. von Jochen Sander und Stephan Kemperdick, Köln: DuMont 2001, S. 143-146.
5
Vgl. Michalski, Ernst: Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte [1932], hrsg. von Bernhard Kerber, Berlin: Mann 1996.
6
Vgl. die metapiktoriale Deutung zeitgenössischer Alteritätsdebatten bei Itzel, Constanze: Der Stein trügt. Die Imitation von Skulpturen in der niederländischen Tafelmalerei
im
Kontext
bildtheoretischer
Auseinandersetzungen
des
frühen
15. Jahrhunderts (unveröffentlichte Dissertation, Heidelberg 2003). 7
Pächt, Otto: Van Eyck. Die Begründer der altniederländischen Malerei, hrsg. von Maria Schmidt-Dengler, 3. Aufl., München: Prestel 2002, S. 24: »Die Diskontinuität im Gegenständlichen, ist die Folge der Unverrückbarkeit des Augenpunktes, der Stillegung [sic] des Blickes. [...] Der Rückzug des Auges vom Objekt der Wahrnehmung, die Stillegung [sic] aller motorischen Energien im Sehen [...] der grundsätzliche Ver-
ENTGRENZTES ERZÄHLEN | 79
altniederländischen Visualisierungsstrategie kann eine aktiv verstandene Wahrnehmungspraktik helfen, die Funktionsweise von visueller Erzählung durch den Blick des Betrachters genauer zu fassen. Dabei ergibt sich zum einen die Frage nach dem Verhältnis von Grenzen und Entgrenzung in der typologischen Bildform: Wie wird im spätmittelalterlichen Wahrnehmungsverständnis8 zwischen der ordnenden Gegenüberstellung verschiedener Register und einer zwischen diesen Registern narrativ oszillierenden Blickpraktik unterschieden? Zweitens ist nach den bildtheoretischen Implikationen des typologischen Erzählverfahrens zu fragen: Wenn wir Typologie als ikonische Wissensstruktur, als Denkform des Bildes verstehen, wie wird dann durch die Blicklenkung ein selbstreflexives Bildverständnis in den Bildstrukturen ausgedrückt?
Alterität als narratives Stilprinzip In Jan van Eycks Washingtoner VERKÜNDIGUNG von 1434 wird die Verkündigung der Geburt Jesu an Maria im Mittelschiff einer Kirche dargestellt und bezieht somit die architektonische Struktur der ecclesia in die typologische Deutung mit ein.9 Der Kirchenraum kombiniert romanische mit frühgotischen Stilformen. Über den spitzbogigen gotischen Arkaden sieht man den Obergaden mit rundbogigen romanischen Fenstern, so dass das zeitliche Verhältnis von älterer und neuer Bautradition umgekehrt erscheint. Außerdem entwickelt der Kirchenraum ein Bildprogramm des Alten Bundes in verschiedenen Medien. Neben dem Glasfenster mit einer Darstellung Zebaoths befinden sich zwei auf das Formenrepertoire um 1200 zurückgreifende Fresken an der Westwand. Die Auffindung
zicht auf alles Abtasten des Gesehenen, die Konstituierung einer Kunst des reinen Schauens, des passiven Erblickens, das ist die revolutionäre, man kann ruhig sagen, kopernikanische Wende in der Entwicklung der Malerei, die als Tat des van Eyck in die Geschichte eingegangen ist.« 8
Vgl. Ringbom, Sixten: Some pictorial conventions for the recounting of thoughts and experiences in late medieval art, in: Flemming Andersen (Hrsg.): Medieval iconography and narrative, Odense: Odense University Press 1980, S. 38-69, hier S. 57-60.
9
Vgl. Purtle, Carol: Van Eyck’s ›Washington Annunciation‹: narrative time and metaphoric tradition, in: The Art Bulletin 81 (1999), S. 117-127; vgl. Panofsky 2001, S. 144-145; vgl. Belting, Hans und Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München: Hirmer 1994, S. 152153; vgl. Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler: zur Bilderzählung seit Giotto, München: Beck 1996, S. 100-103.
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des Mosesknaben und die Übergabe der Gesetzestafel verweisen auf die zukünftige Stiftung des Neuen Bundes. Am Boden umrahmen ornamentale Bänder, unterbrochen von Medaillons mit Tierkreiszeichen, schwarze Einlegearbeiten mit Szenen aus dem Leben Samsons und Davids.
Abbildung 5: Jan van Eyck, VERKÜNDIGUNG, 1434, Öl auf Eiche/Leinwand, 92,7 x 36,7 cm, National Gallery of Art, Washington. In welcher Weise wird dieser Bildraum vom Betrachter semantisch erschlossen? Eine vollständige Untersuchung zur Semantik derartiger typologischer Strukturelemente liegt bisher nicht vor.10 Erwin Panofsky brachte in Early Netherlandish Painting erste Deutungsversuche zur symbolhaften Aufladung des Bildrau-
10 Die Forschung berücksichtigte als Teilbereiche dieser Fragestellung bisher vor allem die politischen Implikationen der alttestamentlichen Personalanalogien. Vgl. Franke, Birgit: Assuerus und Esther am Burgunderhof. Zur Rezeption des Buches Esther in den Niederlanden (1450 bis 1530), Berlin: Mann 1998; vgl. Polleross, Friedrich: Between typology and psychology: the role of the identification portrait in updating Old Testament representations, in: Artibus et historiae 12 (1991), S. 75-117; vgl. Appuhn, Horst: Heilspiegel: Die Bilder des mittelalterlichen Andachtsbuches Speculum humanae salvationis, Dortmund: Harenberg 1981.
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mes durch die Verknüpfung von Altem und Neuem Testament bei van Eyck vor.11 Seine Überlegungen zur Verknüpfung dieser unterschiedlichen Zeitebenen als stilistisches Verhältnis von Romanik und Gotik berühren das paragoneProblem in den Medien Bild und Skulptur, wie es sich in der altniederländischen Malerei in den Grisaille-Darstellungen stellt.12 Typologische Bildstrukturen erfordern neben der Deutung des stilistischen Dialoges von Bildern auch eine Analyse der narrativen Bildprozesse. In der Forschung seit Max Jakob Friedländer, Friedrich Winkler oder Panofsky bis hin zu Svetlana Alpers, Hans Belting13 und Wolfgang Kemp ist der Status der Erzählung in der altniederländischen Malerei immer noch ein umstrittenes Thema. So unterscheidet Svetlana Alpers in The Art of Describing zwischen der italienischen narrativen Schilderung von Ereignissen entsprechend Albertis Forderung nach istoria14 und einem nordalpinen beschreibenden Repräsentationsmodus.15 Der niederländischen Visualisierungsstrategie sei somit eine Tendenz zur Entnarrativierung zu eigen. Bilderzählungen von menschlichem Handeln und Fühlen werden nach Alpers durch eine direkte Wiedergabe der Welt ersetzt.16 Diese restriktive Dichotomie von istoria und Beschreibung sowie die damit erfolgte Aufspaltung von narrativer Malerei in Italien und nicht-narrativer Malerei in den Niederlanden ist nicht haltbar. Stattdessen lässt sich zeigen, dass der altniederländische Bildraum häufig in zwei Register aufgeteilt wurde, ein nicht-narratives Hauptregister und ein narratives kleineres Nebenregister. Nach Wolfgang Kemp
11 Vgl. Panofsky 2001, S. 120 und S. 141-146. 12 Vgl. Täube, Dagmar: Monochrome Gemalte Plastik. Entwicklung, Verbreitung und Bedeutung eines Phänomens niederländischer Malerei der Gotik, Essen: Die Blaue Eule 1991; vgl. Grams-Thieme, Marion: Lebendige Steine. Studien zur niederländischen Grisaillemailerei des 15. und frühen 16. Jahrhunderts, Köln/Wien: Böhlau 1988. 13 Vgl. Belting, Hans und Dagmar Eichberger: Jan van Eyck als Erzähler. Frühe Tafelbilder im Umkreis der New Yorker Doppeltafel, Worms: Werner’sche Verlagsgesellschaft 1983; vgl. auch Belting und Kruse 1994. 14 Zum Vorgang der istoria vgl. Alberti, Leon Battista: Über die Malkunst, hrsg. von Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2002, S. 121 und S. 129. 15 Alpers, Svetlana: The Art of Describing. Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago: University of Chicago Press 1983, S. xxi: »attention to the surface of the world is achieved at the expense of the representation of narrative action.« 16 Vgl. Marin, Louis: On Representation [De la représentation, 1994], Stanford: Stanford University Press 2001, S. 236-251.
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kommt es dazu, »daß [sic] die Akteure erstarren und die Nebensachen zu erzählen anfangen«17. Kemps Deutung ist allerdings statisch in der Gegenüberstellung der interpiktorialen Beziehungen. Es scheint vielmehr, dass sowohl die räumliche Gestaltung des Bildfeldes als auch einzelne sinnstiftende Merkmale wie die evozierten Medien und Kunststile bei van Eyck in ihrem dynamischen Verhältnis zu einem vielstimmigen Erzählen im Bild beitragen. Es ist daher angebracht, wie Werner Hoffmann von einer »polyvokalen Bildstruktur«18 auszugehen: In seiner Analyse von ikonischen und narrativen Zonen unterscheidet Hoffmann zwischen monovokalen Bildern, welche empirische Bezüge im dreidimensionalen Beziehungsraum zwischen Körpern und Objekten betonen, und polyvokalen Bildern, in denen Bedeutungsrelationen veranschaulicht werden. Die polyvokale Struktur betont die Beziehungen zwischen den einzelnen visuellen Bedeutungsschichten. Die im Bild gegebenen typologischen Schichten erstrecken sich dabei neben der Ikonografie selbst auch auf das Verhältnis von romanischer und gotischer Architektur oder der Alterität der Medien Glasmalerei, Fresko und Einlegearbeit. Typologische Erzählung wird in diesem Werk aus zahlreichen Bedeutungsschichten durch den aktiven Blick des Betrachters konstituiert. In der Washingtoner VERKÜNDIGUNG liegt eine Polyphonie des Bildes vor, eine Struktur, die Bachtin als heteroglossia in Texten beschrieben hat: »The novel orchestrates all its themes, the totality of the world of objects and ideas depicted and expressed in it, by means of the social diversity of speech types and by differing individual voices that flourish under such conditions. Authorial speech, the speeches of narrators, inserted genres, the speech of characters are merely those fundamental compositional unities with whose help heteroglossia can enter the novel.«19
Das vielstimmige Erzählen in van Eycks Werk beruht im Wesentlichen auf dem Prinzip der Alterität, der Verschiedenheit in Medium und Stil. Medium wird hierbei gattungsbezogen als bildimmanente Differenzierung in evozierte Tafelmalerei, Glasmalerei, Skulptur oder Einlegearbeit verstanden. Wodurch werden diese einzelnen Stimmen zu einem Gesamtgefüge der Erzählung orchestriert? Wie kann das im Gemälde evozierte Medium Bild selbst zum Modus, d. h. zur
17 Kemp 1996, S. 103. 18 Vgl. Hoffmann, Werner: Die Moderne im Rückspiegel: Hauptwege der Kunstgeschichte, München: Beck 1998, S. 31. 19 Bachtin, Michail: The dialogic imagination: four essays, Austin: University of Texas Press 1981, S. 263.
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Prägung des visuellen Erzählens werden? Die folgenden Überlegungen zur medialen Fokalisierung in Bilderzählungen, wie sie Mieke Bal20 als Perspektivierung durch das Medium beschrieben hat, helfen dabei, in einem Vergleichswerk zur Washingtoner VERKÜNDIGUNG die Prozesse, durch die das Medium des Tafelbildes in Materialität und Wahrnehmungsmodi Erzählung aktiv mitprägt,21 noch klarer herauszuarbeiten. Die Darstellung des STABWUNDERS und der VERMÄHLUNG MARIENS wird im Umkreis des Meisters von Flémalle verortet und um 1430 datiert.22 In Bezug auf den bildreflexiven Gehalt des Werkes ist hierbei die Rolle der baugebundenen Plastik als Erzählzyklus und als Einzelfigur interessant. An den Kapitellen und an der Attika der Rotunde befinden sich monochrome Reliefdarstellungen aus der Geschichte von Abraham und seinem Neffen Lot. Weitere alttestamentliche Figuren sind am gotischen Kathedralportal zu sehen, auffällig ist hierbei die leere Nische direkt über dem Kopf Josephs. An den fünf Fenstern im Tempel befinden sich Bildfelder mit Erzählungen aus der Genesis. Der Maler greift in der bildimmanenten Medienreflexion die Gestaltungstechniken der Glasmalerei auf,
20 Zur Fokalisierung als mediales Phänomen vgl. Bal, Mieke: Reading ›Rembrandt‹: Beyond the Word-Image Opposition, Cambridge: Cambridge University Press 1991, S. 138-176, hier S. 154: »Focalization is the relation between the elements of the fabula presented in the story, and the perspective from which they are presented.« Bal definiert den Begriff als bereits deutungsgebunden: »focalization is the direct content of the linguistic signifiers. In visual art, it would then be the direct content of visual signifiers like lines, dots, light and dark, and composition, In both cases, focalization is already an interpretation, a subjectivized content.« Ebd., S. 158. Vgl. auch Bal, Mieke: Notes on Narrative Embedding, in: Poetics Today 2.2 (1981), S. 41-59. 21 Biti, Vladimir: Medium, Literatur- und Kulturtheorie. Ein Handbuch gegenwärtiger Begriffe, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 540-546. 22 Umkreis des Meisters von Flémalle, STABWUNDER UND VERMÄHLUNG MARIENS, vor 1433, Öl auf Eiche, 78,5 x 89,8 cm, Prado, Madrid. Vgl. Kemperdick, Stephan: Meister von Flémalle. Das Stabwunder und die Vermählung Mariens, in: ders. und Jochen Sander (Hrsg.): Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, Kat. Ausst. Städel Museum Frankfurt und Gemäldegalerie Berlin, Ostfildern: Hatje Cantz 2008, S. 224-233; vgl. Smith, Graham: The Betrothal of the Virgin by the Master of Flémalle, in: Pantheon 30 (1972), S. 115-132; vgl. Nys, Ludovic: Le Mâitre de Flémalle à Gand. À propos du Mariage de la Vierge et de l’Annonciation du Musée du Prado, in: ders. und Dominique Vanwijnsberghe (Hrsg.): Campin in Context. Peinture et société dans la vallée de l’Escaut à l’époque de Robert Campin 1375-1445, Valenciennes: Presses Universitaires de Valenciennes 2007, S. 239-254.
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insofern das einfallende Licht die Fenster unterschiedlich stark erleuchtet und die für die Glasmalerei typischen Helligkeitsunterschiede sowie die Farbleuchtkraft prägnant herausgearbeitet sind. Der Vergleich dieses Werkes mit van Eycks VERKÜNDIGUNG zeigt, wie Charakteristika des visuellen Erzählverfahrens durch die Fokalisierung durch das Medium bildimmanent reflektiert werden. Das Medium Bild als Fokalisierung erlaubt es, im Bild Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verbinden. Es gibt hier keine Vergangenheit in Grisaille im Gegensatz zu einer farbenprächtigen Haupterzählung. Typologisches Erzählen im Bild präsentiert keine von der Vergangenheit zur Gegenwart fortschreitende Zeiten- und Szenenfolge, wie sie in der textuellen Erzählung auftritt. Stattdessen konfrontiert uns die altniederländische Typologie mit einer entgrenzten visuellen Erzählauffassung, d. h. der Blick des Betrachters überschreitet die Grenzen von Vergangenheit und Gegenwart. Er bewegt sich zwischen den Bedeutungsschichten im Bildraum hin und her und verschränkt so die Typologie zu einem spiralartigen Erzählen im Raum. Die Visualisierungsstrategie des entgrenzten Erzählens mittels des typologischen Blickes kann somit als eine ikonische Umsetzung des spätmittelalterlichen Typologieverständnisses gedeutet werden. Wenngleich Typologie als Exegesevariante23 zwar als Struktur einer historischen Weltdeutung24 verstanden werden kann, scheint sie zugleich eine chronologische Zeitenfolge zu hinterfragen. Typologie verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer heilsgeschichtlichen Überlagerung.25 So deutet Erich Auerbach das Verhältnis von Typus und Antitypus als zeitliche Verknüpfung: »The two poles of the figure are separate in time, but both, being real events or figures, are within time, within the stream of historical time.«26 Der spiralartige Rezeptionsmodus in der VERMÄHLUNG MARIENS lässt sich als bildgewordene Umsetzung des typologischen Zeitenstroms verstehen. Die Bildwahrnehmung dient somit als Aufladung, durch die bildimmanente Blicklenkung überlagern sich die einzelnen Schichten zu einem
23 Vgl. Hausherr, Rainer: Sensus litteralis und sensus spiritualis in der Bible moralisée, in: Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), S. 356-380. 24 Vgl. Ohly, Friedrich: Typology as a form of historical thought, in: Samuel Jaffe (Hrsg.): Sensus spiritualis: studies in medieval significs and the philology of culture, Chicago: Chicago University Press 2005, S. 31-67. 25 Zum Verhältnis von Altem und Neuen Bund vgl. Matthäus 5.17: »Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.« 26 Auerbach, Erich: Figura, in: Scenes from the Drama of European Literature, New York: Meridian 1959, S. 11-76, hier S. 53.
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typologischen Bildsinn. Der typologische Blick des Betrachters vermittelt von Medium zu Medium und von Zeit zu Zeit. Die Bilderzählung wird durch die polyvokale Wahrnehmung verdichtet. Was treibt diese Verdichtung an, welchem Rhythmus folgt das visuelle Erzählen, wie verhalten sich Zeit und Bild hierbei zueinander? Neben dem Medium kommt auch dem Stil und der zeitlichen Einbettung des Stiles eine wesentliche Rolle als Fokalisierungselement nach der Definition von Mieke Bal im Bild zu.27 In van Eycks Washingtoner VERKÜNDIGUNG sind der Baustil und die figürliche Ausschmückung im Bildraum nicht nur als verkleidete Symbolik (disguised symbolism)28 ikonografisch aufgeladen. Sie stützen auch auf der Ebene eines stilistischen Wettstreits die ikonische Verschränkung. Ist der typologische Blick des Betrachters der Blick des Connaisseurs? Ist die Geschichte, die van Eyck uns hier im Bild und durch das Bild zeigt, eine Geschichte der Kunst? Welche Erzählhaltung steht hinter dieser von van Eyck entworfenen Ikonizität der Vergangenheit? Aus stilkritischer Perspektive hatte bereits Panofsky darauf verwiesen, dass die scheinbar romanischen Formen im Kirchenraum keineswegs als reine Stilkopie zu verstehen sind. Die Vertrautheit mit romanischen Bauwerken wird hierbei von van Eyck in eine visuelle Aneignung und Neukonfiguration des alten Stils überführt. Ars nova und Alter Bund – wir sehen, wie sich in van Eycks VERKÜNDIGUNG ein Diskurs über den Stellenwert seiner neuen Kunst und seiner Fähigkeit als Künstler in der Überwindung vergangener Stilformen einschreibt. Die Bewältigung, gar eigene Erschaffung der romanischen Kunstform als Ikonizität der Vergangenheit lässt die Washingtoner VERKÜNDIGUNG zu einem epistemischen Bild werden, in dem Fragen nach dem Stilverständnis, den Prinzipien künstlerischer innovatio und aemulatio und nach dem Verständnis von ikonischer Repräsentation visuell verhandelt werden. Im Hinblick auf dieses Repräsentationsverständnis markiert dabei gerade die Staffelung der romanischen oberhalb der gotischen Stilstufe einen wesentlichen Punkt innerhalb der Entwicklung eines einheitlichen Zeit- und Raumgefüges in
27 Vgl. zum Stil als künstlerische Wahlmöglichkeit Gombrich, Ernst: Style [1968], in: David Preziosi (Hrsg.): The Art of Art History, A Critical Anthology, 2. Aufl., Oxford: Oxford University Press 2009, S. 120-140. Vgl. zur Möglichkeit künstlerischer Selbstdefinition durch die Stilwahl Elsner, Jas: Style, in: Robert Nelson und Richard Shiff (Hrsg.): Critical Terms for Art History, 2. Aufl., Chicago: Chicago University Press 2003, S. 98-109, hier S. 106. Zur Stilisierung als Ausdruck künstlerischer Ambivalenz vgl. Sontag, Susan: On Style, Against Interpretation [1965], London: Random House 1994, S. 15-35, hier S. 20. 28 Panofsky 2001, S. 7 und S. 119.
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der Kunst des frühen 15. Jahrhunderts. Es scheint, dass dieser Entwicklungsweg zu einem geschärften Bewusstsein über das Verhältnis unterschiedlicher Zeitstufen und deren Auslotung im Bild geführt hat. Dabei kommt gerade dem Verkündigungssujet eine wesentliche bildreflexive Kraft zu. Die Verkündigung markiert den Kern der Verschränkung von Altem und Neuem Bund; in der Fleischwerdung Christi treffen die momenthafte Verheißung im englischen Gruß und die zeitliche Entwicklung der Heilsgeschichte zusammen.29 Die Verkündigungsszene kann somit als Chiffre für die Bildwerdung schlechthin, d. h. für das Verhältnis von zeitlicher Entwicklung und Gleichzeitigkeit verstanden werden, durch das ein Bild zur Erscheinung kommt.
Grenze und Entgrenzung der Erzählung Worin lässt sich der Stellenwert des Sehens in den altniederländischen typologischen Bildern deuten? Im Anschluss an Heinrich Wölfflin, der die Geschichte der Kunst als eine Geschichte des Sehens beschrieben und die Aufdeckung dieser unterschiedlichen Blickschichten als Hauptaufgabe der Kunstwissenschaft eingefordert hat,30 interessiert dabei besonders der Blick des Betrachters als eine im Bild eingeschriebene Erzählstrategie. Der typologische Blick ist eine Blickmetapher, welche die Überschneidungen und Lücken zwischen Repräsentation einerseits und Erzählung im Bild andererseits thematisiert. In welchem Verhältnis stehen Grenzen und Entgrenzung in der typologischen Bildform? Wie kann der Blick des Betrachters dabei zeitlich und räumlich gegebene Erzählränder überschreiten? Auch die folgenden altniederländischen Bildwerke thematisieren in besonderer Weise den Rand als Ort der Erzählung. Sie bieten Vergleichsmöglichkeiten im Hinblick auf den Stellenwert des Blickes für die Narration in der altniederländischen Malerei. In der KREUZANNAGELUNG CHRISTI aus dem Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund von 1475-1480 wird der Blick des Betrachters durch ein Fenster auf die Hauptszene am Golgathahügel geleitet.31
29 Zur Zeitlichkeit von Verkündigungsszenen vgl. auch Grootenboer, Hanneke: Reading the Annunciation, in: Deborah Cherry (Hrsg.): About Mieke Bal, Oxford: Blackwell 2007, S. 349-363. 30 Vgl. Wölfflin, Heinrich: Das Problem des Stils in der bildenden Kunst [1911], Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 6. Aufl., Basel: Schwabe 1979, S. 296-339, hier S. 298. 31 Das Stundenbuch wird in der Forschung mindestens sechs Miniatoren zugeschrieben, der weiterhin ungesicherte Meister der Maria von Burgund wurde wiederholt mit Lie-
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Abbildung 6: Meister der Maria von Burgund, KREUZANNAGELUNG, STUNDENBUCH DER MARIA VON BURGUND, 1475-1480, Öl auf Pergament, 22,5 x 16,3 cm, Österreichische Nationalbibliothek, Wien. Seitlich vom Fensterrahmen kommentiert eine Skulptur, die die Opferung Isaaks durch Abraham darstellt, typologisch die Kreuzannagelung. Der Gehorsam Abrahams gegenüber Gott wird somit in einer ersten Ebene mit dem Tod Christi verschränkt.32 Als Teil eines Innenraums kommt der Skulptur zudem der Stellenwert eines Andachtsbildwerks zu. Im Interieur gemahnt die Skulptur die pos-
ven van Lathem in Verbindung gebracht. Vgl. Belting und Kruse 1994, S. 225; vgl. auch König, Eberhard: Zur Wirklichkeit im Fensterbild der Kreuzannagelung des Wiener Stundenbuchs der Maria von Burgund, in: Jeffrey Hamburger und Anne Korteweg (Hrsg.): Tributes in honor of James H. Marrow: studies in painting and manuscript illumination of the late Middle Ages and Northern Renaissance, London: Miller 2006, S. 271-283. 32 Vgl. Göttler, Christine: ›Figura Passionis‹. Abraham and Isaak im Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund. Affekt und religiöse Erinnerung in der frühniederländischen Malerei, in: Johann Steiger und Ulrich Heinen (Hrsg.): Isaaks Opferung (Gen 22) in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit, Berlin: de Gruyter 2006, S. 153-184.
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tulierte Betrachterin Maria von Burgund zum Gottesgehorsam entsprechend Matthäus 16.24: »Da sprach Jesus zu seinen Jüngern: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.« Diese Imitatio Christi war wesentliche Forderung der zeitgenössischen Frömmigkeitsbewegungen wie der Devotio Moderna im ausgehenden 15. Jahrhundert. Als Andachtsobjekt im häuslichen Umfeld greift die Episode des Alten Bundes einer Schlussfolgerung von Christi Erlösungswerk vermittelt vor. Das Interieur der Buchmalerei kommentiert durch das alttestamentliche Objekt somit einerseits die Szene des Neuen Bundes und greift andererseits auf den Betrachter über. Das Bild wird dadurch selbst zum zweifach semantisierten Erzählraum nach Wolfgang Kemp: »Erzählraum wird durch Räume und durch Beziehungen zwischen diesen konstituiert – durch die Beziehungen zwischen Innenräumen, zwischen Innenraum und Außenraum und zwischen Bildraum und Betrachterraum.«33 Es scheint, dass durch die Einbettungen der Szenen aus dem Alten Bund das typologische Bildgefüge um die Spannungsebene eines parergon bereichert wird. Gemäß der antiken Rhetoriklehre bezeichnet der Begriff das schmückende Beiwerk einer Rede, nach Plinius den Schmuck eines Gemäldes. Jacques Derrida definiert den Terminus als werkimmanente Membran: »Ein parergon steht gegen das, steht neben dem ergon und kommt zu ihm hinzu, zur getanen Arbeit, zum Faktum, zum Werk, aber es bleibt nicht abseits; vielmehr berührt und kooperiert es, von einem gewissen Außen her, innerhalb der Operation. Weder einfach draußen, noch einfach drinnen. Wie eine Nebensache, die man am Rande gelten lassen muß [sic], an Bord nehmen muß [sic].«34
Im methodischen Anschluss an Derridas Deutung des parergon untersuchte Victor Stoichita in Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei die Rolle von bildimmanenten Einbettungen in der niederländischen Malerei. Er deutet dabei die Funktion von Nischen, Türen und Rahmen als Ränder ebenfalls als parergonale Visualisierungsstrategien im Bildraum.35 Mit Blick auf die Wiener KREUZANNAGELUNG lässt sich festhalten, dass dort der Fensterrahmen zwi-
33 Kemp 1996, S. 103; vgl. Heath, Stephan: Narrative space, in: Screen 17.3 (1976), S. 68-112. 34 Derrida, Jacques: La vérité en peinture, Paris: Flammerion 1978, S. 63, zitiert nach Stoichita, Victor: Das selbstbewusste Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München: Fink 1998, S. 39. 35 Vgl. Stoichita 1998, S. 46-86.
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schen dem inneren Bildraum und dem postulierten Betrachterraum oszilliert und somit diese visuelle Grenze infrage stellt. Eine weitere Verdichtung findet die Funktionsweise dieses Rahmens in Louis Marins Deutung des Parergons als einer opaken Grenze in der Repräsentation.36 Diese Grenze dient dabei nicht nur als Membran, sondern beinhaltet zwei funktional verschiedene Dimensionen. Nach Marin ist dies einerseits eine reflexive Dimension, in der die Grenze sich selbst präsentiert. Übertragen auf die KREUZANNAGELUNG entspricht dies dem Verhältnis von Interieur und Golgatha. Andererseits beinhaltet die opake Grenze auch eine transitive Dimension, in der etwas darüber Hinausgehendes repräsentiert wird.37 Die Wahrnehmung des Sinnzusammenhanges zwischen aktiver Anschauung der Schnitzskulptur und innerer Schau des typologischen Zusammenhangs wird in diesem transitiven Mechanismus auf den Blick des Betrachters übertragen. Es lässt sich somit feststellen, dass Typologie an den Erzählrändern den Status der Repräsentation im Bild thematisiert. Typologische Episoden verwischen die Grenze von Kunst und Wirklichkeit. Als Strukturen an der Grenze des Erzählens leiten sie den Betrachter durch die Sphäre des Alten Bundes im äußeren Register hin zum Erlösungswerk des Neuen Bundes. Wichtig für das Aktivierungspotenzial des typologischen Blickes ist dabei die offene Wirkungs- und Funktionsweise des Randes als Membran. In der Berliner ANBETUNG DER HIRTEN des Hugo van der Goes von 1480 findet die sprachliche Heilsoffenbarung bildhaften Ausdruck.38 Eilig stürzen von links zwei Hirten zur Krippe, um die bereits Maria, Joseph, zahlreiche Engel sowie Ochse und Esel in stiller Anbetung gruppiert sind. Dem Betrachter wird der Blick zur Krippe durch zwei Halbfiguren im Vordergrund vermittelt. Der rechte kahle Mann mit grauem Bart, wohl der Prophet Jeremias, spricht den Betrachter mit eindringlichem Blick und halb geöffnetem Mund an und fordert ihn zur Betrachtung der
36 Vgl. Marin 2001, S. 352-372. 37 Vgl. ebd., S. 252-268, hier S. 256: »to represent signifies to present oneself as representing something, and every representation, every sign or representational process, includes a dual dimension – a reflexive dimension, presenting oneself; a transitive dimension, representing something – and a dual effect – the subject effect and the object effect.« 38 Hugo van der Goes, ANBETUNG DER HIRTEN, ca. 1480, Öl auf Eiche, 97 x 245 cm, Gemäldegalerie, Berlin. Vgl. Ridderbos, Bernhard: Die »Geburt Christi« des Hugo van der Goes: Form, Inhalt, Funktion, in: Jahrbuch der Berliner Museen 32 (1990), S. 137-152; vgl. Dhanens, Elisabeth: Hugo van der Goes, Antwerpen: Fonds Mercator 1998; vgl. Sander, Jochen: Hugo van der Goes. Stilentwicklung und Chronologie, Mainz: Von Zabern 1992.
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Fleischwerdung auf. Während seine Linke den Vorhang beiseiteschiebt, weist er mit dem rechten Zeigefinger auf den Betrachter. Durch das Beiseiteschieben der Vorhänge an der dreidimensional erhobenen Stange geben die beiden Figuren den Blick auf die Erfüllung der Heilsbotschaft frei. Nach der Textexegese verweist das Motiv des Vorhangs der beiden Propheten auf den Überwindungsprozess des Judentums durch das Christentum. Das Alte Testament sah die göttliche Wahrheit nur unter einem Schleier, wie Paulus im 2. Korintherbrief 3.14 ausführt: »Bis zum heutigen Tag liegt die gleiche Hülle auf dem Alten Bund, wenn daraus vorgelesen wird, und es bleibt verhüllt, dass er in Christus ein Ende nimmt.« Der grüne Vorhang ist übertragener Bildsinn der revelatio, der Enthüllung des Alten Testaments durch das Neue Testament. Die Propheten ziehen die Vorhänge zur Seite, um den Blick auf die Heilsbotschaft des Neuen Bundes freizugeben. Der transparente Vorhang gliedert sich in die Schwelle zwischen Bildraum und Betrachterraum ein.39 Der Neue Bund wird in der Fleischwerdung Christi sichtbar gemacht und bedarf dazu der medial vermittelten Enthüllung durch die beiden Propheten aus dem Alten Testament. Der Blick auf die Erfüllung des Neuen Bundes wird erst durch ein Verständnis des Alten Bundes möglich. Das Bild als Schleier, als Abbildungsmittel und Imaginationsvorgang vollzieht somit in der ANBETUNG DER HIRTEN die typologische Beziehung von Altem und Neuem Testament aktiv mit. Mithilfe der Erzählung des Alten Bundes wird die selbstreflexive Fragestellung nach der Vermittlungsleistung des Bildes für die typologische Erzählform reaktualisiert. Die Reaktualisierung durch den Betrachter ist auch wesentlicher Bestandteil des Bildprozesses in dem 1460 entstandenen PORTRÄT EINES JUNGEN MANNES von Petrus Christus aus der National Gallery in London.40 In einem Innenraum schmücken Steinfiguren die rundbogige Tür. Unten links steht die tiburtinische Sibylle unter einem Prophet. Auf der rechten Seite befindet sich ein barfüßiger Mann, den wir als Johannes den Täufer deuten können. Die Nische daneben ist leer, für wen sollte sie Platz bieten? Die Anordnung mit Johannes dem Täufer legt den Schluss nahe, dass der typologische Bezug auf eine fehlende Christusfigur vom Betrachter selbst hergestellt werden muss. Gerade in der partiellen
39 Vgl. Eberlein, Johann: Apparitio regis - revelatio veritatis: Studien zur Darstellung des Vorhangs in der bildenden Kunst von der Spätantike bis zum Ende des Mittelalters, Wiesbaden: Reichert 1982, S. 83-87. Vgl. zur bildreflexiven Dimension des Schleiers Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren: ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München: Fink 2001. 40 Petrus Christus, PORTRÄT EINES JUNGEN MANNES, 1460, Öl auf Eiche, 35,5 x 26,3 cm, National Gallery, London. Vgl. Belting und Kruse 1994, S. 195f.
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Leerstelle41, welche den Betrachter zur Imagination auffordert, verdichtet sich die Funktionsweise des typologischen Blickes im Bildgefüge. Der typologische Blick produziert die Typologie, visualisiert die Christusfigur und vollendet durch die Verknüpfung von Altem und Neuem Testament selbst das Bild.
Der typologische Blick In den Überlegungen zum entgrenzten Erzählen durch den typologischen Blick wurde durch die Analyse der ausgewählten Beispiele gezeigt, welche besondere Bedeutung als innerbildliche Schwellensituation den Erzählrändern wie Fenstern und Rahmen zukommt, durch welche der Blick des Betrachters zeitlich und räumlich von der Bildsphäre des Alten Bundes zum Neuen Bund und zurück übertritt. Dieser typologische Blick ist den Bildwerken als Wahrnehmungspraktik bildimmanent eingeschrieben. Die Blicklenkung des typologischen Blicks als Verknüpfung von Zeit und Raum ermöglicht es, die eingebetteten Szenen als einen selbstreflexiven Kommentar der altniederländischen Malerei über ihren Status als narratives Medium zu verstehen.
41 Vgl. zur Leerstelle im Werk Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur (1970), in: Rainer Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München: Fink 1975, S. 234-236.
If the image is valid. André Previn und die Rezeption musikalischer Diversifikation F RÉDÉRIC D ÖHL
Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, welche Folgen der Trend zur Entgrenzung, der in den Künsten der Gegenwart auszumachen ist, für ihre ästhetische Erfahrbarkeit hat.1 Verhandelt wird diese Frage anhand der Rezeption des Musikers André Previn, dessen Werdegang über Jahrzehnte hinweg durch eine besondere Vielfalt musikalischer Betätigungsfelder (Klassische Musik, zeitgenössische Kunstmusik, Jazz, Filmmusik, Pop) gekennzeichnet ist. Da Previn einerseits unter dem Begriff Crossover viele Formen von Entgrenzung explizit als unproduktiv zurückweist und andererseits seine Rezeption den von ihm gelebten Grenzüberschreitungen nur sehr bedingt zu folgen scheint, erlaubt dieses Fallbeispiel Rückschlüsse auf die Reichweite des allgemein als prägend diagnostizierten Trends für Produktions- wie Rezeptionsseite. Darüber hinaus legt die Untersuchung zumindest für den Bereich der Musik eine dominierende Stabilität der Grenzen zwischen den etablierten musikalischen Milieus offen. Ist man geneigt, sich die generelle Entwicklung zu erschließen und hierfür die Motive, welche die Entgrenzung im Einzelfall veranlasst haben, die Formen, in denen sie in Erscheinung tritt, und die Reaktionen, die von ihr, beabsichtigt oder nicht, ausgelöst werden, nachzuvollziehen und zu beschreiben, tritt unverzüglich eine Vielzahl von schwierigen Fragen auf, die wiederum voneinander verschiedene, potenziell vorrangige Untersuchungsperspektiven generieren. Auf begrifflicher Ebene gehört hierzu etwa die Notwendigkeit, den Begriff der Entgrenzung im Kontext des Bereichs der Künste zu konkretisieren und, diesem 1
Für Hinweise, die Eingang in diesen Text gefunden haben, sowohl zu Previn als auch zur Diskussion über ästhetische Erfahrung, Entgrenzung und ästhetisches Urteil, bin ich Michael Custodis, Daniel M. Feige, Hans Ulrich Gumbrecht, Lawrence Kramer, Michael Lüthy und Albrecht Riethmüller zum Dank verpflichtet.
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Schritt vorausgehend, sich über den dabei verwendeten Begriff von Kunst zu verständigen. Dies gilt erst recht im Umfeld einer Bewegung hin zu künstlerischer Entgrenzung, die, wie u. a. anhand der Begriffsfelder um Kulturindustrie/Entkunstung2, Erlebnisgesellschaft3, Ästhetisierung der Politik/Politisierung der Kunst4, Ästhetische Erfahrung und Moral/Ethik5 oder Ästhetisierung der Lebenswelt6 vielfach diskutiert wurde, in mannigfaltiger Weise Phänomene hervorbringt, die zumindest zu den landläufigen Vorstellungen dessen, was Kunst ist und was nicht, evidentermaßen querstehen bzw. das Feld der Künste ganz zu verlassen scheinen, um doch zugleich, gewollt oder nicht, irgendwie damit verbunden zu bleiben.7 Dieselbe Frage nach dem, was eigentlich noch an Spezifischem den Künsten mit Blick auf die zu untersuchende Entwicklung verbleibt, stellt sich auch auf anderen Ebenen. Für das Urteilen etwa wird immer wieder diagnostiziert, dass jene Aspekte, die Immanuel Kant zur Eigenheit des ästhetischen Urteils bestimmt hat,8 in der Gegenwart mittlerweile zur Charakteristik
2
Vgl. Adorno, Theodor W.: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug, in: ders.: Dialektik der Aufklärung (Gesammelte Schriften, Bd. 3), hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 141-191; vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften, Bd. 7), hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 32-35.
3
Vgl. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart,
4
Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-
Frankfurt a. M.: Campus 2005. barkeit, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1/2, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 431-469, hier S. 469; vgl. dagegen u. a. Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik, 2. Aufl., Wien: Passagen 2008; vgl. ders.: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen 2009. 5
Vgl. Früchtl, Josef: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996.
6
Vgl. Bubner, Rüdiger: Ästhetisierung der Lebenswelt, in: ders.: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 143-156.
7
Vgl. Seel, Martin: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung, in: Gert Mattenklott (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg: Meiner 2004, S. 73-81.
8
Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft [1790], hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 216-219.
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allen Urteilens geworden seien.9 Demnach könne man von einer besonderen Verfasstheit des ästhetischen Urteils heutzutage überhaupt nicht mehr ausgehen. In analoger Weise erweist sich die Frage, ob ästhetische Erfahrung sich hinreichend von anderen Erfahrungsweisen unterscheiden lässt, gar, ob sie überhaupt kunstzentriert gedacht werden kann, als Hort steter Auseinandersetzung, gerade zwischen deutscher und angloamerikanischer Ästhetik.10 Ob und wenn, inwiefern sich ästhetische Erfahrung durch die diagnostizierte Bewegung zur Entgrenzung verändert und ob sie dies für jede Kunst in gleicher Weise vollzieht, ist dabei noch gar nicht gefragt.11 Andere, jenseits der ästhetischen Diskussion zu beantwortende, aber ebenso wichtige Fragen, etwa jene historische danach, ob die zu konstatierenden Gegenwartsphänomene sich in irgendeiner Weise von älteren künstlerischen Praktiken, welche unter dem Gesichtspunkt der Entgrenzung diskutiert werden können, signifikant unterscheiden, kommen noch hinzu.12
9
Vgl. etwa Mein, Georg: Die Konzeption des Schönen. Der ästhetische Diskurs zwischen Aufklärung und Romantik. Kant – Moritz – Hölderlin – Schiller, Bielefeld: Aisthesis 2000, S. 26; vgl. Posner, Richard A.: How Judges Think, Cambridge: Harvard University Press 2008, S. 106.
10 Vgl. Danto, Arthur C.: An Introductory Conversation, in: Annette W. Balkema und Henk Slager (Hrsg.): The Intellectual Conscience of Art, Amsterdam: Rodopi 1996, S. 13; vgl. Carroll, Noël: The Philosophy of Art, New York: Routledge 1999, S. 155201; vgl. Küpper, Joachim und Christoph Menke: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 9-11; vgl. Shusterman, Richard und Adele Tomlin (Hrsg.): Aesthetic Experience, New York: Routledge 2008. 11 Vgl. für ein Beispiel (die Erfahrung harmonischer Tonalität in der Musik) Berger, Karol: A Theory of Art, Oxford: Oxford University Press 2000, S. 30-35. 12 »Schließlich ist das, was heute unter dem Stichwort einer Entgrenzung der Künste diskutiert wird, nur die Kehrseite einer nachhaltigen und seit jeher bestehenden Verschränkung, die in den entgrenzenden Operationen der modernen Kunst gleichsam beim Wort genommen und öffentlich gemacht wird. Was an diesen Operationen sichtbar wird, ist die Tatsache, daß [sic] es klare Grenzen zwischen den Künsten nicht gibt und nie gab. Immer schon kommen die einen in vielen anderen vor. Und diese Art dieses Ineinandervorkommens ist es, was die Identität einer Kunstart gegenüber den anderen ausmacht.« Seel 2004, S. 79. Vgl. auch ders.: Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser 2000, S. 173-179.
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Zur Wahl des Fallbeispiels Previn Die zu konstatierende Entwicklung, welche ab den 1960er Jahren für die Künste der Gegenwart zumindest mit besonderem Nachdruck prägend geworden zu sein scheint, bewegt sich jedoch nicht ausschließlich in Bereichen, die schon auf den ersten Blick ins Extrem gehen und dadurch derartige Grundsatzfragen in einer Weise implizieren, dass sie den Gang der Untersuchung determinieren, zumindest aber eine vorangestellte und abschließende Positionierung hierzu erzwingen. Entgrenzungsphänomene und daraus resultierende Effekte und Probleme werden durchaus auch und dabei in spezifischer Weise in Konstellationen sichtbar, die sich in vielerlei Hinsicht konventionell im Sinne von in etablierten Grenzen bewegend ausnehmen. Dass Entgrenzung zum zentralen Thema geworden ist – auch jenseits des Verlassens traditioneller Kunstbereiche, jenseits eines völligen Aufgehens in hybriden Kunstformen oder unabhängig von Produktionsweisen, deren Eigenheiten maßgeblich auf Entwicklungen gründen, die, wie es z. B. für bestimmte computergebundene Technologien zutrifft, zuvor schlicht nicht zur Verfügung standen –, zeigt exemplarisch der Fall André Previns, eines 1929 in Berlin geborenen Musikers. Previn ist nicht nur Musiker, er ist, was im Kontext von Entgrenzungsfragen nicht selbstverständlich ist, ausschließlich Musiker. Er wirkt dabei als Komponist, Pianist und Dirigent, allesamt traditionelle musikalische Funktionen. Die Betätigungsfelder, welchen er sich in seiner nach wie vor andauernden Karriere seit etwa 1945 öffentlich widmet, sind mühelos etablierten Bereichen westlicher Musik zuzuordnen: Filmmusik, Jazz und Kunstmusik sowie, wenn auch selten, Pop.13 Seine Kompositionen, gleich in welchem Genre, können traditionellen Instrumentenkombinationen und Gattungen zugeordnet werden. Seine ganze künstlerische Praxis nimmt sich, abgesehen von einem einzigen Moment, nicht eigentlich als unorthodox im Sinne von entgrenzend aus. D. h., sie folgt grundsätzlich den Erwartungen, welche an einen Komponisten, Pianisten oder Dirigenten gestellt werden. Als Jazzpianist z. B. im 1950er Jahre West Coast Jazz, dem Genre, welchem er bis heute verpflichtet ist, spielt Previn eben, wie man es im West Coast Jazz zu tun pflegt: Cool Jazz, trocken im Anschlag und rhythmisch akzentuiert – wenn auch eingängiger als im Bebop und
13 In diese Rubriken fallen z. B. das gute Dutzend Grammy Awards, welche ihm zwischen 1958 und 2004 verliehen wurden; 2010 kam der Lifetime Achievement Award hinzu. Previns Werke lassen sich regelmäßig in dieser Weise unschwer etablierten Kategorien zuordnen. Vgl. http://www2.grammy.com/Grammy_awards/Winners/Results. aspx (zuletzt aufgerufen am 31.01.2011).
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Hardbop –, eher impressionistischer denn Blues-Harmonik verpflichtet, an Art Tatums Virtuosität geschult und offen für lyrische Melodik und klassisch geschulte Kontrapunktik.14 Stilistische Elemente, die zur Ästhetik des West Coast Jazz in Widerstreit treten könnten, bleiben konsequent außen vor, bis heute: kein Stride Piano, kein Modaljazz oder Freejazz, keine Spuren von Fusion oder Elektronik usw. Entsprechendes lässt sich über Previns Arbeit als Komponist von Filmmusik und Kunstmusik und sein Agieren als Dirigent von Klassischer Musik sagen: Stets State of the Art, aber gerade nicht grenzensprengend.15 Denn all dies geschieht zwar sowohl vielfach zeitlich parallel als auch konstant auf dem Niveau eines Musikers, der sich auf internationalem Parkett und entsprechend erstklassigem Standard bewegt, gleich welchem Bereich er sich zuwendet.16 Ein
14 Vgl. zum Genre Gioia, Ted: West Coast Jazz. Modern Jazz in California, 1845-1960, Berkeley: University of California Press 1998. 15 Zu Previn existieren bislang nur vier, allesamt ältere und primär journalistischbiografische Bücher ohne Analysen, Werkverzeichnisse etc.: Greenfield, Edward: André Previn, London/New York: Allan/Drake 1973; Bookspan, Martin und Ross Yockey: André Previn. A Biography, Garden City (NY): Doubleday 1981; Drees Ruttencutter, Helen: Previn, New York: St. Martin’s/Marek 1985; Freedland, Michael: André Previn, London: Century 1991. Nennenswerte Aufsatzliteratur gibt es neben der in diesem Beitrag zitierten nicht. Die hiesigen Ausführungen zugrunde liegenden Informationen basieren auf den Resultaten des vom Autor betreuten und Previn gewidmeten Forschungsprojekts am SFB 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste in Berlin (2007-2010). Eine umfassende Studie ist für 2012 in Vorbereitung. 16 Das schließt u. a. ein: (1) Jazzalben und -konzerte zusammen mit Kollegen vom Schlag eines Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Ella Fitzgerald, Benny Goodman, Billy Holiday, Ben Webster, Ray Brown, Benny Carter, Shelly Manne, Art Pepper, Oscar Peterson, Red Mitchell, Joe Pass, Herb Ellis, Jim Hall und Niels-Henning Orsted Peterson; (2) Dirigentenposten beim Houston Symphony Orchestra, London Symphony Orchestra, Pittsburgh Symphony Orchestra, Royal Philharmonic Orchestra (London), Los Angeles Philharmonic Orchestra und Oslo Philharmonic Orchestra und hierneben langjährige Partnerschaften u. a. mit dem New York Philharmonic Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra, dem NHK Symphony Orchestra (Tokyo) und den Wiener Philharmonikern; (3) in Hollywood binnen zwanzig Jahren elf Oscarnominierungen und vier Oscars; (4) Uraufführung seiner Kunstmusikkompositionen von führenden Musikern und Institutionen der Klassischen Musik, darunter John Williams, Itzhak Perlman, Janet Baker, Vladimir Ashkenazy, Anne-Sophie Mutter, Yuri Bashmet, Renée Fleming, Yo-Yo Ma, Emerson String Quartet, San Francisco Opera, Houston
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Ausweis von Entgrenzung ist diese Vielseitigkeit für sich allein genommen jedoch nur in sehr engem Sinne, nämlich hinsichtlich des bloßen Tätigseins als Musiker, da die musikalischen Sphären als solche eben grundsätzlich unvermischt bleiben.17
Zu Previns ästhetischer Position Wie sich zeigt, ist dieser Befund kein Zufall. Previn weist vielmehr für sein Schaffen, insbesondere als Jazzpianist und Kunstmusikkomponist, Entgrenzung als Kategorie in vielerlei Hinsicht seit Jahrzehnten immer wieder offensiv zurück, wobei er hierfür den Ausdruck »crossover« verwendet: »I think that the younger generations tend to be a little more versatile than they used to be. But I know when I became an inverted serious conductor thirty odd years ago, I really re-
Grand Opera, London Symphony Orchestra, Philadelphia Orchestra, Boston Symphony Orchestra und Wiener Philharmoniker. Vgl. für einen ersten Überblick Döhl, Frédéric: André George Previn, in: Claudia Maurer Zenck und Peter Petersen (Hrsg.): Lexikon
verfolgter
Musiker
und
Musikerinnen
der
NS-Zeit
(2008),
in:
http://www.lexm.uni-hamburg.de (zuletzt aufgerufen am 31.01.2011). Für ein umfängliches Werkverzeichnis vgl. Döhl, Frédéric: André Previn, in: Charles Hiroshi Garrett (Hrsg.): The New Grove Dictionary of American Music, 2. Aufl., Oxford: Oxford University Press 2011 (im Druck). 17 Eben dies wird z. B. sichtbar, wenn Previn beim maßgeblichen amerikanischen Sommerfestival in Tanglewood als Pianist von Jazz respektive klassischem Repertoire respektive eigener zeitgenössischer Kunstmusik, ferner als Dirigent von klassischem Repertoire, als Komponist von zeitgenössischer Kunstmusik respektive Filmmusik sowie in Dirigierkursen als Lehrer für klassisches Repertoire in Erscheinung tritt. Das entscheidende Moment dabei ist jedoch der in diesem Zusammenhang anzulegende Begriff von Gleichzeitigkeit: Es geschieht bei unterschiedlichen, voneinander verschiedenen Gelegenheiten. D. h., Previn spielt nicht in einem Konzert erst eine MozartSonate und dann West Coast Jazz und schon gar nicht vermengt er diese Bereiche, etwa indem er Triolen im Satz Mozarts als Swing deutet oder über dessen Material improvisiert, womit Previn seiner oben angeführten ästhetischen Position zu Crossover folgt. Previn mag stattdessen mehrere Veranstaltungen im Laufe desselben Festivals abhalten, die den oben genannten, voneinander verschiedenen musikalischen Bereichen zuzuordnen sind. Er hat dies in der Vergangenheit in dieser Weise auch wiederholt getan.
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linquished playing Jazz for a while because it would have harmed me. Now it doesn’t matter anymore. So I do quite a bit. It’s always been a dividing line and I don’t particularly believe in people who mix the two. I like people who cross the line. But the whole idea of crossover, oh, I hate that. Because crossover to me signifies that half the audience is gonna hate it all the time. You know, it doesn’t make any sense. I wouldn’t particularly want to [have] heard Horace Silver playing Mozart. So I never understood what was wrong with what he did. See, I am such an admirer of the Jazz players and I am obviously such an admirer of the classical field. And I think they both can coexist without infringing on its copyright.«18
Was als »cross the line« benannt ist, bezeichnet die von Previn benannte Ausnahme von seiner im Übrigen geäußerten Entgrenzungsskepsis, die persönliche künstlerische Kooperation über Genregrenzen hinweg. Previn will lediglich auf verschiedenen Hochzeiten tanzen dürfen: »I adore just about every kind of music making there is. [...] Everything else, if it’s well written or well performed, excites and enlightens me and makes me want to attempt it myself.«19 Das konstanteste Beispiel für die Umsetzung dieser Haltung in musikalisch entgrenzte Produktion sind zahlreiche Jazzaufnahmen mit Sängerinnen, die nicht aus diesem Musikbereich kommen. Die Entgrenzung zwischen Musikbereichen artikuliert sich in diesen Arbeiten, bezogen auf das Resultat, im klanglichen Bereich, da die Sängerinnen das Timbre ihres angestammten musikalischen Milieus nicht verleugnen können oder wollen, bisweilen gar offensiv als spezifische Qualität einsetzen, ihre abweichende musikalische Heimat aber jedenfalls stets identifizierbar bleibt.20 Aus den Sphären des Musicals (inkl. seiner Filmvariante) und der Populärmusik umfasst die Liste der Partnerinnen u. a. Doris Day, Julie Andrews, Dinah Shore und Diahann Carroll. Aus dem Feld der Klassischen Musik wären u. a. Eileen Farrell, Leontyne Price, Kathleen Battle, Fredericia von Stade, Kiri
18 Previn, André: Inspired minds. One to one with André Previn, Interview von Breandáin O’Shea (04.05.2008), in: http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/125728 (zuletzt aufgerufen am 31.01.2011). 19 Previn, André: No Minor Chords. My Days in Hollywood, New York: Doubleday 1991, S. 131f. 20 Wenn auch seltener, so hat Previn dasselbe Prinzip auch mit Instrumentalisten verfolgt, etwa bei gemeinsamen Ragtime- und Blues-Platten mit dem Geiger Itzhak Perlman: Scott Joplin. The Easy Winners and Other Rag-Time Music (1975, Angel S 37113), A Different Kind of Blues (1980, Angel DS 37780), It’s a Breeze (1981, Angel DS 37799).
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Te Kanawa und Sylvia McNair zu nennen.21 Jazz-Platten mit hauptamtlichen Jazz-Sängerinnen sind im Vergleich hierzu sogar auffallend in der Minderheit in Previns Diskografie, erst recht nachdem er ab Mitte der 1960er Jahre seinen Schwerpunkt auf Klassische Musik verlagerte.22 In Abgrenzung hierzu wird die Einschätzung zu »crossover« von Previn unzweideutig ablehnend formuliert. In Previns Sprachgebrauch bezieht sich dieser Begriff insbesondere auf eine bestimmte Spielart musikalischer Migration, der er wiederum relativ verständnislos gegenübersteht, die jedoch für den Bereich des Musikalischen, soweit es um innermusikalische Entgrenzungsphänomene geht, heutzutage ein zentrales Spielfeld der Entgrenzung darstellt: Die Fusion der musikalischen Mittel distinkter musikalischer Genres; in Previns Beispiel nicht eingesetzt in der Komposition, sondern in der Interpretation eines Werks. Previn hält produktionsseitig dergleichen Ansätze, wie er stets am Beispiel der Grenze zwischen Klassischer Musik und Jazz erläutert, generell für künstlerisch unergiebig. So sagt er: »I don’t like it when people take classical things, in general, and play jazz on them. Not because the pieces are sacrosanct but because I think... I mean there’s better things to blow on«23. Zudem fügt er hinzu: »The [record] companies get a little desperate and try these crossover things which
21 Vgl. Diahann Carroll and the André Previn Trio. Porgy and Bess (1959, United Artists UAL 4021); Dinah Sings, Previn Plays. Songs in a Mid-Night Mood (1960, Capitol T 1422); Doris Day & André Previn. Duet (1962, Columbia CL 1752); Eileen Farrell, André Previn. Together With Love (1962, Columbia CL 1920); Julie Andrews & André Previn. A Christmas Treasure (1967, RCA Victor LPM-3829); Right as the Rain. Leontyne Price and André Previn (1967, RCA Victor LSC 2983); Kiri Sidetracks. The Jazz Album (1992, Philips 434 092-2); Sure Thing. The Jerome Kern Songbook (1994, Philips 442 129-2); André Previn. Honey and Rue (plus Samuel Barber): Knoxville, Summer of 1915; George Gershwin. I Loves You, Porgy/Summertime, (1995, DGG 437 7872-5); Come Rain Or Shine. The Harold Arlen Songbook (1996, Philips 446 818-2). 22 Vgl. Nobody Else But Me. Betty Bennett Sings the Arrangements of Shorty Rogers & André Previn (1955, Atlantic 1226); Helen Humes. ’T Ain’t Nobody’s Business If I Do (1959, Contemporary M 3571/S 7571); Julie London. Your Number Please (1959, Liberty LRP 3130); The Subterraneans (1960, MGM E-3812); Nice Work If You Can Get It. Ella Fitzgerald and André Previn (1983, Pablo 2312-140). 23 Previn, André: Interview mit Oscar Peterson, BBC Four (1974), in: http://www. youtube.com/watch?v=rcIfKc4SspI (zuletzt aufgerufen am 31.01.2011); (Part 4, ab 5.35 Minuten).
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I’ve never believed in. I think that both sides suffer so terribly«24. Previn glaubt rezeptionsseitig weder, dass sich hierdurch ein Interesse der Rezipienten für andere Musikbereiche befördern ließe, noch dass die daraus entstehenden stilistischen Hybride überhaupt gewollt wären: »half the audience is gonna hate it all the time«25. Über dieses Beispiel hinausgehende Spielarten musikalischer Entgrenzung, etwa zeitgenössische Hybrid-, Raum- und Installationskunst, Performancekunst oder multimediale Ausdrucksformen unter Einschluss von Musik, behandelt Previn weder in seinen eigenen Arbeiten noch in Äußerungen zur Gegenwartsmusik.26
Zur Rezeption Previns Mag sich Previn auf den ersten Blick im Kontext der Entgrenzungsdiagnose zur Gegenwartskunst als Untersuchungsgegenstand eher widerständig zeigen, so gilt diese Einschränkung bei genauerer Betrachtung doch nur für die Produktionsseite und hier letztlich auch nur für Teilbereiche. Für die Rezeptionsseite ist sogar das Gegenteil festzustellen. Hier erweist sich Entgrenzung vielmehr als das maßgebliche Thema, man möchte fast sagen: als das einzige kontinuierlich verhandelte Thema.27 Was als Diagnose auf den ersten Blick überraschen mag, ent-
24 Previn, André, in: http://www.reuters.com/article/idUSN2530818920070706 (zuletzt aufgerufen am 31.01 2011). 25 Previn, André: Inspired minds. One to one with André Previn, Interview von Breandáin O’Shea (04.05.2008), in: http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/ 125728 (zuletzt aufgerufen am 31.01.2011). 26 Außer mit dem thematisch eingeschränkten autobiografischen Buch No Minor Chords (vgl. Previn 1991), hat sich Previn bis heute praktisch ausschließlich in Interviews auf entsprechende Nachfrage hin zu derart ästhetischen Fragen geäußert. 27 Als Kategorien, die in Urteilen über Previns Arbeit im Vordergrund stehen, treten bisweilen neben die Frage von kompositorischem und interpretatorischem Crossover u. a. die Themen Erfolg, Virtuosenverdacht und Kosmopolitismus. Das sind allesamt Aspekte, welche die musikalische Produktion bei genauerer Betrachtung nicht unmittelbar betreffen, sondern biografiegeleitet sind. Den Tenor der Urteile beeinflussen sie freilich dennoch. Vgl. neben Anm. 15 insbesondere Döhl, Frédéric: Beyond Category. Zum Verhältnis von Erfolg – Entgrenzung – Erfahrung am Beispiel André Previn, in: Michael Custodis (Hrsg.): Erfolg – Entgrenzung – Erfahrung. Soziologische Perspektiven auf die Künste der Gegenwart. Ergebnisse eines Workshops mit Gerhard Schul-
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puppt sich bei genauerer Analyse als Ausweis gerade für die Stabilität der Grenzen zwischen musikalischen Milieus. Für die Untersuchung der Rezeption von Previn, auf die sich im Folgenden konzentriert werden soll, ist diese Diagnose insoweit beachtlich, weil sich seine Rezeption vor dem Hintergrund dieser strukturellen Beständigkeit vollzieht. Diese Beständigkeit zeigt sich insbesondere daran, dass die zu beobachtenden Urteilsmuster über Previns gesamte Karriere hinweg konstant bleiben. Als »›compleat musician‹, in the 18th-century sense«28 agiert Previn seit 1945 sowohl in verschiedensten Funktionen (Komponist, Dirigent, Pianist, Arrangeur, Buchautor, Fernsehmoderator, Musikpädagoge etc.) als auch unterschiedlichsten Metiers (Filmmusik, Jazz, Klassische Musik/Kunstmusik und Pop) in einer Weise universal, wie es bis ins ausgehende 18. Jahrhundert noch für viele Musiker von Rang als selbstverständlich auszumachen ist.29 Das ist heutzutage anders. Im Gegenteil ist Spezialisierung wie in vielen Lebensbereichen auch in der Musik der vorherrschende Trend, allein schon der gewachsenen Anforderungen und Erwartungen wegen. Gerade der Umstand, sich auf dem skizzierten außerordentlichen Niveau zwischen als distinkt empfundenen Musikbereichen ebenso mühelos wie von den dort jeweils heimischen künstlerischen Partnern, denen obendrein stets unstrittig internationaler Rang und entsprechende künstlerische Autorität in ihren Metiers zuerkannt wird, als gleichberechtigt akzeptiert hin und her bewegen zu können, wird daher als Akt rarer musikalischer Entgrenztheit aufgefasst. Diese Besonderheit Previns bindet nun die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf jenen Aspekt. Sie beschränkt sich jedoch nicht auf die Vielfalt musikalischer Betätigungsfelder, sondern generiert darüber hinausgehend die Erwartung an Previns Produktion selbst, seine Kompositionen, Interpretationen, Programmkonzepte etc., dieses Charakteristikum, wenn nicht schon aktiv zu propagieren, so doch zumindest substantiell zu reflektieren. Man vermutet stillschweigend von Previn, im Umkehrschluss aus seiner Vita, dass er einer Strategie musikalischer Diversifikation verpflichtet sei. Der Begriff entstammt der ökonomischen Theorie. Von den verschiedenen Stoßrichtungen, die dieses Konzept im be-
ze (2010), in: http://www.sfb626.de/veroeffentlichungen/online/index.html (zuletzt aufgerufen am 31.01.2011). 28 Greenfield, Edward: André Previn, in: Stanley Sadie (Hrsg.): The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 20, 2. Aufl., London: Macmillan 2001, S. 309310, hier S. 310. 29 Vgl. für strukturelle Parallelen zu einem prominenten Universalmusiker des 18. Jahrhunderts etwa Wolff, Christoph: Johann Sebastian Bach. The Learned Musician, Oxford: Oxford University Press 2002, S. 412.
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triebswirtschaftlichen Zusammenhang einschließt, ergibt sich für den hiesigen Kontext eine unmittelbare Analogie zu der Idee einer »growth strategy, taking advantage of market opportunities, or […] by spreading interests over different areas.«30 Aufgrund der Jahrzehnte anhaltenden Gleichzeitigkeit eines musikalischen Wirkens in Bereichen des musikalischen Marktes, die im überkommenen, die westliche Musik und ihre Rezeption aber wider alle Entgrenzungsbewegung nach wie vor leitenden Verständnis als getrennt wahrgenommen werden, wird Previn in eben dieser dem Diversifikationsbegriff eigenen Weise rezipiert. Diese Haltung hinterlässt bis in die ästhetische Erfahrung seiner Arbeiten hinein31 unübersehbar Folgen. Dieser Gesichtspunkt soll abschließend anhand von Reaktionen auf einen Ausschnitt aus Previns Schaffen, seine Orchester- und Opernkompositionen sowie der dabei wiederkehrend geäußerten Beurteilung als filmmusikalisch exemplifiziert werden.32 Die ästhetische Erfahrung von Musik ist nach wie vor nur begrenzt einer wissenschaftlichen Auswertung zugänglich. Die intensiven neuroästhetischen Forschungen in den letzten Jahren haben bislang nur Resultate erbracht, die, sollen sie über den Einzelfall hinausweisen, einerseits auf musikalische Grundelemente reduziert und dadurch unspezifisch werden, andererseits sich auf bestimmte musikalische Traditionen und Milieus beschränken, was der angestrebten Universalität der Aussagen über die Musik und die Bedin-
30 Goleman, Daniel (Hrsg.): Business. The Ultimate Resource, London: Bloomsbury 2002, S. 1229. Ausführlich heißt es: »Diversification: General Management. A strategy to increase the variety of business, service, or product types within an organization. Diversification can be a growth strategy, taking advantage of market opportunities, or it may be aimed at reducing risk by spreading interests over different areas.« 31 Ästhetische Erfahrung wird hier begrifflich rezeptionsseitig verstanden, d. h. im Sinne der Erfahrung ästhetischer Objekte, des Umgangs – Wahrnehmung, Reaktionen etc. – mit ihnen auf Rezipientenseite. 32 An Opern- und Orchesterkompositionen seien zuvorderst genannt: OVERTURE TO A COMEDY (1960), SYMPHONY FOR STRINGS (1962), CELLO CONCERTO (1967), GUITAR CONCERTO (1971), PRINCIPALS (1980), REFLECTIONS (1981), PIANO CONCERTO (1985), HONEY AND RUE (1992), VOCALISE (1996), SALLIE CHISUM REMEMBERS BILLY THE KID (1996), THE MAGIC NUMBER (1997), A STREETCAR NAMED DESIRE (1998), DIVERSIONS (2000), VIOLIN CONCERTO »ANNE-SOPHIE« (2002), NIGHT THOUGHTS (2006), DOUBLE CONCERTO FOR VIOLIN, CONTRABASS, AND
ORCHESTRA (2007), HARP CONCERTO (2008), OWLS (2008), DOUBLE
CONCERTO FOR VIOLIN, VIOLA, AND ORCHESTRA (2009), BRIEF ENCOUNTER (2009). Vgl. für ein detailliertes Werkverzeichnis Döhl 2011 (im Druck).
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gungen ihrer Erfahrbarkeit zuwiderläuft.33 Die traditionelle Musikwissenschaft steht nicht besser da, ist sie doch nach wie vor in weiten Teilen – nicht zuletzt befördert durch den langen, in dieser akademischen Disziplin sehr mächtigen Schatten Theodor W. Adornos – zuvorderst einer Objektästhetik verpflichtet. Im Zentrum steht hierdurch die Auffassung, dass das Ästhetische eine Eigenschaft von künstlerischen Objekten ist, die mittels werk- und kompositionsanalytischer Verfahren erschlossen werden kann. Wie hier nur angedeutet werden kann, ist die zu diagnostizierende Rezeptionslage im Fall von Previn jedoch nicht bloß ein Spiegel seiner Produktion, entsprechend ist eine rein objektästhetische Analyse also von vornherein ungeeignet, die Rezeptionslage umfassend zu erschließen.34 Vor dem Hintergrund dieser methodischen Schwierigkeiten wird vorliegend auf die Analyse von versprachlichten Urteilen zurückgegriffen, die sich auf zuvor musikalisch Erfahrenes beziehen, da sie im Wege der Rekonstruktion eine gewisse Erschließbarkeit der ästhetischen Erfahrung, die mit Previns Musik gemacht wird, erlaubt.35 Dies gesagt, ist sodann zu konstatieren, dass sich ein adäquates Sprechen über die ästhetische Erfahrung von Musik nie etabliert hat.36 Stattdessen haben sich drei notdürftig funktionierende Strategien herausgebildet: technische Beschreibung, adjektivische Umschreibung und Vergleiche. Previns Rezeption ist von der Letztgenannten bestimmt. Auffällig an dem nach diesen
33 Vgl. zusammenfassend zur Kritik Feige, Daniel M.: Kunst als Produkt der natürlichen Evolution?, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 53/1 (2008), S. 21-38. 34 Vgl. die in Anm. 15 annoncierte Studie im Einzelnen. 35 Das musikwissenschaftliche Teilprojekt im SFB 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung an der Freien Universität Berlin, dem der Autor als wissenschaftlicher Mitarbeiter angehört, arbeitet u. a. mit eben diesem methodischen Zugriff seit 2003, in der Förderphase 2003-2007 unter dem insoweit expliziten Titel Musikalisches Urteil und ästhetische Erfahrung. Vgl. Geiger, Friedrich: ›Katzenmusik‹. Zur ästhetischen Erfahrung kompositorischer Innovation, in: Gert Mattenklott (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg: Meiner 2004, S. 155-175, hier S. 155. 36 Vgl. Brandstätter, Ursula: Musik im Spiegel der Sprache. Theorie und Analyse des Sprechens über Musik, Stuttgart: Metzler 1990; vgl. Eggebrecht, Hans Heinrich: Musik verstehen, Wilhelmshaven, Noetzel 1997, S. 129-133 und S. 162-172; vgl. Riethmüller, Albrecht: Fremdsprache Musik, in: Insa Bernds, Michael Custodis und Frank Hentschel (Hrsg.): Albrecht Riethmüller: Annäherung an Musik. Studien und Essays, Stuttgart: Steiner 2007, S. 255-268, hier S. 264-268.
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Kriterien zusammengestellten Untersuchungsmaterial ist nun, dass rezipientenseitig im Kontext von Previns Orchester- und Opernkompositionen zwar durchweg auf Crossover-Effekte hingewiesen wird, dabei jedoch ausschließlich auf solche, die sich auf musikalische Milieus beziehen, in denen Previn prominent zu Hause ist bzw. war, insbesondere West Coast Jazz der 1950er Jahre, symphonische Filmmusik und Musical (Hollywood wie Broadway/West End) bis zum Einbruch der Rockmusik um 1970 sowie spätromantische und frühmoderne Kunstmusik à la Strauss, Korngold, Vaughan Williams und Britten.37 Ein typisches Beispiel, welches sich auf Previns Oper A STREETCAR NAMED DESIRE (Uraufführung: San Francisco Opera, 19. September 1998) bezieht, mag diese Einschätzung veranschaulichen: »The style is not a reflection of the down-at-heels world it portrays. It takes pains not to be, distancing that world by melding occasional flourishes of ›low down‹ New Orleans jazz into the sublime acoustic world of the late Romantic symphony. [...] Its recurrent splashes of symphonic jazz recall, perhaps deliberately, every soundtrack ever composed 38
for a movie about steamy, jazz-drenched New Orleans.«
Angesichts der Biografiegebundenheit der geltend gemachten Crossover-Effekte, welche sich vermeintlich beim Erleben dieser Werke einstellen, drängt sich die Frage auf, ob es sich bei den allseits in Äußerungen über Previns Orchester- und Opernkompositionen anzutreffenden Berichten, diese Musik als stilistisch und/oder genreübergreifend entgrenzt erfahren zu haben, nicht vielleicht bloß um so genannte self-fulfilling prophecies, d. h. um die Realisierung von Erwartungen handelt, die ausschließlich oder zumindest zuvorderst in der Person und ihrer Biografie und weniger in den Tönen begründet liegen. Letzteres lassen jedenfalls die Ergebnisse musikalischer Analyse ebenso vermuten wie das zu konstatierende Ungleichgewicht in der Vielseitigkeit des musikalischen Wissens zwischen Previn und seinen Rezipienten. Denn was ist filmmusikalisch im Kontext von Previns Kunstmusikwerken?39 Wenn Filmmusik einzig durch das Mo-
37 Rockmusik stellte für Previn eine hermetische Grenze dar. Er sagt zu ihr schlicht: »I don’t understand it.« Zitiert nach dem Dokumentarfilm André Previn – Eine Brücke zwischen den Welten (A 2008; R: Lillian Birnbaum und Peter Stephan Jungk). 38 Kramer, Lawrence: The Great American Opera: Klinghoffer, Streetcar, and the Exception, in: The Opera Quarterly 23/1 (2007), S. 66-80, hier S. 69 sowie S. 72f. 39 Vgl. für die hier nicht zu leistende Diskussion, was Filmmusik definiert, u. a. Lissa, Zofia: Ästhetik der Filmmusik, Berlin: Henschel 1965; vgl. Adorno, Theodor W. und Hanns Eisler: Komposition für den Film [1947], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006.
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ment der Verbindung von Musik und Film bestimmt wäre, kann Filmmusik alles sein40 und entsprechend jedwede musikalische Wendung Bezüge zum Bereich der Filmmusik wecken. Derart Unspezifisches wird folglich in den Vergleichen kaum gemeint sein. Vor dem Hintergrund von Previns eigenem Filmmusikschaffen machen solche Verweise allerdings auch wenig Sinn. Previn war vor allem für den Bereich von Komödien und Musicals bekannt, der seiner Opernmusik, die Dramen realisiert, denkbar fern stehen.41 Scores zu Filmen, die stilistisch gesehen Analogien eher erlauben würden – z. B. ELMER GANTRY (USA 1960; R: Richard Brooks) oder THE FOUR HORSEMEN OF THE APOCALYPSE (USA 1962; R: Vincente Minnelli) –, sind heute weitestgehend nur noch Spezialisten bekannt und dürften eine derart flächendeckende und einheitliche Rezeptionslage daher schwerlich erklären. Strukturell gesehen gibt es zwar in der Tat Werke des Musiktheaters, denen an der Nutzbarmachung von Mitteln des Films für die Bühne gelegen ist. Stephen Sondheim etwa nennt sein Stück SWEENEY TODD, THE DEMON BARBER OF FLEET STREET (1979) »a movie for the stage«42 und erläutert dies mit der Bedeutung, die dem Underscoring in seiner Dramaturgie und Partitur zugewiesen sei und dessen Behandlung er an Bernhard Herrmanns Arbeiten für Alfred Hitchcock angelehnt habe. Dergleichen kann im Fall von Previn jedoch nicht beobachtet werden. Wenn jedoch auch strukturell gesehen keine musikalischen Mittel identifiziert werden können, die einem filmischen Zusammenhang entsprungen oder diesem wenigstens eindeutig zugeordnet werden können und erst recht nicht mit Zitaten oder sicher zuordenbaren Allusionen gearbeitet wird, verbleiben als Anknüpfungspunkt zwischen Film und Oper jenseits des Biografischen lediglich Assoziationen auf der Ebene von Sound und Idiomatik. Solche stellen sich bei Previn in der Tat immer wieder ein.43 Gerade weil er seine gesamte Ausbildung im Bereich Instrumentation und Orchestrierung in den Studios von Hollywood erhielt, sind entsprechende Zuordnungen auch nicht
Vgl. für eine aktuelle Literaturübersicht weiter Moormann, Peter (Hrsg.): Klassiker der Filmmusik, Stuttgart: Reclam 2009, S. 17f. 40 Demgemäß weit ist die Streuung der musikalischen Mittel heutzutage auch im Film. 41 Vgl. für ein detailliertes Werkverzeichnis Döhl 2011 (im Druck). 42 Sondheim, Stephen: Finishing the Hat, New York: Alfred A. Knopf 2010, S. 332. 43 Vgl. etwa Previn, André: A Streetcar Named Desire (digitale Partitur), New York: Schirmer 2009, Akt 3, Szene 4, Takt 127-180; ders.: Violin Concerto »Anne-Sophie« (digitale Partitur), New York: Schirmer 2009, Satz 1: Moderato, Takt 76-84; ders.: Brief Encounter (digitale Partitur), New York: Schirmer 2009, Akt 1, Szene 2, Takt 80-115.
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überraschend.44 Doch auch hier liegen die Dinge weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick scheint. Denn ein Nichtspezialist wird nicht entscheiden können, was der Ursprung dieser Klanglichkeit ist, mit welcher in den Partituren gearbeitet wird. Sie könnte genauso gut an den Opern von Richard Strauss über die Expressionisten der 1920er Jahre bis hin zu Benjamin Brittens PETER GRIMES (1945) geschult sein – und ist es im Fall von Previn in gleicher Weise, der dieses Repertoire sehr schätzt und immer wieder dirigiert und eingespielt hat, u. a. in Zusammenarbeit mit Britten selbst.45 Es ist also denkbar, dass jemand ohne Filmmusikkenntnisse, aber mit dem entsprechenden Opernwissen, eine ganz anders gelagerte Parallelität hören würde. Von Entgrenzung wäre dann jedoch wohl kaum die Rede. Und selbst wenn man nur über die einschlägigen Filmmusikhörerfahrungen verfügt, wäre der Schein trügerisch. Previn selbst hat dies mit Blick auf Erich Wolfgang Korngold, den neben Max Steiner bis heute für symphonische Filmmusik prägenden Komponisten im Hollywood der 1930er und 1940er Jahre, angemerkt: »Therefore, suddenly, the sound that he had originated became a sort of byword for ›Hollywood‹, and soon thereafter that become everybody’s favorite pejorative when talking about his music. What it actually comes down to is that a great deal of film music began to sound like Korngold, as opposed to Korngold sounding like Hollywood.«46
44 Vgl. Previn 1991, S. 88-93. 45 Obwohl ein ebenso profilierter Dirigent wie Opernkomponist, hat Previn als Dirigent kaum im Bereich der Oper gearbeitet. Einspielungen und Aufführungen von Opernmusik beziehen sich in seinem Fall daher primär auf Orchestersuiten bzw. -auszüge wie Brittens FOUR SEA INTERLUDES op. 33a und PASSACAGLIA op. 33b aus PETER GRIMES. Der Einfluss von Ballettmusik wie Sergej Prokofjews ROMEO UND JULIA op. 64 (1938) und Aaron Coplands APPALACHIAN SPRING (1944), die Previn wiederholt eingespielt hat, ist ebenfalls evident. Auch Béla Bartóks CONCERTO FOR ORCHESTRA SZ 116 (1943) wird von Previn immer wieder als prägender Einfluss angegeben. 46 Previn, André: Vorwort, in: Previn Conducts Korngold. The Sea Hawk (Booklet), Hamburg: Deutsche Grammophon 2002, S. 3. Mit Korngolds Musik der 1930er und 1940er Jahre verbindet Previn eine enge Beziehung, insbesondere zu seinem VIOLINKONZERT D-DUR op. 35 (1945), welches Themen aus Filmmusiken verarbeitet und damit explizit an der Grenze zwischen Film- und Kunstmusik steht. Previn hat dieses Stück gleich dreifach eingespielt (mit Itzhak Perlman/PSO: 1987, EMI 5 62590-2; mit Gil Shaham/LSO: 1994, DG 439 886-2; mit Anne-Sophie Mutter/LSO: 2004, DG 474 152-5) und es finden sich bis in einzelne Klanggestaltungen hinein Pa-
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Bewertung Eine Biografiegebundenheit der geltend gemachten Crossover-Effekte drängt sich also auf. Wäre diese Diagnose einer Dominanz von self-fulfilling prophecies zutreffend, würde dies – die Äußerungen über die Wirkung auf die ästhetische Erfahrung der von Previn geschaffenen Objekte einmal als zutreffend, d. h. diese tatsächlich dokumentierend, unterstellt – jene Einschätzungen der Rezipienten allerdings keineswegs delegitimieren, geschweige denn als falsch ausweisen. Das ist gerade nicht der Punkt. Vielmehr würden diese Urteile, indem sie die Beständigkeit der Grenzen zwischen musikalischen Milieus implizieren, einen Beleg dafür geben, dass die ästhetische Erfahrung von Kunst weniger eine Eigenschaft von Objekten als vielmehr einen spezifischen Umgang mit den Objekten meint. Damit geht die Beobachtung einher, dass sich die Möglichkeiten zielgerichteter Kontrolle über die von seiner Arbeit ausgelöste ästhetische Erfahrung für den musikalischen Produzenten unter heutigen Bedingungen eher weiter vermindert als erweitert haben. Denn so augenfällig Previn sich stets gegen die Interpretation seiner Kompositionen unter Crossover-Gesichtspunkten verwahrt und anscheinend etwas anderes künstlerisch vermitteln will, so einhellig weist ihre Rezeption in genau diese, von ihm bestrittene Richtung. Andererseits wäre es auch zu einfach und quellenseitig auch nicht zu substantiieren, diese Diskrepanz zwischen Previns Aussagen und denen seiner Rezipienten im Umkehrschluss zulasten des Autors zu wenden. Keineswegs offenbaren sich hier Defizite auf der Produzentenseite, etwa hinsichtlich des Wissens über die in einem Bereich geltenden stilistischen Erwartungen. Previns Äußerungen scheinen zudem aufrichtig, worauf insbesondere hindeutet, dass er seit Jahrzehnten die immergleichen Ansichten zu Entgrenzungsfragen vertritt und sich auch in seinem Schaffen auffallend treu bleibt. Andere Motive, etwa strategischer Natur, sind auf sei-
rallelen in seinen eigenen Kompositionen. Vgl. etwa den Beginn des zweiten Satzes Romance: Andante von Korngolds Konzert mit Previns Oper BRIEF ENCOUNTER (digitale Partitur), New York: Schirmer 2009, Akt 2, Szene 9, Takte 78 und 80; vgl. zu Korngolds Werk vor und nach Hollywood und dessen Beziehungen zu seinen Arbeiten dort Carroll, Brendan G.: Erich Wolfgang Korngold. The Last Prodigy, Portland: Amadeus 1997, S. 231-332; vgl. Henzel, Christoph: Korngold und die Geschichte der Filmmusik, in: Arne Stollberg (Hrsg.): Erich Wolfgang Korngold. Wunderkind der Moderne oder letzter Romantiker?, München: Edition Text + Kritik 2008, S. 287-302; vgl. Wagner, Guy: Korngold. Musik ist Musik, Berlin: Matthes & Seitz 2008, S. 319374.
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ner Seite, jedenfalls heutzutage, nicht zu erkennen.47 Die rezipientenseitig konstatierten Crossover-Effekte ergeben sich demnach auch nicht zufällig wider besseres Wissen oder mangels eines solchen. Vielmehr scheint sich in dem hier beschriebenen Fallbeispiel zwischen Produzent und Rezipienten ein unterschiedliches Tempo in der musikalischen Entgrenzung zu zeigen. Previn ist dabei (wider seine Äußerungen) weiter als sein Publikum – oder um es neutraler unter Vermeidung einer ansonsten implizierten Fortschrittsvorstellung zu formulieren: anders –, seiner Vielseitigkeit und ihrer Gleichzeitigkeit wegen. Naheliegenderweise tut es ihm das Gros seiner Rezipienten hierin nicht gleich, nicht einmal in Sachen musikalischer Neugierde: Es gibt kein nennenswertes Previn-Publikum, d. h. ein Publikum, das ihm durch seine vielen Betätigungsfelder folgt. Wird z. B. eine Oper von ihm gegeben, geschieht dies vor einem Opernpublikum. Dieses wird nicht nennenswert verändert durch Rezipienten, die sich ansonsten für Oper nicht interessieren, aber Previn für seine Arbeit z. B. im Bereich von Jazz oder Filmmusik schätzen und aus diesem Grund nun auch seine Opern erleben möchten. Previn operiert also in seiner Produktion von einer ungleich universelleren Position musikalischen Wissens aus als seine diversen, mitnichten entgrenzten Publika in ihrer Rezeption. Aber wäre ein darauf gründendes Auseinanderfallen von Produzenten- und Rezipientenposition nicht schon aus biografischen Gründen zu erwarten? Aufgewachsen in einem Umfeld, in dem Previn bereits als Teenager in den späten 1940er Jahren bei MGM unter Vertrag stand, in den Clubs Kaliforniens Jazz spielte und zugleich von dem Jahrhundertgeiger Joseph Szigeti in privaten wöchentlichen Kammermusiksessions im klassischen Repertoire geschult wurde, musste sich Previns Sensorium für Fragen musikalischer Entgrenzung anders justieren. Zugleich ist er zwar in keiner Weise missionarisch an musikalischer Entgrenzung interessiert, aber eben auch keineswegs bereit, den Erwartungen seiner Rezipienten gegenüber Konzessionen zu machen. Und diesen ist er sich sehr wohl bewusst: »[...] an artist who makes a ›crossover‹ record is one who might appeal to more than one area of the market. It is an odd and somewhat patronizing addition to the vocabulary, but if the image is valid, then I have crossed
47 Diese Einschränkung ist angezeigt, da hier exemplarisch nur die Rezeption von Kompositionen aus den letzten 20 Jahren diskutiert wird. Die Diagnose gilt nicht pauschal. Als Interpret hat Previn z. B. in der Tat bisweilen nach strategischen Motiven gehandelt, insbesondere als er sich ab Mitte der 1960er Jahre auf die Arbeit als Dirigent Klassischer Musik konzentrierte und für zwanzig Jahre die hiervor und danach konstante Produktion als Jazzpianist zumindest im öffentlichen Raum weitestgehend einstellte. Vgl. hierzu auch das Zitat Anm. 18.
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not only over, but under as well, and crossed sideways and next to, and have tunneled underground, and bounced on a trampoline.«48 Sicher wird sich ein Musiker von Previns Wissen vor diesem Hintergrund, gleichgültig, wie er sich dazu äußert, ausrechnen können, welche Elemente in einer neuen Komposition Crossover-Effekte auslösen könnten und zugleich in der Lage sein, diese zu vermeiden, wäre ihm daran wirklich gelegen. Das beginnt schon auf ganz oberflächlicher, für fast jeden Rezipienten erkennbarer Ebene, z. B. wenn Previn trotz seiner Hollywood-Vergangenheit mit A STREETCAR NAMED DESIRE (Tennessee Williams) und BRIEF ENCOUNTER (Noël Coward49) ausgerechnet zwei Theaterstücke als Basis wählt, die kanonische Verfilmungen (A STREETCAR NAMED DESIRE, USA 1951; R: Elia Kazan, mit Marlon Brando und Vivien Leigh; BRIEF ENCOUNTER, GB 1945; R: David Lean, mit Trevor Howard und Celia Johnson) mit berühmten Filmmusiken (von Alex North bzw. auf Basis der Werke von Sergej Rachmaninow) erlebt haben.50 Oder für Stücke wie sein GUITAR CONCERTO (1971) oder den Liedzyklus HONEY AND RUE (1992) klassisches Symphonieorchester mit Jazzensemble kombiniert. Dass er das daraus resultierende Potenzial für Crossover-Effekte ostentativ ignoriert, deutet darauf hin, dass ihm dieser Aspekt letztlich relativ gleichgültig ist. Im Sinne des amerikanischen Komponisten Charles Ives scheint Previn vielmehr schlicht das schreiben (aber auch hören, spielen, dirigieren etc.) zu wollen, was er auszudrücken sich bemüßigt fühlt. Und dafür greift er auf die ihm jeweils adäquaten musikalischen Mittel zurück, gleichgültig, ob jene seine Musik in Augen (oder besser: Ohren) Dritter – mit Ives gesprochen – an der einen oder anderen Stelle als European, Negro, Asian oder Indian erscheinen lassen oder – mit Previns Biografie gesprochen – als deutsch, englisch, französisch oder amerikanisch, jüdisch, christlich oder atheistisch, E oder U, Jazz, Filmmusik, Kunstmusik oder Pop.51 Previns Entgrenztheit ist eine gelassene, ganz auf die durch seine vielseitigen Neigungen geprägte Empfindung des Musikalischen konzentrierte. Diesem Credo folgt er mit anhaltender Konsequenz. Im Anbetracht einer Geschichte von Populärmusik, Jazz und Kunstmusik im Verlauf des 20. Jahrhunderts, welche in
48 Previn 1991, S. 131. 49 Das Theaterstück selbst trägt den Titel STILL LIFE. Coward adaptierte BRIEF ENCOUNTER jedoch als Titel bereits für sein Drehbuch zum Film. 50 Vgl. für eine Diskussion am Beispiel von A STREETCAR NAMED DESIRE, wie weitreichend diese Konstellation die Rezeption leitet, Kramer, Lawrence: The Great American Opera: Klinghoffer, Streetcar, and the Exception, in: The Opera Quarterly 23/1 (2007), S. 66-80, hier S. 68f. 51 Vgl. Ives, Charles: Essays Before a Sonata, New York: Norton 1970, S. 79f.
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vielerlei Hinsicht von Dogmen sowie Aus- und Abgrenzung, von einem steten das darfst du hier und das nicht begleitet war und ist,52 erscheint eine solche Gelassenheit, wie sie von Musikern wie Previn oder Leonard Bernstein, Frank Zappa, Keith Jarrett, Yo-Yo Ma, Heiner Goebbels, Bobby McFerrin usw. an den Tag gelegt wird, für sich schon als ein ausgesprochen progressives Moment: Eine wahrhaft befreiende Entgrenzung jenseits der Frage, wo konkrete Entgrenzung in Werken und Wirken nachzuweisen ist.
52 Für die Kunstmusik stellvertretend vgl. Riethmüller, Albrecht: Der Fortschritt in der Musik, gesehen von Bloch, Lukács und Adorno, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 4 (1990), S. 410-431; vgl. Slonimsky, Nicolas: Lexicon of Musical Invective. Critical Assaults on Composers Since Beethoven’s Time [1953], New York: Norton 2000; vgl. Custodis, Michael: Die soziale Isolation der neuen Musik. Zum Kölner Musikleben nach 1945, Stuttgart: Steiner 2004, S. 230-239; vgl. Geiger, Friedrich: Verdikte über Musik. Eine Dokumentation, Stuttgart: Metzler 2005 (auch Pop und Jazz); vgl. Hentschel, Frank: Ästhetische Erfahrung und die Ideologie der Hochkultur in der neuen Musik, in: Gert Mattenklott und Martin Vöhler (Hrsg.): Sprachen ästhetischer Erfahrung, Berlin: Akademie Verlag 2006, S. 121-132; vgl. Ross, Alex: The Rest is Noise. Listening to the Twentieth Century, New York: Picador 2007, S. XV–XVIII; vgl. Blanning, Tim: The Triumph of Music. Composers, Musicians, and Their Audiences, 1700 to the Present, London: Penguin 2008, S. 217f.
MEDIALE TRANSFORMATIONEN
Wish I was there! – Zum Nach(er)leben von Videoinstallationen im Internet S TEPHANIE S ARAH L AUKE
Auf der Videoplattform YouTube kommentierte User rycaut 2008 ein dort eingestelltes Onlinevideo mit »I just missed seeing this in NYC live, seeing this video, I really regret not seeing it in person.«1 Ein anderer User mit dem Namen nickostranierodotcom schrieb ein Jahr später zu dem gleichen Video: »great artist great videoinstallation..wish [sic] i was there.«2 Das Onlinevideo, auf das sich die Kommentare beziehen, dokumentiert die Videoinstallation SLEEPWALKERS (2007) des amerikanischen Künstlers Doug Aitken.3 SLEEPWALKERS wurde vom 16. Januar bis 12. Februar 2007 im Museum of Modern Art (MoMA) in New York ausgestellt.4 Falls die Leserin oder der Leser dieses Textes wie rycaut die Videoinstallation SLEEPWALKERS Anfang 2007 nicht erlebt hat, ergeht es ihr/ihm ähnlich wie der Autorin dieses Beitrags, die sich im Folgenden mit einer Videoinstallation auseinandersetzt, von der sie sich bisher keinen unmittelbaren Wahrnehmungseindruck verschaffen konnte. Die ortsspezifische Installation SLEEPWALKERS wurde nach Ausstellungsende abgebaut und ist vor Erstellung dieses Beitrags nicht an gleicher oder anderer Stelle re-installiert worden. An ihrer statt zirkulie-
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Kommentar zu DOUG AITKEN: SLEEPWALKERS, DOCUMENTATION OF THE EXHIBITION,
in: http://www.youtube.com/watch?v=UVRds0rTILM&feature=channel
(zuletzt aufgerufen am 11.02.2011). 2
Ebd.
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Das Video trägt den Titel DOUG AITKEN: SLEEPWALKERS, DOCUMENTATION OF THE EXHIBITION,
4
u. a. zu finden auf der Videoplattform YouTube. Ebd.
Ich danke der in Zürich ansässigen Galerie Eva Presenhuber für ihre aufschlussreichen Materialien und wertvollen Hinweise zu Doug Aitkens Projekt SLEEPWALKERS.
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ren Onlinevideos zur Ausstellung in New York im Web 2.05, wie beispielsweise die bereits erwähnte Videodokumentation, die weniger ein Abbild der Installation SLEEPWALKERS wiedergibt, sondern sie als Ereignis inszeniert und dieses onlinespezifisch transformiert.
Abbildung 7: Doug Aitken, SLEEPWALKERS, 2007, Videoinstallation, Installationsansicht Museum of Modern Art, New York. Am Beispiel der auf YouTube zirkulierenden Onlinevideos zu SLEEPWALKERS diskutiert der vorliegende Beitrag die Potenziale und Herausforderungen solcher Transformationen und ihren Einfluss auf die Rezeption von Videoinstallationen. Einerseits wird damit der Frage nachgegangen, inwieweit Videoinstallationen nach der Ausstellung mittels der Transformation, d. h. ihrer medialen Übersetzung in Onlinevideos, weiterleben können. Andererseits wird die in Onlinevideos veränderte Rezeptionssituation von Videoinstallationen daraufhin untersucht, ob ein Nacherleben der Installationen für die User möglich ist. Sowohl das
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Der Begriff Web 2.0 geht zurück auf Tim O’Reilly und bezeichnet partizipatorische Gebrauchsmöglichkeiten des Internets unter ökonomischen Vorzeichen. Das oftmals positiv konnotierte Konzept des Web 2.0 mit seiner many-to-many-Kommunikation löst die one-to-many-Kommunikation des Internets nicht ab, sondern ergänzt diese. Insofern verleiht die Verwendung der Formulierung Web 2.0 im vorliegenden Tagungsbeitrag der grundsätzlichen Möglichkeit des Internets Ausdruck, dass neben den im Internet agierenden Unternehmen und Märkten auch Konsumenten (User) eigene Inhalte einstellen können. Vgl. O’Reilly, Tim: What Is Web 2.0. Design Patterns and Business Models for the Next Generation of Software (30.09.2005), in: http://oreilly. com/web2/archive/what-is-web-20.html (zuletzt aufgerufen am 10.02.2011).
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Nachleben als auch das Nacherleben der Installation werden dabei als räumliche und zeitliche Entgrenzung der Installation aufgefasst. Eine entsprechende erste These lautet, dass diese Onlinevideos die Installation nicht mehr im konventionellen Ausstellungskontext verorten, sondern durch Transformationen in neue, mediale Kontexte einsetzen und damit die konventionelle Ausstellungspräsentation entgrenzen. Der Beitrag ist in folgende drei thematische Schritte unterteilt: Erläuterungen zur Videoinstallation SLEEPWALKERS, die Analyse ihrer onlinebasierten Paratexte und ihre sich einstellende Entgrenzung im Internet. Zunächst wird der Zusammenhang zwischen Videokunst und ereignisbasierter Kunst erläutert und durch Aussagen zum State of the Art von Videokunst ergänzt. Eine knappe Einführung in die Videoinstallation SLEEPWALKERS beschließt den ersten Teil. Im zweiten Teil werden paratextuelle Transformationen von SLEEPWALKERS anhand eines Trailers, eines Videomitschnitts und der eingangs erwähnten Videodokumentation vergleichend analysiert. Die Ergebnisse werden in einem dritten Schritt mit zwei theoretischen Ansätzen zur Intermedialität und zum Paratext in Zusammenhang gestellt, um davon ausgehend die onlinebasierten Entgrenzungen von SLEEPWALKERS mit dem Begriff der Transformation näher zu bestimmen.
Videoinstallationen als Aufführungskunst Was ist eine Videoinstallation? So wie der Begriff in diesem Beitrag Verwendung findet, sei mit einer Videoinstallation ein künstlerisches Verfahren bezeichnet, welches Bewegtbilder räumlich mittels Monitoren oder projizierten Bildflächen anordnet.6 Diese von der Künstlerin oder dem Künstler angelegte räumliche Choreografie der Bewegtbilder ist ein entscheidendes, aber problematisches Gestaltungsmittel, da die Choreografie stets an den jeweiligen Ausstel-
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Kunstgeschichtlich werden mit dem Begriff der Videoinstallation heterogene künstlerische Phänomene erfasst, u. a. Bewegtbild-Projektionen Ende der 1960er Jahre mit 16 mm Filmmaterial, Closed-Circuit-Installationen, Videoskulpturen, MultimediaProjektionen und kinematografische Projektionen der 1990er Jahre. Um die terminologische Unschärfe im Begriff Videoinstallation zu berücksichtigen, sei, in Anlehnung an Juliane Rebentisch, im vorliegenden Beitrag die Bezeichnung Videoinstallation nicht als klar abzugrenzender Gattungsbegriff eingeführt, sondern als offenes und mehrdeutiges künstlerisches Verfahren. Vgl. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 15.
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lungsraum anzupassen, d. h. zu aktualisieren ist. Ähnlich anderen ereignisbasierten Kunstformen wie Performances und Theateraufführungen sind keine zwei Re-Inszenierungen bzw. Re-Installationen einer Videoinstallation identisch.7 Besonders augenscheinlich wird dies im Fall einer Videoinstallation wie SLEEPWALKERS, die für einen konkreten Ort geschaffen wurde und daher als ortsspezifisch gelten kann. Sowohl die Narration in als auch die räumliche Präsentation von SLEEPWALKERS verweisen explizit auf New York und würden in einem anderen urbanen Zusammenhang – zum Beispiel in einer Ausstellung in Berlin, Moskau oder Bilbao – nicht die gleiche Wirkung entfalten können. Eine weitere Verwandtschaft der Videoinstallation zu ereignisbasierter Kunst besteht in ihrer Zeitgebundenheit: Nicht nur ist die Videoinstallation ein nicht reproduzierbares, also identisch wiederholbares Ereignis, sie besteht auch nur für die Dauer ihrer Ausstellung. Auch wenn Videoinstallationen wie SLEEPWALKERS nicht explizit interaktive8 Komponenten aufweisen, sind die Ausstellungsbesucher notwendiger Be-
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In diesem Zusammenhang sei mit Christian Janecke davon abzusehen, Videoinstallationen generell als performativ im Sinne einer partizipatorischen Betrachtereinbeziehung im Werk zu bezeichnen. Vgl. Janecke, Christian: Bei sich selbst ankommende Betrachter: Irrwege des Performativitätsdiskurses auf dem Feld bildender Kunst, in: Lars Blunck (Hrsg.): Werke im Wandel? Zeitgenössische Kunst zwischen Werk und Wirkung, München: Silke Schreiber 2005, S. 65-85. Dennoch sei hier der theaterwissenschaftliche Begriff der Inszenierung herangezogen, um der diskontinuierlichen und wandelbaren Präsentation von Videoinstallationen Ausdruck zu verleihen. Vgl. den Vortrag von Tiziana Caianiello »Der Schwimmer« von Studio Azzurro: Eine Fallstudie im Rahmen der Tagung Medienkunst in NRW. Bestand, Erhalt, Präsentation am 23. Oktober 2008 in Düsseldorf. Eine Kurzübersicht zur Fallstudie findet sich auf der Webseite des imai – inter media art institutes: http://www.imaionline.de/content/view/ 39/15/lang,/ (zuletzt aufgerufen am 21.02.2011).
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Unter einer interaktiven Videoinstallation sei mit der Restauratorin Julia Giebeler eine Videoinstallation verstanden, die mit einer Schnittstelle zwischen Mensch-Maschine oder Mensch-Maschine-Mensch operiert: »Der Begriff Interaktivität setzt das Vorhandensein eines computergesteuerten Systems [voraus], welches auf die Benutzereingaben, in Abhängigkeit zu seiner durch die Programmierung gesteuerten Eigenaktivität reagieren kann.« Giebeler, Julia: Interaktive Videoinstallation – Dokumentation und Reinstallation am Beispiel des Werks Exchange Fields von Bill Seaman (unveröffentlichte Diplomarbeit, Köln 2009), S. 18. Einen guten Überblick zu verschiedenen Ansätzen interaktiver Kunstprojekte liefert das Forschungsprojekt Taxonomie ›Interaktive Kunst‹ (2007) von Katja Kwastek am Ludwig Boltzmann Institut:
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standteil solcher Kunstprojekte. Erst in der wechselseitigen Bezugnahme von Bewegtbildern, Ausstellungsraum und Besuchern manifestiert sich eine Videoinstallation. Beispielsweise hat Doug Aitken SLEEPWALKERS so angelegt, dass es keinen Standort für die Besucher gibt, von dem aus sie alle Projektionsflächen gleichzeitig erfassen können. Ein Parcours9 hält die Besucher an, sich die Projektionsflächen sukzessive zu erschließen, während sie das Gebäude des MoMA umwandern. Folglich erleben die Besucher individuell andere Ausschnitte der Projektionen, so dass wahrscheinlich keine zwei von ihnen dieselben Ausschnitte gesehen haben werden. Aufgrund der grundsätzlichen Einbeziehung der Besucher in eine Videoinstallation und des Aspekts der Re-Installation als ReAktualisierung der räumlichen Anordnung lässt sich dem künstlerischen Verfahren der Videoinstallation nicht mit dem Autonomiebegriff und der Werkästhetik beispielsweise von Tafelbild und Skulptur beikommen. Vielmehr zeichnen sich Videoinstallationen, ähnlich den Aufführungskünsten, durch eine Prozessästhetik10 im Sinne einer wechselseitigen Bezugnahme zwischen Bewegtbildern, Installationsraum und Besuchern aus.
Der begrenzte Zugang zu Videoinstallationen Ist uns eine Videoinstallation nicht zugänglich, erweist sich dieser Umstand nicht nur für das kunstinteressierte Publikum als problematisch, sondern betrifft auch die Kunstgeschichtsschreibung. In solchen Fällen müssen kunsthistorisch Forschende Kunstprojekte analysieren, ohne ihrer vorher ansichtig geworden zu sein. Dieses wissenschaftliche Dilemma, das bei der Filmanalyse vor Einführung des Videorekorders ähnlich gelagert war und von Irene Schubiger als Rezeptionsproblem bezeichnet wird,11 bringt es mit sich, dass die Analyse einer Vi-
http://media.lbg.ac.at/media/pdf/Taxonomie _IA_200706.pdf (zuletzt aufgerufen am 11.02.2011). 9
Auf der Webseite zu SLEEPWALKERS ist ein Plan des Parcours einsehbar. Vgl. http://www.moma.org/interactives/exhibitions/2007/aitken/flash.html (zuletzt aufgerufen am 11.02.2011).
10 Slavko Kacunko schlägt hierzu den Begriff der Interaktionsästhetik vor. Vgl. Kacunko, Slavko: Das (Medien-)Kunstwerk im Fokus, in: Lars Blunck (Hrsg.): Werke im Wandel? Zeitgenössische Kunst zwischen Werk und Wirkung, München: Silke Schreiber 2005, S. 125-145, hier S. 136 und S. 138-141. 11 Schubiger, Irene: Selbstdarstellung in der Videokunst. Zwischen Performance und »Self-editing«, Berlin: Reimer 2004, S. 19.
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deoinstallation mit ihrer Rekonstruktion Hand in Hand geht. Werkzeuge einer solchen Rekonstruktion können unterschiedliche Dokumentationstechniken wie textbasierte Werkbeschreibungen, fotografische Installationsansichten und Stills des Bewegtbildmaterials sein. In Bezug auf prozessbasierte Kunstprojekte, wie Videoinstallationen, stoßen diese kunsthistorischen Dokumentationswerkzeuge jedoch schnell an die Grenzen ihrer Möglichkeiten: Sie können weder den Fluss der Bilder, die auditive Situation noch die Wechselwirkungen zwischen Bewegtbildern, Ausstellungsraum und Besuchern wiedergeben. Die Übertragung der räumlichen Anordnung von Bewegtbildern in einen linearen Film eröffnet einen neuen Weg der Wiedergabe,12 reduziert allerdings die Installation auf die Bewegtbilder – vor allem wenn es sich um eine Installation für mehrere Projektionsflächen handelt. Die Beschaffenheit des Raumes, sein Klang und das Zusammenspiel mit den Ausstellungsbesuchern werden in der Filmversion der Installation, einem blinden Fleck ähnlich, ausgespart.
Die Videoinstallation S LEEPWALKERS Bei der mehrkanaligen Videoinstallation SLEEPWALKERS handelt es sich um eine Auftragsarbeit des MoMA in New York und dem dort ansässigen Unternehmen Creative Time. Mit der Videoinstallation bespielt Doug Aitken drei Gebäudefassaden sowie die Glasfassaden im Sculpture Garden des MoMA (Abb. 7) mit insgesamt acht13 großformatigen Projektionen. Jede Projektionsfläche wird mit einem Kurzfilm von je 13 Minuten bespielt. Entsprechend eines Rotationssystems wandern die Kurzfilme nach 13 Minuten zyklisch zur nächsten Projektionsfläche. Wie oben bereits erwähnt, enthält die Installation keinen idealen Betrachter-
12 Die finnische Künstlerin Eija-Liisa Ahtila, deren Videoinstallation THE HOUSE (2002) im vorliegenden Tagungsband von Ruth Reiche besprochen wird, hat zu ihrer sechskanaligen Videoinstallation WHERE iS WHERE? (2008) eine gleichnamige SplitscreenVersion für die Präsentation im Kinosaal hergestellt. Auch zu SLEEPWALKERS gibt es eine gleichnamige Filmversion von Doug Aitken aus dem Jahr 2007 (16:06 Minuten). Aitken hat hierzu das Bewegtbildmaterial im Splitscreen-Verfahren angeordnet und SLEEPWALKERS als Einkanalfassung montiert. 13 Die Angabe der Projektionen von SLEEPWALKERS variiert je nach Zählweise. Die Anzahl von acht Projektionen orientiert sich an der Anzahl der Outputs, respektive der acht Beamer. Vgl. Pressemitteilung Nr. 1 des MoMA (16.01.2007), in: http:// press.moma.org/images/press/PRESS_RELEASE_ARCHIVE/Aitkenpressrelease.pdf (zuletzt aufgerufen am 13.03.2011).
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standort, von dem aus alle Projektionen mit einem Blick erfasst werden können. Die Ausstellungsbesucher sind deshalb angehalten, den erwähnten Parcours abzulaufen. Bei SLEEPWALKERS handelt es sich um eine stumme Videoinstallation. Aitkens Soundkonzept sieht vor, dass die Geräusche der Metropole New Yorks die Audioebene zu SLEEPWALKERS liefern. Neben dem auditiven sollte aber auch das räumliche Verhältnis zwischen Installation und Metropole bei SLEEPWALKERS geklärt werden, um den Aspekt der Entgrenzung deutlich werden zu lassen. Viele Videoinstallationen seit den 1990er Jahren werden in einem künstlich geschaffenen Schwarzraum präsentiert. 14 In diesem Schwarzraum stehen die Projektionsflächen und der sie umgebende Raum in einem unmittelbaren Wirkungszusammenhang und konstituieren, unter Berücksichtigung weiterer Elemente, das Ausstellungsdispositiv von Videoinstallationen. Bei SLEEPWALKERS nun tritt der urbane Raum, die Metropole New York, als natürlicher Schwarzraum an die Stelle des künstlichen Schwarzraums.15 Durch die gegenseitige Durchdringung von Ausstellungs- und Alltagsraum ist der Installation Aitkens bereits auf formaler Ebene eine räumliche Entgrenzung eingeschrieben. Diese wird noch durch eine inhaltliche Dimension ergänzt: Der Plot von SLEEPWALKERS, seine Kerngeschichte, basiert auf fünf Protagonisten, die unterschiedlichen Berufen und Schichten zugehörig sind. Der narrative Zyklus eines jeden Kurzfilms setzt beim gleichzeitigen Aufwachen der Protagonisten ein, begleitet sie beim Aufstehen, Ankleiden, Verlassen der Wohnstätte sowie bei der Fortbewegung durch die Stadt und mündet schließlich in eine traumartige Vision, in der sich Zeit und Raum aufzulösen scheinen. Das in SLEEPWALKERS geschaffene New York liefert jedoch kein Abbild New Yorks: In der Schlussmon-
14 In Anlehnung an das Kinodispositiv wird dieser Schwarzraum auch als Black Box bezeichnet. Vgl. stellvertretend Frohne, Ursula: »That’s the only now I get«: Immersion und Partizipation in Video-Installationen, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Kunst/Kino, Köln: Oktagon 2001, S. 217-238, hier S. 224. Die Black Box entspricht allerdings nicht ohne Weiteres dem Ausstellungsdispositiv von Videoinstallationen. Thomas Zaunschirm schlägt deshalb den Begriff Black Cube vor: »Der Black Cube zeichnet sich dadurch aus, dass er […] ein Raum ist, in den man eintreten kann. Seine Wände strahlen kein Licht aus oder reflektieren dieses nicht. Jederzeit könnte er aber beleuchtet werden.« Zaunschirm, Thomas: Black Cube und White Box, in: Ralf Beil (Hrsg.): Black Box. Der Schwarzraum in der Kunst, Ostfildern: Hatje Cantz 2001, S. 75-87, hier S. 84. 15 SLEEPWALKERS lief täglich zwischen 17 und 22 Uhr, setzte also erst in der Abenddämmerung ein.
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tage der acht Kurzfilme erschließt sich die amerikanische Metropole als diegetische, das heißt fiktionale Welt, in der die Gesetze von Zeit und Raum wie in einem Traum aufgehoben zu sein scheinen.
Räumliche Entgrenzungen von S LEEPWALKERS im Web 2.0 Ausgehend von der zeitlich begrenzten Präsentation von SLEEPWALKERS seien nun drei Transformationen der Videoinstallation im Internet – Trailer, Videomitschnitt und Videodokumentation – beschrieben und vergleichend untersucht. Sie wurden in unterschiedlichen Phasen der Installation, vor und nach der Ausstellung in New York, im Internet hochgeladen. Bevor die Videoinstallation SLEEPWALKERS am 16. Januar 2007 in New York eröffnet wurde, konnte sich das interessierte Kunstpublikum auf der Videoplattform YouTube bereits vorab einen Eindruck von dem Projekt verschaffen. Rund einen Monat vor Ausstellungseröffnung stellte das MoMA am 14. Dezember 2006 einen Trailer16 (30 Sekunden) online. Es war das erste Onlinevideo im MoMA-Kanal auf YouTube. Vier Tage später lud das MoMA einen weiteren Trailer17 (60 Sekunden) in seinem Kanal hoch. Dies fand zu einer Zeit statt, da im Internet nicht nur die seit 2004 eingeführte Breitbandtechnologie eine schnellere Übertragungsrate garantierte, sondern seit 2006 Videos mittels Flashplayern auch in Echtzeit (Stream) abgespielt werden konnten. Dies führte zu einem vermehrten Einsatz onlinebasierter Kommunikation durch Videos, die sich das MoMA für die Bewerbung von SLEEPWALKERS 2006 erstmalig zu Nutze machte. Ergänzend existiert im Internet eine Webseite zu SLEEPWALKERS, auf der umfassende Informationen zum Projekt bereitgestellt werden.18 Dort ist die längere Trailerversion ebenfalls zu sehen. Ähnlich eines Kinotrailers vermitteln die beiden Trailerversionen die Kerngeschichte von SLEEPWALKERS, wobei der kürzere Trailer bereits endet, bevor
16 DOUG AITKEN: SLEEPWALKERS [30-SECOND TRAILER], in: http://www.youtube.com/ watch?v=-fLVIQFjqP4&feature=channel (zuletzt aufgerufen am 10.02.2011). 17 DOUG AITKEN: SLEEPWALKERS [60-SECOND TRAILER], in: http://www.youtube.com/ watch?v=UVRds0rTILM&feature=channel (zuletzt aufgerufen am 10.02.2011). 18 Die Projektwebseite Doug Aitken. Sleepwalkers, siehe http://www.moma.org/inter actives/exhibitions/2007/aitken/ (zuletzt aufgerufen am 10.02.2011), enthält u. a. Angaben zu dem Künstler Doug Aitken, dem Projekt, Stills des projizierten Materials als auch fotografische Installationsansichten, Interviews, etc. und ist angegliedert an die Homepage des MoMA.
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die Figuren ihre Wohnungen verlassen. Das Material der später projizierten Kurzfilme ist alternierend montiert und mit schneller, rhythmischer Musik unterlegt. Da die fünf Darstellerinnen und Darsteller prominent19 sind und der Trailer jeglichen Hinweises auf die finale Präsentationsform des Projekts entbehrt, könnte er auch als Bewerbung eines Filmprojekts von Aitken aufgefasst werden. Die den Trailer abschließende Texttafel enthält lediglich Angaben zu Dauer, Zeit und Ort der Präsentation. Dass es sich bei dem Projekt jedoch um eine ortsspezifische Videoinstallation handelt, erläutert nur eine knappe Projektbeschreibung, die dem Video auf YouTube kontextualisierend anbei gestellt ist. Bevor also die Installation 2007 aufgebaut wurde, zirkulierten bereits Ausschnitte ihres Bildmaterials als Paratexte im Internet. Bereits kurz nach der Eröffnung stellten User Videomitschnitte ihres Ausstellungsbesuchs von SLEEPWALKERS auf YouTube ein. Gutobarra lud sein Onlinevideo Doug Aitken – Sleepwalkers (4:55 Minuten) am 13. Februar 2007, also einen Tag nach Ende der Ausstellung, auf YouTube hoch.20 Das Onlinevideo zeigt untersichtige Aufnahmen des installativen SLEEPWALKERS-Projekts, vor allem aus dem Bereich des Sculpture Garden des MoMA. Solche untersichtigen Aufnahmen tauchen auch in den Videomitschnitten anderer User auf. Im Unterschied zu diesen Videos ist die Bild- und Tonqualität des Mitschnitts von gutobarra nicht besonders hoch: Das Videobild hat eine geringe Auflösung und der Ton ist leicht verrauscht. Bemerkenswert an diesem Video ist jedoch, dass gutobarra als einer der wenigen User auf den untermalenden Einsatz von Musik verzichtete. Zu hören ist stattdessen das Soundscape New Yorks, durchsetzt mit teils unverständlichen Gesprächsfragmenten von Ausstellungsbesuchern. Da es sich trotz unterschiedlicher Kamerastandorte in mehreren Montagesequenzen um eine kohärente Tonebene handelt, ist anzunehmen, dass das Bild oder zumindest der Ton für das Video neu montiert wurde. Diese Bild-Ton-Montage der Videobearbeitung mindert nicht den ersten Eindruck, dass es sich bei diesem Video um den Mitschnitt eines Ausstellungsbesuchs von SLEEPWALKERS handelt. Aufgrund urheberrechtlicher und hausrechtlicher Auflagen ist das Abfilmen von Werken in einer Kunstausstellung nicht unproblematisch. Im Musikbereich hat sich die Überschreitung solcher Auflagen in den von Fans praktizierten Bootlegs manifestiert. In seinem Buch The Inherent Vice überträgt der amerikanische Medienwissenschaftler Lucas Hilderbrand das Bootlegging auf den Filmbereich
19 Die Protagonisten werden gespielt von Donald Sutherland, Tilda Swinton, Seu Jorge, Chan Marshall und Ryan Donowho. 20 Doug Aitken – Sleepwalkers, in: http://www.youtube.com/watch?v=SS9A4d020m4& feature=related (zuletzt aufgerufen am 10.02.2011).
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und untersucht die ästhetischen Implikationen in der Vervielfältigung von Filmen durch illegale, analoge und digitale Videokopien. Unter Bootlegging versteht Hilderbrand »[…] noncommercial practices of timeshifting, tape dubbing, importing, and sharing of media content that is not reasonably available commercially. Bootlegging functions to fill in the gaps of market failure (when something has not been commercially distributed), archival omissions (when something has not been preserved for historical study), and per21
sonal collections (when something has not been accumulated or cannot be afforded).«
Im Fall des hier behandelten Onlinevideos von gutobarra kommen zwei Aspekte des Bootleggings zum Ausdruck, die bisher im Musik- und Filmbereich vorwiegend getrennt voneinander auftraten: die Aufzeichnung eines Live-Ereignisses und die damit verbundene Speicherung und Veröffentlichung in sozialen Netzwerken. Der Aspekt der Veröffentlichung war seinerzeit im Musikbereich so gut wie nicht vorhanden, da sich Musikinteressierte die Videobänder unter der Hand austauschten. Die von gutobarra und weiteren Usern eingestellten Videos sind öffentlich zugängliche Videos, die einen Eindruck der Videoinstallation SLEEPWALKERS liefern. Durch das Video von gutobarra wird dem Betrachter auf YouTube weniger der narrative Zyklus von SLEEPWALKERS vermittelt, als ein individuelles Besuchserlebnis vor Ort. Die verschiedenen Einstellungen liefern einen fragmentarischen Eindruck der Installation, geben aber Aufschluss über die räumliche Anordnung der Projektionen an den Außenfassaden des MoMA. Insofern ließe sich konstatieren, dass das Video eine audiovisuelle Erzählung des Ausstellungsbesuches ist. Es enthält Hinweise zur Relation der acht Projektionsflächen zueinander, auf den sie umgebenden urbanen Raum sowie auf den Verzicht einer vorstrukturierten Audioebene. Die Szenen der ersten halben Minute des Videomitschnitts stammen aus der traumartigen Schlusssequenz von SLEEPWALKERS. In den folgenden rund 90 Sekunden springt der Mitschnitt zu den Aufnahmen vom Beginn der Kurzfilme: Schlafen, Aufstehen, Anziehen und Wohnung verlassen. Es wird deutlich, dass der Erzählzyklus der fünf Protagonisten um eine formale Bildebene bereichert wird: Nächtliche Außenaufnahmen der Stadt, des Wohnungsinterieurs und eine motivisch rhythmisierte Bildmontage durchbrechen die Narration intervallartig. Anschließend tauchen in gutobarras Mitschnitt erneut Aufnahmen einer Schlusssequenz auf. Das erste Bewegtbild, welches
21 Hilderbrand, Lucas: Inherent vice. Bootleg histories of videotape and copyright, Durham u. a.: Duke University Press 2009, S. 22.
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wiederholt, aber auf einer anderen Projektionsfläche zu sehen ist, zeigt den Musiker und Schauspieler Seu Jorge als tanzenden Bauarbeiter. Der weitere Verlauf des Videos setzt sich zusammen aus Aufnahmen von zwei weiteren Zyklen von SLEEPWALKERS. Im Unterschied zum Ausstellungsbesuch im Winter 2007 in New York, währenddessen SLEEPWALKERS im Ausstellungsdispositiv New Yorks real zu erleben war, wird die Installation durch den Videomitschnitt in ein medial vermitteltes Dispositiv, das Internet, übertragen und dadurch zweidimensional ansichtig. Dies führt zu perspektivischen Verzerrungen u. a. des MoMA-Gebäudes und der großformatigen Videoprojektionen. Das YouTube-Publikum befindet sich – im Gegensatz zu User gutobarra – nicht mehr in der Videoinstallation, sondern außerhalb von ihr. Insofern verändert sich im Internet nicht nur das Dispositiv, sondern auch die Rezeption von SLEEPWALKERS. Bevor diese Transformationen näher erläutert werden, sei als drittes Beispiel für die räumliche Entgrenzung im Internet die eingangs erwähnte Videodokumentation herangezogen. Die Videodokumentation DOUG AITKEN: SLEEPWALKERS, produziert von Doug Aitken in Zusammenarbeit mit dem MoMA und dem New Yorker Unternehmen Creative Time, wurde rund ein halbes Jahr nach der Ausstellung auf YouTube eingestellt.22 Auch wenn das Dokumentieren von Videoinstallationen mittels Film oder Video technisch gesehen immer schon möglich war, ist anzunehmen, dass davon erst in den vergangenen zwanzig Jahren Gebrauch gemacht wurde.23 Aber nicht nur die Tatsache, dass SLEEPWALKERS mittels Video audiovisuell dokumentiert wurde, ist aus kunsthistorischer Sicht bewerkenswert, sondern auch die anschließende und kostenfreie Veröffentlichung. DOUG AITKEN: SLEEPWALKERS wurde mit der Länge von 14:13 Minuten so montiert, dass ein kompletter narrativer Zyklus von SLEEPWALKERS wiedergegeben wird. Neben dieser diachronen Zeitachse erzählter Zeit – von Abend bis Nacht – vermittelt
22 Im Vergleich zu den Videomitschnitten der Ausstellungsbesucher zählte Aitkens Dokumentation bei Erstellung des vorliegenden Beitrags etwa drei- bis neunmal so viele Views wie die User-Mitschnitte auf YouTube. 23 So ergab eine erste Recherche, dass die Dokumentation von Erstinstallationen bis in das Jahr 1984 zurückreicht. Das italienische Künstlerkollektiv Studio Azzurro dokumentierte beispielsweise ihre Videoinstallation IL NUOTATORE (VA TROPPO SPESSO AD
HEIDELBERG) (1984) bereits Mitte der 1980er Jahre. Ein Ausschnitt ist auf der
Webseite des Kollektivs einsehbar: http://www.studioazzurro.com/opere/video_ installazioni/il_nuotatore (zuletzt aufgerufen am 10.02.2011). Eine umfassendere Aufarbeitung der Dokumentationssituation von Bewegtbild-Installationen seit den 1960er Jahren wird von der Autorin des vorliegenden Beitrags zur Zeit erarbeitet.
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die Dokumentation auch die synchrone Zeitachse der dreizehnminütigen Erzählbzw. Projektionszeit. Es entsteht der Eindruck, als durchliefen die acht Kurzfilme den Narrationszyklus stets simultan. So sind auf den jeweiligen Außenfassaden des MoMA unterschiedliche Einstellungen zu sehen, die aber gleiche oder zumindest ähnliche Sujets und narrative Einheiten der Kurzfilme zeigen: Alle Protagonisten scheinen im selben Augenblick aufzuwachen, ziehen sich zeitgleich an und verlassen im gleichen Moment ihre Wohnstätte, während sie zwischen den Projektionsflächen hin- und herwandern. Im Unterschied zu den User-Mitschnitten wurde bei dieser Dokumentation mit einer statischen Kamera gearbeitet und auf langsame Schwenks zurückgegriffen. Die unterschiedlichen Perspektiven auf die Installation lassen zudem auf Kamerastandorte schließen, die nicht den Betrachterstandorten in der Ausstellung entsprechen, da auch Einstellungen von gegenüberliegenden Gebäuden einbezogen wurden. Das Soundscape New Yorks wird ergänzt durch eine Musikkomposition, bestehend aus zwei alternierenden Motiven. Nicht zuletzt diese Musik scheint mit Blick auf die Userkommentare zu Aitkens Dokumentation auf YouTube eine poetische Rezeption von SLEEPWALKERS zu evozieren.24 Eine Besonderheit der Videodokumentation gegenüber den UserMitschnitten ist die direkte Einspielung des Bewegtbildmaterials von SLEEPWALKERS in die Dokumentation. Dieses kompilatorische Verfahren dient Aitken als Abschluss und Ausstieg aus der Dokumentation: Zunächst sind die Protagonisten der Installation in traumähnlichen Zuständen zu sehen. Dieses Bildmaterial wird sukzessive von immer mehr und breiter werdenden weißen Streifen, einem Bestandteil der formalen Bildebene der Installation, überlagert. In der Videodokumentation verleiht Aitken diesen flächigen Streifen eine zweite Ebene, indem er das projizierte Bildmaterial gleichzeitig als Kompilation einspielt und die dokumentarische Installationsansicht mit der Kompilation ineinander blendet. Diese Überblendung, die eine Bilddopplung hervorruft, verlagert sich zusehends in die Kompilationsebene, die weißen Streifen gehen schließlich in einer Weißblende auf, die die Videodokumentation beschließt. Den Ausstellungsbesuchern, die Videomitschnitte von SLEEPWALKERS angefertigt haben, ist ein solches Verfahren nicht möglich, da sie keinen Zugriff auf das Bewegtbildmaterial von SLEEPWALKERS haben. Vielmehr offenbart sich in der Schlusssequenz der Videodokumentation ein Moment ihrer Inszenierung, das über die reine Aufzeichnung der Installation hinausgeht. Trailer und Videodokumentation Aitkens
24 Einige Kommentare von YouTubern zu DOUG AITKEN: SLEEPWALKERS, DOCUMENTATION OF THE EXHIBITION:
»poetic, inspiring...« (User kukybailly), »so poetic!«
(User enelvideo), »todays poetry... simply great...!« (User crackingthecodes).
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sowie einige weitere Uservideos zu SLEEPWALKERS wurden mittlerweile über weitere onlinebasierte Videoplattformen wie Dailymotion, ArtBabble, Vodpod und das Yahoo-Portal RBoom verbreitet.
Entgrenzung der Rezeption Um in einem letzten Schritt die im Zentrum stehenden Phänomene der Entgrenzung näher zu bestimmen, sei der literaturwissenschaftliche Begriff des Medienwechsels herangezogen, um diesen in einem zweiten Schritt auf die Transformation von Videoinstallationen hin zu modifizieren. Irina O. Rajewsky fasst den Medienwechsel als eine Spielart von Intermedialität auf, welche »Mediengrenzen überschreitende Phänomene [umfasst], die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren«25. Für unseren Fall sei anstatt von Medien von Dispositiven im Sinne Michel Foucaults die Rede: Indem Trailer, Videomitschnitt und Videodokumentation die Videoinstallation im medialen Kontext situieren, wird ein Dispositivwechsel vollzogen. Von Foucault ausgehend wurde der Begriff des Dispositivs von Vertretern der Film- und Medientheorie herangezogen, um herauszustellen, dass ein Medium nicht in seinen technischen Merkmalen aufgeht, sondern sich als wandelbares Ensemble offenbart.26 Die Konfigurationen eines solchen medialen Ensembles können neben den technisch-apparativen und materiellen Elementen auch der Produktions- und Rezeptionszusammenhang sein, die sie umgebenden Institutionen und Konventionen sowie die medialen Diskurse und Akteure. Auf SLEEPWALKERS übertragen schreiben sich in die untersuchten Transformationen – Trailer, Videodokumentation und Videomitschnitt – sowohl das Ausstellungsdispositiv, die Metropole New York, als auch das mediale Dispositiv, das Internet, ein. Im Vollzug dieser Transformationen erhalten die Parameter einer Videoinstallation wie Raum, Zeit, Ton und Interaktion eine neue Qualität bzw. Funktion. Angesichts der veränderten Rezeptionssituation von SLEEPWALKERS im Internet sei nun die Transformation des Installationsraums im User-Mitschnitt von gutobarra als auch in Aitkens Videodokumentation vergleichend erläutert. Zunächst gilt es zu klären, welcher Raumbegriff hier zugrunde gelegt wird und wie sich ein Raumgefühl einstellen kann.
25 Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2002, S. 19. 26 Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, S. 119.
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Im Rekurs auf die visuelle Wahrnehmung stellt die Architektin Doris Agotai zwei Wahrnehmungsweisen des Raums heraus: Raumwahrnehmung und Raumwirkung. Als Raumwahrnehmung charakterisiert Agotai »den äusseren [sic], messbaren materiell-existierenden Raum«27, der in der Filmwissenschaft auch als extradiegetisch bezeichnet wird. Der äußere Raum bei SLEEPWALKERS entspricht dem Ausstellungsdispositiv, der Metropole New York. Mit der Raumwirkung, dem »inneren, mentalen Raum, der erst im Kopf des Betrachters entsteht«28, sind zwei Aspekte gemeint, der Entwurf eines konstruierten oder virtuellen Raums29 und seine subjektive Aktualisierung durch den Betrachter: »Die Raumwirkung ist eine im Raum angelegte Struktur, die in der Folge vom Betrachter erkannt und verstanden, das heisst [sic], aktualisiert wird.«30 Diese zwei Phasen der Raumwirkung werden bei SLEEPWALKERS innerhalb der Kurzfilme evoziert und lassen im Betrachter ein subjektives Raumempfinden New Yorks entstehen. Extradiegetische Raumwahrnehmung und diegetische Raumwirkung der Videoinstallation SLEEPWALKERS bringen ein Reibungsverhältnis zweier New Yorks hervor. Voraussetzung für die Raumwahrnehmung und -wirkung ist die Bewegung des Betrachters im Raum. Im Fall der Rezeption der Dokumentation und den User-Mitschnitten wird die Betrachterbewegung durch die Kamerabewegung ersetzt. Dabei vollzieht sich eine Bedeutungsverschiebung dieser beiden Räume: Der Zuschauer ist angehalten, nicht nur das diegetische New York von SLEEPWALKERS zu aktualisieren, sondern darüber hinaus auch den Ausstellungsraum, das extradiegetische New York. Beide Räume können jedoch nur fragmentarisch aktualisiert werden. Beispielsweise liefert Aitkens Dokumentation durch die unterschiedlichen Kamerastandorte und variablen Einstellungen nur eine bedingt räumliche Kohärenz des Ausstellungsdispositivs New York. Die Dokumentation enthält mindestens drei Bewegungsachsen: die Bewegung in den Kurzfilmen, die Bewegungen der Passanten, Autos etc. außerhalb der Kurzfilme und die Schwenks der Kamera. Diese drei Achsen werden zudem durch eine zweifache Montage gekreuzt: der Montage innerhalb der Kurzfilme und der Montage in der Dokumentation selbst. Diese wechselseitigen Bezugnahmen zwischen Bewegung und Montage führen zu der zweiten räumlichen (und zeitlichen) Entgrenzung von SLEEPWALKERS bzw. ihrer Transformationen.
27 Agotai, Doris: Architekturen in Zelluloid. Der filmische Blick auf den Raum, Bielefeld: transcript 2007, S. 41. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 43. 30 Ebd., S. 44.
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Um abschließend die Funktion solcher Transformationen von Videoinstallationen zu beurteilen, sei Gérard Genettes diskursives Konzept des Paratextes herangezogen. In seiner Schrift Paratexte entwickelt Genette einen wirkungsfunktionalen Begriff des Paratextes. Genette zufolge macht erst der Paratext den Text präsent, ermöglicht dessen Rezeption und lenkt sie gleichzeitig.31 Insofern kommt dem Paratext eine ausgeprägt kommunikative Komponente zu. Der amerikanische Medienwissenschaftler Jonathan Gray wies mit Genette jüngst darauf hin, dass Paratexte ohne ihren Text existieren können, ein Text aber nicht ohne Paratext existieren kann.32 Genette beschreibt diese Situation des Paratextes unter Verwendung des Attributs des Verlusts: »Paradoxerweise gibt es dafür jedoch durch Zufall Paratexte ohne Text, nämlich verlorengegangene oder gescheiterte Werke, von denen uns nur der Titel bekannt ist.«33 Dieser Verlust trifft auf SLEEPWALKERS zu, auch wenn der Verlust sich nicht unbedingt als materieller Verlust, sondern als mangelnder Zugriff äußert: Solange die Videoinstallation nicht re-installiert wird, ersetzen die paratextuellen Transformationen von SLEEPWALKERS den Ausstellungsbesuch.
Der entgrenzte Zugang zu Videoinstallationen Wie lassen sich die analysierten Transformationen von SLEEPWALKERS abschließend hinsichtlich der Qualitäten des Nachlebens und Nacherlebens beurteilen? Videomitschnitte und die Videodokumentation Aitkens liefern durch ihr Bildund Tonmaterial eine aufschlussreiche audiovisuelle Beschreibung der Installation und können unter Umständen im User den Wunsch des »wish i was there«34 evozieren. Im Fall des User-Mitschnitts fällt diese Beschreibung vornehmlich situativ und subjektiv aus, im Falle von Aitkens Videodokumentation handelt es sich um eine Re-Inszenierung der Videoinstallation. Solange SLEEPWALKERS nicht unmittelbar in einer Ausstellung erfahrbar ist, treten beide medialen Transformationen funktional betrachtet an die Stelle des Ausstellungsbesuchs. Aufgrund mehrerer Einschränkungen, wie am Beispiel der Raumwirkung erläutert
31 Vgl. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M./New York: Campus 1993, S. 9f. 32 Vgl. Gray, Jonathan: Show sold separately: promos, spoilers, and other media paratexts, New York: New York University Press 2010, S. 25. 33 Genette 1993, S. 11. 34 YouTube-Kommentar zu DOUG AITKEN: SLEEPWALKERS, DOCUMENTATION OF THE EXHIBITION.
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wurde, stellen sich bei der Übersetzung der Installation in ein Onlinevideo aber gegenüber der Re-Inszenierung in der Ausstellung ästhetische Brüche ein: Dokumentation und Mitschnitt entfalten eine veränderte Raumwirkung, die Bewegung der Besucher wird in den Transformationen nicht mehr von diesen, sondern von der Kamera ausgeführt. Im Falle der Videodokumentation Aitkens hat dies eine räumliche Entgrenzung und eine damit einhergehende Bedeutungsverschiebung zur Folge. Der User ist angehalten, nicht nur den diegetischen Raum von SLEEPWALKERS zu rekonstruieren, sondern auch den vermeintlich extradiegetischen Installationsraum – das MoMA-Gebäude und den umgebenden New Yorker Stadtteil Manhattan. In Anbetracht der Rezeption von SLEEPWALKERS ersetzen die medialen Transformationen also nicht die ästhetische Erfahrung des Betrachters vor Ort. Sie markieren vielmehr die diskontinuierliche Übersetzung und Aktualisierung der Installation in das Dispositiv Internet. Ein Nacherleben von SLEEPWALKERS mittels Trailer, Dokumentation oder Mitschnitt ist also nicht möglich, die Transformationen ermöglichen aber der bereits wieder deinstallierten Installation ein Nachleben im Internet und somit eine weitere Entgrenzung auf der Ebene der allgemein prekären Zugriffs- und Rezeptionssituation für Videoinstallationen.
Multiperspektivität als eine Strategie des Narrativen in Eija-Liisa Ahtilas THE HOUSE 5 87+ 5 (,&+(
Erzählstrategien unterliegen seit jeher starken Transformationen, sind sie doch historisch bedingt. Im 20. Jahrhundert durchlief das Erzählen besonders gravierende Veränderungsprozesse, da die Repräsentation von Wirklichkeit als Mittel, die zunehmend an Komplexität gewinnende gesellschaftliche Realität zu reflektieren, grundsätzlich infragegestellt wurde.1 So wurde der Vergegenwärtigung mythischer oder historischer Szenen, welche lange Zeit als höchste Aufgabe der bildenden Kunst galt, mit der Hinwendung zur Abstraktion ihre Grundlage, sprich der Bezug auf die äußere Sicht der Dinge, entzogen. Diese Entwicklung fand im Modernismus ihren Höhepunkt. Dementsprechend wurde der Begriff narrativ bzw. erzählerisch in der Theoriebildung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, welche Clement Greenberg und Michael Fried maßgeblich prägten,2 allenfalls pejorativ verwendet. Seit Anfang der 1990er Jahre erlebt das Erzählen in der bildenden Kunst jedoch wieder eine Renaissance.3 Dieser Auf1
Vgl. Rosenthal, Stephanie: Der Faden ist gerissen, in: dies. (Hrsg.): Stories. Erzählstrukturen in der zeitgenössischen Kunst, Kat. Ausst. Haus der Kunst München, Köln: DuMont 2002, S. 8-23, hier S. 8-10.
2
Vgl. Greenberg, Clement: Modernistische Malerei, in: ders. und Karlheinz Lüdeking (Hrsg.): Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken 1939-1969, Dresden: Philo 1997, S. 265-278; vgl. Fried, Michael: Kunst und Objekthaftigkeit, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden: Philo 1995, S. 334-374.
3
Dora Imhof merkt bezüglich dieses Allgemeinplatzes allerdings kritisch an, dass narrative Elemente nie gänzlich aus der bildenden Kunst verschwunden waren, sondern lediglich von der Forschung ignoriert wurden. Der Terminus narrative Wende bezeichnet demnach eher einen mit der stetig wachsenden Popularität der Videokunst
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schwung des Erzählens trifft insbesondere auf die aus heutigen Ausstellungen nicht mehr wegzudenkenden Film- und Videoinstallationen zu, deren Wurzeln gemeinhin in den Projektionsexperimenten des Expanded Cinema verortet werden. Hatte die Konzentration auf das kinematografische Dispositiv, d. h. die dem Kino eigene Präsentationsform mit ihrer Konstellation aus dunklem Raum, frontaler Publikumsplatzierung und der Projektion auf eine vertikale Leinwand, in den 1960er und 1970er Jahren allerdings noch zu einer Abwendung vom klassischen Erzählkino Hollywoods geführt, so wurden seit Beginn der 1990er Jahre verstärkt die erzählerischen Mittel des Kinos zum Gegenstand der künstlerischen Reflexion.4 Die Arbeiten Eija-Liisa Ahtilas sind als beispielhaft für diese Entwicklung anzusehen: Ahtila legt sich in ihren Arbeiten nicht auf bestimmte Medien bzw. Präsentationsformen fest, sondern weicht die ehemals scharf umrissene Grenze zwischen musealem Raum und Kinosaal auf, indem sie identisches Ausgangsmaterial an den jeweiligen Ausstellungskontext anpasst.5 Ahtilas Handhabung, ein Werk an solch unterschiedliche Präsentationsräume – wie es Kino und Museum sind – zu adaptieren, führt unweigerlich zu der Frage, welche Konsequenzen diese Vorgehensweise nach sich zieht. So kann die Anpassung eines Werkes an unterschiedliche Präsentations- und Rezeptionsbedingungen laut Alexander Alberro etwa dazu führen, dass die dem Medium inhärenten Eigenschaften bei der Interpretation des Werkes nicht mehr berücksichtigt werden, obwohl sich seine Bedeutung immer auch in Wechselwirkung mit den Besonderheiten und der spezifischen Historie desjenigen Mediums konstituiert, in dem es realisiert wurde.6 Dieser keinesfalls zu unterschätzende Aspekt soll nachfolgend um den Blickwinkel erweitert werden, dass auch eine Geschichte nicht verlustfrei von
verbundenen Umschwung des Forschungsinteresses als einen Wandel in der Kunst. Vgl. Imhof, Dora: Wie erzählt ›Der Sandmann‹? Multiple Erzählung in den Film- und Videoinstallationen von Stan Douglas, München: Silke Schreiber 2007, S. 53-56. 4
Vgl. Rebentisch, Juliane: Das Publikum und seine Zeit, in: Texte zur Kunst 43 (2001), S. 54f.
5
Der amerikanische Künstler Doug Aitken verfolgt mit seiner Videoinstallation SLEEPWALKERS (2007), deren medialen Transformationen Stephanie Sarah Lauke in diesem Band nachgeht, eine vergleichbare Strategie.
6
Vgl. Alberro, Alexander: The Gap between Film and Installation Art, in: Tanya Leighton (Hrsg.): Art and the Moving Image. A Critical Reader, London: Tate Publishing 2008, S. 423-429, hier S. 429.
M ULTIPERSPEKTIVITÄT
ALS EINE
S TRATEGIE DES N ARRATIVEN | 133
einem Medium in ein anderes übertragen werden kann.7 In Bezug auf die Medienspezifik von Mehrkanal-Installationen8 rückt deshalb folgende Frage in das Zentrum meines Interesses: Welche Möglichkeiten eröffnen sich durch den Gebrauch multipler Leinwände und der hieraus resultierenden Simultaneität mehrerer Filmbilder für das Erzählen? Um einen Weg zur Beantwortung dieser komplexen Frage aufzuzeigen, möchte ich im Folgenden Ahtilas Dreikanal-Installation THE HOUSE (2002) (Abb. 8) exemplarisch untersuchen, da dieses Werk nicht nur formal,9 sondern auch inhaltlich allgegenwärtig zu beobachtende Entgrenzungstendenzen widerspiegelt.
7
Die narratologische Forschung hat sich in den letzten Jahren gegenüber Manifestationsformen des Narrativen in Medien, die nicht rein textbasiert sind, geöffnet, so dass erkannt wurde, dass das Narrative nicht mehr an denjenigen Kategorien, welche für die literarische Erzählung spezifisch sind, festgemacht werden kann. Deshalb wird einerseits nach einer medienunabhängigen Definition des Narrativen, andererseits nach einer medialen Ausdifferenzierung der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung verlangt. Der Diskussion, welche Beziehung zwischen einer Erzählung und ihrer Realisierung in einem Medium besteht, wird dabei viel Platz eingeräumt. Bezüglich geläufiger Argumentationsstränge in der Debatte um die Möglich- bzw. Unmöglichkeit einer verlustfreien Übertragbarkeit einer Geschichte von einem Medium in ein anderes siehe z. B. Herman, David: Toward a Transmedial Narratology, in: Marie-Laure Ryan (Hrsg.): Narrative across Media. The Languages of Storytelling, Lincoln/ London: University of Nebraska Press 2004, S. 47-75.
8
Der Terminus Mehrkanal-Installation bzw. Multiscreen-Installation bedeutet nichts anderes, als dass mehrere Bildkanäle bzw. Projektionsflächen, welche im Fall Ahtilas stets eine gemeinsame Tonspur besitzen, im Raum angeordnet werden.
9
Am Beispiel der Entwicklungsgeschichte von Film- bzw. Videoinstallationen wird deutlich, dass die Grundannahme der Intermedialitätsforschung, es gebe Mediengrenzen, die überschritten werden können, problematisch ist: Film- bzw. Videoinstallationen verwischen die ehemals scharfe Grenze zwischen Film- und Installationskunst und tragen damit letztlich zu einer Auflösung dieser Grenzziehung bei. Wurden Filmbzw. Videoinstallationen in ihrer Anfangszeit noch als Hybridkunst wahrgenommen, so begreift man diese heute oftmals als eine eigene Gattung. Vgl. Rajewsky, Irina O.: Medienbegriffe – reine diskursive Strategien? Thesen zum ›relativen Konstruktcharakter‹ medialer Grenzziehungen, in: Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann und Markus Rautzenberg (Hrsg.): Ausweitung der Kunstzone. Interart Studies – Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften, Bielefeld: transcript 2010, S. 33-47.
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T HE HOUSE THE HOUSE existiert in vier verschiedenen Versionen, wobei die im vorliegenden Beitrag fokussierte Dreikanal-Version am Ende einer Kette medialer Transformationen steht: Die fünf Teile UNDERWORLD, GROUND CONTROL, THE BRIDGE, THE WIND und THE HOUSE der Monitorarbeit THE PRESENT (2001) fanden neben ihrer musealen Präsentation als 30-sekündige TV-Spots Verbreitung. Für die Präsentation auf Filmfestivals wurden die einzelnen Kurzfilme zu dem Episodenfilm LOVE IS A TREASURE (2002) zusammengefügt. Wiederum für den musealen Kontext wurden die beiden Episoden THE WIND und THE HOUSE als Dreikanal-Installationen ausgekoppelt.10
Abbildung 8: Eija-Liisa Ahtila, THE HOUSE, 2002, 14 Minuten, DVD-Installation für drei Projektionen mit Sound. Wie alle Teile von THE PRESENT beruht auch THE HOUSE auf Interviews mit Frauen, die an Psychosen leiden. Das Wissen um diesen Sachverhalt legt eine Lesart dieser Arbeit nahe, welche die Protagonistin namens Elisa als wahnhafte Figur erscheinen lässt. Aus diesem Grund erfolgt die sich nun anschließende
10 An dieser Stelle möchte ich Eija-Liisa Ahtila sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Crystal Eye Ltd herzlich dafür danken, dass mir das entsprechende DVDMaterial für die vorliegende Analyse zur Verfügung gestellt wurde.
M ULTIPERSPEKTIVITÄT
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kurze Zusammenfassung des Handlungsverlaufs direkt hinsichtlich einer solchen psychopathologischen Lesart.11 Während des gesamten Films folgen wir Elisa insgesamt viermal bei der Rückkehr zu ihrem Haus – die ersten drei Male erreicht sie ihr Grundstück mit dem Auto, das letzte Mal hangelt sie sich in einem schwebenden Zustand an den Ästen von Fichten zurück nach Hause. Da wir Elisa ihr Haus allerdings niemals verlassen sehen, erscheint die sich stetig wiederholende Rückkehr wie eine Zeitschleife, in welcher sich der gesundheitliche Zustand Elisas bei jedem Durchlauf verschlimmert.12 Nehmen wir im ersten Durchgang lediglich wahr, dass Geräusche ohne ihre ursächliche Erklärung auftreten, werden die akustischen Halluzinationen und der mit diesen Halluzinationen einhergehende Grenzverlust Elisas im zweiten Durchlauf evident. Vor dem Fenster immer wieder einen Schritt hinund hergehend, stellt Elisa monologisierend fest, dass sie ihren Wagen nicht sehen kann, wenn er vom Vorhang verdeckt wird. Da sie aber dennoch dessen Fahrgeräusche hört, entsteht für sie der Eindruck, als ob der Wagen nicht mehr draußen stände, sondern hinter ihr an der Wand entlangführe. Im dritten Durchlauf gesellt sich neben einer im Fernsehen zu sehenden Kuh, welche die Grenzen des TV-Monitors durchbricht und gemächlich durch Elisas Wohnzimmer schreitet, ein eben noch im Garten herumtollender Hund hinzu, der plötzlich auf die an der Nähmaschine sitzende Elisa zugelaufen kommt: »It came closer and sniffed me. By chance. It came into the room, into the same space, where there were no longer any walls. Outside a new order arose, one that is present everywhere. Everything is now simultaneous, here, being.«13
11 Mieke Bal legt bei ihrer Untersuchung von THE HOUSE den Fokus darauf, dass es mehrere mögliche Lesarten der Installation gibt, die einander ablösen. Vgl. Bal, Mieke: _What if...? Exploring ›unnaturality‹, in: world rush _4 artists. Eija-Liisa Ahtila, Doug Aitken, Lee Bull Sarah Sze, Kat. Ausst. National Gallery of Victoria, Melbourne 2003, S. 30-37. 12 Diese These lässt sich etwa auch mit einem Abschnitt aus Elisas Monolog belegen, welcher zwar weder in der Einkanal- noch in der Mehrkanal-Version zu hören, aber im Drehbuch zu finden ist. Elisa spricht dort von einem immer wiederkehrenden Neustart der Zeit: »I got stuck in traffic for I don’t know how long. Time stood still and everything stayed where it was. I stay at home, because I don’t know whether time will re-start next time.« Skripte DVD Eija-Liisa Ahtila. The Cinematic Works, London: British Film Institute 2004, S. 98. 13 Ebd., S. 97.
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Dieser Szene kommt große Relevanz zu, insofern sie die einzige Passage darstellt, in welcher das von Elisa in ihrem Monolog gewählte Erzähltempus vom Präsens ins Präteritum wechselt, obwohl sich das von ihr in der Vergangenheitsform Geschilderte zeitgleich zu ebendieser Schilderung zu ereignen scheint. Es folgt eine Sequenz, in welcher Elisa uns nüchtern von ihrer Psychose berichtet. Ihre Schilderung eines kürzlich erfolgten Restaurantbesuches verdeutlicht, dass sie Umgebungsgeräusche nicht differenziert wahrnehmen kann, Hintergrundgeräusche übermächtig werden und sich innerhalb ihrer Wahrnehmung verselbstständigen. Unterschiede zwischen Nähe und Ferne, Vergangenheit und Gegenwart heben sich somit auf. Um die Widersprüche zwischen der visuell erfahrbaren Realität und den akustischen Halluzinationen nicht mehr länger ertragen zu müssen, beschließt Elisa den Wohnraum mit schwarzen Vorhängen völlig abzudunkeln und nur noch die Geräusche zuzulassen: »I make the house dark. Because I can’t get away from the sounds, I shut out the images. When I don’t see anything, I’m where the sounds are. In the street, on the shore, on the ship.«14
Das unaufhaltsame Einstürmen verschiedenster Geräusche auf Elisa erleben wir nach der kompletten Abdunklung des Hauses im vierten Durchgang unmittelbar mit: Die Leinwände werden komplett schwarz, der Geräuschpegel steigt enorm an. Das Rattern der Nähmaschine vermischt sich mit dem Gekreische von Möwen, das Läuten von Kirchenglocken mit dem tiefen Ton einer Schiffshupe, Lautsprecherdurchsagen mit den hallenden Schritten von Passanten. Dieser Sequenz folgt schließlich eine Art Epilog, in welchem der Grenzverlust Elisas noch eine weitere Steigerung erfährt, insofern nicht mehr nur die Wände ihres Hauses, sondern sogar sie selbst durchlässig wird: »I meet people. One at a time they step inside me and live inside me. Some of them only for a moment, some stay. They set up wherever they want to and take my facial expressions or my leg’s resting position and put their own in their place. They lie on my back and press their toes into my Achilles tendons. They appear in every pause and come out when I am in doubt and fill all the empty space.«15
14 Ebd., S. 99. 15 Ebd.
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Das Unterlaufen von Linearität Untersucht man die Erzählweise von THE HOUSE, dann wird schnell ersichtlich, dass Ahtila mit den Konventionen linearen, kausal motivierten Erzählens bricht. Um diesen Bruch augenfällig zu machen, möchte ich auf die drei Kategorien Zeit, Modus und Stimme zur Analyse einer Erzählung hinweisen,16 wobei bei der Erzählanalyse in Spielfilmen insbesondere der Kategorie Zeit große Bedeutung zukommt. So kommt es hier nicht nur auf das Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit an, welche in vorliegendem Beispiel aufgrund der Diskontinuität des Dargestellten nicht eindeutig zu bestimmen ist, sondern auch in welcher Reihenfolge Ereignisse erzählt werden. Die Unterscheidung zwischen fabula und sjužet ist hierbei hilfreich: Als fabula wird die zeitlich linear und kausal miteinander verknüpfte Kette von Ereignissen bezeichnet, unter sjužet versteht man dagegen die Präsentation, Auswahl und Anordnung dieser Ereignisse in ihrer narrativen Form.17 Der Clou dieser Unterscheidung liegt in der Erkenntnis, dass die Reihenfolge, in der Ereignisse erzählt werden können, nicht chronologisch erfolgen muss, da Vor- und Rückblenden innerhalb einer Erzählung möglich sind. Selbst wenn zahlreiche Anachronien, also Vor- und Rückblenden, vorliegen, kann die chronologisch geordnete Gesamthandlung in der Regel problemlos rekonstruiert werden. Bei THE HOUSE aber liegt die Schwierigkeit nicht einfach darin, achronologisch erzählte Ereignisse in die richtige Reihenfolge bringen zu müssen, sondern vielmehr darin, dass jenes Verständnis von Zeit, welches dem Konzept der Linearität – Ereignisse folgen auf- und auseinander – innewohnt, subtil unterlaufen wird. So baut sich die Handlung zwar in dem Sinne mehr oder weniger linear auf, insofern sich durch die Verschlechterung von Elisas Zustand sowie deren Tätigkeit des Abdunkelns eine Kontinuität abzeichnet, doch vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart im Dargestellten. Damit aber ist genau dasjenige gleichzeitig präsent, was in einer linearen Ereigniskette nur nacheinander gedacht werden kann, wodurch die Gültigkeit kausallogischer Gesetze von Raum und Zeit in Zweifel gezogen wird. So kann die bereits erwähnte, surreal anmu-
16 Mit der Einführung dieser drei Analysekategorien prägte der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette die narratologische Forschung nachhaltig. Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung, München: Fink 1994. 17 Für diese Unterscheidung existieren zahlreiche Begriffspaare. Bei den von dem russischen Formalisten Boris Tomaševskij stammenden Begriffen sjužet und fabula liegt der Fokus allerdings stark auf der zeitlichen Abfolge der Ereignisse, weshalb dieses Begriffspaar für die Analyse von Zeitmedien besonders geeignet erscheint.
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tende Schwebeszene in THE HOUSE nicht nur als Halluzination einer an einer schweren Psychose erkrankten Frau interpretiert werden, sondern auch als Metapher für den Verlust des festen Bodens kausallogischer Gesetze, auf den wir unsere Annahmen über die Welt stellen. Vergleicht man die räumlich arrangierte Dreikanal-Version mit ihren beiden einkanaligen Varianten, dann fällt auf, dass es geringfügige Unterschiede im Handlungsverlauf gibt. In der Dreikanal-Version sehen wir Elisa im Anschluss an die Schwebeszene etwa keine Gewichtsmanschetten anlegen, die sie von einem erneuten Anheben abhalten sollen. Ebenso wie das schlichte Unterlaufen konventioneller Erzählstrukturen hängen Unterschiede dieser Art allerdings nicht von der Simultaneität mehrerer Filmbilder ab, weshalb ich an dieser Stelle nicht weiter auf inhaltliche Divergenzen eingehen, sondern stattdessen untersuchen möchte, welche Funktion dem Gebrauch mehrerer Leinwände für das Erzählen zukommt. Bevor ich jedoch ausführlicher auf die Bildmontage zu sprechen komme, sei darauf verwiesen, dass es in diesem Kontext immer wieder heißt, der Einsatz mindestens zweier Projektionsflächen erlöse den Betrachter aus seiner Passivität, da er sich nicht nur frei im Raum bewegen könne,18 sondern auch die erzählten Fragmente in einen für ihn stimmigen Zusammenhang bringen müsse. Dem Rezipienten einer Mehrkanal-Installation komme daher und aufgrund des Hin- und Herblickens zwischen den Leinwänden die Rolle eines Co-Autors bzw. Cutters zu. Dieser Diskurs, der einen Wandel der Betrachterrolle propagiert, führt jedoch, insofern er auf der altbekannten Dichotomie zwischen dem Museum als einem Ort für aktive Kunstrezeption und dem Kinosaal als einem Ort für passives Filmerleben beruht,19 von meiner Fragestellung weg und bleibt im Weiteren unberücksichtigt.
Der Begriff Multiperspektivität Kernpunkt der nun folgenden Erörterungen ist die Beobachtung, dass mit dem Einsatz multipler Projektionen Elemente unterschiedlichster Art – wie in einem
18 Vgl. Groys, Boris: ... in der Autonomie des Betrachters. Zur Ästhetik der Filminstallation, in: Der Schnitt 2 (2001), S. 10-14. 19 Zu Überlegungen diesbezüglich siehe Reiche, Ruth: Bild oder Betrachter: Wer hat die Macht? Kritische Anmerkungen zum Diskurs über die Rolle des Betrachters von narrativen Film- und Videoinstallationen der 1990er Jahre, in: kunsttexte.de 1 (2011), 6 Seiten.
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Rhizom20 – völlig problemlos miteinander verknüpft werden können. Um diese auf eine theoretisch fundierte Grundlage zu stellen, möchte ich zunächst auf den Begriff Multiperspektivität eingehen: Kunstwissenschaftlern ist der Begriff Perspektive vor allem durch die Zentralperspektive geläufig, die es bildenden Künstlern ermöglicht, ein dreidimensionales Objekt auf einer zweidimensionalen Bildfläche so darzustellen, dass ein Eindruck von Raumtiefe entsteht. Die geometrische Exaktheit der zentralperspektivischen Konstruktion erfährt im philosophischen Perspektivismus mit seiner Verlagerung auf die Subjektabhängigkeit jeder Wirklichkeitserfahrung allerdings eine Bedeutungserweiterung.21 Die Kernaussage dieser Strömung besagt, alle Erkenntnis sei an die Perspektive des erkennenden Subjekts gebunden, wobei der persönliche Standpunkt eines jeden Menschen auf der Gesamtheit aller Faktoren und Bedingungen beruhe, die dessen subjektive Weltanschauung und jede seiner Handlungen bedingen. Die Möglichkeit des Erkennens einer allgemeingültigen Wahrheit ist damit ausgeschlossen, doch aus je mehr Blickwinkeln ein Sachverhalt betrachtet wird, desto umfassender und vielschichtiger wird unser Verständnis von jenem. Mit dieser Auffassung korreliert der erzähltheoretische Perspektivenbegriff, der die jeweils indivi-
20 Gilles Deleuze und Félix Guattari diente der Begriff Rhizom als Metapher für ihr gemeinsam entwickeltes Ordnungsmodell, welches sie dem hierarchisch organisierten Baummodell des abendländischen Denkens manifestartig entgegenstellen. Ihre Kritik am Wurzel-Baum lautet, es vermöge die Komplexität der Realität nur ungenügend abzubilden, da in jenem ein Element weder mehreren Ordnungsebenen angehören kann, noch Querverbindungen zu Elementen anderer Äste erlaubt sind. Dieser Mangel besteht in einem rhizomorphen System nicht, da es aufgrund seiner sechs grundlegenden Eigenschaften – (1) dem Prinzip der Konnexion und (2) der Heterogenität, (3) dem Prinzip der Mannigfaltigkeit, (4) dem Prinzip des asignifikanten Bruchs, (5) dem Prinzip der Kartografie und (6) des Abziehbildes – als ein azentrisches und nicht hierarchisches System zu begreifen ist: In einem Rhizom kann jeder beliebige Punkt mit jedem anderen beliebigen Punkt verbunden werden, was heißt, dass auch Elemente unterschiedlichster Art zueinander in Verbindung gesetzt werden können. Deshalb ist diese Metapher zur Beschreibung der Bildmontage von Mehrkanal-Installationen meines Erachtens bestens geeignet. Vgl. Deleuze, Gilles und Félix Guattari: Rhizom, Berlin: Merve 1977. 21 Vgl. Nünning, Ansgar und Vera Nünning: Von ›der‹ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte: Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität, in: dies. (Hrsg.): Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts, Trier: WVT 2000, S. 3-38, hier S. 7-10.
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duelle Wirklichkeitssicht einzelner Figuren und Erzählinstanzen in narrativen Texten beschreibt.22 Eine Kontrastierung verschiedener Perspektiven in einem Text ermöglicht eine Vorstellung von der komplexen Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit von Wirklichkeitserfahrung. Aus diesem Grund spricht man von Multiperspektivität als einer »Form der narrativen Vermittlung [...], bei der ein und derselbe Sachverhalt aus zwei oder mehreren Sichtweisen bzw. individuellen Standpunkten unterschiedlich dargestellt wird.«23 Der entscheidende Punkt dieser Definition besteht darin, dass erst dann von Multiperspektivität die Rede ist, wenn nicht nur mehrere Perspektiventräger in einem Text vorhanden sind, sondern wenn tatsächlich auch mehrere Versionen desselben Geschehens erzählt werden.24 Eine multiperspektivische Auffächerung eines Geschehens erhält also erst dann Gewicht, wenn Divergenzen zwischen den einzelnen Perspektiven bestehen. So teilt beispielsweise der Film 8 BLICKWINKEL (USA 2008; R: Pete Travis) das Geschehen – ein Attentat auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten – auf mehrere Perspektiventräger auf, jedoch addieren sich die Einzelperspektiven zu einer Gesamtperspektive, die in sich stimmig ist. Nach der obigen Definition liegt bei diesem Film deshalb keine Multiperspektivität vor. Völlig anders verhält es sich dagegen mit Akira Kurosawas Film RASHŌMON (J 1950; R: Akira Kurosawa), in dem die Vergewaltigung einer Frau durch einen Banditen und die Ermordung deren Ehemannes, eines Samurais, in vier unterschiedlichen Versionen – je einer Version der drei ins Verbrechen involvierten Figuren sowie der eines scheinbar passiven Zeugen – gezeigt wird. Den Tod des Samurais herbeigeführt zu haben, nehmen dabei alle drei am Verbrechen Beteiligten – auch der Samurai selbst – in Anspruch; denn nicht Schuldlosigkeit, sondern die eigene Ehrenhaftigkeit steht im Vordergrund. Die Unvereinbarkeit der in den einzelnen Versionen getroffenen Aussagen führt unvermeintlich zu der Frage, ob es eine objektive Wahrheit geben kann.25 Multiperspektivität liegt in RASHŌMON deshalb in ihrer vollen Bedeutung vor.
22 Vgl. ebd., S. 12f. 23 Ebd., S. 13. 24 Vgl. ebd., S. 18f. 25 Für weiterführende Überlegungen zu Kurosawas RASHŌMON siehe Griem, Julika: Mit den Augen der Kamera? Aspekte filmischer Multiperspektivität in Bryan Singers The Usual Suspects, Akiro Kurosawas Rashōmon und Peter Weirs The Truman Show, in: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hrsg.): Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts, Trier: WVT 2000, S. 307-322.
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Multiperspektivität in T HE HOUSE Wie können nun diese Überlegungen zur Multiperspektivität auf MehrkanalInstallationen übertragen werden? Lässt sich das eben Ausgeführte auf manche Mehrkanal-Installationen direkt anwenden, etwa auf Ahtilas DreikanalInstallation TODAY (1996), bei welcher in den auf separate Leinwände projizierten Episoden über den Unfalltod eines älteren Mannes aus drei verschiedenen Perspektiven – derjenigen eines Mädchens, ihres Vaters und einer Frau namens Vera – sinniert wird, so gestaltet sich dieses Vorhaben bei THE HOUSE deutlich schwieriger. In dieser Installation gibt es nur eine fiktive Figur: Elisa. Da der gesamte Film auf der Sichtweise Elisas beruht, wird deren von Wahrnehmungsstörungen geprägte Perspektive nicht einmal mit derjenigen einer objektiven Erzählinstanz kontrastiert. Aus diesem Grund kann man hier nicht von Multiperspektivität in einem engen Sinne sprechen. Es erscheint daher naheliegend, den Begriff Perspektive von der individuellen Wirklichkeitssicht einer Figur zu lösen und auf die Kamera zu übertragen. Da aber mit der Einführung des Begriffs Multiperspektivität keinesfalls nur der trivialen Feststellung, in einer MehrkanalInstallation lägen mehrere Projektionen vor, ein Name gegeben werden soll, ist nun zu prüfen, welche Relationen zwischen den einzelnen Perspektiven in THE HOUSE vorliegen. Erstens finden sich in der Installation zahlreiche Beispiele, in denen Elisas Monolog mit Bildern ihrer Wahnvorstellungen illustriert wird, so etwa mit Bildern von einem Hafen oder vorbeiziehenden Passanten. Auf diese Weise erfährt diejenige Einstellung, in welcher die monologisierende Protagonistin des Films gezeigt wird, keine Unterbrechung, was nichts anderes heißt, als dass die konventionelle Parallelmontage durch die Gleichzeitigkeit zweier üblicherweise nacheinander gezeigter Filmbilder ersetzt wird. Über den bloßen Ersatz der Parallelmontage hinausgehend erscheint mir die Gleichzeitigkeit von Filmbildern allerdings dann, wenn das Gesagte durch die Kombination zweier Filmbilder in einer Weise visualisiert wird, die in einem bloßen Nacheinander nicht mehr gegeben wäre. Das ist beispielsweise in dem Moment der Fall, in welchem Elisa verkündet, sie habe das Gefühl, der Garten dringe in ihr Wohnzimmer ein: Diese Aussage wird zugleich von Bildern der Wohnzimmer- und der Außenwand ihres Hauses untermalt, wobei diese so nebeneinander montiert sind, dass das Bild eines sowohl aus einer Innen- als auch aus einer Außenwand bestehenden Raumes entsteht. Zweitens kann durch die Simultaneität mehrerer Filmbilder eine Blickfelderweiterung erzielt werden, insofern dasselbe Objekt oder derselbe Vorgang simultan aus unterschiedlichen Kameraperspektiven gezeigt wird. So sehen wir
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etwa gleichzeitig verschiedene Seiten des Hauses oder aber wir verfolgen Elisas Gang in die Küche von zwei verschiedenen Blickpunkten aus. Der Reiz, der darin liegt, denselben Augenblick aus mehreren Perspektiven festzuhalten, dürfte uns bereits von den Simultanaufnahmen Eadweard Muybridges bekannt sein, die der britische Fotograf neben seinen namhaften Reihenfotografien konsekutiver Bewegungsmomente anfertigte.26 Im Gegensatz zu Muybridge stand Ahtila beim Dreh allerdings nur eine Kamera zur Verfügung, weshalb hier also lediglich der Eindruck erzeugt wird, derselbe Augenblick sei gleichzeitig von mehreren Kameras aufgezeichnet worden.27 Drittens liegen in THE HOUSE Kombinationen vor, die der vorhin beschriebenen Definition von Multiperspektivität sehr nahe kommen, da sich in ihnen Widersprüche zwischen den Einzelperspektiven finden. Es handelt sich dabei stets um die Kombination eines statischen Bildes28 mit einer Einstellung, in welcher Elisa in ebenjener Umgebung gezeigt wird, die auf dem statischen Bild zu sehen ist. So erblicken wir in der Dreikanal-Version etwa zeitgleich sowohl die ihren Garten durchquerende Elisa als auch Elisas Garten, sowohl die im Wohnzimmer nervös hin- und herlaufende Elisa als auch ihr Wohnzimmerinterieur. Mögen Kritiker in der beinahe schon exzessiven Verwendung von statischen Bildern lediglich Füllmaterial sehen, das außer der Blicklenkung auf das Wesentliche keinen weiteren Zweck erfüllt, so ist dem zu entgegnen, dass hier nicht nur die Tradition einer Betonung des scheinbar unwichtigen Details ihre Fortsetzung findet, sondern sich vor allem die thematisierte Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart auch auf der Bildebene widerspiegelt: In der auf den statischen Bildern zu sehenden Umgebung taucht Elisa nie auf, obwohl sie es müsste, nähme man an, die simultan gezeigten Filmbilder bildeten dieselbe Zeitspanne ab. Folglich handelt es sich hier um zeitliche Versetzungen. Diese zeitlichen Verset-
26 Die Chronofotografien Muybridges nennt Gunnar Schmidt als ein frühes Beispiel multiperspektivischer Aufnahmen in der bildenden Kunst. Vgl. Schmidt, Gunnar: Zeit des Ereignisses – Zeit der Geschichte am Beispiel der Multiperspektivität, in: http://www.medienaesthetik.de/medien/zentrorama.html
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01.06.2011). Der Aufsatz erschien außerdem in: Immanuel Chi, Susanne Düchting und Jens Schröter (Hrsg.): ephemer – temporär – provisorisch. Aspekte von Zeit und Zeitlichkeit in Medien, Kunst und Design, Essen: Klartext 2003, S. 175-196. 27 Auch für diese Information möchte ich Eija-Liisa Ahtila sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Crystal Eye Ltd herzlich danken. 28 Bilder, die nicht ausschließlich als Handlungsträger fungieren, nenne ich statisch. Sie zeigen meistens Objekte, keine Menschen oder Tiere, und sind häufig mit einer unbewegten Kamera aufgenommen.
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zungen – mögen sie auch noch so unauffällig sein – brechen nicht nur mit unserer Gewohnheit, gleichzeitig Ablaufendes als tatsächlich gleichzeitig ablaufend zu betrachten, sondern setzen abermals das Verständnis von Zeit außer Kraft, auf dem lineares Erzählen aufbaut. Die Aufmerksamkeit wird auf diese Weise vom narrativen Inhalt verstärkt auf die Prozesse des Erzählens selbst gelenkt. Multiperspektivität fungiert hier also als ein Mittel erzählerischer Selbstreflexivität.
Der Monolog Elisas In der Umsetzung von Elisas Monolog findet sich ein weiterer Beleg für eine metanarrative Lesart dieser Installation. Dieser wird in der Regel direkt von Elisa in die Kamera gesprochen, stellenweise ist er aber auch als Voice-OverKommentar zu hören. Die Technik des Voice-Overs wird dabei sowohl dann eingesetzt, wenn Elisa nicht im Bild ist, als auch dann, wenn sie es ist. Letzteres irritiert, da der Monolog in diesen Fällen von der im Bild zu sehenden, aber nicht sprechenden, Elisa losgelöst erscheint, so als ob eine zweite Elisa ihn spräche. Da Elisa zudem in mehreren Sequenzen der Installation doppelt zu sehen ist, führt mich dies zu der These, dass in THE HOUSE zwei Elisas anwesend sind, wobei es sich bei der einen um eine Erzählerfigur, bei der anderen dagegen um eine Figur innerhalb des Erzählten handelt. Wäre diese These im ersten Fall noch mit der Annahme, Elisa halte sich zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten an zwei verschiedenen Orten auf, wobei diese Zeitpunkte hier aber gleichzeitig gezeigt würden, zu widerlegen, was angesichts Elisas Äußerung, alles sei simultan, und der bereits erläuterten zeitlichen Versetzungen in dieser Installation nicht unwahrscheinlich ist, so wird diese Annahme in einer Sequenz gegen Ende des Films allerdings ad absurdum geführt: Dort verringert sich der Lichteinfall durch das Aufhängen eines schwarzen Vorhangs mehr und mehr. Diese schrittweise Abdunklung betrifft gleichermaßen beide Filmbilder, auf denen Elisa simultan, d. h. zugleich beschäftigt mit dem Anbringen des schwarzen Vorhangs sowie dem Beobachten dieser Tätigkeit, zu sehen ist. Somit ist Elisa definitiv doppelt vorhanden. Ausgehend von der psychopathologischen Lesart könnte diese Verdoppelung als eine Visualisierung von Schizophrenie, wenn man sie wie gemeinhin üblich mit einer Persönlichkeitsspaltung gleichsetzt, verstanden werden, doch ist die Anwesenheit einer Erzählerfigur meines Erachtens plausibler, schränkt sie den Interpretationsrahmen der Installation nicht nur auf eine von vielen möglichen Lesarten ein. Da die Rollen der beiden Elisas nicht klar voneinander abgegrenzt sind, wird die Klärung der Frage, wer hier denn nun was erzählt, unmöglich ge-
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macht. Zu dieser Problematik gesellt sich überdies die umstrittene Frage, ob das filmische Erzählen grundsätzlich erzählervermittelt ist,29 so dass hier ein Grad an Reflexion erreicht ist, der mit der Handlungsebene an sich nichts mehr zu tun hat, sondern selbstreflexiv zu verstehen ist.
Elisas Grenzverlust als universelle Erfahrung Elisas Wahrnehmungsstörungen werden in THE HOUSE nicht nur nacherzählt, sondern insbesondere aufgrund des Gebrauchs multipler Projektionen, welche dem Betrachter die Erfahrung von Simultaneität ermöglichen, regelrecht nachempfunden. Losgelöst von einer rein psychopathologischen Lesart des Werkes kann Elisas Grenzverlust bei der Interpretation vielfältige Bedeutungserweiterungen erfahren, insofern er sich auf verschiedenste Erfahrungsbereiche, in denen Entgrenzungen stattfinden, übertragen lässt: So bildet Elisas psychischer Zustand etwa zu demjenigen der Welt eine Parallele, da ihre individuellen Symptome globalen Prozessen, die durch kulturellen wie wirtschaftlichen Grenzabbau gekennzeichnet sind, ähneln.30 Diese Interpretation gewinnt aufgrund Elisas geäußerten Überlegungen über Flüchtlingsboote zwar an Stichhaltigkeit, doch wird in ihr das zentrale Objekt des Films – das Haus – völlig vernachlässigt. Wenn man bedenkt, dass Identität heute nicht mehr als Entfaltung eines Persönlichkeitskerns gedeutet wird, sondern als ein Konstrukt, das aus der Identifikation mit einer oder mehreren Rollen besteht, dann lässt sich THE HOUSE als Reflexion über die Identität des Einzelnen in unserer Gesellschaft lesen. Dementsprechend argumentiert auch Mieke Bal in ihrer Analyse von Ahtilas DreikanalInstallation, der dargestellte Grenzverlust Elisas könne als Befreiung der Frau von ihren von der Gesellschaft auferlegten Rollenzwängen gelesen werden, da die Wände des Hauses – einer traditionellerweise weiblichen Sphäre – durchlässig werden.31
29 Um der umstrittenen Frage nach dem spezifischen Erzählmodus des Films auf den Grund zu gehen, wurde etwa das Forschungsprojekt Medialität – Transmedialität – Narration: Perspektiven einer transgenerischen und transmedialen Narratologie an der Freien Universität Berlin unter Leitung von Irina O. Rajewsky ins Leben gerufen. 30 Vgl. Auel, Anne-Kathrin: The House. DVD-Installation von Eija-Liisa Ahtila (unveröffentlichte Magisterarbeit, Kassel 2004), S. 89f. 31 Vgl. Bal 2003, S. 35f.
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Fazit Aufgrund des dargestellten Grenzverlustes seiner Protagonistin bietet sich dem Rezipienten von THE HOUSE ein weiter Spielraum für Interpretationen, da Entgrenzungsphänomene in den unterschiedlichsten Bereichen zu finden sind. Begreift man THE HOUSE als Reflexion über das Erzählen, dann erscheint die Wahl des Themas allein schon aus dem Willen zur Reflexion geboren, eignet sich Schizophrenie doch wunderbar, um die gewohnte Wahrnehmung auf den Kopf zu stellen. Die Konventionen linearen Erzählens werden mit Multiperspektivität als einer narrativen Strategie geschickt unterlaufen, indem die lineare Ereigniskette nicht nur auf Handlungsebene durchbrochen wird, sondern sich auch auf der visuellen Ebene Vergangenes und Gegenwärtiges vermischen, sprich zeitversetzte Geschehnisse simultan auf verschiedenen Projektionsflächen gezeigt werden. Insofern erschafft Ahtila mit dem Einsatz multipler Projektionen eine ihr eigene Bildsprache, die laut Daniel Birnbaum sogar das Deleuze’sche Kristallbild32 übertrifft.33 Daher scheint mir folgender von Elisa geäußerte Satz, der hier als Schlusswort dienen soll, in jeglicher Hinsicht programmatisch zu sein: »Nothing happens before or after. Things don’t have causes. Things that occur no longer shed light on the past. Time is random and spaces have become overlapping.«34
32 Vgl. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Deleuze teilt die Filmgeschichte hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Zeit grob in zwei Phasen ein, wobei vor dem Zweiten Weltkrieg Bewegungs-, nach dem Zweiten Weltkrieg Zeit-Bilder dominieren. Zeit-Bilder unterscheiden sich von Bewegungs-Bildern insofern, als sie die Zeit zum Subjekt des Films werden lassen und diese nicht mehr nur indirekt zum Vorschein kommt. Zeit, schreibt Deleuze, ließe »die Gegenwart vorübergehen und bewahr[e] zugleich die Vergangenheit in sich.« (S. 132) Jeder Augenblick enthalte deshalb zwei Bilder, eines das vorübergeht und eines das bewahrt wird, d. h. ein aktuelles und ein virtuelles Bild. Das Kristallbild als eine grundlegende Form des Zeit-Bildes ist dabei »der Punkt der Ununterscheidbarkeit zwischen [diesen] beiden verschiedenen Bildern« (S. 112). 33 Birnbaum, Daniel: Crystals of Time. Eija-Liisa Ahtila’s Extended Cinema, in: Maria Hirvi (Hrsg.): Eija-Liisa Ahtila. Fantasized Persons and Taped Conversations, Kat. Ausst. Kiasma Helsinki/Tate Modern London, Helsinki: Crystal Eye Ltd 2002, S. 200-203, hier S. 202. 34 Skripte DVD Ahtila 2004, S. 97.
ENTGRENZUNG ALS NEUE SICHTWEISE
Interdisziplinarität in den Kunstwissenschaften als transformatorisches Prinzip J OHANNA G UNDULA E DER
Bereits vor zwanzig Jahren beschrieb Wolfgang Welsch in seinem Buch Ästhetisches Denken sehr treffend die akute epochale Transformation unserer westlichen Gesellschaft. Er stellte die plurale Gesellschaft der Postmoderne als ein Nebeneinander nicht vereinbarer Vielfältigkeiten dar, die sich in immer größerer Differenzierung voneinander abgrenzen und die dennoch in eine Form des Miteinanders finden müssen.1 Heute stehen wir an einem anderen Punkt: Die ökonomische und mediale Globalisierung führt zu Vernetzung, Verflechtung, und dadurch auch zu transformatorischen Entwicklungen. Das aus dem Lateinischen kommende Präfix trans bedeutet darüber hinaus und verweist so auf das Überschreiten von Grenzen und das Verbinden von Unvereinbarem. Diese Dynamik betrifft auch die Künste. Schon seit Jahrzehnten bedienen sich Künstler aller Gattungen postmoderner Arbeitsstrategien wie z. B. der Bricolage2 oder der Inter- und Transmedialität3 und sprengen damit Gattungsgrenzen, wodurch neue Kategorien entstehen, die mehr sind als die Summe ihrer heterogenen Teile.4
1 2
Vgl. Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam 1993. Gemeint ist eine Entgrenzung zwischen Gattungen und Medien. Diese Begriffsverwendung von Bricolage geht auf Claude Lévi-Strauss zurück, der in den 1960er Jahren die Bricolage als nicht vordefinierte Reorganisation von unmittelbar zur Verfügung Stehendem zu neuen Strukturen verstand. Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009.
3
Der Transmedialitätsbegriff wird hier analog zu Roberto Simanowski verstanden, nämlich als Übergang von einer medialen Ausdrucksweise in eine andere: »Während im Modell der Intermedialität die Koppelung verschieden konfigurierter Zeichenver-
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Auf kunstwissenschaftlicher Ebene entstanden durch die gesonderte Betrachtung verschiedener Kunstgattungen Grenzen zwischen den kunstwissenschaftlichen Disziplinen, die heute zunehmend als unnatürlich, bremsend und nicht mehr vertretbar erscheinen. Ursula Brandstätter erarbeitet in ihren Grundfragen der Ästhetik einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Medien und Kunstgattungen bzw. den verschiedenen Kunstwissenschaften.5 Wenn sich die einzelnen Kunstgattungen nicht mehr auf das ihnen entsprechende Medium beschränken, muss dies Konsequenzen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der nun transmedial entgrenzten Kunstgattung haben: Eine interdisziplinäre6 Vernetzung der verschiedenen kunstwissenschaftlichen Disziplinen liegt nahe, um den neuen Phänomenen der Transformation entsprechend begegnen zu können. Im Fall der Kunstpädagogik werden Erkenntnisse aus der Kunstrezeption bzw. -produktion visueller Kunst auf Vermittlungsprozesse übertragen. Um auf die aktuellen Tendenzen der immer transmedialer werdenden Künste reagieren zu
bundsysteme in Zeit und Raum zentral ist, geht es im Modell der Transmedialität um den (zeitlich und räumlich vollzogenen) Übergang verschieden konfigurierter Zeichenverbundsysteme ineinander.« Meyer, Urs, Roberto Simanowski und Christoph Zeller (Hrsg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren, Göttingen: Wallstein 2006, S. 43. 4
Frei nach Aristoteles: Metaphysik, Buch 8.6. 1045a: Vers 8-10.
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Vgl. Brandstätter, Ursula: Grundfragen der Ästhetik. Bild – Musik – Sprache – Kör-
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Nach Rudolf Hanschitz, Esther Schmidt und Guido Schwarz verharrt Disziplinarität in
per, Böhlau: UTB 2008, S. 119-158. den eigenen mehr oder weniger gut definierten Fachgrenzen. Um sich inter- und dann transdisziplinär verständigen und von der größeren Vielfalt profitieren zu können, ist zunächst eine Identitätsbestimmung der eigenen Disziplin notwendig. Eine interdisziplinäre Perspektive sucht nach den Schnittmengen der verschiedenen Disziplinen, z. B. den Universalia innerhalb der Künste. Von einer transdisziplinären Perspektive spricht man dagegen dann, wenn sich Theorie und Praxis miteinander vernetzen. In Bezug auf die Fachdisziplin Kunstpädagogik ist zu berücksichtigen, dass diese bereits immanent interdisziplinär ist, denn sie ist ein Hybrid aus Kunstgeschichte bzw. Bildwissenschaften, Kunsttheorie, Pädagogik bzw. Bildungswissenschaften, Psychologie, Kommunikations- und Medienwissenschaften, Didaktik, Naturwissenschaften und weiteren Nachbardisziplinen. Darüber hinaus ist sie ein transdisziplinär angelegtes Fach, da sie Theorie und praktische Anwendung in sich verbindet. Vgl. Hanschitz, Rudolf, Esther Schmidt und Guido Schwarz: Transdisziplinarität in Forschung und Praxis. Chancen und Risiken partizipativer Prozesse, Wiesbaden: VS 2009, S. 185197.
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können und sie mitzugehen, bedarf es auch einer flexiblen Neuorientierung der Kunstpädagogik. In diesem Aufsatz möchte ich eine solche interdisziplinäre Methode erarbeiten und prüfen: Zunächst wird anhand des übergeordneten Kriteriums der Kreativität eine interdisziplinäre Arbeitsperspektive entwickelt. Diese wird anschließend in der Betrachtung einer exemplarischen Künstlerpersönlichkeit, des kanadischen Pianisten Glenn Gould, überprüft, der sich durch eine spezifische Form der Kreativität auszeichnet. Hierbei soll erarbeitet werden, welche transformatorischen Potenziale eine transmediale künstlerische Arbeitsstrategie bietet. Ich unterstreiche Goulds kreativen Ansatz durch eine besondere Betrachtung seines Klangkunstwerks THE IDEA OF NORTH (1967), das wichtige Kernpunkte hinsichtlich kreativer Transformationen besonders anschaulich synthetisiert. Analog zu Ursula Brandstätters systematischer Untergliederung eines Kunstwerks in Form, Inhalt und Medialität7 lässt sich THE IDEA OF NORTH knapp analysieren. In einem nächsten Schritt leite ich die Erkenntnisse meiner interdisziplinären Untersuchung zu Glenn Gould ab auf die Kunstpädagogik und frage nach den Potenzialen, die sich der Kunstpädagogik dadurch eröffnen und ob eine interdisziplinäre Denkweise Transformationen innerhalb der Kunstpädagogik schaffen kann.
Interdisziplinärer Dialog als Strategie Analog zu Rudolf Hanschitz, Esther Schmidt und Guido Schwarz ist jedes disziplinäre System als eine Muttersprache zu verstehen.8 Es ist notwendig, eine Muttersprache zu beherrschen, doch wenn sich fremde Sprachen – zwei unterschiedliche Systeme – begegnen, kommt es leicht zum Missverständnis: Dann agiert zunächst jeder Dialogpartner aus seinem eigenen System heraus und bemisst den anderen mit seinen systemimmanenten Kategorien. Echte Begegnung und Verständigung können erst dann stattfinden, wenn sich jeder auf die Spezifik des fremden Systems einlässt. Dafür braucht es das Übersetzungsinstrument eines übergeordneten gemeinsamen Nenners. Doch selbst wenn man eine Zweitsprache gut beherrscht, wird ein Akzent bleiben. Auf die Disziplinendiskussion übertragen bedeutet es, dass ein Miteinander über die etablierten Fachgrenzen hinaus die Gefahr der Fehlinterpretation, der Instrumentalisierung und Vereinnahmung birgt. Eine interdisziplinär vernetzende Perspektive sieht die Unterschiede, führt den Dialog jedoch über die Gemeinsamkeiten hinaus fort. Diese
7
Vgl. Brandstätter 2008, S. 121.
8
Vgl. Hanschitz, Schmidt und Schwarz 2009, S. 7-39 und S. 155-160.
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Strategie ist eine notwendige, gangbare Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen hin zu einem sich ergänzenden Miteinander der Unterschiede. Sie sieht plurales Miteinander als Chance zur Erweiterung. Über welchen gemeinsamen Nenner können kunstwissenschaftliche Disziplinen in einen Dialog treten? Die Kreativität erscheint mir als ein solcher gemeinsamer Nenner, da ein kreativer Arbeitsprozess grundlegend für jegliches Kunstschaffen ist. Grundsätzlich ist Kreativität einem jeden Menschen zueigen – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung.9 Kreatives Tun hat seinen Ausgangsimpuls im Gehirn. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist das Gehirn ein in sich vernetztes Organ.10 In ihm werden Informationen zusammengetragen aus intrasubjektiven Erfahrungen – wie z. B. Sinneseindrücken, die in Gedächtnis und Erinnerung gespeichert sind – sowie intersubjektiven Lebensbereichen, zu denen soziale Erfahrungen zählen. Dem Vierphasenmodell von Graham Wallas11 folgend steht zu Beginn des kreativen Prozesses eine Art Problemstellung. Man spricht von der Präparationsphase. In einer zweiten Phase der Inkubation aktiviert das Gehirn alle für eine mögliche Lösung verfügbaren Wissensbestände bzw. holt weitere Informationen ein. Diese werden auf neuronaler Ebene im Punkt der Inspiration bzw. Illumination unvorhersehbar und völlig neu miteinander vernetzt und somit potenziert. Dabei erlebt der Mensch einen so genannten Heureka-Moment12. Er tritt ein in den Zustand des Flow13, in dem eine Ausschüttung von Neurotransmittern im Nucleus accumbens, dem Belohnungszent-
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Dresler, Martin und Tanja Gabriele Baudson: Kreativität. Beiträge aus den Natur- und Geisteswissenschaften, Stuttgart: Hirzel 2008.
10 Roth, Gerhard: Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009. 11 Vgl. Wallas, Graham: Art of Thought, London: C. A. Watts & Co. 1926, zitiert nach Eid, Klaus, Michael Langer und Hakon Ruprecht: Grundlagen des Kunstunterrichts, Stuttgart: UTB 2002, S. 168f. 12 Heureka (altgr. ηᛊρηκα) heißt so viel wie Ich hab’s gefunden. Der freudige Ausruf nach gelungener Lösung einer schweren, meist geistigen Aufgabe wird nach der von Plutarch und Vitruv überlieferten Anekdote über Archimedes von Syrakus verwendet und steht deshalb als Synonym für eine plötzliche Erkenntnis. Vgl. Marcus Vitruvius Pollio: De Architectura, Buch IX, Einleitung, Vers 10. 13 Der Begriff Flow wurde von Mihaly Csikszentmihalyi schon Ende der 1970er Jahre in den wissenschaftlichen Diskurs der Psychologie eingeführt. Er bezeichnet das Gefühl des völligen Aufgehens in einer Tätigkeit. Im Flow sind Fühlen, Wollen und Denken in Übereinstimmung. Vgl. Csikszentmihaly, Mihaly: Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart: Klett-Cotta 1996; vgl. http://www.flowskills.com/neurobiologieund-flow.html (zuletzt aufgerufen am 13.02.2011).
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rum des Gehirns, zu einem rauschhaften Zustand führt.14 Der Akteur geht dabei völlig auf in der neuartigen Lösung seines Problems. Es kommt zur Creatio, zur Neuschöpfung – wenn auch nicht aus dem Nichts: Weltwissen wird neu vernetzt und findet Ausdruck in einer konkreten Transformation von Lebenswelt bzw. einem immateriellen oder materiellen Kunstwerk. Charakteristisch für den kreativen Prozess ist es also, Bestände neu miteinander zu vernetzen und damit neues Wissen zu generieren. Somit ist der kreative Prozess der evolutionäre Transformationsprozess schlechthin. Das Grundprinzip des kreativen Prozesses als Neuverschaltung von bestehendem Wissen kann analog zum Prinzip der Intertextualität15 auf der Ebene des Kunstschaffens gesehen werden. Die Kunstpädagogik eignet sich im Besonderen dazu, die kreative Grundkompetenz des Menschen zu fördern. Nach Gisela Ulmann, Ellis Torrance und Mihaly Csikszentmihalyi16 gibt es herausragende kreative Persönlichkeiten, in denen sich viele entscheidende Persönlichkeitsmerkmale bündeln. Kreative Persönlichkeiten sind getrieben von ihrer Neugier und ihrem Wissensdurst, sie stoßen an Grenzen und wollen sie erweitern. Ihre intensive Wahrnehmung, Konzentration und Reflexion lässt sie im kreativen Prozess das Zeitgefühl verlieren und völlig in ihrer Tätigkeit aufgehen.17 Ihre Persönlichkeitsstruktur ist dialektisch aufgebaut und kann situationsbedingt von einem Persönlichkeitsextrem ins andere wechseln. Wie die Farbe Weiß alle Nuancen des Lichtspektrums enthält, neigen sie dazu, das gesamte Spektrum menschlicher Möglichkeiten in sich zu vereinen und auszuschöpfen.18 Csikszentmihalyi stellt einen Katalog gegensätzlicher Eigenschaftskombinationen zusammen, die ein gewisses Maß an bipolaren
14 Vgl. Carter, Rita: Das Gehirn: Anatomie, Sinneswahrnehmung, Gedächtnis, Bewusstsein, Störungen, München: Dorling Kindersley 2010, S. 128 und S. 168f. 15 Im Gegensatz zur Intermedialität, einer Koppelung verschiedener Zeichensysteme, betrifft Intertextualität die semantische Ebene: »Texte schließen stets dialogisch an andere Texte/Textwelten an […].« Böker, Uwe und Christoph Houswitschka (Hrsg.): Einführung in das Studium der Anglistik und Amerikanistik, München: Beck 2000, S. 188. Roland Barthes beschreibt das Phänomen der Intertextualität wie folgt: »Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unterschiedlichen Stätten der Kultur. […] Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander infrage stellen.« Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: Fotis Jannidis et al. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 190. 16 Vgl. Eid, Langer und Ruprecht 2002, S. 165f; vgl. Csikszentmihalyi 1997, S. 80-115. 17 Vgl. Eid, Langer und Ruprecht 2002, S. 165-167. 18 Vgl. ebd.
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Zügen tragen.19 Hier eine Zusammenfassung einiger Merkmale, die bei der nachfolgenden Beschreibung von Glenn Goulds Persönlichkeit eine Rolle spielen werden: Kreative Menschen nutzen sowohl die Denkweise des konvergierenden, als auch des divergierenden Denkens. Sie sind häufig weltklug und kindlich naiv zugleich, verbinden in sich Disziplin und Spiel bzw. Verantwortungsgefühl und Ungebundenheit, Imaginationskraft und Fantasie sowie bodenständigen Realitätssinn, Leidenschaft und ein Höchstmaß an Objektivität. Als schüchterne, introvertierte Persönlichkeiten ziehen sie sich gerne in die Einsamkeit zurück, haben aber auch selbstbewusste, extrovertierte Züge, sind gesellschaftsfroh und mitteilungsbedürftig. Kreative Menschen wenden sich in gewisser Weise gegen rigide Rollenverteilungen,20 sind sowohl traditionell konservativ, als auch individualistisch originell, rebellisch, unabhängig und nonkonform. Kreative Menschen sind stolze, egozentrische Narzissten, aber auch demütig, altruistisch und selbstlos. Durch ihre Offenheit und Sensibilität sind sie häufig zermürbendem Leid und Selbstzweifeln ausgesetzt, erleben aber auch intensive Freude, höchsten Genuss und ekstatische Hingabe.21
Glenn Gould: Kreative Persönlichkeit und kreative Arbeitsstrategie Der kanadische Pianist Glenn Gould vertrat in seiner Kunst bereits in den 1960er Jahren einen transmedialen22 Ansatz und sprengte damit Grenzen. In einer knappen Beschreibung seiner Person möchte ich vor allem auf seine spezifischen kreativen Persönlichkeitsmerkmale fokussieren und damit eine Grundlage zum Verständnis von Goulds Werk THE IDEA OF NORTH erarbeiten. Hinsichtlich Goulds spezifischer Kreativität gibt es noch keine wissenschaftlichen Aufarbeitungen.23 Aus diesem Grund stütze ich mich neben zahlreichen Biografien auf historisches
19 Analog dazu vgl. Carter 2010, S. 231. 20 Ein kreativer Junge ist z. B. sensibler und weniger aggressiv als seine Altersgenossen. Vgl. Csikszentmihalyi 1997, S. 107. 21 Vgl. ebd., S. 91-111. 22 Transmedial äußert sich hier im Sinne einer experimentellen Ausreizung verschiedener Medien, z. B. der Manipulation eines Flügels oder dem Experimentieren mit Aufnahme- und Schneidetechniken. 23 Für eine musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Goulds interpretatorischem Ansatz, die im vorliegenden Aufsatz nicht aufgegriffen wird, siehe Bazzana, Kevin: Glenn Gould oder Die Kunst der Interpretation, Kassel: Bärenreiter 2001.
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Videomaterial zu Glenn Gould, da es seine Persönlichkeit und seine Außenwirkung anschaulich vermittelt. Das Footage24 fand Eingang in zahlreiche Dokumentarfilme, die hier im Sinne von Sekundärquellen verwendet werden. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass dieses Material im Zuge der Filmproduktion subjektiv gefiltert wurde und dass Goulds Persönlichkeit gerade in Interviews mit ihm nahestehenden Personen zum Zerrbild eines Künstlerklischees stilisiert wird.25 Zeitgenossen beschreiben Glenn Gould als charismatisch, liebenswert, originell, kindlich humorvoll, mit überschießender Energie ausgestattet, spontan und unberechenbar, freundlich, unprätentiös, als jemanden, der für die kleinen Freuden im Leben enthusiastisch war und der sich selbst nicht so wichtig, die Musik hingegen sehr ernst nahm. Gleichzeitig sei Gould ein narzisstischer, radikaler Konservativer mit einem stark ausgeprägten Kontrollzwang hinsichtlich seiner Arbeit wie auch seiner Beziehungen gewesen. Er hätte sozialen Kontakt über das Telefon bevorzugt, über das er seinen Gesprächspartnern in übersprudelnder Begeisterung seine neuesten Ideen mitteilte. 26 Tatsächlich ist Gould schwer kategorisierbar. Die bipolare Widersprüchlichkeit der kreativen Persönlichkeit zeichnet ihn aus. Besonders zwei Pole vereinen sich in ihm: Intellektualität und spielerische Kreativität. Diese beiden Pole haben ihre Wurzeln bereits in Goulds Kindheit. Die jüngste Gould-Biografie von Kevin Bazzana27 beschreibt den Pianisten als hoch sensibles Einzelkind, das im wohlhabenden Milieu der puritanischen oberen Mittelschicht der 1930er Jahre in den Toronto Beaches aufwuchs. Schon im jüngsten Alter von drei Jahren trat sein musikalisches Ausnahmetalent zutage, als er Klavierspielen und Notenlesen lernte. Auch begann er früh, eigene Kompositionen zu schreiben. Die behütete Kindheit mit seiner musikalischen
24 Hiermit ist Ausgangsmaterial in Form von Ton- bzw. Filmbändern gemeint, das dann im Editing-Prozess zusammengeschnitten wird. 25 Bei den Regisseuren handelt es sich um Journalisten (Tom Daly, David Langer, Michèle Hozer and Peter Raymont) sowie Musikerfreunde Goulds (z. B. Bruno Monsaingeon). Gould selbst übte maßgeblichen Einfluss auf die Produktion der Dokumentation Glenn Gould. The Alchemist (EU 2002; R: Bruno Monsaingeon) aus. Die anderen Dokumentarfilme entstanden dagegen erst nach Goulds Tod. Hier trugen besonders seine Freunde, Kollegen und Fans zu einer idealisierten Typisierung bei. 26 Vgl. Glenn Gould: A Portrait (CA 1985; R: Tom Daly); vgl. Glenn Gould: Life & Times (CA 2003; R: David Langer); vgl. Glenn Gould. Hereafter (F 2006; R: Bruno Monsaingeon). Dieser englischsprachige Dokumentarfilm ist auch unter dem französischen Untertitel Au delà du temps bekannt. 27 Bazzana, Kevin: Wondrous Strange, Toronto: Oxford 2004.
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Mutter als erster Lehrerin sollte stets Quelle seines Schaffens bleiben.28 Auch das neue Medium des Radios prägte ihn, befeuerte seine Fantasie und brachte ihm in Form von Musik und Hörspielen die Geschichten der Welt ins Haus. Gould wusste früh, dass er Pianist werden wollte, und brach die Schule ab.29 Stattdessen bildete er sich autodidaktisch weiter und war sehr belesen.30 Es umwehte ihn der Mythos des schüchternen, freiheitsliebenden puritanischen Genies, das aus der asketisch-kontemplativen Kraft der Einsamkeit schöpft. Tatsächlich können Isolation und Einsamkeit als wichtige Quellen seines Schaffens gelten – wenn auch nicht immer physisch,31 dann wenigstens in Form von hochkonzentrierter geistiger Versenkung.32 In dieser, von der Außenwelt zurückgezogenen Zentrierung entfaltete er intellektuelle Kraft.33 Gerade die geistige aufgeladene Haltung und die ungewöhnliche Strahlkraft Goulds erregten schon zu Beginn seiner öffentlichen Karriere Aufmerksamkeit. David Oppenheim von Columbia Records erinnert sich an das Debüt im Januar 1955 in der Town Hall von New York: »[Gould] set such a religious atmosphere that it was just mesmerizing. And it didn’t take more than five or six notes to es-
28 Die Psychiaterin und Gould-Biografin Helen Mesaros erarbeitete die These, dass die Ursachen der späteren Ticks und Neurosen in der Kindheit und speziell in der Beziehung zwischen Gould und seiner dominanten, überbeschützenden Mutter liegen. Sie provozierte durch ihre Dominanz Goulds rebellische, eigenwillige Haltung gegen bestimmte Konventionen. Vgl. Glenn Gould: Life & Times (CA 2003). 29 Hierbei spielten soziale Gründe eine wichtige Rolle: Glenn war seinen Altersgenossen weit voraus, schulisch unterfordert und hatte aufgrund seiner Sensibilität Integrationsschwierigkeiten. 30 Gould beschäftigte sich u. a. mit Adorno, Baudelaire, Beckett, Brecht, Dickens, Diderot, Dostojewski, Faulkner, Freud, Hegel, Hesse, Hofmannsthal, Huxley, Ibsen, Joyce, Kafka, Kierkegaard, Mann, Nietzsche, Rilke, Shaw, Schiller, Tolstoi. Vgl. Stegemann, Michael: Glenn Gould. Leben und Werk, München: Piper 2007, S. 109f. 31 Beispielsweise im Familienlandhaus am Lake Simcoe. 32 So erzeugte er neben dem Üben andere Geräuschkulissen, etwa mit einem Staubsauger, um seine innere, ideale Musik zu hören. Vgl. Glenn Gould. Hereafter (F 2006). 33 »For every hour you spend in the company of other human beings you need X numbers of hours alone… isolation is the indispensable component of human happiness.« Glenn Gould zitiert nach Lester, Malcolm: Glenn Gould. A Life in Pictures, Richmond Hill: Firefly 2007, S. 6. »The main line of creative endeavour is done in solitude.« Glenn Gould sinngemäß in: Glenn Gould: A Portrait (CA 1985).
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tablish that atmosphere, by some magic of precise rhythm and control of the inner voices.«34 Innerhalb der Musikgeschichte liebte Gould besonders die Schwellenmomente, an denen sich Ausdruckssprachen und -möglichkeiten verändern, also gerade transformatorische Zeiten und Zonen besonders kreativen Potenzials.35 Eine für Gould zentrale Figur der Musikgeschichte stellte Johann Sebastian Bach dar, zu dessen Musik er eine spirituelle Beziehung aufbaute, insofern er an dem Komponisten die Suche nach Tiefe jenseits von Konventionen und Zeitgeist bewunderte.36 In Bach sah Gould analog zu sich selbst einen missverstandenen, unabhängigen Nonkonformisten mit mystisch-spiritueller Sensibilität.37 Besondere Leidenschaft hegte Gould für die Kontrapunktik – insbesondere für die barocke Fuge, die nach einer Entgrenzung linearer Strukturen hin zu einer Einheit der Verschiedenheiten strebt und dabei hochgradig komplexen Ordnungs- und Kontrollsystemen folgt.38 International bekannt wurde Gould 1955 spätestens durch seine Bestseller-Studioaufnahme der Goldberg Variationen von Bach. Dabei ist anzunehmen, dass das öffentliche Bild des Exzentrikers, das er als Markenzeichen spielerisch pflegte,39 zu seinem Erfolg beitrug. Der Konzertpianist
34 Lester 2007, S. 76. 35 Vgl. Glenn Gould. The Alchemist (EU 2002). In epochalen Schwellenmomenten ereignet sich stets ein Übergang in eine neue, noch nicht definierte Epoche. Dieses Vordringen ins Neuland ist von einer besonders kreativen Dynamik angetrieben. 36 »For Bach, the contrapuntal style […] was a way in which to define musically the life of the spirit, and that for him, a texture which brought together and unified many diverse elements was best of all to glorify God.« Lester 2007, S. 129. »The great thing about the music of Sebastian Bach is that it […] transcends all of the dogmatic adherences of art […] all of the frivolous effete preoccupations of aesthetics. It presents to us an example of a man who makes richer his own time by not being of it […] It is an ultimate argument […] that man can create his own synthesis of time without being bound by the conformities time imposes.« Ebd., S. 131. 37 Vgl. Glenn Gould. Hereafter (F 2006). 38 Als kontrapunktisch bezeichnet man Musik, deren unabhängige Melodiekurven simultan und kommunikativ interagieren: »Counterpoint is the total ordering of sound, the complete management of time, the minute subdivision of musical space…« Edward Said in: Cushing, Anthony: Examining the New Counterpoint: Gould’s Contrapuntal Radio (18.10.2010), in: http://glenngould.ca/articles/2010/10/18/examining-the-newcounterpoint-goulds-contrapuntal-radio.html (zuletzt aufgerufen am 12.02.2011). 39 Für Helen Mesaros waren die Exzentrizitäten Goulds Rituale zur Kompensation seiner Bühnenangst. Vgl. Glenn Gould: Life & Times (CA 2003). Zu den Unregelmäßigkei-
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Elyakim Taussig bewertet Goulds eigenwilligen, kontroversen Interpretationen wie folgt: »Suddenly you get a sound that no one has ever heard before… it’s boney, it’s taunt… it is very rhythmical, it’s clean, it’s transparent. […] Here is a skinny, scrawny guy from Canada who looks as if he is about to die by the time he comes on stage – so pale… he sits almost on the floor, he sings while he is playing. We’ve never seen anything like this. It 40
was like, ›Where did this guy come from?‹«
Glenn Goulds Vision einer idealen Musik Ein musikalischer Interpret arbeitet reproduktiv, hat also vermeintlich wenig Spielraum für Kreativität. Glenn Gould versteht musikalische Interpretation jedoch als ein kreatives bzw. re-kreatives Kunstwerk. Er begreift Musik als mentalen Prozess.41 Seine Interpretationen folgen dem Ansatz eines Komponisten, der die Werkstruktur intellektuell durchdringt, von innen her erfasst und sie im Moment des Spiels gleichsam neu schreibt.42 Ausgestattet mit einem hohen Maß an technischer Perfektion versucht Gould sich jedoch gleichzeitig einen intuitiven Zugang zur Musik zu erhalten – einen direkten Strom des Denkens in die Hand.43 Er ist auf der Suche nach der »ecstatic experience«44, die für ihn nicht einfach die Erfahrung eines euphorischen Augenblicks ist, der verglimmt. Diesen hedonistischen Ansatz lehnt er ab.45 Ekstase bezeichnet für ihn vielmehr einen Moment jenseits des Zeitgefühls, in dem man in der Freude des Spiels aufgeht und über die mechanischen Abläufe des Musizierens hinausgeht. Diese transzendente Erfahrung des über sich Hinausgehens in der Einheit zwischen dem Tun und dem Bewusstsein darüber entspricht der oben beschriebenen Er-
ten zwischen Goulds Medienimage und seinem Privatleben siehe Genius Within: The Inner Life of Glenn Gould (CA 2009; R: Michèle Hozer und Peter Raymonts). 40 Transkribiert nach Glenn Gould: Life & Times (CA 2003). 41 Vgl. Glenn Gould: A Portrait (CA 1985); vgl. Bruno Monsaingeon in: Glenn Gould. Hereafter (F 2006). In seinen Interpretationen spiegelt sich wahre Modernität, vgl. z. B. Kaiser, Joachim: Große Pianisten in unserer Zeit, München: Piper 1997, S. 193. 42 Vgl. Glenn Gould: A Portrait (CA 1985); vgl. Bruno Monsaingeon in: Glenn Gould. Hereafter (F 2006). 43 Vgl. Glenn Gould: A Portrait (CA 1985). 44 Glenn Gould sinngemäß in: Glenn Gould: A Portrait (CA 1985). 45 Vgl. Glenn Gould in: Glenn Gould. The Alchemist (EU 2002).
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fahrung des Flow. Wie man in einer Vielzahl historischer Filmaufnahmen beobachten kann, gibt sich Gould in der intimen Unmittelbarkeit des Flow dem Sog der Musik hin, verschmilzt gleichsam mit ihr in orgiastisch-ekstatischer Erfüllung. In tranceartigen46 Momenten begleitet er die Musik mit seiner Stimme, wiegt den Oberkörper im Uhrzeigersinn, erfühlt mit geschlossenen Augen jeden einzelnen Ton, sublimiert ihn in spiritueller Transzendenz aus seinem Inneren, seinem Geist, seiner Geistlichkeit. Gould identifiziert sich ganz mit der Musik, als sei er selbst der Komponist.47 Von dieser intensiven ästhetischen, mystisch anmutenden Erfahrung Goulds geht auch für den Rezipienten eine große Kraft aus.48 Wer Gould hört und erst recht wer ihn in Filmaufnahmen sieht, wird hineingezogen in den Sog des Flow, den Gould selbst während des Spiels zu durchlaufen scheint. Der Rezipient kann an dieser Einheitserfahrung Anteil haben. Ein solches Erlebnis schildert beispielsweise der Cellist Yo-Yo Ma, als er sich an seine persönliche Begegnung mit Goulds Musik erinnert: »Gould’s mind was a brilliant and shimmering prism through which sounds, senses and ideas were magically transfigured. As a teenager hearing his 1955 CBS recording of the Bach Goldberg Variations for the first time, I experienced a musical epiphany that would 49
fuel my musical thinking for years to come…«
1964 gab Gould mit 32 Jahren seine steile Karriere als international gefeierter Konzertpianist auf, da er den Konzertbetrieb für überholt hielt.50 An der Form
46 Unter Trance verstehe ich analog zu Carter einen konzentrierten Bewusstseinszustand, bei dem man intensiv mit einer Thematik beschäftigt ist. Vgl. Carter 2010, S. 182. 47 Besonders anschaulich und nachvollziehbar in der Videoaufnahme von Goulds Rezitation des Stücks LORD OF SALISBURY PAVAN des Renaissance-Komponisten Orlando Gibbons, in: Glenn Gould. The Alchemist (EU 2002). 48 Nach dem ersten professionellen Konzert Goulds schrieb sein Vater an einen Freund: »My wife and I have always prayed, that Glenn’s music might be able to touch men’s hearts in such a way that it may be a turning point in their lives. In some measure our prayers have been answered. One mother telephoned us […] that her son […] said ›Mom, you’ve always been telling me that there was such a thing as a hereafter and a life eternal. I’ve never really believed it until I heard Glenn Gould play tonight. Now I know.‹« Vgl. Bruno Monsaingeon in: Glenn Gould. Hereafter (F 2006). 49 Lester 2007, Klappentext. 50 Das Ende von Goulds Konzertkarriere hatte künstlerische Gründe, auch physische und psychische Belastungen des öffentlichen Lebens sowie seine Publikumsscheue übten wachsenden Druck auf ihn aus. Vgl. Glenn Gould. The Alchemist (EU 2002).
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des Bühnenkonzerts beklagte er den »lack of imagination«51 und hielt es auf der Grundlage der neuen kreativen und re-kreativen Möglichkeiten der Aufnahmetechnologien für tot.52 Folglich widmete sich Gould ausnahmslos dem Experimentieren mit elektronischen Medien und wählte als neue Wirkungsstätte das Tonstudio.53 Bei Aufnahmen spielte er jeden Take ein, ohne vorher geübt zu haben. Der Grund für sein ungeprobtes Spiel lag im Bestreben, unverbraucht, empfänglich und noch nicht auf eine bestimmte Interpretation festgelegt zu sein. Bei 15 Takes klingt jede Aufnahme anders modularisiert und emotional interpretiert. Die für ihn zwingende Version wählte Gould erst am Schluss.54 Besonders angetan war Gould vom Editing-Prozess, denn hier kann die Interpretation eines Werks noch entscheidend gestaltet und beeinflusst werden: »[Editing] is more exciting than playing the piano because putting together a recording is actually like being a creator.«55 Er ist somit Teil des künstlerischkreativen Prozesses. Deshalb war Gould gegenüber Tontechnikern und Produzenten sehr bestimmt hinsichtlich der Gestaltungshoheit. Als Künstler duldete er keine Anfechtung seiner Interpretationsansätze.56 Auf diese Weise entlockte er der Musik ganz neue Ausdruckswerte.57
51 Glenn Gould in: Glenn Gould. Hereafter (F 2006). 52 Die kreativen Möglichkeiten eines Bühnenkonzerts empfand er als zu reproduktiv und sogar als »antimusical«. Vgl. Glenn Gould. The Alchemist (EU 2002). 53 Gould war ein Pionier, der die Studioaufnahme als eigenständige Kunstgattung ansah, die ihm zu einer neuen Ausdruckssprache verhalf. Vgl. Glenn Gould. Hereafter (F 2006). Da es ihm unmöglich erschien, Menschen in der Masse des Publikums individuell zu berühren, stellte für ihn die Studioaufnahme den einzig möglichen Weg dar, Menschen individuell zu erreichen. Vgl. Glenn Gould: A Portrait (CA 1985). 54 Vgl. Weagel, Deborah: Musical and Verbal Counterpoint in Thirty Two Short Films About Glenn Gould, in: Suzanne Lodato und David Francis Urrows (Hrsg.): Word and Music Studies, Essays on Music and the Spoken Word and on Surveying the Field, New York: Editions Rodopi B. V. 2005, S. 182. 55 Glenn Gould sinngemäß in: Glenn Gould: Life & Times (CA 2003). 56 Andrew Kazdin, Goulds langjähriger Produzent, litt zunehmend unter dessen Bevormundung. Vgl. Kazdin, Andrew: Glenn Gould. Ein Portrait, Zürich: Schweizer Verlagshaus 1989. 57 Besonders anschaulich hinsichtlich Goulds experimenteller Arbeitsweise im Studio ist der Stereo-Aufnahme-Prozess von Alexander Skrjabins DÉSIR, op. 57 no. 1 und CARESSE DANSÉE, op. 57 no. 2 (beide 1910) aus dem Jahre 1974 mit verschiedenen Aufnahmewinkeln und -perspektiven, angelehnt an die Kameratechniken des Films. Vgl. Glenn Gould. The Alchemist (EU 2002).
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Bereits in den 1970er Jahren formulierte Gould seine Vision einer idealen Musik, zugleich Vision einer demokratisierten Musik, in der der Rezipient selbst am künstlerischen Prozess beteiligt ist: Es wird eine Anzahl an Takes eingespielt. Der Hörer bekommt das ganze Paket, kann und soll es selbst zusammenstellen und nach seinem Gusto abmischen. Der Rezipient nimmt dabei nicht nur eine konsumatorische Haltung ein, sondern hat selbst Teil am kreativen Prozess und ist in seiner Rolle als aktiv Wahrnehmender gleichsam Co-Kreator. Am folgenden Ausspruch Goulds wird deutlich, dass er in seiner Kunst ein relationales Kommunikationsmodell verfolgte, in dem der Komponist, der Interpret und der Rezipient in einer dialogischen Beziehung stehen: »I think in fact we are coming into a time where […] the old stratified notions of composer, performer, listener and so on become intermingled. […] The listener and the maker are intermingled. And in a way that takes us again back to our old thoughts about the medieval age because the performer as composer as listener becomes like the illustrators/illuminators who served a purpose larger than themselves. And it seems to me that what went wrong in music went wrong in the 18th century when the composer, the performer and the audience split off and became isolated. I want to see them back into a cos58
mic rapport once again.«
T HE I DEA OF NORTH: Eine transmediale künstlerische Arbeitsstrategie Gould war besonders fasziniert vom Radio: Seine Auseinandersetzung mit diesem Medium spiegelt sich in zahlreichen Tonarbeiten der 1960er Jahre, die Gould u. a. in Kooperation mit der CBC (Canadian Broadcasting Company) erstellte. In diesem Kontext entstand auch THE IDEA OF NORTH als erster Teil der Reihe SOLITUDE TRILOGY,59 einer Reihe von Radiodokumentationen. Howard Fink fasst die Bedeutung von THE IDEA OF NORTH für Goulds eigenes Schaffen nach dem Ende der Bühnenkarriere sehr prägnant zusammen:
58 Vgl. Glenn Gould. The Alchemist (EU 2002). Herbert von Karajan bewertet in Glenn Gould: A Portrait diese Ansicht Goulds als richtungsweisend: »He created a style which led the way to the future.« 59 THE IDEA OF NORTH (1967), THE LATECOMERS (1969) und THE QUIET IN THE LAND (1977).
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»A major theme of The Idea of North is existential human communion … Gould’s contrapuntal documentaries are … his greatest creations, the realization of his desire to move from the world of performance to that of ›composition‹. It was with The Idea of North that Gould seriously launched his new genre, and began his creative adventure.«
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Da THE IDEA OF NORTH Goulds inhaltlichen Zugang zur Kreativität, seine kreativ entgrenzte, transmediale Arbeitsstrategie und die dadurch von ihm provozierten Transformationen des Musikbegriffs synthetisiert, möchte ich meinen Blick im Folgenden explizit auf dieses Werk lenken. Dabei verstehe ich THE IDEA OF NORTH weniger als Radiodokumentation, denn vielmehr als akustisches KunstBild.61 Deshalb möchte ich THE IDEA OF NORTH gemäß Ursula Brandstätters systematischer Untergliederung eines Kunstwerks in Form, Inhalt und Medialität knapp analysieren. Als Grundlage dient mir die Tonaufnahme von THE IDEA OF NORTH, welche in digitaler Form vorliegt,62 und eine von Glenn Gould selbst angefertigte Grafik über die kontrapunktische Struktur des Prologs.63 Inhaltlich greift THE IDEA OF NORTH den Topos des Nordens als archaische Narration auf, was nicht zuletzt mit der Auftragssituation zusammenhängt. 1967 lud die CBC Glenn Gould ein, sich am Programm anlässlich der Hundertjahrfeier Kanadas zu beteiligen.64 Deshalb wählte Gould eine zunächst thematisch induzierte künstlerische Arbeitsstrategie.65 Er entschied sich für das Thema des Nordens und entwickelte hieraus sein Werk. In THE IDEA OF NORTH thematisiert Gould das kreative Potenzial des unerschlossenen, lebensfeindlichen, weiten Nordens Kanadas. Die unerschlossene Arktis und Subarktis bestimmen ein Drittel der kanadischen Geografie. Der Topos des Nordens steht für ein zutiefst ka-
60 Howard Fink zitiert nach Lester 2007, S. 153. 61 Das Deutsche Guggenheim wertet Goulds SOLITUDE TRILOGY und insbesondere dessen ersten Teil THE IDEA OF NORTH als medienkünstlerische Pionierarbeit und nennt sie »oral tone poems«. Vgl. http://www.deutsche-guggenheim-berlin.de/d/aus stellungen-truenorth03.php (zuletzt aufgerufen am 10.06.2011). 62 Gould, Glenn: THE IDEA OF NORTH, CBC 1967, Neuauflage als CD: 2000. 63 Diese Grafik ist abgebildet in: Lester 2007, S. 153. 64 Vgl. http://www.hermitary.com/solitude/gould.html (zuletzt aufgerufen am 13.02. 2011). 65 Analog zu Brandstätters Modell von Form-Inhalt-Medium ergeben sich drei maßgebliche künstlerische Arbeitsstrategien, die entweder an einer äußeren Form, an einem Inhalt oder an einem bestimmten Medium ausgerichtet sein können.
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nadisches Lebens- und Kulturgefühl.66 Schon allein dieser Topos strebt nach Entgrenzung – physisch wie metaphysisch.67 Vom Norden und seiner abstrakten Weite war Gould fasziniert, hatte jedoch eine eher romantisierende, metaphorische Vorstellung. Die Angst vor menschlicher Nähe, die Erfahrung der Einsamkeit als Voraussetzung für innere Entgrenzung und ekstatischen Flow, die Suche nach einem puritanischen Ideal der Reinheit und Unberührtheit, die Stille der Natur, vielleicht auch die Konfrontation mit einer Extremsituation, all dies erzeugte in Glenn Gould die Sehnsucht nach dem Norden.68 Da der Norden jedem Menschen, der sich dorthin wagt, Einsamkeit und Isolation aufzwingt, entspricht die Allegorie des Nordens für Gould folglich einer Quelle bzw. einem Garant für Kreativität.69 Inspiriert wurde Gould durch eine private Zugreise 1964 mit dem Muskeg Express von Winnipeg nach Churchill.70 Auf dieser Reise sammelte er mit einem Tonbandgerät Stimmen und Geräusche. Das Erlebnis dieser Reise, die Begegnungen, Gespräche bzw. die Atmosphäre in seinem Zugabteil dienten Gould 1967 als inhaltliche Vorlage für sein akustisches Kunst-Bild. Er ergänzte das so entstandene Tonmaterial, sein Footage, mit fünf selbst aufgezeichneten Interviews verschiedener Personen, die in der Funktion von dramatis personae71 in reflexiver bzw. assoziativer Manier von ihrer persönlichen Beziehung zum
66 Vgl. Glenn Gould: A Portrait (CA 1985); vgl. Atwood, Margret: Surfacing, New York: Fawcett Crest 1972. 67 In der kanadischen Kultur bezeichnet der Topos des Nordens – analog zum Topos des Westens in der US-Kultur – die Sehnsucht und Notwendigkeit, sich unerschlossenes Territorium anzueignen und den Lebensraum physisch zu entgrenzen. Im Norden herrschen lebensfeindliche Bedingungen. Metaphysische Entgrenzung meint hier die subjektive, psychische Dimension einer Extremerfahrung des Lebens in einem solchen Gebiet. Vgl. Grace, Sherrill: Canada and The Idea of North, Montreal: Mcgill Queens University Press 2007; vgl. Krakauer, Jon: Into the Wild, London: Pan 2007. 68 Vgl. Stegemann 2007, S. 249. 69 Vgl. http://www.hermitary.com/solitude/gould.html. 70 »The Muskeg Express, as it is known, was an overnight excursion and it stopped at every town, village and camp site along the way. It was a most interesting trip and the train was filled with many colourful characters, each one with enough stories to fill a thousand train rides.« Penner, Fred: Train to Churchill, in: http://www.travelmanitoba. com/default.asp?page=843622 (zuletzt aufgerufen am 27.04.2011). Vgl. Salino, Brigitte: LE MONDE. In the footsteps of Glenn Gould, in the Great North (08.-09.02. 2009), in: http://www.cdn-orleans.com/2009-2010/images/stories/images/fichiers/0809/FicheSpectacleIdeeDuNordENG.pdf (zuletzt aufgerufen am 16.05.2011). 71 Vgl. http://www.hermitary.com/solitude/gould.html.
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Norden Kanadas berichten und deren kontrastierende Persönlichkeiten bewusst gewählt sind hinsichtlich Goulds dramatischem Konzept, das er selbst nach dem Prolog einführt.72 Die Medialität der Arbeit zeichnet sich durch die Verwendung des Footages aus, das Gould nach komplexen Kriterien zu einer einstündigen Radiosendung zusammenstellt, indem er die fünf Stimmen und andere Geräusche in einer ausgeklügelten Choreografie ineinander verwebt. Inhaltlich kondensiert er damit gleichsam seine eigene ästhetische Erfahrung, wie auch die der fünf Protagonisten. Im Laufe der Dokumentation entwickelt Gould jedoch keinen zusammenhängenden Plot, sondern stellt die Inhalte seines Footage vielmehr collageartig nach akustisch-formalen bzw. assoziativen Kriterien zusammen. Damit behält die inhaltliche Gesamtwirkung einen sehr offenen, beiläufigen Charakter – eben wie eine Fahrt in einem Zugabteil, während der man mal diesem, mal jenem Gesprächsfetzen folgt und sich in seiner eigenen Vorstellung einen narrativen Zusammenhang erstellt. Auch hier sickert abermals Goulds relationales Kommunikationsmodell mit dem Rezipienten als Co-Kreator durch. Formal betrachtet kann die Montage des Footages in THE IDEA OF NORTH als transmediale Collagetechnik bezeichnet werden. Am Startpunkt der Arbeit taucht eine ruhige weibliche Stimme am akustischen Horizont auf, die von ihren naturromantischen Beobachtungen der Hudson Bay aus einem Flugzeugfenster berichtet. Ihre modularisierte Melodiekurve fließt weich dahin. Sie hat bei 0:35 Minuten einen ersten akustischen Höhepunkt hinsichtlich der Lautstärke und fällt dann wieder etwas ab. Bei 0:50 Minuten stößt eine energische männliche Stimme dazu. Die Melodiekurven greifen ineinander, bis die männliche Stimme die weibliche überlagert. Ab diesem Zeitpunkt rückt die Inhaltlichkeit der Erzählungen etwas in den Hintergrund. Stattdessen gewinnt die musikalische Wirkung an Gewicht. Dennoch gibt es stets eine führende Stimme, deren Worte dem Zuhörer inhaltlich verständlich bleiben. Die weibliche Stimme erreicht ihren absoluten akustischen Höhepunkt bei 1:00 Minute, insofern sie aus dem übrigen Tonmaterial herausragt, fällt dann jedoch rapide ab, bis sie bei 1:25 Minuten ausgleitet und nahezu im Off verschwindet. Hinzu kommt stattdessen eine weitere männliche Stimme. Die weibliche Stimme kehrt bei 1:55 Minuten zurück und übernimmt die Erzählung. Schließlich werden bei 2:55 Minuten alle drei Stimmen in pluraler, kakophoner Manier zusammengeführt. Man kann sie nur noch schwer voneinander unterscheiden. Allmählich fällt das Tonvolumen ab und die Stimmen fügen sich im Hintergrund zu einem weichen Klangteppich zusammen. Trotz der Kakophonie wirken die unterschiedlichen überlagerten Stimmen nicht
72 Gould, Glenn: The Idea of North, CBC 1967, Neuauflage als CD: 2000.
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unharmonisch, sondern sie erzeugen vielmehr ein akustisches Gesamtbild, das gerade durch die aufscheinenden Kontraste der Stimmen, Intonationen und narrativen Inhalte eine spannungsreiche Einheit der Vielfältigkeiten widerspiegelt. Bei 3:00 Minuten begrüßt schließlich die Stimme Glenn Goulds den Zuhörer im akustischen Vordergrund: »This is Glenn Gould, and this programme is called The Idea of North […].«73 Nach dem Prolog und Goulds inhaltlich konzeptioneller Einführung sickert der erste Monolog durch das basso continuo74 eines ratternden Zuges – diese Vorstellung bildet gewissermaßen den Schauplatz der Szene. Fünf Protagonisten tauschen ihre Erfahrungen über das Leben im Norden aus, unterbrechen sich und antworten inhaltlich aufeinander. Gould schneidet ursprünglich voneinander unabhängige Interviews zu Dialogen zusammen und bezieht sie somit aufeinander. Dabei modularisiert er das Tonvolumen der einzelnen Stereo-Tonspuren ganz bewusst verschieden und schneidet sie so zusammen, dass die narrative Szenerie eine virtuell räumliche Dimension erhält – als ob der Zuhörer gleichsam zwischen den Konversationen im Zugabteil hin- und hergehen könnte. In diesem wogenden Rhythmus erzeugt Gould eine fast theatralisch bzw. filmisch inszenierte Wirkung von Raum und Zeit.75 Auch unter kompositorischen Gesichtspunkten wagt Gould eine Reise in unerschlossenes Territorium, mit dem Wunsch nach Entgrenzung. Auf musikalischer und technischer Ebene arbeitet er akribisch mit dem Material des gesprochenen Wortes und aufgenommenen natürlichen Geräuschen, die er wie separate, ineinander verwobene Melodiekurven behandelt. Tatsächlich komponiert er die ersten drei Minuten des Prologs nach dem kontrapunktischen Kompositionsschema der barocken Fuge. Er nennt diese Technik »contrapuntal radio«76; diese anachronistische Klangcollage-Strategie lässt sich auf Goulds bereits beschriebene Passion für Bachs kontrapunktische Musik zurückführen. Heute scheint eine solche transmediale Arbeitsweise77 nicht mehr ungewöhnlich. Doch 1967
73 Cushing 2010. 74 Fortlaufender, ununterbrochener Bass, der das harmonische Gerüst bildet. 75 Gould behandelt den virtuellen Raum wie eine Bühne, auf der er das akustisch repräsentierte Handlungsgeschehen arrangiert und inszeniert. Da er Kameratechniken wie close up und wide shot ins Akustische überträgt und im Editing-Prozess verstärkt, erzeugt er ähnliche narrative und räumlich-plastische Effekte wie im Film. 76 Cushing 2010. 77 Goulds Arbeitweise kann hier als transmedial bezeichnet werden, da er verschieden konfigurierte Zeichenverbundsysteme ineinander übergehen lässt. Er verschmilzt musikalische Kompositionstechniken, die normalerweise an das Medium eines Musikinstruments gebunden sind, mit dem Medium der dokumentarischen Tonbandaufnahme,
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konnte sie ein ganz neues Radioverständnis prägen. Indem Gould die Regeln der Radiodokumentation bricht78, transformiert er sie ein für alle Mal. Doch er geht noch einen Schritt weiter. Indem Gould Analogien zwischen der Welt des musikalischen Kontrapunkts und der technischen Audioproduktion erzeugt, begründet er eine neue Form der Komposition, die über Stift und Papier hinausreicht. In der Verbindung von Leben und Kunst, von Natürlichkeit und Künstlichkeit und besonders unter Verwendung neuester Technologien verlässt Glenn Gould sein Terrain, um die musikalisch-territoriale Grenze so weit wie möglich auszudehnen. Er transformiert bzw. erweitert damit den Musikbegriff und schafft eine eigene Kunstgattung, die für das Sampling zukunftsweisend sein wird.79 Mit seinem Schaffen setzte Gould seiner Heimat Kanada ein identitätsstiftendes Denkmal und konstituierte somit die Kultur einer noch jungen Nation entscheidend mit. Bis heute inspiriert er die Werke vieler Musiker und Komponisten, Maler und Bildhauer, Choreografen, Schriftsteller, Filmemacher und Kulturphilosophen – sei es durch seine Persönlichkeit, sei es durch seine Arbeitsstrategien. Das kreative Grundprinzip der Intertextualität setzt sich hier weiter fort.80
das er wiederum mit den zur Verfügung stehenden Medien im Schneidelabor manipuliert. Dabei entsteht ein neues Medium mit besonderen Qualitäten. 78 In einer konventionellen Radiodokumentation ist dokumentarisches Footage so zusammengeschnitten, dass informative Zusammenhänge möglichst objektiv vermittelt werden. Gould wendet sich dagegen und stellt dieses Footage so zusammen, dass nicht nur eine abstrakte, fiktive Narration entsteht, sondern das Footage zweckentfremdet wird. Es erhält so nicht mehr dokumentarischen, sondern klangkünstlerischen Wert. 79 In der Musik bezeichnet Sampling (engl. sample: Stichprobe, Auswahl) den Vorgang, einen Teil einer Ton- oder Musikaufnahme in einem neuen, häufig musikalischen Kontext zu verwenden. Vgl. Großmann, Rolf: Collage, Montage, Sampling. Ein Streifzug durch (medien-)materialbezogene ästhetische Strategien, in: Harro Segeberg und Frank Schätzlein (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien, Marburg: Schüren 2005, S. 308-331. 80 Künstler beziehen sich in ihren Werken direkt oder indirekt auf Gould, knüpfen an seine Arbeitsstrategien und Inhalte an. Zeugnisse dafür sind z. B. die Romane DER UNTERGEHER (1983) von Thomas Bernhard und THE SILENCE OF THE LAMBS (1988) von Thomas Harris, sowie die experimentellen Dokumentarfilme Thirty two Short Films about Glenn Gould (P/CA/FIN/NL 1993) von Francois Girard und Pilgrimage to Solitude (CA 2009) von Mark Laurie.
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Ableitungen für die Kunstpädagogik Abschließend wird erörtert, welche Potenziale ein interdisziplinärer kunstwissenschaftlicher Blick eröffnet und inwieweit er Transformationen provozieren kann. Dabei greife ich auf die an Glenn Gould konkretisierten Kernkriterien dieses Aufsatzes zurück und konfrontiere sie mit kunstpädagogischen Positionen. Zu den Kernkriterien gehören die Kreativität, die kreative Persönlichkeit, kreative Arbeitsstrategien sowie das aus Inhalt, Medialität und Form zusammengesetzte kreative Produkt. Nach Georg Peez ist ästhetische Bildung durch ästhetische Erfahrung das Hauptziel der Kunstpädagogik.81 Die ästhetische Erfahrung als Ziel der Kunstpädagogik lässt sich in allgemein anerkannte Teilziele untergliedern, wovon die gelebte Kreativität als eines zu nennen ist.82 Kreativitätsförderung hat die kreative Persönlichkeit im Blick: »Die Bestimmung von Persönlichkeitsmerkmalen spielt für die Erkennung kreativer Personen als Voraussetzung für gezielte Förderung, aber auch für die Beurteilung und Beeinflussung von (kreativen) Gruppenprozessen eine Rolle.«83 Horst Schiffler zufolge ist das Wissen um kreative Persönlichkeitsmerkmale fundamental für kreative Förderprozesse. Durch eine interdisziplinäre Perspektive kommen neue Facetten von Kreativität ans Licht, wodurch sich das Verständnis von kreativem Arbeiten in der Kunstpädagogik bereichern kann. Übertragen auf die Beobachtung von Goulds kreativer Persönlichkeit können folgende Erkenntnisse auf die kreativitätsfördernde Arbeit abgeleitet werden: Spezifika einer Persönlichkeit zulassen bzw. fördern, sensible Menschen mit besonderer Achtsamkeit behandeln, Raum schaffen für die Entfaltung ihrer individuellen Neigungen und Talente, Freiheit ermöglichen, über etablierte normative Grenzen hinauszugehen, spielerische Experimentierfelder eröff-
81 Ästhetische Bildung als wahrnehmende und erkundende Zuwendung zur Welt und zum Selbst ist nicht auf Kunstunterricht begrenzbar, sondern durchdringt alle Lebensbereiche. Ästhetische und kulturelle Selbstbildungsprozesse können jedoch kunstpädagogisch angeregt und gefördert werden. Vgl. Peez, Georg: Einführung in die Kunstpädagogik, Stuttgart: Kohlhammer 2005. Der Begriff ästhetische Erfahrung wird hier verstanden im Sinne von John Dewey. Vgl. Dewey, John: Kunst als Erfahrung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988. 82 Neben der Kreativität sind Sensibilität, Kommunikationsfähigkeit, Genussfähigkeit, Fähigkeit zu ästhetischer Reflexion und ästhetischer Organisation als Teilziele zu nennen. Vgl. Eid, Langer und Ruprecht 2002, S. 161-192. 83 Schiffler, Horst: Fragen zur Kreativität, Ravensburg: Ravensburger 1985, S. 11, zitiert nach Eid, Langer und Ruprecht 2002, S. 165.
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nen. Gerade das divergierende, spielerisch experimentierende Denken in Balance zur intellektuellen Reflexion auf einer Meta-Ebene ist Voraussetzung für kreative Transformationen.84 Doch diese nonkonformistische Möglichkeit zum entgrenzenden Experiment kann auch zu problematischen Extremfällen führen. Glenn Gould überschritt sein Leben lang etablierte Formen, um Gestaltungsraum zu gewinnen. Der aus dieser avantgardistischen Haltung resultierende gesellschaftliche Stress strapazierte seine sensible Persönlichkeit ebenso wie seine Gesundheit und führte neben anderen Auslösern letztlich zu psycho-pathologischen Symptomen.85 Das Ausdehnen von gesellschaftlichen Grenzen muss jedoch nicht zwangsläufig in soziale Isolation führen, wie bei Gould. Im Rahmen einer sensiblen rezeptiven wie produktiven Kunst- und Kreativitätspädagogik – und damit auch Wertepädagogik – bekommt ein Kind schon früh die Möglichkeit, in vertretbarem Rahmen etablierte, normative Formen zu verlassen, ohne Ausgrenzung zu erleben. Dies ist notwendig für ein gesundes, selbstbewusstes Leben in einem weiten, frei und mündig gestaltbaren Lebensraum. Auf dieser Grundlage ist Kunst zu verstehen als eine Form der Lebensbewältigung. In THE IDEA OF NORTH reflektiert Gould auf ästhetische Weise über die Kompositionstechnik der Fuge, über den archaischen Topos des Nordens, über neue mediale Möglichkeiten und Technologien und eine daraus resultierende akustische Ästhetik, bis hin zu einer Entgrenzung des Kunstbegriffs durch ein relationales Kommunikationsmodell mit dem Rezipienten als Co-Kreator. Dem Arbeitsprozess geht ein intensives ästhetisches Reflektieren des Produzenten über Inhalt, Form und Medialität eines zu entstehenden Werks voraus, was im kreativen Prozess der Inkubationsphase entspricht. Inhaltlich verfolgt Gould einen subjektiv biografischen, feldforschenden Ansatz mit Verbindungen zu alltäglichen Lebenswelten. Dafür findet er eine bewusst reflektierte, konzeptionelle
84 Vgl. Oerter, Rolf: Psychologie des Spiels, Basel: Beltz 1999, S. 298-303, hier S. 303: »Die künstlerische und die spielerische Tätigkeit haben als formale Merkmale Selbstzweck und intrinsische Regulierung miteinander gemeinsam.« Vgl. auch Michl, Thomas: Das Experiment im Kunstunterricht, München: Kopäd 2010. 85 Über die Jahre verschlechterte sich Goulds Gesundheit. Er entwickelte Neurosen, nahm aus Angst vor Krankheiten eine Vielzahl starker Medikamente, lebte zunehmend zurückgezogen in einem vollgestellten Hotelzimmer und verlagerte sein Leben auf die Nacht. Trotz massiver werdender psychischer Probleme bewahrte sich Gould jedoch in gewisser Weise seinen speziellen Humor, seine kreative Vorstellungskraft, Begeisterungsfähigkeit und unbeschwerte Kindlichkeit. Im Alter von fünfzig Jahren starb er an den Folgen mehrerer Schlaganfälle.
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Form, die verschiedene künstlerische Spezifika vernetzt.86 In der konkreten Umsetzung seiner transmedialen Klang-Collage THE IDEA OF NORTH verwendet Gould Medien aus der Subkultur, überträgt sie jedoch auf zweckentfremdende, spielerisch experimentelle und gleichzeitig konzeptuell berechnete Art und Weise in die musikalisch hoch elaborierte Form der barocken Fuge. Damit überschreitet er die normativen Grenzen seiner Arbeitsmedien und vernetzt Alltagsleben mit Kunst. In Haltung der Balance zwischen sozialer Konfrontation und reflektierendem Rückzug erschließt Gould letztlich Neuland.87 Dieser Ansatz erinnert und verweist auf die aktuelle kunstpädagogische Methode der Ästhetischen Forschung nach Helga Kämpf-Jansen.88 Für ihr Konzept ist zentral, dass aufgrund des erweiterten Kunstbegriffs und der Orientierung am einzelnen handelnden Subjekt innerhalb der gegenwärtigen Kunstpädagogik eine Öffnung auf alle Fragestellungen hin stattfindet, die für den Einzelnen relevant sind. Alles kann in diesem Sinne bildnerisch untersucht und bearbeitet werden. Ästhetische Forschung kann sich auf alle real gegebenen wie fiktiv entworfenen Dinge, Objekte, Menschen und Situationen beziehen. Sie nutzt alle zur Verfügung stehenden Verfahren, Handlungsweisen und Erkenntnismöglichkeiten aus den Bereichen der Alltagserfahrung, der Kunst und der Wissenschaft, und ähnelt darin der Verschmelzung von Kunst und Leben in Goulds Werk. Dies birgt nicht nur enormes transformatorisches Potenzial für den Kunstschaffenden und das kreative Produkt, sondern letztlich auch für den Rezipienten. Denn in diesem Fall eröffnet Goulds erweiterter Musikbegriff dem Rezipienten eine co-kreative Erfahrung. Der Rezipient hat entscheidenden Anteil am künstlerisch-kreativen Prozess.89 Man kann gleichsam von einem basisdemokratischen Kunstverständnis sprechen, das den Spalt zwischen Kunst und Leben verringert.90
86 Gould verbindet die musikalische Qualität der Fuge mit theatral-filmischen Schneidestrategien und erzeugt auf semantischer Ebene innere Bilder. 87 Gould wird inspiriert durch die Begegnungen auf der Reise mit dem Muskeg Express, die er anschließend im Tonstudio verarbeitet. 88 Vgl. Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft, Köln: Salon 2004. 89 In THE IDEA OF NORTH provozieren Goulds Editing-Strategien die Fantasie des Rezipienten und animieren ihn dazu, in seiner Vorstellung eine eigene Narration zu entwickeln. 90 In dem Sinn, dass sich das Werk in der Wahrnehmung eines jeden individuellen Rezipienten konstituiert. Vgl. analog hierzu Dewey 1988, S. 62.
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Resümee Ein Musikwissenschaftler würde diesen kunstpädagogischen Zugang zu Glenn Gould vielleicht nicht befürworten oder könnte ihn sogar als Fehlinterpretation, Instrumentalisierung oder Vereinnahmung auffassen. Ich möchte meinen Ansatz als kleines Experiment verstanden wissen und nicht etwa als dogmatische These. Dieses Experiment der fachfremden Betrachtung eines Musikers mithilfe übergeordneter Kriterien aus der Kreativitätsforschung zeigt, dass Arbeitsmethode und -produkt eines Künstlers anderen Genres durchaus nicht fremd bleiben müssen. Ebenso konnte am Beispiel von Gould demonstriert werden, dass durch übergeordnete Kriterien ein schneller Zugang zum Verständnis seiner Persönlichkeit und seines künstlerischen Ansatzes gefunden werden kann. Wenn Fremdheit verschwindet, geschieht Orientierung in vorerst unerschlossenem Gebiet. Plurales Miteinander im Welsch’schen Sinne birgt die Chance zur Erweiterung. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Dies trifft schon für das Kunstwerk selbst zu, das mehr ist als eine Summe aus Form, Inhalt und Medium. Wie eine Brücke zwischen Kunst und Leben vermittelt die Kunstpädagogik diesen kunstimmanenten Mehrwert. In Zeiten des drohenden kulturellen Kahlschlags muss sie sich bewusst sein, dass Kunst von gesellschaftlicher Bedeutung ist, da sie intra- wie intersubjektives transformatorisches Entwicklungspotenzial hat und identitätsstiftend bzw. kulturkonstituierend sein kann. Eine interdisziplinäre Methode, die sich anhand übergeordneter Universalia schnellen Zugang zu eigentlich fremden Kunstformen verschafft, ermöglicht Erkenntnisse, die sich auch auf Vermittlungsprozesse bereichernd auswirken können. Eine solche Auseinandersetzung mit neuen Horizonten geht analog zu den ersten beiden Phasen des kreativen Prozesses, Präparation und Inkubation. Wenn der kreative Prozess auf der Basis des kreativen Grundprinzips Intertextualität natürlich abläuft, wird eine interdisziplinäre Vernetzung innerhalb der Kunstwissenschaften Transformationen auslösen und eine Öffnung hin zu transmedialen Kunstformen ermöglichen, die mitunter nahe an Subkulturen und somit nahe an kultureller Alltagswelt angesiedelt sind. Durch eine solche Hinwendung zu aktuellen Inhalten und kulturkonstituierenden Ausdrucksformen kann Denken entgrenzt werden. Entgrenztes Denken führt zu entgrenzten Arbeitsweisen und umgekehrt. Dadurch kann persönliche und gesellschaftliche Transformation stattfinden. Vielleicht erzeugt gerade Entgrenzung eine Neuorientierung und Weiterentwicklung der Fachdisziplinen. So werden die Kunstwissenschaften letztlich dem einzelnen Menschen, der entgrenzten Kunst und der vernetzten pluralen Gesellschaft gerechter und können zur Orientierung in einer pluralen Gesellschaft und Welt beitragen.
Nam June Paiks HOMMAGE À JOHN C AGE. Entgrenzung als künstlerisches Prinzip zur Transformation der Gesellschaft A LEXANDRA V INZENZ
Die 1950er und 1960er Jahre feiern ihr Comeback. Nicht nur die Modebranche oder die Möbeldesigner bedienen sich des Retrolooks, sondern, so scheint es, auch die Filmmusik findet Geschmack an dieser Zeit. Besonders interessant in diesem Fall ist der auf der Berlinale 2010 erstmals präsentierte Soundtrack der Hollywood-Produktion SHUTTER ISLAND (USA 2010; R: Martin Scorsese): Neben Musik von Krzysztof Penderecki, György Ligeti oder auch Morton Feldman finden Kompositionen von John Cage und Nam June Paik Einzug in den Film. Die meisten Stücke werden der musikalischen Avantgarde der 1950er Jahre zugerechnet und markieren damit das im Film intendierte Jahr 1954.1 Die Wahl des Paik’schen Weltdebüts HOMMAGE À JOHN CAGE von 1959 überrascht hierbei, da es einerseits bisher in Filmen keinerlei Verwendung fand und andererseits durch einen derartigen Einsatz neu kontextualisiert wurde. Ursprünglich als Aktion entstanden, wird im Film ein minimaler Ausschnitt des Werks auf seine ausschließlich auditive Wirkungsmacht reduziert. Diese rein musikalische Verwendung steht in gewisser Weise im Gegensatz zur bisherigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit Paik, die überwiegend vonseiten der Kunstgeschichte und weniger von der Musikwissenschaft erfolgte. Die beiden
1
Die Musikauswahl wurde sehr bewusst von Robbie Robertson getroffen. Auf seiner Homepage zum Soundtrack von SHUTTER ISLAND heißt es: »After I read the script I suggested to him [Martin Scorsese] that instead of a traditional film score, that I put together a batch of music centering around modern classical composers with a few songs from the time period of the movie sprinkled in.« http://www.robbierobertson.com/biography/ (zuletzt aufgerufen am 25.02.2010).
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Fächern inhärenten methodischen Annäherungen stoßen gerade bei der Betrachtung des frühen Werks Paiks immer wieder an ihre Grenzen und kontrastieren mit den Absichten des Künstlers, was an folgender Aussage deutlich wird: »Kunstgeschichte und Musikwissenschaft litten zu lange unter der Trennung des Untrennbaren. Die technologische Unterteilung der Werke, die Darwinsche (?) [sic] Konzeption der Entwicklung […], die Wölfflinsche [sic] Stilbesessenheit, endloses Zwiebelhäuten, um herauszufinden, wer wen beeinflusste … all diese Schlingen töten den Gegenstand der Studie vor dem Studium.«2
Die eigene künstlerische Verortung Paiks zeigt die gleichen Bestrebungen: Die im Folgenden fokussierten Eckpunkte John Cage, Karlheinz Stockhausen und Joseph Beuys sollen nicht nur biografisch, sondern vor allem inhaltlich die Bandbreite des koreanischen Künstlers veranschaulichen. Dazu schlage ich die Entgrenzung der künstlerischen Disziplinen als Paiks Prinzip vor, um transformierend auf die Gesellschaft wirken zu können. Der Begriff der Intermedialität soll in diesem Zusammenhang bewusst größtenteils ausgespart bleiben, da er erst 1966 von Dick Higgins in seinem Aufsatz Intermedia geprägt wurde.3 Eine rückwirkende Verwendung für Paiks HOMMAGE scheint mir nicht angebracht, da er hier zwar – wie noch zu zeigen ist – parallel verschiedene Medien einsetzt, doch diese noch nicht miteinander verschmilzt; das Werk darf daher als Vorstufe intermedialer Bestrebungen gelten. Hinzu kommt, dass das frühe Werk Paiks noch eng an ihn als Ausführenden gekoppelt ist. Daher kann erst nach der eingehenden Analyse des Werkes und der künstlerischen Mechanismen der Frage nach der ursprünglichen Intention der HOMMAGE À JOHN CAGE nachgegangen werden, um abschließend eine Aussage über den Einsatz von Paiks HOMMAGE in SHUTTER ISLAND treffen zu können.
2
Paik, Nam June: Norbert Wiener und Marshall McLuhan, in: Institute of Contemporary Arts Bulletin 3 (1972), wieder abgedruckt in: Wulf Herzogenrath (Hrsg.): Nam June Paik. Werke 1946-1976. Musik – Fluxus – Video, Kat. Ausst. Kölnischer Kunstverein, Köln 1976, S. 121-125, hier S. 123.
3
Den Aufsatz publizierte er in seinem eigens 1964 in New York gegründeten Verlag, der Something Else Press; siehe ausführlicher auch zu dem Aufsatz Schilling, Jürgen: Aktionskunst. Identität von Kunst und Leben? Eine Dokumentation, Luzern/Frankfurt a. M.: Bucher 1978, S. 96f.
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Dies ist nur ein Beispiel für den durchaus schwierigen Umgang mit Performance-Art über ihren Handlungsraum hinaus.4
H OMMAGE À JOHN CAGE: Entgrenztes Weltdebüt Die auf dem Soundtrack zu SHUTTER ISLAND wiedergegebene HOMMAGE À JOHN CAGE – MUSIK FÜR TONBÄNDER UND KLAVIER vermittelt einen Audioeindruck, der durch seine collageartige Zusammenstellung besticht. Auf einer Dauer von ca. vier Minuten werden verschieden lange Tonbandschnipsel abwechslungsreich montiert. Wenn auch aufgrund fehlender Äußerungen Paiks keine konkreten Aussagen über den Inhalt des Klangmaterials getroffen werden können, so sind wesentliche Charakteristika dessen auszumachen: Neben alltäglichen Geräuschen kommen Auszüge aus Reden, mehrere Bruchstücke verschiedener (meist Radio-)Musik, Stimmen, Gong-Schläge oder auch ein Piepton, wie etwa der des TV-Testbildes, zum Einsatz. Die technisch überarbeiteten Tonstücke werden auf unterschiedliche Weise aneinandergereiht und schaffen immer wieder deutliche Zäsuren – vor allem durch den Wechsel lauter und leiser Passagen –, die das Werk strukturieren, so dass insgesamt, durch den zunehmenden Wechsel neuer Tonbandstücke, das Werk in einem crescendierenden Schluss abrupt endet. Der Hörer bleibt damit in einem Scherbenhaufen von Klangschnipseln stehen und weiß kaum einen Schwerpunkt zu legen. Paik führt mit seiner HOMMAGE eine Medienvielfalt auf Tonband vor, die den Hörer unmittelbar mit der Problematik des Aufnehmens konfrontiert und die Überdosierung von Informationen im medialen Zeitalter vorführt. Der hier beschriebene Höreindruck ist das Resultat eines langen Entstehungsprozesses des Werks, das eigentlich von seinen aktionalen Handlungen, die einen ebenso verstörenden Eindruck hervorriefen, lebt. Nachdem sich Paik zunächst der traditionellen Musikkomposition näherte, löste sein erster Besuch der Darmstädter Internationalen Ferienkurse für Neue Musik 19575 bei ihm ein
4
Ergänzen ließe sich dies beispielsweise durch eine Untersuchung der Ausstellbarkeit
5
Die Teilnahme verdankt er seinem damaligen Freiburger Kompositionslehrer Wolf-
der dem Bereich der action music zugerechneten frühen Werke Paiks. gang Fortner. Vgl. Jean-Pierre Wilhelm in seiner Einführungsrede zu NEO-DADA IN DER
MUSIK am 16.06.1962 in den Düsseldorfer Kammerspielen, unveröffentlichtes
Typoskript im Nachlass, in Auszügen publiziert in: Rennert, Susanne: »On sunny days, count the waves of the Rhine. On windy days, count the waves of the Rhine.«
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Umdenken aus und schlug sich in den Ideen zu einem kammermusikalischen Werk im Geiste der neuen Musik nieder, welches er wegen der vom Gründer der Darmstädter Ferienkurse, Wolfgang Steinecke, bemängelten rhythmischen Schwierigkeiten »zu elektronischer Musik umschreiben«6 wollte. Diesen Entschluss fasste er nach einem erneuten Besuch der Darmstädter Ferienkurse im Jahr 1958, wo er den amerikanischen Komponisten John Cage kennengelernt hatte.7 Diese Begegnung markiert einen wichtigen Wendepunkt im Schaffen Paiks, denn in einem Schreiben an Steinecke am 8. Dezember 1958 verkündet er, dass er als direkte Reaktion auf die erfahrene Akomposition Cages nun selbst Amusik schreibe und dies in seinem neuen Stück »hommage à M. John Cage«8 erfolgen solle. Um die Aufführung dieses neuen Werks in Darmstadt bittet er Steinecke in einem Schreiben am 2. Mai 19599; so weit kommt es jedoch nicht.10
Nam June Paiks frühe Jahre im Rheinland (1958-1963), in: Sediment. Mitteilungen zur Geschichte des Kunsthandels 9 (2005), S. 9-26, hier S. 9. 6
Brief von Paik an Steinecke vom 18.05.1958, abgedruckt in: Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Hrsg.): Darmstadt – Dokumente I, München: edition text + kritik GmbH 1999 (Musik-Konzepte. Sonderband, 1/99), S. 118f., hier S. 119; vgl. hier auch den ausführlichen Briefwechsel (hauptsächlich zwischen 1957 und 1959) von Paik und Steinecke S. 110-132.
7
Paik hat Cages »Musik angezogen und nicht seine Theorie« und so wurde er in der Folge zum »glühenden Cageianer«. Paik, Nam June: »B.C/ A.D.«, in: MusikTexte 46/47 (1992), S. 68f., hier S. 68.
8
Brief von Paik an Steinecke vom 08.12.1958, abgedruckt in: Metzger und Riehn 1999,
9
Vollständig abgedruckt ist der Brief von Paik an Steinecke vom 02.05.1959 u. a. in:
hier S. 123. Herzogenrath Kat. Ausst. 1976, S. 39-41. 10 Für diese Information danke ich Frau Claudia Mayer vom Internationalen Musikinstitut in Darmstadt. Der Grund für die Absage Steineckes, die HOMMAGE À JOHN CAGE von Paik ins Programm aufzunehmen, ist inhaltlicher Natur. In einem Schreiben vom 13.05.1959 rät ihm Steinecken, »in einem normal zu kontrollierenden musikalischen Bereich« wie beispielsweise Cage zu komponieren. Brief von Steinecke an Paik vom 13.05.1959, abgedruckt in: Metzger und Riehn 1999, S. 128. Das Interesse verliert Steinecke jedoch noch nicht und bittet um Tonbänder, die ihm Paik nach der Uraufführung zukommen lässt; zu den Kritiken dieses Tonbandes siehe die Reaktionen Luigi Nonos, Pierre Boulez’ und Heinz-Klaus Metzgers in: Gianmario Borio und Hermann Danuser (Hrsg.): Im Zenit der Moderne. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt 1946–1966. Geschichte und Dokumentation in vier Bänden,
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Die erste Probe der HOMMAGE findet im eigenen Atelier im Oktober 1958 statt und sein öffentliches Debüt am 13. November 1959 in der Düsseldorfer Galerie 22 von Jean-Pierre Wilhelm.11 Bereits in seinem Schreiben an Steinecke gliedert Paik seine HOMMAGE in drei Sätze unterschiedlichen Charakters: Für den ersten Satz sieht er vor, dass das »Materiell [sic] ist Radio-collage und Sprache. Die Sprache ist auf ihre primitive Stufe zurückgeführt […]. Die Rhythmen sind als Einheit konzipiert«, der zweite Satz hingegen solle »so langweilig wie möglich« sein und zugleich »eine Verwarnung zu der Wirtschaftswunder [sic] der Deutschen, Wo [sic] Fleißigkeit und Dummheit in Eins gebunden ist«.12 Hierfür sah er zwei prepared pianos sowie einige Spielzeuge vor. Der dritte Satz sollte dann »eher eine musikalische Philosophie als ein [sic] philosophische Musik«13 sein, also wieder verstärkt mit Sprache arbeiten. Auch die meisten der später zum Einsatz kommenden Materialien führt Paik in diesem Brief an: Das präparierte Klavier, dessen Umstürzen – nach vorheriger normaler Nutzung – das Ende der Performance markieren und damit das bürgerliche Statussymbol der Vorkriegszeit zu Fall bringen solle, wird ebenso genannt wie die Tonbandgeräte, von denen Paik die unterschiedlichsten
Bd. 2 (Rombach Wissenschaften, Reihe Musicae, 2), Freiburg: Rombach 1997, S. 269f. 11 Zu den Anwesenden vgl. Rodler, Anne: ⎟⎟: Cage ⎟ Paik ⎟ Stockhausen :⎟⎟ Ein Exkurs zur Musikszene in Köln um 1960, in: Renate Buschmann und Stephan von Wiese (Hrsg.): Fotos schreiben Kunstgeschichte, Kat. Ausst. museum kunst palast Düsseldorf, Köln: DuMont 2007, S. 37-44, hier S. 37f., darin auf S. 38 und 45-47 die Fotografien der Aktion zu verschiedenen Anlässen von Manfred Leve. 12 Wie im Einzelnen die Präparierung der Klaviere aussehen sollte, legt Paik nicht dar, genauso wenig ist etwas dazu anlässlich der diversen Aufführungen der HOMMAGE bekannt. Denkbar ist die Modifikation des Instruments durch eingeschlagene Nägel, gespannte Drähte, Dekoration mit diversen Gegenständen und Materialien; eine Pauschalisierung für die prepared pianos zu geben, ist bei Paik nicht möglich. Gleiches gilt für das Kinderspielzeug, das zum Einsatz kam – wie im Fall der HOMMAGE eine Spieluhr. 13 Zitate dieses Absatzes aus: Brief von Paik an Steinecke vom 02.05.1959, abgedruckt in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1976, S. 39f. Wie wichtig für Paik die Mitteilung in Sprache ist, zeigen seit den 1960er Jahren die zahlreichen Publikationen, denen ein ebenso künstlerischer Gehalt wie den Werken zugesprochen werden muss. Vgl. Herzogenrath, Wulf: Der ost-westliche Nomade im globalen Netz – zurückgezogen, in: ders. (Hrsg.): Nam June Paik. Fluxus/Video, Kat. Ausst. Kunsthalle Bremen, Köln: Walther König 1999, S. 10-15, hier S. 11f.
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Dinge ablaufen lassen möchte. Zeitungsartikel berichten von wahnsinnigen Schreien und Rundfunknachrichten über die Außenministerkonferenz.14 Neben dem Einsatz des neuen Massenmediums kam auch organisches Material in Form eines Eies zum Einsatz, das ungekocht an die Wand geworfen und damit als Symbol des Lebens zerstört wurde.15 Im Sinne einer Verkündigung löschte Paik den Berichten zufolge im zweiten Drittel »das Licht und entzündete die Kerze«, so dass mit dieser statischen Handlung sowie dem Fehlen von auditiven Elementen ein ruhigerer Teil folgte, bevor das finale furioso mit dem umstürzenden Klavier endete.16 Außerdem wurden Alltagsgegenstände verwendet, wie z. B. eine Spieldose. Allein die Heterogenität der Materialien zeigt, dass bei der Aktion, wie auch bei der reinen Hörfassung, die Verstörung des Publikums vorprogrammiert war. So schafft Paik während seiner Aktion eine Klangcollage, die sowohl aus aufgenommenem als auch live vorgetragenem Tonmaterial besteht, das stellenweise von Paiks eigener Stimme während der Performance übertönt und um Geräusche von Alltagsgegenständen ergänzt wurde. Die Realisierung dieses Potpourris während einer performativen Handlung erforderte nicht nur eine gute Vorbereitung, sondern auch eine genaue Vorstellung des Künstlers bezüglich des Ablaufes in einem knappen zeitlichen Rahmen. Das Werk entstand demnach erst während der Aktion und ist nicht, wie es die heutige Aufnahme suggeriert, ein rein elektronisches Stück, das beliebig abgespielt werden kann; die Einmaligkeit besteht auf gravierende Weise in der Variation des Werks bei jeder Auffüh-
14 Klose, G. Johannes: Ein Müllmann und ein Eierwerfer. Eröffnung in der Galerie 22/ Mit Geschrei und Scherben, in: Düsseldorfer Nachrichten, 14.11.1959, abgebildet in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1999, S. 27 (siehe hier auch die minutiöse Auflistung der Materialien und der Beschreibung des Aktionsverlaufs). Es handelte sich nach Hans G. Helms um Aufnahmen der Stimmen von ihm und Paik, die zusammen mit Restaufnahmen aus dem WDR-Studio für elektronische Musik (vgl. Anm. 27) auf Band montiert wurden und abliefen. Vgl. Helms im Telefongespräch mit Anne Rodler am 25.09.2007, in: Rodler 2007, S. 37. 15 Dass die verwendeten Materialien metaphorisch bewusst eingesetzt wurden, bestätigt Mary Bauermeisters Aussage in Bezug auf das Ei: »das hatte etwas kunsthistorisch sehr wichtiges«. Mary Bauermeister im Gespräch mit Susanne Rennert am 26.01.2005, zitiert nach Rennert 2005, S. 15. 16 –gpf –: Mutter, der Mann mit dem Schrein ist da… Zurücktreten, bitte – Musik!. Kritik der Aktion in Jean-Pierre Wilhelms Galerie 22, Düsseldorf, in: einer Düsseldorfer Zeitung, Mitte November 1959, abgedruckt in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1976, S. 42.
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rung.17 Das visuelle Verweissystem über die genannten Metaphern bleibt darüber hinaus beim reinen Audioeindruck verborgen; die Idee der Demokratisierung von Kunst durch die Zurücknahme des Autors in den elektronischen Klängen oder den Einbezug von Alltagsgeräuschen wird somit wieder negiert. Die Bedeutung der HOMMAGE in Paiks Werk, als das erste seiner so genannten action music18, – die ihm die Bezeichnung des »Kulturterroristen«19 einbringt – entsteht erst durch den synästhetischen Eindruck. Hinsichtlich des künstlerischen Verfahrens darf der Zusammenfassung von Thomas Ernst in seiner Aufführungskritik gefolgt werden: »Die Arbeitsformel heißt: Collage und Montage!«20 In dieser Arbeitstechnik zeigt sich die Konstruktion, zugleich jedoch durch die zerstörenden Momente, wie dem umstürzenden Klavier, die für Fluxus typische Destruktion.
Amerika – Europa – Asien: Künstlerische Verortung Vereint »gegen die Dominanz der ›reichen Kunst‹« stellt sich nach Paik für »ALLE avantgardistische darstellende Kunst, einschließlich Cage, Stockhausen,
17 Paik griff auf seine HOMMAGE À JOHN CAGE immer wieder zurück. So nach der Uraufführung z. B. erneut im Rahmen des Contre-Festivals vom 17. bis 19.06.1960 im Atelier Mary Bauermeister, wobei Paik, dem versuchsweise neutralen Bericht von Thomas Ernst zufolge, einen Rosenkranz ins Publikum warf, (Ernst, Thomas: Weltmusik mit »Avantgarde«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.06.1960, abgedruckt in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1976, S. 43) sowie neue Medien (Film-, Diaprojektionen und Radio) zum Einsatz kamen. Vgl. Historisches Archiv der Stadt Köln (Hrsg.): intermedial, kontrovers, experimentell. Das Atelier Mary Bauermeister, bearb. von Wilfried Dörstel, Köln: Emons 1993, S. 31. 18 In einem Brief an Mary Bauermeister (vom 14.11.1967, Manuskript im Historischen Archiv der Stadt Köln, HAStK, Best.: 1441, Nr. 28, abgedruckt in: Paik, Nam June: Niederschriften eines Kulturnomaden. Aphorismen – Briefe – Texte, hrsg. von Edith Decker, Köln: DuMont 1992, S. 74f., hier S. 74) führt Paik diesen Begriff für seine frühen Arbeiten ein: »Die meisten meiner sogenannten ›action music‹-Stücke können nicht von anderen Performern gespielt werden«. 19 Edith Decker in der Einleitung des von ihr herausgegebenen Bandes Paik 1992, S. 914, hier S. 12. 20 Ernst 1960.
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Cunningham«21 häufig die Frage, wie sich die künstlerischen Disziplinen zueinander verhalten. So darf die Entgrenzung bei Paik nicht etwa als Fusion der Künste verstanden werden, sondern als Auflösung der Gattungsgrenzen.22 In diesem Zusammenhang ist die eigene Verortung Paiks in seinem Schreiben an Steinecke im Vorfeld der HOMMAGE interessant: »Marcel Duchamp + Dostojewsky = K. Schwitters […] Die Präparierung des Klaviers ist ganz anders als J. Cage« und er kommt zu dem Schluss: »Ich möchte den Dadaismus mit Musik ergänzen, […] Antithese zum ›Zwölftonmanierismus‹ […] (Doch liebe Ich Heute [sic] noch Schönberg und Stockhausen sehr).«23 Es ist somit die Avantgarde der Musik und der Bildenden Kunst seit den 1920er Jahren, der sich Paik verbunden fühlt, jedoch auch zugleich darüber hinaus gehen will, indem er »endlich ein völlig neue Stil [sic] gefunden habe.«24 Es sind vor allem drei Einflüsse, die Paiks Werk bestimmen: seine Anregungen aus Amerika, Europa25 und seine eigene Herkunft als Koreaner aus Seoul. Paik kam 1958, nachdem er in Tokio, München und Freiburg Komposition, Mu-
21 Paik, Nam June: Text zu »24 Stunden«, Happening am 5. Juni 1965 in der Galerie Parnass, Wuppertal (Dokumentation), Itzehoe 1965, wieder abgedruckt in: Paik 1992, S. 110-112, hier S. 111. 22 Die Auflösung der Gattungsgrenzen sah Paik nicht nur auf der künstlerischen Ebene, sondern ebenso im wissenschaftlichen Bereich als notwendig an (s. o.). 23 Brief von Paik an Steinecke vom 02.05.1959, abgedruckt in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1976, S. 40. 24 Ebd. 25 Bisher konzentrierte sich die Forschung nahezu ausschließlich auf den Einfluss Cages auf Paik; die Erarbeitung von Stockhausens Position wird dabei häufig vernachlässigt und bei dem Verweis auf die Mitwirkung Paiks in ORIGINALE (vgl. Anm. 46) belassen; hier stünden weitere Forschungen an, die im Rahmen dieses Aufsatzes nur angerissen werden können. Wie wichtig Stockhausen im Allgemeinen für die FluxusKünstler (vgl. Anm. 38 und 64) ist, zeigt sich an dem durch die New Yorker Aufführung von ORIGINALE ausgelösten Streit, der schließlich zum Bruch in der Gruppe führt; dazu ausführlicher Schilling 1978, S. 86-88. Paik scheint Stockhausen sehr geschätzt zu haben, denn laut Zeitzeugenberichten muss er ihn während seiner Kölner Zeit mehrmals zu kleinen Probeaufführungen in sein Atelier eingeladen haben. Vgl. Custodis, Michael: Die soziale Isolation der neuen Musik. Zum Kölner Musikleben nach 1945, Stuttgart: Steiner 2004 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, 54), S. 121 und 129f.
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sikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie studiert hatte,26 nach Köln, um dort am 1953 von Herbert Eimert gegründeten Studio für elektronische Musik des WDRs zu arbeiten. Außerdem waren dort seit dessen Anfängen Gottfried Michael Koenig und Karlheinz Stockhausen beschäftigt.27 Diese Tätigkeit ist gerade im Zusammenhang mit seiner HOMMAGE À JOHN CAGE essentiell, denn »er hat da [im Studio] alles an Bandschnipseln aufgelesen, was so auf dem Boden rumlag [sic] und hat daraus Stücke zu Hause komponiert, zusammengebastelt.«28 Stockhausen war Paik bereits seit 1957 durch die Darmstädter Ferienkurse bekannt, wo es im darauffolgenden Jahr zur folgenreichen Begegnung mit Cage kam. Die kompositorischen Positionen beider Künstler29 nimmt Paik bewusst wahr.30
26 Zur Information dieser ersten noch im kammermusikalischen Stil angelegten Kompositionen vgl. Gutknecht, Dieter: Von ›sehr trauriger Amusik‹, Opera sextronique und einem TV-Cello. Musikalische Aktion und visuell erlebbare Musik bei Nam June Paik, in: Renate Buschmann, Marcel René Marburger und Friedrich Weltzien (Hrsg.): Dazwischen. Die Vermittlung von Kunst. Festschrift für Antje von Graevenitz, Berlin: Reimer 2005, S. 71-82, hier S. 71f. 27 Mit dem Studio für elektronische Musik in Köln beschäftigt sich Michael Custodis eingehend (Custodis 2004, S. 57-97); darüber hinaus auch mit den anderen musikalischen Institutionen in Köln (z. B. Mary Bauermeisters Atelier S. 118-131); vgl. auch Bremer, Heinz (Hrsg.): Neue Musik im Rheinland. Bericht von der Jahrestagung Köln 1992 (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 157), Kassel: Merseburger 1996. 28 Interview von Michael Custodis mit Hans G. Helms am 07.02.2001, zitiert nach Custodis 2004, S. 120, Anm. 276. Identisches weiß auch Heinz-Klaus Metzger im Gespräch mit Sylvia Martin und Susanne Rennert am 16.03.2005 zu berichten in: Rennert 2005, S. 24. 29 Cage und Stockhausen kannten sich seit 1954 und bekundeten ihr gegenseitiges Interesse bis Mitte der 1960er Jahre in diversen Briefen. Häufiger Begegnungsort war neben Darmstadt ab 1960 die Kölner Atelierwohnung Mary Bauermeisters, die vom 15. bis 18.06.1960 mit dem Contre-Festival eröffnet wurde und damit dem Vorbild JeanPierre Wilhelms Düsseldorfer Galerie 22 folgte. In dem Kölner »Salon«, der dazu diente, »Werke kennen[zu]lernen [,] die das offizielle Kunstleben noch nicht berücksichtigt« (Metzger, Heinz-Klaus: Festival und Contre-Festival. Musikalische Ereignisse in Köln, o. J. [1960], Typoskript, Archiv Mary Bauermeister, abgedruckt in: Rennert, Susanne: Chronologie (1958–1968), in: Sediment. Mitteilungen zur Geschichte des Kunsthandels 9 (2005), S. 31-38, hier S. 32), hielt der Adorno-Schüler Metzger eine Rede, in der er bereits Stockhausen (der anwesend war) zum ästhetischen Gegenteil Cages erklärt. Während des Contre-Festivals (vgl. genauere Informationen bei:
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Wenn Cage als Auslöser der Abwendung von traditionelleren Musikformen hin zu aktional geprägten Arbeiten wie der HOMMAGE bei Paik verstanden wird,31 so fallen zunächst Cages Experimente zur Erweiterung von Klangmöglichkeiten anhand seiner präparierten Klaviere, die er erstmals 1940 in BACCHANALE und SECOND CONSTRUCTION einsetze, auf. Auch im Umgang mit Tonbändern war er für Paik Vorreiter, wie dieser rückblickend auf die Darmstädter Ferienkurse 1958 resümiert: »Cage ist ein unglaubliches Genie, weil er dieses Problem erkannt hat, diese Audio- und Videoband-Problematik, die darin besteht, daß [sic] es bestimmte Längen gibt, die nicht verändert werden können.«32 Die Überwin-
Zahn, Robert von: Opposition und Indetermination beim Kölner ›contre festival‹ 1960, in: Heinz Bremer (Hrsg.): Neue Musik im Rheinland. Bericht von der Jahrestagung Köln 1992 (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 157), Kassel: Merseburger 1996, S. 87-96, hier S. 93f.), das als Gegenveranstaltung zum Musikfestival in Köln gedacht war, führte Paik seine HOMMAGE erneut auf. Cage präsentierte u. a. WATER MUSIC (1952), während Stockhausen einen Auftritt ablehnte, aber als Zuhörer/-schauer anwesend war und resümierte, dass es Cage zunehmend um die aktionale Handlung seiner Werke ginge (vgl. Stockhausen, Karlheinz: John Cage (und Bo Nilsson). David Tudor spielt neue Klaviermusik [Januar 1957, Text für ein Nachtprogramm des WDR], in: Dieter Schnebel (Hrsg.): Texte zu eigenen Werken und zur Kunst Anderer. Aktuelles, Bd. 2: Aufsätze 1952-1962 zur musikalischen Praxis, Köln: DuMont 1964, S. 146-148, hier S. 148). 30 Vgl. Paiks Rezension für die koreanische Zeitung Tchayua Shinmun – The Liberal News am 06. und 07.01.1959 (Seoul, Korea, abgedruckt in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1999, S. 22f.), in der er besonders auf drei Versionen der VARIATIONS von Cage und GRUPPEN FÜR DREI ORCHESTER von Stockhausen eingeht. 31 Zur Weiterentwicklung der Cage’schen Ideen bei Paik vor allem im Bereich der Medien vgl. Daniels, Dieter: John Cage und Nam June Paik. »Change your mind or change your receiver (your receiver is your mind)«, in: Susanne Rennert und SookKyung Lee (Hrsg.): Nam June Paik, Kat. Ausst. museum kunst palast Düsseldorf und Tate Liverpool, Ostfildern: Hatje Cantz 2010, S. 107-125. 32 »Random- Access-Information«, ursprünglich handelt es sich um einen Vortrag, der am 25.03.1980 am Museum of Modern Art in New York von Paik gehalten wurde, er wurde dann im Artforum September (1980), S. 46-49 gedruckt; wieder abgedruckt in: Paik 1992, S. 150. An anderer Stelle äußert Paik »Musik ist Zeitfolge« und zugleich fragt er sich »wie kann ich mit Zeit umgehen?« Paik im magnum-Interview mit Gottfried Michael Koenig, in: magnum 4 (1963), Sonderheft ›Experimente‹, erneut abgedruckt in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1976, S. 51f. Vgl. zum Aspekt der Zeit in Paiks
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dung von Raum- und Zeitgrenzen war eine der Hauptthemen der Generation Paiks33 und zeigt sich als Fragestellung bereits in der HOMMAGE34 mit den schneller und langsamer laufenden Tonbändern sowie den unterschiedlichen inhaltlichen Ebenen, die eine Verortung nur schwer zulassen. Der Einsatz von Tonbändern und Radio als Musikinstrument ist zuvor in Cages IMAGINARY LANDSCAPE NO. 4 (1951) zu finden, in dem zwölf Radiogeräte nach einem von ihm ausgeklügelten Zufallsprinzip an- und ausgeschaltet werden.35 Die hierbei empfangenen Sendungen genauso wie die Stille waren vorher nicht bestimmbar und wurden damit zum kompositorischen Prinzip erhoben; die Integration von Klängen jeder Art wird darüber hinaus zu den wesentlichen Merkmalen von Cages Kompositionen. Mit dem Begriff Indeterminacy, der Unbestimmtheit, führte er nicht nur die Freiheit des Interpreten, sondern auch die des Publikums – das zum Teil der Aufführung werden sollte36 – ein. Derartige Bestrebungen zur Interaktion finden sich gleichzeitig in der Bildenden Kunst37. Im Bereich der Medientechnik führt Paik solche Überlegungen konsequent weiter. Es ist aufgrund dieser vielerorts nachzuvollziehenden Entwicklungen nicht leicht, die Vorreiterrolle Cages eindeutig zu bestimmen, Gleiches gilt für Marcel Duchamp und Arnold Schönberg sowie den Dadaismus. Die Rezeption Duchamps könnte über Cage erfolgt sein, der mit dem für seine Multiples und Ready-Mades bekannten Künstler eng befreundet war. Über Schönberg schrieb Paik seine Abschlussarbeit, setzte sich demnach intensiv mit dessen Kompositionen und Ideen auseinander, während Cage bei Schönberg
Werk Herzogenrath, Wulf: Zur Frage der Datierung und zum Thema ›Zeit‹, in: ders. (Hrsg.): Nam June Paik. Fluxus – Video, München: Silke Schreiber 1983, S. 10-13. 33 Auch Stockhausen habe, laut Paiks Rezension der Darmstädter Ferienkurse 1958 für Tchayua Shinmun – The Liberal News am 06. und 07.01.1959 (wie Anm. 30, hier S. 23), in seinem Stück GRUPPEN FÜR DREI ORCHESTER den Versuch unternommen, »eine Räumlichkeit in die Zeitkunst Musik einzuführen«. 34 »Ich werde die Raumkonzeption meiner Komposition im Kölner Studio realisieren.« Brief von Paik an Steinecke vom 02.05.1959, abgedruckt in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1976, S. 41. 35 Zum Vergleich von Zufallsprinzipien bei Duchamp, Cage, Stockhausen und Paik siehe Daniels 2010, S. 108-111. 36 Man denke nur an Cages 4’33’’, in dem die Werklänge determiniert ist, der Inhalt jedoch allein vom Publikum geschaffen wird. 37 Diese Wechselwirkungen vor allem in New York untersucht Rausch, Ulrike: Grenzgänge zwischen experimenteller Musik und Bildender Kunst in New York Anfang der 1950er Jahre. Morton Feldman, Earle Brown, John Cage, Saarbrücken: Pfau 1999.
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noch studiert hatte. Die Rezeption des Dadaismus nach dem Zweiten Weltkrieg wird in der legendären Retrospektive Dada – Dokumente einer Bewegung 1958 im Düsseldorfer Kunstverein greifbar, die sowohl Paik als auch Cage besuchten und deren Einfluss im Zusammenhang mit der Entstehung der HOMMAGE ein hoher Stellenwert eingeräumt werden muss.38 Gerade die im Dadaismus bereits vorhandene Kritik an konventionellen Kunstformen, und damit verbunden an gesellschaftlichen Konventionen, wird von Paik aufgegriffen und kommt in späteren Aktionen mit ihren gesellschaftspolitischen Kritiken deutlich zum Ausdruck. Doch bereits in seinen frühen Werken, wie auch im Kontext der HOMMAGE, klingt die Kritik am Materialismus der Adenauer-Ära an, wenn er an Steinecke schreibt: »wo Fleiß und Dummheit in Eins gebunden ist«39. Außerdem war für Paik – und hier kommt seine eigene Herkunft zum Tragen – Zen eine wichtige Grundlage seines künstlerischen Denkens, daher rührt u. a. auch die Überlegung zur Langeweile: »Langeweile ist an sich keineswegs eine negative Qualität. In Asien ist sie eher ein Zeichen der Elite Und diese Konfusion bleibt wegen der Konfusion in puncto INPUT- und OUTPUT-Zeit weiter bestehen.«40 Auch Cage nannte die fernöstliche Geisteshaltung als Grundlage seiner Überlegungen zur Stille.41 Es lassen sich darüber hinaus zahlreiche biografische Bezüge
38 Stephan von Wiese geht sogar aufgrund Paiks Aussage »I composed watching Schwitters« (im Telefoninterview mit Stephan von Wiese im Dezember 1990, zitiert nach Wiese, Stephan von: »Du MARTYR von 20.07.1964« Paik und Beuys im Medienduett, in: Rennert und Lee Kat. Ausst. 2010, S. 127-141, hier S. 127) davon aus, dass die Ausstellung Auslöser für die Entwicklung der HOMMAGE war. Für die 1962 öffentlich in Erscheinung tretende Gruppe Fluxus war »einziger historischer Vorläufer […] der Dadaismus.« (Daniels, Dieter: »Fluxus. Ein Nachruf zu Lebzeiten«, in: Kunstforum international 115 (1991), S. 100). Auch wenn dies in einer derartigen Pauschalisierung schwierig ist, so zeigt es doch die wichtige Vorbildfunktion dieser Kunstrichtung der 1920er Jahre für die Performance-Art nach 1945. Anschaulich wird das auch im Titel des Fluxus Aktionsabend NEO-DADA IN DER MUSIK am 16.06.1962 in den Düsseldorfer Kammerspielen. Vgl. ausführlicher zu Paiks Beitrag Rennert 2005, S. 16-18. 39 Brief von Paik an Steinecke vom 02.05.1959, abgedruckt in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1976, S. 39f. 40 Paik, Nam June: Input-time and Output-time, in: Ira Schneider und Beryl Korot (Hrsg.): Video Art, New York 1976, erneut abgedruckt in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1976, S. 12. 41 Allerdings wirkte Cage auf Paik »wie ein oberflächlicher amerikanischer ZenModernist, von denen es damals viele gab« Paik, Nam June: »B.C/ A.D.«, in: Musik-
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zwischen Paik und Cage finden, die auf eine rege Auseinandersetzung sowohl auf künstlerischer, als auch auf persönlicher Ebene schließen lassen. Wesentlich verhaltener zeigt sich die Bekanntschaft mit Stockhausen: Lernt er diesen zwar schon zu Beginn seines Deutschlandaufenthalts kennen, so bleibt wohl doch eine gewisse Distanz zwischen den beiden bestehen. Es finden sich heute kaum Äußerungen, die über einen kollegialen Austausch hinaus Informationen liefern. Dennoch schenkte Paik 1968 – als er bereits in Amerika lebte – Stockhausen ein kleines Objekt, das sicherlich als freundschaftliches Zeichen gewertet werden darf.42 Kompositorisch bezeichnet Paik sich selbst als Antithese zu Stockhausen,43 wie sie für ihn u. a. am Beispiel der Form ersichtlich wird.44 Stockhausen arbeitet ähnlich wie Cage mit Parametern, z. B. von Rhythmen-, Lautstärken- und Klangskalen, die es ihm ermöglichen, Klänge in Geräusche zu verwandeln und umgekehrt. Diese elektronischen Manipulationen verlangen bei Stockhausen aufgrund ihrer Komplexität vorab eine genaue Festlegung in Partituren und weisen damit eine gewisse Determiniertheit auf.45 Aber auch Stockhausen versucht zunehmend, wie der Untertitel MUSIKALISCHES THEATER seines Werks ORIGINALE bereits impliziert, den rein musikalischen Bereich zu verlassen und sich der Interaktion zu öffnen. Entstanden ist 1961 mit ORIGINALE ein Werk,46 das eine Reihe von Handlungen verschiedener Künstler abspielt und so
Texte 46/47 (1992), S. 68f., hier S. 68 und wird damit wohl kaum beeinflussend auf Paik gewirkt haben, sondern die Geisteshaltung muss als Parallele verstanden werden. 42 Für diese Information danke ich Frau Kathinka Pasveer von der Stockhausen-Stiftung für Musik in Kürten. 43 Wie zu Stockhausen verortet sich Paik auch zu Schönberg als Antithese, was nur konsequent ist, da die serielle Kompositionsweise Stockhausens als konsequente Weiterführung der strukturellen Überlegungen der Zwölftonmusik Schönbergs verstanden werden darf. 44 Vgl. hierzu Paiks Äußerungen in: Paik, Nam June: Zur »Symphony for 20 Rooms«, in: La Monte Young und Jackson MacLow (Hrsg.): An Anthology, 2. Aufl., New York: Heiner Friedrich 1970, o. S.; wieder abgedruckt in: Paik 1992, S. 90-92, hier S. 90. 45 Vgl. die detaillierte Betrachtung von Stockhausens Werk KONTAKTE FÜR ELEKTRONISCHE MUSIK, KLAVIER UND SCHLAGZEUG
(1958–60) bei Mowitz, Micha-
el: Die Form der Unendlichkeit. Aspekte der Momentform und der seriellen Struktur in Karlheinz Stockhausens »kontakte«, Essen: Die Blaue Eule 2002. 46 Im Sommer 1961 wurden Stockhausen und Bauermeister ein Paar und unternahmen eine Reise nach Finnland, während der Stockhausen seine Partitur von ORIGINALE anfertigte. Die Idee für die Integration von Happenings in eine öffentliche Theaterauf-
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von seinen Momentaufnahmen lebt.47 Paik füllte in diesem Zusammenhang auch eine Sequenz, deren Aktion er jedes Mal änderte48; das Überraschungsmoment war in allen Aufführungen vom 26. Oktober bis 6. November 1961 im Kölner Theater groß.49 Wie in aller Kürze mit dem Paik’schen Rezeptionsgeflecht gezeigt wurde, stützt sich der Künstler bereits im Zusammenhang mit den ersten Werken seiner so genannten action music auf Vorbilder, die der Sprengung von künstlerischen Gattungsgrenzen offen gegenüberstanden. Bereits Cage ebnete für Paik den Weg zur Weitung – wenn nicht gar zur Auflösung der Gattungsgrenzen –, indem er Alltägliches in die Kunst einziehen und somit zu Kunst werden ließ. Der Einfluss Stockhausens kann hier nicht abschließend geklärt werden, ob dieser auf die technische Ebene (elektronische Klänge) beschränkt blieb, oder ob der Besuch einer Probe von und mit Stockhausens Gruppe (ca. 1958) zusammen mit Mary Bauermeister tatsächlich zu seinem Resümee »so ein guter Musiker werde ich nie. Ich wechsele das Medium. Ich gehe jetzt in die Kunst«50 führte, muss offen bleiben. Ob es also der amerikanische oder der europäische Einfluss war,
führung kam vom damaligen Regisseur des Theaters am Dom in Köln, Arthus C. Caspari; er wollte die »Kluft zwischen sendung und empfang aufreissen [sic]«. Caspari, Arthus C.: Etwas zu Paiks Mitwirkung in den Originalen, in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1999, S. 38f., hier S. 39. 47 Die Fotografien Manfred Leves dokumentieren das Geschehen. Vgl. Buschmann und Wiese Kat. Ausst. 2007, S. 52f. Die Partitur ist abgedruckt in: Stockhausen, Karlheinz: Originale (1961) musikalisches Theater, in: Dieter Schnebel (Hrsg.): Texte zu eigenen Werken und zur Kunst Anderer. Aktuelles, Bd. 2: Aufsätze 1952-1962 zur musikalischen Praxis, Köln: DuMont 1964, S. 107-129, hier S. 112-129. 48 Es handelte sich durchweg um unabhängig von den übrigen Performances des Abends stehende, kurze Aktionen, wie z. B. ZEN FOR HEAD (auf eine lange Papierrolle malt Paik mit seinem Kopf einen Strich) oder SIMPLE (eine schnelltaktige Aktion, währenddessen er mit Rasiercreme operierte). Vgl. Krüger, Walther: Karlheinz Stockhausen. Allmacht und Ohnmacht in der Neuesten Musik, Regensburg: Bosse 1971, bes. S. 59f. 49 Vgl. Caspari 1999, S. 38f. sowie Herzogenrath 1983, S. 22f. 50 Bauermeister, Mary: Cage – Stockhausen oder Stockhausen – Cage. Endsieg ist sicher. Erinnerungen an Nam June Paik, in: Wulf Herzogenrath und Andreas Kreul (Hrsg.): Nam June Paik. There is no rewind button for life. Hommage für Nam June Paik in der Kunsthalle Bremen am 25. März 2006, Köln: DuMont 2006, S. 37-47, hier S. 41.
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der zur Entgrenzung Paiks und seinem ersten Werk HOMMAGE führte, ist heute nicht mehr zu entscheiden.
Erziehung versus Gesamtkunstwerk: Transformatorische Bestrebungen Die bisher vorgestellten Strategien der künstlerischen Entgrenzung sowie politischen Implikationen in Paiks Cage-Hommage werden in der Aktion um das ekstatische Moment,51 wie es die damaligen Rezensenten beschrieben, ergänzt. Über die Wirkung seines tranceartigen Zustands ist sich der Künstler im Klaren, wenn er seine schockierenden Aktionen selbst als »eine Art deutsch-mongolischen Expressionismus«52 bezeichnet. In dieser Hinsicht vergleicht sich Paik mit dem bei der Erstaufführung der HOMMAGE anwesenden Joseph Beuys,53 den er auch »euro-asiatischer« Herkunft ansieht.54 Beuys’ Werke zielen sehr früh auf die Präsentation und stetige Weiterentwicklung seiner Idee der Sozialen Plastik, was bedeutet, dass jeder ein sozialer Künstler ist und damit die Gesellschaft mitbilden kann. Demnach liegt im kreativen Potenzial des Menschen zugleich die Möglichkeit einer sozialen Reform, die bereits in seinen frühen Aktionen ab 1963 propagiert wird. Die Maxime der Veränderung der Gesellschaft durch Kunst ist jedoch kein Einzelphänomen bei Beuys, sondern für die gesamte Performance-
51 Vgl. Thomas Kelleins allgemeine Äußerungen nach denen Paik »die Ekstase zum Dauererlebnis streckt, um die Höhen und Tiefen des Lebens als Einerlei hinzunehmen« Kellein, Thomas: Hommage an Nam June Paik, in: Herzogenrath und Kreul 2006, S. 52-55, hier S. 55. 52 Daniels, Dieter: Fluxus und mehr. Nam June Paik im Gespräch mit Dieter Daniels (Ausschnitte aus einem längeren Gespräch, Wiesbaden 24.09.1990), in: Kunstforum international 115 (1991), S. 207-210, hier S. 209. 53 Die erste Begegnung mit dem eigenen Weltdebüt zusammenzulegen mag eine nachträgliche Glorifizierung vonseiten Paiks sein, sicher jedoch trafen sich die beiden im Juli 1961 auf der Vernissage der Zero-Ausstellung edition – exposition – demonstration in der Galerie Schmela. Vgl. z. B. Rennert, Susanne: »We have time«. Musik, Fluxus, Video: Paiks Zeit in Düsseldorf, im Rheinland, in: Rennert und Lee Kat. Ausst. 2010, S. 55-68, hier S. 61. 54 Daniels 1991, S. 209. Ausführlicher äußert Paik sich über seine schamanischen Implikationen im Interview mit Justin Hoffmann. Vgl. Hoffmann, Justin: Destruktionskunst. Der Mythos der Zerstörung in der Kunst der frühen sechziger Jahre, München: Schreiber 1995, S. 85-90.
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Art der Nachkriegszeit konstitutiv. So verwundert die Aussage von Gottfried Michael Koenig über Paik nicht, dass dieser sich »tatsächlich sehr stark mit gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigt«55 habe. Um diese soziokulturelle Motivation umsetzen zu können, bauten beide Künstler auf ihre Aktionen und deren Wirkungsmacht, was jedoch zunächst eine sorgfältige Vorbereitung der Aktionsräume,56 bewusste Auswahl der Materialien, unbedingte Notwendigkeit der Anwesenheit des Künstlers, schriftliche Fixierung des Aktionsablaufs im Voraus57 bedeutete, damit das Hauptaugenmerk der Transformation und Kommunikation erreicht werden konnte.58 Für Paik ist Musik ein »nonverbales Kommunikationsmedium«59, das, würde es massenmedial im Fernsehen eingesetzt, eine phänomenale »Wirkung auf Erziehung und Unterhaltung«60 ausüben kann. Kommunikation wird zum wesentlichen Aspekt in Paiks Werken und zeigt sich bereits in der HOMMAGE À JOHN CAGE als Träger neuer akustischer und optischer Informationen, die neben einem Sender (Paik) auch einen Empfänger (das Publikum) benötigt. So wird der Besu-
55 Gottfried Michael Koenig im Gespräch mit Sylvia Martin und Susanne Rennert am 06.05.2005, zitiert nach Rennert 2005, S. 14. 56 So fordert Paik im Zusammenhang mit seiner HOMMAGE in seinem Brief an Steinecke vom 02.05.1959 (abgedruckt in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1976, S. 41), dass das Stück »am Anfang des Konzert [sic] gespielt werden [muss], da die Zuhörer den [sic] Regieprogramm und die Vorbereitung der Bühne nicht sehen dürfen.« Genauso bereitet auch Beuys sorgfältig seine Aktionsräume vor, die bereits – vor allem durch die verwendeten Materialien – einen Einblick in den Beuys’schen Mikrokosmos gewähren. Vgl. zu Beuys’ Aktionen grundlegend Schneede, Uwe: Joseph Beuys. Die Aktionen. Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumentationen, Ostfildern: Hatje Cantz 1994. 57 Damit reiht sich Paik mit seinem Nichtnotieren in die damals in Darmstadt geführten Werkcharakter-Diskussionen ein. Vgl. Gutknecht 2005, S. 73. 58 Es ließen sich an dieser Stelle zahlreiche Parallelen und Unterschiede im künstlerischen Schaffen der beiden Künstler aufzählen (es sei nur an den Indeterminismus und die Destruktion erinnert) und um Zusammenarbeiten ergänzen, da dies aber alles erst nach 1963 (mit dem Beginn von Beuys Aktionstätigkeit) untersucht werden kann, soll an dieser Stelle auf den Aufsatz von Stephan von Wiese (Wiese 2010) verwiesen werden; genauso wie auf Blume, Eugen: Eine eurasische Freundschaft – Nam June Paik und Joseph Beuys, in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1999, S. 262-267. 59 Paik, Nam June: Global Groove und der gemeinsame Videomarkt, in: The WNET-TV Lab News 2 (1973), wieder abgedruckt in: Paik 1992, S. 134. 60 Ebd.
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cher nicht nur durch die Interaktion, sondern auch durch Mitmachen und Erschaffen der Kunst eingebunden.61 Besonders mit »seine[r] Hinwendung zum Fernsehen, das ein viel eindringlicheres Medium war und bis heute ist als die Musik«62, werden die Bestrebungen der Kunst, allgegenwärtig zu sein und (sei dies nun Musik oder TV) zu etwas ›Allgegenwärtigem‹ zu werden und damit in das Leben der Gesellschaft einzugreifen, deutlich. Auf diese Weise wirkt Paik mithilfe der neuen Medien künstlerisch erziehend auf die Gesellschaft ein und folgt damit den von Eimert 1952 geäußerten Forderungen nach Integration der Rezipienten, um aktiv die Lerninhalte zu vermitteln.63 Die schockierenden und destruktiven Momente der Aktionen Paiks sind auf Fluxus und darin der Rezeption des Dadaismus zurückzuführen.64 Sie sollten das Publikum wachrütteln und zum Umdenken animieren. Eine verstörende Wirkung hatten auch Beuys’ Aktionen, selbst wenn er sich auf ein anderes Modell zur Transformation der Gesellschaft stützt: Der quasi meditative Mitvollzug wird zum Auslöser neuer Betrachtungen durch die Besucher;65 diese sollten dann –
61 Die Interaktion zeigt sich beispielsweise durch das Werfen von Gegenständen ins Publikum (wie einen Rosenkranz in der zweiten HOMMAGE-Aufführung oder von Bohnen während ORIGINALE) und findet einen ersten Höhepunkt in Paiks Ausstellung Exposition of music – Electronic television (1963), die die Besucher zum Mitmachen aufforderte (vgl. besonders zum Aspekt der Partizipation Neuburger, Susanne: Terrific Exhibit. »Zeit-Kunst« alias Musik im Ausstellungsgenre, in: dies. (Hrsg.): Nam June Paik. Exposition of Musik – Electronic Television. Revisited, Kat. Ausst. Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Köln: Walther König 2009, S. 11-23). Die Wandlung der Rezeptions- und Produktionsmedien in Partizipationsmedien ist demnach logische Weiterentwicklung bei Paik. Vgl. Daniels 2010, S. 115. 62 Gottfried Michael Koenig im Gespräch mit Sylvia Martin und Susanne Rennert am 06.05.2005, zitiert nach Rennert 2005, S. 13f. 63 Brief von Eimert an Hans Heinz Stuckenschmidt vom 08.11.1952, in: Historisches Archiv des WDR, Akte 10929, zitiert nach Custodis 2004, S. 112f. 64 Zur wichtigen Position Paiks in den frühen Jahren von Fluxus aufgrund seines guten Kontakts zu Wilhelm vgl. Rennert 2010, S. 60 (vgl. auch Anm. 38). Paik und Beuys trennen sich jedoch sehr schnell wieder von Fluxus, da sie aus den zuvor genannten Aspekten anders operierten; so Paik: »und deshalb habe ich keine wirklich bedeutenden Stücke innerhalb von Fluxus gespielt, denn es gibt einfach keine Möglichkeit, ein schwieriges Stück vorzubereiten in einem Rahmen von Fluxus, wo du 50 Stücke in drei Tagen aufführst.« Daniels 1991, S. 210. 65 Beuys dehnte hierzu die Zeitspannen in seinen Aktionen, z. B. durch ein sehr statisches Geschehen wie in THE CHIEF. DER CHEF. FLUXUS-GESANG (1962). Steht so in
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initiiert durch die ästhetische Partizipation – kreativ im Sinne Beuys’ werden und damit die Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen Ästhetik und Politik einreißen und zum Gründer einer neuen Gesellschaft werden. Ist es bei Paik also noch ein pädagogischer Vorgang, künstlerisch Einfluss zu nehmen, zeigt sich bei Beuys ein ganz anderer, selbsttransformatorischer Weg. Beuys beruft sich mit seinen visionären Ideen auf das Konzept Gesamtkunstwerk nach Richard Wagner: Ausgehend von der Parallelisierung der Künste sollte im synästhetischen Mitempfinden des theatralen Festes die Katharsis erreicht werden und letztlich die Kunst an Stelle von Politik und Religion treten. Es ließe sich nun eine Traditionslinie der Rezeption dieses zweipoligen Modells bis zu Beuys anführen, doch wäre dies ein neues Thema.66 Die eine oder andere Überlegung zum Gesamtkunstwerk lässt sich auch bei Paik finden, wenn er, wie Cage zu berichten weiß, »›whole art‹ in the meaning of M. R. Wagner«67verfolgte; allerdings scheint gerade durch den Einsatz der neuen Medien der didaktische Anspruch schwerer zu wiegen, so dass lediglich die ästhetische Komponente der Wagner’schen Utopie erfüllt wird.
Resümee Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass Paik den »Ausweg von der Erstickung des musikalischen Theaters von heute«68 suchte und in der Entgrenzung fand, die es ihm ermöglichte, mit dem konventionellen Musikbetrieb zu brechen und durch Interaktion die klassische Bühne zu vernichten sowie den Menschen durch die schockierende Handlung direkt zu konfrontieren. Die bei seiner action music häufig angewendeten Destruktionsverfahren dienen nicht nur
seinem frühen Werk der meditative Aspekt als Auslöser zur Veränderung noch im Vordergrund, zeigt das spätere politische Engagement noch deutlicher die tatsächliche demokratische Richtung Beuys’. 66 Diesen Aspekt untersuche ich derzeit im Zuge meiner Dissertation über Das ›Gesamtkunstwerk‹ nach 1945. Zur Einheit von Kunst und Leben bei Bazon Brock, Hermann Nitsch und Joseph Beuys (Arbeitstitel). 67 Paik in einem Brief an Cage, welchen letzterer passagenweise wiedergibt in: Cage, John: Nam June Paik: A Diary, in: ders.: A year from monday. New lectures and writings by John Cage, 5. Aufl., Connecticut: Wesleyan University Press 1967, S. 89-91, hier S. 90. 68 Brief von Paik an Steinecke vom 02.05.1959, abgedruckt in: Herzogenrath Kat. Ausst. 1976, S. 40.
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der plakativen Zerstörung, sondern bergen in sich einen subtilen Humor,69 der nur schwer zu fassen ist und daher von den Rezensenten des Paik’schen Weltdebüts, HOMMAGE À JOHN CAGE – MUSIK FÜR TONBÄNDER UND KLAVIER, unbeachtet blieb. Die Destruktion dient auch der Kommunikation (sowohl aktiv als auch passiv) und beinhaltet damit das Hauptaugenmerk; zur philosophischästhetischen Grundlage Paiks gehörend kommt auch diese in der Audioversion nicht zum Tragen. So ist es schwierig, dem Werk eine »beruhigende Intensität des Stücks noch ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung«70 zuzusprechen, wenn dieses in SHUTTER ISLAND erklingt. Die HOMMAGE wird hier in einem rückwärtsgerichteten Prozess in ihre Einzelbestandteile zerlegt: Musik/Aktion und dann kleinteiliger in einzelne Klangelemente. Letztlich erhält nur ein minimaler Ausschnitt aus der reinen Tonbandaufnahme Einzug in den Soundtrack. Es ist also ein zwischen Cages MUSIC FOR MARCEL DUCHAMP erklingendes Bruchstück der HOMMAGE, dem hier eine beruhigende Wirkung zugesprochen wird. Vielleicht hätte Paik diese Position gefallen, aber ob ein derartig verzerrter Einsatz von Paiks Werk den ursprünglichen Gedanken der Transformation der Gesellschaft durch die Entgrenzung der Kunst noch trifft, ist mehr als fraglich. Ein wesentlicher Aspekt der Performance-Art nach 1945 – gerade im Rheinland – geht damit verloren: Nicht nur die Aufhebung der Gattungsgrenzen ist redundant, sondern auch die angestrebte Einheit von Kunst und Leben geht verloren.
69 Vgl. ausführlicher zur musikalisch-philosophischen Herleitung des Humors bei Paik: Gutknecht 2005, S. 74-77. Dieser Aspekt wurde im Aufsatz bewusst vernachlässigt, da Paik in seinem Brief an Steinecke vom 02.05.1959 (S. 40) äußert: »Aber hier handelt es sich um kein [sic] Humor.« 70 Daniels 2010, S. 118.
Film, rilievo. Zum Verhältnis von Gegenständlichkeit, Licht und Bewegung J ENNIFER B LEEK
Film ist in seinen technischen Eigenschaften wesentlich auf das Licht bezogen. Das trifft allerdings auch auf das Medium Fotografie zu. In beiden Medien werden Visualisierungstechniken angewendet, die das Leben als Lichtspur festhalten. Mit Lichtspur ist die Spur gemeint, die das einmal Dagewesene auf der Oberfläche des fotografischen/filmischen Bildes hinterlässt. Die bemerkenswerte Neuerung beim Film gegenüber der Fotografie ist das Moment der Bewegung. Auch wenn sich zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Modi filmischer Bewegung unterscheiden ließe, jener des Filmstreifens, die man nicht sieht, und jener des Bildes, die man sieht, fesselt beim Medium Film doch vor allem die Tatsache, dass es ein Bild ist, das sich bewegt. Darauf hat schon früh Erwin Panofsky hingewiesen, wenn er den Film in Anlehnung an die US-Alltagssprache als eine ursprünglich bewegungslose Kunst beschreibt, der die Bewegung hinzugefügt worden sei: »Die lebendige Sprache, die immer das Richtige trifft, hat diese feinfühlige Entscheidung bestätigt, wenn sie noch moving picture sagt oder einfach picture, statt das anspruchsvolle und grundsätzlich falsche screen play zu akzeptieren.«1 Neben der Abgrenzung zum Theater ist in diesem Zitat von Be1
Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film, in: ders.: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film, Frankfurt a. M./New York: Campus 1993, S. 17-51, hier S. 21, vgl. auch S. 24. Zur Kritik an Panofskys Begriff des Bewegungsbildes vgl. Prange, Regine: Stil und Medium. Panofsky ›On Movies‹, in: Bruno Reudenbach (Hrsg.): Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992, Berlin: Akademie Verlag 1994, S. 171-190. Pranges Hauptkritikpunkt gilt Panofskys Abspaltung des Technisch-Formalen von der Konzeption des filmischen Bildes. Eine gewinnbringende Lektüre seines Filmessays könnte ihr zufolge darin bestehen, die negierten technischen und formalen Qualitäten des Films systematisch ins
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deutung, dass Panofsky den Film als picture, als ein Bild charakterisiert. Film zeichnet sich in seinen technischen Eigenschaften durch Visualisierungstechniken aus, die das Leben als Einwirken des Lichts auf einer lichtempfindlichen Oberfläche und als tatsächlich bewegtes Bild festhalten. Eine umfassende, historisierende Untersuchung des filmischen Lichts ist allerdings bis heute ein Desiderat der Forschung; das Licht ist, wie Christine Noll Brinckmann schreibt, »bisher in der Filmanalyse sozusagen unterbelichtet geblieben.«2 Einen möglichen Grund für diese Vernachlässigung sieht sie darin, dass das filmische Bild per se zu konkret, zu plastisch ist. Im Gegensatz dazu habe das Licht eine »insubstanzielle, ephemere Qualität, die von Blickpunkt zu Blickpunkt, Moment zu Moment wechselt.«3 Aus dieser Beobachtung könnte man folgern, dass ein modifizierter theoretischer Ansatz von den Visualisierungstechniken ausgehen müsste, die das zu Sehende als Lichtspur aufzeichnen. Um sich einem solchen Ansatz zu nähern, müsste der Aspekt der Bildlichkeit ins Zentrum gerückt werden. Denn, mit Panofsky gesprochen, dürfte es sich dabei nicht um ein neues Problem handeln, sondern vor allem um die Verschärfung eines bereits bestehenden Problems, das mit der Hinzufügung von Bewegung zum Medium Bild zu tun hat. Mit Bezug auf die in diesem Band fokussierte Thematik der Transformationen und der mit diesem Themenkomplex einhergehenden Entgrenzung in den Künsten empfiehlt es sich in besonderer Weise, das Problem zu historisieren. Die Aktualität der Problematik zeigt sich schon daran, dass noch heute in Besprechungen von Filmen hinsichtlich des Lichts mitunter von chiaroscuroEffekten die Rede ist, von Wirkungen des Helldunkel. Begriffsgeschichtlich sind im Terminus des chiaroscuro nicht nur Hell- und Dunkelwerte angesprochen, sondern auch Gegenstandswerte. Das zeigt ein genauerer Blick auf Bedeutung und Funktion dieses Begriffs in der damaligen Kunsttheorie. So wird er von Cennino Cennini in dessen Libro dell’Arte von um 1400 mit dem Terminus rilievo und damit mit der Vorstellung von Plastizität in Verbindung gebracht.4
Licht zu rücken. Die folgenden Überlegungen verstehen sich auch als ein Beitrag zu einer entsprechenden konstruktiven Rezeption von Panofskys Aufsatz über den Film. 2
Noll Brinckmann, Christine: Diegetisches und nondiegetisches Licht, in: Montage AV 2 (2007), S. 70-91, hier S. 74.
3
Ebd., S. 77.
4
Vgl. Cennini, Cennino: Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei des Cennino Cennini da Colle di Valdelsa [um 1400] (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. I), hrsg. von Albert Ilg, Wien: Braumüller 1888, Kap. 9, S. 8f. Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts verwendete man
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Verwandte Begriffe sind außerdem spätestens seit Leonardo da Vinci und dessen neuer Malweise sowie in Leonardos Nachfolge bei Tizian, Giorgione und Correggio morbidezza (Weichheit) und dolcezza (Zartheit).5 Der Begriff des Helldunkel steht im Kunstdiskurs der Renaissance insofern von Anfang an in einem Zusammenhang mit Termini, die auf etwas Berührbares, auf Gegenständlichkeit verweisen. Die lange Tradition des Begriffs wirft die folgenden Fragen auf: Lassen sich aus dieser Tradition womöglich Kriterien für die Filmanalyse gewinnen? Inwiefern eröffnen sich der Kunstwissenschaft durch die Neubewertung eines zentralen kunsttheoretischen Konzepts der frühen Neuzeit unter dem Blickwinkel des Films und durch die Erforschung dieses Konzepts im Sinne eines medialen Austauschphänomens neue Horizonte? Die Vermutung ist, dass eine Arbeit an den Begriffen des Helldunkel und des rilievo tatsächlich lohnenswert ist, um zur Lösung des genannten Problemzusammenhangs beizutragen, weil anhand dieser Begriffe Verfahren der Bildherstellung diskutiert werden, die auch in Fotografie und Film zum Tragen kommen.
Helldunkel und rilievo im Kunstdiskurs der Renaissance Das Verhältnis von Helldunkel und rilievo taucht im Kunstdiskurs der Renaissance in erster Linie im Zusammenhang mit der Malerei auf. Es gibt zwar auch eine Diskussion im Kontext der Bildhauerei, aber diese spielt, soweit das bislang überschaut ist, eine untergeordnete Rolle. In der Bildhauerei ist eben ein Teil des Begriffspaares, jener des rilievo, vorherrschend. So wird noch heute im Italienischen die auf die Skulptur bezogene Tätigkeit mit fare bzw. lavorare di rilievo bezeichnet. Das Begriffspaar von chiaroscuro und rilievo wird hingegen in den wichtigsten Quellentexten vom 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert in erster Linie mit Bezug auf die Malerei diskutiert. Mit ihm wird üblicherweise die mittels Licht und Schatten erzeugte Illusion von Dreidimensionalität auf der planen Fläche beschrieben. Auf das Begriffspaar geht als Erster, wie bereits erwähnt, Cen-
allerdings noch nicht die zusammengeschriebene Form des Wortes chiaroscuro, sondern sprach von chiaro scuro oder chiaro e scuro. Vgl. hierzu den Eintrag zum Begriff »chiaroscuro« im Glossar am Ende des Buches Vasari, Giorgio: Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler [1568], eingeleitet, kommentiert und hrsg. von Matteo Burioni und Sabine Feser, Berlin: Wagenbach 2010, S. 211. 5
Vgl. die entsprechenden Begriffe im Glossar von Vasari 2010, S. 210-212 und S. 304f.
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nini in seinem Libro dell’Arte ein. Ihm dienen die beiden Termini vor allem dazu, die plastische Wirkung in der Malerei zu bezeichnen.6 Rilievo entsteht Cennini zufolge durch die richtige Verteilung von Hell und Dunkel (chiaro e scuro) und bezeichnet damit die Plastizität des Gemalten als Resultat der Modellierung. Cennini rekurriert hier vermutlich auf antike Autoren. So dürfte ihm zumindest Plinius vertraut gewesen sein, und zwar vermittelt durch Petrarca, der selbst Stellung für die Illusion in der Malerei bezieht, indem er die Lebensnähe von Darstellungen u. a. aufgrund von Plastizität hervorhebt. Andrea Niehaus resümiert: »Cenninis ›rilievo‹ scheint sich also in erster Linie an dem dreidimensionalen Naturvorbild zu orientieren […]. [D]ie folgenden ausführlichen Anweisungen, wie man Plastizität mit malerischen Mitteln erreicht, kündigen […] an, daß [sic] sich die Malerei mit diesem Qualitätsmaßstab auseinanderzusetzen hat. Je mehr die Natur zum Gradmesser in den Künsten wird, je stärker muß [sic] die Malerei der Forderung nach ›rilievo‹ Folge leisten.«7 Rilievo ist Ausdruck eines Verfahrens, das der Natur Eingang in die Kunstwelt des Bildes verschafft. Der sich bei Cennini abzeichnende Naturalismus spielt auch bei Leon Battista Alberti eine zentrale Rolle. Sein Malereitraktat erscheint 1435 in lateinischer Sprache, ein Jahr später in italienischer Übersetzung. Er verwendet für die antiken Künstler das Faktenwissen von Plinius, grenzt jedoch seine Vorgehensweise deutlich gegenüber derjenigen des antiken Autors ab.8 Anders als Cennini, der Naturnachahmung weitgehend unter handwerklich-technischen Gesichtspunkten sieht, präsentiert Alberti ein höchst komplexes System von Regeln, das dem Künstler die naturgetreue Abbildung ermöglicht. Die erste Erwähnung des Begriffs rilievo findet sich im zweiten Buch im Abschnitt über den Umriss. Dort erläutert Alberti die Vorteile der Verwendung eines Schleiers (velo) für die Zeichnung: Dieser erleichtere die Übertragung des Gegenstandes auf die Malflä-
6
Vgl. Cennini 1888, Kap. 9, S. 8f. Zum Forschungskontext vgl. insbesondere Freedman, Luba: ›Rilievo‹ as an Artistic Term in Renaissance Art Theory, in: Rinascimento 29 (1989), S. 217-247 und Wang-Hua, Yih-Fen: »Rilievo« in Malerei und Bildhauerkunst der Frühneuzeit (Hochschulschrift, Köln 1999), S. 10-22.
7
Niehaus, Andrea: Florentiner Reliefkunst von Brunelleschi bis Michelangelo, Mün-
8
Albertis Methode orientiert sich im Gegensatz zu Plinius an rhetorischen Schriften.
chen/Berlin: Deutscher Kunstverlag 1998, S. 22. Vor allem das zweite Buch seines Malereitraktates zeichnet sich durch die Verwendung von an der Rhetorik (Cicero, Quintilian) geschulten ästhetischen Kategorien aus. Vgl. Baxandall, Michael: Giotto and the Orators. Humanistic Observers of Painting in Italy and the Discovery of Pictorial Composition, 1350-1450, Oxford: Clarendon 1971, S. 121-139.
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che und ermögliche eine körperlich-plastische Erfassung der Dinge. Die zweite Erwähnung findet sich ebenfalls im zweiten Buch. Hier ruft Alberti zunächst die von ihm schon an anderer Stelle beschriebene Kraft der Beleuchtung in Erinnerung, die Farbe zu verändern. Daran anschließend sagt er über das Wissen um die richtige Verwendung heller und dunkler Farbwerte: »Deshalb aber ist es nötig, alle Achtsamkeit und allen Eifer dem Erwerben dieser Kenntnis zu widmen, weil das Licht und der Schatten die Dinge körperlich erscheinen lassen, also das Weiß und das Schwarz den gemalten Dingen den Schein der Körperlichkeit […] verleiht […].«9 Um die beschriebene plastische Wirkung noch zu unterstreichen, heißt es dann: »Ich behaupte, Kenner und Laien werden ein Gesicht loben, das wie gemeißelt aus dem Bilde herauszutreten scheint […].«10 Die Licht- und Schattengebung eines Gemäldes ist dann als besonders gelungen anzusehen, wenn die Bildfiguren oder bloß Teile von ihnen, wie das Gesicht, möglichst plastisch, und d. h.: beinahe skulptural, aus der Bildfläche hervortreten. Die besondere Wertschätzung der Skulptur als Gradmesser der Malerei rührt wohl auch daher, dass Alberti zufolge die Skulptur das rilievo von Natur aus hat, während die Malerei die plastische Wirkung in der Fläche zu leisten habe.11 Von dieser Sichtweise aus führt der Weg direkt zu den Empfehlungen, die Alberti dem Maler in seinem dritten Buch gibt. So rät er zum Kopieren von Skulpturen statt von Gemälden, da Skulpturen im Gegensatz zu Gemälden nicht über Licht und Schatten verfügen. Gerade deshalb können die Maler sich hier besonders gut in der richtigen Wiedergabe von Licht und Schatten üben. Wie Cennini verwendet auch Alberti den Begriff rilievo sowohl in der Malerei als auch in der Skulptur. Erst Lorenzo Ghiberti benutzt den Begriff in seinen Commentarii konkret im Zusammenhang mit der Reliefkunst.12 Leonardo unterscheidet zwischen rilievo finto und rilievo naturale. Ersteres ist der Malerei zugehörig. Im Gegensatz zu der des Bildhauers sei die Naturnachahmung des Malers vor allem ein geistiger Akt, der sich in der Abwägung von Modellierung, Farbgebung und Perspektive vollziehe. Die Modellierung (rilievo) ist hier ausdrücklich an die erste Stelle gerückt. Sie ist für Leonardo der Kern der Malerei und damit der entscheidende Faktor für eine überzeugende Na-
9
Alberti, Leon Battista: Drei Bücher über die Malerei [1436], in: ders.: Kleinere kunsttheoretische Schriften (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 11), hrsg. von Hubert Janitschek, Wien: Braumüller 1888, S. 132.
10 Ebd. 11 Vgl. Niehaus 1998, S. 23. 12 Vgl. ebd., S. 28-31.
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turnachahmung.13 Reliefkunst selber sei ein Mischgenre zwischen Malerei und Skulptur. Das ist von Leonardo abwertend gemeint. Der Grund: Schatten und Licht stimmen ihm zufolge hier weder mit der Skulptur noch mit der Malerei überein – und damit auch nicht mit der Natur. Eine Intensivierung erfährt das Nachdenken über das Verhältnis von Helldunkel und Plastizität bei Leonardo ab den 1470er Jahren.14 Dank eines neuen künstlerischen Verfahrens, der sfumatoTechnik, erhält die Plastizität nun eine Qualität von Weichheit und Zartheit, die es so zuvor nicht gegeben hat, wobei interessant ist, dass sich diese neue Qualität einer Methode verdankt, die wesentlich auf die Licht- und Schattengebung des Gemäldes bezogen erscheint. Zugleich sind Weichheit und Zartheit Kriterien, die explizit auf haptische Qualitäten verweisen. Michelangelo benutzt den Begriff rilievo, um ein bildhauerisches Denken im Medium des Bildes zu forcieren.15 Giorgio Vasari schließlich präsentiert erstmals eine komplexe Untersuchung der Reliefkunst. Er leistet damit eine Kategorisierung der verschiedenen Reliefarten: Erstmals erläutert er die Unterschiede zwischen mezzo rilievo, basso rilievo und basso e schiacciato rilievo und grenzt sie gegeneinander ab.16 Nachdem schon Ghiberti und Leonardo dafür gesorgt hatten, dass der Begriff rilievo auch im Sinne von Reliefkunst zu verwenden war, erhält der Begriff spätestens mit Vasari seine heute gebräuchliche, gattungsspezifische Bedeutung. Doch auch die ursprüngliche Bedeutung im Sinne von Plastizität bleibt erhalten. So betont Vasari in der Einführung seiner Vite die Nähe des Terminus Helldunkel zur Skulptur, wenn er die Gebrauchsweise dieses Begriffs unter Malern beschreibt: »Den Malern zufolge ist der chiaro scuro eine Form der Malerei, die mehr zum disegno tendiert als zum Kolorit, da er durch die Nachahmung von Statuen aus Marmor, Bronze und anderem Steinmaterial
13 Vgl. ebd., S. 35. 14 Vgl. da Vinci, Leonardo: Das Buch von der Malerei [um 1492-1510] (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bde. 16-18), hrsg. von Heinrich Ludwig, Wien: Braumüller 1882, Bd. 1, S. 246. 15 Vgl. hierzu Michelangelos Antwortschreiben an Benedetto Varchi zum theoretischen Rangstreit der Künste: Al molto magnifico et onorando M. Benedetto Varchi suo osservandissimo [1547], in: Paola Barocchi (Hrsg.): Trattati d’Arte del Cinquecento, Bd. 1, Bari: Laterza 1960, S. 82; zur dt. Übersetzung mit einführendem Kommentar siehe Pfisterer, Ulrich (Hrsg.): Die Kunstliteratur der Renaissance. Eine Geschichte in Quellen, Stuttgart: Reclam 2002, S. 305f. 16 Vgl. Niehaus 1998, S. 43.
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entstanden ist.«17 Vasari stellt hier neben dem Bezug zur Zeichnung explizit den Bezug zur Skulptur her. Das ist im gegenwärtigen Zusammenhang von besonderem Interesse, weil die im Helldunkel aufscheinenden Materialqualitäten von Licht und Schatten sowie Plastizität in dem Vasari-Zitat explizit um dezidiert haptische Qualitäten (»Steinmaterial«) und deren bildliche Darstellung (»Nachahmung von Statuen«) erweitert werden. Die Nähe zu haptischen Qualitäten war zwar schon vorher gegeben, wie gezeigt wurde, aber hier erscheint sie durch den Verweis auf das Medium der Skulptur besonders deutlich herausgearbeitet. In der frühen Neuzeit in Italien findet sich insofern ein Begriff des Helldunkel, der mehr beinhaltet als bloß die Bedeutung von tonalen Werten und den Übergang zwischen ihnen. Seine Langlebigkeit verdankt er wohl auch diesem Mehrwert, der Fülle von verwandten Begriffen wie Plastizität, Weichheit und Zartheit, die ihn zu jener Zeit umgaben, und der nuancierten Reflexion über die Beziehung zwischen diesen Termini. Mit Blick auf das Medium Bild sind innerhalb dieser Begriffsbestimmung zwei Konzeptionen besonders interessant; sie verbinden sich mit den Zeitgenossen Leonardo und Michelangelo. Beide Konzeptionen stehen im Zusammenhang mit den damals lebhaft debattierten Fragen um Sichtbarkeit. Leonardo hat diesbezüglich den bereits erwähnten Begriff des sfumato geprägt. Darauf weist auch Vasari in seiner Vita des Künstlers (1568) hin. Klaus Krüger nimmt Vasaris Ausführungen als Ausgangspunkt für eine Beschreibung von Leonardos Kunst des sfumato: »Folgt man Vasari […] so findet sich das unlösliche Wechselspiel zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, ›fra’l vedi e non vedi‹, in seiner genuinsten Ausprägung in der durch Leonardo begründeten Kunst des sfumato verwirklicht. In der Konturauflösung, der zarten Umschattung der Gegenstände und Figuren und der Verwischung ihrer Umrisse (›una certa oscurità di ombre bene intese‹) entzieht sich ihre faßliche [sic] Prägnanz, die feste Gegebenheit ihrer Formen dem Auge und wandelt sich in die Wirklichkeit einer Erscheinung, die der farblichen Textur des Bildes selbst eingewirkt ist; dem dunklen Grund, dem sich die Formen kraft der Wirkung ihres ›rilievo‹ entheben, bleiben sie zugleich konsubstanti18
ell verbunden.«
17 Vasari, Giorgio: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei [1568], kommentiert und hrsg. von Matteo Burioni, Berlin: Wagenbach 2006, S. 120. 18 Krüger, Klaus: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München: Fink 2001, S. 123.
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Gerade die hier angesprochene »Verwobenheit der Gegenstände und Figuren mit den Bedingungen ihrer bildlichen Erscheinung«19, das Zusammenspiel von Objekt und Medium, das Verschmelzen der Konturen als ein Verfahren, welches den Darstellungsgegenstand ins Medium seiner Darstellung förmlich einzuweben vermag, hat Michelangelo in einer vergleichbaren Bemerkung über Malerei einseitig zugunsten des skulpturalen Objekts interpretiert. Im Jahr 1547 hielt Benedetto Varchi zwei Vorlesungen an der Florentiner Akademie. Die erste Vorlesung behandelte Michelangelo als Dichter, die zweite hatte den paragone zum Thema. Die Skulptur hat im Wettstreit mit der Malerei gewöhnlich den schwächeren sozialen Status. Ein Argument der Bildhauer gegen ihre Konkurrenten war, wie Rudolf Preimesberger mit Bezug auf den Begriff des rilievo ausführt, die Malerei sei zutiefst scheinhaft, sie zeige das, was nicht ist – quel, che non è. Die Skulptur hingegen zeige nicht den Schein, sondern das, was ist – quel, che è.20 Michelangelo, der als Maler tätig war, sich selber aber vor allem als Bildhauer verstand, antwortete auf die zuvor gestartete Künstlerbefragung Varchis, Malerei sei umso besser, je mehr sie sich dem rilievo nähere. Preimesberger resümiert: »[D]er Anschein dreidimensionaler Körperlichkeit auf der Fläche ist das Wertkriterium der Malerei schlechthin. ›Andare verso il rilievo‹, ist das ästhetische Postulat, dem sie als Gattung zu genügen hat.«21 Sieht man sich Michelangelos Darstellung des Körpers im gemalten Bild an, wird ersichtlich, dass sein Verständnis von rilievo eines ist, das die Umrisslinie immer intakt lässt und entsprechend keinen Raum für sfumato-artige Effekte bietet. Eine Konturverwischung erfolgt hier nie, jedenfalls nicht in den bis heute überlieferten Gemälden und Fresken.22 Auf dem Gebiet der Bildhauerei dagegen experimentierte er durchaus mit Verfahren, die dem des sfumato verwandt sind, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.
19 Ebd. 20 Vgl. Preimesberger, Rudolf: Rilievo und Michelangelo: … benché ignorantemente, in: Ulrich Pfisterer und Max Seidel (Hrsg.): Visuelle Topoi: Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 2003, S. 304. 21 Ebd. 22 Dies gilt auch für das zeichnerische Werk: Auf keiner der überlieferten, Michelangelo zugeschriebenen Zeichnungen lässt sich eine Verwischung oder gar Auflösung der Kontur feststellen. Die Umrisslinie bleibt immer intakt, unabhängig davon, ob die Zeichnung als Vorstudie für eine Skulptur oder für ein Gemälde entstanden ist. Vgl. Schröder, Klaus Albrecht und Achim Gnann (Hrsg.): Michelangelo. Zeichnungen eines Genies, Kat. Ausst. Albertina Wien, Ostfildern: Hatje Cantz 2010.
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Helldunkel und rilievo in den Skulpturen Michelangelos23 Im bildhauerischen Werk von Michelangelo gibt es bekanntermaßen unvollendete bzw. mehr oder weniger vollendete Skulpturen. Selbst in manchen der hochgradig vollendeten Werken lässt sich das Moment des Unfertigen beobachten. Als Gründe für das nonfinito gibt die Forschung ikonoklastische und sozialhistorische Erklärungen (u. a. Horst Bredekamp, Joachim Poeschke) an,24 deren bekannteste die ist, dass der Künstler schlicht und ergreifend zu viele Aufträge hatte, um alle vollenden zu können. Demzufolge wären die unfertigen Werke vor allem Ausdruck der Überarbeitung des gefragten Künstlers. Der Status des nonfinito wäre der einer bloß technischen Unvollendetheit. Diese Erklärung hat sicher ihre Berechtigung, aber das Phänomen ist mit ihr wahrscheinlich noch nicht erschöpfend erklärt. Es gibt auch Gründe, die für die These sprechen, dass es sich bei dieser Unvollendetheit zugleich um ein ästhetisches Mittel handeln könnte. Das wird besonders deutlich, wenn der Aspekt von Licht und Schatten berücksichtigt wird, der mit den unterschiedlichen Stufen der Vollendung auf unterschiedliche Weise ins Spiel kommt. Häufig wird postuliert, dass das nonfinito vor allem eine Erscheinung des Spätwerks des Künstlers sei. Tatsächlich finden sich Spuren des Unfertigen bereits in Michelangelos frühen Werken. Mit den groben Meißelspuren in den unvollendeten Partien geht eine andere Art der Lichtbrechung einher. Das Licht wird hier nicht glänzend, sondern matt reflektiert. Ein Beispiel hierfür ist das Relief der KENTAURENSCHLACHT (um 1490-1492), zu dem Joachim Poeschke konstatiert: »Das Relief […] ist nicht vollendet. Eine bildmäßige Umrahmung, wie sie im späten Quattrocento die Regel war, wird vermieden […] Im Rohzustand belassen sind […] auch viele Details an den Figuren. Am meisten herausgearbeitet ist jeweils der Rumpf bzw. die Leibesmitte. Köpfe, Hände, Attribute etc. sind dagegen nur bossiert. Dies entspricht be-
23 Frank Fehrenbachs Vortrag Michelangelos Untote. Lebendigkeit im Kunstdiskurs der Renaissance vom 3. Februar 2011, anläßlich der Tagung Re-Animationen am Graduiertenkolleg Mediale Historiographien in Weimar, verdankt das folgende Unterkapitel wertvolle Impulse. Mögliche Irrtümer sind jedoch meine eigenen. 24 Vgl. Caroline Gabberts Erläuterung zum Begriff des nonfinito mit weiterführenden Literaturangaben in: Vasari, Giorgio: Das Leben des Michelangelo [1568], hrsg. von Alessandro Nova, bearb. von Caroline Gabbert, Berlin: Wagenbach 2009, S. 25f.; vgl. ebd. zu einzelnen unvollendeten Skulpturen die entsprechenden Fußnoten im ausführlichen Anmerkungsapparat.
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reits weitgehend der späteren, stets von der Mitte ausgehenden und nach und nach zur Pe25
ripherie vordringenden Arbeitsweise Michelangelos.«
Interessant ist zum einen der Befund, dass der Künstler im Schaffensprozess seiner Skulpturen stets von der Mitte des Körpers zu den Rändern vorgedrungen ist. Bemerkenswert ist zum anderen die Beobachtung, dass die Ränder unvollendet seien. Denn gerade dadurch, so ließe sich hinzufügen, kommt es zu einer lichttechnisch bedingten Unschärfe, die einen Übergang zwischen Figur und Raum zu gestalten vermag. Auch der so genannte TONDO TADDEI (um 1503) und der TONDO PITTI (um 1504-1505) sind unvollendet. Zu Letzterem schreibt Poeschke: »Insgesamt ist der Tondo unvollendet, und sehr unterschiedlich ist in den einzelnen Partien der jeweilige Grad der Ausführung. [Hier] dokumentiert sich […] das technische Vorgehen, das immer am Reliefganzen orientierte Herauslösen der Figuren aus dem Stein und die je nach Vollendungsgrad variierende Meißelschrift Michelangelos.«26
Wichtig in diesem Zitat ist die Beobachtung verschiedener Grade der Vollendung. Denn daraus resultieren, wie sich diese Beobachtung weiterentwickeln ließe, unterschiedliche Licht- und Schatteneffekte. Als die erste Vollplastik, die unvollendet blieb, gilt die Skulptur des HL. MATTHÄUS (1506). Dazu Poeschke: »Die Figur des hl. Matthäus […] ist kaum zur Hälfte aus dem Block herausgelöst. Gleichwohl ist sie als ganze schon in ihrer rohen Ummantelung wahrnehmbar.«27 Poeschke bezieht sich in seiner weiteren Ausführung auf Vasari, der sich sonst kritisch über nicht fertiggestellte Werke geäußert, diese Statue jedoch trotz ihres unfertigen Zustandes gelobt habe als ein »seine Vollkommenheit bereits zeigendes Werk«28, das er den Bildhauern »als hervorragendes Lehrbeispiel dafür, wie Figuren schichtweise aus dem Stein herauszuarbeiten seien«29 empfohlen habe. Das Werk zeigt seine Vollendung bereits, ist aber noch nicht vollendet. Die letzten Zitate suggerieren alle, dass es sich um eine bloß technische Unvollendetheit handelt. Wenn die Betrachtung allerdings um den Faktor des Lichts erweitert wird, bekommt man schnell den Eindruck, dass womöglich mehr im Spiel ist. Denn durch die jeweils unterschiedliche Lichtbrechung wird der Effekt
25 Poeschke, Joachim: Die Skulptur der Renaissance in Italien, Bd. 2: Michelangelo und seine Zeit, München: Hirmer 1992, S. 71. 26 Ebd., S. 85. 27 Ebd., S. 88. 28 Ebd., S. 89. 29 Ebd.
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einer skulpturalen Konturauflösung erzeugt. In der Verwischung der Umrisse der Figuren entzieht sich dem Auge ihre fassliche Prägnanz, die feste Gegebenheit ihrer Formen, und wandelt sich in die Wirklichkeit einer Erscheinung, die der steinernen Textur des Marmors selbst eingewirkt ist; dem massigen Grund, dem sich die Formen kraft der Wirkung ihres rilievo entheben, bleiben sie zugleich konsubstantiell verbunden, ließe sich in nahezu wörtlicher Analogie zu Klaus Krügers oben zitierter Analyse von Leonardos sfumato sagen. Unabhängig davon, welche Gründe für die Unvollendetheit die vorherrschenden sein mögen, lenken die beschriebenen Momente von Unschärfe den Blick auf die Materialität der Figur und auf die Oberflächenbeschaffenheit, die das Licht jeweils unterschiedlich reflektiert. Es gibt noch andere Momente zu beobachtender Unschärfe im Werk Michelangelos, die auch aus Gründen einer Schulung der Wahrnehmung von Relevanz sind. Zu denken wäre etwa an jene Fälle von hochgradig vollendeten Skulpturen, die nur partielle Unschärfen aufweisen. Ein Beispiel hierfür ist die Statue des SIEGERS (um 1520-1525) im Palazzo Vecchio in Florenz: Hier gibt es nicht ganz glatt polierte Stellen, etwa in Gesicht und Hals, sowie eine von gröberen Meißelspuren gezeichnete Stelle unter einer der beiden Schultern. Bemerkenswert sind diese Stellen deshalb, weil durch sie das Thema Licht und Schatten bereits in den Blick rückt, allerdings noch materialästhetisch gebunden ist. Denn zu sehen ist eine materialbedingt unterschiedliche Brechung des Lichts: Die glatten Oberflächen reflektieren das Licht glänzend, die raue Textur der erwähnten Stellen reflektiert es matt. Auf diese Weise kommt es zu einem nuancierten Spiel des Helldunkel. Interessanter noch scheint mir ein anderes Verfahren zu sein, das sich ebenfalls unter dem Aspekt der Unschärfe fassen ließe. So ist der Gesichtsausdruck des Jesuskindes der Gruppe MADONNA MIT KIND (um 1521-1534) in der MediciKapelle nicht zu erkennen, da die Figur ihren Kopf vom Betrachter vollständig abwendet. Eine ähnliche, wenn auch methodisch anders erzeugte Wirkung hat das Verschatten des Gesichts einer Figur, indem ihr Kopf nach unten geneigt dargestellt wird, wie etwa bei der NACHT (um 1525-1531) am selben Ort.30 Sta-
30 Ein weiterer Beleg für die Konzeption der Statue der NACHT im angeführten Sinne findet sich in einem Gedicht Michelangelos von 1545, in dem die Statue sich an einen imaginierten Betrachter wendet und diesen am Ende bittet: »Doch weck’ mich nicht auf – sprich leise.« Die Aufforderung, leise zu sprechen, erzeugt die Vorstellung eines Betrachters in der Medici-Kapelle, der seine Stimme senkt. Das Sprechen im Flüsterton weist eine strukturelle Verwandtschaft zum Phänomen des Schattens auf, weil beide diskrete Phänomene sind. Zitiert nach Vasari 2009, S. 108.
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tuen waren bekanntlich lange Zeit farbig oder wenigstens teilweise farbig gefasst. Dies galt selbst für Statuen aus wertvollen Materialien wie Marmor. Michelangelo gehört bereits zu den Künstlern, deren Skulpturen ohne farbige Fassung sind. Ein Grund dafür ist vermutlich der, dass seiner Wahrnehmung nach die Figur schon potenziell im Stein enthalten ist und vom Künstler nur noch freigelegt zu werden braucht. Ausgehend von dieser Wahrnehmung wäre es nicht sinnvoll, die Statue dann noch farbig zu fassen. Sie ist fertig, so wie sie aus dem Stein geborgen wird. Genau diese Sichtweise des Künstlers ist aber, wie mir scheint, Bedingung der Möglichkeit dafür, das Skulpturale im Medium des Helldunkel zu erforschen, ja die Möglichkeiten dieses Mediums gezielt für das Skulpturale auszunutzen. Auf diesen originellen Beitrag des Künstlers zu einer neuen Hermeneutik des Skulpturalen sei abschließend kurz eingegangen. Das Material, aus dem die bisher genannten Statuen Michelangelos bestehen, ist Marmor. Dieser ist grundsätzlich hell. Aber durch seine Modellierung entstehen Erhöhungen und Vertiefungen, beleuchtete und verschattete Zonen. Man könnte dieses Spiel von Licht und Schatten im Zusammenhang mit der Statue als akzidentell abtun. Dies würde der Sachlage jedoch nicht gerecht werden, denn Michelangelo setzt es gezielt ein, wie das Beispiel der NACHT mit ihrem verschatteten Gesicht zeigt. Der bewusste Umgang mit derartigen Licht- und Schattenwirkungen ließe sich an weiteren Beispielen demonstrieren. Die Statue steht nicht einfach im Licht, so dass es hier und da zur Bildung von Eigenschatten und Schattierungen kommt, sondern die skulpturale Form interagiert mit den Lichtverhältnissen des Ortes. Die Einbeziehung von Licht und Schatten in die Konzeption des Skulpturalen weist Michelangelo als einen der ersten Künstler aus, die das Skulpturale im Medium des Helldunkel erforscht haben, und das macht ihn im Kontext dieser Studie interessant.
Helldunkel und rilievo im Medium Fotografie Um nicht Gefahr zu laufen, in der Filmanalyse zu Fehldiagnosen zu kommen, sei unter den Aspekten des Helldunkel und des Skulpturalen zunächst das Medium Fotografie kurz betrachtet, da es in vieler Hinsicht als Vorläufermedium des Films angesehen werden kann. So kamen etwa in der Fotografie, ähnlich wie später im Film, Visualisierungstechniken zur Anwendung, die, wie eingangs bereits erwähnt, das Leben als Lichtspur festhalten. Das Verständnis der Fotografie als eines Mediums, in dem die Natur selbst zum Akteur wird, gehört bis heute zu den bekannten, immer wieder variierten Motiven der Theorie der Fotografie. Umso bemerkenswerter ist es, dass frühe Beobachter des Mediums ausgerechnet
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angesichts von Aufnahmen von Statuen ins Schwärmen gerieten. So schrieb der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt 1839 über seine Seheindrücke von Daguerreotypien: »Am herrlichsten wirkt Lampenlicht, marmorne Statuen, marmorne Basreliefs erleuchtend. Solche Platten, acht bis zehn Zoll lang, sechs Zoll hoch, auch größer, sind durch blendende Lichteffekte ausgezeichnet.«31
Der Eindruck großer Lichtfülle rührt offenbar aus dem materialästhetischen Zusammenspiel von Licht und hellem »Steinmaterial« her, um an Vasaris Formulierung anzuknüpfen. Auch der britische Fotograf William Henry Fox Talbot beschäftigte sich in The Pencil of Nature, veröffentlicht zwischen 1844 und 1846, mit den Effekten von Steinmaterial im Medium der Fotografie. Unter den beschriebenen Aufnahmen befindet sich auch die einer Skulptur, der Büste des Patroklus. Über sie heißt es: »Statuen, Büsten und andere Beispiele der Bildhauerkunst werden im allgemeinen durch das photographische [sic] Verfahren gut abgebildet; zudem – wegen ihrer weißen Farbe – sehr schnell.«32 Auch wenn er diese Beobachtung nicht näher ausführt, trifft er damit doch einen Punkt, der für die gegenwärtige Diskussion von Relevanz ist. Denn Talbot berührt hier indirekt die Frage, welche Art von Materialität ein Medium haben kann, das eine Lichtspur aufzeichnet. Die Objekthaftigkeit von Statuen stellt diesbezüglich auf den ersten Blick natürlich eine besondere Herausforderung dar, weil sie das genaue Gegenteil von der des Lichts ist. Sie bietet sich bei näherem Hinsehen aber paradoxerweise besonders für die fotografische Aufnahme an, weil eine ihrer formalen Qualitäten eine Farbigkeit ist (»weiße Farbe«), die der Materialität der Fotografie als Medium des Helldunkel offenbar entgegenkommt. Weiterhin macht Talbot sich in dieser Passage Gedanken über die Beleuchtung der Skulptur, über Sonnenlicht, das starke Schattenbildung hervorrufe, die es zu vermeiden gelte, sowie über mattes Licht, das vorzuziehen sei, um weiche Schatten zu erzeugen.33 Er macht sich hier mehr Gedanken über das Helldunkel als bei Aufnahmen von Personen. Das zeigt sich besonders deutlich im Ver-
31 Humboldt, Alexander von: Ein Besuch bei Daguerre, in: Wilfried Wiegand (Hrsg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, Frankfurt a. M.: Fischer 1981, S. 19-22, hier S. 19. 32 Talbot, William Henry Fox: Der Stift der Natur, in: Wilfried Wiegand (Hrsg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, Frankfurt a. M.: Fischer 1981, S. 45-88, hier S. 64. 33 Vgl. ebd.
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gleich zu seiner Beschreibung der Fotografie DIE LEITER, die ebenfalls zu den im Pencil of Nature besprochenen Abbildungen gehört. Hier heißt es: »Porträts lebender Menschen, einzeln oder in Gruppen, bilden eines der reizvollsten Themen der Photographie [sic] […].«34 Aufgrund der anfangs langen Belichtungszeit war es freilich schwierig, diese Porträts anzufertigen. Talbot empfindet das als einen Mangel, der allerdings durch einen Kunstgriff behoben werden könne: »Wenn jedoch eine Menschengruppe nach künstlerischen Gesichtspunkten arrangiert wird und ein wenig darin geübt ist, einige Sekunden lang in absoluter Bewegungslosigkeit zu verharren, dann lassen sich mit Leichtigkeit sehr ansprechende Bilder erzielen.«35 Die Personen, die vor der Kamera in absoluter Bewegungslosigkeit verharren, erscheinen in ihrer Statik für Momente fast wie Statuen.
Helldunkel und rilievo im Medium Film Auf den ersten Blick sind Statik und Dynamik unvereinbare Prinzipien. Der Widerspruch zwischen ihnen lässt sich gut an den unterschiedlichen Medien Skulptur und Film demonstrieren. Wie eingangs bereits erwähnt, hat man es beim Film mit zwei grundlegenden Dimensionen von Bewegung zu tun, die für einen besonders intensiven Eindruck von Bewegung sorgen: die nicht zu sehende Abfolge von Einzelbildern und die sichtbare Bewegung des Bildes. Auf die zuletzt genannte Dynamik hebt Panofsky ab, wenn er den Film, wie schon gesagt, als ein bewegtes Bild beschreibt.36 Aber das scheint nur noch einmal die Vermutung zu bestätigen, dass Skulpturalität und Bewegung unvereinbar seien. Lassen sich Aspekte des Skulpturalen und des Helldunkel sowie ihrer beider Zusammenspiel gleichwohl auch im Film ausfindig machen? Oder projiziert man hier bloß etwas auf das filmische Bild, das gar nicht in ihm selbst enthalten ist? Als Beispiel für eine besonders interessante Verwendung von Skulpturalität im Bewegtbild sei der Detektivfilm THE MALTESE FALCON (USA 1941; R: John Huston) herangezogen. Darin geht es um einen Privatdetektiv, der nach dem Mord an seinem Partner selbst unter Verdacht gerät.37 Regie führte John Huston,
34 Ebd., S. 75. 35 Ebd., S. 75f. 36 Vgl. Panofsky 1993, S. 21 und S. 24. 37 Ein schöner Nebeneffekt des Films ist, dass der titelgebende Malteser Falke in den Vorspann-Credits als Objekt eines »historischen« Diskurses präsentiert wird. Der Falke sei, so heißt es hier, im Jahr 1539 von den Rittern des Malteserordens als kostbares
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das Drehbuch nach dem gleichnamigen Roman stammt ebenfalls von ihm; die Hauptrolle übernahm Humphrey Bogart. Letzterer hatte damals schon eine gewisse Bekanntheit und die Rolle des Privatdetektivs im MALTESER FALKEN brachte ihm den Durchbruch. Der Film gilt als Auftakt und als eines der wichtigsten Referenzwerke des sogenannten Film Noir. Das Thema des Helldunkel taucht hier schon im Namen des Genres auf. Mehr oder weniger beeinflusst vom deutschen expressionistischen Kino mit seinen auffälligen Licht- und Schatteneffekten erstreckt sich dieses Genre des amerikanischen Kinos bekanntlich von Beginn der 1940er bis zum Ende der 1950er Jahre. Es ist heute nicht mehr ohne weiteres klar, woher, seit der ersten intensiven Rezeption im französischen Kino der 1950er Jahre, die anhaltende Faszination dieses Genres rührt, handelt es sich dabei doch überwiegend um schnell gedrehte B-Pictures. Ein Großteil der Forschungsdebatte hat sich bislang der Frage gewidmet, ob der Film Noir überhaupt als ein Genre oder eher als ein stilistisches Phänomen anzusehen ist. Auch ist er im Kontext der Genderforschung einer kritischen Revision unterzogen worden.38 Ohne die vorliegenden Ergebnisse in ihrem Erkenntniswert schmälern zu wollen, sei hier jedoch ein anderer Ansatz verfolgt, indem dieses Genre auf seine möglichen medienhistorischen Traditionen hin befragt wird. Anhand einer Analyse des MALTESER FALKEN soll ein erster Versuch in diese Richtung unternommen werden, indem der Frage nachgegangen wird, ob und inwieweit das Verhältnis von Helldunkel und rilievo in diesem Genre zur Geltung kommt. Inwiefern führen die zum Begriff des rilievo gewonnenen Erkenntnisse in der Filmanalyse zu Ergebnissen, die es ohne sie nicht geben könnte? Worin liegt der Vorteil dieses Ansatzes?
Geschenk für Kaiser Karl V. hergestellt worden. Für eine theoretische Betrachtung dieser Passage vgl. Vernet, Marc: The Filmic Transaction: On the Openings of Film Noirs, in: The Velvet Light Trap 20 (1983), S. 2-9, hier S. 5. 38 Als wohl prominenteste Autorin sei hier Laura Mulvey genannt. Mulvey hat in den frühen 1970er Jahren für die durch den Film Noir strukturierte Zuschauerposition vor dem Hintergrund der Psychoanalyse eine mit Angst vermischte männliche Schaulust ausgemacht. Ihr zufolge wird im Film Noir die Dimension der Angst typischerweise mit einer Abwertung, Bestrafung oder Rettung der als schuldig konzipierten Frau begegnet. Vgl. Mulvey, Laura: Visuelle Lust und narratives Kino, in: Franz-Josef Albersmeier (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 2001, S. 389-408, hier S. 400; vgl. auch die an Mulvey anschließenden Überlegungen von Autorinnen wie Marian E. Keane und Mary Ann Doane.
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Helldunkel und rilievo in einem Quellentext der Moderne Um den Vorteil dieses Ansatzes aufzeigen zu können, soll zunächst mit John Altons Painting with Light von 1949 ein zwischen Theorie und Praxis situierter Quellentext erwähnt werden,39 der den Aspekt der Skulpturalität thematisiert, ihn dann aber gewissermaßen verfehlt. Dieser Text kann als eine Art Kontrastfolie für die anschließende konkrete Filmanalyse dienen. Grundsätzlich gilt zunächst: Die Reduktion der Farbpalette auf Schwarz und Weiß ist beim Film zunächst technisch bedingt. Das schmälert aber keinesfalls den Eindruck von Wirklichkeit. So bemerkt Rudolf Arnheim in Film als Kunst 1932, dass die Reduzierung aller Farbwerte auf Schwarzweiß das Bild der Welt sehr stark ändere. Dennoch akzeptiere jeder Filmbesucher die Welt auf der Leinwand als eine naturgetreue.40 Auch Panofsky und später Ernst H. Gombrich41 argumentieren in eine ähnliche Richtung. Beide betonen das besondere Vermögen des Films zur Aufnahme der physischen Welt. Alle zuletzt genannten Autoren gehen also primär von Gegenständlichkeit aus. Sucht man nach entsprechenden Quellentexten in der Moderne, die diese Gegenständlichkeit in ein Verhältnis zum Helldunkel setzen, bietet sich vor allem das bereits erwähnte Buch von John Alton an. Dafür, dieses Buch heranzuziehen, lassen sich folgende Gründe anführen: Erstens ist der Autor selbst Kameramann, reflektiert also unmittelbar die Praxis des Mediums; zweitens war er u. a. zur Zeit des Film Noir als Kameramann tätig; drittens führte er bei bedeutenden Films Noirs, namentlich T-MEN (USA 1948; R: Anthony Mann), HE WALKED BY NIGHT (USA 1948; R: Alfred Werker) und THE BIG COMBO (USA 1955; R: Joseph H. Lewis) die Kamera. Liest man in seinem Buch, wie Alton die Arbeit des Kameramanns erläutert, ist man überrascht, wie sehr sich alles von der Lichtsetzung über Kameratechniken bis hin zur Wahl des Schauplatzes um die Herstellung von Dreidimensionalität dreht. In den erwähnten Filmen, bei denen Alton als Kameramann fungierte, lässt sich das gut beobachten. Auch wenn die Filme sehr dunkel sind und man deshalb die gezeigten Objekte häufig nur partiell erkennen kann, erscheinen zwi-
39 Alton, John: Painting with Light, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1995. 40 Arnheim, Rudolf: Film als Kunst, München: Hanser 1974, S. 30; vgl. dazu auch Noll Brinckmann 2007, S. 73. 41 Vgl. Gombrich, Ernst H.: Zeichen, Bild und Wirklichkeit. Ein Beitrag zum modernen Bilderstreit, in: ders.: Das forschende Auge. Kunstbetrachtung und Naturwahrnehmung, Frankfurt a. M./New York: Campus 1994, S. 93-120.
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schendurch doch immer wieder Aufnahmen von bemerkenswerter Plastizität. Allerdings ist es fraglich, ob dabei auch ein Bezug zum Material Stein beabsichtigt ist. Es bleiben vor allem menschliche Körper, die man sieht. Allusionen an den gesuchten Aspekt des Skulpturalen sind zumindest nicht deutlich zu erkennen. Eine bewusste Betonung dieses Aspekts wäre allerdings interessant, weil durch sie das Schwarzweiß auch als Objektfarbe zum Tragen käme. Möglicherweise hat John Huston mit seinen Inszenierungsstrategien u. a. genau an diesem Punkt im MALTESER FALKEN angesetzt. Meine Vermutung ist, dass die Betonung der Plastizität, die in der amerikanischen Beleuchtungspraxis Priorität hat, hier dezidierter als anderswo auch unter einem Begriff des Skulpturalen gefasst werden kann.42 Das Schwarzweiß ist hier nicht bloß technisch bedingt. Vielmehr werden unter Anwendung künstlerischer Verfahren, die auf eine Hervorhebung von Dimensionen des Skulpturalen in der Darstellung des Körpers abzielen, die spezifischen Möglichkeiten des Helldunkel auf eine Weise zur Entfaltung gebracht, die neu ist und medial tiefer ansetzt.
Helldunkel und rilievo: John Hustons T HE M ALTESE F ALCON Der Film THE MALTESE FALCON (1941) basiert auf dem gleichnamigen Roman von Dashiell Hammett aus dem Jahr 1930 und handelt von einem Privatdetektiv, Samuel Spade, der in einen kaum durchschaubaren Fall verwickelt wird. Beauftragt von einer gewissen Mrs. Wonderly gerät er, nachdem sein Partner ermordet wurde, bald selbst unter Mordverdacht. Auf eigene Faust nimmt Spade die Suche nach einer kostbaren Falkenskulptur auf, an der nicht nur Mrs. Wonderly interessiert ist, sondern auch eine Gangsterbande, zu der sie Kontakt hat. Nach einigem Hin und Her gelingt es Spade schließlich, den Fall zu lösen, und Mrs. Wonderly, die sich nicht nur als Brigid O’Shaughnessy, sondern auch als Mörderin entpuppt, der Polizei zu übergeben.43 Der von Bogart gespielte Privatdetektiv steht im Zentrum der Handlung. Im Drehbuch beschreibt John Huston den Charakter folgendermaßen: »He is what most private detectives would like to be, a hard,
42 Eine zum Teil ähnliche Hypothesenbildung weist die Forschung zu Filmen auf, in denen Statuen und filmische Figuren zueinander in Beziehung gesetzt werden. Vgl. Becker, Marcus und Steffen Zarutzki: Antinous vs. Greta Garbo, Susette zwischen Rudimenten der Antike. Vom Agieren der Statuen und Bilder im Film, in: kunsttexte.de 2 (2010), 29 Seiten. 43 Vgl. hierzu ausführlicher Körte, Peter: Humphrey Bogart, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 66.
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shifty fellow, able to take care of himself in any situation, able to get the best of anybody, he comes in contact with whether criminal, innocent bystander or client.«44 Hier wird Spade als ein Prototyp des tough guy entwickelt, als einer jener von der US-Literatur im Zuge von Börsenkrach und Weltwirtschaftskrise geschaffenen, zeittypischen, harten und desillusionierten Männer, die sich nichts vormachen lassen. Dazu gehört, dass er keinerlei Berührungsängste vor der Halbwelt des Gangstermilieus hat. Am deutlichsten zeigt Huston das, indem er Spade eine Affäre mit der zwielichtigen Brigid beginnen lässt, die nicht nur von Sex- und Geschäftsinteressen, sondern sogar von Anflügen gegenseitiger Anerkennung geprägt ist. Wie professionell, fast kalt Spade trotz des Verhältnisses agieren kann, zeigt sich immer wieder. Besonders deutlich wird dieser Charakterzug am Ende, als er Brigid mit ungerührter Miene der Polizei ausliefert. Im Charakter der Figur liegt insofern eine gewisse Härte, die allerdings durch die Aura der Persona Bogart überstrahlt wird.45 Beschränkt man sich für den Moment auf die Härte als einen wesentlichen Charakterzug der Figur, fällt auf, dass Huston diesen Zug nicht nur narrativ gestaltet, sondern hierfür auch eine präzise Bildlichkeit findet. Die Art und Weise, wie er sie gestaltet, verweist auf die Ebene eines formalen Geschehens. Auf dieser Ebene ist die Reduktion der Farbpalette auf Schwarz und Weiß nicht mehr nur technisch bedingt, sondern sie kommt auch als Objektfarbe zum Tragen. Um das zu zeigen, gilt es, auf die schon erwähnte vermeintliche Unvereinbarkeit von Skulpturalität und Film zurückzukommen. Huston löst sie nicht auf, sondern inszeniert sie als Bruchstelle, vor deren Folie die Spade-Figur an Kontur gewinnt. Als Beleg hierfür können bereits die ersten Bilder des Films dienen. Nach einigen Aufnahmen der Metropole San Francisco mit ihren Brücken, Hochhäusern und Reklametafeln, folgt ein Schnitt in den Innenraum von Spades Büro. In einer Nahaufnahme ist zu sehen, wie Spade seitlich hinter seinem Schreibtisch sitzt, nach unten blickt und sich eine Zigarette dreht. Im Roman von Hammett ist die Figur blond, Spade dagegen hat dunkles Haar.46 Auch wenn die Figur nicht wie eine Statue im Raum steht, sondern in einer Nahaufnahme angeschnitten zur Er-
44 Vgl. http://www.dailyscript.com/scripts/Maltese_Falcon.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.02.2011). 45 Vgl. Körte 1992, S. 69. 46 Hustons Beschreibung der Figur im Drehbuch spricht bereits von »dark hair«. An dieser und ähnlichen Änderungen, die er in seinem Skript gegenüber dem Roman von Hammett vornimmt, zeigt sich schon sein geschickter Umgang mit dem Helldunkel als Mittel filmischer Gestaltung. Vgl. http://www.dailyscript.com/scripts/Maltese_ Falcon.pdf.
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scheinung gelangt, gibt es doch auch hier bereits Indizien, die sich im Sinne der Betonung einer Dimension des Skulpturalen lesen lassen: Die helle Stirn, das dunkle Haar und die dunklen Augenbrauen sowie dunkler Anzug, helles Hemd und dunkle Krawatte tragen zu einer betont kontrastiven Anlage bei. Es sind alles andere als weiche Helldunkel-Werte, die hier Betonung finden.
Abbildung 9: Humphrey Bogart als Samuel Spade im Gespräch mit Mary Astor alias Brigid O’Shaughnessy in THE MALTESE FALCON. Diese Charakterisierung der Figur auf einer formalen Ebene wird im Zusammenspiel mit den anderen noch akzentuiert. Als Spades Sekretärin Mrs. Wonderly anmeldet, lässt ihr offenes Gesicht mit den weit geöffneten Augen Spades beharrlichen Blick nach unten (auf seine Zigarette) nur umso deutlicher bewusst werden. Es gibt scheinbar keine Resonanz. Und als Mrs. Wonderly ins Büro kommt, ist sie mit ihrem Hutschleier und dem umgehängten Fuchsschwanz nicht nur von weichen Materialien umgeben, sondern auch in ein weicheres Licht getaucht. Selbst der tonale Abstand zwischen ihrem sehr dunklen Hut und ihrem extrem hellen Teint bildet nicht diesen harten Kontrast, wie er bei Bogarts Figur zu erkennen war. Durch die Hutkrempe, den Hutschleier und die Lichtführung von oben erfährt dieser Kontrast vielmehr eine Brechung: Das Gesicht der Figur erscheint partiell verschattet. Der Akzent liegt hier nicht auf einem Gegensatz zwischen Schwarz und Weiß, sondern auf dem Übergang zwischen Hell und Dunkel. Das alles vermittelt den Eindruck, die Figur sei aus einem weicheren Material als die von Spade, die ihr gegenüber sitzt (Abb. 9). Der beschriebene Effekt lässt sich nochmals beobachten, wenn Spades Kollege Miles Archer bald darauf in das Büro kommt. Er ist mit seinem hellgrauen
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Anzug und dem dunkelblonden Haar ganz in mittlere Grautöne getaucht. Den graduellen Unterschied in der Inszenierung der tonalen Werte mag eine Einstellung verdeutlichen, die Bogart zwischen den beiden anderen Darstellern zeigt (Abb. 10). Akzentuiert durch den dunklen Grund (Jackett, Stuhllehne), von dem sich die hellen Partien (Gesicht, Hände) umso deutlicher abheben, treffen in der Bogart-Figur die stärksten Hell- und Dunkelwerte in diesem Bild aufeinander.
Abbildung 10: Spade zwischen seinem Partner Miles Archer (Jerome Cowan) und Brigid in THE MALTESE FALCON. Es ließe sich einwenden, dass derartige Effekte auch schon in früheren Verfilmungen des Stoffs Betonung fanden. Die Version von 1931 (USA; R: Roy del Ruth) beginnt ebenfalls mit Bildern von San Francisco, in denen die steinerne Hochhaus-Architektur sogar stärker ins Auge springt. Es folgen Aufnahmen aus dem Inneren des Büros. Zunächst sind Schatten hinter einer Milchglasscheibe sichtbar, dann geht die Tür auf und Spade ist deutlich zu sehen. Er hat ebenfalls dunkles Haar und trägt einen dunkelgrauen Anzug, was in wirkungsvollem Kontrast zu seiner hellen Haut steht. In der Version von 1936 (USA; R: William Dieterle) beginnt der Film an einem Bahnhof, zeigt Spade dann während einer Zugfahrt und lässt ihn erst danach das Büro betreten. Hier dominieren mittlere Grautöne: So hat der Darsteller des Spade dunkelblondes Haar und trägt einen grauen Anzug. Das Aussehen des Protagonisten dient in der Exposition des Films nicht dazu, harte Kontraste zu schaffen. Und die Umgebung erscheint ebenfalls in einem Licht, das mittlere Werte begünstigt. Sicher, es gibt in der Kameraarbeit deutliche stilistische Parallelen zwischen den Verfilmungen von 1936 und 1941. Diese Parallelen zeigen sich vor allem in einer bemerkenswert
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fotografischen Qualität der Bilder. Man sieht den Bildern an, dass in beiden Fällen der vormalige Fotograf Arthur Edeson als Kameramann tätig war. Doch Huston hat sich in der Inszenierung der Spade-Figur und im dramaturgischen Aufbau der Exposition deutlich an der ersten Verfilmung von 1931 orientiert. Nachdem im gegenwärtigen Zusammenhang der Akzent auf der BogartFigur liegt, empfiehlt sich eine vergleichende Analyse von daher nur mit der Verfilmung von 1931. Das entscheidende Distinktionsmerkmal, so zeigt sich in der Analyse, besteht überraschenderweise vor allem in der Inszenierung von Mimik und Gestik sowie der Bewegung der filmischen Figur im Raum, was letztlich einer Akzentuierung des Helldunkel zugute kommt. Während sich der Darsteller des früheren Films geschmeidig bewegt und insofern mit dem Moment der Bewegung des Films übereinstimmt, werden in den verschiedenen Spielarten von Bewegung bei Bogart kaum merkliche Brüche kenntlich. Als Spade sich anfangs eine Zigarette dreht, ruht sein linker Unterarm auf dem Tisch. Die linke Hand hält das Blatt, während er mit seiner Rechten aus einem handlichen Leinenbeutel Tabak in das Blatt streut. Während sich der rechte Arm bewegt, ist der linke also unbewegt. Diese Spannung zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit zeigt sich auch, als er den Leinenbeutel an sein Gesicht führt, um einen Faden zwischen die Lippen zu bekommen, mit dem er ihn zuzieht, während die Linke immer noch relativ reglos das Blatt mit dem Tabak hält. Während er den Beutel auf diese Weise schließt, verzieht er die Augenwinkel auf eine Weise, als würde ihn die Bewegung der Gesichtsmuskeln eine gewisse Anstrengung kosten.47 Diese für die Figur äußerst charakteristische Geste, die sich noch öfters im Verlauf des Films wiederholen wird, unterstreicht aber nur den Eindruck einer partiellen Härte der Substanz, aus der die Figur zu bestehen scheint. Die Einführung der Figur wurde so ausführlich beschrieben, um wesentliche Inszenierungsstrategien kenntlich zu machen, die auch im weiteren Verlauf des Films von Bedeutung sind: Das Thema der Skulptur erfährt durch die Bewegungsdimension des Films nicht zwangsläufig eine Auflösung. Im Gegenteil, skulpturale Aspekte können bewusst als Gestaltungsmittel Verwendung finden. So inszeniert Huston den Spade-Charakter, wie gezeigt wurde, häufig gezielt in
47 Die Oberlippe des Schauspielers Humphrey Bogart war infolge einer Narbe gelähmt. Vgl. Körte 1992, S. 9. Auch wenn die Narbe sich in dieser Einstellung auf der der Kamera abgewandten Seite des Gesichts befindet und überhaupt die Figur meistens so ins Bild gerückt erscheint, dass man den Makel nicht sieht, scheint Huston aus der vermeintlichen Schwäche des Schauspielers geradezu eine Stärke, wenn nicht ein Markenzeichen der Figur zu entwickeln.
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einem Gegensatz zur Wandelbarkeit der menschlichen Physis und zur Bewegtheit des Filmbildes – etwa durch künstlerische Verfahren wie eine reduzierte Mimik und Gestik, Wortkargheit oder das leicht Maskenhafte seines Gesichts. Gerade dadurch erhält die filmische Figur etwas Statuarisches und prägt sich besonders plastisch in die Erinnerung ein. Die Frage, ob sich Aspekte des Helldunkel und des Skulpturalen sowie ihrer beider Zusammenspiel auch im Medium Film finden lassen, lässt sich insofern positiv beantworten.
Transformationen Für den Themenkomplex der Transformationen ist das Erarbeitete von besonderer Relevanz. Der Sprung von der Frühen Neuzeit in die Moderne ist sicherlich größer als man zunächst meinen möchte. Doch dahinter steht ein wichtiger Gedanke: Die Überlegung, dass sich Rezeptionsformen und Lesart nicht nur abstrakt wahrnehmungstheoretisch aus dem Medium Film heraus erschließen lassen, sondern kunsthistorisch vielfach determiniert und gebrochen sind. Es galt vor allem das Problem zu lösen, wie sich Aspekte der Skulpturalität und des Helldunkel sowie ihrer beider Zusammenspiel als mediale Bruchstelle kenntlich machen ließen. Rilievo bezeichnet, wie gezeigt wurde, üblicherweise den mittels Licht und Schatten erzeugten Anschein dreidimensionaler Körperlichkeit. Die Analyse dieses Begriffs in seinen ursprünglichen Zusammenhängen konnte insofern zu einer Lösung des Problems beitragen, als sie den Blick für Momente des rilievo in der Moderne, insbesondere im Film, geschult hat. Kaum merkliche Brüche in der Performance eines Charakters zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit, physischer Präsenz und dem Anschein von Skulpturalität ermöglichen es, die Reduktion der Farbpalette auf Schwarz und Weiß nicht bloß als technisch bedingt wahrzunehmen, sondern partiell auch als Objektfarbe zum Tragen kommen zu lassen. Dies kann etwa geschehen, wie gezeigt wurde, indem eine filmische Figur auch unter dem Begriff des rilievo definiert wird. Die filmische Figur ist hierbei nicht einfach nur im Film anwesend, sondern interagiert auf eine Weise mit den Bewegungsverhältnissen des Mediums, die eine Betrachtung der Figur auch unter dem Aspekt des Skulpturalen erlaubt. Gerade weil auf diese Weise eine mediale Bruchstelle kenntlich gemacht wird, kann das filmische Bild zugleich in seiner Eigenwirklichkeit und in seinen selbstbezüglichen Aspekten deutlicher hervortreten.
AN DEN GRENZEN DER GATTUNGEN
Lebende Bilder in der Fotografie A NASTASIA D ITTMANN
Es ist auffallend, dass unabhängig voneinander drei Symposiumsvorträge das Problemfeld der lebenden Bilder, auch tableaux vivants genannt, als Phänomen der Entgrenzung in den Künsten zum Thema hatten. Während Uta Daur medienüberschreitende Strategien des Melodrams in der Gegenwartsfotografie diskutierte, stellte Julia Quandt tableau-artige, genuin malerische Inszenierungsformen im Spielfilm vor. Der vorliegende Beitrag nimmt zwei wesentliche Aspekte dieser Vorträge auf: Die intermediale Absicht speziell der Fotografie, tableaux zu benutzen, um neue Bilder zu modellieren sowie die Konstitution und Reproduktion ikonografischer Darstellungskonventionen aus der Hochkunst in analogen Aufzeichnungssystemen. Bis zum Aufkommen des fotografischen Aufzeichnungsverfahrens sind lebende Bilder größtenteils eine bilderlose Kunst. So überrascht es nicht, dass die ersten systematischen Untersuchungen zu diesem Problemfeld von theater- und literaturwissenschaftlicher Seite zu verzeichnen sind.1 Sukzessive kamen ein-
1
Vgl. zu der theaterwissenschaftlichen Perspektive vor allem Holmström, Kirsten Gram: Monodrama, Attitudes, Tableaux Vivants. Studies on some trends of theatrical fashion 1770-1815, Stockholm: Almqvist & Wiksell 1967; vgl. auch Goodden, Angelica: Peinture parlante. The tableaux and the drame, in: French Studies 4 (1984), S. 314. Ferner die literaturwissenschaftliche Studie von Langen, August: Attitüde und Tableau in der Goethezeit, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 12 (1968), S. 194-258; vgl. Miller, Norbert: Mutmaßung über lebende Bilder: Attitüde und »tableau vivant« als Anschauungsform des 19. Jahrhundert, in: Helga de la Motte-Haber (Hrsg.): Das Triviale in Literatur, Musik und bildender Kunst (Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts, Bd. 18), Frankfurt a. M.: Klostermann 1972, S. 106-130. Zu den neueren Arbeiten über die Lebenden Bilder in Goethes WAHLVERWANDTSCHAFTEN vgl. Reschke, Nils: ›Die Wirklichkeit als Bild‹. Lebende
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schlägige Arbeiten aus der Kunstgeschichte, der Musikwissenschaft und der Filmwissenschaft hinzu.2 Die umfangreich recherchierte Studie von Birgit Jooss ist dabei die erste systematische Untersuchung zu der Genese und den vielfältigen Erscheinungsformen des tableau vivant in der Goethezeit. Neben dem Problem der terminologischen Ein- und Abgrenzung von tableaux vivants, ihren Erscheinungsformen, ihren Bildvorlagen, ihres Kunstwerts und den Aspekten ihrer zeitgenössischen Rezeption, verzeichnet der Katalog zudem chronologisch die von Jooss gesichteten Quellen zu Aufführungen, beschränkt sich jedoch dem Titel entsprechend auf die zwischen 1760 und 1820 liegenden Ereignisse, weshalb das Zusammenwirken von lebendem Bild und Fotografie bzw. Film keine Berücksichtigung findet. Diesen Aspekt thematisiert Joanna Barcks interdisziplinäre Studie zu den tableaux vivants. Die Autorin analysiert die eigentümlichen Strukturen und die narratologischen Funktionen in Spielfilmen von Giulio Antamoro, Alexander Korda, Luchino Visconti und Pier Paolo Pasolini. Barck bezeichnet dabei das tableau vivant im Filmbild als ein trojanisches Pferd, das das Gemälde als etwas Körperlich-Verlebendigtes hineinschmuggelt.3 Gemeint ist hier die äußerliche Angleichung des lebenden Bildes in die filmische Form, die sich im Übergang von Gemälde zum Bewegtbild positioniert und somit eine doppelt angelegte, mediale Übersetzung des Gemäldes – in den Körper des Schauspielers und ins Filmbild – nach sich zieht. Die Wiener Kunsthalle zeigte 2002 am Beispiel von über dreißig Künstlern und Künstlerinnen eine Ausstellung über die Entwicklung des tableau vivant seit dem 19. Jahrhundert und seine Bedeutung für die zeitgenössische Kunst. Die historische Bandbreite dieser Ausstellung verweist auf die Bedeutung des tableau vivant für die Kunst- und Mediengeschichte. Dem Kuratorenteam ist damit der Kraftakt gelungen, eine kohä-
Bilder in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, in: Jürgen Fohrmann et al. (Hrsg.): Medien der Präsenz: Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Köln: DuMont 2001, S. 42-69. 2
Exemplarisch seien hier folgende Studien genannt: Jooss, Birgit: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin: Reimer 1999; Mungen, Anno: BilderMusik: Panoramen, Tableaux vivants und Lichtbilder als multimediale Darstellungsform in Theater und Musikaufführungen vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Remscheid: Gardez! 2002; Barck, Joanna: Hin zum Film – Zurück zu den Bildern. Tableaux Vivants: »Lebende Bilder« in Filmen von Antamoro, Korda, Visconti und Pasolini, Bielefeld: transcript 2008. Derzeit entsteht eine monografische Studie zu den tableaux vivants von den Anfängen um 1800 bis in die Gegenwart von Cordula Grewe (Columbia University, New York).
3
Barck 2008, S. 3 und S. 310.
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rente interdisziplinäre Studie zum tableau vivant zusammenzustellen, die bis heute an Materialreichtum nicht übertroffen wurde und einen Fundus für künftige Forschungsarbeiten bereitstellen dürfte.4 Es liegen nur wenige Arbeiten vor, die das Problem des tableau vivant in der Fotografie in Einzelbetrachtungen untersucht haben. Der Wiener Katalog von 2002 enthält einen Aufsatz von Mara Reissberger zur Sprache der lebenden Bilder, in dem die Autorin nicht nur die Vorbereitung und Durchführung von tableaux vivants, sondern auch deren Charakteristika als Reproduktionsform und neues Original nachzeichnet. Die Verbindung, die tableau vivant und Fotografie eingehen, bezeichnet sie als eine »Allianz zu beider Nutzen«5, oder genauer gesprochen: Eine an Ort und Zeit gebundene Präsentation, selbst schon eine Kopie, erfährt durch die fotografische Abbildung zum ersten Mal eine Repräsentation. Das fotografierte tableau vivant wird somit zum Sammlungsgegenstand und Bestandteil der materiellen Bilderzirkulation, nicht zuletzt aufgrund seines Status einer echten Kunstreproduktion. Der von Reissberger angesprochene Medienwechsel, durch den tableaux vivants bzw. tableau-vivant-artige Inszenierungen selbst zum Gegenstand eines Abbilds werden, ist für das Aufkommen der fotografischen Aktstudien nach Vorbildern der abendländischen Rhetorik sowie für ihre Zirkulation und Nutzung eine maßgebliche Voraussetzung. Die von Susanne Holschbach vorliegende theaterwissenschaftliche Studie zur künstlerischen Fotografie von berühmten Schauspielerinnen führt diesen Aspekt aus. Die Autorin zeigt auf, wie im Fotoatelier ein Repertoire an theatralischen Gesten fotografisch inszeniert worden ist. Am Beispiel der umfangreichen Konvolute fotografischer Rollenporträts von Charlotte Wolter und Clara Ziegler hat Holschbach analysiert, wie das individuelle Ausdrucksbegehren der Darstellerinnen und das fotografische Setting in der Herstellung eines dem neuen technischen Medium adäquaten Körperbildes zusammenwirken. In ihrer Zielsetzung und ihrem Gegenstandsfeld geht die Studie weit über einen fotohistorischen Horizont hinaus und fasst in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive Untersuchungsergebnisse aus
4
Folie, Sabine und Michael Glasmeier: Tableaux Vivants. Lebende Bilder und Attitü-
5
Reissberger, Mara: Die »Sprache« der lebenden Bilder, in: Folie und Glasmeier Kat.
den in Fotografie, Film und Video, Kat. Ausst. Kunsthalle Wien, Wien 2002. Ausst. 2002, S. 189-210, hier S. 202-204; deren exemplarischen Studien zu den fotografisch überlieferten Aufführungen aus dem Umfeld des Wiener Adels und Großbürgertums nehmen hier größtenteils die Ergebnisse eines früheren Aufsatzes auf: Reissberger, Mara: Das Lebende Bild und sein ›Überleben‹. Versuch einer Spurensicherung, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 14 (1994), S. 3-18.
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den Gender Studies, der Psychiatriegeschichte und den Kunst- und Medienwissenschaften zusammen.6 Lebende Bilder sind ein Paradigma für das Ausloten von Gattungsgrenzen in den Künsten sowie Kunstwissenschaften. Dabei ist es zunächst von sekundärer Bedeutung, ob man die pragmatische Struktur der um 1800 entstandenen Aufführungspraxis des Bildernachstellens durch lebende Personen anspricht oder die spezifisch-semantische Dimension der leiblichen Interpretation von Kunstwerken. Lebende Bilder sind sowohl Kunstproblem wie auch Kunstaufgabe und unterlaufen insofern eine eindeutige ontologische Zuordnung – als Ereignis und Artefakt. Durch den Einsatz des Körpers als künstlerisches Medium haben diese nachhaltig einen Wandel der Wahrnehmung von Kunst vorangetrieben, der unterschiedliche Spielarten kennt. Als eine dieser Spielarten hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Genre der académie (pseudonymisch auch étude d’après nature) in Frankreich konstituiert. Bei Akademien handelt es sich um fotografische Aktdarstellungen, die als Modellstudien für Künstler und Kunststudenten, insbesondere im akademischen Kontext als Ersatz für das lebende Modell, erstellt wurden.7 Im dezidierten Rückgriff auf vorbildliche Antiken und Werke Alter Meister entwickelten die präsentierten Modelle in der Künstlichkeit der angehaltenen Körperposen und deren querschnitthafter Anordnung zur gesamten abendländischen Ikonografie eine bis dato unbekannte Bildsprache, die im exemplarischen »Anknüpfen an Überkommenes und Öffnung gegenüber dem
6
Holschbach, Susanne: Vom Ausdruck zur Pose. Theatralität und Weiblichkeit in der Fotografie des 19. Jahrhunderts, Berlin: Reimer 2006. Zu nennen ist auch ein im selben Jahr erschienener Aufsatz, der einen Teilaspekt der oben genannten Publikation aufgreift und vertieft: Holschbach, Susanne: Von den Theaterleidenschaften zu den Alltagsdramen. Karl Michels fotografische Gebärdenlexika von 1886 und 1910, in: Katharina Sykora et al. (Hrsg.): Fotografische Leidenschaften, Marburg: Jonas 2006, S. 57-72.
7
Vgl. hierzu folgende Aufsätze: Schmoll, Josef Adolf gen. Eisenwert: Akademien. Fotografische Studien des nackten Körpers von Künstlern für Künstler, in: Michael Köhler und Gisela Barche (Hrsg.): Das Aktfoto, Ansichten vom Körper im fotografischen Zeitalter. Ästhetik, Geschichte, Ideologie, München: Bucher 1985, S. 62-115; vgl. Planchon-de Font-Réaulx, Dominique: La photographie comme modèle: ›Les études d´après nature‹, in: Alain d’Hooghe: Autour du symbolisme. Photographie et peinture au XIXe siècle, Amsterdam: Amsterdam University Press 2004, S. 59-68; vgl. Pohlmann, Ulrich: Die Aktfotografie im 19. Jahrhundert zwischen Ideal und Wirklichkeit, in: ders. und Rudolf Scheutle (Hrsg.): Nude Visions. 150 Jahre Körperbilder in der Fotografie, Heidelberg: Kehrer 2009, S. 15-26.
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Zeitgemäßen«8 gewissermaßen daran beteiligt war, das Überleben der lebenden Bilder in den neuen Medien zu gewährleisten.
Natürliche Künstlichkeit par excellence – zum Wesen der tableaux vivants »Lebende Bilder […] sind szenische Arrangements von Personen, die für kurze Zeit stumm und bewegungslos gehalten werden und sich so für den Betrachter zu einem Bild formieren. Es handelt sich um ein kulturgeschichtliches Phänomen, das zwischen bildender und darstellender Kunst steht«,9
fasst Birgit Jooss das Wesen und die Struktur eines tableau vivant zusammen. Die von Jooss angedeutete hybride Natur der lebenden Bilder – ein paradoxes Zusammenwirken von Verlebendigung und Stillstellung zugleich – stellt diese Kunstform vor die beinahe unlösbare Aufgabe, natürliche Künstlichkeit zu erzeugen. Für kurze Zeit werden die Körper der darstellenden Personen zum Artefakt, welches die Zuschauer einerseits in Erstaunen versetzen sollte und andererseits als gesellschaftliches Amüsement die Freude am Erkennen des ausgewählten tableau beinhaltete. Die Grundsatzidee, die den historischen tableaux vivants immanent ist, folgt der Vorstellung, bei einem Gemälde oder einer Statue handele es sich gewissermaßen um einen angehaltenen Moment, der in seine Körperlichkeit überführt werden müsse, um wieder lebendig zu sein. Das Ausloten der Gattungsgrenzen von bildender und darstellender Kunst beim lebenden Bild kommt demnach durch den Einsatz des Körpers zustande, der einen Medienwechsel induziert, Kunstbetrachtung als Kunstbeobachtung konstituiert und Lebendigkeit und Künstlichkeit simultan erzeugt. Die Verschiebung der Parameter von Natur- und Kunstnachbildung hat zur Folge, dass der Körper der Darsteller mit wirkungs- und produktionsästhetischen Aporien konfrontiert wird, die sich in der Identität und Differenz zwischen dem kunstgeschichtlichen Vorbild und dessen Nachbildung manifestieren lassen. Der Lobtopos und Wirkungsaspekt der täuschenden Lebendigkeit wird bei den tableaux vivants in einer für die Nachwirkung äußerst unwirksamen Form aufbewahrt: Als Ereignis ist der Aufführung von tableaux vivants eine klar definierte orts- und zeitgebundene Präsentation vorgegeben. Ist demnach die Entgrenzung der Kunst auf die Spitze getrieben? Heben sich Kunst und Natur gegenseitig auf? Es ist bezeichnend – geradezu cha-
8
Reissberger 2002, S. 204.
9
Jooss 1999, S. 13.
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rakteristisch –, dass lebende Bilder sich ihrerseits selbst in andere Medien hineinbringen, um überhaupt als permanentes Kunstprodukt wahrgenommen zu werden.10
Lebendes Bild und seine fotografische Reproduzierbarkeit In André-Adolphe-Eugène Disdéris 1862 erschienenem Kompendium L’Art de la Photographie kommentiert der Autor ausführlich das Fotografieren so genannter belebter Szenen (scénes animées), wobei er auf die kürzlich ausgestellten Genrefotografien aus England Bezug nimmt. Moniert Disdéri einerseits den gestellten Ausdruck der Modelle, so ist es seiner Ansicht nach vor allem das Scheitern in der Herstellung einer Fiktion, für die das fotografische Verfahren nicht abstrahierend genug sei. Anstatt eine fiktive Wirklichkeit zu schaffen, sehe man nur lächerliche Simulakren (ridicules simulacres).11 Die Fotografie, so Disdéris Argument, halte den Betrachter auf der Ebene der Darstellung fest und erzeuge so eine unerwünschte Theatralität. Was für die belebten Szenen eine Absorption des Betrachters in die fiktive Realität verhindert, reift in der Aktfotografie seit den 1850er Jahren in Frankreich zu einem eigenen Bildsujet an, welches Disdéri als trauervolle Nuditäten (tristes nudités) verhandelt.12 Die eigentliche Geburt der Akademien ist dabei primär dem lapidaren Umstand verpflichtet, dass die von Glasnegativen auf Papierabzügen hergestellten Aktstudien sich wesentlich preisgünstiger in der Handhabung erwiesen, als die eigens für Studiensitzungen bestellten Berufsmodelle.13 Als wichtige Grundlage
10 Michel Foucault verwendet die Metapher des Schmugglers in seiner diskursanalytischen Skizze Die photogene Malerei (1975). Die Wahl eines tableau vivant als Motiv zählt er zu den Paradigmen der Experimentierfreudigkeit in der frühen Fotografie. Vgl. Foucault, Michel: Die photogene Malerei, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. II, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 871. 11 Vgl. Disdéri, André-Adolphe-Eugène: L’Art de la Photographie, Paris: Imprimerie de J. Claye 1862, S. 301. 12 Ebd., S. 302-205. 13 Vgl. hierzu folgende Studien: McCauley, Elizabeth Anne: Industrial Madness. Commercial Photography in Paris 1848-1871, New Haven/London: Yale University Press 1994; vgl. Waller, Susan: The invention of the model. Artists and models in Paris, 1830 – 1870, Aldershot: Ashgate 2005; vgl. dies.: Professional poseurs. The male model in the Ecole des Beaux-Arts and the popular imagination, in: The Oxford Art Journal 2 (2002), S. 41-64.
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der Künstlerausbildung dienten die entstandenen Aktfotografien als Ersatz für das lebende Modell in den akademischen Zeichenkursen sowie in Morphologieund Anatomieklassen. Die rasche Etablierung der fotografischen Aktstudien im Akademiebetrieb gründet dabei auf einer eindeutigen Zweckbestimmung als Hilfsmittel für die Künste, nicht als eigenständiges Kunstwerk. Der interpretative Umgang mit ikonografisch bekannten Kunstwerken durch Berufsmodelle indes zeichnet die im Atelier entstandenen Aktstudien als eine Sonderform des tableau vivant aus. Auch hier ist es der lebende Körper, der zum temporären Artefakt generiert wird. Die Fixierung auf dem Fotopapier garantiert den Aktstudien dabei ein orts- und zeitunabhängiges Nachwirken. Die absichtsvolle Künstlichkeit der angehaltenen Posen ist didaktisch motiviert und macht Strukturen sichtbar, die jeder Künstler verstehen und anzuwenden lernen musste. Es ist also die konkrete Anwendung, die bewusste Suche nach bekannten kunstgeschichtlichen Vorbildern, die eine Akademie mit dem tableau vivant verbindet: Aber ist es eine Allianz zu beider Nutzen? Folgt man Disdéri, scheint es doch gerade die Wirklichkeitstreue der Fotografie zu sein, die das Wesen der tableaux vivants untergräbt, indem diese Struktur als inszeniert entlarvt wird. Bei den Akademien allerdings bestand die Hauptaufgabe des Fotografen darin, möglichst makellose, ideale und damit kunstwürdige Körper zu zeigen. Der Blick sollte direkt auf die angehaltene Pose gelenkt sein. Was genau übernehmen Akademien von einem tableau vivant? Ist es nur die körperliche Interpretation eines Kunstwerkes oder ist es gerade das fotografische Verfahren selbst, welches zwangsläufig wie ein tableau vivant wirken konnte? Da eine Akademie selbst als Vorlage bzw. Studienmaterial konzipiert ist, greift hier Disdéris Kritik an der Theatralik und dem Scheitern der Inszenierung in der Fotografie nur bedingt, denn die Ateliersituation wird in die Aufnahme entweder offen durch einen Staffagehintergrund eingebunden oder komplett ausgeblendet, wobei in diesem Fall das Modell nicht selten einem musealen Exponat gleicht. In seinem fotografischen Kompendium plagen Disdéri auch eher moralische Sorgen, die er unter Schaudern schildert. Er fragt sich, wie ein Fotograf jemals wahrhaft schöne Bilder (images vraiment belles) erlangen könnte, wenn ihm Damen von kaum noch zweifelhaftem Ruf gegen Bezahlung Modell zur Venus stünden.14 Es sind die Angst und Sorge vor falschen Vorbildern, die Disdéri am Einsatz des Körpers, vor allem des weiblichen Körpers, in den Akademien anspricht. Implizit erwartete man auch von den lebenden Bildern eine interpretatorische Leistung zwischen Natur- und Idealnachahmung. Der deutsche Philosoph Friedrich Hegel spricht in seinen Vorlesungen über Ästhetik explizit
14 Disdéri 1862, S. 303f.
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diese wirkungsästhetischen Aporien eines tableau vivant an.15 Indem man Alltagsgesichter verwende, die niemals den frommen, seligen und freudigen Zügen der Raffaelischen Madonnen gemäß sein könnten, seien lebende Bilder zweckwidrig in der Wirkung auf den Betrachter. Die äußere Form der Dinge spiegle eben auch den Grad an Seelentiefe und Integrität wider, aber nicht jede Form der Physiognomie genüge diesem Anspruch. Die Tatsache, dass lebende Bilder, ähnlich wie die Modelle vor der Kamera, in ihrer eingefrorenen und zugleich lebendigen Präsenz Kunstwerke schaffen, die musterhaft wirken sollten, und sich dadurch in das Bildgedächtnis einprägten, können sowohl Hegel als auch Disdéri in den profanen Gesichtern und Körpern nicht erkennen.
Die eingefrorene Pose und ihr Zeichencharakter Eine Akademie, so eine Definition aus dem 18. Jahrhundert, »est l’imitation d’un modèle vivant, dessiné, peint, ou modelé.«16 Dieser Begriff wird ab ca. 1850 auch für eine fotografische Aktstudie benutzt, diente diese doch dem gleichen Zweck. In der Folgezeit wurden fotografische Akademien als Mappenwerke und Musterbücher in teils sehr hohen Auflagen angefertigt und zumeist im Umkreis von Kunstakademien und privaten Kunstateliers vertrieben. Mit Einführung der Papierfotografie auf Albumin gewann das fotografische Aufzeichnungsverfahren ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts größeres Interesse in Künstlerkreisen. Im Gegensatz zu den bisher verwendeten Kupferplatten ermöglichte das Albuminpapier, bei dem die lichtempfindlichen Silbersalze in Hühnereiweiß eingelagert sind, nicht nur einen kostengünstigeren Fotoabzug im Negativ-Positiv-Verfahren, sondern erzielte dabei einen Detailreichtum, der diesem Kopierverfahren bis zur Jahrhundertwende größte Beliebtheit sicherte. Nun hatte man es mit einer Art Druckgrafik auf Papier zu tun, die einer Zeichnung schon eher entsprach als die relativ kleinen, spiegelnden Kupferplatten.17
15 Moldenhauer, Eva (Hrsg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Bd. 13: Vorlesung über die Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 206. 16 Vgl. Watelet, Claude-Henri, und Pierre-Charles Levesque: Dictionnaire des arts de peinture, sculpture et gravure [1792], Bd. 1, Genf: Minkoff 1972, S. 1f. 17 Nicht zufällig wird das Prinzip des Negativ-Positiv-Verfahrens 1839 als fotogenische Zeichnung vorgestellt und hielt so Einzug in den Künstlergebrauch. Vgl. Nadeau, Luis: Encyclopedia of Printing, Photographic and Photomechanical Processes, Bd. 1.1, Fredericton: [Selbstverl.] 1990, S. 148.
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Künstler und Studenten gingen mit den fotografischen Aktvorlagen so frei um, als habe man nach lebenden Modellen, also direkt nach der Natur, gearbeitet.18 Interessant ist das schlagartige Zusammenwirken dreier ursprünglich gestaffelter Etappen des akademischen Zeichenunterrichts – dem Zeichnen nach Vorlagen aus der Druckgrafik, dem Zeichnen nach Antiken und dem Zeichnen nach dem lebenden Modell. Dem Konzept nach trifft man auf diese drei Modi der Betrachtung auch beim tableau vivant. In der Regel wurde beim tableau vivant grundsätzlich nach Stichwerken eine grobe erste Planung der Nachstellung konzipiert. Skulpturen seit der Antike dienten den Darstellern und Darstellerinnen als erste Orientierung ihrer einzunehmenden Posen vor der Kamera. Ähnliche Strukturen bedingen demnach das Gelingen der Aufnahme im Atelier beziehungsweise der Aufführung vor Publikum. Gaudenzio Marconi gehörte neben Louis Igout zu den bekanntesten Fotografen von klassischen Akademien in Frankreich. In den späten 1860er Jahren schrieb sich Marconi für die Pariser Staatliche Kunsthochschule als Fotograf von académies pour les artistes ein.19 Im Department de Morphologie kann der Einsatz seiner Aufnahmen nachgewiesen werden. Er versah seine Aufnahmen mit dem Urheberstempel photographe de l’Académie des Beaux Arts, ohne dass er diesen Titel jemals offiziell erhalten hatte. Nach dem Tod von Auguste Belloc, einem der Pioniere der Aktfotografie, übernahm er 1867 dessen Atelier am Boulevard Saint-Michel in Paris und beschäftigte sich fortan ausschließlich mit akademischen Aktstudien. Er arbeitete mit Auguste Rodin zusammen, für den er sowohl Aktstudien anfertigte als auch die fertigen Gipsmodelle des L’ÂGE 20 D’AIRAIN (1875/76) und SAINT JEAN BAPTISTE (1878) ablichtete. Marconi zählt zu den herausragendsten Vertretern von Akademien nach klassischen Vorlagen aus Malerei und Skulptur, die entweder als Druck oder in realiter zur Verfügung gestanden haben. Neben Fotografien von antiken Statuen, wie dem DORNAUSZIEHER oder dem BARBERINISCHEN FAUN, fertigte Marconi mitunter auch Serienaufnahmen an, die dem griechischen Mythos entstammen (Leda und
18 Vgl. Schwartz, Emmanuel: L’école des beaux-arts au XIXe siècle et l’enseignement d’après le modèle, in: Aylvie Aubenas (Hrsg.): L’Art du Nu au XIXe siècle. Le photographe et son modèle, Kat. Bibliothèque nationale de France, Paris: Hazan 1998, S. 12-23. 19 Zu Marconis Werdegang und Oeuvre vgl. insbesondere Schmoll 1985, S. 90f.; vgl. Planchon-de Font-Réaulx 2004, S. 62f. 20 Zu Rodins fotografischen Projekten vgl. zuletzt Marcoci, Roxana (Hrsg.): FotoSkulptur: die Fotografie der Skulptur 1839 bis heute, Kat. Ausst. Kunsthalle Zürich, Ostfildern: Hatje Cantz 2010, S. 85-87.
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der Schwan), Einzelaufnahmen von biblischen Szenen oder Figuren zeigen (Kreuzigung, Heilige Magdalena), Themen und Motive italienischer Meister (Michelangelo Buonarroti, Leonardo da Vinci, Andrea Mantegna) aufgreifen oder Allegorien (Musik, Tugend oder Krieg) darstellen. Bei den Frauenakten ist oft zu beobachten, dass gemalte Engelsfiguren als Staffage-Hintergrund die Semantik der Aufnahme erweitern, wohingegen bei den Männern in der Regel ein neutraler Aufnahmeraum gewählt wurde. Die männlichen Modelle zeichnen sich fast alle durch eine deutlich sichtbare Definition des Muskelapparats aus und vermeiden einen direkten Augenkontakt mit dem Kameraobjektiv. Mitunter finden sich mit Bleistift eingetragene Bezeichnungen der Muskelgruppen am fotografierten Aktkörper; bei einigen Aufnahmen scheinen die Umrisse des Körpers nachgezeichnet.
Die Erschaffung Adams in der Fotografie Betrachtet man die um 1870 entstandene Fotografie NU MASCULIN DANS L’ATTITUDE D’ADAM DANS LA »CREATION D’ADAM« DE MICHEL-ANGE von Gaudenzio Marconi (Abb. 11), dann fällt eine nicht unwesentliche Modifizierung des nachempfundenen kunstgeschichtlichen Vorbildes auf, die die Methodik und Funktion dieser Aktstudien exemplarisch dokumentiert. Die Detailszene aus dem Deckengewölbe der Sixtinischen Kapelle (1508-1512) des Renaissancemeisters Michelangelo ist in Marconis Akademie auf die Hauptfigur der Szene verkürzt.
Abbildung 11: Gaudenzio Marconi, NU MASCULIN DANS L’ATTITUDE D’ADAM DANS LA »CREATION D’ADAM« DE MICHEL-ANGE, 1869, Abzug auf Albuminpapier, 16 x 25 cm, Bibliothèque Nationale de France, Paris.
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Die lagernde Pose mit dem ausgestreckten linken Arm, der in der Aktstudie einem Zeigegestus gleicht, weisen das Modell als Adam aus, d. h., streng genommen könnte man von einem Rollenporträt sprechen, welches dem Abgebildeten auf den Leib geschrieben wird. Neben der Reduktion der Erschaffungsszene auf die Einzelfigur von Gottvaters erstem Menschensohn ist eine künstlerische Interpretation des Vorbildes durch den Fotografen evident. Wir sehen keine Kopie im Sinne eines exakten Nachstellens des Vorbildes, die Haltung sollte vielmehr die Vorlage im Sinne eines Musters in Erinnerung rufen, als eine Gestaltungsformel. Die Physis des Modells, welche für die kurze Zeit der Aufnahme die Pose und den Habitus des sixtinischen Adam einnahm, entpuppt sich dabei als perfekte Demaskierung des künstlerischen Vorbildes durch die natürliche Beschaffenheit des Körpers. Das von Marconi gewählte Modell eignet sich von Natur aus einschlägig als Verkörperung Adams, da sowohl Alter, Muskelapparat und letztendlich auch das berufsmäßige Stillstehen als Studienmodell mit dem kunstgeschichtlichen Vorbild kohärent erscheinen. Zudem lagert das Modell auf einer nicht genauer definierten Fläche, die die Funktion eines Sockels übernimmt. Das Volumen seines Körpers nimmt den gesamten Bildraum ein und der Abzug hat einen linienhaften, geradezu zeichnerischen Duktus, der es ohne Probleme ermöglicht, die Anatomie, die Torsion der einzelnen Muskeln, den gesamten Gliederapparat zu studieren. Was auffällig wirkt, ist die vollständige Entblößung der Aktfigur. Die äußerlichen Merkmale des Geschlechts sind unbedeckt bzw. unretuschiert abgelichtet worden, was in der damaligen Zeit einem offenen Affront gegen die strikten ästhetischen Vorgaben des Akademismus glich. Marconis Modell ist nicht entsexualisiert in idealer Schönheit gezeigt, vielmehr weist gerade das sichtbar Geschlechtliche darauf hin, dass eine menschliche Physis zu sehen ist, die physiognomische Merkmale und Mängel nicht verbirgt.21 Das Unperfekte, nicht Ideale des Modellkörpers durchzieht auch die technische Umsetzung der Aufnahme. So sind einige Partien – das Gesicht mit dem Bartwuchs und die Haarpartie – im Vergleich zum Körper unscharf getroffen, scheinen sogar etwas verwackelt zu sein. Das Modell stützt sich mit dem rechten Ellenbogen auf einen Stapel Bücher, was der Aufnahme eine eigenwillige Ästhetik der Inszenierung verleiht – man sieht die Forciertheit der Haltung, das stillgestellte Posieren. Auch wenn die Aufnahme eine solche Deutung nicht unbedingt bildlich markiert, könnte es durchaus sein, dass der ausgestreckte Arm ursprünglich durch eine Seilkonstruktion gehalten wurde, gleichwohl die Belichtungszeiten bei entsprechender Blen-
21 Vgl. Pohlmann 2009, S. 20f.
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denzahl mit Albumin durchaus gestattet haben dürften, die Pose während der gesamten Aufnahmezeit in dieser Position stillzuhalten. Sieht man einmal von dem Umstand ab, dass der dezidierte Rückgriff auf kunstgeschichtliche Vorbilder und die strenge Einzeldarstellung von männlichen und weiblichen Modellen auch einen Freibrief innerhalb der staatlichen Zensurbehörde bedeuteten,22 also die moralische Grenze der Darstellung von Nacktheit in der Fotografie absteckten, sehen wir am Beispiel von Marconis »CREATION D’ADAM« DE MICHEL-ANGE eine bis dato unerschlossene Inspirationsquelle, die – folgt man hier Dominique Planchon-de Font-Réaulx – eine eigenwillige »double fidélité à la tradition et à la modernité«23 zum Ausdruck bringt. Neben den technischen Gegebenheiten, die zwangsläufig ein gewisses Ausharren in bestimmten Posen für eine bestimmte Zeit vor der Kamera erforderten, sind es doch die Zugeständnisse des Fotografen an den Zeitgeschmack, die moralische Diktion und praktische Handhabung gleichermaßen, die in den Aktstudien zusammengeführt werden. Marconis exemplarische Arbeit zeigt deutlich, dass sich das Modell bereits zum Bild verwandelt, sobald das Objektiv auf es gerichtet war. Roland Barthes bezeichnete daher die Fotografie als eine Art von Lebendem Bild, als ein Todestheater, welches den Körper in ein artifizielles Abbild überführt.24 In der Kopplung von lebendiger Körperlichkeit und starrer Zeichenhaftigkeit oszilliert ein tableau vivant zu einer idealen natura morta, ähnlich wie dies in der oft bemühten Todesmetapher der Fotografie postuliert wird.25 Der Inszenierungscharakter ist in der Fotografie formal gesehen ein anderer, als dies bei einer Aufführung von lebenden Bildern der Fall war. Der Kontext der Präsentation vor Zuschauern wurde angepasst an eine objektive Aufnahme im Atelier, wobei der Fotograf zum Arrangeur, das Modell zum Darsteller generiert ist. Was als spielerische Naturalisierung der Kunst konnotiert werden sollte, spitzt sich zu in der Okkupierung des Lebendigen durch die Bildstrukturen – und dies gilt für die historischen tableaux vivants wie auch der Sonderform einer Akade-
22 Félix-Jacques Antoine Moulin (1802-1875) gehörte zu den ersten Fotografen, dessen Vertrieb von Aktaufnahmen mit strafrechtlichen Konsequenzen verfolgt worden war. 1851 wurde Moulin mit einem einmonatigen Gefängnisaufenthalt bestraft. Seine Aktaufnahmen waren in der Folge mit beschränkten Auflagen der Veröffentlichung behaftet (»Autorisée sans exposition à ètalage«). Vgl. McCauley 1994, S. 172. 23 Planchon-de Font-Réaulx 2004, S. 67f. 24 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 41. 25 Stiegler, Bernd: Bilder der Photographie: ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 143-146.
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mie. Es ist die Präsenz des Körpers, die den konstituierenden Referenten dazu auffordert, hinter die Fassaden zu schauen – sei es nun die Körperlichkeit der Darsteller oder ihre eigentümliche Ikonizität.
Zusammenfassung und Ergebnisse Resümiert man das Verhältnis von bildender Kunst und Fotografie, so blickt man auf eine nicht immer anspruchsvolle Bilanzen vorweisende, lange Geschichte. »Die Malerei ist tot, es lebe die Fotografie« lautete 1839 der viel zitierte, nachträglich zur Legende generierte Ausspruch von Paul Delaroche anlässlich der Vorstellung der ersten Daguerreotypien in Paris.26 Was der Historienmaler als Hilfsmittel im Werkprozess, als Gedächtnisstütze und Modellersatz gleichermaßen ansprach, hat einen eigentümlichen, subkutanen Unterton: Die Fotografie ist der Malerei als naturgetreue Wiedergabe der sichtbaren Wirklichkeit überlegen, was gleichzeitig aber auch von großem Nachteil sein kann, denkt man etwa an die Sichtbarkeit schmutziger Füße oder abgetragener Kleidung, wie dies nicht selten besonders in den akademischen Aktstudien der Fall war.27 Der Abhängigkeit von der Physis des Bildgegenstandes und der suggestiven Vereinigung von Mensch und Maschine haftet eine präzise Beobachtung, Vermessung und Systematisierung von Wirklichkeitszuständen an, die das bisherige Spektrum an Motiven bereichert und zugleich eine neue Wahrnehmung der Welt erlaubt. Dem erneuten Abbild in einem anderen Medium fehlt allerdings die maßgebliche Unmittelbarkeit, die den historischen Aufführungen von lebenden Bildern inhärent gewesen war. Wir sehen, nimmt man die Ateliersituation als das szenische Arrangement einer fiktiven Aufführungssituation wahr, lebende Bilder dritten Grades, indem Motive der Kunstgeschichte nachgestellt und dann als Fotografie festgehalten werden.28 Beim Überschreiten von Gattungsgrenzen spielen tableaux vivants daher eine gewichtige Rolle, weil diese streng genommen niemals bloße Nachahmung
26 Vgl. Pohlmann, Ulrich: Vera Icon oder die Wahrheit der Fotografie, in: ders. et al. (Hrsg.): Eine neue Kunst? Eine andere Natur! Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert, München: Schirmer/Mosel 2004, S. 10. 27 Vgl. Homberger, Eric: The model’s unwashed feet. French photography in the 1850s, in: Peter Collier und Robert Lethbridge (Hrsg.): Artistic relations. Literature and the Visual Arts in Nineteenth-Century France, Yale University Press 1994, S. 130-143. 28 Vgl. Bredekamp, Horst: Theorie des Bildaktes. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 113.
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sind, sondern vielmehr auch das zeigen, was ist: den Körper selbst. Akademien heben die Grenze zwischen Bild und Körper ganz besonders forciert auf, weil das Hauptaugenmerk auf dem präsentierten Körper ruht und Brüche im Gattungssystem deutlich hervortreten. In der exemplarischen Studie zu Marconis NU MASCULIN DANS L’ATTITUDE D’ADAM DANS LA »CREATION D’ADAM« DE MICHEL-ANGE dient Michelangelos Fresko aus der Sixtina richtungsweisend für die Pose, während die Aufnahmesituation und der schwarzweiße, etwas bräunlich eingefärbte Abzug in der Gestaltung an eine Skulptur denken lassen, die von der Hauptseite aus betrachtet wird. Unterschiedliche Gestaltungsmittel wirken hier zusammen, die sich nicht mehr eindeutig in ein Gattungssystem einordnen lassen: Ist es die malerische Beschaffenheit der Oberfläche, der skulpturale Eindruck der Pose oder die linienhafte Art der Körperumrisse, welche bei der Betrachtung überwiegt? Alle Eindrücke verschmelzen zu einem Gesamteindruck, der in dieser intensiven Form nur durch ein tableau vivant erzeugt werden kann, das sich per se nicht eindeutig ontologisch klassifizieren lässt. Allerdings hat das Changieren zwischen Gattungsgrenzen einen hohen Preis. Die historischen Aufführungen von lebenden Bildern dienten dem reinen Unterhaltungswert und waren zudem höchst ephemer. Die Akademien auf der anderen Seite genügten dem Studienzweck und wurden weder in der praktischen Handhabung noch im semantischen Sinne als eigenständige Kunstwerke betrachtet. Ausnahme bilden hier die im Theater gezeigten tableaux vivants, die ähnlich wie im Film, die Handlung auf der Bühne bzw. im bewegten Bild unterbrechen und sich in das Gesamtwerk einfügen, d. h., sie gehören einer höheren semantischen Ebene an und stehen nicht für sich alleine. Bei den Akademien wurde der Einsatz des menschlichen Körpers als Träger- und Kunstmedium als zweckwidrig verkannt, gleichwohl gerade die fließenden Übergänge zwischen bildender, darstellender und aufzeichnender Kunst wie der Fotografie die markantesten Brüche im Gattungssystem verursachen und Selektionsprozesse, sei es in der Wahl des Vorbildes, des Bildausschnittes und letztlich auch des Modells, sichtbar hervortreten lassen.
Die Inszenierung von Gemälden bei Pasolini, Jarman und Greenaway J ULIA Q UANDT
In der Geschichte des Films erfolgte oftmals eine Rückbesinnung und Bezugnahme auf die Gestaltungsprinzipien der Malerei. So wurden beispielsweise Maler wie Jan Vermeer van Delft, Rembrandt van Rijn und Georges de la Tour immer wieder zu Vorbildern für die Lichtsetzung. Ende der 1940er bis Anfang der 1960er Jahre hielt mit der Ära der Künstlerbiografien aus Hollywood die Kunst vor allem auf der Handlungsebene Einzug in den Film, dramaturgisch aufbereitet und dementsprechend fiktionalisiert.1 Ein recht spezifischer Aspekt der Wechselbeziehung von Film und Malerei ist die konkrete Übernahme malerischer Gestaltungsmittel in das Medium des Films. Eine solche Übernahme tritt vermehrt ab den 1970er Jahren auf.2 Im Folgenden soll näher darauf eingegangen werden, wie der Film Gemälde in einen neuen Bedeutungszusammenhang integriert und diese im Kontext einer fiktionalen Handlung inszeniert. Malerei und Film besitzen sowohl unterschiedliche als auch gemeinsame Eigenschaften als statische bzw. bewegte Bildformen: Die Unterschiede bestehen u. a. im Umgang beider Medien mit der Organisation von Räumlichkeit, Zeit und Narration sowie den verschiedenen Rezeptionsstrukturen ihnen gegenüber. 1
Vgl. Schaefer, Dennis, und Larry Salvato: Masters of Light. Conversations with Contemporary Cinematographers. Berkeley: University of California Press 1985, S. 334; vgl auch Norden, Martin: Film and Painting, in: Gary Richard Edgerton (Hrsg.): Film and the Arts in Symbiosis. A Resource Guide. New York/Westport/London: Greenwood 1988, S. 17-45, hier S. 21.
2
Ein populäres Beispiel hierfür ist BARRY LYNDON (GB 1975; R: Stanley Kubrick). Vgl. Schönenbach, Richard: Bildende Kunst im Spielfilm. Zur Präsentation von Kunst in einem Massenmedium des 20. Jahrhunderts (Beiträge zur Kunstwissenschaft, Bd. 78), München: Scaneg 2000, S. 35.
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Gleichzeitig stellt die beiden Medien gegebene Kommunikationsintention – bei allen äußerlichen Unterschieden – eine grundlegende Gemeinsamkeit dar, denn sowohl ein Gemälde als auch ein Film kommuniziert dem Betrachter gegenüber Bedeutung durch Bilder bzw. durch die Anordnung von Bildern auf der Grundlage verschiedener Darstellungskonventionen. Wegen dieser, beide Medien gleichermaßen auszeichnenden Eigenschaft wird eine sinnstiftende Repräsentation von Gemälden im Film erst denkbar und möglich. Oft jedoch erfüllt ein Gemälde im Film keinen anderen Zweck, als Teil der Ausstattung und damit mehr oder weniger reine Dekoration zu sein.3 Wann also kann man von der Inszenierung eines Gemäldes sprechen? An dieser Stelle soll auf den Inszenierungsbegriff Martin Seels zurückgegriffen werden. Dieser definiert Inszenierung als ein »auf die eine oder andere Weise [...] absichtsvoll und artifiziell hervorgebrachtes Ereignis [...], das sich einer [...] Öffentlichkeit als bedeutsam präsentiert.«4 Dieses Ereignis zeichnet sich darüber hinaus dadurch aus, dass es räumlich und zeitlich begrenzt auftritt und somit den inszenierten Gegenstand in seiner Besonderheit hervorhebt.5 Die Inszenierung von Malerei im Film definiert sich also als eine zeitlich und räumlich begrenzte, betonte und bedeutsame Repräsentation eines Gemäldes im Kontext eines Films. Dabei stellt sie immer einen intermedialen Prozess dar, in welchem zwei unabhängige Bedeutungsträger eine neue, sekundäre Bedeutung konstituieren. Für diesen intermedialen Vorgang entwirft Lorenz Engell in einem Aufsatz über Derek Jarmans CARAVAGGIO (GB 1986) ein Ebenenmodell, welches sich als geeignetes Instrument zur Analyse konkreter Beispiele der Repräsentation von Gemälden im Film anbietet.6 Der Begriff der Kopie bezeichnet in diesem Ebenenmodell die konkrete Abbildung eines Kunstwerks, etwa eines Gemäldes, im Rahmen eines Films. Damit dieser Abbildung der Charakter einer Inszenierung zugesprochen werden kann, muss die Repräsentation des Gemäldes bedeutungskonstituierend in ihrer Besonderheit hervortreten, ansonsten bleibt das Kunstwerk lediglich Requisite.
3
Vgl. ebd., S. 48.
4
Seel, Martin: Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs, in: Josef Früchtl und Jörg Zimmermann (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens (Aesthetica, Bd. 2196), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 48-62, hier S. 53.
5
Vgl. ebd., S. 54-56.
6
Vgl. Engell, Lorenz: Nicht Hoffnung noch Furcht. Der Tod als Ordnung in Derek Jarmans Film Caravaggio, in: Bernd Vogelsang und Lorenz Engell (Hrsg.): Der tödliche Augenblick. Wie Hören und Sehen vergeht, Köln: Runge 1989, S. 276-317.
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Das Imitat bezeichnet die Nachstellung der Bildkomposition eines Gemäldes im filmischen Raum, das so genannte tableau vivant. Ein tableau vivant besitzt einen artifiziellen, anarrativen, theatralen Charakter. Es hebt den Konflikt zwischen dem statischen Bild der Malerei und dem bewegten Bild des Films hervor und motiviert so dazu, Sehgewohnheiten gegenüber beiden Medien zu hinterfragen. Dies zeichnet es als Inszenierung innerhalb der Narration des Films aus. Im Gegensatz zum Imitat bezeichnet das Zitat ein an Malerei bzw. Gemälden lediglich orientiertes Arrangement innerhalb der filmischen Handlung, welches höchstens durch ein Erkennen des Rezipienten aus dieser hervortritt. Aufgrund dieser Eigenschaften kommt ihm nicht zwingend ein Inszenierungscharakter zu. Die Filme, die im Kontext dieser Thematik vorgestellt werden sollen, zeichnen sich durch eine gezielte Nutzung malerischer Repräsentationsmuster aus. Es handelt sich dabei um Pier Paolo Pasolinis DECAMERON (I/F/D 1971), Derek Jarmans Künstlerbiografie CARAVAGGIO (GB 1986) und Peter Greenaways EIN Z UND ZWEI NULLEN (GB/NL 1985). Die Auswahl dieser Filmbeispiele basiert vor allem darauf, dass sie Malerei auf verschiedenen Ebenen inszenieren. Jeder der Filme setzt sich darüber hinaus mit jeweils einem Künstler dezidiert auseinander, was es für die Analyse erleichtert, die Umsetzung bestimmter Stilmerkmale zu verfolgen.
Pier Paolo Pasolini – DECAMERON Pier Paolo Pasolinis DECAMERON ist Teil seiner TRILOGIA DELLA VITA, einer Folge von drei Verfilmungen ausgewählter Episoden aus mittelalterlichen Erzählungssammlungen. DECAMERON ist der erste der drei Filme, eine freie Bearbeitung einer Auswahl von zehn Episoden aus Giovanni Boccaccios Novellensammlung IL DECAMERONE (um 1350), welche insgesamt hundert Erzählungen beinhaltet. Pasolini selbst spielt – basierend auf der Episode VI/5 – den Maler Giotto di Bondone. Im Unterschied zur literarischen Vorlage, in welcher es explizit um Giotto selbst geht, wird dieser hier jedoch als – namentlich nicht bezeichneter – Schüler Giottos vorgestellt. Diese in der Forschung nur selten beachtete Änderung mag geringfügig erscheinen, wirft jedoch bei näherer Betrachtung ein neues Licht auf die Rolle des Künstlers im Film: Indem Pasolini sich zum Schüler Giottos macht, scheint er sich implizit in die Nachfolge des Malers zu stellen. Die Rolle des norditalienischen Künstlers, der sich nach Neapel begibt, um dort die Wände der Kirche S. Chiara auszumalen, stellt dabei eine Analogie zu Pasolini als norditalienischem Regisseur her, der seinen Film im Süden
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des Landes dreht.7 Pasolini hatte in Bologna kunsthistorische Vorlesungen besucht, malte selbst und zeigte sich in seinem filmischen Werk stark beeinflusst von Renaissancemalern wie Giotto und Masaccio.8 Im Allgemeinen sind seine Bezüge auf die Malerei wenig explizit.9 Sein eigentliches Interesse an der Malerei im Hinblick auf die Gestaltung seiner Filme zeigt sich eher in kompositorischen Grundzügen und einer grundlegenden stilistischen Verwandtschaft als in der Rekonstruktion malerischer Gesamtarrangements. Die Kamera ist dabei meist wenig bewegt; die Charaktere werden oft, an Renaissancegemälde erinnernd, durch Architekturelemente wie Torbögen und Arkadengänge eingerahmt und hervorgehoben; Figurengruppen wiederum sind in registerähnlichen Reihungen angeordnet, welche sich auch bei Malern wie Masaccio finden. Die Zitate Giottos in DECAMERON weisen nicht die Merkmale einer Inszenierung auf: Sie beschränken sich auf die Übernahme einzelner Motive oder wecken mehr oder weniger marginale Assoziationen zu Giottos Darstellungen von Innenräumen.10 Inszeniert hingegen wird die Arbeit an den fiktiven Fresken, die in S. Chiara entstehen. Diese Szenen heben sich von den weiteren Episoden ab, indem sie durch bestimmte Inszenierungsmuster betont werden: So beginnt die erste der Malereisequenzen mit der beinahe rituell wirkenden Vorbereitung der Arbeiten, untermalt von Chorgesang. Die im Film gemalten Fresken nehmen aufgrund ihrer Fiktionalität11 eine schwierige Stellung zwischen Kopie und Zitat ein. Einerseits sollen sie Kopien angeblicher Gemälde Giottos darstellen, sind aber andererseits nicht als solche identifizierbar. Sie fungieren eher als Kürzel
7
Vgl. Greene, Naomi: Pier Paolo Pasolini. Cinema as Heresy, Princeton: Princeton University Press 1990, S. 186.
8
Vgl. Ponzi, Mauro: Pier Paolo Pasolini. Rainer Werner Fassbinder, Hamburg: Europä-
9
Vgl. Minas, Günter: »Ein Fresko auf einer großen Wand...«. Die Bedeutung der Male-
ische Verlagsanstalt 1996, S. 68. rei für die Filmarbeit Pasolinis, in: Christoph Klimke (Hrsg.): Kraft der Vergangenheit. Zu Motiven der Filme von Pier Paolo Pasolini, Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 51-69, hier S. 57. 10 Vgl. ebd., S. 60. 11 Laut Jill Ricketts besaß die Kirche von S. Chiara einst tatsächlich Giotto-Fresken, welche heute allerdings verloren und nicht rekonstruierbar sind. Die angeblichen Fresken in DECAMERON sind fiktive Rekonstruktionen, die zwar Ähnlichkeiten zu Kompositionen Giottos aufweisen, deren Motive aber nicht näher identifizierbar sind. Vgl. Ricketts, Jill M.: Visualizing Boccaccio. Studies on Illustrations of The Decameron from Giotto to Pasolini. Cambridge: Cambridge University Press 1997, S. 107.
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für die Kunst Giottos im Allgemeinen, denn als eigenständige Gemälde im eigentlichen Sinn. Gleichzeitig kann ihre Entstehung in Parallelität zur Entstehung eines Films gesehen werden: Am Ende des Films bleibt ein Drittel der Wand leer und Pasolini selbst beendet als Regisseur die Arbeit des Malers. Die Vollendung dieser Arbeit erfolgt durch ein Imitat, dem großen tableau vivant des Jüngsten Gerichts. In seiner Inszenierung als Vision Giottos tritt es deutlich als von den übrigen Episoden unterschieden hervor. Mitten in der Erzählung der Episode VII/10 erfolgt unvermittelt ein Schnitt auf Giotto, dem im Traum die Vision des Weltgerichts erscheint.12 Pasolinis malerisches Vorbild ist dabei Giottos Fresko des JÜNGSTEN GERICHTS (1304-1306) an der Westwand der Cappella degli Scrovegni (Arenakapelle) in Padua.13 Das tableau vivant dieses Gemäldes zeichnet sich durch seinen anarrativen Charakter aus. So nimmt es zwar indirekt Bezug auf die Thematik der vorangegangenen Episode, ist aber dennoch kein Teil von dieser, genauso wenig, wie es ein Teil der Rahmenhandlung um Giotto wird. Innerhalb des Films bleibt das tableau vivant eine Vision und wird vom Künstler nicht in die Realität umgesetzt. Pasolini übernimmt dabei – bei reduzierter Figurenvielfalt – grundsätzlich die Komposition des Vorbildes und kontrastiert die Ruhe und Ordnung auf der Seite der Seligen mit der Unruhe auf jener der Verdammten, noch verstärkt durch die im Film tatsächlich vorhandene Bewegung und die direkte Gegenüberstellung von Ausschnitten beider Seiten des Arrangements durch Montage. Die Figur Christi ersetzt Pasolini durch eine thronende Muttergottes, welche Giottos OGNISSANTI-MADONNA (1310) ähnelt.14 Durch weitere Brechungen dieser Art – Nimben, die Papptellern ähneln, und an Haaren und Knien aufgehängte Schaufensterpuppen als büßende Sünder – betont der Regisseur auf eine selbstreflexive Weise, dass Film genauso wenig in der Lage ist, Malerei ohne einen Vorgang der Anpassung an das andere Medium wiederzugeben, wie ein Gemälde eine metaphysische Vision auf unreflektierte Weise darstellen kann. Dementsprechend findet Giottos Vision im Film auch keine Realisierung im Gemälde.
12 Vgl. ebd., S. 103. 13 Vgl. Borsó, Vittoria: Pasolinis Decamerone oder eine kinematographische Divina Mimesis. Mediale Schwellen zwischen Malerei und Film, in: Jochen Mecke und Volker Roloff (Hrsg.): Kino-(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur (Siegener Forschungen zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft, Bd. 1), Tübingen: Stauffenburg 1999, S. 355-374, hier S. 355f. 14 Vgl. Ricketts 1997, S. 110-112.
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Stattdessen verschmilzt die Vorstellung Giottos mit der Pasolinis, indem Pasolini zu demjenigen wird, der Giottos Vision abfilmt.15 Pasolini wird somit in DECAMERON zur Mittlerfigur zwischen Malerei und Film, ähnlich wie Giotto sich als Maler auf einer Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance befindet. Die Malerei als Imitat bzw. Kopie stellt dabei in DECAMERON vor allem ein selbstreflexives Spiel mit den Bedingungen beider Medien dar, welches stets auf Pasolinis Arbeit als Regisseur zurückweist.
Derek Jarman – C ARAVAGGIO Derek Jarmans Film über Michelangelo Merisi da Caravaggio steht in einer langen Tradition des kontinuierlichen Interesses an der Kunst dieses Barockmalers.16 Jarman, der ein Studium an der Kunstakademie absolvierte und zunächst als Bühnenbildner arbeitete,17 begann bereits 1978 bei einer Romreise das Drehbuch zu CARAVAGGIO zu schreiben, welches nach zahlreichen Änderungen 1986 realisiert wurde. CARAVAGGIO konzentriert sich in einer sehr freien Bearbeitung und mit einer für Jarman ungewöhnlich konventionellen narrativen Struktur auf die Zeit des Künstlers in Rom und die Helldunkelmalerei dieser Phase.18 Bei genauerer Betrachtung stellt sich die Zeitstruktur des Films jedoch als nicht der tatsächlichen Biografie entsprechend heraus: Plot und tatsächliche Werkchronologie widersprechen sich.19 Generell stellt CARAVAGGIO daher eher einen Film über Caravaggios Kunst, als über dessen Leben dar. Im Mittelpunkt steht die Repräsentation seiner Gemälde durch filmische Mittel, welche den gesamten Film auf unterschiedlichen Ebenen durchziehen und strukturieren. Der Konstruktionscharakter dominiert dabei klar über das Streben nach historischer Authentizität – eine Tatsache, die entscheidend durch die im Laufe des Films immer wieder vorkom-
15 Vgl. Greene 1990, S. 187. 16 Vgl. Brehm, Margrit Franziska: Der Fall Caravaggio. Eine Rezeptionsgeschichte. (Europäische Hochschulschriftenreihe 28, Kunstgeschichte, Bd. 145), Frankfurt a. M.: Lang 1992, S. 11. 17 Vgl. Schwerfel, Heinz Peter: Kino und Kunst. Eine Liebesgeschichte, Köln: DuMont 2003, S. 228. 18 Vgl. Bersani, Leo und Ulysse Dutoit: Caravaggio, London: British Film Institute 1999, S. 30f. 19 Vgl. Wymer, Rowland: Derek Jarman, Manchester: Manchester University Press 2005, S. 99.
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menden Anachronismen wie Taschenrechner, Schreibmaschinen oder Motorräder betont wird.20 Diese negieren immer wieder die Rolle des Films als historische Illusion21 und verleihen ihm eine Gegenwärtigkeit, die in deutlicher Parallelität zu Caravaggios Malerei steht. Genau wie Caravaggio die Menschen seiner Zeit in kontemporärer Kleidung zum Vorbild nahm, um biblische Figuren zu malen, benutzt Jarman anachronistische Requisiten, um einen Film über Caravaggio zu drehen.22 Wenn nicht die tatsächliche Biografie Caravaggios das Organisationsprinzip für die Narration des Films vorgibt, so stellt sich die Frage, was stattdessen diese Aufgabe erfüllt. Letztendlich sind es die Gemälde, durch welche die Narration des Films motiviert wird: Sie liefern die Anregungen für die Charaktere und Figurenkonstellationen und konstruieren auf diese Weise ihre eigene (fiktive) Geschichte.23 Die im Film thematisierten und repräsentierten Gemälde bilden ein zunächst anarratives Gerüst, von welchem ausgehend die Lücken der Erzählung ausgefüllt werden, wobei die tatsächliche Chronologie der Ereignisse eine eher untergeordnete Rolle spielt.24 Vor allem der Kern der Erzählung, die Geschichte der Dreiecksbeziehung zwischen Caravaggio, seinem Modell Ranuccio und der Prostituierten Lena, wird auf diese Weise durch Interpretation und Repräsentation der Bilder auf verschiedenen Ebenen organisiert. Die Kopien, Imitate und Zitate sind dabei weitgehend auf unterschiedliche Art und Weise hervorgehoben und als Inszenierungen markiert. In CARAVAGGIO erscheinen Gemälde in insgesamt vier Repräsentationsformen: Zum einen sind dies Repliken, die im Film Originale darstellen, sowie eine Reihe beinahe expressionistisch anmutender Bilder, in der Rolle unvollendeter, sich in Arbeit befindlicher Werke Caravaggios (beide aufgrund ihrer innerfilmischen, gegenständlichen Anwesenheit als
20 Ferner zählt hierzu Jarmans Zitat von Jacques-Louis Davids DER TOD DES MARAT (1793), welches in diesem Zusammenhang nicht weiter von Bedeutung sein soll. Zu seiner Deutung im Film vgl. Engell 1989, S. 300-303. 21 Vgl. Scherer, Christina und Guntram Vogt: Derek Jarman, in: Jürgen Felix et al. (Hrsg.): Experimente und Visionen. Studien zum neuen britischen Kino (AugenBlick, Bd. 24), Marburg: Schüren 1996, S. 8-68, hier S. 37; vgl. auch Walker, John Albert: Art and Artists on Screen, Manchester/New York: Manchester University Press 1993, S. 62. 22 Vgl. Jarman, Derek: Derek Jarman’s Caravaggio. The Complete Film Script and Commentaries, London: Thames & Hudson 1986, S. 82; vgl. auch Wymer, Rowland: Derek Jarman, Manchester: Manchester University Press 2005, S. 97. 23 Vgl. Jarman 1986, S. 75. 24 Vgl. Engell 1989, S. 281-288.
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Kopien zu bezeichnen);25 zum anderen sind dies die tableaux vivants der Atelierszenen (Imitate) und die an Gemälden orientierten und in den Filmablauf integrierten, ihnen aber nicht vollständig entsprechenden szenischen Arrangements (Zitate).26 Kopien in CARAVAGGIO besitzen insofern Inszenierungscharakter, als dass sie meist in den Dialogen thematisiert werden, eine Rolle als Handlungs-, aber auch Handelsobjekt erfüllen oder durch ihre ikonografische Bedeutung als Kommentar gegenüber der Handlung und den handelnden Personen – und somit als bedeutungsvermittelndes Element – verstanden werden können. So ist der KRANKE BACCHUS (um 1593) im Film dasjenige Gemälde, welches Kardinal del Monte auf Caravaggio aufmerksam macht. Das Selbstporträt des jungen, wohl an Malaria erkrankten Caravaggio,27 tritt in der Szene sowohl in der Form eines unvollendeten Arbeitsbildes als Kopie, als auch – widergespiegelt in der Körperhaltung Caravaggios und dem über dessen Schulter drapierten Laken – als Zitat auf. Darüber hinaus mag die homoerotische Auslegung des Gemäldes aufgrund der Pfirsiche, die ein Symbol für Homosexualität in römischen Gedichten aus Caravaggios Zeit waren,28 auf das zu diesem Zeitpunkt im Film allenfalls implizit thematisierte körperliche Interesse del Montes an Caravaggio anspielen. Zitate in CARAVAGGIO sind fast immer in die Handlung integriert und durch diese motiviert, womit ihr Inszenierungscharakter vor allem an ein Erkennen durch den Zuschauer gebunden ist: Dem Zitat des UNGLÄUBIGEN THOMAS (1603) geht ein Kampf zwischen Caravaggio und Ranuccio voraus, dessen Gründe allerdings im Dunkeln bleiben. Im Gegensatz zum Gemälde im Original befinden sich im Zitat nicht vier, sondern lediglich zwei Personen, nämlich Davide – der Liebhaber des Künstlers – und Caravaggio. Davide tritt hier, sowohl im eigentlichen Sinne als auch in der nur dem Zuschauer bewussten Rolle des Thomas, als Zweifelnder auf: Während Caravaggio die Wunde als Zeichen von Ranuccios Liebe sieht und ihm in Analogie zu Christus von Jarman die Märtyrerrolle zugewiesen wird, steht Davide dem skeptisch gegenüber. Der
25 Diesen expressionistisch anmutenden, nicht vollendeten Film-Gemälden fehlt es laut Walker an Glaubwürdigkeit. Es scheint in diesem Rahmen jedoch wichtig, sie nicht unter dem Gesichtspunkt des Strebens nach Authentizität, sondern vielmehr als symbolische Kürzel für noch nicht fertiggestellte Bilder zu betrachten. Vgl. Walker 1993, S. 67f. 26 Vgl. Engell 1989, S. 291-292. 27 Vgl. Prater, Andreas: Licht und Farbe bei Caravaggio. Studien zur Ästhetik und Ikonologie des Helldunkels, Stuttgart: Steiner 1992, S. 119f. 28 Vgl. Spike, John T.: Caravaggio, New York: Abbeville 2001, S. 36.
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UNGLÄUBIGE THOMAS ist dabei charakteristisch für die Funktion von Zitaten in CARAVAGGIO: Gemälde werden zum einen zur Anregung für die szenische Gestaltung, zum anderen tragen sie entscheidend zur Charakterisierung der Protagonisten bei. Die weitaus größte Bedeutung im Film nimmt jedoch mit den meist im Rahmen von Atelierszenen inszenierten tableaux vivants die Kategorie des Imitats ein. Die tableaux vivants sind dabei in ihrer Gestaltung betreffend Ausleuchtung, Komposition und Farbgebung stets auf das Genaueste an den Originalen orientiert. Zu Beginn des Films ist ihre Rolle zunächst noch eher gering, im Laufe der Handlung nehmen sie jedoch immer größeren Raum ein und markieren als zum Teil auffällig lange Sequenzen die Wendepunkte der Handlung. Das erste dieser großen tableaux vivants ist die erste Fassung des MARTYRIUM DES HL. MATTHÄUS für die Contarelli-Kapelle in San Luigi dei Francesi in Rom (1599/1600).29 Im Atelier, in dem uns das tableau vivant zunächst als Totale und später in einzelnen Ausschnitten aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt wird, sehen wir Caravaggio arbeiten. Es ist die einzige Stelle im Film, an der die Kamera in das tableau vivant deutlich eindringt und nicht nur frontal aufgenommene Ausschnitte und Details zeigt. Diese Fragmentierung der Sichtweise unterstreicht deutlich den unruhigen Charakter der Szene und die Unzufriedenheit des Malers mit seinem Werk. Es ist schließlich Caravaggios Modell Ranuccio, der zum Retter des Projekts wird. Zwischen der ersten und der zweiten Matthäus-Sequenz stehen dabei ein Zitat der BEKEHRUNG DES PAULUS (1600/01) als symbolischer Neuanfang und der Sieg Ranuccios über Davide im Boxkampf, der als Symbol der Ablösung des letzteren durch Ranuccio als Modell und Liebhaber des Künstlers verstanden werden kann. Die Tatsache, dass in der folgenden Malereisequenz Ranuccio als Henker des Matthäus das einzige Modell im Atelier ist, hebt seine Bedeutung für die Handlung des Films deutlich hervor, ebenso wie die Tatsache, dass die Arbeit am Gemälde in einer langen, gut sieben Minuten dauernden, Sequenz inszeniert wird. Besonders in den Imitaten in Jarmans CARAVAGGIO wird deutlich, wie sehr sich die Handlung des Films über die zugrunde liegenden Gemälde konstruiert. Sie katalysieren Ereignisse oder weisen auf diese voraus, und stehen dabei meist an Wendepunkten der Handlung. Das tableau vivant entspricht dabei in seiner Ästhetik durchaus der Darstellung von Zeitlichkeit in den Gemälden Caravag-
29 Vgl. Baumgart, Fritz: Caravaggio. Kunst und Wirklichkeit, Berlin: Mann 1955, S. 2528; vgl. auch Engell 1989, S. 295.
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gios als dem Festhalten der Momenthaftigkeit einer Situation,30 welche allerdings nur im Gemälde selbst dauerhaft sein kann, während sie im Film der Veränderung unterworfen bleibt. Sie nehmen somit eine vermittelnde Stellung zwischen Malerei und Film ein und sind dabei stets als Inszenierung hervorgehoben.
Peter Greenaway – E IN Z UND ZWEI NULLEN Peter Greenaway studierte in den 1960er Jahren Malerei; das Filmhandwerk lernte er später während seiner Arbeit in einer britischen Dokumentarfilmstelle. Seine künstlerische Ausbildung und sein kunsthistorisches Wissen prägen seine filmische Arbeit auf entscheidende Art und Weise. Charakteristisch für die Filme Greenaways ist eine schier überwältigende Fülle an Zitaten und kulturellen Verweisen.31 Die Malerei nimmt hierbei generell einen hohen Stellenwert ein.32 Dies geschieht sowohl über das Zitieren konkreter Werke als auch über die Übernahme malerischer Gestaltungskonventionen oder den Versuch der filmischen Annäherung an den Sehprozess beim Betrachten eines Gemäldes. Malereizitate werden dabei immer wieder zur Metapher des Sehens an sich und verweisen so auf die Bedingungen von Film und Malerei.33 So gestaltet Greenaway den Bildraum in der Regel nach kompositorischen Prinzipien der Malerei, vor allem der Symmetrie. Letztendlich ist es aber die größtenteils statische Kamera, die stets einen gewissen Abstand zu Charakteren und Handlungen hält und so – in Kombination mit langen Einstellungsdauern – eine Analogie zum Betrachten eines unbewegten Gemäldes herstellt.34 EIN Z UND ZWEI NULLEN unterscheidet sich von DECAMERON und CARAVAGGIO zunächst dadurch, dass die Thematisierung von Malerei so gut wie gar nicht aus der Story des Films motiviert ist. Der Film beginnt mit einem Autounfall, der durch einen aus dem Zoo entlaufenen Schwan verursacht wird, bei dem Alba Bewick, die weibliche Protagonistin des Films, ihr rechtes Bein ver-
30 Vgl. Messerer, Wilhelm: Die Zeit bei Caravaggio, in: Hefte des Kunsthistorischen Seminars der Universität München 9-19 (1964), S. 55-71, hier S. 60. 31 Vgl. Schuster, Michael: Malerei im Film, Peter Greenaway (Die Szene. Studien zu den darstellenden Künsten, Bd. 1), Hildesheim: Olms 1998, S. 9-13. 32 Vgl. Woods, Alan: Arts of Painting. An Interview with Peter Greenaway, in: Paul Melia und Alan Woods: Peter Greenaway. Artworks 63-98, Kat. Ausst. Cornerhouse Manchester: Manchester University Press 1998, S. 129-140, hier S. 130-133. 33 Vgl. Schuster 1998, S. 13-15. 34 Vgl. ebd., S. 119 sowie S. 128f.
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liert und die Ehefrauen der Zwillingsbrüder Oswald und Oliver Deuce umkommen. Um die Trauer über deren Tod zu verarbeiten, beginnt Oswald die Verwesungsvorgänge von Tierkadavern filmisch aufzuzeichnen, während Oliver Dokumentationen über die acht Stufen der Evolution nach Charles Darwin ansieht. Die Gemälde Vermeers werden in diesem Kontext zur Anregung für die Lichtgestaltung und, aufgrund ihrer Bildinhalte und Kompositionen, zu selbstreflexiven Verweisen auf Handlung, Motive und Medialität des Films.35 Jan Vermeer van Delft ist vorrangig für seine ab den 1660er Jahren entstandenen Interieurszenen bekannt. Seine Gemälde besitzen einen anekdotischen Charakter und beinhalten – in dieser Hinsicht nicht unähnlich den Filmen Greenaways – oft symbolische Anspielungen, welche vielschichtige, oft nicht eindeutig festzulegende Bedeutungen annehmen können.36 Neben einer Thematisierung auf der Ebene des Dialogs erscheinen die Gemälde Vermeers in EIN Z UND ZWEI NULLEN in der Form von Gemälden oder Abbildungen (Kopien), als Anspielung auf einzelne Motive oder Personen bestimmter Werke (Zitate) oder in einer szenischen Umsetzung als tableaux vivants (Imitate), inszeniert durch den von Vermeer besessenen Chirurgen van Meegeren – welcher sicher nicht zufällig den Namen eines bekannten VermeerFälschers trägt. Van Meegeren entdeckt hierfür Alba als ideales Modell.37 Diese Imitate übernehmen die Kompositionen ihrer Vorbilder nie unreflektiert, sondern sind stets gebrochen durch Abwandlungen der Raumsituation bzw. der Figurenkonstellationen der Vorlagen. In EIN Z UND ZWEI NULLEN gibt es kaum Kopien, die unabhängig von der Inszenierung eines Zitats oder Imitats auftreten. Eine dieser Kopien liegt dann vor, wenn die LAUTENSPIELERIN (um 1664) in jener Szene gezeigt wird, in welcher van Meegeren Alba ihr künstliches Bein anpasst. Das Bild hängt an der Wand von van Meegerens Behandlungsraum. Aber hier bleibt es nicht bei der reinen Kopie, da das Zimmer durch seine Ausstattung, die Stühle und die Drapierungen über den Tischen deutlich an eine Szene Vermeers erinnert. Das Gemälde der LAUTENSPIELERIN mag dabei auf die später folgenden Imitate Vermeers vorausweisen, zumal van Meegerens Assistentin in dieser Szene bereits Albas Maße für die Anfertigung des gelben Kleides aus diversen Vermeer-Gemälden nimmt.
35 Vgl. Greenaway, Peter: A Zed and Two Noughts, London: Faber and Faber 1986, S. 14. 36 Vgl. Toman, Rolf (Hrsg.): Die Kunst des Barock. Architektur, Skulptur, Malerei, Köln: Könemann 2004, S. 462-465; vgl. auch Wheelock, Arthur K. Jr.: Vermeer. The Complete Works, New York: Abrams 1997, S. 42. 37 Vgl. Schuster 1998, S. 39.
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Vermeers MÄDCHEN MIT ROTEM HUT (um 1665/66) taucht wiederum als Zitat in Form von van Meegerens Assistentin Caterina Bolnes über die gesamte Handlung verteilt auf. Was es von den Zitaten in CARAVAGGIO dabei entschieden unterscheidet, ist, dass hier keine aus einem Gemälde übernommene Komposition nachempfunden wird, sondern eine im Gemälde dargestellte Figur zur Vorlage für eine Protagonistin des Films wird: Nicht nur Caterina Bolnes’ Kostüm und Kopfbedeckung gleichen dabei der Frau im Bild,38 sie trägt auch gleichzeitig den Namen der Ehefrau Vermeers. Von Anfang an anwesend und ständig im Hintergrund der Handlungen auftauchend, weist sie dabei durch Kleidung und Namen stets auf die Gemälde Vermeers und gleichzeitig auf die Anwesenheit van Meegerens zurück, für den sie, wie wir erfahren, ihren Namen änderte und der höchstwahrscheinlich auch die treibende Kraft hinter ihrer äußeren Erscheinung darstellt. Van Meegeren, der selbst eine Art Fälschung Vermeers ist, hat sich so mit seiner Assistentin eine weitere Fälschung geschaffen. Wie Vermeer, der selbst oft identische Räume als Grundlage für die räumlichen Situationen seiner Gemälde benutzte, inszeniert auch Greenaway – bzw. innerfilmisch van Meegeren – seine tableaux vivants im selben Raum, welcher durch Dekoration, Ausleuchtung und Ausschnittswahl variiert wird.39 Van Meegeren fungiert dabei als Schöpfer dieser Imitate, die er jedoch nicht malerisch, sondern fotografisch dupliziert. Im Imitat von Vermeers MALKUNST (um 1666/68) übernimmt Greenaway grundsätzlich den ursprünglichen Bildaufbau, führt jedoch Änderungen ein: So wird aus dem Modell der Clio die – bis auf den roten Hut – gänzlich unbekleidete Caterina Bolnes und der Maler zum fotografierenden Van Meegeren.40 Dabei bleibt die Blickachse des Betrachters im Wesentlichen erhalten, die Statik des tableau vivant wird jedoch aufgebrochen, sobald Caterina Bolnes in der Rolle des Modells die Trompete, die sie in der Hand hält (im Original eine Posaune), auf eine Bemerkung van Meegerens hin entzürnt wegwirft. Die Rolle van Meegerens als Fotograf verweist dabei selbstreflexiv auf das Medium Film. Das der Malerei und Fotografie gemeinsame Moment des statischen Einzelbildes wird im Film durch das Festhalten eines Moments mit der Fotokamera thematisiert, ein Vorgehen, welches wiederum durch das bewegte Medium des Films festgehalten wird. Dies wird durch die plötzliche Brechung des tableau vivant, die durch die unvermittelte Bewegung der Schau-
38 Vgl. ebd., S. 72. 39 Vgl. ebd., S. 77. 40 Vgl. Kremer, Detlef: Peter Greenaways Filme. Vom Überleben der Bilder und Bücher, Stuttgart/Weimar: Metzler 1995, S. 135f.; vgl. auch Schuster 1998, S. 75.
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spielerin ausgelöst wird, noch hervorgehoben. Die Allegorie der Malerei wird so zur Allegorie des Films und einer Reflexion über dessen Medialität.41 Im Rahmen von EIN Z UND ZWEI NULLEN werden Kopien zu ergänzenden Kommentaren der Handlung. Zitate hingegen erfüllen keine bestimmte Funktion, sondern weisen lediglich im Laufe des Films immer wieder auf Vermeer zurück. Imitate wiederum, mehr als alles andere künstliche Inszenierungen im Film, zeichnen sich durch ihren artifiziellen Charakter aus und machen auf einer Zwischenstufe zwischen Malerei und Film, zwischen Statik und nicht zu unterdrückender Bewegtheit, vor allem anderen selbstreflexiv auf die Sehgewohnheiten gegenüber dem jeweiligen Medium aufmerksam.
Schlussfolgerung Rückblickend zeigt sich, dass die Funktionen der Kopie, des Imitats und des Zitats filmübergreifend keineswegs verallgemeinert werden können, da die einzelnen Filme die Malerei stets zu ihren Zwecken instrumentalisieren. Was all diese Repräsentationen von Gemälden jedoch vereint, ist die Tatsache, dass sie die Aussage des Films stets erweitern, indem dieser ihre Ikonografie als eigenständiges Werk mit einer Ikonografie, die ihnen als Teil des Films zugewiesen wird, ergänzt. Der Film und die Malerei als bedeutungstragende Medien generieren auf diese Weise eine dritte Bedeutung, die sie für sich genommen nicht erzeugen können. Diese Bedeutungszuweisung verleiht ihnen, zusammen mit einer Hervorhebung und Betonung ihrer Besonderheit, stets den Charakter einer Inszenierung. Kopien sind in diesem Zusammenhang meist Objekte der Handlung, die durch das Eingebundensein in das Geschehen und eine oft direkte Ansprache auf Dialogebene ihren Inszenierungscharakter erhalten. Imitate hingegen sind meist als artifizielle Situationen im Kontext einer Vision oder eines Atelierarrangements ausgezeichnet. Sie sind somit nicht in die Handlung integriert, sondern als anarrative Elemente hervorgehoben. Zitate wiederum sind meist in den narrativen Ablauf eingebunden und zwar so, dass eine gewisse Vorkenntnis nötig ist, um sie zu identifizieren, ihr Inszenierungscharakter somit an ein Erkennen gebunden ist. Was alle Kategorien dabei vereint, ist, dass sie im Rahmen eines
41 Vgl. ebd., S. 96-100. Gleichzeitig ist Greenaways tableau vivant der MALKUNST eine Anspielung auf Richard Polaks fotografische Rekonstruktion (1915) des Gemäldes. Vgl. Woods, Alan: Being Naked Playing Dead. The Art of Peter Greenaway, Manchester: Manchester University Press 1996, S. 55.
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Films neue Bedeutungsebenen konstituieren, die zusätzliche, vormals nicht gegebene, Bedeutungen vorhandener Bildinhalte generieren können.
Stockhausen unterwegs zu Wagner. Virtuelle Begegnungen zwischen zwei Musikerpersönlichkeiten M AGDALENA Z ORN
Der RING DES NIBELUNGEN sei im Vergleich zu Karlheinz Stockhausens 29stündigem Opernzyklus lediglich eine »Kurzgeschichte«1, schrieb der Rezensent der Neuen Zürcher Zeitung anlässlich der posthumen Uraufführung des SONNTAG im April 2011 in Köln, einer von sieben Einzelopern, die sich zum musiktheatralen Zyklus LICHT zusammenschließen. Stockhausen widmete seine Heptalogie den sieben Tagen der Woche von Montag bis Sonntag und entwarf mit ihr eine Art »kosmisches Welttheater«2 rund um die mythischen Protagonisten Michael, Eva und Luzifer. Dabei bediente er sich nicht nur der unterschiedlichsten vokalen, instrumentalen und elektronischen Mittel, sondern bemühte sich ebenso um eine Synthetisierung der Künste (Musik, Sprache, verschiedene Formen der körperlichen Darstellung) sowie der Wahrnehmungsbereiche (Hören, Sehen, im SONNTAG zuletzt auch Riechen). Schließlich griff der katholisch sozialisierte Komponist auch noch auf eine Fülle von Religionen und Mythologien zurück, um das Göttliche – vermittelt durch die Metapher des Lichts – als universal verbindlichen Synkretismus darzustellen. Für eine Gesamtaufführung seines monumentalen Opernzyklus hätte Stockhausen nach eigenen Angaben
1
Frei, Marco: Rituale der Entfremdung, in: Neue Zürcher Zeitung (13.04.2011), http:// www.nzz.ch/nachrichten/kultur/buehne/rituale_der_entfremdung_1.10228840.html (zuletzt aufgerufen am 19.06.2011).
2
Stockhausen, Karlheinz: Wo Musik lebendig ist, in: ders.: Texte zur Musik 19841991, Bd. 9: Über LICHT. Komponist und Interpret. Zeitwende, ausgewählt und zusammengestellt von Christoph von Blumröder, Kürten: Stockhausen-Verlag 1998, S. 51-70, hier S. 56.
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nicht ein Festspielhaus benötigt, wie Wagner, sondern sieben.3 Das verdeutlicht nicht nur, in welchem Ausmaß er die äußeren Dimensionen des RINGS ausweitete, sondern führt zur grundsätzlichen Frage nach dem geistesgeschichtlichen Verhältnis seiner Heptalogie und Wagners Tetralogie. Ihre äußerliche Ungleichheit kann nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass beiden ein universalistisches, auf die Synthese der Künste abzielendes Modell des Gesamtkunstwerks zugrundeliegt und dass daher ästhetische Verbindungslinien vom einen zum anderen Opernzyklus verlaufen. In einem von Verwerfungen und Umwegen gekennzeichneten musikgeschichtlichen Transformationsprozess erfuhren wesentliche Elemente und Merkmale von Wagners Musikdrama offenbar eine Umwertung und Umdeutung, um schließlich in abgewandelter Form in Stockhausens Opernkonzept wiederzukehren. Die virtuellen Begegnungen zwischen dem jungen Stockhausen und dem Opernkomponisten Wagner, die diesen Verwandlungsvorgang in Gang brachten, stehen daher im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags. Seit Bekanntwerden seines Opernprojektes, dem sich Karlheinz Stockhausen von 1977 bis 2003 ausschließlich widmete, häuften sich die Fragen nach dem Einfluss, den das Musikdrama Richard Wagners auf das Musiktheaterkonzept von LICHT genommen hat. Stockhausens Gesprächspartner stützten sich dabei stets auf das Prinzip des Zyklischen und auf die Idee einer Zusammenführung der Künste, die beide Werke auf ähnliche Weise prägen. Mit der Zeit mangelte es auch nicht an polemischen Auseinandersetzungen, wie jene wissenschaftlich fundierte von Klaus Karl Hübler, der Stockhausen als den von Allmachtsphantasien gezeichneten Nachfolger Wagners darstellte.4 Unterdessen wies der Komponist selbst jegliche Bezugnahme auf das Oeuvre und das Gedankengut Richard Wagners zeit seines Lebens von der Hand: »Ich habe nichts aufgegriffen und ich halte von Wagner nicht viel.«5 Und er gab sein Missbehagen an der ästhetischen
3
Lernen um zu lernen, Gespräch zwischen Karlheinz Stockhausen und Jakob Buhre am 07.07.2000. Gesprächsteile wurden in der Zeitschrift crescendo 5 (2000) unter dem Titel Der Mensch der Zukunft wird ein Sänger sein veröffentlicht. Das Zitat entstammt der Transkription des gesamten Gesprächs, das sich im Archiv der Stockhausen-Stiftung in Kürten befindet.
4
Vgl. Hübler, Klaus Karl: »Und doch bin ich Mensch geworden.« Karlheinz Stockhausen, oder der Komponist als »Gottessohn«, in: Gabriele Förg (Hrsg.): Unsere Wagner: Joseph Beuys, Heiner Müller, Karlheinz Stockhausen, Hans-Jürgen Syberberg, Frankfurt a. M.: Fischer 1984, S.85-123.
5
Polyvisuelle Musik. Gespräch zwischen Karlheinz Stockhausen und Wibke Bantelmann am 08.10.2004 für das SWR-Studio Karlsruhe anlässlich einer Aufführung von
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Sphäre des Musikdramas unverhohlen preis. So antwortete er im Jahr 1985, während der Arbeit an MONTAG aus LICHT, auf die Frage, was ihm die Musik Richard Wagners bedeute: »Sehr wenig. Ich bin zweimal in meinem Leben in einer Wagner-Oper gewesen und beide Male nach kurzer Zeit wirklich angewidert rausgelaufen.«6 Mit folgender Stellungnahme, in der Stockhausen den Vergleich zwischen LICHT-Heptalogie und RING-Tetralogie als »äußerlich« bezeichnet, stilisierte er Wagner sogar zu seinem geistigem Gegenpol: »Ich finde, dass das ziemlich äußerlich ist. Man meint eigentlich nur die Dauern seiner Opern und die Tatsache, dass er mehrere Opern zu einem Zyklus zusammengefasst hat. Im Übrigen könnte nichts auf der Welt gegensätzlicher sein als der geistige Gehalt Wagner’scher Musik und meiner Musik. So wie ich das sehe, ist seine Musik [...] höchste Kondensierung des emotionalen Menschen in der Zeit, in der Wagner lebte, also an der Scheide zwischen zwei großen Weltepochen [...], und mitten in der Nostalgie des Deutschen, der bis in die Frühzeit seiner Menschwerdung rückwärts schaute. Wagner’sche Mythologie ist ja eine Retrospektive, eine speziell germanische [...]. Mein Werk ist auf einen zukünftigen Menschen hin gerichtet [...]., der in den Kosmos reisen will, der diesen Planeten als Ausgangsstation und als Übergangsstation betrachtet und begreift, dass er hier nur kurze Zeit zu Besuch ist, um bestimmte und eigentlich nur wenige Dinge zu lernen; dass er begrenzt ist an Bewusstsein und körperlichen Fähigkeiten. Sein Ziel ist das Jenseits [...]. Das gibt einen neuen Inhalt und Gehalt der Musik. Dieser Gehalt ist also weder auf einen geschichtlichen Religionsstifter zurückorientiert, noch auf germanische oder andere Götter bezogen, sondern er weist auf kosmische ewige Geister, die in LICHT postuliert sind: 7
MICHAEL, LUZIFER, EVA. Sie sind zeitlos, ewig gegenwärtig.«
Positionierung als Antiwagner Stockhausen etablierte mit dieser Aussage Gegensatzpaare, die letztlich eine Unvereinbarkeit von Wagners alter Welt und seiner eigenen musikalischen Utopie suggerieren. Zum einen stellte er der retrospektiv ausgerichteten Verfallsleh-
LICHT-BILDER am 11.12.2004 im Zentrum für Kunst und Medientechnologie – ZKM in Karlsruhe. Archiv der Stockhausen-Stiftung für Musik, Kürten. 6
Stockhausen, Karlheinz: Zweiter Vortrag »Komponist und Interpret«, in: ders 1998, Bd. 9, S. 250-304, hier S. 280.
7
Stockhausen, Karlheinz: Astronische Epoche, in: ders 1998, Bd. 10: Astronische Musik. Echos von Echos, hrsg. und zusammengestellt von Christoph von Blumröder, Kürten: Stockhausen-Verlag 1998, S. 15-38, hier S. 28f.
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re des RINGS seine prospektiv auf das Jenseits gerichtete LICHT-Lehre gegenüber. Zum anderen betonte er den Gegensatz zwischen Wagners Bezugnahme auf die Geschichte und seiner Zeitlosigkeit: Während Wagner zuletzt glaubte, nur durch die Auseinandersetzung mit dem historischen Jesus »einer ewigen Idee ansichtig zu werden«8, verzichte sein Musiktheater bei der Darstellung ewiger religiöser Wahrheiten auf historische Katalysatoren. Stockhausen erweiterte die Liste der Dichotomien bei anderen Gelegenheiten: Im Unterschied zu Wagners RING, der »eine klare, abgeschlossene Geschichte«9 präsentiert, komme LICHT ohne Konklusion aus. Der Zyklus nimmt kein Ende, sondern schließt, wie eine »ewige Spirale«10, fortwährende Evolution mit ein. Schließlich schien es für Stockhausen auch einen zentralen Unterschied im Figurenkonzept der beiden Opernzyklen zu geben: Während es im Gesamtkunstwerk Wagners um den sterblichen Menschen als psychologisch bedingtes Wesen geht, steht im Zentrum seiner Musica Mundana der unsterbliche Geist, »der nur temporär ein Mensch ist, und der sich den Menschen zwar anzieht wie ein Gewand und auch damit herumspielt, sich aber nicht mit seinem Körper identifiziert«11. Durch seine Positionierung als Antiwagner unterschied sich Stockhausen deutlich von anderen deutschen Komponisten seiner Generation, die sich vor allen Dingen seit Mitte der 1970er Jahre wieder verstärkt mit dem Erbe der Romantik auseinandersetzten. Im Jahr 1977 etwa, als Stockhausen mit der Komposition seines Opernzyklus begann, fand in Köln die Uraufführung von Wagners WESENDONCK-LIEDERN in einer Bearbeitung von Hans Werner Henze statt, und 1980, als er mit DONNERSTAG die erste Oper seines Zyklus vollendete, versuchte Dieter Schnebel mit dem WAGNER-IDYLL »Vergangenes in Richtung Gegenwart«12 zu dynami-
8
Steinacker, Peter: Richard Wagner und die Religion, Darmstadt: Wissenschaftliche
9
Stockhausen, Karlheinz: Geistig-Geistliche Musik, in: ders. 1998, Bd. 9, S. 101-124,
Buchgesellschaft 2008, S. 130. hier S. 117. 10 Stockhausen, Karlheinz: Die sieben Tage der Woche, in: ders. 1998, Bd. 6: Interpretation, ausgewählt und zusammengestellt von Christoph von Blumröder, Köln: Stockhausen-Verlag 1989, S. 152-171, hier S. 156. Markus Wirtz spricht von Stockhausens »Selbsteinschätzung als spiralig fortschreitender Komponist«; Wirtz, Markus: Licht. Die szenische Musik von Karlheinz Stockhausen. Eine Einführung, Saarbrücken: Pfau 2000, S. 39. 11 Stockhausen, Karlheinz: LICHT-Blicke, in: ders. 1998, Bd. 6, S. 188-233, hier S. 228. 12 Schnebel, Dieter: Die Tradition des Fortschritts und der Fortschritt der Tradition. Ein Erfahrungsbericht, in: ders., Anschläge – Ausschläge. Texte zur neuen Musik, München: Hanser 1993, S. 113-127, hier S. 123.
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sieren. Auffallend ist gerade die unterschiedliche Handhabung des seriellen Prinzips bei Schnebel und Stockhausen: Während das Prinzip der seriellen Skalierung des protestantischen Theologen Schnebel der Vermittlung dialektischer Gegensätze dient und auf diese Weise Tradition und Avantgarde, Wagner und Eigenes in einen Zusammenhang bringt, lässt Stockhausens Serialismus den geistigen Gegenpol Wagner scheinbar außen vor. Stehen sich die Welt des RING und jene von LICHT also einsam und unvereinbar gegenüber? Wohl kaum; sie scheinen vielmehr durch ein »Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur«13 untrennbar miteinander verbunden zu sein und sich in einem vieldimensionalen Raum gegenseitig zu durchdringen. Stockhausen gab an, meistens zu finden, ohne zu suchen.14 Der Klangforscher in ihm war sich – offenbar ganz im Gegensatz zum Opernkomponisten – über die Implikationen dieses vieldimensionalen, intertextuellen Rezeptionsprozesses vollkommen bewusst. Was die Einsicht in die Zusammenhänge zwischen dem Musikdrama Wagners und der szenischen Musik Karlheinz Stockhausens verstellte, war die spezielle Situation, in der sich das deutsche Musikleben nach dem Zweiten Weltkrieg befand, in der eine ganze Komponistengeneration den Bruch mit der Vergangenheit herbeisehnte.15 Stockhausen machte während des Krieges traumatisierende Erfahrungen: Er verlor beide Eltern und sah sich im Lazarett mit den Auswirkungen der nationalsozialistischen Gräueltaten unmittelbar konfrontiert.16 Er erlebte auch, wie Wagner »aus einer paradoxen ideologischen Verknüpfung«17 heraus »repräsentativ für den germanischen Geist«18 wurde. Eine Aversion des jungen Komponisten gegen alles Monumentale und Deutsche führte nach dem Krieg schließlich zur Abkehr vom romantischen Ausdrucksideal und einer Hinwendung zum Ideal der Reinheit, das er in der Musik Anton Weberns sowie in
13 Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: Fotis Jannidis et al. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 185-193, hier S. 190. 14 Lernen um zu lernen. Archiv der Stockhausen-Stiftung für Musik, Kürten. 15 Zur musikgeschichtlichen Situation um 1950 vgl. Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts (Neues Handbuch für Musikwissenschaft, Bd. 7), Laaber: Laaber 1996, S. 284-299. 16 Vgl. Stockhausen, Karlheinz: Die Musik und das Kind, in: ders.: Texte zur Musik 1970-1977, Bd. 4: Werkeinführungen. Elektronische Musik. Weltmusik. Vorschläge und Standpunkte. Zum Werk Anderer, ausgewählt und zusammengestellt von Christoph von Blumröder, Köln: DuMont 1978, S. 587-613, hier S. 589. 17 Stockhausen, Karlheinz: Da hatten die Leute kaum aufgehorcht, und schon war alles wieder vorbei, in: ders. 1998, Bd. 9, S. 525-584, hier S. 537. 18 Ebd.
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der abstrakten Kunst von Piet Mondrian und Kasimir Malewitch verwirklicht sah.19 So beschrieb Stockhausen die Phase zu Beginn der 1950er Jahre rückblickend als eine Zeit, in der der »große ›romantische‹ Bogen«20 abgeschlossen war und eine »Orientierung vom Menschen weg stattfand. Man schaute wieder in die Sterne, begann intensiv zu messen und zu zählen«21. Die Traditionslosigkeit der seriellen Musik wurde insofern durch die Unterwerfung unter eine Naturgeschichtlichkeit kompensiert,22 und der in immer weitere Ferne rückende Mensch durch die Zahl ersetzt. Die Herrschaft der Zahl garantierte für Stockhausen die »Objektivierbarkeit sowohl des Lebens wie auch der Kunst und der Organisation musikalischer Prozesse.«23 Mit seiner, auf Entmenschlichung aufbauenden Zahlenphilosophie setzte er sich radikal von der Ästhetik Wagners ab, der trotz seiner Gesellschafts- und Zivilisationskritik stets am Subjekt und dessen schöpferischem Potenzial festhielt.24
Literarische Wagnerrezeption Gleichwohl kam Stockhausen in seiner Kölner Studienzeit von 1947 bis 1951 auf Umwegen intensiv mit Wagners romantischen Idealen in Berührung. Es scheint, als hätte die charakteristische Ausprägung seines späteren Antiwagnerismus – der sich selten konkret auf die Musik bezieht,25 sondern hauptsächlich
19 Allerdings war sich Stockhausen über die ideologische Konnotation ästhetischer Reinheit während des NS-Regimes sehr wohl bewusst und beurteilte Weberns Verhältnis zum Nationalsozialismus als ambivalent. Vgl. ebd., S. 536. 20 Eggebrecht, Hans Heinrich (Hrsg.): Karlheinz Stockhausen im Musikwissenschaftlichen Seminar der Universtität Freiburg im Breisgau: Murrhardt 1986, S. 34f. 21 Ebd., S. 34f. 22 Vgl. Danuser 1996, S. 296. 23 Rathert, Wolfgang: Offene Feinde und heimliche Freunde. Ursprünge und Motive des Anti-Wagnerismus in der Moderne, in: wagnerspectrum 2 (2010), S. 17-39, hier S. 37. 24 Zur Zivilisations- und Gesellschaftskritik Wagners vgl. Bermbach, Udo: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, Frankfurt a. M.: Fischer 1994. 25 Einer dieser seltenen Fälle ergab sich im Gespräch mit Michel Rigioni, in dem Stockhausen über die Aufführung einer Wagner-Oper an der Mailänder Scala sprach. Vgl. Das Theater ist das Ergebnis der Musik, Gespräch zwischen Karlheinz Stockhausen und Michel Rigoni am 10.08.1998 in Kürten. Archiv der Stockhausen-Stiftung für Musik, Kürten.
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auf den religionsphilosophischen Überbau des Gesamtkunstwerks –, in diesen Jahren ihre Wurzeln. Stockhausen, der sich zu dieser Zeit noch nicht entschlossen hatte, ob er in erster Linie Schriftsteller oder doch Musiker sein wollte, setzte sich damals nicht unbedingt auf direktem Wege mit Wagner auseinander, sondern über Dritte, die das Oeuvre und die Persönlichkeit des Opernkomponisten literarisch reflektierten. So war er im Jahr 1948 von der Lektüre zweier Romane vollkommen begeistert: von Thomas Manns DOKTOR FAUSTUS und Hermann Hesses GLASPERLENSPIEL.26 Im Sommer des Jahres 1951, einige Monate bevor er in Paris Schüler von Olivier Messiaen wurde, bezeichnete er diese Werke im Brief an den Komponisten Karel Goeyvaerts als Schlusssteine einer Epoche, nicht zuletzt deshalb, weil er in ihnen »das Lutherproblem, das geistige Problem der Neuzeit überhaupt«27 angesprochen sah, das ihn auch persönlich sehr bewegte: »Wir sind in unserem Leben als Katholiken konservativ. Das gründet in der hierarchischen Fügung. Wie sehr es in meinem Leben den scheinbaren Widerspruch zwischen jenem Konservativismus und einer Sehnsucht nach dem Zukünftigen, dem Neuen oder auch Urzeitlichen zu lösen gibt, spüre ich immer mehr.«28 In den Romanen von Hesse und Mann sah Stockhausen diesen Widerspruch nun exemplarisch vorgeführt und überdies hinaus noch von zwei Musikerpersönlichkeiten ausgetragen, die jeweils für die Verwirklichung einer künstlerischen Utopie einstanden: Bei Hesse ist es der Magister Ludi und geistige Diener Josef Knecht, der sich in esoterischer Weltabgewandtheit dem Glasperlenspiel verschreibt, an dem »mehrere Wissenschaften und Künste, namentlich aber die Mathematik und die Musik«29 beteiligt sind, bei Thomas Mann der
26 Vgl. dazu Blumröder, Christoph von: Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 32), Stuttgart: Steiner 1993, S. 11. Der Autor geht jedoch auf Stockhausens Lektüre des DOKTOR FAUSTUS nicht näher ein. 27 Zitiert nach Blumröder 1993, S. 22. Der Brief ist vollständig faksimiliert bei Sabbe, Herman: Die Einheit der Stockhausen-Zeit. Neue Erkenntnismöglichkeiten der seriellen Entwicklung anhand des früheren Wirkens von Stockhausen und Goeyvaerts. Dargestellt aufgrund der Briefe Stockhausens an Goeyvaerts, in: Karlheinz Stockhausen: ...wie die Zeit verging..., (Musik-Konzepte, Hf. 19), München: Edition Text + Kritik 1981, S. 5-96, hier S. 80-83. Der Briefwechsel Stockhausen-Goeyvaerts befindet sich im Archiv der Stockhausen-Stiftung für Musik in Kürten. 28 Zitiert nach Blumröder 1993, S. 22. 29 Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften [1943], Zürich: Suhrkamp 1972, S. 12.
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deutsche Tonsetzer Adrian Leverkühn, der gleichermaßen von rationalem Kalkül wie spekulativem Aberglauben angetriebene Erfinder der Zwölftontechnik. Knecht und Leverkühn waren Symbole für den Fortschritt und trotz ihrer Ambiguität für Stockhausen bis zu einem gewissen Grad wohl Identifikationsfiguren, an denen er sein Selbstverständnis als Komponist ausrichtete. Seine erste serielle Komposition KREUZSPIEL (1951) entstand jedenfalls unter dem Eindruck dieser Persönlichkeiten30 und zeigt jene Verquickung von »Religiösem und Rationalem«31, die später auch für LICHT charakteristisch sein wird. Thomas Mann und in jungen Jahren auch Hermann Hesse waren glühende Wagnerianer, doch beide verfassten Werke, die als Beispiele eines kritischen, literarischen Wagnerismus bezeichnet werden können.32 So tritt Manns Protagonist in ironische Distanz zum romantischen Komponisten Wagner: Adrian Leverkühn gerät bei der Beschreibung des MEISTERSINGER-Vorspiels ins Lachen und daher scheint es ihm so, »als ob fast alle, nein, alle Mittel und Konventionen der Kunst heute nur noch zur Parodie taugen«33. Der Autor konfrontiert seinen fortschrittsorientierten Tonsetzer, den er den Pakt mit dem Teufel schließen lässt, im Verlauf des Romans immer wieder mit der Musik Wagners, die im Roman als das Relikt einer vergangenen, musikalischen Welt fungiert. Manns eigenes Verhältnis zum Komponisten des RINGS war ambivalent: Er bezeichnete die heile »Dreiklang-Welt«34 der Rheintöchter zwar als seine musikalische Heimat, wusste jedoch gleichzeitig, dass Wagners Musiksprache nicht mehr zeitgemäß war und somit auch nicht geeignet, Leverkühns kompositorische Modernität zu untermauern. Er differenzierte also zwischen seiner persönlichen Vorliebe und dem grundlegenden gesellschaftlichen Anliegen, das er mit seinem FAUSTRoman während der politisch brisanten Entstehungszeit von 1943 bis 1947 ver-
30 Siehe Stockhausen, Karlheinz: Notiz zu KREUZSPIEL (1951), in: ders. 1998, Bd. 7: Neues zu Werken vor LICHT. Zu LICHT bis MONTAG. MONTAG aus LICHT, ausgewählt und zusammengestellt von Christoph von Blumröder, Kürten: StockhausenVerlag 1998, S. 25-26, hier S. 25f. 31 Kurtz, Michael: Stockhausen. Eine Biographie, Kassel: Bärenreiter 1988, S. 58. 32 Zur literarischen Verarbeitung von Person und Werk Wagners vgl. zusammenfassend Müller, Ulrich: Richard Wagner in Literatur und Film, in: ders.: Richard-WagnerHandbuch, Stuttgart: Kröner 1986, S. 704-730, hier S. 704-720. 33 Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn [1947], erzählt von einem Freunde, Frankfurt a. M.: Fischer 2008, S. 181. 34 Tagebucheintrag vom 28.09.1944, zitiert nach Schmidt-Schütz, Eva: Doktor Faustus zwischen Tradition und Moderne (Thomas-Mann-Studien, Bd. 28), Frankfurt a. M.: Klostermann 2003, S. 197.
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folgte. Der Wagner-Essay des Musiksoziologen Theodor W. Adorno, der Mann bei der Abfassung seines Romans als Experte für musikalische Fragen zur Seite stand, konnte ihn in dieser Hinsicht nur bestärkt haben.35 An Stockhausen, den Adorno seit einer Begegnung bei den Darmstädter Ferienkursen 1951 bezeichnenderweise »Leverkühn« nannte,36 dürfte diese Gegenüberstellung von musikalischer Zukunft und Vergangenheit, von Wagners Leitmotivik, die dem Roman als episches Organisationsprinzip zugrunde liegt, und Leverkühns Zwölftontechnik nicht spurlos vorübergegangen sein.37 Davon abgesehen musste sein Wagner-Bild nach der FAUST-Lektüre natürlich widersprüchlich gewesen sein, da er es durch die Augen Manns und gleichzeitig auch durch die Augen Adornos sah.
Wagners Untugenden: Deutscher, Protestant, Romantiker Während die Linie von Wagner über Mann und Adorno zu Stockhausen relativ klar verläuft, liegt der Rezeptionsstrang Wagner-Hesse-Stockhausen noch weitestgehend im Dunkeln. Hesse war für Stockhausen, der im September 1949 seinen Roman mit dem Titel GEBURT IM TOD beendete, zweifellos eine Art Vorbild. So begann der Jüngere im August 1949, also noch vor Fertigstellung seines Romans, einen Briefwechsel mit dem 71-jährigen Nobelpreisträger, der mit einem letzten Schreiben Stockhausens im September 1950 endet.38 Hesse war mit den Bühnenwerken Wagners bestens vertraut, das zeigt seine im Jahr 1919 erschienene Erzählung KLEIN UND WAGNER, in der er sich auffallend kritisch mit Werk und Persönlichkeit des Opernkomponisten auseinandersetzte.39 Der Protagonist
35 Thomas Mann las im Jahr 1944 offenbar die Teilpublikation Fragmente über Wagner. Die gesamte Abhandlung Adornos erschien 1952 unter dem Titel Versuch über Wagner. Vgl. dazu Schmidt-Schütz 2003, S. 199. 36 Vgl. Kurtz 1988, S. 60. 37 Gleichwohl ist Manns Roman weit davon entfernt, den musikalischen Fortschritt Leverkühns zu verherrlichen und lässt den inneren Widerspruch der Zwölftontechnik zwischen Freiheit und Totalitarismus, wie ihn Adorno in der Philosophie der Neuen Musik feststellte, an zahlreichen Stellen des Romans durchscheinen. 38 Der vollständige Briefwechsel zwischen Karlheinz Stockhausen und Hermann Hesse befindet sich im Archiv der Stockhausen-Stiftung für Musik, Kürten. Dieser beinhaltet vier Briefe Stockhausens und drei Antwortschreiben Hesses. 39 Auch Hesses erste, in den Jahren 1902/03 in Calw und Basel geschriebene Erzählung PETER CAMENZIND, mit der er über Nacht berühmt wurde, beinhaltet das WagnerMotiv. In der Erzählung taucht ein junger talentierter Musiker namens Richard auf.
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seiner Erzählung, ein Bankbeamte namens Klein, der sich wegen Veruntreuung von Geldern auf der Flucht befindet, kann durchaus als moderne Entsprechung des heimatlosen Lohengrin gelesen werden, der seine dunklen Geheimnisse niemandem preisgeben kann. Der von Verfolgungsängsten Gequälte leidet unter der Allgegenwart Wagners:40 »Plötzlich fand er den Namen ›Wagner‹ auf seinen Lippen. Wie bewusstlos sprach er ihn aus. ›Wagner – Wagner.‹ Wo kam der Name her? […] Er nahm sich zusammen. Allerlei fiel ihm ein. Er dachte an Lohengrin, und damit an das etwas unklare Verhältnis, das er zu dem Musiker Wagner hatte. Er hatte ihn, als Zwanzigjähriger, rasend geliebt. Später war er misstrauisch geworden, und mit der Zeit hatte er gegen ihn eine Menge von Einwänden und Bedenken gefunden. An Wagner hatte er viel herumkritisiert, und vielleicht galt diese 41
Kritik weniger dem Richard Wagner selbst als seiner eigenen, einstigen Liebe zu ihm?«
Durch Kleins (oder Hesses) Kritik an seiner einstigen blinden WagnerVerehrung offenbart sich seine paranoide Persönlichkeit. Von seinen Wahnvorstellungen vermag er sich auch erst im Freitod zu befreien: »Die Gestalt Wagners versank weit in der Ferne. Er war nicht Wagner, nicht mehr, es gab keinen Wagner, das alles war Täuschung gewesen. Nun, mochte Wagner sterben! Er, Klein, würde leben.«42 Es bleibt fraglich, ob Stockhausen diese Erzählung rund um die Figur Klein kannte, doch er entdeckte dafür an einem anderen Protagonisten Hesses wagnerähnliche Züge. Die Rede ist von der Romanfigur Josef Knecht, die Stockhausen so bewunderte, da sie »den Musiker verbindet mit dem geistigen Knecht«43. Seine einstige Vorliebe für den Meister des Glasperlenspiels schien sich bereits im November des Jahres 1951 in vollkommene Ablehnung verkehrt zu haben. Welche Gründe dafür auch ausschlaggebend gewesen sein mögen,44 Stockhausen
40 Der Name Wagner bezieht sich im Werk sowohl auf Richard Wagner, wie auf den seinerzeit aktuellen Fall eines Amokläufers namens Ernst August Wagner, über den die Presse berichtete. 41 Hesse, Hermann: Klein und Wagner [1919], in: ders.: Die Erzählungen und Märchen, mit einem Nachwort von Volker Michels, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 12781345, hier S. 1290f. 42 Ebd., S. 1344. 43 Stockhausen, Karlheinz: LICHT-Blicke, in: ders. 1998, Bd. 6, S. 206. 44 Anfang des Jahres 1950 erhielt Stockhausen eine maschinenschriftliche Notiz von Hesse übermittelt, auf der u. a. zu lesen stand: »Wenn Einer alt geworden ist und das Seine getan hat, steht ihm zu, sich in der Stille mit dem Tode zu befreunden. Nicht
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besetzte Knecht, der sich im Roman am Schluss vom Glasperlenspiel wieder abwendet, nun mit eindeutig negativen Attributen. Er war in seinen Augen Deutscher, Protestant, Romantiker, also das, was dem Katholiken, dem Vertreter einer nachromantischen, musikalischen Ära diametral entgegengesetzt war: »Knechts momentaner Avantgardismus ist historischer Konservativismus – so sehe ich es heute –, die Spaltung des Ganzen um der Einzelnen willen oder um des Einzelnen willen. Ich glaube wieder an die Hierarchie und ihre Zeitlosigkeit –: darum eher wache Passivität, als selbstgewisse Revolutionierung –; so ist Josef Knecht Deutscher, Protestant, Romantiker – und, – so widerspruchsvoll es zunächst klingen mag, Kommunist in dem Sinne: Negation der hierarchischen Wertordnung aus dem subjektivistischen Gefühl der eigenen Unterbewertung: Er weiß es besser, wozu er nutze ist, wo man ihn braucht, als die Hierarchie, die ihm seinen Platz zuwies. Er glaubt, die Stufen lägen außen, in der Entwicklung, anstatt innen, im Statischen; er glaubt an die Tat, nicht an das Selbstgeschehen aller Dinge: Er verlässt das Glasperlenspiel, die Möglichkeit des Glasperlenspiel [sic] – er verrät 45
sich selbst an sich selbst!«
Wagners geistiger Nachlass: Das Sinnliche Mit dem geistigen Nachlass Wagners war Stockhausen in diesen Jahren indes nicht nur durch die fiktive Figur Knechts konfrontiert, sondern auch durch Frank Martin, der 1950 für kurze Zeit sein Kompositionslehrer an der Kölner Musikhochschule war. Martin komponierte in den Jahren 1938 bis 1941 ein Oratorium auf Joseph Bediérs TRISTAN-Roman mit dem Titel LE VIN HERBÉ, das mit seiner Dreiteiligkeit und durch den quasi-leitmotivischen Einsatz von Zwölftonreihen durchaus Bezüge zu Wagners Musikdrama TRISTAN UND ISOLDE aufweist.46 Martin, auf diese Weise der Botschafter Wagners, ermunterte seinen ehemaligen Kompositionsschüler im Brief vom September 1951, sein strenges »Ideal der Reinheit« noch einmal zu überdenken: »›Vous avez un idéal très haut de pureté et qui doit péserver votre art de toute bassesse. Mais n’oubliez jamais que l’art
bedarf er der Menschen.« Diese gleichnishafte Mitteilung, mit der Hesse den Kontakt zu seinem jungen Verehrer beendet hat, dürfte Stockhausen tief verletzt haben. Vgl. dazu Blumröder 1993, S. 26 (Siehe Anm. 28). 45 Brief an Karel Goeyvaerts vom 05.11.1951, zitiert nach dem Originalmanuskript im Archiv der Stockhausen-Stiftung für Musik, Kürten. 46 Vgl. dazu Nilges, Yvonne: Le vin herbé: Tristan nach Tristan. Frank Martins PostWagnerismus, in: Udo Bermbach et al. (Hrsg.): wagnerspectrum 2 (2010), S. 227-239.
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vit, et ne peut que vivre, sur deux plans qu’il s’agit d’unifier, d’harmoniser: le plan de l’ésprit et le plan matériel. L’art est une incarnation de l’ésprit dans la matière. Il faut donc aimer cette matière, la cultiver‹«47. Die Vorstellung der Inkarnation in Kunst erlangte Jahrzehnte später einen besonders hohen Stellenwert für Stockhausen, da er sie durch seine Beschäftigung mit theosophischem Gedankengut theoretisch untermauerte. Das außergewöhnliche Figurenkonzept in LICHT hat letztlich in dieser Auffassung seine Wurzeln: Denn Michael, Eva und Luzifer haben keine Persönlichkeit, wie die Bühnenfiguren Wagners, sondern verkörpern ewige Prinzipien.48 Der Einfluss theosophischer Lehren auf das Konzept des Opernzyklus kann ohnehin nicht hoch genug eingeschätzt werden. Neben dem URANTIA-BUCH49, dem Stockhausen hauptsächlich die Thematik seines Werkes entnahm, hinterließen die Schriften von Helena Blavatsky und Alice Bailey deutliche Spuren im Gedankengebäude von LICHT, da der Komponist sein System von Korrespondenzen zwischen Wochentagen, Farben, geistigen Qualitäten, Elementen, Wahrnehmungsorganen und Himmelskörpern rund um die Zahl sieben letztlich aus diesen Abhandlungen ableitete.50 Die Doktrin Blavatskys, »auf dem Wege der inneren Erkenntnis sich den Problemen des Geistes zu nähern«51, faszinierte schon den Maler und Kunsttheo-
47 Brief an Karlheinz Stockhausen vom 07.09.1951, zitiert nach dem Originalmanuskript im Archiv der Stockhausen-Stiftung für Musik, Kürten. 48 Vgl. Stockhausen Karlheinz: LICHT-Blicke, in: ders. 1998, Bd. 6, S. 203. 49 Das URANTIA-BUCH wurde 1955 in Chicago erstveröffentlicht. Die Niederschrift dieses spirituellen Textes, der in Konkurrenz zur Bibel und zu anderen religiösen Schriften tritt, verfasste vermutlich der Mediziner und Laienpriester William S. Sadler, dem die göttlichen Botschaften via Channeling übermittelt wurden. »Die Aufhebung des Widerspruchs von religiösen Glaubenssätzen und naturwissenschaftlichem Weltbild […] muss geradezu als Leitmotiv des Urantia Book gesehen werden […].« Bandur, Markus: »...alles aus einem Kern entfaltet«. Zum Einfluss von »The Urantia Book« auf LICHT, in: Neue Zeitschrift für Musik 4 (2003), S. 27-29, hier S. 28. Zum Einfluss und zu Stockhauens Rezeption des Urantia-Buchs vgl. zusammenfassend Wager, Gregg: Symbolism as a Compositional Method in the Works of Karlheinz Stockhausen, Maryland: o. V. 1998, S. 191-203. 50 Prägend waren Blavatskys Isis Unveiled und Baileys Abhandlung über die sieben Strahlen. Unter den Skizzen zu LICHT im Archiv der Stockhausen-Stiftung befinden sich seitenlange Auszüge aus Baileys Schrift. 51 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst, mit einer Einführung von Max Bill [1912], Bern-Bümpliz: Benteli 1956, S. 42.
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retiker Wassily Kandinsky und beeinflusste seine 1911 erschienene Abhandlung Über das Geistige in der Kunst, die wiederum für Stockhausen sehr wichtig war.52 Dieses Werk, das um die Vereinigung der Künste und die Verbindung der Wahrnehmungsbereiche kreist,53 weist nicht nur auf die synästhetische Theosophie Stockhausens voraus, sondern fungiert darüber hinaus auch als Scharnier zwischen Stockhausens Gesamtkunstwerk und demjenigen Wagners. Kandinsky, der seine Einsicht in die Natur des reinen Klanges u. a. dem Schlüsselerlebnis einer LOHENGRIN-Aufführung verdankte,54 entwickelte die Kategorie der »gegenstandslosen Vibration«55, auf die sich alle Kunst zurückführen lässt. Als Schwingung kehrt sie bei Stockhausen wieder und fungiert als spirituelles Zentrum seiner Musik. Auf der Schwingung alles Klingenden, vom Rhythmus bis hin zur Klangfarbe, beruht die »Einheit der musikalischen Zeit«56 in seinen Werken. Das Fundament dieser allumfassenden »Klangreligion«57 Stockhausens liegt also
52 So beruft er sich in seinem richtungsweisenden Vortrag über die Form-Genese mit dem Titel Erfindung und Entdeckung auf die Schrift Kandinskys. Vgl. Stockhausen, Karlheinz: Erfindung und Entdeckung. Ein Beitrag zur Form-Genese, in: ders.: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952-1962 zur Theorie des Komponierens, hrsg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont Schauberg 1963, S. 222-258, hier S. 254. 53 Kandinsky war es wichtig, dass diese Verbindung, dieses Ablernen der Künste voneinander, »nicht äußerlich, sondern prinzipiell ist«; siehe Kandinsky 1956, S. 55. Es ging ihm um eine innere Synthese, die in seinen Augen allerdings Wagners äußerlicher Vorgehensweise im Gesamtkunstwerk entgegenstand. Vgl. Kandinsky, Wassily: De la méthode du travail synthétique, in: Christian Derouet und Jessica Boissel (Hrsg.): Kandinsky. Oeuvres de Vassily Kandinsky (1866-1944), Kat. Ausst. Musée National d’Art Moderne, Paris 1985, S. 158f., hier S. 158. 54 Kandinsky 1956, S. 9. 55 Ebd., S. 46. 56 Im gleichnamigen Text aus dem Jahr 1961 widmete sich Stockhausen der Zeitmorphologie seiner elektronischen Musik. Vgl. Stockhausen, Karlheinz: Die Einheit der musikalischen Zeit, in: ders. 1963, S. 211-221. Die für seine Zeitphilosophie grundlegende Abhandlung ...wie die Zeit vergeht... verfasste Stockhausen bereits 1956. Darin geht es um die Frage einer pseudo-physikalischen Korrelation der einzelnen musikalischen Parameter. Vgl. Stockhausen, Karlheinz: ...wie die Zeit vergeht..., in: ders. 1963, S. 99-139. 57 So lautet der Titel des grundlegenden Artikels von Dieter Schnebel, der vom theologischen Gehalt der Musik Wagners handelt. Vgl. Schnebel, Dieter: Religiöse Klänge –
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offenbar in der »Faszination für eine bei Wagner bereits angelegte physiologische Ästhetik«58, wie sie der Motor theosophischer Wahrnehmungslehren war.59
Wagner-Vokabeln bei Olivier Messiaen Stockhausens Weg zurück zu Wagner führt vor allen Dingen auch über den Komponisten Olivier Messiaen,60 der in den Jahren 1952/53 am Pariser Konservatorium sein Lehrer war, und das nicht nur, weil dieser nach dem Zweiten Weltkrieg seine so genannte Tristan-Trilogie komponierte.61 Zum einen gelangte über Messiaen die Idee des Leitmotivs62 und, damit zusammenhängend, ein Zug zur Antropomorphisierung klanglicher Gebilde zu Stockhausen. Wie der Lehrer seine »personnages rhythmiques« mit Schauspielern auf einer Bühne verglich,63 so bezeichnete Stockhausen die Gestalten, die sich aus der LICHT zugrundeliegenden Formel lösen, als die »eigentlichen Personen«64 seiner Oper. Diese Formel, aus der Stockhausen die Proportionen des gesamten Werkes ableitete, besteht aus der Übereinanderschichtung von drei charakteristisch gegliederten Tonfolgen, die den drei Protagonisten zugeordnet sind. Die verschiedenen Aus-
Klangreligion. Einige Ideen und Einfälle zu Wagner, in: Ulrich Müller: RichardWagner-Handbuch, Stuttgart: Kröner 1986, S. 698-703. 58 Baxmann, Inge: Verbindung der Künste und Verknüpfung der Sinne. Zur WagnerRezeption der Avantgarde in Frankreich, in: Annegret Fauser und Manuela Schwartz (Hrsg.): Von Wagner zum Wagnerisme. Musik, Literatur, Kunst, Politik (DeutschFranzösische Kulturbibliothek, Bd. 12), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 1999, S. 513-534, hier S. 534. 59 Auch für die Theosophen Charles Leadbeater und Annie Besant spielte Wagner eine große Rolle, da sie ihre Vorstellung von synästhetischen »Gedankenformen«, dargelegt in der Schrift Thought Forms (1901), in seiner Musik verwirklicht sahen. 60 Dieser Ansicht ist auch Wolfgang Rathert. Vgl. Rathert 2010, S. 38. 61 Bestehend aus dem Liederzyklus HARAWI (1945), der TURANGALÎLA-SYMPHONIE (1946-1948) und dem Chorstück CINQ RECHANTS (1949). 62 Messiaen verglich die Gesänge der Vögel mit Leitmotiven. Vgl. Claude, Samuel: Entretiens avec Olivier Messiaen, Paris: Belfond 1967, S. 97. 63 So etwa in einem Einführungstext zur TURANGALÎLA-SYMPHONIE. In deutscher Übersetzung abgedruckt bei Schweizer, Klaus: Olivier Messiaen. Turangalîla-Symphonie, München: Fink 1982, S. 60-73, hier S. 64. 64 Karlheinz Stockhausen im Programmheft zur Uraufführung von MICHAELION, zitiert nach Wirtz 2000, S. 56.
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schnitte aus diesen Melodien erzeugen, gleich Motiven, während der sieben Operntage vielfältige strukturelle und melodische Querverbindungen zwischen den einzelnen Szenen und entsprechen insofern tatsächlich jenem, »das ganze Kunstwerk durchziehenden Gewebe von Grundthemen«65, das Wagner für seine Musikdramen vorschwebte. Zum anderen stand Messiaen durch seine genuine Synästhesie, lange bevor er seine erste und einzige Oper SAINT FRANCOIS D’ASSISE (1975-1983) schrieb, für eine Aktualisierung gewisser Tendenzen des Gesamtkunstwerks, was den Schüler Stockhausen nicht unberührt lassen konnte. Es ist bezeichnend, dass das musiktheatrale Konzept von Messiaens Bühnenwerk, wie jenes von Stockhausens LICHT, nicht nur die Komposition instrumentaler und vokaler Verläufe umfasst, sondern auch das Visuelle, also Kostüme, Farben, Beleuchtung und Bühnenbild. Ein Opernkomponist musste in den Augen Messiaens eben »gleichzeitig mit dem Hören sehen.«66 Sehend zu hören, das mystische Erlebnis der Blendung (éblouissement) durch Klang-Farbe stellte für den Katholiken Messiaen die höchste Form der religiösen Erfahrung dar.67 In der synästhetischen Wahrnehmungswelt Stockhausens rückt sie in den Hintergrund und an ihre Stelle tritt die innere Vision, »das Erlebnis einer Intuition, in der nicht der Komponist die Werkidee konstruiert, sondern Zeuge ist, wie sie in ihm auftaucht.«68 So wurden gerade jene Stücke Stockhausens, von denen aus klangtechnischen Gründen eine überwältigende musikalische Wirkung ausgeht, scheinbar erträumt, wie etwa das Stück TRANS (1971), bei dem das Orchester – »in gut Wagner’scher Tradition«69 – für das Publikum unsichtbar bleibt, oder das HELICOPTER-STREICHQUARTETT in MITTWOCH aus LICHT, dessen Aufführung sich weit weg vom Publikum, in der Luft ereignet. Diese Traumstücke, in denen
65 Wagner, Richard: Über die Anwendung der Musik auf das Drama, zitiert nach ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 10, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1911, S. 176-193, hier S. 185. Zum Begriff des Leitmotivs vgl. Blumröder, Christoph von: Leitmotiv, in: Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.): Terminologie der musikalischen Komposition (Handwörterbuch der musikalischen Terminologie – Sonderbände, Bd. 2), Stuttgart: Steiner 1996, S. 185-196. 66 Rößler, Almut: Beiträge zur geistigen Welt Olivier Messiaens, mit Original-Texten des Komponisten, Duisburg: Gilles & Francke 1984, S. 128. 67 Vgl. ebd., S. 64. 68 Kurtz 1988, S. 61. 69 Hübler, Klaus Karl: Und doch bin ich Mensch geworden, in: Förg 1984, S. 89.
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das Visuelle eine große Rolle spielt,70 erinnern daran, was Theodor W. Adorno mit Blick auf die Musik des TRISTAN, des RING und des PARSIFAL als Phantasmagorie bezeichnete: an die »Verdeckung der Produktion durch die Erscheinung des Produktes«71, im Falle von Stockhausen also an den vermeintlich erträumten Klang. In diesen Klangtraumwelten Stockhausens ist Wagner über Messiaen offenbar angelangt.
Zusammenfassung Insgesamt scheint die Wagner-Rezeption des jungen Karlheinz Stockhausen indirekt verlaufen zu sein, indem sie von Künstlern und Theoretikern aus seinem Umfeld vermittelt wurde. Seine Begegnung mit Wagner fand auf zwei grundsätzlich verschiedenen Rezeptionskanälen statt. Zum einen geschah sie über das geschriebene Wort: Etwa durch die Lektüre des Romans DOKTOR FAUSTUS von Thomas Mann im Jahr 1948, der vor allen Dingen die musikgeschichtliche Stellung Wagners und die ideologische Austrahlung seines Musiktheaters reflektierte; ebenso durch die theoretische Beschäftigung mit Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst, in der der Autor seine Vorstellung einer theosophischen Synästhesie letztlich auf die Verfasstheit der Klangfarbe bei Wagner zurückführt. Zum anderen wurde Stockhausen Anfang der 1950er Jahre auf musikalischem Weg mit dem ästhetischen und kompositionstechnischen Fundament des Musikdramas bekannt gemacht. So bildet neben Frank Martin vor allem Olivier Messiaen – seine Vorstellung vom Gesamtkunstwerk und die charakteristische Motivik seiner Musik – eine wichtige Schnittstelle zwischen Wagner und Stockhausen. Auf diese Weise sind die Spuren Wagners in Stockhausens Opernzyklus LICHT zahlreich und bestätigen einmal mehr den Befund, den ClausSteffen Mahnkopf für die gegenwärtige Situation des Musiktheaters erstellte, nämlich, dass Wagners Kunst, auch »nach ihrem Ende im hegelschen Sinne als Diskurs weiterlebt.«72
70 Zu den Traumstücken Stockhausen vgl. Toop, Richard S.: Dreamworks, in: Gedenkschrift für Stockhausen, hrsg. von der Stockhausen-Stiftung für Musik, Kürten: Stockhausen-Verlag 2008, S. 194-201. 71 Zitiert nach Adorno, Theodor W.: Versuch über Wagner [1952], Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 80. 72 Mahkopf, Claus-Steffen: Wagner und die nicht nur musikalischen Folgen, in: Eckehard Kiem und Ludwig Holtmeier (Hrsg.): Richard Wagner und seine Zeit, Laaber: Laaber 2003, S. 347-359, hier S. 358.
SEA PICTURES – See Pictures – Hear Pictures! Edward Elgars Liederzyklus als Aufforderung zur Grenzüberschreitung S IMONE F OHR -M ANTHEY
Musiktheatrale Kunst- und nicht zuletzt Unterhaltungsformen sind per definitionem Hybridgebilde, sie bestehen immer aus mehreren verschiedenen medialen Komponenten wie Klang, Text und Bewegung. Je nach Kontext, in dem sie erscheinen bzw. zur Aufführung kommen – also auf Rezeption im weitesten Sinne treffen – verstärkt sich dieses Charaktermerkmal oder rückt sogar als zentrale Betrachtungskategorie in den Vordergrund. So lassen sich Liederzyklen sowohl im Hinblick auf ihre materielle Beschaffenheit als auch auf ihre performative Anlage hin als äußerst komplexe Konglomerate verschiedener Künste, Aspekte und Bedeutungen auffassen. Im Folgenden soll ein solches Werk – Edward Elgars SEA PICTURES1 – zum Anlass genommen werden, um auszuloten, auf welche Art und Weise es gerade die eher konzisen Vokalwerke, wie z. B. das Lied im Gegensatz zur Oper oder zum Oratorium, vermögen, in ihrem scheinbar kleinen musikalischen, textuellen und performativen Rahmen große Bedeutungsräume zu füllen und vielfältige semantische und semiotische Ebenen aufzufächern.
1
Elgar, Edward: Sea Pictures. A Cycle of Five Songs, op. 37. Contralto and Piano, London: Boosey and Hawkes 1974; ders.: Sea Pictures, London: Eulenburg 1999. Neue Ausgabe, hrsg. von Malcolm MacDonald. Eine herausragende Einspielung bietet folgende CD: Edward Elgar: Cello Concerto in E minor, op. 85/Sea Pictures, op. 37, EMI Classics: 1997. London Symphony Orchestra; Dirigent: Sir John Barbirolli. Kontra-Alt: Dame Janet Baker.
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Elgars SEA PICTURES entstanden 1899 und basieren auf fünf Gedichten verschiedener Autorinnen und Autoren.2 Zunächst für hohe Stimme konzipiert, kamen die fünf Lieder am 5. Oktober 1899 anlässlich des Norwich Festival Concert zur Uraufführung, nachdem Elgar sie für die Altistin Clara Butt umgeschrieben hatte. Ein roter Faden, der sich durch den gesamten Liederzyklus zieht, ist die Grenzüberschreitung. Sie findet sich sowohl in der formal-medialen Anlage – geschriebener Text, Musik und gesungenes Wort sowie Präsenz der Sängerin und Musiker im performativen Rahmen der Aufführung –, in der narrativen Struktur – hermetische Gedichte in Reihung, die sich in ein erzählerisches Ganzes entgrenzen – als auch in der eigentlichen Handlung des Zyklus – Abschied und Tod – wieder. Diese Punkte sollen unter dem Aspekt der Tendenz der Moderne zu transgressiven Phänomenen in der Kunst sowie im Hinblick auf Fragen der Intermedialität – im Sinne eines Nebeneinanders verschiedener medialer Komponenten in einem einzigen Zusammenhang – und der Intertextualität – im Sinne einer Korrespondenz verschiedener Kontexte via Zitate o. ä. – beleuchtet werden.
Epochengrenzen: Elgar als Künstler der Moderne Die erste Grenze wird bei den SEA PICTURES schon in Bezug auf den Komponisten Elgar selbst tangiert. Er steht innerhalb eines musikologischen Traditionsdiskurses sowohl am Anfang als auch am Ende von Entwicklungen, die von der Forschung oftmals als inkonsistent bezeichnet werden, sich aber gerade deshalb aufdrängen, als Kohärenzen wahrgenommen zu werden. Der Elgar-Spezialist Donald Mitchell konstatiert »The fact [...] that he did not emerge from a [musical] tradition increases our understanding of the make-up of his convention [...]. Elgar [...] was encumbered by no tradition. [...] The oddity of his English situation spared him the necessity of composing, as it were, with 3
history at his elbow.«
2
Hierbei handelt es sich um Roden Noel: SEA SLUMBER SONG; C.A. Elgar: IN HAVEN (CAPRI); Elizabeth Barrett Browning: SABBATH MORNING AT SEA; Richard Garnett: WHERE CORALS LIE; Adam Lindsay Gordon: THE SWIMMER. Vgl. Elgar 1974.
3
Mitchell, Donald: Some thoughts on Elgar, in: Christopher Redwood (Hrsg.): An Elgar Companion, Ashbourne: Sequoia 1982, S. 279-290, hier S. 289, zitiert nach Har-
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Elgar erscheint hier quasi als Fluidum, das sich durch die Historie angelsächsischer Musik schlängelte, ohne an Traditionen gebunden gewesen zu sein. Sicherlich eine in solch zugespitzter Form fragwürdige Behauptung, aber eine symptomatische Haltung gegenüber Schwellenphänomenen, denen gerne das Um1900-Etikett angehängt wird. Harper-Scott wird präziser, wenn er Elgars Schaffen in drei Perioden teilt: neo-romantisch, modern und postmodern.4 Die beiden ersten Phasen, die sich unmittelbar vor und nach der Jahrhundertwende ansiedeln, sollen für diesen Kontext im Mittelpunkt stehen, denn – so schreibt der Moderne-Forscher Dietrich Mathy: »Worin die Künste zu Beginn des Jahrhunderts insgesamt und wesentlich korrespondieren, ist der ihnen gegenständlich eingesenkte vielfältige Impuls zur Grenzüberschreitung, der ihre Setzungen begleitete. Solche Grenzüberschreitung reicht, unter der programmatischen Klammer von Kunst und Leben, von der tendenziellen Entkunstung der Kunst bis hin zu einer die Artefakte kennzeichnenden impliziten Transzendenz, eine Art Rückzug 5
der ästhetischen Gebilde in das Jenseits der ihnen implantierten dinglichen Erscheinung.«
Was macht Elgar zu einem Schwellenkomponisten, der das Potenzial der Romantik erneut bemüht, um es dann behutsam im Verlauf einer längeren kompositorischen Entwicklung in eine moderne Musiksprache zu überführen? Ein nüchterner, wenn auch wichtiger Grund ist der Erste Weltkrieg, der mit materiellen Engpässen die Produktion und einträgliche Rezeption opulenter Orchesterwerke verhinderte – zugunsten kammermusikalischer Stücke, wie z. B. dem bekannten Cello-Konzert.6 Abgesehen davon lassen sich allerdings auch programmatische Erklärungen finden, die das Werk Elgars vor 1914 – und hier sind speziell die SEA PICTURES gemeint, obschon auch weitere Stücke als Beispiele dienen könnten – als zukunftsweisende Bearbeitung einer Vergangenheit klassifizieren. So charakterisiert Jürgen Habermas das Grundlegende der Moder-
per-Scott, J. P. E.: Edward Elgar, Modernist, Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 11. 4
Vgl. Harper-Scott 2006,, S. 21-24.
5
Mathy, Dietrich: Die Avantgarde als Gestalt der Moderne oder: Die andauernde Wiederkehr des Neuen. Zur Korrespondenz und Grenzüberschreitung der Künste zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Hans Joachim Piechotta, Ralph-Rainer Wuthenow und Sabine Rothemann (Hrsg.): Die literarische Moderne in Europa, Bd. 2: Formationen der literarischen Avantgarde, Opladen: VS 1994, S. 79-88, hier S. 82.
6
Vgl. Harper-Scott 2006, S. 21.
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nität, wie es in der Epoche der Moderne zum Hauptmerkmal aller kulturellen Produktion gerät: »Mit wechselnden Inhalten drückt ›Modernität‹ immer wieder das Bewußtsein einer Epoche aus, die sich zur Vergangenheit [...] in Beziehung setzt, um sich selbst als Resultat eines Übergangs vom Alten zum Neuen zu begreifen.«7 Elgars Liederzyklus, der nach dem ersten Höreindruck verdächtig romantisch klingt, kann als musikalisches Äquivalent der Habermas’schen Feststellung gelten: Irritierend schwebt das Werk zwischen Romantik und Moderne, lässt sich nicht festlegen und vermittelt doch eindeutig zuordenbare Eindrücke. Um diese zu ergründen, ist zunächst ein Blick auf die Gestaltung der Stücke in ihrer Ganzheit zu werfen, d. h. sowohl auf die Verbindungen von Musik und Text als auch auf ihre Beziehungen untereinander.
Mediale Grenzen: Narration in den verschiedenen Künsten Elgars SEA PICTURES sind, wie bereits erwähnt, die Vertonungen von fünf Gedichten unterschiedlicher Provenienz, die sich in einen Liederzyklus fügen. Ihre lose Aneinanderreihung ergibt sich vordergründig aus dem Wunsch nach Abwechslung: Auf ein getragenes aber wirkmächtiges Eingangsstück folgt ein schwelgerisches Liebeslied, darauf ein beschwingt-ironisches Stück und so fort. Ein analytisches Hören und Lesen offenbart allerdings eine komplexe Narrationsstruktur, die von Text und Musik gleichermaßen errichtet, unterlaufen, vorausgedeutet, enttäuscht bzw. bestätigt wird. Typisch für das Genre des Liederzyklus wird dabei zwar keine Handlung im traditionellen Sinne erzählt, durch das bedeutungsvolle In-Beziehung-Setzen von Fragmenten aber die Möglichkeit angeboten, einen narrativen Zusammenhang zu bilden. Harper-Scott setzt dies in Beziehung mit der Elgar eigenen musikalischen Ironie: »In his neo-Romantic phase Elgar [...] developed a peculiar (and very subtle [...]) gift for what some might call irony, and is at the least an invitation to contradictory interpretations.«8 Entscheidend ist hierbei, dass Musik nur dann ironisch sein kann, wenn sie einen Bezugspunkt in der Vergangenheit hat, auf dessen Grundlage sie eine kommentierende, paradoxe, kontradiktorische Ebene entwickeln kann; Klang für
7
Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: ders. (Hrsg.): Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1992, Leipzig: Reclam 1992, S. 32-54, hier S. 33.
8
Harper-Scott 2006, S. 15.
SEA PICTURES – SEE PICTURES – HEAR PICTURES! | 263
sich genommen vermag eben nicht unbedingt eindeutige semantische Aussagen zu treffen. Auch hier greift also Habermas’ Definition der Modernität. Wie genau ist nun aber die Narrationsstruktur der SEA PICTURES beschaffen? Grundlegend ist für sie das ambivalente Nebeneinander von Ausdeutung und Fragment. Der fragmentarische Charakter kommt zum Ersten durch die Verwendung autonomer Textvorlagen zustande, die in einen nachträglichen und vom ursprünglichen Autor bzw. von der ursprünglichen Autorin nicht vorgesehenen Kontext integriert werden. Zum Zweiten sorgt die Gattung der verwendeten Materialien der Lyrik für weitere Erschwernis einer kohärenten Erzähllinie. Gedichten als konzise Kleinstkunst, die zumeist sehr strengen Formparametern folgt, eignet eine gewisse Hermetik an, die zu einer gegenseitigen Verunklärung innerhalb der Reihung der Gedichte im Liederzyklus führt, da gerade ihre gewollte Sukzession die Suche nach dem Bindeglied anregt. Zum Dritten wird das Fragmenthafte des gesamten Zyklus dadurch verstärkt, dass der Komponist einige Textpassagen selbst während des Vertonungsprozesses fragmentierte, wobei die Modifikationen über bloße Anpassung an den neuen Kontext – Kunstlied – hinausgehen. Konventionelle Änderungen betreffen hierbei zumeist Aspekte der Sangbarkeit, doch lassen sich auch strategisch-dramaturgische Prinzipien ausmachen, die zu spezifischen Texteinrichtungen und ihren jeweiligen Musikalisierungen führten. Dass überhaupt sinnhafte Kombinationen aus dem Neben- bzw. Übereinander von Text und Musik hervorgehen können, ist der Analogie beider Zeichensysteme geschuldet, deren eigentliche Konstituenten jenseits einer phonetischen bzw. semantischen Komponente liegen,9 die auf einer »ursprünglichen Verwandtschaft von musikalischer und poetischer Äußerung«10 beruht, so der Musikwissenschaftler Wilfried Gruhn. Und weiter: »Der Begriff der Ton- oder Musiksprache, wiewohl meist nur metaphorisch gebraucht, findet seine Berechtigung aufgrund formaler Analogien und des je spezifischen Ausdrucksvermögens [...] [sowie] nicht leugbarer Bedeutungsstrukturen...«11 Dies sind die Art und Weise der musikalischen Zeichenverknüpfung als musikalische Grammatik und der Gestaltbildung als musikalische Syntax.12 Finden nun das sprachlich-textuelle und das musikalische Zeichensystem zusammen, ergeben sich Überlagerungen, die in gewissen Fällen einen Regelkomplex zu-
9
Vgl. Gruhn, Wilfried: Musiksprache, Sprachmusik, Textvertonung, Frankfurt a. M.: Diesterweg 1978, S. 17.
10 Ebd., S. 9. 11 Ebd., S. 15-16. 12 Ebd., S. 17.
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gunsten des anderen verletzen müssen. Gerade aus diesen Bruchstellen ergibt sich aber immens bedeutungsvolles Potenzial, wie Gruhn treffend bemerkt: »In der Melodisierung erhält der Text eine neue Dimension seiner semantischen und ästhetischen Qualitäten.«13 Ausgehend vom Primat des Komponisten, wie es bei der Entstehung der SEA PICTURES gegeben war – denn Elgar richtete sich die Texte selbst ein – lohnt ein Blick auf die ihm zur Verfügung stehenden Techniken, eine musikalische Begleitung zu prä-existenten Textmaterialien zu schaffen, die mehr als nur Begleitung ist. Um erneut Gruhn zu bemühen: »Der Komponist des 19. Jahrhunderts verfügt über vielfältige Mittel, die verschiedenen sprachlichen Akzente in die Musik zu übertragen: die dynamische Verstärkung [...] (Stärkeakzent), die diastratische Hervorhebung (Höhenakzent), die metrische Betonung auf schwerer Zeit (metrischer Akzent), die rhythmische Differenzierung der Silbendauer (Längenakzent) sowie das harmonische Spannungsgefälle zwischen Akkordfunktionen 14
und verschiedenen Sonanzqualitäten (harmonischer Akzent).«
Doch eine wahrhafte Synthese der Mittel von Musik und Sprache kann sich erst dann vollziehen, wenn auch die ureigenen musikalischen Parameter jenseits ihrer Kopplung an Textbausteine berücksichtigt werden. Als Schöpfer einer veritablen Musiksemantik gilt gemeinhin Richard Wagner, dessen Leitmotivtechnik als Bündelung und Weiterentwicklung des schon seit Claudio Monteverdi nachgewiesenen Kompositionstricks der bedeutungsvollen Phrase nachfolgende Opernkomponisten nachhaltig prägte. Anders als in Frankreich, das sich um die Jahrhundertwende dem Wagnerisme hingab, wurde der teutonische Ausnahmekünstler in England eher reserviert wahrgenommen – obschon eine hohe Inspirationskraft seines Oeuvres in vielen Musikgattungen spürbar wurde. Gerade für Elgar führte die Auseinandersetzung mit der Wagner’schen Leitmotivtechnik15 zu einer Intensivierung seines kompositorischen
13 Ebd., S. 128. 14 Ebd., S. 127. 15 »Elgar’s neo-Romantic phase is a vibrant and lusty one, as masterly as the two which followed [...] Apart from its energy and the high quality of its invention and spontaneity, the salient characteristics of Elgar’s neo-Romantic phase are what one might expect of a Wagnerism only gradually digested [...] Leitmotiv, tonal dualism, and associative tonality have a critical function...« Harper-Scott 2006, S. 13. »Elgar was certainly aware and perhaps even part of this Wagner ›mania‹, but can be regarded as one who valued Wagner’s music above his philosophy.« McGuire,
SEA PICTURES – SEE PICTURES – HEAR PICTURES! | 265
Gespürs für die Umsetzung von prä-existenten Textvorlagen in nicht per se szenische vokale Musikgattungen, die vom Oratorium bis zum Lied bzw. Liederzyklus reichen. Dabei reflektierte er Wagners kompositorisches Prinzip, bei der semantische Ahnungen zunächst durch eine einzelne Tonfolge in einer Orchesterstimme oder einen spezifischen Rhythmus evoziert werden, um dann nach und nach durch das ganze Orchester und schließlich durch den Text und die Singstimme ergänzt und bestätigt zu werden,16 ohne es jedoch zur alleinigen gestalterischen Programmatik seiner Werke zu machen. Dies war innerhalb Elgars künstlerischem Umfeld allerdings ein Novum. Charles Edward McGuire konstatiert daher, mit Blick auf das Oratorium, was sich auch auf das Lied übertragen lässt Folgendes: »[Text-structures] in the hand of nineteenth-century composers, were not wholly integrated with music. There was no definitive musical separation: [...] nineteenth-century oratorios sounded like unintegrated patchworks of alternating texts. In contrast, Elgar’s oratorios seamlessly linked textual narrative structures with new ideas of musical narrative by using reminiscence themes [...] as a way to refer to characters, ideas and situations.«
17
Laut McGuire hängt Elgars Verwendung musikalischer Motive und Themen also zwingend mit der narrativen Struktur seiner Textvorlagen zusammen.18 Dies stand umso mehr zu Gebote, als sich um die Jahrhundertwende – als Vorbereitung des Fragmentarismus der Postmoderne – systemische Verbindlichkeiten aufzulösen begannen. Was Hofmannsthal im Chandos-Brief zu einem quasi geflügelten Topos machte – eine allumfassende Sprachskepsis, die in eine tiefgreifende Krise mündete19 – wirkte auch innerhalb musikalischer Selbstverständlichkeiten als Störfaktor. So konstatiert Gruhn:
Charles Edward: Elgar’s Oratorios. The creation of an epic narrative, Aldershot: Ashgate 2002, S. 81. 16 Wagner, Richard: Oper und Drama, Stuttgart: Reclam 2000, S. 339-365. 17 McGuire 2002, S. 79. 18 Vgl. ebd., S. 86. 19 Vgl. Gruhn 1978, S. 131. »Entscheidende Züge der Textbehandlung in der Musik der Gegenwart sind bereits in der Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts angelegt. eine tiefgreifende Sprachkrise bewirkt, daß [sic] sich vornehmlich die Poesie zunehmend verschlüsselt oder als Sprachlaut verabsolutiert.«
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»Die gleichzeitig verstärkt einsetzende Reflexion über Sprache [...] signalisiert auf ihre Weise etwas von dem Verlust ihrer Selbst-Verständlichkeit; Sprache insgesamt ist zum Problem geworden. Das gilt auch für die Sprache der musikalischen Komposition 20
schlechthin.«
Was in Anbetracht von Elgars Umsicht anachronistisch erscheint, wo er ja gerade auf die adäquate Umsetzung sprachlich hermetischer – also intakter – Gebilde, die noch im Vertrauen auf die semantische Funktionsfähigkeit der Sprache entstanden waren, ein besonderes Augenmerk legt, erfährt eine weitere Steigerung ins Paradoxe, wenn man sich, Karl Riha folgend, vergegenwärtigt, dass der »Aufhebung der Barrieren zwischen Sprache und Musik [...] – als Parallelvorgang, aus der ebenfalls neue Texttypen hervorgingen – die gegenseitige Entgrenzung von Sprache und Bild [entsprach].«21 Mit dem Bild wird ein weiteres Medium angesprochen, das zentral für Elgars Liederzyklus ist, obschon es lediglich im Titel angeschnitten wird, der zudem etwas beliebig gewählt zu sein scheint: SEA PICTURES. Doch Titel – so banal sie auch immer zustande kommen mögen – sind qualitativ nicht zu vernachlässigen bei der Betrachtung der Werke, denen sie vorangehen. Ein Liederzyklus, der postuliert, in einem anderen Medium aufzugehen und keine Lieder, sondern Bilder zu enthalten, wagt sich an eine herausfordernde Aufgabe heran. Könnte man die Bilder auch als hingeworfene Impressionen verstehen, quasi als eine die Künste übergreifende Genrebezeichnung, so lässt das Wortspiel SEA PICTURES – See Pictures – Hear Pictures, das auch den Titel und Rahmen dieses Beitrags ausmacht, unmissverständlich klar werden, dass es sich in diesem Fall auch um eine Herausforderung an die Wissenschaft handelt: Wie kann man mit traditionell an Zeichensystemen geschulten Methoden und Werkzeugen transgressive Phänomene fassen, ohne die eigene Disziplin zu verlassen? Oder muss vom Begriff der Disziplin abgesehen werden, um befriedigende Schlüsse ziehen zu können? Sicherlich erfordert jedes Werk seine eigene Herangehensweise. Beim paratextuellen Verweis des Titels eines Liederzyklus auf ein visuelles Medium kann sicherlich nicht auf eine kunstphilosophische Komponente verzichtet werden, die reflektiert, inwiefern Bilder auch ohne visuelle Komponente als solche bezeichnet und auch identifiziert werden können. Können wir die See wirklich
20 Ebd., S. 11. 21 Riha, Karl: Das Experiment in Sprache und Literatur. Anmerkungen zur literarischen Avantgarde, in: Erika Wischer (Red.): Propyläen Geschichte der Literatur. Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt, Bd. 6: Die Moderne Welt. 1914 bis heute, Berlin: Propyläen 1982, S. 440-463, hier S. 451.
SEA PICTURES – SEE PICTURES – HEAR PICTURES! | 267
hören, als wäre sie sichtbar vor uns oder ist das Bild selbst nur eine mögliche Medialisierung des Gegenstands unter vielen, der andere in Abbildungsqualität gleichkommen und somit der Titel nicht irritierend? Zwei Beispiele, der SEA SLUMBER SONG (Text: Roden Noel) und THE SWIMMER (Text: Adam Lindsay Gordon) sollen als Anstoß für Antworten auf diese Fragen dienen. Es handelt sich um das Eingangs- und das Schlussstück des Zyklus, die jeweils auch als Bilderrahmen dienen, da sich zwischen ihnen als programmatischen Eckpunkten ein breites Stimmungspanorama entfaltet. Bezeichnend ist hierbei die Tatsache, dass das Thema Grenzüberwindung in zahlreichen Ebenen eine Hauptrolle spielt. Auf der zwar fragmentarischen, aber bedeutungsvollen Ebene der Narration wird im ersten Stück geschildert, wie ein fiktives Subjekt vom personifizierten Meer sanft in den Schlaf gewiegt wird, um ein zunächst unspezifisches Leid zu vergessen. Dieses wird durch die folgenden Stücke zunächst als Abschiedsschmerz einer an Land zurückbleibenden Matrosengattin präzisiert und schließlich durch einen Perspektivwechsel gesteigert: Der Seemann sieht dem Meeresabgrund ins Auge, sein Schiff sinkt, aber er findet Hoffnung im Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod. Die Zurückgebliebene – gefangen in einer irrealen maritimen Traumwelt – kann diese Gewissheit allerdings nicht verspüren. Reminiszenzen an eine glückliche Zeit zu zweit erklingen im Schlussstück inmitten brausender Sturm-Motivik, um dann in eine heroische Cabaletta zu münden. Das lyrische Ich reitet auf Wellenpferden in das schäumende Nass, um die Grenze zur jenseitigen Welt des Todes zu überschreiten. Auf einer symbolischen Ebene steht das Wasser selbst schon für ein hochgradig transitorisches Element. Musikdramaturgisch spiegelt sich dies wieder in der Verwendung von Melodiefragmenten aus den vorangegangen Stücken im letzten Teil des Zyklus. Indem diese wieder aufgegriffen und variiert werden, bringt sich die musikalische Komponente in eine Metaebene, die zur weiterlaufenden Text- bzw. Narrationsebene eine Kommentarfunktion einnimmt. Entsprechend wird die Entgrenzung des agierenden Subjekts – konkret die Selbstmörderin aus Trauerschmerz – vorweggenommen, da die leitmotivische Wiederaufnahme präexistenter Phrasen, Themen und Motive erfolgt, bevor der Text Gewissheit über den Ausgang der Geschichte liefert. Hier lässt sich wieder der Bogen zu Habermas spannen, der Moderne als Reaktion auf einen geschichtlichen Verlauf kennzeichnet, sie jedoch unabhängig davon auf einer übergeordneten Position verortet. Letztlich kann schon Wagners Leitmotivtechnik als protomodernde Reflexion über das Relative der Historizität gelten, die musikalische Ironie sowie Paradoxie transmedial werden lässt und
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kommentierende Beredsamkeit erst vorstellbar macht. Folgende Notenbeispiele mögen dies vor Augen führen:
Abbildung 12: Edward Elgar, SEA PICTURES, SEA SLUMBER SONG, 1899, Text: Roden Noel.
Abbildung 13: Edward Elgar, SEA PICTURES, THE SWIMMER, 1899, Text: Adam Lindsay Gordon. Die im ersten Stück evozierte Leichtigkeit der Stimmung vermittelt durch Punktierungen, kurze Notenwerte, Synkopen und kleine Verzierungen in Piano- bzw. Pianissimo-Lautstärke sowie eine Tonfolge, die ebenfalls ein harmonisches Zentrum umspielend einen geringen Ambitus aufweist, wird im Schlussstück mit leichten Veränderungen wieder zitiert. Die Variationen schlagen sich u. a. in längeren Notenwerten nieder, was eine getragenere Stimmung zum Ausdruck bringt – angesichts der narrativen Einbettung, eine nachvollziehbare komposito-
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rische Entscheidung: Nicht nur das Zitat der heiteren Anfangsstimmung ist hier wichtig für das Gesamtverständnis der Anlage der einzelnen Lieder, sondern auch des ganzen Zyklus, der als Rahmen untrennbar mit seinen singulären Bestandteilen verwoben ist. Genauso wichtig ist der multimediale Kontext, in den dieses Zitat eingebettet ist. In diesem Fall folgt die zitierte und leicht variierte Passage auf eine Introduktion, die sowohl auf der Textebene als auch mittels musikalischer Parameter in der Begleitung und der Singstimme (fortissimo, große Sprünge, Moll, düster-dumpfe, aber auch aggressive Klangfarben) ein Sturmgewitter heraufbeschwört. Innerhalb einer solchen narrativen wie formalen Anlage wäre das bloße Zitat, ohne Veränderung, ein schales Ausdrucksmittel geblieben, das lediglich eine Reminiszenz an eine vorübergegangene Glückseligkeit wäre. Die Anpassung an sein unmittelbares musikalisch-narratives Umfeld innerhalb des Schlussstückes verdeutlicht allerdings umso mehr die Tragik des imaginären Ichs, das im Verlauf des Liederzyklus Liebesfreude und Leid durchlebt, um schließlich an Letzterem verzweifeln zu müssen.
Fazit Eine wichtige Facette des großen Themas Grenzüberschreitung blieb bisher unerwähnt und soll nun in das Fazit überleiten: die Grenzen der Identitätsidee, auf die das fragile Ich der Moderne gestoßen wird, nachdem die romantische Utopie des Aufgehens in der grenzenlosen unio mystica gescheitert ist. Das moderne Individuum steht vor einer objektivierten Natur, so Peter Bürger, und dem »subjektiven Eingriff des Menschen, und der Mensch zerfällt in das Gattungswesen, das für die Einrichtung der Welt verantwortlich ist, und das Individuum, das eben diese Einrichtung als eine ihm fremde erfährt.«22 Während das durch Fragmente konstituierte Subjekt des gesamten Liederzyklus an dessen Ende zumindest mittels der Elementarkraft des Meeres sich zu entgrenzen vermag, weist die Gestalt der Narration dieser Erlösungsgeschichte zum einen weit hinab in eine tiefe Unsicherheit, wie sie durch die Erkenntnisse der Geistes- und Naturwissenschaften um 1900 vorherrschte. Zum anderen ist sie Vorausdeutung und Vorwegname eines postmodernen Dekonstruktivismus, der sich im Selbstverständnis der Menschheit sowie in ihren kulturellen Artefakten materieller und immaterieller Art zeigt. Oder um mit Mathy zu sprechen:
22 Bürger, Peter und Christa Bürger: Prosa der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 13.
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»Das Montageverfahren, das die wachsende Erfahrung der Dissoziation der Wirklichkeit zur Voraussetzung hat, das relativistische nebeneinander [sic] unverbundener Realitätsfragmente nach Maßgabe einer perspektivischen Hinsicht auf die Welt, führt zu Gebilden einer in sich antagonistischen Einheit, innerhalb deren Grenzen Synthesis nur als verweigerte präsent ist. Das hat Folgen für die Artefakte: brüchig geworden an ihren materiellen Grenzen tendieren sie gewaltsam über sich hinaus, wie sie umgekehrt ihnen Fremdes in sich aufnehmen. Der Riß zwischen den Künsten und der Welt geht durch jene hindurch wie nur der zwischen Ich und Welt durchs Individuum selbst, liegt nicht jenseits der Gren23
zen ihrer Immanenz.«
In diesem Zusammenhang ist auch Elgar unbedingt als Grenzgänger zu deuten: In scheinbar geschlossenen Formen weicht er subversiv vereinfachte, romantisierte, heuchlerische oder aber restaurative Bestrebungen auf, um behutsam durch künstlerische Umsicht und nicht durch radikale Schockwirkung ein neues Bild der banalen Alltagsrealität zu zeigen, die sich künstlerisch verfeinert im noch vorherrschenden Substrat einer Vergangenheit bricht. Elgar kann damit zu Recht als Künstler der Moderne gelten. So fasst denn auch Harper-Scott zusammen: »The motivating ›idea‹ of Elgar’s mature modernist music is [...] the ironic, pessimistic deconstruction of the heroic per aspera ad astra narrative. Elgar clearly responds to the historical demands of the material [...] at the level of the deep structure. Ergo [...] Elgar’s music is ›progressive‹. It resists its fate as commodity at the level of form, if not at the level of surface musical language. His rebellion is more understated but every single bit as 24
single-minded as the more radical-sounding music of other modernists.«
Im Hinblick auf die Frage nach Elgars Einsatz von Intermedialität und Intertextualität muss konstatiert werden, dass er diesen nicht bewusst im Sinne einer radikal-modernen Programmatik forciert, um gar Dekonstruktion an bestehenden ästhetischen Konstrukten und Konventionen zu verüben.Die Tatsache, dass er aber im Genre des Liederzyklus einer heterogenen Medialität gegenüberstand, die es im Sinne eines Zusammenführens der spezifischen Wirkweisen innerhalb eines semantischen Kontextes zu verwalten galt, zwang ihn allerdings dazu, diese Disparatheit zu reflektieren, um daraus eine subtile, gewitzte und nicht zuletzt tiefsinnige Verweisstruktur via musikalische Zitate zu schaffen, die innerhalb der melodisch-harmonischen Gesamtlinie des Zyklus, aber auch seiner einzelnen
23 Mathy 1994, S. 81. 24 Harper-Scott 2006, S. 223.
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Bestandteile für sich genommen kleine Brüche inszeniert, welche wiederum die heterogene Makrostruktur des ganzen Werks im Kleinen fortführt. Intertextualität auf der formalen Ebene trifft bei Elgar somit auf Intermedialität als Rahmenbedingung, eingebettet in einen Verbindungskurs zwischen Romantik und Moderne.
GRENZE UND GEDÄCHTNIS
Territorialität in der zionistischen und israelischen bildenden Kunst S HELLEY H ARTEN
»Palästina ist unsere unvergessliche historische Heimat«1, so begründete Theodor Herzl, Leitfigur des politischen Zionismus2 Ende des 19. Jahrhunderts, den Anspruch der Juden auf Palästina. Der Satz steht bis heute für eine israelische Mentalität der Ausblendung palästinensischer Existenz. Die daraus entstehende israelische hegemoniale Umsetzung territorialer Ansprüche bildet das Kernthema des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Da Territorialität nicht nur geografisch markiert, sondern auch durch Erinnerungsräume, Mythen, Geschichten und Ortsnamen konstruiert wird, soll im vorliegenden Aufsatz untersucht werden, ob anhand der Auseinandersetzung israelischer Künstler mit Territorialität ein historischer Verlauf dieser Mentalität der Ausblendung nachvollzogen werden kann. Zugleich wird die Frage aufgeworfen, ob die Kunst selbst Raum erobern, besetzen, befreien, vermessen und konstruieren kann und damit Alternativen zur politisch-geografischen Räumlichkeit vorschlägt. In der Auseinandersetzung mit dem Politischen und der Kunst darf der Konfliktalltag nicht mit dem künstlerischen Ausdruck gleichgesetzt werden. Aber wie verhält es sich, wenn die politische Realität sich nicht greifen lässt oder auf Ambivalenzen beruht? Wodurch zeichnet sich der Grenzbereich zwischen Politik und Kunst aus? Kann die bildende Kunst in einer von politischer Grenzbildung durchdrungenen Gesellschaft ihr territorium artis beibehalten? Mit territorium artis bezeichne ich den von Pontus Hulten 1992 festgelegten Begriff einer
1
Herzl, Theodor: Der Judenstaat [1896], Augsburg: Ölbaum 2000, S. 29.
2
Der Zionismus bezeichnet die Mehrzahl nationaler jüdischer Bewegungen Ende des 19. Jahrhunderts und die daraus entstehende Ideologie eines Anspruchs des jüdischen Volkes auf einen eigenen Staat in Palästina.
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Sphäre moderner und zeitgenössischer Kunst, die sich stetig erweitert.3 Der Begriff liefert ein Werkzeug zur Benennung eines Kunstraumes, der seiner eigenen territorialen Gesetzmäßigkeit folgt, sei es die Leinwand, der Diskurs, die eigene Geschichtlichkeit oder der Ausstellungsraum.
Israelische Grenzen in Kunst und Gesellschaft Der Radiosender Kol Israel, die Stimme Israels, übertrug am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel, vorgelesen von David Ben Gurion, dem ersten Ministerpräsidenten des Landes. Für die Palästinenser begann damit die Naqba, die Katastrophe: 750 000 Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben und das palästinensische Volk verlor seine Heimat. Schon ein Jahr zuvor, nach der Verabschiedung des UN-Teilungsplans, hatte es erste Kriegshandlungen zwischen arabischen und jüdischen Streitkräften gegeben. Der Teilungsplan sah eine Zweistaatenlösung unter einer Wirtschaftsunion von Palästinensern und Juden vor. Jerusalem sollte nach diesem Plan international verwaltet werden. Am Tag nach der Unabhängigkeitserklärung brach der Krieg zwischen Ägypten, Transjordanien, Syrien, Irak und palästinensischen Milizen auf der einen und Israel auf der anderen Seite offiziell aus. 1949, nach Ende des Krieges, verwaltete Israel 77 % Palästinas, im Gegensatz zu den 55 %, die der UN-Teilungsplan vorgesehen hatte. Erst 1967 sollte dieser territoriale Anspruch militärisch wieder infrage gestellt werden. Mit einem Präventivschlag Israels gegen ägyptische Luftwaffenbasen begann der Krieg Israels mit Ägypten, Jordanien und Syrien, der bereits nach sechs Tagen mit der Eroberung des Gazastreifens, der SinaiHalbinsel, den Golanhöhen, der Westbank und Ostjerusalems endete. Der heute übliche Ausdruck Grenzen von 1967 bezeichnet die Lage vor dem Krieg und somit vor der Besatzung. Als territoriale Verhandlungsbasis für israelischpalästinensische Friedensverträge und für die Zweistaatenlösung gilt die Rückgabe des besetzten Gazastreifens und der Westbank an die palästinensische Führung. Formal ist die Rückführung mit den Osloer Friedensverträgen der 1990er Jahre geschehen, doch praktisch wurde sie nie umgesetzt. Das israelische Militär und die Siedler räumten den Gazastreifen, doch wird dieser von Israel vollständig an den Grenzen abgeriegelt. Zusätzlich durchziehen israelische Siedlungen
3
Vgl. Hulten, Pontus: Territorium Artis, Kat. Ausst. Kunst und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn, Stuttgart: Gerd Hatje 1992. Die Begriffsbildung territorium artis erschließt sich aus dem gesamten Katalog.
TERRITORIALITÄT IN DER ZIONISTISCHEN UND ISRAELISCHEN BILDENDEN KUNST | 277
und Straßennetze die Westbank, deren Grenzen ebenfalls von Israel kontrolliert werden. In Israel/Palästina besteht keine Klarheit über die gesellschaftlichen, politischen und geografischen Grenzen, die ebenso schwer festzulegen wie zu überschreiten sind. In der Westbank kann die israelische Armee willkürlich temporäre Checkpoints errichten und manche Straßen sind nur für israelische Siedler, nicht aber für Palästinenser zugänglich.4 Dadurch entsteht nach Meron Benvenisti eine schizophrene Territorialität mehrerer Ebenen, von denen manche von israelischer Seite, manche von palästinensischer Seite und manche gemeinsam beansprucht und anerkannt werden.5 Ebenso verhält es sich zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen im Kernland: Orthodoxe Juden bewerfen leicht bekleidete Frauen mit Schuhen und russische Einwanderer wollen nicht mit äthiopischen Israelis im gleichen Wohnblock wohnen. Israel/Palästina ist also ein Ort informeller bzw. international nicht anerkannter Grenzen, die sich im Alltag als unüberwindbar herausstellen. Gleichzeitig ist es ein Ort ohne Grenzen, von utopischem Übereifer gekennzeichnet, ohne die Möglichkeit zwischen Familie und Staat, Religion und Recht zu unterscheiden und mit einer Mentalität des Gemeinsamen, die noch an den Kibbuz erinnert.6 Es scheint, als ob diese Unklarheit zumindest in Teilen die obsessive Beschäftigung mit Grenzen bedingt.7 Daher sind das Territorium und somit auch die Besetzung von Territorien nicht nur geografisch zu verstehen. Die Definition muss auf alle Räume, auch den künstlerischen, beider Parteien ausgeweitet werden.8 Im Folgenden soll daher gezeigt
4
Sari Hanafi bezeichnet die israelische Politik als spacio-cide (ein Kunstwort aus space und genocide) an den Palästinensern. Israel verdränge, so Hanafi, die Palästinenser gezielt aus allen geografischen Territorien und Erinnerungsräumen. Vgl. Hanafi, Sari: Spacio-cide: colonial politics, invisibility and rezoning in Palestinian territory, in: Contemporary Arab Affairs 1 (2009), S. 106-121.
5
Vgl. Benvenisti, Meron: Sacred Landscape: Buried History of the Holy Land Since
6
Ein Kibbuz ist eine ländliche sozialistisch-kommunistische Kollektivsiedlung in Isra-
1948, Berkeley: University of California Press 2002, S 1. el. Die Bewohner verzichten weitgehend auf privates Eigentum und leben nach basisdemokratischen Strukturen, ähnlich einer großen Familie, zusammen. 7
Vgl. Ben-Ari, Eyal und Yoram Bilu (Hrsg.): Grasping Land. Space and Place in Contemporary Israeli Discourse and Experience, Albany, New York: State University of New York Press 1997, S. 3.
8
Adi Ophir, Michal Givoni und Sari Hanafi beschreiben in ihrem Band The Power of Inclusive Exclusion den totalen und grenzenlosen Status der Besatzung. Sie argumentieren gegen die gesellschaftlich-politische Einteilung des Besatzungsterminus auf be-
278 | SHELLEY HARTEN
werden, inwiefern die bildende Kunst die in Israel gelebte Mehrdimensionalität reflektiert. In Israel lebende bildende Künstler setzen sich mit der aus der politischen Situation resultierenden, komplexen Wahrnehmung von Grenzen ständig auseinander. Ihre Werke können unter dem Oberbegriff der zionistischen und israelischen Kunst zusammengefasst werden, worunter ich die seit 1906 von jüdischen Siedlern in Palästina und dann ab 1948 von Staatsbürgern Israels hergestellte bildende Kunst verstehe.9 Zwar wurde auch nach der Staatsgründung weiterhin zionistische Kunst mit dem Ziel der Förderung jüdischer Einwanderung geschaffen, doch schließe ich im Folgenden diese unter der Kategorie israelische Kunst zusammen. Schon Anfang der 1980er Jahre wurde in der von Stefanie Rahum im Israel Museum kuratierten Ausstellung Borders israelische Identität mit der Erfahrung von Grenzen gleichgesetzt.10 Grenzen sind als Versuch einer Markierung von Territorium zu verstehen. Die künstlerische Betrachtung des Ortes ist diesem Markierungsdrang zugeneigt. Daher versuchen viele Künstler, Örtlichkeit durch die Visualisierung von Grenzen darzustellen.
stimmte Gebiete, Zeiten und Konfliktherde. Besatzung ist ein allumfassender, auch Israels Kernland belagernder Zustand, der eine Mentalität und Entdemokratisierung zur Folge hat, die auch außerhalb der Westbank und zu allen Zeiten zu spüren ist. Vgl. Givoni, Michal, Sari Hanafi und Adi Ophir (Hrsg.): The Power of Inclusive Exclusion. Anatomy of Israeli Rule in the Occupied Palestinian Territories, New York: Zone 2009, S. 18 und S. 22f. 9
Vgl. LeVitte Harten, Doreet (Hrsg.): Die Neuen Hebräer, 100 Jahre Kunst in Israel, Kat. Ausst. Martin-Gropius-Bau Berlin, Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2005; vgl. Zalmona, Yigal (Hrsg.): 100 Years of Israeli Art, Kat. Ausst. The Israel Museum, Jerusalem 2010; vgl. Ofrat, Gideon: One Hundred Years of Art in Israel, Boulder, Colorado: Westview 1998.
10 Vgl. Rahum, Stephanie (Hrsg.): Borders, Kat. Ausst. The Israel Museum, Jerusalem 1980. Retrospektiv zeigte die Kuratorin Ellen Ginton in der Ausstellung Eyes of the Nation, dass sich die israelische Kunst der 1970er Jahre mit dem Thema Grenzen auseinandersetzte. Vgl. Ginton, Ellen (Hrsg.): The Eyes of the Nation, Visual Art in a Country Without Boundaries. Perspectives on Israeli Art of the Seventies, Kat. Ausst. Tel Aviv Museum of Art, Tel Aviv 1998.
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Vom Buchvolk zum Landvolk Das Empfinden von Raum und Territorialität soll in diesem Kontext spezifisch für Israel und unter Zuhilfenahme der Theorien von Gurevitsch und Aran analysiert werden. Juden sehnten sich, so schreiben sie in ihrem Aufsatz Never in Place, immer nach einem Ort, der ihnen zunächst unzugänglich und entfernt war, der sowohl erreicht werden musste als auch ideell zu verstehen ist.11 Demnach ist die Heimat ein gedanklicher Ort, der räumlich und zeitlich ungebunden ist und auf alles übertragen werden kann. Gurevitch bezeichnet die Wüste, in der das Heilige Buch vom Volk entgegen genommen wurde, als Ort ständiger Wanderung. Nicht etwa das Beanspruchen eines gemeinsamen Territoriums, sondern das Buch, in dem der gemeinsame Glaube verschriftlicht steht, hielt das jüdische Volk während seiner Wanderung zusammen.12 Dem entgegengesetzt ist die zionistische Bewegung darum bemüht, den Status eines Wandervolkes abzulegen und den Juden mit dem Staat Israel eine tatsächliche und real existierende Heimat zu geben. In der israelischen Kunst sind nicht nur die Grenzen, sondern auch der geografische Inhalt – die Landschaft, die Erde, das Land – ein allgegenwärtiger Topos. Mit Gründung der Bezalel Kunsthochschule 1906 in Jerusalem wurde er zum Bestandteil des ideologischen Index.13 Die Leere der Wüste, die Verbundenheit der Zionisten mit dem Land durch die Landwirtschaft und die biblische Szenerie illustrierten eine Rechtfertigung für die Besiedelung Palästinas durch die Juden.14 In diesem Sinne bekundete der zionistische Philosoph und Schriftsteller Martin Buber auf dem fünften Zionistischen Kongress von 1901: »Eine nationale Kunst braucht einen Erdboden, aus dem sie hervorwächst und einen Himmel, dem sie entgegenblüht.«15 Frühe zionistische Künstler der 1910er bis 1920er Jahre wie Ephraim Moses Lilien oder Abel Pann stellten die Landschaft
11 Vgl. Gurevitch, Zali und Gideon Aran: Al Hamakom [On the Place: Israeli Anthropology], in: Alpaim 4 (1991), S. 9-44. 12 Vgl. Gurevitch, Zali: The Double Site of Israel, in: Eyal Ben-Ari und Yoram Bilu (Hrsg.): Grasping Land. Space and Place in Contemporary Israeli Discourse and Experience, Albany, New York: State University of New York Press 1997, S. 203-217, hier S. 205. 13 Vgl. Shilo-Cohen, Nurit (Hrsg.): Bezalel, 1906-1929, Kat. Ausst. The Israel Museum, Jerusalem 1983; vgl. Manor, Dalia: Biblical Zionism in Bezalel Art, in: Israel Studies 1 (2001), S. 55-57. 14 Vgl. Manor 2001, ebd. 15 Zitiert nach LeVitte Harten Kat. Ausst. 2005, S. 59.
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als biblische Idylle dar, die in ihrer Unberührtheit zur Besiedelung auffordert.16 In Tel Aviv entwickelte sich zu dieser Zeit eine modernistische Bewegung mit Künstlern wie Nahum Gutman und Reuven Rubin, die kunsthandwerkliche Darstellungsformen ablehnten und das Land sowie dessen Bewohner in ihren Bildern naiv-primitivistisch wiedergaben, um damit Ursprünglichkeit darzustellen.17 Eine areligiöse, anti-diasporische Haltung nahmen die so genannten Kanaaniten in den späten 1930er und 1940er Jahren an. Die Anhänger dieser Gruppierung behaupteten, es habe eine ausgeprägte, eigene und mächtige hebräische Kultur der Antike gegeben, die nun fortgeführt werden müsse. Sie verstanden die Tora nicht als religiöse Heilsquelle, sondern als historisches Dokument.18 Im gleichen Geist der intensiven Einverleibung des Territoriums wurden sozialistische Lebensentwürfe auf das Land übertragen und von Städteplanern, Kibbuzim und Kooperativen städtebaulich umgesetzt.
Der Versuch, die Kunst von der Ideologie zu befreien In den 1950er und 1960er Jahren sagten sich die Künstler der Neue HorizonteGruppe von dieser Ideologie frei, wollten ihre Kunst Kunst sein lassen, konnten sich aber zumindest formal nicht von der Auseinandersetzung mit dem Land trennen.19 Yosef Zaritzky, einer der Köpfe dieser Bewegung, beschäftigte sich in den 1970er und 1980er Jahren auf eine fast abstrakte Art mit der ihm ans Herz gewachsenen Landschaft seines Kibbuz Tsoba.20 Mit der lichtbetonten Farbigkeit seiner Bilder und der ihm eigenen lyrischen Abstraktion setzte er sein Empfinden ästhetisch um, ohne dabei in ein Narrativ oder eine Agenda zu verfallen. Dennoch war die politische Realität jene, dass unter den Grundsteinen des Kib-
16 Vgl. Galerie Michael Hasenclever KG (Hrsg.): E. M. Lilien. Unterwegs im alten Orient. Der Radierer und Lichtzeichner Ephraim Moses Lilien, München: Galerie Michael Hasenclever KG 2004.; vgl. Bar Or, Galia und Gideon Ofrat (Hrsg.): The First Decade: A Hegemony and a Plurality, Kat. Ausst. Museum of Art Ein Harod, Ein Harod 2008. 17 Vgl. Manor, Dalia: Art in Zion. The Genesis of Modern National Art in Jewish Palestine, London/New York: RoutledgeCurzon 2005. 18 Vgl. Zalmona 2010, S. 117-129. 19 Vgl. Fischer, Yona und Tamar Manor-Friedman (Hrsg.): The Birth of Now. Art in Israel in the 1960s, Kat. Ausst. Ashdod Art Museum Monart Center, Ashdod 2008. 20 Vgl. Omer, Mordechai: Zaritzky, Restrospective, Kat. Ausst. Tel Aviv Museum, Tel Aviv 1984, S. 146.
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buz Tsoba ein arabisches Dorf lag, von dem die Bewohner 1948 im Zuge des Krieges nach Gründung des Staates Israel vertrieben worden waren. Zaritzkys empfindsame Abbildung ländlicher Schönheit wird in diesem Zusammenhang problematisch. Ohne ihm das vorwerfen zu wollen, steht sie für eine Generation der Blindheit gegenüber der palästinensischen Naqba, der als Katastrophe bezeichneten Vertreibung der Palästinenser von 1948. Künstler wie Micha Ullman, Avital Geva, Moshe Gershuni oder Yair Garbuz nahmen die Eigenständigkeit der Kunst aus der Neue Horizonte-Bewegung mit, wurden aber zunehmend politisch und fingen an, sich mit dem Land als Konfliktgegenstand auseinanderzusetzen. In der 1972 ausgeführten Performance METZER-MESSER tauschten die Künstler Geva, Ullman und Gershuni Erde des Kibbuz Metzer mit Erde des benachbarten arabischen Dorfes Messer aus, das früher die Ländereien des Kibbuz umfasst hatte.21 Sie schaufelten jeweils eine quadratische Fläche frei, die nach dem Einfüllen der fremden Erde – aufgrund deren andersfarbiger Beschaffenheit – deutlich an den Umrissen und erkennbar war. Die Performance provoziert die Frage, was mit Erde geschieht, die den Besitzer wechselt, und problematisiert damit die israelische Besatzung palästinensischer Territorien im Zuge des Krieges von 1967. Der in der israelischen Gesellschaft zum Wunder stilisierte Sieg über die arabischen Nachbarn und die messianisch anmutende Wiedererlangung der Jerusalemer Klagemauer, des größten jüdischen Heiligtums, führten zu einem Paradigmenwechsel innerhalb der israelischen Gesellschaft.22 Religiöse und biologistische Rechtfertigungen zur Inbesitznahme von Territorien durch jüdische Siedler wurden in Form biblischer Referenzen herangezogen: Die Trinität von Dam-Adam-Adama, auf deutsch BlutMensch-Erde, wurde politisch und national aufgeladen, indem die Erschaffung des ersten Menschen, Adam, aus Lehm durch Gottes Hand die Erde als Ursprung des Menschen und des Volkes heiligt und somit unverzichtbar macht. METZERMESSER steht diesem gefährlichen nationalen Verständnis entgegen, da die Künstler mit ihrer Performance die Frage aufwerfen, ob die ausgewechselte Erde
21 Für fotografische Dokumentationen zur Performance vgl. http://lunettesrouges.blog. lemonde.fr/files/2008/08/ullman-metzer-messer.1219999007.jpg (zuletzt aufgerufen am 16.02.2011). 22 Der Begriff der Wiedererlangung wird im israelischen Alltag verwendet, um zu bezeichnen, dass die Klagemauer historisch dem jüdischen Volk gehörte. Da jedoch der Staat Israel selbst niemals Souveränität über die Klagemauer vor 1967 besaß, ist der Begriff irreführend und mit einem Legitimitätsanspruch beladen, der juristisch nicht nachzuvollziehen ist. Vgl. Segev, Tom: 1967. Israel, the War, and the Year That Transformed the Middle East, New York: Metropolitan 2008.
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Bestandteil des Bodens wird oder fremd bleibt. Die Problematik über den Sinn eines solchen Austauschs verdeutlicht den ebenso sinnlos anmutenden Anspruch auf bestimmte Territorien. Darüber hinaus wirkt die Aktion wie ein Dorfkult, der einer Verehrung von Erde gleichkommt, und kritisiert damit auch die Verehrung der Steine der Klagemauer als heidnisch.
Repräsentationen des Arabischen: Visuelle Inbesitznahme Repräsentationen arabischer Personen, Symbole, Schriftzüge oder Referenzen zum Islam können in der israelischen bildenden Kunst als konkrete Abbildungen auftreten. Ebenso entscheidend ist aber die Thematisierung durch eine offenkundige Absenz, die sich zum Beispiel in Darstellungen jungfräulich unberührter Wüste zeigt. Im Yishuv, der jüdischen Siedlung in Palästina vor der Staatsgründung, und in den ersten Jahren nach der Gründung des israelischen Staates, wurde sowohl die Präsenz als auch die Absenz des Arabischen in der Kunst ideologisch instrumentalisiert.23 Anfänglich betrieben die führenden Köpfe des israelischen Staates bewusst Nationenbildung mit erfundenen Traditionen, um der neu gegründeten Gesellschaft den Anschein einer ethnischen Gemeinschaft zu geben.24 Als nativer Archetyp für diese neue, aus den biblischen Ursprüngen auferstandene hebräische Kultur wurde das Arabische verstanden.25 Es galt als ästhetisches Modell für biblische Referenzen, die zur Legitimierung der so genannten Rückkehr der Juden nach Palästina herangezogen wurde. Besonders markante Bei-
23 Vgl. Manor 2005, S. 6f. und S. 11-19. 24 Vgl. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York: Verso 2006; vgl. Hobsbawm, Eric und Terence Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition, Cambridge: Cambridge University Press 2007. Für mehr Informationen in Bezug auf Mythenbildung und erfundene Traditionen in Israel vgl. Zerubavel, Yael: Recovered Roots. Collective Memory and the Making of Israeli National Tradition, Chicago/London: The University of Chicago Press 1995; vgl. Ben-Yehuda, Nachman: The Masada Myth. Collective Memory and Mythmaking in Israel, Madison: The University of Wisconsin Press 1995; vgl. Zerubavel, Yael: The »Mythological Sabra« and Jewish Past: Trauma, Memory and Contested Identities, in: Israel Studies 2 (2002), S. 115-144; Almog, Oz: Prida miSrulik. Shinui Arachim baElita haIsraelit. (Farewell to »Srulik«. Changing Values among the Israeli Elite), Haifa: Haifa University Publishing House/Zmora-Bitan 2004. 25 Vgl. Shilo-Cohen Kat. Ausst. 1983, S. 216.
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spiele dieses Vorhabens sind Avraham Soskins Fotografien von 1915. Die in dessen Aufnahmen zu sehenden jüdischen Einwanderer in beduinischen Gewändern sind nicht nur orientalistisch-romantische Figuren vor einem europäisch anmutenden Hintergrund.26 Sie sind vielmehr Personen, die sich in einer neuen Umgebung einfinden wollen und ihre Zugehörigkeit zum Land demonstrieren. Somit wird, ohne den in Palästina ansässigen Arabern damit irgendwelche Rechte zuzusprechen, das Arabische als das Ursprüngliche und damit Hebräische stilisiert. In seinem Buch Landscape and Power bezeichnet W. J. T. Mitchell die Landschaft als Ort der visuellen Inbesitznahme.27 Er vertritt die These, dass die Landschaft ein politisch-gesellschaftliches Konstrukt ist und eben nicht unberührte Natur darstellt. Ebenso kann Soskins Visualisierung des Arabischen als Inbesitznahme verstanden werden und nicht nur als Versuch naiv-orientalisierender Zugehörigkeit. Andererseits wurde die Repräsentation des Arabischen auch benutzt, um eine rückständige Gesellschaft darzustellen, die von der Moderne, dem jüdischen Staat, eingeholt wird. In Reuven Rubins Triptychon ERSTE FRÜCHTE von 1923 werden jüdische Einwanderer im Zentrum und arabische Hirten auf den Seitenflügeln abgebildet.28 Im Hauptbild werden zwei Gruppen dargestellt: links die arabisch-stämmige, jüdische, religiös gekleidete, verhalten wirkende Familie, rechts die säkularen zionistischen Siedler frontal, körperlich aktiv und arbeitend. Sie stehen dem Stereotyp eines schwachen, kränkelnden Juden entgegen und symbolisieren damit die so genannten Tsabarim, die in Israel geborenen und aufgewachsenen Juden. Die mittig platzierten Frauen strotzen vor Fruchtbarkeit: die religiöse Jüdin durch ein nacktes, quirliges auf der Schulter sitzendes Kleinkind und die Zionistin durch ihre entblößten Brüste und ihre im Sitzen einen Fruchtkorb umschlingenden Schenkel. Die auf den Seitenbildern positionierten arabischen Männer sind hingegen passiv und schläfrig. Hier wird sogar die Leinwand zum Territorium. Yigal Zalmona und Tamar Manor-Friedman stellten in ihrer Ausstellung To the East die These auf, dass Israelis sich in einem dau-
26 Vgl. LeVitte Harten Kat. Ausst. 2005, S. 150f. 27 Vgl. Mitchell, William John Thomas (Hrsg.): Landscape and Power, 2. Aufl., Chicago/London: The University of Chicago Press 2002. 28 Vgl. Manor 2005, S. 92-110. Eine Abbildung des Triptychons ERSTE FRÜCHTE: http://www.haaretz.co.il/hasite/images/printed/P101106/m.0.1011.30.3.9.jpg (zuletzt aufgerufen am 16.02.2011). Der Titel der Arbeit lautet im hebräischen Original PEIROT RISCHONIM (Öl auf Leinwand, Gesamtmaße 188 x 397 cm).
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ernden Spannungsverhältnis zwischen Ost und West befänden.29 Zwar zeigt das Triptychon diese Spannung auf, doch kann darüber hinaus ein eigenständiger Kulturraum beobachtet werden, der aus diesen binären Strukturen ausbricht.
Repräsentationen des Arabischen: Die Re-Visualisierung der Palästinenser Seit der ersten Intifada der 1980er Jahre, dem ersten palästinensischen Aufstand gegen die israelische Besatzung, nahm die Visualisierung des Arabischen politisch kritischere Formen an, die sich infolge des palästinensischen Aufstandes bildlich-thematisch von den politischen Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre unterscheiden.30 Das in Assam Abu Shaqras Ölarbeiten immer wiederkehrende Bild einer Kaktee ist für die Auseinandersetzung mit der Lokalisierung der Palästinenser und Israelis entscheidend.31 Er malte in den 1980er Jahren als Palästinenser in Israel die Kakteen-Pflanze Sabra, die in der israelischen Tradition den in Israel geborenen und aufgewachsenen Juden symbolisiert. Gleichzeitig bedeutet diese Pflanze für Abu Shaqra eine typisch palästinensische Markierung von Territorien, da Sabra-Kakteen die Grenzen arabischer Häuser wie ein natürlicher Stacheldraht markieren.32 Die Doppeldeutigkeit der Ikonografie in Abu Shaqras Bildern erlaubt einen Dialog, bekundet aber auch die kolonialistische israelische Blindheit gegenüber dem Arabischen. Ein weiteres Beispiel des Umgangs mit arabischen Symbolen ist die in den 1990er Jahren entstandene KEFFIYEH-Reihe von Tsibi Geva.33 Er malte das Mus-
29 Vgl. Manor-Friedman, Tamar und Yigal Zalmona: To The East: Orientalism in the Arts in Israel, Kat. Ausst. The Israel Museum, Jerusalem 1998, S. 10. 30 Für mehr Informationen zu zeitgenössischen Darstellungen des Arabischen vgl. Mendelsohn, Amitai (Hrsg.): Real Time. Art in Israel 1998-2008, Kat. Ausst. The Israel Museum, Jerusalem 2008. 31 Vgl. Ben-Zvi, Tal und Hanna Farah-Kufer Biri’m (Hrsg.): Men in the Sun, Kat. Ausst. Herzliya Museum of Contemporary Art, Herzliya 2009; vgl. http://www.men-inthe-sun.com/EN/asim-abu-shakra (zuletzt aufgerufen am 16.02.2011). 32 Vgl. Boullata, Kamal: Asim Abu Shaqra: The Artist’s Eye and the Cactus Tree, in: Journal of Palestine Studies 4 (2001), S. 68-82; vgl. Almog, Oz : HaZabar – Diokan. (The Sabra – A Profile), Tel Aviv: Am Oved 1997. 33 Vgl. Shapira, Sarit: The Making of Textile, Or how the Fire Broke Out, Whence the Wind Blew, in: Tsibi Geva, Kat. Ausst. Annina Nosei Gallery, New York 1993, S. 5-
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ter von Keffiyehs, d. h. palästinensischen Kopftüchern, in Öl auf 178 x 178 cm große Leinwände, wodurch Geva das Kunstgewerbe der Palästinenser auf die Empore der hohen Künste hebt. Vergrößert und verformt könnte das symbolisch aufgeladene Ornament als eine nüchterne Analyse visueller Mustererkennung missverstanden werden, doch einerseits europäisiert Geva dieses Symbol des palästinensischen Freiheitskampfes und entfremdet es. Andererseits gibt er der Keffiyeh ein Forum inmitten der israelischen Gesellschaft, zollt damit einen gewissen Respekt und entgrenzt politische Lager.
Darstellungen des Konflikts: Komplexe Realitäten bildlich komprimiert Die in der zionistischen bildenden Kunst der Anfangsjahre propagierte Utopie konnte dem Realitätsdruck des zunehmenden Konflikts zwischen Arabern, Israelis und Palästinensern nicht standhalten. Die Gesellschaft des Yishuv und des Israels der ersten Jahre nach der Staatsgründung verstand Raum noch als Zukunftsvision, die erarbeitet werden musste. Spätestens nach dem Sechs-TageKrieg von 1967 wurde der Ort Israel/Palästina komplexer und vielschichtiger wahrgenommen. Dies ist vergleichbar mit dem Spatial Turn, der eine ähnliche paradigmatische Wende vom modernen, zeitlichen Fortschrittsdenken zu räumlichen Analysestrukturen, wie etwa Netzwerken, Heterotopien oder Rhizomen, bezeichnet, die jeweils eine Gleichzeitigkeit mehrerer Ebenen beanspruchen.34 In der Fähigkeit des Künstlers, räumlich zu denken, sind diese kognitiven Neuerungen seit jeher vorhanden. Die hier besprochene israelische Kunst kann über die räumliche Darstellungsform hinaus eine inhaltliche Abkehr vom zeitlich geprägten Fortschrittsdenken aufweisen, indem sie ihre Möglichkeit der räumlichen Darstellung nutzt, um Mehrdeutigkeit darzustellen. Genau diese Art der künstlerischen Ambivalenz bezeichnet Murray Edelman in From Art to Politics als die Eigenschaft von Kunst, die Komplexität der Realität darzustellen.35
13; vgl. http://www.tamuseum.com/en/collection-work/8206 (zuletzt aufgerufen am 16.02.2011). 34 Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns, Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009, S. 284. 35 Vgl. Edelman, Murray: From Art to Politics: How Artistic Creations Shape Political Conceptions, Chicago: University of Chicago Press 1996, S. 7f.
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Abbildung 14: David Reeb, GREEN LINE WITH GREEN EYES, 1987, Acryl auf Leinwand, 105 x 160,5 cm, Tel Aviv Museum of Art. David Reeb bringt die Komplexität der Realität konzentriert in dem Bild GREEN LINE WITH GREEN EYES von 1987 zum Ausdruck, indem es ihm gelingt, die Ambivalenz der andauernden visuellen Präsenz des Konfliktes durch die Medien und der ungebrochenen israelischen Mentalität der Ignoranz gegenüber der palästinensischen Existenz darzustellen. Die Grüne Linie, die Bezeichnung für die Waffenstillstandslinie von 1949, verbindet und trennt als Grenze Israels auch auf dem Bild die Tel Aviver Stadtlandschaft von den palästinensischen IntifadaKämpfern.36 Als grün wurde sie aufgrund der grünen Tinte für die Zeichnungen während der Grenzverhandlungen benannt. Die erstaunliche politische Dimension, die solch ein künstlerischer Akt der Zeichnung nach sich zieht, wird von Reeb durch die deutliche Präsenz der Grenzen in Grün im Zentrum des Bildes angedeutet. Die Augen, die auf der palästinensischen Seite abgebildet sind, finden ihre Entsprechung in den Kreuzen, die den Tel Aviver Himmel übersähen und geschlossenen Augen ähneln. Reeb visualisiert die Überschneidungen verschiedener Grenz- und Territorialvorstellungen. Er unterteilt die Leinwand in eine palästinensische und eine israelische Seite, die er wiederum durch die mittig platzierte Skizze der israelischen Grenze verbindet und zusammenhält. Die anonymen Hotels des Tel Aviver Strands auf der israelischen Seite sind der stereotype Ausdruck der säkularen israelischen Genusswelt, wogegen die palästinensischen Steinewerfer der anderen Bildseite Stereotype der medialisierten Gewalt und des existentiellen Freiheitskampfes sind. Der Kunstkritiker Itamar Levy er-
36 Vgl. Ariella Azoulay in Conversation with David Reeb, in: Let’s Have Another War. David Reeb, Kat. Tel Aviv: MPublishers 1997 (o. S.).
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klärt Reebs Darstellung von Augen als Aufruf der visuellen Wiederentdeckung – altbekannte Bilder soll vor allem die israelische Gesellschaft neu wahrnehmen.37 Mitte der 1990er Jahre beschäftigte sich ein weiterer israelischer Künstler, Larry Abramson, mit dem schon bei Zaritzky erwähnten Kibbuz Tsoba und der Sichtbarwerdung des Verdrängten.38 Er malte, fast einem Ritual entsprechend, immer wieder dieselbe Landschaft in Öl, vor der schon Zaritzky stand, diesmal jedoch mit dem vollen Bewusstsein der Geschichte vor Ort. Die 38 kleinformatigen Gemälde sind Bestandteil einer Reihe namens Tsoba (1993/1994), zu der noch 38 Abdrucke dieser Arbeiten auf Zeitungspapier sowie Stillleben von Pflanzenproben aus der Gegend gehören. Durch das Abdrücken der noch feuchten Ölbilder auf Zeitung verwischen die Landschaftsdarstellungen, so wie die Erinnerung und die Existenz des arabischen Dorfes erst in der Realität von 1948 und dann in der Malerei von Zaritzky ausradiert wurden. Die Erinnerung hinterlässt in der Geschichte, in den Archiven, die durch die Zeitungen repräsentiert werden, Spuren, die Abramson wieder sichtbar macht. In seinem Buch Landscape and Power beschreibt Mitchell, der von Abramson häufig zitiert wird,39 Landschaft als practiced place, der durch Bewegung, Aktionen, Attribute und Narrative aktiviert wird. Mitchell fragt nicht nur danach, was Landschaft ist, sondern auch, was sie bewirkt und wie sie als kulturelle Praxis funktioniert.40 Der unterschiedliche Umgang mit der Landschaft Tsobas durch Zaritzky und Abramson entspricht der dynamischen Natur einer jeden kulturellen Praxis. Der neue politische Standpunkt Abramsons kommt vor allem dadurch zum Ausdruck, dass seine Arbeiten die versteckten Narrative von Zaritzky aufgreifen, benennen und interpretieren. Dor Guez thematisiert die Absenz der Palästinenser ebenfalls. Für die Serie AL-LYDD (2010) fotografierte er eine Reihe von Ruinen palästinensischer Häuser, die sich in der Umgebung von Lydd, der Heimat seiner christlich-
37 Vgl Levy, Itamar: David Reeb: Paintings 1982–1994, Kat. Ausst. Tel Aviv Museum of Art, Tel Aviv 1994 (o. S.). 38 Vgl. Tamir, Tali: Tsuba: Abstraction and Blindness, in: Tsooba. Larry Abramson, Kat. Ausst. The Kibbutz Art Gallery, Tel Aviv 1995.; vgl. http://www.oac.state.oh.us/riffe/ exhibitions/1999/common/tsooba.jpg (zuletzt aufgerufen am 16.02.2011). 39 Vgl. z. B. Abramson, Larry: What Does Landscape Want? A Walk in W. J. T. Mitchell’s Holy Landscape, in: Reviva Regev (Hrsg.): Nachbarn – Neighbours, Kat. Ausst. Galerie im Körnerpark, Berlin 2010 (Beiblatt zum Katalog, o. S.). 40 Vgl. Mitchell 2002, S. 1.
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palästinensischen Familie, überall finden lassen.41 Guez knüpft mit dem neuen Medium der Fotografie an die europäische Tradition der Ruinenmalerei aus dem anfänglichen 19. Jahrhundert an. Der dokumentarische Charakter der Schwarzweißaufnahmen erzeugt einen starken Gegensatz zur romantischen Verklärung und wirkt fast nüchtern. Damit stößt Guez den Betrachter in die unangenehme Ecke des einerseits Orientalisierenden und des andererseits Begutachtenden von Zeugnissen der Gewalt. In dieser Position gefangen, wird dem Rezipienten verdeutlicht, dass der erste romantisierte Eindruck von den Ruinen hohl bleiben muss, da die Menschen, die aus den Häusern flüchten mussten, nicht gezeigt werden. Im Grunde geht es Guez also um die Abbildung der Abwesenheit dieser Menschen und den Umgang mit dieser Abwesenheit in der israelischen Gesellschaft. Dina Shenhav stellt ähnlich wie Guez Abwesenheit durch Ruinen dar.42 Sie baute für die Plastik CITY (2002, 260 x 40 x 280 cm) aus Kohlestücken eine Modellruine einer zertrümmerten Stadt,43 die sowohl als Darstellung eines zerstörten und verbrannten Ortes als auch als Abbild einer archäologischen Ausgrabung interpretiert werden kann. Beide Möglichkeiten sind stark mit der politischen Realität Israel/Palästinas verwoben. Einerseits werden archäologische Funde in Israel oft als Legitimitätsnachweis instrumentalisiert. Andererseits wurden 1948 Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben, die dann oft von jüdischen Siedlern bevölkert wurden. Die ambivalente Deutungsmöglichkeit zwischen biblischer Spur und dem Nachweis von Gewalt deutet auf mythische Dimensionen des Konflikts, die in der Geschichte Halt für politische Forderungen suchen. In den Arbeiten von Reeb, Guez, Abramson und Shenhav bezeichnet die Präsenz oder eher Absenz des Palästinensischen kaum noch eine ikonografische Stellvertreterfunktion. Vielmehr enthält sie eine symbolische Dimension, die auf neue wissenschaftliche Theoreme hindeutet. Die Künstler arbeiten postkoloniale
41 Vgl. Pfeffer, Susanne (Hrsg.): Dor Guez. Al-Lydd, Kat. Ausst. KW Kunstwerke Berlin, Berlin: Distanz 2010. 42 Für weiterführende Literatur zum Thema Ruinen in der israelischen Kunst vgl. Ofrat, Gideon (Hrsg.): Ruins Revisited. The Image of the Ruin in Israel 1803-2003, Kat. Ausst. Time for Art – Israeli Art Center, Tel Aviv 2003; vgl. http://artnews.org/artist. php?i=7103 (zuletzt aufgerufen am 16.02.2011). 43 Vgl. Ben-Horin, Michal: Paths of Destruction: The end of the forest, Rest Crystal, in: Dina Shenhav: The End of the Forest, Kat. Ausst. Tavi Dresdner Gallery, Tel Aviv 2008, S. 54-40; vgl. http://www.dinashenhav.com/ (zuletzt aufgerufen am 16.02. 2011).
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Theorien, post-zionistische Erkenntnisse, Kernfragen des Spatial Turns sowie Identitäts- und Erinnerungsfragen visuell auf. Sie vertreten eine theoriegewandte Kunst, die nicht allein komplexe Realitäten bildlich komprimiert, sondern zusätzlich kulturwissenschaftliche Erkenntnisse auf den israelisch-palästinensischen Kontext anwendet.
Schlusswort Die zionistische und israelische Kunst stellt Grenzen und Territorialität auf verschiedene Arten innerhalb ihrer eigenen institutionellen und praktizierten Grenzen dar – als Landschaft, als Haus, als Pflanze oder als Araber. Ideologisch motivierte Mitteilungen wurden mit der Zeit von israelischen Künstlern hinterfragt, abgelehnt und mit einem neuen Konfliktverständnis verarbeitet. Zionistisch verblendete, verklärte oder bewusst eingesetzte Absenzen oder Präsenzen des Arabischen wurden in der späteren israelischen Kunst zitiert und problematisiert. Innerhalb des israelischen territorium artis erhält das Arabische daher eine lenkende, orientierende Wirkung. Im historischen Rückblick dient die Abbildung des Arabischen einer politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Anderen. Der von Gurevitch und Aran bezeichnete Zustand ewiger Wanderung entwickelte sich von einer Reise zu den angeblichen kulturellen Ursprüngen der israelischen Kultur zu einer Suche nach einem politisch und rechtlich anerkannten Gesellschaftszustand. Die Präsenz bzw. Absenz des Arabischen ist eine Grenz- und Wegesmarkierung innerhalb des israelischen territorium artis. In gleichem Maße erlaubt die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Arabischen ein gesellschaftspolitisches Selbstporträt Israels. An ihr können wir nachvollziehen, wie sich israelische Künstler ideologisch positionieren, wie sie israelische Territorialität definieren und wo sie sich innerhalb des israelischen Kunstdiskurses verorten. Diese bildhafte symbolische Übertragung ist der Kunst vorbehalten. Innerhalb des territorium artis, dem künstlerischen Mehrebenenraum, ist die Analyse der Darstellung des Arabischen ein Navigationsinstrument. Die Art der Absenz bzw. Präsenz gibt Aufschluss über den Kontext des Kunstwerks, welches gleichsam die Möglichkeit eröffnet, Alternativen zur politischen Realität herzustellen und zu erkunden. Dies bestärkt die These von Boris Groys, dass Kunst nur ein Zusatz zur Politik wäre, wenn sie kein eigenes Territorium besäße.44
44 Vgl. Groys, Boris: Art Power, London: MIT Press 2008, S. 13f.
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Während die israelische Politik die Unklarheit und Vielschichtigkeit des Territoriums kreiert und instrumentalisiert, entlarvt die Kunst mit der Darstellung von Ambivalenzen, auch in der Figur des Arabers, eben diese Politik. Die Freiheit der Kunst, im Sinne einer Lossagung von politischen Inhalten, kann und konnte in Israel faktisch nicht vollzogen werden. Der Anspruch der Kunst als freier Raum bleibt jedoch bestehen.
Performative Tagebuch-Archive. Die Transformation einer Gattung und eines sozialen Phänomens bei Raymond Depardon und Rinko Kawauchi S TEFANIE L OH
Für ihre persönlichen fotografischen Berichte wählen Raymond Depardon und Rinko Kawauchi ein Modell, das seinen Ursprung in der Textgattung Tagebuch hat. Diese Methodik impliziert bereits eine Transformation: die Übertragung der schriftlichen Form in künstlerisch-fotografische Arbeiten als Foto-Tagebuch und Foto-Blog. Die Phänomene künstlerischer Foto-Tagebücher und Foto-Blogs sind an sich schon hybrid, d. h. an den Grenzen dreier medialer Aufschreibe- oder Archivsysteme gelagert. Die Themen Gedächtnis und Erinnerung behandeln die Arbeiten Depardons und Kawauchis dabei in zweierlei Hinsicht. Das Medium Fotografie steht für das Aufzeichnen, Speichern und Archivieren, also für die Bezugsgrößen, aus denen sich das kulturelle Gedächtnis konstituiert.1 Und Erinnerung ist einer der zentralen Aspekte, die die schriftliche Form des Tagebuchs auszeichnet. Während eine Autobiografie aus einer späteren Zusammenfassung heraus das Erinnern und Deuten zum Thema hat, indem sie Ereignisse gewichtet, einige hervorhebt und andere ausblendet, zeichnet sich das Tagebuch durch Unmittelbarkeit und Verfassen in der Gegenwart des Erlebten aus. Ein grundlegendes Prinzip ist dabei der Dialog mit sich selbst als einem fiktiven Anderen, der Platz für individuelle Reflexion und für eine fiktionale Gestaltung des Ichs lässt. Selbst ein Tagebuch, das keinen Leser antizipiert, wird auf einen Dialogpartner – 1
Zu den Funktionen des Archivs siehe u. a. Assmann, Aleida: Archive im Wandel der Mediengeschichte, in: Knut Ebeling und Stephan Günzel (Hrsg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten (Kaleidogramme, Bd. 30), Berlin: Kadmos 2009, S. 165-175.
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und damit auch auf eine potenzielle Öffentlichkeit – hin entworfen. Insofern ist das Tagebuch eine Reflexionsform. Einerseits handelt es sich um unredigierte, direkte und scheinbar spontane Auflistungen von Gedanken; andererseits können diese reflexiv auf das Erlebte sein: eine Reflexion im Hier und Jetzt. Die Aufzeichnung von Erinnerung findet bruchstückhaft statt; Assoziationsketten werden mit Momentaufnahmen verglichen und unterscheiden die diarische Erinnerung von der nachträglichen autobiografischen Erinnerungsfunktion. Die individuelle Geschichtlichkeit des Tagebuchs und seine zeitliche Unmittelbarkeit erlauben sowohl bei der Produktion wie der Rezeption eine sukzessive (Nach-) Verfolgung der Stationen. Sie suggerieren insofern, die vergangene Zeit erlebbar zu machen, indem sie die früheren Momente wieder aufrufbar erscheinen lassen. An diesem Zeitverständnis wird die Transformation ersichtlich: Es ist das Zusammentreffen von Aufbewahrung und dem an eine Handlung erinnernden Prozess des Wiederaufrufens, das ich in den fotografischen Arbeiten beleuchten möchte: Die im Folgenden vorzustellenden künstlerischen Arbeiten bringen mit fotografischen Mitteln eine kontinuierliche Darstellung von Zeitverläufen hervor. Damit gelingt es ihnen, einen persönlichen Entwicklungsprozess aus einzelnen, vermeintlich spontanen Momenten als nacherlebbare Form zu konstituieren. Das Verbindende ist eine sequenzielle, nicht abgeschlossene Präsentationsform, die den Entstehungsprozess scheinbar transparent macht und ein potenzielles Nachverfolgen der fotografisch dokumentierten Erlebnisse ermöglicht. Dieses Nachverfolgen funktioniert für die Betrachter in Form einer Vergegenwärtigung der erlebten Zeit des Fotografen bzw. der Fotografin. Eine solche Suggestion von erlebter Zeit entsteht dadurch, dass diese von den Rezipienten insofern wieder abgerufen werden kann, da die einzelnen Momente fotografisch gespeichert sind. Die Arbeiten wenden eine doppelte, zunächst widersprüchlich erscheinende Herangehensweise an: performativ und archivarisch. Als fotografische Arbeiten sind sie aufgrund ihrer medialen Eigenschaften auf Prinzipien des Archivs zurückzuführen. Die in Fotografien transportierte Verknüpfung zu dokumentarischer Zeit-Aufzeichnung ist heute ebenso wie zu Beginn des Aufzeichnungsmediums mit dem Vorstellungsfeld des Speichers verbunden. Gleichzeitig bauen die Arbeiten mit der Übernahme des Modells Tagebuch auf unterschiedlichen performativen Ansätzen der Kunst seit den 1970er Jahren auf. Der von John L. Austins Sprechakttheorie geprägte Begriff der Performativität wird hierbei auf
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den Vollzug einer Handlung in der Äußerungssituation übertragen, hier also als Handlungsaufforderung und -durchführung durch die Betrachter verstanden.2 An den beiden folgenden Arbeiten, dem 2004 veröffentlichten FotoTagebuch PARIS JOURNAL des Fotografen und Filmemachers Raymond Depardon und RINKO’S DIARY, einem in demselben Jahr begonnenen Foto-Blog der Fotografin Rinko Kawauchi möchte ich darlegen, wie auf unterschiedliche Weise performative Tagebuch-Archive generiert werden. Während Depardon filmische Stilmittel einsetzt, um im Artefakt Foto-Buch aufgezeichnete Bilder als Episoden nachvollziehbar zu machen, zitiert Kawauchi ein interaktives Medium, um als Kopie des gesellschaftlichen Phänomens Foto-Blog Erlebnisse in Echtzeit miterlebbar scheinen zu lassen. Von Interesse bei der Transformation der Formen und Regeln der schriftlichen Reflexionsform ist hier insbesondere der dialogische, (inter-)aktive Part des antizipierten Rezipienten. Depardons PARIS
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Performativität ist ein interdisziplinäres Konzept, das in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zu einem Schlüsselbegriff gewachsen ist. Ich folge hier John L. Austin, der in seiner Vorlesung How to Do Things with Words an der Harvard University herausstellte, dass performative Äußerungen eine Handlung implizieren. (Vgl. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte [How to Do Things with Words, 1961], Stuttgart 1972.) Die aus der Sprachphilosophie stammenden Begriffe Performativität bzw. Performanz und ihre Übertragung auf andere Wissensfelder und wissenschaftlichen Diskurse wurde u. a. vom Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der FU Berlin untersucht. (Als Standardwerk ist zu nennen: Fischer Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004). Ich lehne mich daran an und bezeichne solche fotografische Arbeiten als performativ, die eine Handlung durch den Betrachter erfordern bzw. eine solche ermöglichen. Hierbei folge ich u. a. David Green und Joanna Lowry (Green, David und Joanna Lowry: From Presence to the Performative: Rethinking Photographic Indexicality, in: David Green (Hrsg.): Where is the Photograph?, Brighton: Photoworks 2003, S. 47-60) sowie Margaret Iversen (Iversen, Margaret: Following Pieces. On Performative Photography, in: James Elkins (Hrsg.): Photography Theory, New York: Routledge 2005). Es sind die gedachte Wiederholung und Ergänzung des Geschehens in einer zeitlicher Verzögerung, die von den Betrachtern geleistet werden. Damit verweist der Begriff performativ darauf, eine Rezeption vorzugeben, die aus einzelnen fotografischen Momentaufzeichnungen einen zeitlich ausgedehnten Verlauf entstehen lässt. Er zielt auf die Möglichkeit der Betrachter, eine Handlung durch die Betrachtung einzelner Aufnahmen zu imaginieren, die dem Verlauf der Entstehung zu ähneln scheint und deswegen an eine Nachverfolgung oder Vergegenwärtigung erinnert. Eine solche performative Darstellung kommt beim Einsatz von Tagebuchstrategien in der Fotografie zum Tragen.
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JOURNAL ist auf das performative Vollziehen eines Betrachters hin angelegt, wohingegen RINKO’S DIARY als Blog eine Kommunikationsplattform darstellt, die selbst als interaktiv rezipiert wird.
Von der Performativität zur Vergegenwärtigung PARIS JOURNAL enthält Fotografien aus einer Zeitspanne von 27 Jahren (19772004). Die Schwarzweißabbildungen der annähernd quadratischen Publikation sind Drucke von Kleinbildabzügen, sowohl im Quer- als auch im Hochformat, und werden mit einer schmalen schwarzen, an einen Negativfilm erinnernden, Rahmung präsentiert, auf der jeweils mit weißer Schrift Entstehungsjahr und -ort notiert sind – meist handelt es sich um das entsprechende Pariser Arrondissement. Jeder der 500 abgebildeten Fotografien ist ein Kommentar zugeordnet, der aus Notizen derselben Zeit besteht, allerdings erst später zu Publikationszwecken mit den Fotografien kombiniert wurde. Die Bezeichnung Tagebuch verwendet Depardon für die Einordnung solcher Bilder, die er ohne besonderes Thema erstellt hat. Er fasst hier demnach keine Auftragsfotografien zusammen, die in seinem beruflichen Kontext als Fotoreporter entstanden sind. Ebenso wenig finden sich klassische Themen aus dem Bereich der privaten, nicht professionellen Fotografie; also keine Familienbilder, Urlaubsansichten, Bilder von Statussymbolen oder Feierlichkeiten. Vielmehr zeigen die Schwarzweißfotografien wichtige Aspekte seines Lebens, das sich während seiner vorübergehenden Aufenthalte (zwischen Projekten, Reisen und Aufträgen) in seiner Heimatstadt Paris abspielte. An einem prägnanten Beispiel soll verdeutlicht werden, wie dieses retrospektiv zusammengestellte Foto-Tagebuch dennoch eine unmittelbare und performative Zeitdarstellung zum Ziel hat. Gegenüber dem fotografischen Vorgehen des Dokumentierens und Archivierens, das sich einer möglichst unveränderten Wiedergabe verpflichtet fühlt, verfolgt Depardon ebenso eine filmische Herangehensweise, die Anklänge an die Subjektive Kamera erkennen lässt und dadurch narrative Einstiege erlaubt. Dem Betrachter wird als leitende Perspektive der Blick über die Schulter der Rückenfigur ins Geschehen ermöglicht. Die Subjektive Kamera, auch Point-of-View (POV) genannt, ist 1947 erstmals eingesetzt worden und vor allem in den frühen 1960er Jahren ein probates filmisches Instrument gewesen, um die Innensicht des Protagonisten zu betonen.3
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1947 wird dieses Stilmittel das erste Mal in dem Film THE LADY IN THE LAKE von Robert Montgomery eingesetzt, allerdings mit geringem Erfolg. Die ursprüngliche
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Depardons Vorgehen wird an einer Reihe von Fotografien ersichtlich, die er im Juni 1978 aufnahm, d. h. zu der Zeit, als er sich bei der Agentur Magnum beworben hatte. Um die Tatsache der Aufnahme in den renommierten Zirkel zu dokumentieren, hätte auch eine einzelne Fotografie ausgereicht, die ihn in der Runde einflussreicher Kollegen zeigt. Die Bilder, die er in diesen Tagen aufnahm, geben allerdings nicht nur diesen einen Moment wieder, sondern vermitteln durch die Abfolge und in Kombination mit den Texten seinen Gemütszustand: Durch den Aufbau als Tagebuch spiegeln die Bilder seine eigene Spannung darüber wieder, wie sich die Kommission entscheiden würde. Das erste Bild zeigt den zuvor leeren Raum seines Ateliers, bevor er diesen und seine präsentierten Arbeiten der Kommission überlässt.4 In der nächsten Fotografie sieht man eine Straßenecke am Odéon, wo er im Café Au Petit Suisse laut Kommentar auf das Ergebnis der Sitzung wartet. Die Kombination aus Bild und Text ergibt eine narrative Situation, die an einen Fortsetzungsroman erinnert,5 der die nächsten Stunden dokumentiert. Es folgt die Fotografie einer Telefonzelle, in der er laut Eintrag mittags die telefonische Nachricht erhalten habe, dass er bei Magnum aufgenommen wurde. Daran schließt sich erneut eine Ansicht seines Ateliers an, diesmal sitzen die Agenturmitglieder um den Arbeitstisch herum. Die nächste Abbildung führt wieder ins 6. Arrondissement, in die Rue Christine, zum Büro der Agentur. Die Relevanz dieser Tage für Raymond Depardon wird ebenso in dieser mehrere Bilder in Anspruch nehmenden Bildfolge ersichtlich, so wie in seinem abschließenden Kommentar.
Absicht, eine besonders enge Beziehung zwischen Betrachter und Protagonist durch die Überschneidung ihrer Perspektiven zu erzeugen, ließ sich erst erreichen, als man von der direkten Übertragung absah und mediale Stilmittel wie Schnitte, Wechsel der Blickachsen oder Unschärfen einführte, um eine subjektive Perspektive zu suggerieren. Der POV wurde zwischenzeitlich von der Porno- und Splatterindustrie übernommen. In jüngster Zeit finden sich wieder intelligente Fortführungen des POV in Filmen, Musikvideos und Werbefilmen. Vgl. zur Methodik des POV: Branigan, Edward: Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film, Amsterdam/Berlin: Mouton 1984. 4
Vgl. Depardon, Raymond: Paris Journal, Paris: Hazan 2004, S. 12.
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Etwa an die Reportagen und Detektivgeschichten Sophie Calles.
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Abbildung 15: Raymond Depardon, 1978, RUE CHRISTINE – 6. ARRT, Schwarzweißfotografie, 22 x 20 cm. Depardon ist der Überzeugung, ein neues Leben als Nachfahre von Werner Bischof, Robert Capa und David Seymour erwarte ihn.6 Er fügt sogleich eine Fotografie der drei berühmten Agenturbegründer an, die als Abbildung auf einem Schreibtisch der Agentur präsentiert wird. Auf den nächsten Seiten folgen einzelne Porträts seiner neuen Kollegen bei der Arbeit. Raymond Depardon interessieren Überschneidungen zwischen den Formaten Film und Fotografie. So sind seine Fotografien durchaus in einer zeitlichen Folge zu lesen, die ein Geschehen nachvollziehbar werden lassen. Insofern erscheint im Ganzen ein persönliches Archiv, dessen Aufzeichnungen das alltägliche Leben des Fotografen Raymond Depardon in der Stadt Paris wiedergibt. Dieses Archiv wirkt auf den ersten Blick wie ein Film-Storyboard. Tatsächlich handelt es sich jedoch nicht um ein Storyboard, im Sinne einer auf ein zukünftiges filmisches Projekt hin angelegten Skizze oder Projektion, sondern um die Darstellung des Ablaufs einiger wichtiger Tage in seinem Leben. Die gewählte performative Struktur, in der Depardon einzelne persönliche Momentaufnahmen zu einem sich sukzessive erweiternden Archiv anwachsen lässt, macht deutlich, was er bereits im Titel ankündigt: Depardon adaptiert die Textgattung Tagebuch für seine fotografische Arbeit. Dieser Eindruck wird durch die Orts- und Zeitangaben bzw. die dargestellten Binnenerzählungen erhärtet, denen man als Rezipient derart folgen kann, dass man vermeintlich den Entstehungsverlauf nacherlebt. Zudem sind sowohl die Fotogra6
»Une nouvelle vie m’attend sous la bénédiction de ses membres fondateurs aujourd’hui disparus: Werner Bischof, Robert Capa und David Seymour.« (1978, RUE CHRISTINE – 6. ARRT), in: Depardon 2004, S. 17.
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fien als auch die Kommentare in der Zeit gegenwärtig notiert und nicht nachträglich verändert worden.7 Allerdings – und hier bricht das Schema – kommt darin auch ein retrospektiv-reflexives Moment zum Tragen. So handelt es sich im Fall von PARIS JOURNAL nicht um ein tatsächlich gegenwärtig erstelltes Dokument, sondern um eine nachträgliche Zusammenstellung von Fotografien, deren zugeordnete Kommentare in etwa zeitgleich zu den Bildern entstanden sind, was den Eindruck eines Tagebuchs erwecken soll. Denn diese rückwirkende Zusammenstellung versucht keinesfalls, eine Synthese der Zeit zu liefern, wie es in einer Autobiografie der Fall wäre, sondern eine Mischform anzubieten: Es ist ein chronologisch geordnetes Archiv aus Momentaufnahmen, dem retrospektiv eine verbindende Tagebuchstruktur gegeben wurde. Das Dialogische ergibt sich erst in der Betrachtung: Erst der antizipierte Rezipient verbindet die Momente zu einer Synthese, indem er sich das Geschehen im Weiterblättern von Bild zu Bild als elliptische Erzählung in Stationen erschließt. So wird der Eindruck vermittelt, die Rezipienten könnten sich den Entstehungsprozess in der Betrachtung vergegenwärtigen. Diese performative Einbeziehung des Rezipienten in den Erzählprozess gestaltet sich bei der folgenden Foto-Blog-Arbeit von Rinko Kawauchi gänzlich anders.
Abbildung einer virtuellen Erfahrung RINKO’S DIARY, der Foto-Blog der japanischen Fotografin Rinko Kawauchi, ist in demselben Jahr online gegangen, in dem Depardons Buch veröffentlicht wurde. Er ist jedoch nicht rückblickend angelegt, sondern folgt einer sich von Tag zu Tag entwickelnden Struktur. Ab 2004 beginnt Kawauchi unter dem Datum des Tages ein Bild und einen Texteintrag ins Internet zu stellen, seit Anfang 2005 mit einer stringenten, täglichen Regelmäßigkeit. Ursprünglich war von ihr vorgesehen, das Projekt für den Zeitraum eines Jahres zu konzipieren, schließlich hat sie RINKO’S DIARY aber dann doch fast zwei Jahre lang geführt. Nach dieser Zeit beendet sie den Foto-Blog, entfernt ihn aus dem Internet und publiziert den etwas gekürzten Inhalt in zwei kleinen Foto-Text-Bänden, die das Jahr 2005 wiedergeben.8 Text- und Fotobeiträge stehen in keinem kausalen Verhältnis zueinander, sie wirken wie unabhängige Assoziationen, die an demselben Tag entstanden sind und sich durch Beiläufigkeit auszeichnen: Es geht um die Arbeit,
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Vgl. dazu Depardons nachträgliche Erläuterungen ebd., S. 535.
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Die Publikation erscheint 2006: Kawauchi, Rinko: Rinko Nikki (Rinko’s Diary), Bd. 1, Tokyo: Foil 2006.
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den Alltag und die Familie. Das Diary, das banale Elemente in Form täglicher Einträge von Ereignissen, Tätigkeiten und Gedanken aneinanderreiht, speist sich aus der Gegenwartsaufzeichnung. In einer beispielhaft aus RINKO’S DIARY gewählten Fotografie ist eine scheinbar alltägliche Situation festgehalten: Hochformatig sind auf einem mit Erdbeerdekor verzierten Teller die Reste einer Netzmelone und ein Löffel zu sehen. Das Arrangement scheint auf einem Schreibtisch zu stehen, neben einem rechts oben angeschnittenen Laptop. Dieser erste Eindruck einer wie zufällig aufgenommenen Situation täuscht. Der gewählte Ausschnitt bildet trotz der mäßigen Bildqualität eine gezielte Bildkomposition: Löffelstiel und Kabel des Notebooks verlaufen parallel zueinander und horizontal zu den Seiten des Bildformates, auf dem dunklen Untergrund heben sich die hellen Gegenstände ab. Im Löffel spiegeln sich die Fotografin und der Kamerablitz. Das Bild wirkt flächig, die Aufsicht verhindert eine räumliche Dimension und reduziert es auf Farbebenen. Bei der Aufnahme handelt es sich um eine Handy-Fotografie.
Abbildung 16: Rinko Kawauchi, 13.6.2005, digitale Farbfotografie mittels eines Mobiltelefons, 3 x 4 cm. Rinko Kawauchis Tagebuch ist ein Moblog, eine Abkürzung für mobiler Blog.9 Wenn Einträge und Fotos durch Mobiltelefone hergestellt und verschickt werden, wird die Internetseite, auf der sie zu sehen sind, so bezeichnet. Es ist die Eigenschaft von Blogs, nahezu von überall einstellbar bzw. abrufbar zu sein. Allerdings ist RINKO’S DIARY kein Blog im interaktiven Sinn. Ein Blog definiert sich zwar darüber, dass er eine häufig aktualisierte Website mit individuellen Einträgen ist, die meisten Blogs zeichnen sich jedoch insbesondere durch ihre
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Vgl. dazu Reichmayr, Ingrid: Wikis, Blikis, Blogs. Glogs, Vlogs. Moblogs. Oder wie internetbasierte Kommunikationsgemeinschaften die Massenmedien beeinflussen können, in: Medien-Impuls 51 (2005), S. 68-70.
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wechselseitige Kommunikationsfunktion aus; sie antizipieren Kommentare und reagieren darauf. Im Unterschied dazu bietet Kawauchis Seite keine Möglichkeit der Kommentierung, weshalb sie weniger im Sinne einer Plattform denn als Arbeit zu verstehen ist, die einen künstlerischen Prozess darstellt. Dies bietet ihr eine Möglichkeit, den Betrachter am Prozess teilhaben zu lassen, da sich das Tagebuch von Tag zu Tag ändert, die Arbeit also täglich und mit öffentlicher Anteilnahme daran anwächst. Sie wählt das Format eines Moblogs, weil sie ihre Bilder augenblicklich über das Internet verbreiten möchte.10 Das Publikum vermutet dahinter einerseits eine inhaltliche Entwicklung, die es aktiv mitverfolgen kann. Andererseits ist auch die Form der mobilen Bereitstellung bereits ein prozessualer Akt. Deswegen scheint nicht die Qualität der Bilder in erster Linie wichtig zu sein, sondern deren spontane Übermittlung. Die Fotografien, die mit einer simplen, defizitären, Handy-Kamera11 aufgenommen wurden, übertragen mit ihren Fehlern, also z. B. der Pixeligkeit oder der mangelnden Schärfe, eine fotografische Eigenheit: die gezielte Einschreibung des Apparativen ins virtuell verfügbar gemachte, digitale Bild. Dass Kawauchi die Fotografien für RINKO’S DIARY mit einer Handy-Kamera angefertigt hat, also mit einer günstigen, einfach zugänglichen und mobilen Technik, ist insofern interessant, da es sich dabei um ein Gerät handelt, dem all das fehlt, was eine professionelle Kamera auszeichnet: eine gute Optik und – bei digitalen Kameras – eine genügend große Datenkarte. Aufgrund dieser Unzulänglichkeiten weisen Kawauchis Handy-Fotografien technische Fehler auf, wie Über- oder Unterbelichtung sowie Verzerrungen. Die meisten Bilder sind darüber hinaus wegen der fehlenden Fokusfunktion nirgendwo vollständig scharf. Das MiniBlitzlicht der Handy-Kamera gibt den Bildern einen bläulichen Ton und bringt eine spotartige Helligkeit mit sich, die sich zu den Rändern hin verdunkelt. Offensichtlich setzt Kawauchi in der Internetarbeit gezielt die unaufwendigere und deshalb schneller bedienbare Kamera ein, deren Bilder zugleich auch immer den Apparat sichtbar machen, da das technisch Unperfekte die apparativen Eigenschaften des Mediums Fotografie unterstreicht. Es verweist damit auf die der Fotografie eigene referentielle Verbindung zum Gegenstand und damit auf ein ihr zugeschriebenes besonderes Wesen. So wird ersichtlich, dass sich die
10 Vgl. Kawauchi 2006, Vorwort. Nach einem Jahr nimmt sie allerdings, wie berichtet, die Bilder und Texteinträge aus dem Zusammenhang der freien Zugänglichkeit heraus und gibt sie als geschlossene, gebundene (Tage-)Buchform heraus. Danach wurde das Internet-Tagebuch nicht mehr weiter geführt. 11 Defizitär meint in diesem Sinne fotografisch unaufwendig. Technisch gesehen sind die kleinen Kameras sicherlich beachtenswert aufwendig in der Herstellung.
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Internet-Arbeit RINKO’S DIARY absichtsvoll eines Mediums bedient, dem eine mediale Glaubhaftigkeit zugesprochen wird, und deren Produktionsbedingungen von der Künstlerin offen gelegt werden, um einen Authentizitätseffekt zu erzielen, d. h. um Echtheit nahezulegen. Da Kawauchi allerdings keine analoge Fotoserie präsentiert, ist zu vermuten, dass sie vielmehr die Referenzen auf das Apparative mit den Verweisen auf die virtuellen Eigenschaften von Blogs verbinden möchte. Die Konsequenz dessen ist, dass damit neben der Echtheit der Aufzeichnungen auch der Moment der Aufzeichnung als in Echtzeit miterlebbar suggeriert wird. Kawauchi setzt das Mobiltelefon als Backoffice-Interface ein. Es fungiert hier als Schnittstelle, die der Konsument nicht sieht, die aber zum Verwalten einer Internetseite nötig ist. Damit ist ihr eine sehr schnelle, nahezu unmittelbare Verbreitung der Fotografien möglich, womit sie den Live-Effekt noch unterstreicht. Auf diese Weise nährt Kawauchi die Illusion, die Betrachter nähmen am Geschehen teil. Man mag in dieser Kombination Kawauchis Strategie begreifen: Die apparative Technik dient ihr einerseits dazu, ganz klassisch-fotografisch, wie Depardon, Momente als augenscheinliche Erlebnismomente zu konservieren. Andererseits nutzt sie die Blog-Struktur, um diese Momentaufnahmen in einem sich kontinuierlich erweiternden Zeitraum annähernd zeitgleich erfahrbar zu machen. Die Künstlerin vermittelt diesen Echt(zeit)-Eindruck demnach durch analoge wie virtuelle Referenzen, um Echtheit der Bilder und Partizipation seitens der Rezipienten zu vermitteln. Dennoch: Zwar lädt die Künstlerin die virtuellen Bilder anscheinend annähernd zeitgleich zum Erleben auf die Website – und damit erinnern die Bildakkumulationen an einen Foto-Blog. Ein zweites zentrales Kriterium von Blogs erfüllt ihre Plattform jedoch nicht, weil sie nicht tatsächlich interaktiv ist, sondern dies nur vorgibt. Die Form des Blogs dient demnach lediglich als konzeptuelles Strukturelement. Rinko Kawauchis Absicht scheint darin zu liegen, das interaktive Bloggen sowohl als soziales Phänomen zu kopieren als auch, wie ich nun ergänzen möchte, als Kopie der ästhetischen Ausgestaltung dieses Phänomens. Legt man die Untersuchungen Timm Starls und Pierre Bourdieus zu Motiven privater, nicht-künstlerischer Fotografie im 19. und 20. Jahrhundert12 zugrunde,
12 Zu diesen Motiven und Ausgestaltungen siehe: Bourdieu, Pierre et al.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie [Un art moyen. Essai sur les usages sociaux de la photographie, 1965], übersetzt von Udo Rennert, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1981. So verweist Bourdieu auf grundsätzliche Themenbereiche, die in der privaten Fotografie behandelt werden: Festliche Anlässe, Familienzeremonien, Feiern überhaupt, die soziale und gesellschaftliche Rollen und Rollen-
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kann man wenige Überschneidungen zu den Abbildungen in Kawauchis künstlerischem Foto-Blog ausmachen. Anstelle von Familienzeremonien, Urlaubsansichten oder repräsentativen Fassaden stehen Detailaufnahmen und Innenräume im Vordergrund ihrer Bilder. Ungestellte familiäre und private Zusammenkünfte – wie das alltägliche Essen – nehmen einen sehr viel größeren Raum ein. Damit wiederum ähneln Kawauchis Fotografien Motiven privater Fotografie im 21. Jahrhundert, wie man sie auf nicht-künstlerischen Foto-Blogs bzw. Bildplattformen wie Flickr oder Fotocommunity findet.13 Vielfach werden dort eben solche Fotografien platziert, die sich mit der persönlichen Wahrnehmung der Welt durch das Kamera-Objektiv beschäftigen: Farb- und Form-Eindrücke, Verwischungen, Über- und Langzeitbelichtungen, Unschärfen, Lichtspiele, Spiegelungen, Details. Gunnar Schmidt bezeichnet diese Tendenzen des Unperfekten an der Schnittstelle privater Schnappschussfotografie und künstlerischer Ausdrucksformen als dilettantische Ästhetik.14 In einer 2005 veröffentlichten Unter-
veränderungen oder soziale Etappen in der Kindheitsentwicklung bzw. die rites de passage zur Adoleszenz festhalten. Besondere Anlässe wie Urlaub stellen einen Großteil der von Bourdieu fotografierten Momente dar, fast nie jedoch Nebensächliches wie Alltag oder die bekannte Umgebung. Bourdieu stellt in seiner Untersuchung bemerkenswerterweise fest, dass eine zunehmende Übernahme solcher repräsentativer und integrationsfördernder Aufgaben von familiären Amateurfotografen zusammenfalle »mit einer präziseren Differenzierung dessen, was dem öffentlichen Bereich und was der Privatsphäre zugehört.« (Bourdieu 1981, S. 41). Timm Starl zufolge nehmen solche Fotografien, welche die Familie als Repräsentationsobjekt zeigen, einen geringeren Teil ein als Bourdieus Studie ergibt, weshalb er auch nicht davon sprechen möchte, diese als Zeichen der Integrationsleistung der Fotografie einzuordnen. Vgl. Starl, Timm: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, Kat. Ausst. Münchner Stadtmuseum, München/Berlin: Koehler & Amelang 1995, S. 9. Starl hat bereits Anfang der 1980er Jahre Aufsätze über private Fotografie und Amateurfotografie veröffentlicht. Die umfassende Untersuchung und der Ausstellungskatalog sind jedoch erst 1995 erschienen. 13 In diesem Zusammenhang ist folgender Aufsatz interessant: Holschbach, Susanne: Fotokritik in Permanenz. Flickr als praktische Bildwissenschaft, in: Irene Ziehe und Ulrich Hägele (Hrsg.): Digitale Fotografie. Kulturelle Praxen eines neuen Mediums, Visuelle Kultur. Studien und Materialien, Münster u. a.: Waxmann 2009, S. 77-83. 14 Vgl. Schmidt, Gunnar: Dilettantische Ästhetik. Fotografie zwischen Laien- und Kunstsphäre, in: Fotogeschichte 111 (2009), S. 31-38. Die Anknüpfung an eine ver-
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suchung zu Arbeitsverhalten und Motivation von dreißig Fotobloggern zu inhaltlicher wie formaler Ausrichtung ihrer Blogs macht der Mediensoziologe Kris Cohen thematische Unterschiede zu textbasierten, nicht-journalistischen Blogs aus. Während in letzteren die Schwerpunkte der Berichte bei Arbeitsproblemen, ungewöhnlichen Ereignissen, Feierlichkeiten, Herzensangelegenheiten, Beziehungen, Lieblingsmusik oder etwa Reisen zu ungewöhnlichen Orten etc. dominierten,15 bevorzugten Fotoblogger in noch stärkerem Maße das Alltägliche, Banale oder Weltlich-Profane. Eher, als dass die Autorinnen und Autoren definieren können, so Cohen, was sie thematisch bewegt, vermag man zu umreißen, was die Bilder ihrer Fotoblogs nicht zeigen: Es werden – ähnlich wie bei Kawauchi – keine Bilder von Reisen, bedeutenden Anlässen, Hochzeiten, Geburtstagen oder anderen Familienfeiern präsentiert. Vielmehr sei es das wahre Leben; dasjenige, das sie während des Erlebens bereits als Bild wiedergeben. Cohen gibt dies mit den Begriffen der äußeren und der inneren Welt wieder: »›Real life‹ […] traditionally happens outside of photography, and this is precisely what they want to do in their photos.«16 Will man sich der hinter dem Begriff Erleben steckenden zeitlichen Dimension im Gebrauch der privaten Fotografie nähern, kommt man erneut mit der Studie Bourdieus, der im sozialen Gebrauch die eigentliche Paradoxie zwischen Wesen und Gebrauch der Fotografie erkennt, zu Antworten. Bourdieu stellt fest, dass das fotografische Verfahren eine kompakte Wirklichkeit bzw. ihre vielschichtige Wahrnehmung zu einem einzigen herausgelösten Moment verdichtet. Ein solches Bild von flüchtigen, ephemeren Angelegenheiten nähmen Auge und Gehirn ohne das fotografische Aufzeichnungsverfahren nicht als Bild wahr. So verleihe das fotografische Bild einer möglicherweise im Lauf der real erlebten Zeit nicht beachteten Konstellation eine eigene Dauer und ein besonderes Gewicht. In der gesellschaftlichen Anwendung komme es nun nach Bourdieu hingegen zu einer Umkehrung dieser fotografischen Eigenschaft, einen herausgelösten Moment zu betonen.
meintliche Laienperspektive stellt Schmidt vielmehr als eine Wiederaufnahme von Ästhetiken der Unperfektheit der klassischen Avantgarden dar. 15 Vgl. Cohen, Kris R.: What does the photoblog want?, in: Media, Culture & Society 6, (2005), S. 883-901, hier S. 886, wobei offen bleibt, wie er zu diesem Schluss kommt, denn auch textbasierte Blogs sind – wie gezeigt – sehr oft dem Nebensächlichen und Profanen gewidmet. 16 Ebd., S. 887.
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»Die Durchschnittsphotographie [sic] eliminiert den Zufall oder den Aspekt, der die Wirklichkeit auflöst, indem er sie zu etwas Vergänglichem macht. Indem sie niemals etwas anderes festhält als Momente, die ihrer Feierlichkeit wegen dem Zeitablauf entrissen werden und nur posierende, unbewegliche Personen mit stets derselben Kameraeinstellung aufnimmt, verliert sie ihre Fähigkeit, die Dinge aufzulösen. Sofern sich auf dem Photo [sic] so etwas wie Handlung abzeichnet, so immer ›unbewegt‹ und der Zeit enthoben.«
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Drehte man Bourdieus Aussage um, so hieße das, es bestünde in Foto-Blogs wieder ein vermehrtes Interesse an der spezifischen Möglichkeit der Fotografie, eine aufgelöste Wirklichkeit als Moment festzuhalten, der sich dem Auge entzieht. Und andererseits ermöglicht der Foto-Blog, die repräsentierte Handlung beim Betrachten in ihren ursprünglichen zeitlichen Ablauf wieder einzubinden. Neben der interaktiven Kommunikationsstruktur von Blogs lehnt sich RINKO’S DIARY offensichtlich ebenfalls ästhetisch an das Moment des Herausgelösten an, was Kawauchis Fotografien in einer zeitlich ausgedehnten, Handlung einbeziehenden Form erscheinen lässt. Ihre Arbeit zielt darauf ab, den Verlust der Gegenwart aufzuhalten, indem sie die Online-Zirkulation in Bild-Tagebuchformen des Internets nachahmt und vorgibt, immer live zu sein. Sie arbeitet dem Verlust der Gegenwart insofern entgegen, als dass sie die Präsenz und das Präsens der Geschehnisse betont.
Interaktion und Interaktivität Raymond Depardon und Rinko Kawauchi adaptieren das Modell Tagebuch in ihren Arbeiten. Keiner der beiden Künstler nutzt die Form jedoch als Erinnerungsspeicher oder Reflexionsform, vielmehr transformieren – das heißt: übertragen und verwandeln – sie die spezifische Tagebuchstruktur zu Archiven performativer Aufzeichnungen. An der Gegenüberstellung beider Arbeiten wird eine Entwicklung vom Performativen zum Vergegenwärtigten deutlich. Ermöglicht Depardon durch das haptische Blättern im Objekt Buch eine performative Vergegenwärtigung durch die Betrachter, präsentiert RINKO’S DIARY die Geschehnisse für die User oder Rezipienten des Blogs fast gegenwärtig bzw. imitiert das virtuelle Vorgehen bei der Reflexion im Hier und Jetzt. Um der Rolle der Betrachter bzw. User in beiden Arbeiten näher zu kommen, soll hier auf den Unterschied von Interaktion und Interaktivität verwiesen
17 Bourdieu, Pierre et al.: Eine illegitime Kunst [1965], Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 88.
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werden. Jens Schröter und Christian Spies erinnern in ihrem Aufsatz Interface. Analoger Closed Circuit versus Digitale Interaktivität? daran, dass Interaktivität nicht erst ein spezifisches Phänomen virtueller Medien ist.18 Man kann ihre Definition auf die Unterscheidung vereinfachen, ob ein Medium an sich interaktiv ist oder ob die Rezipienten mit dem Kunstwerk interagieren. Raymond Depardons Foto-Tagebuch PARIS JOURNAL fordert die Interaktion der Betrachter in dem Sinne, dass diese sich die Zeit des Geschehens vergegenwärtigen und aufgefordert werden, die elliptischen Teile der Episoden zu Zeitspannen zu ergänzen und nachzuverfolgen. Rinko Kawauchis Foto-Blog dagegen zielt nicht auf eine solche Aktion der Betrachter: Weder ist die Arbeit interaktiv noch ist es der Betrachter. Indem sie eine interaktive Kommunikationsplattform suggeriert, scheint sich der User kein Geschehen vergegenwärtigen zu müssen, da er es vermeintlich in Echtzeit miterlebt. Hier wird eine der Technik inhärente Interaktivität vorgegeben, die weniger Interaktion impliziert als das Foto-Tagebuch Depardons. Während in der ersten Arbeit Erlebnisse synthetisiert werden, findet in der zweiten Arbeit eine Transformation der synthetischen Erfahrung auf das Medium statt.
18 Schröter, Jens und Christian Spies: Interface. Analoger Closed Circuit versus Digitale Interaktivität?, in: Britta Neitzel und Rolf F. Nohr (Hrsg.): Das Spiel mit dem Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel (Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) 14), Marburg: Schüren 2006, S. 104-116.
Zwischen Datenbank und Bilderschatz. Harun Farocki und sein Archiv filmischer Ausdrücke M ONIKA W ERMUTH
Der vorliegende Aufsatz beleuchtet Harun Farockis Projekt der Erstellung eines Archivs filmischer Ausdrücke unter der Fragestellung, ob eine filmische künstlerische Arbeit eine enzyklopädische Aufgabe übernehmen kann und damit die Grenzen seiner eigenen Gattung und Ausdrucksform durch die Orientierung an einem übergeordneten, eng dem wissenschaftlichen Arbeiten verbundenem Ziel überschreitet. Darüber hinaus soll gefragt werden, inwieweit sich die einzelnen Arbeiten in Farockis Archiv filmischer Ausdrücke selbst als Orte des Bildgedächtnisses formieren und damit Hybride zwischen Kunst und Wissenschaft bilden. Dabei wird zunächst auf das Projekt, seine Entstehung und Verwirklichung sowie Farockis Thesen eingegangen. Die anschließende Gegenüberstellung zu vergleichbaren Projekten soll Farockis Idee in einen diskursiven Zusammenhang bringen.
Das Archiv filmischer Ausdrücke Farocki hat in seinem Text Bilderschatz1 den Gedanken festgehalten, der seinem Archiv filmischer Ausdrücke zugrunde liegt: »Ich bin ein großer Freund von Wörterbüchern, ich schlage Wörter und ihre Herkunft gerne nach, auch in spezialisierten und abseitigen Wörterbüchern. Das geschieht ohne Systematik und ist somit meiner sonstigen Arbeit ähnlich: Ein Filmemacher bearbeitet kein ab1
Farocki, Harun: Bilderschatz, hrsg. vom Vilém-Flusser-Archiv, Kunsthochschule für Medien in Köln im Rahmen der 3rd International Flusser Lecture am 7. Dezember 1999, Köln: Walther König 2001.
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gestecktes Feld, nimmt von immer neuen Dingen Kenntnis, und glaubt doch, da wachse ihm eine Art von Intuition zu. Beim Suchen nach einer Ordnung für meine Stoffsammlung dachte ich an die Wörterbücher, die den Gebrauch eines Wortes oder Ausdrucks chronologisch belegen, und da fiel mir auf, daß [sic] es für den Film nichts gibt, was einem Wörterbuch entspräche. Wie sollte man das nennen, was ich vermisse? Man könnte es ›Bilderbuch‹ nennen, man könnte es vielleicht ›Thesaurus‹ oder ›Bilderschatz‹ nennen, man könnte es vielleicht auch ›Archiv für filmische Ausdrücke‹ nennen.«2
Diesem Gedanken eines Nachschlagewerks folgend hat Farocki vier Beiträge in Form von eigenständigen, abgeschlossenen Filmen für sein Archiv filmischer Ausdrücke verwirklicht, die zum Teil für das öffentlich-rechtliche Fernsehen als Dokumentarfilme produziert wurden: ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK (1995), DER AUSDRUCK DER HÄNDE (1997), GEFÄNGNISBILDER (2000) und AUGE/MASCHINE I-III (2000-2003). Dabei hat er nicht selbst gefilmt, sondern Material aus der Film- und Fernsehgeschichte verwendet. Jeder Beitrag fokussiert dabei ein einzelnes Motiv oder eine Bildgattung. Farocki hat dazu nach entsprechenden Szenen in Filmen gesucht, sie selektiert und zu neuen eigenen Arbeiten montiert. Die vier Beiträge stellen selbst kein abgeschlossenes Wörterbuch dar, symbolisieren aber, dass es ein solches Nachschlagewerk noch nicht gibt, und zeigen zugleich, wie es aussehen könnte. Über die Montage und Sammlung von Motiven hinaus vollzieht Farocki durch den Kommentar auch eine Bewertung und Einordnung der Bilder. Die einzelnen Motive werden somit nicht nur nach ihrem historischen Erscheinen und Vorhandensein, sondern auch im Hinblick auf ihre kulturelle, gesellschaftliche und mediale Bedeutung hin eingeordnet. Farockis Beiträge zeigen also zum einen die Verwendung einzelner Motive, reflektieren zum anderen aber auch deren Bedeutung. Die Bezeichnung Archiv für filmische Ausdrücke ist durch das Archiv für Begriffsgeschichte inspiriert, da dieses, wie es auch Farockis Archiv ähnlich ist, nicht lexikalisch oder chronologisch, sondern ohne festgelegte Folge Begriffe oder Ausdrücke erfassen möchte.3 Das Archiv für Begriffsgeschichte, das in jährlich erscheinenden Zeitschriften die Definition und Entwicklung von Begriffen im Sprachgebrauch festhält, kann insofern als Pendant gesehen werden, da Farocki mit seinen Beiträgen das Bewusstsein für Filmsprache zu schärfen versucht.4 Angeregt wurde das Projekt zum Archiv filmischer Ausdrücke neben Farocki durch den Medienwissenschaftler Friedrich Kittler und den damaligen
2
Ebd., S. 5.
3
Vgl. ebd.
4
Vgl. ebd.
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Direktor des Einstein-Forums in Potsdam, Gary Smith.5 »Harun Farocki wies darauf hin, daß [sic] es einen aktiven Bildschatz, der dem aktiven Wortschatz vergleichbar wäre, nicht gibt, und daß [sic] die Fähigkeit fehlt, Ausdrücke genuin visuell zu verknüpfen. In unserer schriftbasierten Kultur gibt es trotz aller audiovisueller Medien keine Kompetenz, filmographisch [sic], d. h. im Medium zu denken oder zu kommunizieren.«6 Es ist folglich zugleich dieses Fehlen eines aktiven Bildschatzes und seine Faszination mit einem solchen zu arbeiten, das Farocki zu seinem Projekt bewegte. Dabei stehen bei der Suche in den Archiven nach Filmmaterial und der Zusammenstellung nicht die Handlung oder die Figuren des Films im Vordergrund, und auch nicht die Autorenschaft oder das Genre, sondern einzig das einzelne Motiv, wie es Wolfgang Ernst beschreibt: »[…] digital image data banks allow for systematizing visual sequences according to genuinely iconic notions (topoi, or – for time-based images – a different notion of Bachtin’s chrono-topoi). The narrative elements, too, will reveal new insights into their semantic, symbolic and stylistic values. This is exactly what Farocki had in mind, when […] he proposed the project of a kind of visual library of film which would not only classify its images according to directors, place and time of shooting, but beyond that: it would systematise sequences of images according to motifs, topoi and narrative statements, thus helping to create a culture of visual thinking with a visual grammar analogous to linguistic capaci7
ties.«
Farocki lag also nicht nur daran, diese filmischen Ausdrücke zu klassifizieren und zu sammeln, sondern sie darüber hinaus zu einem Vehikel der visuellen Kultur zu machen, um eine Ausdrucksweise auf Bildebene in Entsprechung zu den Möglichkeiten der sprachlichen Formulierung zu schaffen. Damit geht die Errichtung einer Struktur, eine Grammatik der Bildverwendung einher. Ein Wörterbuch filmischer Ausdrücke brächte zugleich ein Regelwerk hervor, das jeweilige Bildfunktionen katalogisieren und reglementieren bzw. die Regeln der Bildfunktionen aufschlüsseln würde. Darüber hinaus sei erwähnt, dass die Sammlung eines Wortschatzes nicht nur einem enzyklopädischen Gedanken entspricht, son-
5
Ernst, Wolfgang, Stefan Heidenreich und Ute Holl: Editorial. Wege zu einem visuell adressierbaren Bildarchiv, in: dies. (Hrsg.): Suchbilder. Visuelle Kultur zwischen Algorithmen und Archiven, Berlin: Kadmos 2003, S. 7-15, hier S. 8.
6
Ebd. S. 8.
7
Ernst, Wolfgang und Harun Farocki: Towards an Archive for Visual Concepts, in: Thomas Elsaesser (Hrsg.): Harun Farocki. Working on the sightlines, Amsterdam: Amsterdam University Press 2004, S. 261-286, hier S. 265.
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dern auch die Grundlage zur Spracherlernung darstellt. Betrachtet man den Film als eine Form der Sprache, könnte der Bilderschatz außerdem dazu dienen, einzelne Ausdrücke verstehen und übersetzen zu können. Die vier bisher verwirklichten Arbeiten sind, aus dieser Warte betrachtet, als erste einzelne Bausteine dieses Bilderschatzes zu verstehen.8 Wolfgang Ernst vergleicht den Grundgedanken des Archivs filmischer Ausdrücke auch mit der Encyclopédie von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert,9 die sich ebenfalls einem vergleichbar idealistischen Projekt widmeten, ein Lexikon zu schaffen, das sämtliche in diesem Fall sprachliche Begriffe der Wissenschaft, der Künste und der Berufssparten alphabetisch erfassen sollte. Zu jedem der Begriffe ließen die beiden Herausgeber einen Artikel von einem Experten verfassen. Oder, wie es auch dem System des Archivs für Begriffsgeschichte entspricht: Jeder Beitrag in diesem Archiv ist für den jeweiligen Verfasser ebenfalls ein eigenständiger Aufsatz und nicht nur ein reiner Lexikoneintrag. Auf dieselbe Weise sind auch Farockis Beiträge zum Archiv filmischer Ausdrücke eine Form von filmischem Aufsatz, der einer bestimmten visuellen Ausdrucksweise geschuldet ist. Als erster Beitrag entstand der Film ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK (1995): Farocki zeigt darin Aufnahmen von Fabriktoren, aus denen Arbeiter herausströmen. Das Material – beginnend bei den Brüdern Lumière – entstammt Dokumentar- und Spielfilmen, aber auch Kunst- und Propagandafilmen aus elf Jahrzehnten.10 Farocki nimmt dabei eine gewisse Wertung der montierten Filmsequenzen vor, indem er sie durch ein Voice-Over kommentiert, wodurch das Bildmaterial nicht nur für sich steht. Die »Analyse verläuft über die Wiederholung und durch eine Gegenüberstellung von Wort und Bild«11, stellt Christa Blümlinger fest. ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK und auch die anderen Beiträge sind weniger als objektive Sammlungen der jeweiligen Bildausdrücke zu sehen, denn als eine Schau von Szenen der Filmgeschichte, die Farocki ganz bewusst und gezielt montiert und sich zu eigen macht. Jede Art von Kommentar –
8
Dabei ist festzuhalten, dass jeder Beitrag auch für sich selbst als eine filmische Arbeit besteht und in Farockis Werk eine individuelle Stellung einnimmt.
9
Ernst und Farocki 2004, S. 262.
10 Neben den Anleihen aus dem berühmten Film LA SORTIE DE L’USINE LUMIÈRE À LYON (F 1895) der Brüder Lumière stammen die Szenen der die Fabriken verlassenden Arbeiter u. a. aus den Fritz Lang-Filmen METROPOLIS (D 1927) und CLASH BY NIGHT (USA
1952), sowie aus Pier Paolo Pasolinis ACCATONE (I 1961).
11 Blümlinger, Christa: Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst, Berlin: Vorwerk 8 2009, S. 235.
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auch wenn er nur beschreibend ist – ist dabei wieder eine Art der Konzentration auf die Sprache. Dabei stellt sich die Frage, ob die Sprache in diesen Beiträgen zugleich eine Übersetzung der filmischen Ausdrücke von einem Bilderschatz in einen Wortschatz übernimmt. Farocki betrachtet die Montage der Sequenzen zu ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK selbst im Vergleich zu einer sprachlichen Verwendung: »Die Filmmontage hatte eine totalisierende Wirkung auf mich: Hatte ich die Montage vor Augen, so drängte sich mir die Vorstellung auf, das Kino habe über einhundert Jahre nur ein einziges Motiv bearbeitet. Als wiederhole ein Kind das erste Wort, das es sprechen gelernt hat, über hundert Jahre, um die Freude am ersten Sprechen zu verewigen.«12 Diese Tatsache, einem Bildschatz, der einem Wortschatz entspricht, das erste Wort seiner Sprache voranzusetzen, birgt auch Farockis außerordentlich poetische Herangehensweise an sein Projekt. Farockis Film DER AUSDRUCK DER HÄNDE (1997) wird als zweiter Beitrag für das Archiv filmischer Ausdrücke betrachtet. Farocki widmet sich darin bestimmten Gesten, die im Film mit den Händen ausgeführt werden. Wieder erhalten wir nicht nur eine Sammlung filmischer Ausdrücke, sondern eine Wertung, indem Farocki vermittelt, welche Rolle die Hände im Film spielen. »Die ersten Großaufnahmen der Filmgeschichte sind auf Gesichter gerichtet, aber schon die zweiten zeigen die Hände.«13 Das Gesicht verrät etwas über den einzelnen Menschen, vor allem auch im Hinblick auf seine momentane seelische Verfassung.14 Farocki bemerkt aber, dass Hände, sähe man ihnen länger zu, etwas Animalisches bekämen und wie Tierchen wirkten, und auch in Filmen eher für das Triebhafte im Menschen stehen würden.15 Farocki beschreibt dazu, wie jemand trotz einer seelischen Erschütterung die Fassung bewahren möchte, zwar sein Schreien zu unterdrücken vermag, aber mit seiner zitternden, krampfenden Hand ein Glas zerdrückt. So konstatiert er auch: »Die Hände können nicht so gut lügen wie das Gesicht, sagen ihre Wahrheit unverblümter […]. Für die Hände sind Zeichensprachen ausgebildet, allgemeine: drohende Zeigefinger, Geldzählen, und spezialisierte: Seemannszeichen, Taubstummensprache – beider Ausdrücke sind viel eindeutiger, als mimische es sind. […] Dann gibt es noch die magischen Gesten, die Berührung, die verzaubert oder verhext, segnet, oft tröstet.
12 Farocki, Harun: Arbeiter verlassen die Fabrik, in: Susanne Gaensheimer und Nicolaus Schafhausen (Hrsg.): Harun Farocki. Nachdruck. Texte, Berlin: Vorwerk 8 2001, S. 231-249, hier S. 245. 13 Farocki 2001: Bilderschatz, S. 6. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. ebd., S. 6f.
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Diese Gesten haben eine weit zurückreichende Herkunftsgeschichte.«16 Dieser Beitrag unterscheidet sich konzeptuell von seinem Vorgänger: An die Stelle eines ganz bestimmt gearteten Motivs, wie die Arbeiter beim Verlassen von Fabriken, tritt hier ein wesentlich breiteres Spektrum, der Ausdruck der Hände. Der dritte Beitrag zum Archiv filmischer Ausdrücke trägt den Titel GEFÄNGNISBILDER (2000). Farocki verwirklichte zur selben Zeit die Installation ICH GLAUBTE, GEFANGENE ZU SEHEN (2000). Beide gelten als »Untersuchung filmischer Bild- und Blickstrukturen in Haftanstalten«17. Farocki konzentriert sich hierbei vor allem auf Gefängnisbilder, die aus der medialen Verwendung geläufig sind bzw. durch ihre Ästhetik, die beispielsweise durch formale Aspekte von Bildern aus Überwachungskameras bestimmt ist, auf eine mit Gefängnissen verbundene Bildsprache referieren. Farocki greift somit nicht hauptsächlich auf Szenen aus der Filmgeschichte zurück. Deshalb finden wir hier einerseits eine Konzentration auf Überwachungsvideos sowie deren Perspektive, Struktur, Ästhetik und Wirkung. Andererseits schafft Farocki mit der Auswahl der Bilder einen Bogen zurück zum Kino: »[…] es geht um die beiden Hauptthemen des Kinos, um Liebe und Tod, Sex und Gewalt.«18 Es werden uns gleichzeitig aber ihre Eigenschaften als Überwachungsvideos gewahr, denn sie bilden das Leben zwar als Film ab, beinhalten aber keine Dramaturgie, wie wir sie von einem filmischen Werk erwarten. Des Weiteren kann die Trilogie AUGE/MASCHINE I-III (2000-2003) dem Archiv filmischer Ausdrücke zugeordnet werden. Farocki beschreibt in AUGE/MASCHINE (2000) anhand von Beispielen aus dem Golfkrieg den Einfluss der militärischen Bildtechnologien auf die Gesellschaft und deren alltägliches Leben. Dort hat der so genannte C3I-Zyklus (Command, Control, Communications and Intelligence) durch das Einsetzen von Frühwarnsystemen, RadarSensoren oder Funkpeilung begonnen, die direkte menschliche Gewalteinwirkung im Krieg immer stärker zu verringern. Auch AUGE/MASCHINE II (2002) stellt verstärkt den Kontrast zwischen Mensch und Maschine und die Entwicklung intelligent operierender Maschinen und Waffen ins Zentrum, die mit Bildern des zivilen Lebens kontrastiert, aber auch assoziiert werden.19 Der dritte Teil des Zyklus AUGE/MASCHINE III (2003) setzt seinen inhaltlichen Fokus auf das operierende Bild: Ein operierendes Bild kann zum Beispiel die elektronische
16 Ebd., S. 7. 17 Ernst, Heidenreich und Holl 2003, S. 9. 18 Farocki 2001: Bilderschatz, S. 25. 19 Vgl. http://www.farocki-film.de, unter der Rubrik Installationen im Beitrag zu AUGE/MASCHINE III zu finden (zuletzt aufgerufen am 31.04.2011).
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Aufnahme einer Landschaft aus einem Flugzeug sein, das bei einem wiederholten Flug über dieselbe Landschaft das Bild abgleichen und Veränderungen aufzeigen kann.20 Die 3sat-Filmredaktion beschreibt AUGE/MASCHINE im Zusammenhang mit Farockis Archiv filmischer Ausdrücke als »essayistische Untersuchungen zu einem kinematografischen und medialen ›Bilderschatz‹ (ein Begriff analog zu ›Wortschatz‹), Bausteine zu einem ›Dictionary der filmischen Ausdrücke‹. Erforschte Farocki in ›Gefängnisbilder‹ einen Topos des Genre-Kinos einerseits, moderne Gefängnistechnologie andererseits, so setzt er mit ›Auge/Maschine‹ seine Überlegungen zu Überwachung und Kontrolle, die unser gesamtes soziales Leben betreffen, 21
fort.«
AUGE/MASCHINE führt damit die Tradition Farockis Projekt eines Lexikons filmischer Ausdrücke fort, setzt sich aber noch mehr als GEFÄNGNISBILDER mit der Entwicklung der Medien und der Veränderung der Technik und deren Folgen für die Gesellschaft, auch im philosophischen und sozialkritischen Sinne, auseinander.
Metaphern einer technischen Vision Farocki unterstellt dem Zusammentragen von Filmbildern – vielleicht auch im Hinblick auf eine Art filmischen Aufsatz – einen Nutzen für Filmemacher selbst, die sich durch solche enzyklopädische Beiträge auf ähnliche Szenen vorbereiten können: »Jeder, der professionell mit Texten zu tun hat, schlägt Wörter nach. Das Filmwissen ist in dieser Weise nicht nachschlagbar. Man hat Billy Wilders Das Appartement gesehen, in dem die beiden Helden zusammen mit anderen Büroangestellten durch die Halle gehen und hinter der Drehtür nur noch zu zweit in der Einstellung erscheinen, in einem Travelling. Muß [sic], wer heute eine ähnliche Einstellung aufnimmt, diese oder eine andere solche Sequenz gesehen haben? Oder kommt man auf diese Sequenz, weil die Aussageabsicht eine Darstellungsform nach sich zieht? Ich glaube nicht, daß [sic] es eine diesbezüg22
liche Wissenssoziologie gibt.«
20 Vgl. ebd. 21 http://www.atelierhaus-essen.de/PPP-2.shtml (zuletzt aufgerufen am 05.06.2011). 22 Farocki 2001: Bilderschatz, S. 17f.
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Wieder den Film im Vergleich zum Text sehend, beschreibt Farocki, dass die vermeintliche Lektüre zur Vorarbeit des Filmens logisch ist. Des Weiteren stellt er infrage, ob es, um eine bestimmte Aussage im Film zu treffen, vorgegebene Ausdrucksweisen gibt. Farocki erklärte bereits an anderer Stelle in seinem Text Bilderschatz23, wie seine Vorstellung von der Nutzung beziehungsweise auch die optimale Beschaffenheit eines Beitrags zum Lexikon sein könnte: Er zitiert dazu ein Video der österreichischen Künstlerin Constanze Ruhm, die per Computersimulation eine Kamerafahrt aus dem Godard-Film NOUVELLE VAGUE (F/CH 1990; R: Jean-Luc Godard) nachzeichnete. Dieser Simulation schreibt Farocki denselben Effekt zu, den man erzeugt, wenn man über Musik, beispielsweise eine Symphonie spricht und jemand die Melodie nachpfeift. Dieses Nachzeichnen per Computersimulation für den Film bezeichnet er dabei treffend als ein Story-Board ex post, das zur Veranschaulichung von Kadrierung und Einstellung dient.24 Nach Farocki würde so das Argumentieren, Kritisieren oder auch Vergleichen von bestimmten Kompositionen oder Einstellungen in Filmen vereinfacht bzw. vielleicht auch erst richtig anwendbar: »Das ist ein außerordentliches analytisches oder diskursives Werkzeug, und wenn man künftig von einem Film spricht, muß [sic] man sich nicht darauf beschränken, ein Zitat zu zeigen. Man kann das Zitierte transformieren, sozusagen in die indirekte Rede setzen, wie man das ja auch tut, wenn man einen Film kritisiert oder untersucht; dann spricht man meistens vom Sujet oder vom Verhalten der Filmpersonen.«
25
Die Archivierung und die gleichzeitige Isolation von filmischen Motiven und Mitteln lässt eine viel genauere Interpretation und Analyse von Filmen zu. Wäre ein solches Tool oder Wörterbuch vorhanden, könnten Vergleiche zu anderen Filmen gezogen werden können, die dasselbe Motiv, aber vielleicht aus einer anderen Motivation verwenden. Aus dieser Perspektive ist Farockis Standpunkt für Kunst, Film und Wissenschaft von Bedeutung: Er arbeitet mit der Idee, ein Werkzeug, eine Art Suchmaschine für Filmmotive zu schaffen, dessen Nutzen sich nicht nur auf sein eigenes künstlerisches Arbeiten beschränkt, sondern eine Revolution sowohl für die wissenschaftliche Filmbetrachtung als auch für die Arbeit von Filmschaffenden selbst bedeuten würde. Zugleich sind seine eigenen Beiträge aber metaphorisch zu betrachtende Ergebnisse einer solchen Suche, die zwar widerspiegeln, was er
23 Ebd., S. 10. 24 Vgl. ebd., S. 11. 25 Ebd., S. 11f.
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vermisst, doch in ihrem künstlerischen und didaktischen Stil keiner objektiven Datenbank oder einem summarischen Verzeichnis entsprechen können. Diese Tatsache verdeutlicht den genannten metaphorischen und weniger tatsächlich enzyklopädischen Charakter der einzelnen Beiträge. Zugleich schmälert dies nicht den wissenschaftlichen Anspruch Farockis. Auf seine Frage »Wie sollte man das nennen, was ich vermisse?«26 gibt er mit den verwirklichten Beiträgen eine filmische Antwort, die es mit computertechnischen Mitteln tatsächlich umzusetzen gilt. Die Möglichkeiten, die sich durch neueste SoftwareEntwicklungen bieten, sind auf dem besten Wege, die (Bewegt-)Bilderkennung zu perfektionieren.
Ein Mnemosyne-Atlas filmischer Ausdrücke? Verschiedene künstlerische und wissenschaftliche Projekte sind mit dem Archiv filmischer Ausdrücke verglichen worden.27 Darunter ist u. a. Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas28 zu nennen: Warburgs Bestreben lag vordergründig darin, Abbildungen, Fotos und Reproduktionen in verschiedene thematische Gruppen zu unterteilen, wobei nicht die Ähnlichkeit der Bilder, sondern deren Beziehungen durch Texte oder die Biografien der Künstler entscheidend war. Ein wichtiges Merkmal des Mnemosyne-Atlas ist, dass Warburg diese Ordnung immer wieder veränderte und die Bilder neu zusammenstellte oder für Ausstellungen besondere Ensembles herausarbeitete. Für den Vergleich mit Farocki entscheidend ist die Idee, Bilder – auch in Hinsicht auf einen historischen, biografischen oder inhaltlichen Zusammenhang untereinander – zu ordnen und physisch auf einer Tafel in eine Ordnung zusammenzubringen.29 Dieses Diktum, eine einzige Ordnung schaffen zu wollen, war auch die größte Schwierigkeit am Mnemosyne-Atlas. Es gab viele Bilder, die sich in mehrere Gruppen hätten einordnen las-
26 Ebd., S. 5. 27 Vgl. dazu vor allem Beiträge aus folgendem Sammelband: Ernst, Wolfgang, Stefan Heidenreich und Ute Holl (Hrsg.): Suchbilder. Visuelle Kultur zwischen Algorithmen und Archiven, Berlin: Kadmos 2003. 28 Vgl. Pias, Claus: Ordnen, was nicht zu sehen ist, in: Wolfgang Ernst, Stefan Heidenreich und Ute Holl (Hrsg.): Suchbilder. Visuelle Kultur zwischen Algorithmen und Archiven, Berlin: Kadmos 2003, S. 99-108, hier S. 103. 29 Vgl. in Bezug auf den Vergleich von Warburgs und Farockis Projekten auch Ernst und Farocki 2004, S. 266f.
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sen können. Claus Pias schreibt in Bezug auf diese Problematik von Warburgs Bildtafeln und zu Bildordnungen der digitalen Medien: »Was von Warburg zu lernen wäre, ist also weniger eine rein visuelle Bildordnung, sondern gerade das Problem, wie man mehr als eine Ordnung für eine begrenzte Datenmenge gleichzeitig zur Darstellung bringen kann. Datenmengen zu haben, für die es keine ›evidente‹, ›natürliche‹ oder ›beste‹ Ordnung gibt, sondern nur viele mögliche, ist aber die 30
grundlegende Eigenschaft digitaler Medien und zugleich ihr zentrales Problem.«
Diese Problematik erfahren im Grunde auch Farockis Bilder, die nicht nur das aufzeigen, was Farocki gesucht hat, sondern auch viele andere Dinge, die in einem neuen Zusammenhang wieder eine Rolle spielen können. Der Unterschied zwischen den beiden Systemen begründet sich darin, dass Warburgs Bilder keine bewegten Bilder waren und Farockis Bilder gerade nicht dem Gedanken einer verwandtschaftlichen Beziehung unterliegen müssen, um gemeinsam in einem filmischen Beitrag seines Archiv zu sein. »Warburgs ›Restitutio Eloquentiae‹ befasst sich bekanntlich gerade nicht mit Körpern in Bewegung, sondern nur mit diskreten Körperzuständen. In ihr geht es gerade nicht um Film, sondern um Stills: Der Affekt ist eben keine Ausdrucksbewegung, sondern eine stillgelegte fleischliche Maske.«31 Pias fügt in Bezug auf Farockis Archiv hinzu: »Der Begriff der Geste müßte [sic] also den Begriff der Pathosformel erst einmal in einen konventionalisierten und tradierten Bewegungsablauf bestimmter Länge transformieren.«32 Die größte Gemeinsamkeit liegt aber darin, dass beide die Bilder in einem darstellerischen Zusammenhang (Film oder Tafel) sprechen lassen, um eine Aussage zu treffen. Auch Warburgs Bilder und ihre Verhältnisse zueinander wären rein durch Text ausdrückbar, aber sie müssen dann, wie es Farocki sagt, eben erst wieder durch Worte anwesend gemacht werden.33 Farockis Projekt wird außerdem mit der zwischen 1952 und 1972 entstandenen, jedoch nie abgeschlossenen Encyclopaedia Cinematographica verglichen: Die in Deutschland gegründete, später international agierende Organisation versuchte Bewegungsvorgänge aus sämtlichen Lebensbereichen durch filmische
30 Pias 2003, S. 105. 31 Ebd., S. 107. 32 Ebd. 33 Vgl. Farocki 2001: Bilderschatz, S. 12.
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Archiv- oder Lexikoneinträge festzuhalten.34 Ziel dieser Idee war es u. a. von sämtlichen Tiergattungen Filme zu deren Bewegungsvorgängen zu machen, um dadurch ein großes Archiv anlegen zu können. Insgesamt sind 4000 Filme entstanden, die in jeweils zweiminütigen Fassungen als Bestandteil einer Matrix bestehen sollten. Neben den Tierarten sollten auch sämtliche Pflanzenarten und Bereiche wie Technik oder Mechanik filmisch erschlossen werden. »Wenn man all diese Dinge in die Matrix gebracht hätte, dann wäre das die Encyclopaedia Cinematographica«35, so konstatierte Christoph Keller. Die einzelnen Beiträge wurden dabei als Kinematogramme und zu Beginn als Bewegungspräparate bezeichnet. »An diesem Begriff des Präparats, der ja etwas Präpariertes, also nicht Lebendiges bezeichnet, kann der Wunsch abgelesen werden, jenen Bereich des Lebens, der der genauen wissenschaftlichen Observation und Kontrolle bislang entglitt, nämlich die Bewegung, endlich greifbar zu machen«36, so Keller. In Bezug auf Farocki ist dieses Projekt komparabel, da die Encyclopaedia Cinematographica dazu dienen sollte, Bewegungsabläufe vergleichbar zu machen und zu konservieren. Und so kategorisiert Farocki Bilder filmischer Gattungen nach Motiven, um sie zu archivieren und damit abrufbar zu machen. Aber in Unterscheidung zur Encyclopaedia Cinematographica wird ein Motiv eben nicht durch eine Neuaufnahme erfasst, sondern durch das Sammeln und Suchen von bereits vorhandenem Material. Damit übernimmt Farockis Archiv filmischer Ausdrücke zugleich eine historisierende Funktion und reflektiert die mediale Verwendung einzelner Bewegungsabläufe oder filmischer Ausdrucksweisen. Um auch noch einmal auf Warburgs Mnemosyne-Atlas zurückzukommen, besteht die wichtigste Unterscheidung der drei Projekte – Harun Farockis Archiv filmischer Ausdrücke, Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und der Encyclopaedia Cinematographica – darin, dass Warburg eine inhaltliche, verborgene Beziehung zwischen den Bildern sichtbar machen wollte und nicht, wie es Farockis Archiv und die Encyclopaedia Cinematographica tun, nach formalen äußerlichen Kriterien zu suchen, wie Wolfgang Ernst konstatiert.37 Dem sei hinzugefügt, dass sich Farockis Fokus zwar primär tatsächlich auf greifbare Motive richtet, diese aber über die rein summarische oder analytische Funktion in Bezug zur gesellschaftlichen Bedeutung von Bildsprache setzt.
34 Vgl. Keller, Christoph: Archives as Objects as Monuments, in: Wolfgang Ernst, Stefan Heidenreich und Ute Holl: Suchbilder. Visuelle Kultur zwischen Algorithmen und Archiven. Berlin: Kadmos 2003, S. 46-51, hier S. 49. 35 Ebd., S. 50. 36 Ebd. 37 Vgl. Ernst und Farocki 2004, S. 267.
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Resümee Harun Farockis Idee eines Archivs filmischer Ausdrücke bzw. eines Bilderschatzes in Entsprechung zu einem Wortschatz kann als eine metaphorische künstlerische Arbeit für eine tatsächliche Sammlung von Bewegtbildmotiven begriffen werden. Sein Ansatz von einem Archiv ist dabei eng der Foucault’schen Auffassung eines Archivs verbunden. Michel Foucault begreift das Archiv weniger als einen konstanten Ort des Wissens, denn als den Ort einer stetigen Umschichtung, Transformation und Infragestellung dessen.38 »Das Archiv ist nicht das, was trotz ihres [der Zeit] unmittelbaren Entrinnens das Ereignis der Aussage bewahrt und ihren Personenstand als den einer Ausbrecherin für die zukünftigen Gedächtnisse aufbewahrt; es ist das, was an der Wurzel der Aussage selbst als Ereignis und in dem Körper, in dem sie sich gibt, von Anfang an das System ihrer Aussagbarkeit definiert«39, so Foucault. Farocki schafft mit dem Archiv filmischer Ausdrücke – ähnlich dieser Auffassung von Archiv – ein Regelwerk, das festhält, was in Bewegtbildern ausgedrückt werden kann. Also ein Archiv als die Summe dessen, was gesagt werden kann und damit auch wieder eine Art Wortschatz, der einer Grammatik zur Verwendung bedarf. Exemplarisch hat Farocki dies an vier Motiven ausgeführt, vom ersten der Filmgeschichte überhaupt in ARBEITER VERLASSEN DIE FABRIK bis zu operativen Bildern der Kriegstechnologie in AUGE/MASCHINE I-III. Dabei sind Farockis Beiträge im Kern stetige Versuche, nicht nur die einzelnen Motive ihrer Form und ihrem oberflächlichen Erscheinungsbild nach zu sammeln, sondern sie in ihrem Kontext und in Bezug zu ihrer Bedeutung zu sehen, die auch außerhalb der Leinwand verortet ist. Bemerkenswert ist dabei, dass die Grundmotivation zur Schaffung dieser Filme und Installationen, dem wissenschaftlichen Ziel geschuldet war, eine Art Enzyklopädie für filmische Ausdrucksformen zu schaffen. Changieren Farockis Arbeiten zwar grundsätzlich zwischen Dokumentar- und Kunstfilmen, kann hier darüber hinaus ein tatsächliches wissenschaftliches Forschungsinteresse als Initiator für einen kreativen Entstehungsprozess gesehen werden. Farocki überschreitet damit nicht die Grenzen seiner Gattung, denn er bleibt beim Film, doch er agiert durch das Medium Film, um mit Filmen selbst analytische und historische relevante Untersuchungen an Filmen durchzuführen.
38 Vgl. Foucault, Michel: Das historische Apriori und das Archiv, in: Knut Ebeling und Stephan Günzel (Hrsg.): Archiviologie. Theorie des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin: Kadmos 2009, S. 107-112, hier S. 111. 39 Ebd.
Do you remember the time... Slater Bradleys DOPPELGANGER TRILOGY N ADINE S ÖLL
In Hinblick auf die fließenden Überschreitungen und die zunehmende Verschränkung zwischen verschiedenen Kunstgattungen scheint der Aspekt transformativer Prozesse nicht nur symptomatisch, sondern unumgänglich für eine Charakterisierung zeitgenössischer Kunst zu sein. Eine Vielzahl ästhetischer Produktionen, die an den Schnittstellen von visueller Kunst, Performance und Musik angesiedelt sind, machen deutlich, wie schwierig es ist, allein mithilfe kunsthistorischer Mittel Kategorisierungen vorzunehmen. Doch nicht nur auf medialer, sondern auch auf inhaltlicher Ebene beobachtet man eine vielfältige Auseinandersetzung mit Umformungen, Ab- oder Verwandlungen. Es scheint, als würden Künstler auf diese Weise traditionelle Ansprüche auf eine komplett neue und originelle Kunst ablehnen und stattdessen bewusst den Fokus darauf setzen, Bezugspunkte, Zitate und Referenzen – aus der Kunstgeschichte ebenso wie aus anderen Bereichen – erkennbar zu machen und diese in ihrem eigenen Schaffen zu verhandeln und zu transformieren. Auf diese Weise entsteht im jeweiligen Kontext eine Ergänzung oder Alternative zum bisher Bestehenden. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, das Werk Slater Bradleys zu betrachten, dessen vielschichtiges Schaffen explizit Zitate sowie deren transformative Umsetzung und darüber hinaus die Verwandlung seiner eigenen Person thematisiert. Der Künstler setzt sich mit Verbindungsstellen von Kunst-, Musik- und Popkultur auseinander, indem er wiederholt popkulturelle Ikonen und das Verhältnis von Performer und Publikum, Stars und Fans hinterfragt. In seinem künstlerischen Vorgehen greift er auf eine große Bandbreite filmischer Genres zurück, etwa auf Musikvideos, Homevideos oder Stummfilme, aber auch auf das Avantgardekino der 1960er Jahre oder auf Hollywood-Musicals und unterzieht die Vielfalt der verwendeten ästhetischen Referenzen und ihrer Medien einer kritischen Untersuchung. Bradleys Werk beschäftigt sich mit Welten, die auf den
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ersten Blick real wirken, sich aber beim zweiten Hinsehen als verfremdet entlarven. Diese Wahrnehmung wird oft begleitet durch das unheimliche Moment des Déjà-vu oder das Erkennen von Figuren, die nicht die sind, die sie vorzugeben scheinen. Auf diese Weise beleuchtet er – häufig mithilfe der Pose oder Imitation – Identitätskonstruktionen an Grenzbereichen von Realität und Fiktion. Diese Reflektionen bestimmen insbesondere auch die Werke der DOPPELGANGER WORKS, ein andauerndes und komplexes Projekt, welches Performances, Fotos bzw. Fotocollagen und in erster Linie Videoarbeiten von 2001 bis heute umfasst. Neben der DOPPELGANGER TRILOGY (2001-2004), auf die ich im Anschluss ausführlicher eingehen werde, greifen weitere Arbeiten ebenfalls die Charaktere der Trilogie auf, z. B. GHOST (2001) oder INTERMISSION (20032005). Darüber hinaus umfasst die Serie aber auch Werke wie THE YEAR OF THE DOPPELGANGER (2004) und jüngst als Beginn vom Ende der DoppelgängerSerie1 CLEAN SLATE (2010), die an andere Figuren und Phänomene der Popkultur2 angelehnt sind und diese auf Aspekte wie Wahrnehmung, Erinnerung und Identität untersuchen. Alle Arbeiten sind Teil einer komplexen autobiografischen Fiktion, an welcher Bradley seit 1999 fortlaufend in Kooperation mit dem befreundeten Schauspieler Benjamin Brock arbeitet. Diese Zusammenarbeit ist bezeichnend, denn aus einer zufälligen optischen Ähnlichkeit der beiden heraus inszeniert der Künstler seitdem Brock als seinen »real life doppelganger«3 und nutzt die Experimente des Doppelgängerprojektes, um die Distanz zwischen real Existierendem und Fiktivem zu messen und die Grenzen von Selbst, Wahrnehmung, Erinnerung und Medien zu hinterfragen.
D OPPELGANGER T RILOGY Bradleys DOPPELGANGER TRILOGY, die 2005 im Solomon R. Guggenheim Museum, New York, ausgestellt wurde, gilt als die bisher herausragendste Arbeit des Künstlers. Die Trilogie setzt sich aus den bereits als Einzelwerke bestehen-
1
http://www.psm-gallery.com/content/clean-slate (zuletzt aufgerufen am 17.01.2011).
2
In THE YEAR OF THE DOPPELGANGER z. B. handelt es sich um John Bonham, den Schlagzeuger der Rockband Led Zeppelin, und in CLEAN SLATE um James Dean bzw. den Helden aus M. Ageyevs Roman NOVEL WITH COCAINE oder J. D. Salingers Protagonisten Holden Caulfield aus dem Roman THE CATCHER IN THE RYE.
3
Fleming, Paul: Phantom Archives: Slater Bradley’s Visions of an unlived Life, in: Slater Bradley: Lifetime Achievement Award, Kat. Ausst. Savannah College of Art and Design, Savannah 2006, S. 1-6, hier S. 4.
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den Arbeiten FACTORY ARCHIVES (2001-2002), PHANTOM RELEASE (2003) und RECORDED YESTERDAY (2004) zusammen. Protagonist der Videoarbeiten ist, wie bereits erwähnt, der Schauspieler Benjamin Brock, der sich mithilfe von Kostüm und Pose in die Rollen von Ian Curtis, Kurt Cobain und Michael Jackson begibt und diese von ihren Anhängern teils kultisch verehrten Musikerikonen bei einer nachgestellten Performance zeigt. Über den Weg der Imitation setzt Bradley sich mit der Ikonisierung dieser Figuren auseinander, wobei allerdings hinterfragt werden muss, inwiefern er mit seinem Vorgehen ebenfalls zu dieser Ikonisierung beiträgt. Der Künstler schreibt diesen Ikonen eine große Bedeutung innerhalb seiner eigenen Biografie zu4 und repräsentiert diese in den verschiedenen Arbeiten des Doppelgängerprojekts.
Abbildung 17: Slater Bradley, DOPPELGANGER TRILOGY, FACTORY ARCHIVES, 2001-02, Projection from a digital source, Edition 1/3, The Solomon R. Guggenheim Foundation, New York. In FACTORY ARCHIVES übernimmt Brock die Rolle von Ian Curtis, dem charismatischen Sänger der kurzlebigen Dark Wave oder Post-Punkband Joy Division. Die Band wurde 1977 unter dem Namen Warsaw gegründet und hatte sich in den Jahren 1978 bis zu Curtis’ frühem Tod im Mai 1980 eine loyale Fangemeinde erspielt. Curtis hatte sich im Alter von 23 Jahren am Vorabend der geplanten Amerikatournee der Band das Leben genommen und gilt seither für viele Fans weltweit als Prototyp des tragischen, an seinen eigenen Ansprüchen und Problemen gescheiterten Künstlers. Einigen der verbleibenden Bandmitglieder gelang
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Vgl. Bradley, Slater: Speak Memory. Reflections on the Doppelganger Trilogy, PAJ (A Journal of Performance and Art) 79 (2005), S. 108-110.
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mit der Nachfolgeband New Order der Aufstieg in die Mainstream-Charts. Der Titel der Arbeit verweist auf Factory Records, den Namen des Plattenlabels der Band. In der sehr dunkel gestalteten Videoaufnahme erscheint Curtis’ Silhouette durch den körnigen Dunst des verjährten Filmmaterials »as if retrieved from the vaults of Factory Records.«5 Die Repräsentation von Curtis’ öffentlicher Persona ist durch wenige Schwarzweißaufnahmen von Kevin Cummins oder Anton Corbijn geprägt, die den Sänger in der Regel mit ernsthafter, betrübter Miene zeigen. Bradley merkt an, dass es kaum Film- oder Videoaufnahmen der Band gibt,6 und dass der fiktive Mitschnitt in FACTORY ARCHIVES diese Leerstelle füllen soll.7 Die Aufnahme changiert zwischen Realität und Fiktion, denn Brock imitiert Ian Curtis’ charakteristische Bewegungen so überzeugend, dass selbst in Fankreisen zunächst angenommen wurde, bei dem Video handele es sich um vergessen geglaubte Originalaufnahmen der Band. Zudem nutzt Bradley die Akteure der Massenmedien, um sehr persönliche Themen anzusprechen und mithilfe öffentlicher Identifikationsfiguren eine Brücke zu seiner eigenen Vita herzustellen. So verweist die Identifikation mit Curtis auf den Umgang beider Künstler mit einer Krankheit – Curtis litt unter Epilepsie und bei Bradley wurde eine bipolare Störung8 diagnostiziert. Die Auseinandersetzung mit der Erkrankung gestaltet sich bei beiden ähnlich, indem sie versuchen, diese durch ihre Kunst zu sublimieren: Curtis, der die zuckenden Bewegungen eines epileptischen Anfalls als seine charakteristischen Tanzbewegungen adaptierte und stilisierte, und Bradley, der die ambivalente Natur seiner Gesundheitsstörung in ein kreatives Spiel mit Identität umwandelt. So ist auch das Doppelgängerprojekt ein Ausbalancieren der Ambivalenz und Elastizität von Identi-
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Spector, Nancy: Pressetext Guggenheim, in: http://pastexhibitions.guggenheim.org/ slater_bradley/index.html (zuletzt aufgerufen am 17.01.2011).
6
Der Künstler begründet die Ursache für diese technische Lücke im Übergang des Aufnahmemediums von Super 8 zur Videokamera, welche von Fans für Konzertmitschnitte genutzt wurden, und verweist darauf, dass die kurze Karriere der Band in diesen Zeitraum fiel, so dass nur vereinzelte Aufnahmen von TV-Auftritten oder Konzerten existieren. Als eine Ausnahme wäre das Video Here are the Young Men zu nennen, ein von der Plattenfirma Factory Records verbreitetes VHS-Video mit Aufnahmen der Band, das Bradley bei seiner Arbeit an FACTORY ARCHIVES als Vorlage diente. Vgl. Bradley 2005, S. 108.
7
Vgl. ebd.
8
Uran, Pelin: Slater Bradley. Journey to the far side of the sun, in: Uovo 11 (2006), S. 156-169, hier S. 165.
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täten – der des Musikstars, des Doppelgängers und des Künstlers. Das Ausbalancieren überträgt sich auch auf die Wechselbeziehungen mit dem Publikum und die Auseinandersetzung mit der Medialität der Übertragung. PHANTOM RELEASE, der zweite Teil der Trilogie, thematisiert das kulturelle Phänomen der in den 1990er Jahren allgegenwärtig verbreiteten privaten Videokameras und die damit zusammenhängende Entstehung von privaten Musikaufzeichnungen und Bootleg-Produkten. Seit der Entstehung des Musikfernsehens, insbesondere MTV9 in den 1980er Jahren, hat sich die Art des Musikkonsums in unserer Gesellschaft stark verändert.10 In dieser Arbeit stellt Bradley neben dem Originalitätsanspruch des Mediums auch den des Musikers infrage.
Abbildung 18: Slater Bradley, DOPPELGANGER TRILOGY, PHANTOM RELEASE, 2003, Projection from a digital source, Edition 1/3, The Solomon R. Guggenheim Foundation, New York. Wie der Titel PHANTOM RELEASE andeutet, stellt diese Arbeit nur ein Phantom bzw. einen Ersatz des Originals dar. Die im Stil einer Amateuraufnahme gestaltete Arbeit zeigt einen fingierten Live-Mitschnitt der Band Nirvana – Brock als 9
Zur Entstehung von MTV siehe Eudes, Yves: MTV, in: Art & Pop & Crossover, Kunstforum International 134 (1996), S. 110-113.
10 Das choreografierte Musikvideo ist aus unserer heutigen Wahrnehmung von Musik kaum mehr wegzudenken und wird im aktuellen Diskurs als Kunstwerk rezipiert. Nancy Spector, die Kuratorin der Ausstellung, beschreibt den Hintergrund dieser Arbeit wie folgt: »This fragment depicts an elusive performer just before the dawn of MTV, when the choreographed music video would forever change how culture consumes its rock ’n’ roll.« Spector, Nancy: Pressetext Guggenheim, in: http://past exhibitions.guggenheim.org/slater_bradley/index.html.
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Kurt Cobain und zwei weitere Darsteller, die als Mitglieder der in den frühen 1990er Jahren berühmt gewordenen Grunge-Band auftreten. Das rohe Ambiente der gezeigten Szene evoziert die Ästhetik zahlloser unautorisierter Konzertmitschnitte, wie man sie auf vielen der Band gewidmeten Homepages herunterladen kann. Bradley gibt im Video als Quelle die Internetseite www.digitalnirvana.net an, auf der Fans solche Mitschnitte veröffentlichen. In der Ausstellung im Guggenheim ergänzte er diese Videoarbeit mit Fotografien sowie einer Collage aus Zeitungsartikeln und formuliert auf diese Weise sein Anliegen, die Band so porträtieren zu wollen, wie er sie in seiner Jugend erlebt hat: als eine Collage aus Bildern und Videos, Konzertmitschnitten und MTV, Magazin-Covern und Live-Auftritten.11
Abbildung 19: Slater Bradley, DOPPELGANGER TRILOGY, RECORDED YESTERDAY, 2004, Projection from a digital source, Edition 1/3, The Solomon R. Guggenheim Foundation, New York. In der dritten Arbeit der Trilogie, RECORDED YESTERDAY, sieht man Brock in der Rolle von Michael Jackson, der auf einer leeren Bühne und ohne Zuschauer die zu Jacksons Signatur gewordenen Tanzbewegungen aufführt. Bradley begründet die Wahl des King of Pop bezugnehmend auf seine Autobiografie und zu den beiden Ikonen der Independentszene wie folgt: »Jackson, after all, became supremely famous in 1984 when I was nine. He was my first introduction into the realm of the rock star and with it, the worship factor, so there was a slight connection to the other two icons.«12
11 Vgl. Bradley 2005, S. 109. 12 Ebd.
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Der Materialzustand des aus verschiedenen Perspektiven gefilmten Tanzauftritts verschlechtert sich zunehmend bis hin zu an Filmrisse erinnernde Leerstellen und es scheint als drohe das im Super-8-Format gedrehte Schwarzweißmaterial während des Abspielens auseinanderzubröckeln. Bradley erklärt, dass der schadhafte Zustand des Films durch einen Unfall des Labors während der Entwicklung des Materials entstanden sei, er sich aber dafür entschied, das zerstörte Material als Inszenierungsmittel einzusetzen.13 Nancy Spector beschreibt die Wirkung von Bradleys Vorgehen als »ghostly, retro atmosphere that reflects the melancholic reality of a once brilliant career spiraling out of control«14 – also als Metapher für Jacksons außer Kontrolle geratene Karriere. Am Beispiel von RECORDED YESTERDAY gelingt es besonders gut, Materialzustand, Inhalt und Wirkung zu verschmelzen und so erklärt der Künstler die Zerstörung des Materials als »perfect metaphor for Michael Jackson’s own mediated surface destruction.«15
Verhandlungsebenen von Transformationen in der D OPPELGANGER T RILOGY In den beschriebenen Arbeiten lässt sich beobachten, wie u. a. drei Formen von Transformation verhandelt werden: die Transformation auf medialer Ebene, die Transformation von Identitätskonstruktionen und die von Wahrnehmung und Erinnerung. Wie bereits angedeutet, verwendet Bradley für die Aufnahmen jeweils eine Form der Technik, die historisch dem entsprechenden simulierten Aufnahmemoment des Ereignisses angepasst ist. Bei DOPPELGANGER TRILOGY handelt es sich um verschiedene Modelle von Vintage-Videokameras oder Super-8-Formate, was den Arbeiten einen amateurhaften Charakter verleiht. Die Ästhetik der Aufnahmen legt einen verblassenden Schleier über die Szenen, so dass Brocks Figuren teils mehr, teils weniger deutlich aus der Körnigkeit des Materials und der Bühnenbeleuchtung hervortreten. Oft erscheint das Material in einem zerschlissenen, angerissenen und entweder unter- oder überbelichteten Zustand, als ob es von den Zeichen der Zeit deformiert oder verzerrt wurde, oder wie Paul Fleming festhält: »Like a memory trying to reconstitute itself or a
13 Vgl. Uran 2006, S. 162. 14 Spector, Nancy: Pressetext Guggenheim, in: http://pastexhibitions.guggenheim.org/ slater_bradley/index.html. 15 Uran 2006, S. 168.
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dream wanting to come to life, each segment enacts a past that never was, a future that never will be.«16 Die einzelnen Filme und Videos, die jeweils ca. drei Minuten Spieldauer umfassen, wurden anschließend auf ein einheitliches digitales Trägermedium übertragen, so dass die DVD im Ausstellungsraum parallel auf drei Projektionsflächen im Loop gezeigt werden kann. Auch legt der Künstler Wert darauf, dass die Tonkomponente unter hoher Lautstärke abgespielt wird, wobei sich die Tonspuren von FACTORY ARCHIVES und PHANTOM RELEASE teilweise überlagern, während die Arbeit RECORDED YESTERDAY als stumme Arbeit angelegt ist, und ihren Soundtrack durch die umgebenden Arbeiten erhält. Bradleys reflektierter Umgang mit Material und Medium integriert mediale Transformationsvorgänge, sprich die Übertragung einer fingierten ephemeren Performance eines LiveEreignisses, welches in einem historischen Medium (Super-8-Film und Video) filmisch festgehalten wird, um dann wiederum auf ein aktuelles Trägermedium (DVD) übertragen zu werden. Zwar existieren noch Anleihen zum jeweiligen Kontext (TV-Aufzeichnung oder Amateuraufnahme), jedoch löst das mediale Vorgehen des Künstlers die Szenen aus diesem Kontext und überträgt sie in einen neuen, den des Referenz- und Ausstellungsraumes der Trilogie. Zusammenfassend dazu hält Fleming fest: »Everything that was recorded yesterday will end up in the factory archives only to exist in the end as a phantom release.«17 Neben Transformationsprozessen auf medialer Ebene finden sich in erster Linie auch inhaltliche Bezüge zu Ver- und Umwandlungen über die Figur des Doppelgängers. In ihren Ausführungen definiert Irene Schubiger den Begriff des Doppelgängers als eine Leitkategorie der Selbstdarstellung in der zeitgenössischen Videokunst und verweist auf die Kulturgeschichte des Motivs.18 In Hinblick auf Bradleys Schaffen ist dabei insbesondere der Aspekt des Self-Editing interessant, da der Künstler in seinen Arbeiten geschickt als Regisseur von Identitätskonstruktionen und Erinnerungen in Erscheinung tritt. So wird in seinen Werken die Frage offen gelassen, wer eigentlich als Doppelgänger zu verstehen ist, denn weder handelt Brock eindeutig als Bradley, noch nimmt er einfach die Rolle der kulturellen Ikonen ein. Vielmehr ist es Brock, der Bradley spielt, um
16 Fleming 2006, S. 4. 17 Ebd., S. 5. 18 Schubiger, Irene: Selbstdarstellung in der Videokunst. Zwischen Performance und »Self-Editing«, Berlin: Reimer 2004.
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somit wiederum die Rollen moderner rock/pop-mythologischer Figuren zu verkörpern und die Erinnerung an diese Ikonen aufrechtzuerhalten.19 Verschleiert durch die jeweils entsprechende Verkleidung, Körperhaltung und Gesten – und darüber hinaus verunklärt durch die sich verschlechternde Qualität der Filmaufnahmen – erscheint der Doppelgänger zugleich als Niemand und als Jedermann.20 Im Moment der Imitation tritt der Künstler einerseits vor dem Doppelgänger zurück und überlässt ihm die Ausführung der Verwandlung, zugleich ist er deren Initiator, der diese inszeniert und aufzeichnet. In diesem Prozess findet wortwörtlich eine mehrfache Transformation von Identitätskonstruktionen statt. Während in der Literatur häufig der Doppelgänger die Oberhand behält und das Geschehen bestimmt, indem er z. B. in einer Komödie für Verwirrungen sorgt, um sein Umfeld zu täuschen und dabei eine Aneinanderreihung von Missverständnissen und Folgeereignissen hervorrufen kann, ist es an dieser Stelle jedoch Bradley, der in seinen Videoarbeiten die Initiative ergreift und die Situation bestimmt. Bradleys Schaffen zeigt vor allem ein Interesse an den Leben, die man selbst nicht leben kann; in seinem Spiel mit Identität und Rollentausch liegt das unerklärliche Moment der Multivalenz der Rolleninszenierung seines Doppelgängers. Darüber hinaus sind Bradleys Reflektionen eine Auseinandersetzung mit komplexen Themen wie Identität, Identifikation, Ikonisierung oder auch Isolation. Im Rahmen dieser umfassenden Fiktion geht Bradley der Frage nach, wie wir werden, was wir sind, und erkundet Möglichkeiten, unsere Geschichte(n) neu zu schreiben.21 Das Thema Erinnerung und die (Re-)Konstruktion bzw. Transformation von Erinnerung nimmt im Werk des Künstlers ebenfalls eine zentrale Rolle ein. Bradley versucht in seinen Projekten ein zweites »set of recordings«22 zu produzieren, um mithilfe einer Sicherheitskopie Erinnerung zu konservieren. Dabei lässt sich jedoch nicht verhindern, dass Erinnerung auch transformiert bzw. manipuliert wird. Bradleys Doppelgängerprojekt ist eine Auseinandersetzung und Reaktion auf den Verlust, den Fans empfinden, wenn sie mit dem Tod ihres Idols konfrontiert werden: »The untimely loss of icons is a central part of rock mythology, experienced by Bradley’s generation principally through the deaths of
19 Paul Fleming zieht für dieses komplexe Vorgehen den Begriff des triplegangers heran. Vgl. Fleming 2006, S. 4. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. ebd. für die Ausführungen des letzten Abschnitts. 22 Ebd.
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Cobain and Curtis«23, bemerkt dazu ein Vertreter der Galerie des Künstlers. Dieser fährt fort, dass während der Aufstiegsphase einer Musikgruppe häufig ein enges Verhältnis zwischen Sänger und Publikum entsteht, welches im Fall von Curtis’ und Cobains Tod zu einem abrupten Ende gezwungen wurde: »The toll that these repeated violent ruptures take on their fans whose only closure is a very public, highly mediated period of grieving, is a sorrowful unknown.«24 Bradleys Doppelgängerarbeiten gehen dieser Form des Trauerns nach und spiegeln eine vielschichtige Auseinandersetzung mit diesem Phänomen. Sowohl Curtis als auch Cobain hatten während ihrer kurzen, aber bedeutungsvollen Karrieren bereits breite Anerkennung als Musiker erreicht, aber erst nach ihrem Suizid wurden sie auch über ihre Fankreise hinaus zu Kultfiguren stilisiert. Michael Jackson lebte noch als die Videoarbeit entstand, doch sein langsamer Abstieg vom Thron des King of Pop war bereits über Jahre hinweg von den Medien begleitet worden. Was die drei Figuren der Trilogie in Bradleys Augen verbindet, ist ihr Status als »fallen heroes«25, die gewissermaßen durch seine Arbeit wieder aufgerichtet werden sollen. Vor allem wenn, wie im Fall der DOPPELGANGER TRILOGY, auch der Verlust eines Idols thematisiert wird, können das Bedürfnis, bestimmte Momente festhalten zu wollen, und der Gedanke des Konservierens nicht außer Acht gelassen werden. Die Arbeiten der DOPPELGANGER WORKS nehmen die Rollen eines Gedenksteins für die musikalischen Ikonen ein und fungieren zugleich als Erinnerungsträger für die hinterbliebenen Fans. Bradley begreift die Kopien seiner Arbeiten als Ersatz für das verlorene Original in einer Ära, bevor Portale wie YouTube Zugang zu weiterer Footage ermöglichten: »They’re about trying to fill the void when someone is dead and you need more footage of them. You need to get the same high you once did when you were younger, listening to 26
their stuff, but there’s no footage left.«
Die Figuren der Doppelgänger-Trilogie – ihre Songs, Bewegungen und Gesten – sind dem Publikum bereits bekannt. Durch das Zitieren und Imitieren sowohl der Ikone als auch des Mediums ihrer Übertragung, erschafft Bradley eine zweite
23 http://www.teamgal.com/artists/slater_bradley/exhibitions/46 (zuletzt aufgerufen am 17.01.2011). 24 Ebd. 25 Spector, Nancy: Pressetext Guggenheim, in: http://pastexhibitions.guggenheim.org/ slater_bradley/index.html. 26 Coburn, Tyler: Man in the Mirror, in: ArtReview 17 (2007), S. 74-77, hier S. 76.
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Geschichte, welche die Musiker nicht nur als glänzende Stars zeigt, sondern auch als sensible, menschliche und zerbrechliche Personen jenseits der Bühne. Bradleys Imitationen der Ikonen transformieren zu einem gewissen Grad deren faszinierend mysteriöses Image, zumindest aber wird ihr Image um eine persönlichere, wenn auch imaginierte Ebene ergänzt. Mithilfe des Doppelgängers stellt der Künstler Brock in den Raum seiner eigenen als auch der kollektiven Wunschvorstellungen und Träume. Die Linearität der Zeit wird durchbrochen, indem ein eigentlich ephemeres Konzerterlebnis und das Gefühl, bei diesem dabei gewesen zu sein, in ein bleibendes und wiederholt abrufbares Moment der Erinnerung verwandelt wird.27 Bradleys Arbeiten bilden somit einen abstrakten Zeitbegriff ab und präsentieren sich als »present time out of joint or a time that never took place«28 und können auch als privates Archiv unrealer Ereignisse verstanden werden. Neben der DOPPELGANGER TRILOGY umfassen die DOPPELGANGER WORKS als umfangreichste Werkgruppe des Künstlers weitere Videoarbeiten und Fotoaufnahmen, die sich ebenfalls auf die Charaktere der Trilogie beziehen. Das früheste dieser Projekte und zugleich Auftakt der Serie ist die eingangs erwähnte Arbeit GHOST, die aus Archivmaterial einer Überwachungskamera des National Museum of Film, Televison and Photography in Bradford, England, überspielt wurde und Brock als Ian Curtis bei einer Ausstellungseröffnung des Museums zeigt.29 Die pulsierenden Bilder mit Brocks zurückhaltender Performance als ein die Treppe hinabsteigender Geist von Ian Curtis30 vergleicht Fleming mit »pirating footage from a secret security system in the underworld«31, als versuche Bradley die letzten Momente von Brock bzw. Curtis festzuhalten, bevor dieser Schritt für Schritt in den Hades zu verschwinden und nie mehr wiederzukehren droht. Neben der wiederholten Auseinandersetzung mit der Figur Ian Curtis’, bezieht sich Bradley in verschiedenen Arbeiten auch auf Michael Jackson. In INTERMISSION z. B. greift er die Thematik früherer Filme auf,32 und setzt diese
27 Vgl. Fleming 2006, S. 4. 28 Ebd., S. 1. 29 Der Anlass war Bradleys erste Beteiligung an einer Gruppenausstellung in einem Museum, die hier vor Ort im Rahmen der Ausstellung In a Lonely Place stattfand. 30 Vgl. Fleming 2006, S. 4. 31 Ebd. 32 Neben den Arbeiten DOPPELGANGER TRILOGY und INTERMISSION setzt sich THE ANIMALS (2001) mit Jackson auseinander. Darin versucht Brock als Jackson-Figur mit zwei Jungen und einer Gruppe von Tieren eine seltsame Version der Arche Noah zu kreieren.
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stilistisch in der Ästhetik eines Stummfilms um,33 wobei er sich speziell auf die verbindenden Zwischentitel aus Friedrich Wilhelm Murnaus Meisterwerk SUNRISE: A SONG OF TWO HUMANS (USA 1927) bezieht.34 Bei den hier eingesetzten Zwischentiteln handelt sich jedoch um die Transkription des Songtextes Have you seen my Childhood?35 von Michael Jackson. Der Betrachter folgt der Doppelgängerfigur durch eine verlassene Schneelandschaft, deren kahle Bäume als Metapher für eine Kulturlandschaft stehen, die ebenso schnell und schonungslos Mythen erschafft wie sie diese zerstört.36 Bradley unterlegt diese Szene mit den Kinderstimmen zweier Jungen im Gespräch mit ihrem Vater, die sich über das Verhalten von Aasgeiern unterhalten,37 exemplarisch für den Medienumgang, dem Jackson während seines Karriere-Abstiegs ausgeliefert war.
Zusammenfassung Bradleys Werk bietet mithilfe des Doppelgängers eine komplexe Reflektionsfläche für Themen wie Identitätsfindung, Selbstinszenierung und das Spiel mit der Aneignung des Lebens Anderer. Die imaginierten Performances des Künstlers beinhalten meist eine Referenz an autobiografische Momente und zeichnen zugleich ein allgemeineres Bild der Verführung von Hingabe, Ruhm und der Erotik des Fan-Daseins. In seiner Auseinandersetzung mit der Beziehung von Fans zu ihren Idolen nimmt der Künstler gleichzeitig die Rolle des Fans und die des Produzenten einer neuen ästhetischen Erfahrung ein, welche wiederum Anknüpfungspunkte für andere schafft. Das autobiografische Element der Arbeiten wird durch die Beteiligung des Doppelgängers Brock zwangsläufig gebrochen und komplexer. Indem sich Bradley gewissermaßen ausklammert und sein Double agieren lässt, entsteht ein imaginärer Raum, in dem der Künstler die Authentizität seiner Arbeit und seiner Position infrage stellt, wobei diese Reflektionen zum Doppelgänger immer einer gewissen Unterbrechung, Distanz und einem intensiven Reflektions- und Abs-
33 Bradley bezieht sich bereits in RECORDED YESTERDAY auf das Medium des Stummfilms, wenn er sagt: »have it look like a Chaplin silent film.« Bradley 2005, S. 110. 34 Vgl. Fleming 2006, S. 5. 35 Vgl. http://www.poemhunter.com/song/childhood/ (zuletzt aufgerufen am 17.01. 2011). 36 Vgl. Pressetext Galerie Lisa Ruyter, in: http://kunstaspekte.de/index.php?tid=15649& action=termin (zuletzt aufgerufen am 17.01.2011). 37 Vgl. Fleming 2006, S. 5.
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traktionsprozess unterliegen. Paul Fleming beschreibt die synchronisiert durchkomponierte Kooperation wie folgt: »Bradley’s doppelgänger allows the artist to do what is out of reach to common mortals: he splits into artist and object, is on both sides of the camera at once, thus allowing him to 38
cast an irony laden gaze on the whole creative process.«
Bradleys Schaffen überwindet Grenzen, Räume und Zeit und transformiert Wahrnehmung und Erinnerung, indem er dem Betrachter alternative Lesarten vertrauter Bilder und Geschichten anbietet. Dabei setzt er sich an Schnittstellen von Realität und Fiktion mit verschiedenen Bereichen von Kunst, Alltag, Subkultur und Musik auseinander. Sein Umgang mit dem Betrachter gestaltet sich sehr subtil und dennoch komplex: Durch Imitation und Zitat bringt der Künstler auf dem Wege medialer sowie inhaltlicher Transformationsprozesse bestimmte Momente, Objekte oder Figuren ins Leben zurück und damit zurück in unsere Erinnerung. Auf diesem Weg gelingt es ihm, dem Publikum gewisse Momente, Ereignisse und Erlebnisse wiedererlebbar zu machen, die in den meisten Fällen jenseits der Betrachter-Realität liegen.
38 Pressetext Galeria Helga de Alvear (16.05.2007), in: http://www.nexo5.com/n/len/0/ ent/276/at/368/tonicclonic-helga-de-alvear-presents-slater-bradleys-work-within-thefestival-phe07 (zuletzt aufgerufen am 10.02.2011).
Autorinnen und Autoren
Isabella Augart promoviert über wirkungsästhetische Strategien bei manieristischen Altarbildern mit eingebettetem Gnadenbild. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die italienische Malerei der Frühen Neuzeit, Typologie in der altniederländischen Kunst und Wahrnehmungs- und Emotionsgeschichte. Jennifer Bleek promovierte in Kunstgeschichte über das Frühwerk des USamerikanischen Filmregisseurs Terrence Malick und arbeitet zur Zeit an einem Forschungsprojekt über das Helldunkel in bildender Kunst, Fotografie und Film. Ihre Interessen gelten Fragen der Bildwissenschaft und Methodik, vor allem in der Kunst der Frühen Neuzeit in Italien sowie der Moderne, hier mit Schwerpunkten auf Fotografie und Film. Anastasia Dittmann arbeitet an einem Promotionsprojekt zur französischen Aktfotografie der 1860-1890er Jahre. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die englische Porträtmalerei des 18. Jahrhunderts, Aspekte und Transformationsprozesse der Antikenrezeption im 17. bis zum 19. Jahrhundert sowie der Themenkreis der lebenden Bilder. Frédéric Döhl, promovierter Musikwissenschaftler und Volljurist, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 626 an der Freien Universität Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fragen der musikalischen Entgrenzung im zeitgenössischen Komponieren, des Urheberrechts und der Gattungsgeschichte im Bereich klassischer Kammermusik. Miriam Drewes promovierte zum Thema Theater als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz im Jahr 2008. Seitdem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der LudwigMaximilians-Universität München. Außerdem ist sie als Spielfilmdramaturgin
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tätig und hat die Programmleitung des Nachwuchsförderungsprogramms des Bayerischen Filmzentrums First Movie Program inne. Johanna Gundula Eder promoviert über Kreativität und deren Förderung im interdisziplinären Kontext der Künste. Einen besonderen Schwerpunkt legt sie dabei auf das Prinzip der Vernetzung. Unter diesem Vorzeichen steht auch ihre Lehrtätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo sie Aspekte der Kunstgeschichte, Kunsttheorie und Kunstpädagogik vermittelt. Simone Fohr-Manthey promoviert über die Künstlerin Charlotte Salomon, wobei die Schnittstellen von Bild, Text und Musik im Fokus stehen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die europäische Avantgarde, Grenzbereiche der Künste, Wechselwirkungen künstlerischer Funktionsweisen und Zeichensysteme sowie die Funktion und Ästhetik der menschlichen Gesangsstimme. Außerdem widmet sie sich der Gesangs- und Tanzpraxis. Astrid Hackel promoviert über Inszenierungen von Blindheit und Geschlecht in zeitgenössischer Literatur und im Theater. Ihre Forschungsinteressen liegen auf Performances und Tanztheater seit den 1960er Jahren sowie den Schnittstellen von Literatur- und Kunstwissenschaft. Shelley Harten schreibt ihre Dissertation über Repräsentationen des Arabischen in der zionistischen und israelischen bildenden Kunst. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kultur und Konfliktforschung, Israel-Palästina Studien, Orientalismus und (Post-)Kolonialismus an den Schnittstellen der Geschichts-, Politikund Kunstwissenschaft. Saskia Jogler arbeitet an ihrem Dissertationsprojekt über die Narrenporträts des spanischen Hofmalers Diego Velázquez. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die spanische Malerei des Siglo de Oro, barocke Ausstattungsprogramme und künstlerische Selbstdarstellung in der Frühen Neuzeit. Lars Robert Krautschick promoviert zu den Themengebieten Horrorfilm und Intermedialität. Seine momentanen Forschungsexkurse liegen in den Bereichen Quellenstudien, Hyperrealismus sowie weiteren speziellen Film- und Theaterästhetiken im intermedialen Zusammenspiel.
A UTORINNEN
UND
AUTOREN | 333
Stephanie Sarah Lauke promoviert zu Re-Inszenierungen von Videoinstallationen in den Massenmedien an der Kunsthochschule für Medien Köln. An der Schnittstelle von Kunst- und Medienwissenschaft arbeitend, widmet sie sich den Forschungsschwerpunkten Bildgeschichte und -theorie, Dokumentarfilm und Intermedialität. Stefanie Loh hat 2011 ihre Promotion über Tagebuchstrategien in der Fotografie abgeschlossen, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Kunstund Kunstwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und lehrt Fototheorie an der Folkwang Universität der Künste Essen. Julia Quandt hat Kunstgeschichte, Theater- und Medienwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg studiert und ihre Magisterarbeit über Malerei im Film verfasst. Seit Januar 2011 arbeitet sie als wissenschaftliche Volontärin in der Deutschen Barockgalerie der Kunstsammlungen und Museen Augsburg. Ruth Reiche promoviert über Strategien des Narrativen in Film- und Videoinstallationen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Kunstgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts und bewegen sich an den Schnittstellen zwischen Filmund Kunstwissenschaft. Iris Romanos verfasst ihre Dissertation über Entwicklung und Bedeutung des Glasdesigns der Kristallglasmanufaktur Theresienthal. Ihr wissenschaftlicher Fokus liegt auf Malerei, Druckgrafik und Kunstgewerbe des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere im Symbolismus, Jugendstil und Art déco. Nadine Söll promoviert über Repräsentationen von Musikkulturen in zeitgenössischer Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Ihre Forschungsschwerpunkte sind interkulturelle Kontaktzonen an den Schnittstellen zwischen Musik- und Kunstwissenschaft. Berenika Szymanski hat 2011 ihre Promotion über die Theatralität polnischer Oppositionsbewegungen im Polen der 1980er Jahre abgeschlossen und arbeitet inzwischen als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Theaterwissenschaft an den Universitäten München und Bayreuth. Alexandra Vinzenz fertigt ihre Dissertation über die Rezeption und Modifikation des Konzepts Gesamtkunstwerk vor allem in der Performance Art nach 1945 an. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen interdisziplinäre Felder zwischen
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Kunst, Musik und Theater, was Fragen nach der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts genauso wie der Kunst und Kunsttheorie der Moderne beinhaltet. Darüber hinaus ist sie als Lehrbeauftragte am Kunstgeschichtlichen Institut in Marburg beschäftigt. Monika Wermuth arbeitet an einem Dissertationsprojekt zu Harun Farockis Produktionsmodell und seiner Theorie der Arbeit. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der politischen Kunst und des nonlinearen Erzählens im digitalen Film. Magdalena Zorn arbeitet an ihrer Dissertation über den Opernzyklus LICHT von Karlheinz Stockhausen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die geistliche Musik und das Musiktheater des 20. und 21. Jahrhunderts.
Bildnachweis
Abbildung 1 – Krautschick, S. 55: Überlagernde transmediale Strukturübertragung, © Lars Robert Krautschick, 2010. Abbildung 2 – Krautschick, S. 61: Autoreferenzierendes Mediensimulacrum, © Lars Robert Krautschick, 2011. Abbildung 3 – Drewes, S. 72: Kopf einer Gummipuppe in BUBBLE; Screenshot, DVD Bubble, Metropolitan Filmexport, 2006. Abbildung 4 – Drewes, S. 73: Debbie Doebereiner als Martha in BUBBLE; Screenshot, DVD Bubble, Metropolitan Filmexport, 2006. Abbildung 5 – Augart, S. 80: Jan van Eyck, VERKÜNDIGUNG, 1434, Öl auf Eiche/Leinwand, 92,7 x 36,7 cm, National Gallery of Art, Washington, in: Hans Belting und Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes, Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München: Hirmer 1994, Farbtafel 43 (prometheus Bildarchiv). Abbildung 6 – Augart, S. 87: Meister der Maria von Burgund, KREUZANNAGELUNG, STUNDENBUCH DER MARIA VON BURGUND, 1475-1480, Öl auf Pergament, 22,5 x 16,3 cm, Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Cod. 1857, fol. 43v, in: Hans Belting und Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert
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der niederländischen Malerei, München: Hirmer 1994, Abb. 165 (prometheus Bildarchiv). Abbildung 7 – Lauke, S. 116: Doug Aitken, SLEEPWALKERS, 2007, Videoinstallation, Installationsansicht Museum of Modern Art, New York (Courtesy: 303 gallery, New York, Galerie Eva Presenhuber, Zürich und Doug Aitken. Fotograf: Fred Charles). Abbildung 8 – Reiche, S. 134: Eija-Liisa Ahtila: THE HOUSE, 2002, 14 Minuten, DVD-Installation für drei Projektionen mit Sound, © Crystal Eye Ltd, Helsinki, Installationsansicht: Tokyo Opera City Gallery, Courtesy Marian Goodman Gallery, New York und Paris, Foto: Keizo Kioku. Abbildung 9 – Bleek, S. 209: Humphrey Bogart als Samuel Spade im Gespräch mit Mary Astor alias Brigid O’Shaughnessy in THE MALTESE FALCON; Screenshot, DVD Die Spur des Falken, Warner Home Video, 2006. Abbildung 10 – Bleek, S. 210: Spade zwischen seinem Partner Miles Archer (Jerome Cowan) und Brigid in THE MALTESE FALCON; Screenshot, DVD Die Spur des Falken, Warner Home Video, 2006. Abbildung 11 – Dittmann, S. 224: Gaudenzio Marconi, NU MASCULIN DANS L’ATTITUDE D’ADAM DANS LA »CREATION D’ADAM« DE MICHEL-ANGE, 1869, Abzug auf Albuminpapier, 16 x 25 cm, Bibliothèque Nationale de France. Départment des Estampes et de la Photographie, Paris, in: Alain d’Hooghe: Autour du symbolisme. Photographie et peinture au XIXe siècle, Antwerpen: Fonds Mercator et al. 2004, S. 63, Kat.-Nr. 167. Abbildung 12 – Fohr-Manthey, S. 268: Edward Elgar, SEA PICTURES, SEA SLUMBER SONG, 1899, Text: Roden Noel, in: Edward Elgar: Sea Pictures. A Cycle of Five Songs, op. 37. Contralto and Piano, London: Boosey and Hawkes 1974, S. 6.
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Abbildung 13 – Fohr-Manthey, S. 268: Edward Elgar, SEA PICTURES, THE SWIMMER, 1899, Text: Adam Lindsay Gordon, in: Edward Elgar: Sea Pictures. A Cycle of Five Songs, op. 37. Contralto and Piano, London: Boosey and Hawkes 1974, S. 35. Abbildung 14 – Harten, S. 286: David Reeb, GREEN LINE WITH GREEN EYES, 1987, Acryl auf Leinwand, 105 x 160,5 cm, Tel Aviv Museum of Art (Courtesy of the artist). Abbildung 15 – Loh, S. 296: Raymond Depardon, 1978, RUE CHRISTINE – 6. ARRT, Schwarzweißfotografie, 22 x 20 cm, in: Raymond Depardon: Paris Journal, Künstlerbuch, Paris: Hazan 2004, S. 17. Abbildung 16 – Loh, S. 298: Rinko Kawauchi, 13.6.2005, digitale Farbfotografie mittels eines Mobiltelefons, 3 x 4 cm, in: Rinko Kawauchi: Rinko Nikki (Rinko’s Diary), Künstlerbuch, Tokyo: Foil 2006 (ohne Seitenangaben). Abbildung 17 – Söll, S. 319: Slater Bradley, DOPPELGANGER TRILOGY, FACTORY ARCHIVES, 2001-02, Projection from a digital source, Edition 1/3, Dimensions variable, The Solomon R. Guggenheim Foundation, New York, 2004.73. Abbildung 18 – Söll, S. 321: Slater Bradley, DOPPELGANGER TRILOGY, PHANTOM RELEASE, 2003, Projection from a digital source, Edition 1/3, Dimensions variable, The Solomon R. Guggenheim Foundation, New York, 2004.73. Abbildung 19 – Söll, S. 322: Slater Bradley, DOPPELGANGER TRILOGY, RECORDED YESTERDAY, 2004, Projection from a digital source, Edition 1/3, Dimensions variable, The Solomon R. Guggenheim Foundation, New York, 2004.73.
Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Dezember 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
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