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German Pages 266 Year 2018
Eva Knopf, Sophie Lembcke, Mara Recklies (Hg.) Archive dekolonialisieren
Edition Kulturwissenschaft | Band 173
Eva Knopf, Sophie Lembcke, Mara Recklies (Hg.)
Archive dekolonialisieren Mediale und epistemische Transformationen in Kunst, Design und Film
Eine Publikation des interdisziplinären Forschungsverbundes »Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformation« der Universität Hamburg und der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, Sprecherinnen: Prof. Gabriele Klein und Prof. Claudia Benthien.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Ofri Lapid, Berlin, 2018 Korrektorat: Konstantin Bessonov Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4342-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4342-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort: Archive dekolonialisieren Ein Versuch Eva Knopf · Sophie Lembcke · Mara Recklies | 7 Kontrafaktische Provokationen im ethnographischen Archiv Alyssa Grossman | 13 Koloniale Erbstücke Eine Objektperformance Marie Kirchner | 33 Omnia sunt Communia: Das kulturelle Erbe hacken Original und Kopie im ethnographischen Museum Sophie Lembcke | 47 Zur Relevanz von Museen im digitalen Zeitalter Nora Al-Badri · Jan Nikolai Nelles | 65 Das Bild, das weiße Blatt und die Leere Trinh T. Minh-ha | 75 Die Suche nach Mohamed Husen im kolonialen Archiv Ein unmögliches Projekt Eva Knopf | 83 A Wide Range of Items making Art and the Future What would Kurt Schwitters most likely do in Post-War Breslau? Anna Markowska | 107 Détournement der Dinge Eine Gebrauchsanweisung Veronika Darian · Jana Seehusen | 125
Auf der Oberfläche von Text Ofri Lapid | 147 Colonial Neighbours Ein partizipatives Archivprojekt von SAVVY Contemporary Lynhan Balatbat-Helbock · Marlon Denzel van Rooyen · Marleen Schröder · Jorinde Splettstößer | 151
Wie Archive aus antikolonialen Befreiungskämpfen in die Zukunft gewendet werden Cornelia Lund | 163 Weltfragment Von Dingen in Archiven zu Archiven in Dingen Undine Stabrey | 177 Archive des Kolonialen Übersetzungen kulturellen Erbes im Tanz Marc Wagenbach | 191 Epistemisch ungehorsam sein Zur Dekolonialisierung von Designdiskursen Mara Recklies | 207 Reale imaginierte Gemeinschaften Nationale Narrative und die Globalisierung der Designgeschichte Kjetil Fallan · Grace Lees-Maffei | 223 Pop und Hybrid-Pop Überlegungen zur Dekolonialisierung von Pop-Musik und ihrer neuen globalen Geschichtsschreibung Holger Lund | 241 Fragen zur Kolonialität der europäischen Ästhetik Ruth Sonderegger | 251 Kurzvitae der Autor*innen | 259
Vorwort Archive dekolonialisieren – ein Versuch Eva Knopf · Sophie Lembcke · Mara Recklies In den letzten Jahren sind in verschiedenen akademischen Disziplinen eine Reihe von Auseinandersetzungen mit Archiven geführt worden, die sowohl den konzeptuellen Ort des Archivs erweitern als auch neue Orte zu Archiven erklären. Dabei ist die Aufforderung, Archive zu dekolonialisieren, begleitet von vielen Fragen: Ist dies überhaupt möglich – und wenn ja, durch wen und wie? Die hier versammelten Artikel befassen sich mit einem weiten Spektrum von Archiven, wodurch mit der Zusammenschau eine Interdependenz zwischen konkreten Sammlungen und abstrakten Wissensformationen unterstellt ist. Einige der Beiträge untersuchen die epistemische Ebene, andere gehen Objekten oder Lücken in spezifischen Archiven nach oder intervenieren in Fortschreibungen kolonialer Zusammenhänge.
Translating Pasts into Futures Der Ausgangspunkt für dieses Buch fand sich in den Fragen, die auf dem von uns verantworteten Symposium Translating Pasts into Futures – Dekoloniale Perspektiven auf Dinge im Oktober 2017 an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg (HFBK) aufgeworfen wurden. Hintergrund der Veranstaltung war unsere Zusammenarbeit in dem interdisziplinären Forschungsverbund Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformation der Universität Hamburg und der HFBK (2015 – 2017), in dem wir in sieben Teilprojekten aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen die miteinander verwickelten Prozesse des Übersetzens und Rahmens unter medienkritischen und interkulturellen Gesichtspunkten ausloteten. Dies führte unsere Arbeitsgruppe zu einer Hinwendung zu der Frage: Was und wie übersetzen Dinge, wie und wodurch sind sie gerahmt? An zwei Tagen luden wir Künstler*innen, Kurator*innen und Theoretiker*innen an die HFBK, um dieser Frage in Tanz-, Objekt- und Lectureperformances, akademischen Vorträgen, gemeinsamen Diskusionen und Berichten aus der künstlerischen und kuratorischen Praxis kritisch nachzugehen. Um den Austausch untereinander zu befördern, entwickelten wir situative Workshop-Formate, die mit den Vortrags-Formaten zeitlich gleichwertig im Programm verankert waren und vier Themenberei-
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Eva Knopf · Sophie Lembcke · Mara Recklies che fokussierten: Material, Bewegung, Objekte, Archive. Dieser Ungehorsam gegen etablierte und disziplinierte Formate der Wissensproduktion, lässt sich in dem akademisch geforderten, ›klassischen‹ Sammelband-Format schwer abbilden. Wir versuchen diesen Rahmen zu dehnen, indem wir experimentelle Textformate in diesen Band aufgenommen haben. Leitgedanken, die sich in der Diskussion der Teilnehmer*innen herauskristallisierten und die wir in der Buchplanung weiterverfolgten, waren: Die Arbeit mit Dingen ermöglicht eine Bewegung durch die Zeit, um im Rückgriff auf die Narrative von Vergangenheiten mögliche Zukünfte zu entwerfen und zu formulieren. Insbesondere koloniale und anti-koloniale Archive sind dabei immer wieder in das Blickfeld der Teilnehmer*innen gerückt. Wobei wir die interventionistischen Potentiale von Übersetzungen und Rahmenbrüchen ausgelotet haben. Welche künstlerischen, gestalterischen, kuratorischen oder akademischen Interventionen sind nötig, um neue Erzählungen hervorzubringen? Kann eine künstlerische oder theoretische Intervention in diese Herrschaftsverhältnisse die notwendige Sprengkraft entwickeln, um strukturelle Verschiebungen auszulösen? Auch die Frage, wer sich aus welcher Positionierung mit den Dingen beschäftigt oder überhaupt Zugang zu den Archiven hat, wurde zu einer entscheidenden – denn nicht jedwede Beschäftigung mit kolonialem Archivmaterial unterbricht die (post-)kolonialen Strukturen und löst (nationalistische) Herrschaftsverhältnisse auf. Sodass zusammenfassend festgestellt werden kann, dass eine Gesellschaft stets erneut auszuhandeln hat, was sie konservieren will, was in Bewegung gehalten werden muss und was dem Verfall und Vergessen anheimgegeben werden soll.
Jetzt: Archive dekolonialisieren! Die versammelten Beiträge bilden spezifische Einblicke in die Praktiken von Wissenschaftler*innen und Kurator*innen, Aktivist*innen und Künstler*innen, die sich auf ihre Art ungehorsam gegenüber der westlichen Epistemologie zeigen und an der Dekolonialisierung von Archiven arbeiten. Sei es, dass die strukturellen Vorbedingungen von Wissensproduktion über und mit den Dingen herausgearbeitet werden oder spezifische Interventionen in diese Wissensbestände versucht werden. In den Diskussionen zeigte sich, dass viele Beitragende das Gefühl teilten, oft auch an der eigenen akademischen Sozialisierung zu scheitern, die erst einmal verlernt werden will. Insofern ist der Ihnen vorliegende Band auch ein Werkbuch, das verschiedenste Stimmen und Ansätze in einen Resonanzraum bringt. Neben Beiträgen aus Kunst, Design und Film haben wir auch Beiträge aus der Theater- und Musikwissenschaft und der Archäologie aufgenommen. Dabei ist deutlich geworden, dass die Bestrebungen um eine Dekolonialisierung unterschiedlich etabliert sind: Während die Suche nach dekolonialen Praktiken etwa in Kunst, Ethnologie und Film mittlerweile fest verankert ist, hält sie im Design, besonders im deutschsprachigen Raum, erst langsam Einzug. Wir haben uns entschieden in dieser
Archive dekolonialisieren Publikation auch indirekt die unterschiedlichen Beobachtungen und Diskussionsstände der Disziplinen abzubilden. Dementsprechend haben einige Texte eher den Charakter einer beginnenden Auseinandersetzung, während andere sich mit sehr spezifischen Fragen auseinandersetzen. Neben diesen Unterschieden werden aber auch die Schnittmengen der verschiedenen Disziplinen in diesem Band sichtbar.
Mediale und epistemische Transformationen Mit konkreten Interventionen in koloniale Archive und ethnographische Samm lungen beschäftigt sich der erste Teil des Bandes. Die Ethnologin Alyssa Grossman stellt ihre gemeinsam mit der Künstlerin Selena Kimball entwickelte Forschungsmethode vor. Sie setzen sich mit einer Bricolage von ethnographischen Beschreibungen in Museumskatalogen zum Ziel, über spekulative Arbeitsprozesse zu neuen Repräsentationsweisen zu kommen. Die Künstlerin Marie Kirchner zeigte in ihrer Objektperformance auf der Tagung weiße Polymer-Abgüsse aus einer Sammlung kolonialer Familienerbstücke, die durch ein Umhergehen der Zuschauer*innen im Raum und durch ein gemeinsames Vorlesen von Stimmen aus Theorie und Praxis aktiviert wurden. Für dieses Buch übersetzte sie das Format ihrer Performance in einen Essay. Im Rekurs auf die europäische Tradition mit Gipsabdrücken und 3D-Print- Technologien von Kunstobjekten Kopien herzustellen, skizziert Sophie Lembcke eine kuratorische Strategie im Umgang mit kolonialer Raubkunst. Dabei beobachtet sie die Möglichkeiten der künstlerischen Intervention, wie durch den Hack The Other Nefertiti von Nora Al-Badri und Jan Nikolai Nelles, andere Narrative zu forcieren. Nachfolgend ist ein Gespräch von ihr mit dem Künstler*innen-Duo abgedruckt, in dem diese aus ihrer Praxis heraus über mögliche Zukünfte von Museen im digitalen Zeitalter sprechen. Auf widerständige Praktiken mit Dingen, welche die Lücken in Archiven kenntlich machen und widerspenstig nutzen, fokussieren insbesondere die Beiträge von Trinh T. Minh-ha, Eva Knopf und Anna Markowska. Trinh T. Minh-ha beginnt ihren Essay mit einer Beschreibung der Zensurpraktiken der chinesischen Gefängnisaufsicht, die positive Reaktionen westlicher Medien auf die tibetischen Freiheitskämpfe aus den Zeitungen der Inhaftierten einfach ausschnitten. Diese Auslassungen – das nicht Dargestellte – wird so zum vielschichtigen Index für Hoffnung, Herrschaftsausübung, Freiheitskampf und Unterdrückung. Daran anschließend beobachtet Trinh die Signifikationsprozesse von Lücken und Leerstellen und verfolgt die These, dass Archive nicht nur aus Anwesenheiten von Dingen konstituiert werden, sondern dass die Abwesenheiten eine entscheidende Rolle spielen. Eva Knopf reflektiert in ihrem Beitrag Fragen, die aus der Arbeit an ihrem Dokumentarfilm Majubs Reise entstanden sind. Auf der Suche nach den Spuren des afrikanischen Kolonialsoldaten Mohamed Husen, der in den 1930er und 40er Jahren Statist beim deutschen Film war, verbindet sie die Betrachtung einzelner Quellen
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Eva Knopf · Sophie Lembcke · Mara Recklies mit einem abstrakten Archivbegriff und findet Mohamed Husens ›Stimme‹ in den Lücken, Brüchen und Un-Ordnungen der Archive. Den An- und Abwesenheiten in den Archiven widmet auch Anna Markowska ihre Aufmerksamkeit. Sie stellt in ihrer fortlaufenden Bricolage ein Lexikon von seltsamen Dingen zusammen, aus dem sie für uns einige Einträge ausgewählt hat. Diese Einträge befassen sich mit der Nachkriegssituation in Breslau und durch sie entspinnt sich eine nicht-institutionalisierte, private Narration die sich nicht auf geschriebene Quellen stützt, sondern spekulativ eine alternative Erzählung entwirft, die so absurd scheint, dass sie nicht sinnvoll in ein Masternarrativ eingewoben werden kann, worin ein widerständiges Potential aufscheint. Ein ähnliches auf die Lücke hin gedachtes Experiment wagen die Theaterwissenschaftlerin Veronika Darian und die Künstlerin und Autorin Jana Seehusen, die ihre Objekt-Performance in das Buchformat übertragen und in einem schindludrigen Dialog mit Kafkas Odradek ein Archiv im Vollzug aufbauen. Mit diesen spielerischen und widerspenstigen Ding-Praktiken stellt sich heraus, dass mit ihnen oftmals dezidiert ein situiertes Wissen hervorgebracht wird, das sich zwischen Format, Performer*innen und Leser*innen entfaltet. Mit einem solchen Phänomen beschäftigt sich auch die Künstlerin Ofri Lapid. Sie betrachtet die Lesepraxis der im Amazonas-Becken lebenden Piro oder Yine, die aus ihrer oralen Erzähl- und visuellen Muster-Tradition heraus situative und subversive Interpretationen der westlichen Schrift der Kolonisator*innen, die sie »hässliches Design« nennen, entwickeln. Auf dem Titelbild dieses Bandes ist ein Objekt aus ihrer Performanceserie abgebildet: eine Seite aus dem Buch des Anthropologen, der die Design- und Lesepraxis der Piro/Yine analysierte. Um andere Narrative mit Dingen zu entwickeln, bemüht sich auch die radikale Praxis des Colonial Neighbours Archiv bei SAVVY Contemporary in Berlin, wie die Kurator*innen Lynhan Balatbat-Helbock, Marlon Denzel van Rooyen, Marleen Schröder und Jorinde Splettstößer in ihrem Interview mit Eva Knopf und Sophie Lembcke erläutern. Als Archiv der deutschen Kolonialgeschichte strebt es danach, dominante Wissensordnungen und Geschichtsnarrative zu erweitern, neue Formen archivarischer Praxis auszutesten und eine Plattform für Austausch, Diskussion und Kollaborationen mit unterschiedlichen Akteur*innen zu schaffen. Weitere radikale Archive stellt die Filmwissenschaftlerin Cornelia Lund vor, das des Instituto Nacional do Cinema e Audiovisual da Guiné-Bissau und jenes der Palestinian Film Unit, die vergessen schienen, bis sie durch Restaurierung, Digitalisierungen und auf Screenings zugänglich gemacht wurden. Davon inspiriert, entstanden die Filme Spell Reel (2017) und Off Frame aka Revolution until Victory (2016), anhand derer sie darstellt, welche Rolle die Vergegenwärtigung des Vergangenen für die Gegenwart und Zukunft politischer Kämpfe spielen kann. Den Blick weg von den Dingen in den Archiven zu den Archiven in den Dingen lenkt die Archäologin Undine Stabrey. Dabei widmet sie sich den Dingen nicht nur im Hinblick darauf, wie sie zur Bedingung des Menschen werden, sondern auch, wie sie als Sinnsammlungen Gegenstand archäologischer Interpretationen und Spekulati-
Archive dekolonialisieren onen werden können. Auch der Tanzwissenschaftler und ehemalige wissenschaftliche Leiter des Pina-Bausch-Archivs Marc Wagenbach fokussiert die Archive in den Dingen. Er fragt anhand der Arbeit der südafrikanischen Choreographin Robyn Orly, wie die Dinge und Materialien im Zusammenspiel von Gesang, Bewegung und Musik neu situiert werden und inwiefern sich dadurch neue Sinnzusammenhänge ergeben, die ihre eigene ›(post-)koloniale Perspektive‹ definieren. Der Gedanke, Dinge als Archive und Archive als konkrete Orte der OrganisationsStrukturen von Dingen zu verstehen, führt zu einer Erweiterung des Archivbegriffs, mit dem Archive als institutionalisierte Epistemologien verstanden werden können. Der Notwendigkeit der Dekolonialisierung von nicht physischen, sondern konzeptuellen Archiven widmen sich die Beiträge von Mara Recklies, Grace Lees-Maffei und Kjetil Fallan, Holger Lund, sowie der von Ruth Sonderegger. Vor dem Hintergrund der Forderung nach einem »epistemischen Ungehorsam« durch den argentinischen Literaturwissenschaftler Walter Mignolo setzt sich Mara Recklies mit der Frage auseinander, ob es spezifische, koloniale Episteme des Designs gibt, auf die solch eine Forderung abzielen könnte. Dabei arbeitet sie heraus, dass Design nicht allein vor dem Hintergrund der Industrialisierung und des Kapitalismus verstanden werden kann, sondern dass die Ideologien des Kolonialismus ebenso berücksichtigt werden müssen. Wie sich solch eine postkoloniale Perspektive auf das Design auswirken kann, zeigen Grace Lees-Maffei und Kjetil Fallan. Sie veröffentlichten im Winter 2016 in dem Journal Design Issues den A ufsatz Real Imagined Communities: National Narratives and the Globalization of Design History, den wir in diesem Band das erste Mal auf Deutsch zugänglich machen. Vor dem Hintergrund postkolonialer Studien und der Globalisierung von Design verweisen sie auf die problematische Rolle von Nationalismen in der Geschichtsschreibung des Designs, welche nicht nur zu Verallgemeinerungen, sondern auch Stereotypisierungen führt. Für eine nichteurozentrische Perspektive, hier auf nicht-westliche Popmusik, plädiert auch Holger Lund. Er fordert im Kontext seiner Arbeit für das Label Global Pop First Wave eine Musikkritik jenseits der kolonialistischen Hierarchisierung. Dabei liegt sein Fokus auf musikalischen Veröffentlichungen aus geographischen Bereichen wie etwa der Türkei, Usbekistan oder der Mongolei, welche die westzentrierte Geschichtsschreibung und Kritik der Popmusik bislang wenig bis gar nicht und wenn, dann meist eher abwertend, im Blick hatten. Als Gastreferentin unseres Forschungsverbundes stellte Ruth Sonderegger bereits in einem Kolloqium ihre Arbeit zu Herrschaftsverhältnissen, die in Praktiken eingeschrieben sind und die Kolonialität der Ästhetik von Immanuel Kant vor. In diesem Band stellt ihr nun Mara Recklies Fragen im Hinblick auf postkoloniale Problemlagen im Design.
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Eva Knopf · Sophie Lembcke · Mara Recklies Dank Dieser Band mit seinen vielfältigen Stimmen wäre nicht ohne das Zutun, den Zuspruch und die Unterstützung von Vielen zustande gekommen. Bedanken möchten wir uns bei dem Forschungsverbund Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformation der Universität Hamburg und der HFBK Hamburg und dessen Sprecherinnen Gabriele Klein und Claudia Benthien für die intensive Erarbeitung der grundlegenden Konzepte, zu denen wir hier mit einer Tagung und einem Buch postkoloniale Impulse setzen möchten. Ganz besonders bedanken wir uns bei unseren Teilprojektleitungen Friedrich von Borries, Michaela Ott und Thomas Weber, die unsere Ideen stets offen und in kritischen Diskussionen gefördert haben, und ebenfalls bei unserer Kollegin Claude Jansen, die zentrale Ideen zur Konzeption des Symposiums beigesteuert hat. Insbesondere gilt unser Dank jedoch allen Beitragenden des Symposiums und des Buches, die diesen Fragen und Problemlagen nicht nur viel von ihrer Zeit gewidmet haben, sondern die auch ihr Wissen gern miteinander (und uns) geteilt haben und hier Vorschläge aus ihrer Praxis zur Dekolonialisierung von Archiven machen. Wir hoffen, dass dieser Band dazu beiträgt, die Diskussionen zu vertiefen und freuen uns auf weiteren Austausch.
Kontrafaktische Provokationen im ethnographischen Archiv Alyssa Grossman Als Museen in den letzten Jahrzehnten immer mehr in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt sind, haben Kurator*innen auf die neuen Entwicklungen in der Museumstheorie geantwortet, indem sie mit innovativen Konzepten experimentieren, die inhaltlich wie gestalterisch auf Politik und Poetik museologischer Repräsentation Bezug nehmen (vgl. Basso Peressut et al. 2013 und Macdonald/ Basu 2007). So wie das Feld der Anthropologie weiterhin mit der eigenen kolonialen Vergangenheit zu kämpfen hat, ist die Suche nach ›dekolonisierenden‹ Methoden eines der wichtigsten Anliegen für ethnographische Museen der Gegenwart geworden (vgl. Bodenstein/Pagani 2014; Coombes/Phillips 2015; Grinell/Gustavsson Renius 2013; Lonetree 2012). Das Musée du Quai Branly in Paris, das Weltkulturen Museum in Frankfurt, das Tropenmuseum in Amsterdam und das National Museum of the American Indian in Washington DC sind nur einige Beispiele für Institutionen, die, mit unterschiedlichem Erfolg, begonnen haben, selbstkritisch dekoloniale Praxen in ihre Ausstellungsstrategien einzubinden. Derartige Bemühungen bilden eine erste Grundlage, um essentialistische und rassistische Darstellungen des ethnographisch ›Anderen‹ in Frage zu stellen und tiefsitzende imperialistische Hierarchien der Kategorisierung, Interpretation und Zurschaustellung auszuhebeln. An dieser Stelle möchte ich den dekolonialen Blick auf Archive, Kataloge und Lager richten – Orte, an denen ethnographische Objekte ihre erste Identifizierung und Kontextualisierung erfahren.1 Während das Organisieren und Bezeichnen diese Gegenstände zwar wissenschaftlich lesbar und weiterer Recherche zugänglich macht, sind diese Aktivitäten in letzter Hinsicht beschränkt: Denn sie halten diese Objekte in ideologisch begrenzten Kategorien gefangen. Strategien zur Interpretation von nichtwestlichem Material und entsprechenden Lebenswelten haben sich im Laufe der Geschichte immer zwischen der Anwendung ›wissenschaftlicher‹ Standards, um deren Wert für die Forschung zu bemessen, und ›künstlerischen‹ Kriterien, um 1 | Für eine Auseinandersetzung mit dem ethnographischen Katalog und
anderen Lagermechanismen, die den Bezugsrahmen musealer Zurschaustellung prägen, vgl. Langerman (2014); Turner (2015); Parezo (1987).
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Alyssa Grossman deren ästhetischen Wert zu berechnen, bewegt.2 Doch wie können gegenwärtige Forscher*innen einen solchen binären Reduktionismus vermeiden, wenn sie sich der Artefakte, die seit Jahrzehnten (oft sogar Jahrhunderten) in ethnographischen Museen liegen, neu annehmen? Wie lassen sich die moralischen und politischen Folgen westlicher Praktiken der Klassifizierung wissenschaftlich thematisieren, wenn diese Praktiken bürokratische und imperialistische Formen des Wissens bevorzugen und andere Anschauungen und Verständnisse der Welt systematisch ausschließen (vgl. Bowker/Star 1999; Lampland/Star 2009)? Wie können dabei die diversen Narrative und Verkörperungen der Artefakte einbezogen werden? Wie kann es möglich gemacht werden, die tradierten Geschichten dieser Objekte zu »verlernen« (vgl. Tlostanova/ Mignolo 2012) und sie als dynamische Einheiten zu begreifen, die nicht nur mit der Vergangenheit, sondern mit der sich beständig entfaltenden Gegenwart und Zukunft verbunden sind? Wie können solche erweiterten Betrachtungsweisen von Museumsobjekten und ihren Geschichten dazu verhelfen, alternative Wege für die umfassenderen Projekte anthropologischer und akademischer Forschung zu eröffnen? Indem ich das Potential ethnographischer Artefakte erforsche, durch ihren anhaltenden materiellen Prozess des Werdens hindurch neue Bedeutungen und Wiederholungen anzunehmen, schlage ich vor, das dekoloniale Projekt leicht anders – in diesem Zusammenhang als ›gegen-kolonial‹ beschrieben – zu perspektivieren. Wie Forscher*innen bemerkt haben, beinhalten dekoloniale kuratorische Ansätze immer auch die Reflexion auf die brutalen Folgen des Kolonialismus (vgl. Lonetree 2012) und beziehen miteinander konkurrierende kulturelle Narrative, also auch indigene Stimmen und Weltanschauungen, in die interpretative Arbeit ein (Cull 2009; Wintle 2013). Für meine Definition eines gegen-kolonialen museologischen Ansatzes, der die institutionellen Narrative herausfordert, folge ich Linda Tuhiwai Smiths Argument, dass dekolonisierende Methodologien das akademische Feld als einen Kampfschauplatz zwischen historisch machthabenden und entmachteten Stimmen anerkennen müssen (Tuhiwai Smith 2006: 39). Der gegen-koloniale museologische Ansatz nimmt deshalb Forschungspraktiken in Anspruch, die bislang zur Essentialisierung und Entfremdung des ›Anderen‹ genutzt wurden, greift aber auch auf poetische oder künstlerische Taktiken zurück, um die eigenen Verfahren wissenschaftlichen und akademischen Ausdrucks zu stören und neu zu konfigurieren. Viele Gegenwartskünstler*innen haben sich vom »archivalen Impuls« inspirieren lassen, den Hal Foster vor einem Jahrzehnt beschrieben hat (vgl. Foster 2004), und kritisieren museologische Narrative mittels provokativen Brechens mit Repräsentationskonventionen und neuen Formen der Verfremdung. Solche Herangehensweisen werden jedoch vor allem als dem künstlerischen Feld zugehörig betrachtet und darum als unwesentlich für ›wirkliche‹ akademische Forschung. Projekte von Künstler*innen wie Renee Green, Maryam Jafri, Georges Adéagbo, Jimmie Durham, 2 | Für eine tiefergehende Darlegung des »Kunst-Kultur Systems« vgl. James Clifford (1988).
Kontrafaktische Provokationen Lothar Baumgarten und Fred Wilson haben die Mechanismen wissenschaftlicher Klassifikation und Zurschaustellung tiefgreifend untersucht und dabei die kolonialen Ursprünge des ethnographischen Museums und Archivs schmerzhaft freigelegt. Dennoch sind derartige Entwicklungen im akademischen Kontext selten. Wie der Archäologe Doug Bailey feststellt (vgl. Bailey 2014: 246), wird akademische Arbeit, die sich bemüht, künstlerische und wissenschaftliche Begrenzungen zu überbrücken, oft von der Annahme gehindert, dass sie einer wissenschaftlichen Logik der Repräsentation folgen muss.3 Trotzdem ist die letztlich überzeugendere Forschungsarbeit, so schreibt er, diejenige, die zwar aus der Wissenschaft stammt, aber eine gänzlich neue Verbindung künstlerisch-akademischer Fragestellungen erforscht. Nämlich eine, die mit der Idee von »wissenschaftlicher Interpretation und Auslegung« als Hauptziel bricht (Bailey 2014: 241). Eine, die »Missverständnisse annimmt, Komplexität sucht und etwas hervorbringt, was schwierig (vielleicht unmöglich) zu ertragen, erklären oder interpretieren ist« (ebd. 235). Solche Arbeit wird dringend benötigt, da gerade die Spannungen zwischen der Befolgung der wissenschaftlichen Konventionen und der Austestung ihrer Grenzen, existierende Hierarchien der Legitimität herausfordern und zu radikalen neuen Formen des Wissens führen können. Auf diese Weise und in meiner Eigenschaft als visuelle Anthropologin skizziere ich die experimentelle Untersuchung einer gegenwärtigen ethnographischen Museumskollektion, die die Bedeutungen hinter den Objekten weder aufdecken noch übersetzen will, sondern ihnen vielmehr neue visuelle, textliche und materielle Ebenen hinzufügt. Anstatt diese Artefakte zu erklären oder in einen Kontext zu setzen, fordert diese Arbeit die etablierten Narrative heraus, indem sie bewusst deren Umrisse verwischt und ihre Grenzen verzerrt. Sie zielt darauf ab, Dichotomien von Kunst und Kultur zu umgehen, die Unterscheidungen zwischen Kunst und Artefakt, die durch die in den letzten Jahrhunderten begonnene Entwicklung bestimmter akademischer und ethnographischer Diskurse auferlegt wurden, aufzulösen und eine neue kritische Form zu schaffen, die starre Interpretationsgrenzen überwindet. Ein solcher Schritt verkompliziert nicht nur die Bedeutungen, wie sie im Blick kolonialer Interpretation erscheinen. Er entwirft auch eine Forschungsagenda, die jene Macht- und Herrschaftsstrukturen destabilisiert, die bisher den Spielraum dessen eingeschränkt haben, was allgemein als akademische Praxis gilt. Das hier umrissene Projekt existiert derzeit in materiellen und konzeptionellen Fragmenten, in Form von Leitstudien, Konferenzpapieren, Seminaren und Forschungsanträgen. Dementsprechend beruft sich mein Schreiben in diesem Artikel auf mehrere Formen von Text, Bildern und Objekten sowie auf existierende und vorgestellte Verbindungen von Praktiken, Materialien und Räumen. Diesen Arbeitsprozess als Fallstudie nutzend betrachte ich das Ergebnis der Kombination surrealistisch inspirierter Methoden der Bricolage mit der aufkommenden museologischen Praxis 3 | Unter den Beispielen solcher von Bailey zitierter Arbeiten finden sich ein Projekt der Archäolog*innen Christopher Tilley, Barbara Bender und Sue Hamilton sowie Arbeiten des Künstlers und Archäologen Aaron Bender.
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Alyssa Grossman der »Curature« (vgl. Hamilton/Skotnes 2014) als ein Beitrag neuer gegen-kolonialer Mittel, die das »verwickelte Erbe« ethnographischer Archive erschüttern und auf andere Weise wiederaufbauen (ebd. 22). Indem ich das konzeptionelle Fundament des Projekts aufzeige, werfe ich auch weitere Fragen zur akademischen Gültigkeit auf, die solchen Unterfangen zugrunde liegen. Entsprechend Tuhiwai Smiths Appell, »alternatives Wissen« zu entwickeln, um das analytische Werkzeug und die kulturellen Formationen des Kolonialismus zu kritisieren (Tuhiwai Smith 2006: 34), untersuche ich die Risiken und Möglichkeiten einer Forschung zwischen dem vereinbarten Ziel, die Geschichten zu erzählen, die hinter den institutionellen Sammlungen ethnographischer Artefakte lauern, und den politischen und künstlerischen Fragen, die aufkommen, wenn neue und (manchmal unmögliche) Geschichten zu diesen Objekten durch affektive, beschwörende und kontrafaktische Provokationen gesponnen werden.
Bricolage, Surrealismus und Anthropologie Bricolage wird in der gegenwärtigen museologischen Literatur als ein Werkzeug beschrieben, um neue Bedeutungen aus Zusammenstellungen gesammelter Materialien heraus zu entwickeln (vgl. Tlili 2006). Dennoch hat das Konzept eine längere anthropologische und soziologische Geschichte. Nach Claude Lévi-Strauss beinhalten sowohl Bricolage als auch anthropologische Verstehensprozesse das Ordnen und Sinnstiften durch spezifische zugrundeliegende Klassifikationsstrukturen. Da das »Universum der Werkzeuge« der Bricoleur*innen »in sich geschlossen ist und es zu den Spielregeln gehört, immer mit dem, was gerade ›zur Hand‹ ist, vorlieb zu nehmen« (Lévi-Strauss 1962: 11) – darunter private oder gesellschaftliche Überbleibsel – entstehen aus diesen Neukombinationen von Materialien neue Objekte und materielle Subjektivitäten. In Michel De Certeaus soziologischem Bezugsrahmen ist Bricolage eine Form kulturellen Widerstands und trägt die Subversion dominanter Traditionen durch Bergung und Neuinterpretation in sich (Altglas 2014: 475). Von Anderen als »an kulturellen Gegebenheiten bastelnd und sie verwertend« (Dezeuze 2008: 34) beschrieben. In den 1920er und 1930er Jahren haben die französischen Surrealist*innen die Grundprinzipien der Gegenüberstellung und Wiederzusammenstellung durch Bricolage, Collage und Assemblage erkundet4 und dabei vergessene, sowie aus der Mode gekommene Kulturbestandteile durch die Nutzung verschiedener Materialien und Formen rekontextualisiert. Ihre Arbeit spielte mit assoziativen Codes, eignete sich Konventionen der wissenschaftlichen Dokumentation an und drehte sie um, in der Absicht, darauf aufmerksam zu machen, dass Realität weniger gegeben als 4 | ›Collage‹ bezieht sich auf die Ansammlung zweidimensionaler Materialien, wie sie schon seit Beginn der Papiererzeugung 200 v. Chr. praktiziert wurde, aber als spezifischer künstlerischer Terminus nicht vor den frühen 1900ern erfunden wurde. ›Assemblage‹ beinhaltet die Kombination dreidimensionaler gefundener, gekaufter und gemachter Objekte, wie sie zuerst von Dadaisten und Surrealisten im frühen 20. Jahrhundert entwickelt wurde (vgl. Bell 2007).
Kontrafaktische Provokationen vielmehr produziert ist. Von literarisch-journalistischen Texten wie André Bretons Nadja und Louis Aragons Paris Peasant über Brassais und Eugène Atgets poetisch realistische Fotografien von Paris bis zu den pseudo-ethnographischen Filmen Luis Buñuels, schwankten die Surrealist*innen zwischen »kühler deskriptiver Genauigkeit und poetischem Strömen« (Walker 2002: 12), um sowohl das Alltagsleben einzufangen, als auch die Künstlichkeit von Praktiken der Repräsentation aufzudecken (vgl. Williams 1981). An realistischen Techniken festhaltend, konnten sie zugleich auch eine tiefere Sensibilität für die Fragilität von Ansprüchen auf darstellerische Wahrheit provozieren: Den Bildern wird zunächst Glaubwürdigkeit verliehen, ihr gewohnter Gebrauch anschließend untergraben. Da der Surrealismus eine ebenso politische wie künstlerische Bewegung war, verstanden sie diese Praktiken als Kulturkritik5, die die grundlegenden ideologischen Prämissen der bürgerlichen Gesellschaft problematisierte (Richardson 1993: 58). Die Pariser Surrealist*innen hatten eine widersprüchliche Beziehung zur anthropologischen Disziplin, auf deren Methoden und analysierte Gegenstände sie zugleich ehrfürchtig und kritisch blickten (Kelly 2012). Surrealistische Publikationen und Ausstellungen stützten sich häufig auf anthropologische Thematiken und Methodologien, die sie entsprechend ihrer eigenen künstlerischen Bedürfnisse und Interessen neu interpretierten und anpassten. Viele in Frankreich ansässige Anthropolog*innen und Wissenschaftler*innen dieser Ära waren ebenfalls in surrealistischen und Avant-Garde-Kreisen tätig, darunter Carl Einstein, Michel Leiris, Paul Rivet und Marcel Griaule. Die von dem ›dissidenten‹ Surrealisten Georges Bataille 1929 gegründete Zeitschrift Documents veröffentlichte eine provokative Reihe von Artikeln von Surrealist*innen und Expert*innen europäischer Ethnographiemuseen (vgl. Kelly 2007). Indem die Zeitschrift geläufige Kategorisierungen von materieller Kultur durch Fragmentierung und Assemblage infrage stellte, diente sie als »verspieltes Museum« der Kulturkritik (vgl. Clifford 1981: 551). Im Kontext der Pariser Museen arbeiteten lokale Surrealist*innen gemeinsam mit der kommunistischen Partei Frankreichs in Antwort auf die Kolonialausstellung von 1931 an einer »gegen-kolonialen« Protestausstellung, die die Kommodifizierung und Exotisierung im ethnographischen Prozess kritisierte (Mileaf 2001). Indem sie sogenannte ›Stammeskunst‹ mit Objekten europäischer Kunst und surrealistischen Ready-Mades zusammen ausstellte, sorgte die Ausstellung für eine gewaltige Kollision von »konkreter Sache, physischer Sensation und unordentlicher Logik« (ebd. 251), die darauf abzielte, die Zuschauer körperlich zu verstören und sie dazu zu bewegen, die etablierte Funktionsweise des kolonialen Blicks zu hinterfragen. Trotzdem bleibt diese Geschich5 | Im ersten surrealistischen Manifest von 1924 schrieb André Breton, dass es eines
der Hauptanliegen des Surrealismus war, den Positivismus zu unterminieren, die Vorstellungskraft zu emanzipieren und »liberate humanity from the ideological shackles that enforce the contradiction between dream and waking life« (Rosemont 1978: 20-21). Von Marxistischer Politik, Freudscher Psychoanalyse und Deutscher sowie okkulter Philosophie beeinflusst, sahen die frühen Surrealisten die Sphären der »poetry, dreams and unconscious life [as containing] solutions to the gravest problems of human existence« an (ebd. 24).
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Alyssa Grossman te surrealistischen Eingreifens in das Feld der Anthropologie ein Thema, das in der derzeitigen anthropologischen Literatur zu wenig erforscht ist. Innerhalb der letzten Jahrzehnte haben einige wenige Wissenschaftler*innen das Verhältnis surrealistischer Perspektiven und Methodologien zur ethnographischen Praxis erwähnt6; in neueren Arbeiten wurde die Grenze zwischen künstlerischer und anthropologischer Praxis, Analyse und Performance ausgelotet.7 Die meisten dieser Diskussionen hatten ihren Höhepunkt während der writing culture Debatten in den 1980ern und frühen 1990ern, als es eine größere Aufmerksamkeit dafür gab, wie reflexive Experimente mit Narrativen die sozialen Konstruktionen anthropologischen Wissens aufdecken und in Frage stellen können (vgl. Crapanzano 1980; Tedlock 1983; Wolf 1992). In gegenwärtiger Wissenschaft bleiben, mit Ausnahme von Julia Kellys umfangreicher Forschung im Feld der Kunstgeschichte (vgl. Kelly 2007; Kelly 2012; Kelly 2016), die weiteren Ergebnisse der Überschneidungen von surrealistischen und anthropologischen Ansätzen noch gründlich zu untersuchen.8
Curature im Archiv Ich schlage eine Rückkehr zum surrealistischen Vermächtnis, insbesondere zu der Idee der Bricolage, vor, um dessen Potential, die kolonialen Grundlagen anthropologischer Sammlungen aufzubrechen, neu in Betracht zu ziehen. Ich setze diesen historischen Zugang in einen Dialog mit dem neueren Konzept der »Curature«, das von Carolyn Hamilton and Pippa Skotnes (vgl. Hamilton/Skotnes 2014) stammt, einem innovativen dekolonialen Zugang zur Arbeit mit Archiven, der über die Idee des Kuratierens als bloßen Ordnens und Verwaltens von existierenden Sammlungen hinausweist. So bestimmen Hamilton und Skotnes Curature als eine erweiterte Praxis, die die Kolonialgeschichten der Archive wieder aufgreift, um die Weise, in der diese Geschichten mit der gegenwärtigen, globalisierten Welt zusammenhängen, neu zu formulieren. Ein kurativer Ansatz erkennt die Autorität und Macht, die den Umgang mit Sammlungen immer begleitet, an und hinterfragt gleichzeitig diese Kräfte, 6 | In dem Aufsatz »The Modernist Sensibility in Recent Ethnographic Writing and the Cinematic Metaphor of Montage« zitiert George Marcus (1990) Michael Taussig’s Colonialism, Shamanism, and The Wild Man als Beispiel einer Ethnographie, die sich der Montage bedient, um sich an die Eindrücke schamanischer Darbietung zu nähern. In The Cinematic Griot: The Ethnography of Jean Rouch, beschreibt Paul Stoller (1992) die surrealistischen Einflüsse auf die improvisatorische Methodologie und das Verschmelzen von Kunst und Wissenschaft in Rouchs Filmen. 7 | Vgl. jüngere Arbeiten von Michael Taussig, darunter The Corn Wolf (2015), welche mit den poetischen Dimensionen ethnographischer Erzählung experimentiert; vgl. auch Projekte von Annie Danis und Annie Malcolm an der UC Berkeley; Lucy Suchman und Laura Watts an der Lancaster University; und Joe Dumits Arbeit an der UC Davis. 8 | Vgl. ähnliche Arbeiten, wie zum Beispiel Clifford (1981), Foster (1993), Sansi (2014) und Stoller (1992), die größtenteils am Rand der gegenwärtigen etablierten anthropologischen Debatten geblieben sind.
Kontrafaktische Provokationen indem er mit neuen Zusammenstellungen, Gegenüberstellungen und Verbindungen von Materialien experimentiert. Als Form einer »stärkenden Pflege«9 untersucht Curature das Archivpotential gesammelter Bilder, Objekte und Texte sowie die materielle Kultur der kuratorischen Arbeit an sich kritisch (vgl. Hamilton/Skotnes 2014: 9). Indem sie den gewöhnlichen Handlungen des Bezeichnens, Fotografierens, Beschriftens, Digitalisierens und Ausstellens neue Ansätze auferlegt, eignet sie sich eine kurative Methodologie dieser Praktiken an, um die Bedeutung einer Sammlung neu zu formulieren. Sie schlägt vor, archivalische Artefakte nicht nur durch ihre kulturelle Geschichte zu lesen (Objekte als Informationsquelle zu betrachten), sondern auch ihre körperlichen und emotionalen Qualitäten in den Vordergrund zu rücken. Archivalische Begegnungen können so als phänomenologische Erfahrungen begriffen werden, wobei auch körperliche und sinnliche Mittel in die Rekonfigurierung historischer und kolonialer Narrative miteinbezogen werden (vgl. Dudley 2010; Baker 2017). Curature macht ein Museumssystem vorstellbar, das seinen Besitz als einen diasporischen behandelt, bestehend aus diskursiven, materiellen und sinnlichen Elementen. Darin überschneidet sie sich mit der Theorie der Assemblage, indem sie die Idee der agency ebenfalls nicht mehr in individuellen Handlungen und Dingen, sondern als über Kollektive hinweg verteilt verortet (vgl. Harrison 2013). Durch die Entwicklung surrealistisch inspirierter Praktiken der Curature im Archiv und die Nutzung neuer visueller und textlicher Interpretationsansätze kann der*die Forscher*in zum Assembleur, zur Assembleurin werden und anhand eines in sich abgeschlossenen Inhalts mit dessen Form experimentieren. Die spekulative und unvorhersehbare Natur einer solchen Arbeit trägt dazu bei, die autoritative Position der*des ethnographisch Forschenden zu destabilisieren. Wie George Marcus und Erkan Saka schreiben, ist der »Zeit-Raum [der Assemblage] in sich instabil und von Bewegung und Wandel durchsetzt« (2006: 102); während diese Praxis interpretative Hierarchien zerlegt, baut sie zugleich alternative Taxonomien auf und öffnet den Raum für die Entfaltung anderer, dekolonisierender Geschichten.
Kultur katalogisieren Die hier beschriebene Untersuchung entwickelte sich als Kollaboration zwischen meiner Arbeit als soziale und visuelle Anthropologin und der Arbeit Selena Kimballs, einer in New York ansässigen Multimedia-Künstlerin. In den vergangenen zehn Jahren haben wir eine Reihe künstlerisch-anthropologischer Projekte durchgeführt, aus 9 | Der Begriff »stärkende Pflege«/»recuperative care« könnte mit »heilendem Wissen«/»reparative knowing«, wie er von Eve Kosofsky Sedgwick beschrieben wird, in Dialog gesetzt werden. Sie beschreibt hier als kritisch, gemeinschaftlich und intertextuell jene Diskurse, die »succeed in extracting sustenance from the objects of a culture—even of a culture whose avowed desire has often been not to sustain them«. (Sedgwick 2003: 150-151).
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Alyssa Grossman denen Texte, Filme und Installationen hervorgegangen sind (vgl. Grossman/Kimball 2009; Grossman 2015). Als Grundlage für unsere derzeitige Forschung zu Museumsarchiven10 führten wir eine Pilotstudie durch, für die wir einen zufällig ausgewählten Katalog eines ethnographischen Museums als Quelle verwendeten. Der Katalog Being Object, Being Art: Masterpieces from the Collection of the Museum of World Cultures (Sibeth 2010) war Teil einer Ausstellung gleichnamigen Titels, die von 2009-2010 im Frankfurter Weltkulturen Museum lief.11 Der Katalog beinhaltet 130 Artefakte aus Afrika, Ozeanien, den Amerikas, sowie Ost- und Südostasien; darunter Holzschnitte, Metallskulpturen, Textilien, Kalebassen, Kopfschmucke und Lederfiguren. Diese Objekte werden in glänzenden Farbfotografien von dramatischem Lichtschein umhüllt dargestellt, der ihre technischen Details und das aufwändige Handwerk betont. Jedes Bild wird von einem kurzen, kontextualisierenden Kommentar begleitet, der Informationen zu den Materialien des Objekts, den Handwerkstechniken, den Umständen des Kaufs und der Bedeutung innerhalb der Gemeinschaften, denen es entstammt, nennt (vgl. Abbildungen 1 und 2).
»Robe: Northern Plains, USA oder Canada«, Sammlung Gabriel Andreae, Geschenk von Franz von Bernus, 1843. Bild aus Sibeth, Achim (Hg.) (2010) Being Object, Being Art: Masterpieces from the Collection of the Museum of World Cultures, Frankfurt am Main, Tübingen: E. Wasmuth Verlag. Foto: Stephan Beckers, Frankfurt am Main, 2009; Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main.
»Mask: Eskimo, Alaska, USA«, erstanden von der Handelsfirma Umlauff, 1910. Bild aus Sibeth, Achim (Hg.) (2010) Being Object, Being Art: Masterpieces from the Collection of the Museum of World Cultures, Frankfurt am Main, Tübingen: E. Wasmuth Verlag. Foto: Stephan Beckers, Frankfurt am Main, 2009; Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main.
Der Klappentext des Buchs erklärt, dass es Ziel dieser Ausstellung war, die traditionellen ethnographischen Bestimmungen von Objekten zu ›unterminieren‹ und zu neuen Lesarten für sie anzuregen – als sowohl anthropologische Artefakte wie künst-
10 | 2017 bewarb ich mich beim Swedish Research Council, um ein ähnliches Projekt in den Archiven des Museum of World Culture in Göteborg zu entwickeln.
11 | Kimball fand den Katalog zuerst in einem Second-hand Buchladen in New York
und schlug vor, dass wir es als Material für unsere Zusammenarbeit nutzen, ohne zu dem Zeitpunkt irgendetwas über die Geschichte des Weltkulturen Museum zu wissen oder davon, dass ich bereits über dessen jüngste Experimente in künstlerischanthropologischer Kuration gelesen hatte.
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Alyssa Grossman lerische Arbeiten12. Wie die Webseite des Weltkulturen Museums erklärt, soll »der Betrachter das Außerordentliche, das Raffinierte, das Unterschiedliche, das Perfekte, das Harmonische oder sogar das Verstörende entsprechender Gegenstände entdecken«13. Die letztendliche Ausstellung wartete mit einem zusätzlichen Raum auf, der Stücke von gegenwärtigen »Künstler*innen der sogenannten Diaspora« zeigte (Eisenhofer, 2011: 83). Der gedruckte Katalog enthielt diese Arbeiten allerdings nicht. Der Text rückte das Museum eindeutig in die vordersten Reihen der Debatte über den »Status ethnischer Artefakte«, indem er argumentiert, dass die Ausstellung und die daraus entstehende Publikation das wesentliche Anliegen verfolgen, »die Taxonomien der Sammlung [des Museums] neu zu orientieren«14. Wahrscheinlich als Korrektiv zu existierenden Diskussionen über nicht-westliche Objekte gedacht, die sich einer Sprache des ›entweder/oder‹ bedienen, um zwischen den künstlerischen und den ethnographischen zu unterscheiden, besagt die Website, dass die Kurator*innen der Ausstellung eine inklusivere Sprache des ›sowohl als auch‹ annehmen, um die Zugehörigkeit der Objekte zu sowohl künstlerischen als auch anthropologischen Welten zu bekräftigen15. Der Schritt, diese Objekte zugleich als ›Artefakt‹ und ›Kunst‹ neu auszurichten, kann als Antwort auf die lange Tradition der Anthropologie, materielle Kultur in Taxonomien der Kategorisierung von Kunst versus Kultur zu teilen, begriffen werden. Wie James Clifford es in seinem klassischen Buch The Predicament of Culture (1988: 103) umrissen hat, haben Europäer bis ins 19. Jahrhundert tribale Objekte grob als entweder »Antiquitäten« oder »Groteske« klassifiziert. Zu Anfang des 20. Jahrhundert gingen sie dazu über, diese Objekte entweder als wertvolle »kulturelle Zeugen« (relativistischen Anthropologen zufolge) oder als besondere Exemplare »primitivistischer Kunst« (modernistischen Anthropologen und Kunstexperten zufolge) zu definieren. So wurden, wie Clifford ausführt, ethnographische Artefakte entweder der Kategorie des »authentisch kulturellen« oder des »authentisch künstlerischen« (ebd. 104) zugeordnet. Indem sie sich für einen hybriden Bezugsrahmen, der kulturelle Artefakte als legitime Kunstwerke anerkennt, einsetzen, versuchen die Kurator*innen des Weltkulturen Museums, diese Dichotomie zu überwinden und dadurch neue taxonomische Möglichkeiten zu schaffen. Dieses Museum, das in den letzten Jahren zu einer bekannten anthropologischen Institution geworden ist, hat – wenn auch ein wenig kontrovers – mit der Rolle von 12 | Siehe Beschreibung des Buchs auf der Webpräsenz von Artbook, URL: http:// www.artbook.com/9783803033383.html, (letzter Zugriff 03.06.2018).
13 | Siehe Webpräsenz des Weltkulturen Museum, URL: http://www.
weltkulturenmuseum.de/en/ausstellungen/archiv/56?page=3, (letzter Zugriff 03.06.2018).
14 | Siehe Beschreibung des Buchs auf der Webpräsenz von Artbook, URL: http:// www.artbook.com/9783803033383.html, (letzter Zugriff 03.06.2018).
15 | Siehe Webpräsenz des Weltkulturen Museum, URL: http://www.weltkulturen museum.de/en/ausstellungen/archiv/56?page=3, (letzter Zugriff 03.06.2018).
Kontrafaktische Provokationen Kunst und Kunstschaffenden im ethnographischen Kontext experimentiert (vgl. Deliss 2012). In vielerlei Hinsicht hat das Museum Standardpraktiken der anthropologischen Interpretation sowohl herausgefordert als auch erweitert. Im Fall dieses Katalogs jedoch lässt die Präsentation der Objekte als Kunstwerke und Artefakte zugleich diese zwei Kategorien zusammenfallen, ohne kritisch zu dekonstruieren, wie sie durch spezifische Arten der Repräsentation und Zurschaustellung wechselseitig konstituiert werden.16 Zusätzlich übersieht es die den künstlerischen Praktiken selbst zugrundeliegenden kulturellen Vorannahmen.17 Durch die Bezeichnung ihrer ethnographischen Artefakte als »künstlerische Meisterwerke« werden in der Rhetorik von Being Object, Being Art die »Dinge, Fakten und Bedeutungen« (Clifford 1988: 98) der ethnographisch Anderen weiterhin angeeignet und exotisiert. Letztlich wird damit wiederum die institutionelle Macht des Museums, Kunstwerke indigener kultureller Produktion in durchgängig westlichen Termini zu definieren, untermalt. Und doch müssen solche Objekte nicht gemeinsam unter den einen Nenner, der für kulturelle Artefakte und Gegenwartskunst steht, vereint werden, wie es der Weltkulturen Museumskatalog suggeriert. Was würde geschehen, wenn wir ihnen den Raum gäben, weder kulturelle Artefakte noch Objekte der Gegenwartskunst zu sein, sondern etwas ganz anderes? Was könnte ein Artefakt gegen solche Kategorisierungen tun oder einwenden? Zurück bei Clifford finden wir den Vorschlag (Clifford 1988: 104), ethnographische Objekte nicht als kulturelle Zeichen oder künstlerische Ikonen zu verstehen, sondern als zutiefst persönliche, nicht-exotisierte Fetische. Anstatt von ihnen zu erwarten, dass sie uns bilden und informieren, erlaubt uns demnach die Anerkennung von Museumsobjekten als Fetische, ihnen die Macht einzuräumen, uns durch eben jenen Widerstand gegen Klassifizierung zu befremden. Und darin können sie uns aufmerksamer machen für die Konstruiertheit und Arbitrarität der Methoden, mit denen wir versuchen, das Unbekannte zu definieren und zu ordnen. Das Konzept des Fetischs hat die intellektuelle Vorstellungskraft über Jahrhunderte geprägt; als Untersuchungsobjekt aus nicht-westlichen religiösen Glaubenssystemen haben klassische Anthropologen Fetischismus als die ›primitive‹ Idee, dass Geister in unbelebten materiellen Objekten hausen und ihnen dadurch lebendige Seelen geben können, definiert (vgl. Böhme 2014). Viele der französischen Surrealist*innen haben Kunstwerke als fetischistisch betrachtet, indem sie ihre Skulpturen und Assemblages als Verdinglichungen der lebenden, dynamischen Bestimmungen der Erinnerung und des Begehrens beschrieben (vgl. Kelly 2012). Für seine alternative Interpretation von Museumsartefakten beruft sich Clifford auf surrealistisch-psychoanalytische Interpretationen materieller Kultur sowie auf Roland Barthes’ semioti16 | Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesem Thema in Bezug auf surrealistische bildhauerische Arbeit vgl. Kelly (2013).
17 | Diese Kritik wurde allgemein an das Weltkulturen Museum gerichtet; vgl. z.B. Geismar Haidy (2015).
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Alyssa Grossman sches Konzept des Fetischs als ein Ding »von strikt persönlicher Bedeutung, die von kulturellen Codes unbestimmt ist« (Clifford 1988: 105). Seinen Ansatz stellt Clifford zwar als realisierbar und zukunftsweisend dar, allerdings ohne Vorschläge zu bieten, wie er in der Praxis auszusehen hätte. Seit der Publikation seines Textes vor 30 Jahren ist diese Möglichkeit nicht mehr ernsthaft in Betracht gezogen worden, zumindest nicht in der Literatur zur Museumsanthropologie. In den folgenden Absätzen lege ich dar, wie sich meine Zusammenarbeit mit Kimball dieser Herausforderung stellt. Dabei behaupten wir nicht, ›künstlerische Interpretationen‹ ethnographischer Artefakte zu produzieren. Vielmehr werden deren klassifizierende und erklärenden Potentiale in unserer Arbeit materiell durcheinandergeworfen und verkompliziert, ohne dass wir dabei den ethnographischen/archivalischen/akademischen Bezugsrahmen verlassen.
Eine kurative Bricolage Wenden wir uns nun wieder dem in Abbildung 1 gezeigten Artefakt zu. Der Text identifiziert es als Gewand der Indianer*innen der Northern Plains, hergestellt im frühen 19. Jahrhundert. Er beschreibt das Objekt als aus Bisonhaut, Glasperlen, Stachelschwein und Farbe angefertigt. Er legt die darauf zu sehende Darstellung als Kampfszenen zwischen den »Protagonisten« und den »verfeindeten Stämmen« aus und informiert uns darüber, dass die Malereien wichtige Informationen über Waffen, Konfrontationen und die Leben der Krieger überliefern. Wir lernen, dass die Frauen die Arbeit der Gerbung der Bisonhäute ausführten, während es die Männer waren, die die Kriegsszenen malten. Wir finden auch heraus, dass der »Wert« dieser Art von Gewand von dem deutschen Anthropologen Ernst Vatter erkannt wurde, der sie 1927 »einem größeren Publikum vorstellte« und damit half, Wissen über die Indianer der Plains zu verbreiten. Der Text in Abbildung 2 wurde in einem sehr ähnlichen Tonfall geschrieben. Er identifiziert das im Bild zu sehende Stück als Eskimomaske aus Alaska, die um 1905 fabriziert und 1910 von einer deutschen Handelsfirma erstanden wurde. Der Text ist didaktisch und informativ, bietet visuelle und formelle Evaluationen des Stücks und umreißt dessen soziale Funktionen. Uns wird erzählt, dass die Maske »echte soziale Beziehungen symbolisiert« und dass sie enthüllt, wie Eskimos mit so etwas wie Ironie oder Spott umgehen. Zugleich verrät die Beschreibung Werturteile, die jenseits objektiver Fakten liegen, indem sie beispielsweise die »unglaubliche« artistische Ausdrucksform rühmt und ihre Verbindungen zu dem »tiefen Sinn für Humor« der Eskimos darstellt. In unserer Handhabung dieser anthropologischen Dokumente folgten Kimball und ich einer simplen Aufstellung praktischer Richtlinien. Kimball begann damit, das Bild des Objekts wortwörtlich zu zerschneiden, in ähnlicher Weise, wie sie jedes andere Material, mit dem sie in ihrer erweiterten Praxis der Collage arbeitet, zerschneiden würde. Mit Schere und Kleber fügte sie Teile dieses Materials wieder zum Bild eines neuen Artefakts zusammen. In Antwort auf ihr Objekt zerschnitt ich den
Kontrafaktische Provokationen originalen Erklärungstext und fügte eine Auswahl dieser Worte in einen Text ein, der auf das neue Objekt (vgl. Abbildungen 3 und 4 unten) Bezug nahm. Indem ich den Originaltext als Rohmaterial nutzte, behandelte ich die geschriebenen Narrative im Katalog nicht als bloß Quellen historischer oder wissenschaftlicher Information, sondern als tatsächliche Objets Trouvés.18 Jede neue visuelle und textliche Arbeit, die wir produzierten, sollte allein aus Elementen aus den Originalmaterialien bestehen und keine neuen Worte oder Bilder hinzufügen. Kimball transformierte das Bisongewand in ein Patchwork bemalter Haut mit vage animalistischem Aussehen, dessen zwei leere Augen vor einen Hintergrund gebrochener Schatten gesetzt sind. Mein Text, genannt The Hero, liest sich folgendermaßen: »Das getragene, siegreiche Objekt. Es hinterließ einen Eindruck. Zunächst eine zeitliche Studie: teils Malerei, nicht Information. Ein ausgewähltes Publikum wohnte der Produktion bei, während Männer in weißer Kleidung deren Waffen erstanden, durch Glas einen Riss der Ereignisse nachziehend. Ein Leben dargestellt, wenig Taten anerkannt. Der exakte Wert solcher institutionalisierten Objekte kann nicht gezeigt werden.«
Kimball verwandelte das Foto der Maske in das Bild eines höhlenartigen Rahmens, das der unsicher auf einer runden Ecke balanciert wird und auf die Existenz anderer Welten jenseits seiner äußerlichen Oberfläche hinweist. Mein begleitendes Narrativ, genannt The Dark, liest sich folgendermaßen: »Eine unterirdische Insel war einmal hier. Aber dessen Gebäude wurden geschlossen und vom König abgerissen. Lebende Wesen wurden in der Folge mythische Kreaturen, halb echt, offen zur Interpretation. Dieser feierliche schwarze Umriss, durch die Zeit gezeichnet und geschrägt, ist ein auffällig beliebtes Stück.«
Klassifikationen widerstehen Nur Bilder und Worte aus dem Museumskatalog nutzend, um neue Objekte und Narrativen zu erfinden, versetzen Kimball und ich uns in die Rolle von Bricoleurs und experimentieren anhand eines in sich abgeschlossenen Inhalts mit Form. Indem wir diese Praktik mit Prinzipien der Curature verbinden, schaffen wir einen Kontrapunkt zu der Annahme, dass die Objekte in dieser Sammlung in ausschließlich ›wissenschaftlichen‹ und/oder ›künstlerischen‹ Termini definiert werden. In diesem Bezugsrahmen können Artefakte nicht länger in die Kategorien von entweder ›aka18 | Wie Hamilton und Skotnes feststellen, sind Betitelungen, obwohl sie als
archivalische Objekte oft übersehen werden, genauso ein Teil der materiellen Kultur der Museumspraxis wie jede Sammlung von Artefakten und Bildern und sollten als solche erkannt werden (vgl. Hamilton/ Skotnes 2014: 9).
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Alyssa Grossman demischem‹ Forschungsmaterial oder ›kreativen‹ Formen der Handwerkskunst eingeteilt werden. Wir verwandeln Fotografien von Artefakten und ihre interpretatorischen Narrative in semi-fiktionale Objekte und Erzählungen und befreien so die gesammelten Exemplare von den ihnen bisher zugewiesenen Beschreibungen. Damit setzen wir uns für eine archivalische Bestandsaufnahme ein, die sich weigert, diese Gegenstände gemäß standardisierter Fakten und Wissensstandards zu benennen. Vorgegebene soziale und historische Entwicklungsverläufe werden so verschleiert und subjektive, provokative und kontrafaktische Geschichten angedeutet. Selena Kimball (Bild) und Alyssa Grossman (Text), The Dark, 2015, Collage (Papier auf Papier), 12cm x 13 cm
Selena Kimball (Bild) und Alyssa Grossman (Text), The Hero, 2015, Collage (Papier auf Papier), 18.5 cm x 14.5 cm
Wie die Surrealist*innen vor langer Zeit feststellten, können Destabilisierung und Veränderung der etablierten Funktionen eines Objekts Unordnung und Verwirrung provozieren, dem Objekt eine gewisse fetischistische Macht verleihen und damit eine ›Krise‹ der Erfahrung auslösen. Die Fähigkeit von Fetischen, den Körper in einen Zustand zu versetzen, in dem er physisch mit deren Anwesenheit ringt, weist darauf hin, dass deren Störungen nicht einfach nur kognitive Akte, sondern Beiträge zu neuen emotionalen und sinnlichen Zuständen sind. Den Surrealist*innen zufolge, können solche Erregungen von traumartigen emotionalen und physischen Zuständen neue Arten von soziopolitischem Bewusstsein zur Folge haben sowie einen Raum für die Vorstellung alternativer (gegen-kolonialer) kultureller Ordnungen bieten. Die Rückkehr zu diesen Ideen, etwa ein Jahrhundert nachdem sie das erste Mal vorgeschlagen wurden, ist nicht so sehr ein Versuch, aus einer statischen Vergangenheit starre Formeln auferstehen zu lassen. Vielmehr verstehen wir es als Experiment, politisch begründete künstlerische Anliegen in neue Dialoge mit gegenwärtigen kulturellen Strukturen und kuratorischen Theorien einzubinden. Zusätzlich legt eine Erweiterung des ursprünglichen Augenmerks der Surrealist*innen wichtige Grundlagen für die weitere Entwicklung neuerer Formen anthropologischer Recherche und Praxis. Wie oben beschrieben, nimmt diese Zusammenarbeit zurzeit die Gestalt einer sich entfaltenden Pilotstudie, eines sich abzeichnenden Entwurfs, an, der in eine Menge möglicher Richtungen entwickelt werden kann. Während wir die Produktion einer breiten Serie von collagierten Objekten und Texten fortsetzen, werden Kimball und ich für diese Arbeit einen eigenen ethnographischen Katalog anlegen, in dem wir eine Sammlung ungewöhnlicher Dinge und Narrative als legitime (wenn auch inexistente) Forschungsartefakte präsentieren. Als ein weiteres Ergebnis kurativer Bemühung würde diese Publikation nicht nur Museumsdiskursen einen neuen Bezugsrahmen geben und koloniale Erbschaft neu erscheinen lassen, sondern auch das Genre des akademischen Ausstellungskataloges selbst in Frage stellen. Durch das Befolgen be-
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Alyssa Grossman stimmter Forschungsprotokolle und allgemein anerkannter Schemata museologischer Darstellungsweisen – allerdings absichtlich seltsam und fremdartig gemacht – würde sie die Komplexität und Widersprüchlichkeit eines Produkts hervorheben, von dem für gewöhnlich angenommen wird, es beinhalte ›gültige‹ wissenschaftliche Berichte. Indem es weder eindeutig Kunstwerk noch ›Produkt‹ wissenschaftlicher Forschung ist, widersteht das Projekt als Ganzes den Versuchen, seine Form, Funktion und Bedeutung zu bezeichnen oder zu kategorisieren. Durch das Vermeiden konventioneller Mechanismen akademischer Auswertung hoffen wir, die Betrachter*innen dazu zubewegen, die eigene Wahrnehmung des affektiven Werts und der wissenschaftlichen Bedeutung der Artefakte aus kolonialen Kontexten zu überdenken. Zwar läuft die hier beschriebene Arbeit Gefahr, eher als formale Übung einer visuellen und textlichen Collage verstanden zu werden, denn als eine soziale und kulturelle Kritik normalisierter Museumskonventionen. Genau dies aber ist der Grund, warum es notwendig ist, ein solches Projekt weiterhin im akademischem Feld und im Dialog mit ethnographischen und museologischen Forscher*innen zu verankern – damit Anthropolog*innen, Archivar*innen, Kurator*innen und ihr Publikum weiterhin ihre Praxis reflexiv überprüfen und neue Möglichkeiten für Form und Methodologie wissenschaftlicher Praxis und Wissensproduktion entwickeln können. Entgegen der Erwartung, dass ein ethnographischer Katalog seinen Lesern erklärende oder umfassende Geschichten bieten sollte, stellt unsere Arbeit infrage, dass die Aufgabe von Kurator*innen und Anthropolog*innen vor allem im Klarstellen, Beleuchten und Belehren bestünde. Manche mögen die Entscheidung fragwürdig finden, diese besonderen Museumsartefakte von den langjährigen wissenschaftlichen Aufzeichnungen ihrer (kolonialen) Identität zu trennen. Dennoch verschiebt diese Strategie die Quelle der Autorität von scheinbar statischen archivalen ›Fakten‹ hin zu einer sich stets entwickelnden und fließenden Lagerstätte von Materialien, die nicht den üblichen Kriterien institutioneller Gültigkeit entsprechen. Ein solcher Ansatz eröffnet das Potential für Objekte kolonialer Forschung, die Rolle der befremdlichen Fetische bei Clifford anzunehmen, die den etablierten Modi der Kategorisierung trotzen und Teil einer sich entwickelnden Zusammenstellung materieller Begegnungen in der Gegenwart werden. Vor dem aktuellen Hintergrund globaler Kontroversen, die sich um die Politik der Rückführung von Artefakten, Entschädigungen und den Zugang zu digitalisierten Kollektionen drehen, gibt es einen dringenden Bedarf nach neuen Ansätzen zur Dekolonisierung der Museen. Derzeit, da sich Menschen und Objekte in einem bislang unbekannten Maß unsicher über nationale Grenzen bewegen, ist es umso dringlicher, die Beziehung zwischen ethnographischen Kollektionen und den Gemeinschaften, denen sie entstammen, zu überdenken. Während die Weiterentwicklung kuratorischer Methoden, die die institutionellen Machtstrukturen und politischen Mechanismen hinter den Prozessen der Sammlung und Zurschaustellung kritisieren, notwendig ist, müssen neue Bedingungen für Forschung im postkolonialen, archivalischen
Kontrafaktische Provokationen Kontext in Betracht gezogen werden. Unser Projekt stellt ethnographische Materialien auf eine Art zusammen, die deren Widerstand gegenüber konventionellen Klassifikationsschemata hervorhebt und stellt kontrafaktische, surrealistisch inspirierte Verbindungen mit dem archivalischen Bereich vor. Damit bricht es mit dem traditionellen akademischen Impuls zu wissenschaftlicher Erklärung und wendet sich so neuen Ansätzen der Beschäftigung mit den verworrenen Angelegenheiten kultureller Erbschaft, kolonialer Geschichte und kuratorischer und anthropologischer Prozesse der Interpretation zu.19
Übersetzung: Isolda MacLiam
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Koloniale Erbstücke – Eine Objektperformance Marie Kirchner But decoloniality can never be a state of mind – It will always be a quest. (Abels 2016: 10)
Zur Veränderung der Bedingungen der Auseinandersetzung1 I would like to welcome the present delegation of the assembly of heirlooms and members of the parliament of things. They come from different places in Germany, located in families with colonial ancestors, where they were handed down across generations until today. As a delegation, they are representing many other colonial heirlooms in Germany. They are here to give us an insight into what matters to them and they would also like to raise some questions. You are invited to participate in the assembly and to exchange knowledge and perspectives. Any kind of participation is welcome.
Questions can be asked, comments made.
Absences can be recognized and thoughts may be expressed. The focus is on the objects that let us gather around themselves, and invite us to enter into a negotiation. Chaos may be included. You can move and walk around.
There is no distinct order.
You can change your position whenever you want.
Die Objektperformance When Objects speak back: Assembly of German Colonial Heirlooms war mein Beitrag zu dem Symposium Translating Pasts into Futures2. 1 | Nach Mignolo geht »[D]ie Epistemologie der Grenze […] mit der Dekolonialität Hand in Hand, denn die Dekolonialität konzentriert sich darauf, die Bedingungen der Auseinandersetzung zu verändern, und nicht nur deren Inhalt« (Mignolo 2011). Die Performance befragt diese Bedingungen. 2 | An der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, 13.-14. Oktober 2017, Veranstaltungsprogramm auf der Homepage der HFBK, URL: https://www.hfbk-hamburg. de/de/projekte/symposium-translating-pasts-futures/, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
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Marie Kirchner Textteile der Performance fließen als Äußerungen 3 fragmentarisch in den Text ein, sodass die mit ihnen intendierte Unruhe durch Sprünge, Brüche, Perspektivwechsel, ihren Uneindeutigkeiten, Überlappungen und Dissonanzen auch für die Leser*innen erfahrbar werden können. Die Objektperformance ist im Rahmen meiner Forschung zu kolonialen Erbstücken entstanden. Ich gehe davon aus, dass die Objekte aus kolonialen Kontexten viele Fragen aufwerfen und eine Verhandlung ihrer Erwerbsumstände, ihrer (Re-)Präsentationen und ihres Verbleibs einfordern. Mit meiner Arbeit versuche ich die Perspektiven der Objekte einzubeziehen, um mit diesen die koloniale Durchdringung eigener Sichtweisen zu erkennen und über ein ›in Bewegung geraten‹ Dekoloniale Optionen4 zu entwickeln. Dekoloniale Optionen werden von Walter Mignolo als ein Denken jenseits disziplinärer Festschreibungen ausgewiesen, das von den Erfahrungen, Reflexionen und Infragestellungen geografischer, kultureller und politischer Grenzen ausgeht. Sie beruhen auf den Konzepten des »Grenzdenkens«5 und der »Grenzepistemologie«, dessen Ausgangspunkt in den Ländern des Südens liegt und das sich über Verbreitungsrouten durch Migrationsbewegungen von dort aus in die Länder des Nordens ausgedehnt hat (vgl. Mignolo 2011). Dekoloniale Optionen im Denken, Handeln, Forschen und Verstehen wurden und werden (bisher maßgeblich von Kolonialisierten sowie der Diaspora und in Kämpfen von Migrant*innen) auf der ganzen Welt entwickelt. Sie gehen von einer Kolonialität aus, die weit über den historischen Kolonialismus hinausgeht und bis in die Gegenwart wirkt. Walter Mignolo und Mladina Tlostanova verweisen auf diese als Alternativen zur kolonialen Matrix (vgl. Tlostanova/Mignolo 2012: 37-41), die damit an das Denken des peruanischen Soziologen Aníbal Quijano anschließen. Dieser prägte den Begriff der Kolonialität der Macht (vgl. Quijano 2000: 396), womit »das strukturelle Fortwirken kolonialistischer Muster in Ökonomie, Politik und Kultur auch nach und 3 | Äußerung steht hier im Sinne eines dekolonialen Denkens anstelle von Repräsentation, die als Rhetorik der Moderne abgelehnt wird. Ich beziehe mich auf die Position des Literaturwissenschaftlers Walter Mignolo, demnach die Äußerung nie dazu da sein wird, die Welt zu repräsentieren, sondern um frühere, bereits existierende Äußerungen zu konfrontieren oder zu unterstützen (vgl. Gaztambide-Fernández 2014: 199) Die Textfragmente finden sich in Form der nun graphischen Verhandlung der Objekte mit kolonialem Kontext als Zwischenteile im Text wieder. Sie beinhalten u.a. Fragen an die Objekte sowie Perspektiven der Objekte, Zitate und Fragen in Bezug auf meine Position als Forscherin und Künstlerin. 4 | Zur dekolonialen Option vgl. auch Jaime E. Flores Pinto: Sociologia del Ayllu,
URL: http://rcci.net/globalizacion/2009/fg919.htm, (letzter Zugriff: 03.06.2018); Walter Mignolo: The Communal and the Decolonial, URL: http://turbulence.org.uk/ turbulence-5/decolonial, (letzter Zugriff: 03.06.2018).).
5 | »›Decolonial border thinking‹ [Herv. i.O.] [...] is grounded in the experiences of the colonies and subaltern empires. Consequently, it provides the epistemology that was denied by imperial expansion. ›Decolonial border thinking‹ also denies the epistemic privileges of the humanities and the social sciences – the privilege of an observer that makes the rest of the world and object of observation« (Tlostanova/Mignolo 2012: 60).
Koloniale Erbstücke jenseits kolonialer Herrschaft« (Kastner/Waibel 2012: 11)6 gemeint ist. »Sie wirkt demnach auf all deren Ebenen, in allen Bereichen und materiellen wie subjektiven Dimensionen der alltäglichen und gesellschaftlichen sozialen Existenz« (ebd. 12). Damit bezieht sich das Konzept der Kolonialität auch auf die Wahrnehmung, das Erkennen, Verstehen und Begreifen. Mignolo fasst den Gedanken Quijanos folgendermaßen zusammen: »Wenn die Erkenntnis ein imperiales Instrument der Kolonialisierung ist, dann ist die Dekolonialisierung der Erkenntnis eine der dringlichsten Aufgaben.« (Mignolo 2012: 48; vgl. Quijano 1989: 437-448)
Marie Kirchner, 2017, Colonial Heirlooms, Polymerton
Sowohl durch die Weitergabe von Bildern, Vorstellungen und Narrationen durch koloniale Erbstücke innerhalb von Familien, als auch durch die Präsentation von Objekten aus kolonialen Kontexten in Museen finden sich mehr oder weniger direkte und indirekte, (un-)gebrochene koloniale Kontinuitäten. In der Verhandlung mit diesen Dingen lassen sich die bestimmenden Strukturen offenlegen, in die wir und die Objekte gemeinsam eingelassen sind. Ihre Archivierung und Präsentation in Ausstellungs- und Privaträumen sowie die Situiertheit ihrer Betrachter*innen können als Rahmenbedingungen der Auseinandersetzung mitgedacht und hinterfragt werden. Tradierte, koloniale Narrative können so demontiert und die Kolonialität der Erkenntnis, die im Erkennen, Verstehen und Begreifen liegt, herausgefordert und brüchig werden. 6 | Dieses Zitat stammt aus der umfangreichen Einleitung zu dem von ihnen erstmals auf Deutsch übersetzten Buch Epistemischer Ungehorsam von Walter Mignolo. Sie verstehen Mignolo als einen »informierten Vermittler« von »wesentlichen historischen Inspirationen des dekolonialen Denkens« in Lateinamerika. Die beiden Kulturwissenschaftler versuchen mit dieser Übersetzung Mignolos Ansätze zu Dekolonialen Optionen im deutschsprachigen Raum in den Diskurs einzubringen (Kastner/Weibel 2012: 9).
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Marie Kirchner As soon as we have some awareness of what colonial means and assume the existence of various colonial continuities, then the need for decolonization becomes obvious. Only, aren’t we, or better, am I not colonial by myself, filled with colonial continuities in my mind, my body, my senses, my sight, my hearing, my knowledge? Different processes of decolonisation have been and are still being developed by the colonized and the diaspora all over the world. However it is precisely the countries of the colonial powers that should decolonize themselves in an active process.
Decolonizing is not possible through colonial appropriation practices of decolonial resistance and liberation methods.
Are these mainly academic, often particularly white (why?) spaces that surround us and in which we move, designed to enter into a process of decolonization?
Aretha Schwarzbach-Apity has pointed out how the rulership and its dynamics of exclusion are inscri bed in bourgeois-colonial scientific systems. The exclusion of colonized non-white perspectives forms the background for the term white doctrine.7
This trend has remained virtually unbroken in German acdemia up to today.
When Objects Speak Back: Assembly of Colonial Heirlooms »›Thing‹, Ding oder (franz.) cause bezeichnet (der altdeutschen Sprache entstammend) ursprünglich einen bestimmten Typ von Versammlung und war über Jahrhunderte die Bezeichnung für ›die Sache, die Leute zusammenbringt, weil sie sie entzweit.‹« (Latour 2005: 30).
In dem Raum, in dem eben noch im Rahmen des Symposiums Translating pasts into futures – dekoloniale Perspektiven auf Dinge in Kunst, Design und Film ein Vortrag mit 7 | Dies geht aus ihrem Beitrag in dem 30-minütigen Film Ein Waisenhaus in China (D, 2014) der Künstlerin Karen Michelsen Castañón hervor sowie aus verschiedenen Vorträgen, die sie anlässlich von Tagungen und Seminaren gehalten hat, wie beispielsweise Grenzen westlichen Denkens, ein Seminar der Stipendiat*innen der Friedrich-Ebert-Stiftung 2010, und Postkoloniale Grenzen in Universität, Wissenschaft und Gesellschaft, eine Veranstaltungsreihe des AStA Hamburg 2015 (siehe dazu auch Schwarzbach-Apity 2013: 247-261).
Koloniale Erbstücke Powerpoint Präsentation stattgefunden hat und Stühle und Tische dementsprechend ausgerichtet sind, befindet sich in der Mitte des Raumes nun ein in die Höhe ragender Kreis aus gestapelten Stühlen. Die Installation wirkt im ersten Moment geschlossen, wie eine sich auftürmende Burg. Beim Näherkommen wird der Kreis aus Stapelstühlen durchlässiger, es öffnen sich Lücken, die ein Eintreten des Kreises in seine Mitte möglich machen. Und dann sieht man sie: die weißen Objekte. Oder sehen sie einen an? Sie befinden sich ganz oben auf Augenhöhe, auf den Sitzflächen der Stuhltürme. Der Anblick ist ungewohnt, irritierend. Was sind das für Objekte? Unschwer lässt sich ein Elefantenzahn erkennen, etwas, das wie ein Gefäß mit spitzem Deckel aussieht, erinnert an einen Gegenstand aus einem ethnologischen Museum, bei einem anderen scheint es sich um ein Instrument zu handeln – sind das Kaurimuscheln? Was machen die Objekte auf den Stühlen? Assoziationsketten beginnen wie Fäden den Raum zu durchkreuzen und die Betrachter*innen mit den Objekten zu verbinden.
Marie Kirchner, 2017, Colonial Heirlooms, Polymerton
Objekte aus kolonialen Kontexten Für fast alle Objekte aus kolonialen Kontexten gilt, dass ihr Status (mit Status beziehe ich mich auf ungeklärte Eigentumsverhältnisse auf Grund mangelnder oder verschwiegener, bzw. nicht aufgearbeiteter Herkunfts-, Produktions- und Erwerbskontexte) nach wie vor unklar ist. In der Regel wird er beispielsweise in Ausstellungskontexten nicht benannt. Aufgrund ihrer verschiedenen Unrechtskontexte, die auf ihre gewaltvolle Aneignung im kolonialen Macht- und Abhängigkeitsverhältnis zurückzuführen sind und entsprechende Rückgabeforderungen einschließen, handelt es sich um hochstrittige Objekte in (deutschen) Museen und Privatbesitz. Gerade weil die Objekte, ihre Spuren, Verweise und Bezugnahmen nicht einfach zu lesen sind, erfordern sie eine intensive Auseinandersetzung. Bruno Latour spricht daher auch von zum Ding gewordenen Objekten. Er bezeichnet so Objekte, die nicht mehr im Licht durchfluteten Raum für Klarheit, Transparenz und Offensichtlichkeit von Fakten stehen, sondern in ihrer Komplexität zur Streitsache werden.
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Marie Kirchner So verschiebt sich diese Verhandlung von Objekten bei Latour von einer Ästhetik der Objekte zu einer Ästhetik der Angelegenheiten der Dinge, welche bei ihm zur »res publica« werden (vgl. Latour 2005: 32). Aus diesem Grund fordert er schließlich ein Parlament der Dinge, weil es für ihn auch um ein Recht auf politische Repräsentation von Dingen geht. Dieser Ansatz findet sich bei Regina Sarreiter wieder, die davon ausgeht, »dass Objekte als Agenten in der Verhandlung von Geschichte beteiligt und als politische und soziale Akteure darin beweglich sind« (Sarreiter 2016: 117). In die Praxis überführt sie diese Überlegungen mit der Gruppe -Artefakte//anti-humboldtund bezeichnet dieses in Verhandlung treten auch als Aktivierung »in dem sich ein Objekt aus einem ihm zugeschriebenen Status löst und in eine Ungewissheit eintritt, die unentschieden zwischen Objekt und Subjekt, Individuum oder vermeintlichem Beweis wissenschaftlicher Erkenntnis oszilliert« (ebd.). Die Aktivierung wird von der Gruppe als Handlungsraum beschrieben, in dem eine Situation entsteht, in der der Status eines Objekts hinterfragt und in eine gesellschaftliche Verhandlung gebracht wird, »die notwendigerweise konflikthaft sein wird« (ebd. 121).
Verschiebung von Blickregimen In den Ausstellungsdisplays ethnographischer Museen sind die Ausstellungsstücke auf den Blick der Besucher*innen ausgerichtet und unterliegen damit der Deutungsund Repräsentationsmacht der Museen. Deren koloniale Kategorisierungsmuster haben sich uns durch die Präsentation, Benennung und Bewertung der Objekte tief eingeprägt. Die Anordnungen implizieren auch ein klar definiertes hegemoniales Zeige- und Blickregime, worin nicht selten auch Re-inszenierungen kolonialer Blickregime enthalten sind. Solange diese Blickregime, ihre Konstruiertheit und ihre Effekte unhinterfragt bleiben, haben sie Anteil an den Kontinuitäten kolonialer Wissensproduktion. Projektionen von exotisierenden Phantasien auf Objekte aus kolonialen Kontexten und sich die darin manifestierenden (Re-)Konstruktionen des ›Anderen‹ und seiner Abwertung bleiben dabei in der Regel unerkannt (vgl. Benett 2010: 58). Der derart kuratierte und gelenkte Blick wird auf diese Weise eingeschränkt zu einem einseitigen Blick auf die Objekte. Für die Objekte und ihre Kontexte heißt das, dass Narrative entstehen, denen sie nicht widersprechen können – eine Aktivierung ist notwendig. Wenn in dem sich einander bedingenden Verhältnis von Raum, Objekten und Betrachter*innen Blickverhältnisse entstehen, stellt sich die Frage, ob ein in Bewegung geraten aller Positionen Verwirrungen verursachen kann, die zu den notwendigen Verschiebungen kolonialer Episteme führen: Wer ist Betrachter und wer Objekt der Betrachtung?8 Für Bruno Latour sind »die nicht-menschlichen Wesen keine Objekte und noch weniger Tatsachen. Sie erscheinen als neue Entitäten und bringen jene 8 | In Bezug auf koloniale Perspektiven ist mir an dieser Stelle wichtig, zumindest darauf hinzuweisen, dass eine der wesentlichen Aspekte der Durchsetzung von Kolonialismus war, Menschen zu Objekten zu machen, auch wenn ich hier nicht weiter darauf eingehe.
Koloniale Erbstücke zum Sprechen, die sich um sie herumscharen und miteinander über sie reden« (Latour 2001: 98). In der Performance werden Fragen an die Objekte, beispielsweise nach ihrer Materialität, Funktion und Herkunft, nach ihrer Originalität und Authentizität, von diesen in den Raum zurückgegeben, indem sie ihre eigene Anwesenheit sowie den Raum selbst und die Situiertheit der Anwesenden und Abwesenden befragen: Who is speaking? Who is present today? Who is absent? Which language are we using?9 Where are we?
What do you see when you look at me?
Die Objekte werden zu Akteur*innen, welche die kolonial präfigurierten Blickregime zu verschieben versuchen. Die Aufmerksamkeit wird durch die in weißen Polymerton nachgebildeten Objekte kolonialer Erbstücke umgelenkt, bzw. der Blick auf die Betrachter*innen zurückgelenkt, da gelernte Wahrnehmungsmuster nicht bedient werden und die sich im Blick manifestierenden Imaginationen und Assoziationen im Raum bleiben, weil sie durch das Objekt nicht bestätigt werden. Dieser neu entstehende Raum, ein performativer Raum im strukturgebenden Raum, lässt sich in der Performance auch als imaginärer Zwischenraum verstehen. Ein ähnlicher Begriff findet sich bei Judith Elisabeth Weiss. Sie beschreibt einen fiktionalen Raum in Bezug auf die Arbeit des Ethnologen Michael Taussig, »als eigentlichen Ort der Mimesis, wo das Original in Kopie und die Kopie in das Original verkehrt werden kann und Mimesis damit zum verwirrenden Austausch wird.« (Weiss 2005: 129) Dieser imaginäre Zwischenraum wird in der Performance produktiv, wenn man in den weißen Nachbildungen den »ungeheuren Gewinn an Spiel-Raum erkennt« (Benjamin 1989: 369). Bei Walter Benjamin entsteht dieser mit dem Verlust der Aura im Moment der Reproduktion eines Kunstwerkes und erfordert ein mimentisches Vermögen. Das geschieht beispielsweise, wenn statt dem »sich in ein Kunstwerk versenken« zu können, dieses in seiner Fragmentierung und Bruchstückhaftigkeit mimetisch nachvollzogen werden muss, um es »erkennen« zu können (vgl. Hüttinger 1994 zitiert nach Weiss 2005: 128). Da es sich bei den weißen Nachbildungen in der Performance nicht um Originale handelt, werden sie in dieser Versammlung einerseits zu Vertreter*innen für Objekte aus kolonialen Kontexten und sprechen andererseits für sich selbst. Durch diese Un9 | »›Science‹ (knowledge and wisdom) cannot be detached from language; languages are not just ›cultural‹ phenomena in which people find their ›identity‹; they are also the location where knowledge is inscribed. And, since languages are not something human beings have but rather something of what human beings are, coloniality of power and of knowledge engendered the coloniality of being [colonialidad del ser].« (Mignolo 2003: 669)
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Marie Kirchner eindeutigkeit und Anwesenheit auch in Bezug auf den konkreten Raum werfen sie verschiedene Fragen auf. Damit unterbrechen die weißen Objekte der Performance die Wahrnehmungsmuster der Teilnehmer*innen und entziehen sich einer konkreten Zuordnung. Es geht also nicht darum, was in den Objekten erkannt wird, sondern um das Wie der Erkenntnis. What do I see? What does that say about me, my position, my knowledge, my view? How can I identify something and define it as some thing? How do I talk about them? Do they talk to me? Do they talk about me? What might be their questions? Their demands?
Museumsobjekte und Familienerbstücke als res publica »Die Frage ist [...], ob man sich in den Prozess einer solch umfassenden ›Ent-Schichtung‹ überhaupt hineinbegeben mag. Trotz aller Möglichkeiten einer differenzierten Kritik oder der Elaborierung unterschiedlicher Perspektiven bin auch ich mir nicht sicher, ob dies etwas Grundsätzliches zu ändern vermag. Die konzeptionellen und verräumlichten Fortschreibungen epistemischer Gewaltfigurationen sind nicht nur äußerst verdichtet, sie sind vor allen Dingen systemimmanent. Was man also zunächst thematisieren müsste, wäre der weiße oder westliche Blick und seine Repräsentationen, wären die kolonialen Alt- und Neulasten und ihre wandlungsfähigen polylogen Aussage- und Spannungsfelder, wären immer neue und subtilere Aneignungspraxen. Dekonstruktion, also. Für mich stellt sich daher die Frage, ob ein solcher selbst-/ kritischer, vornehmlich weiße/westliche Selbst-/Verständlichkeiten ins Zentrum der Betrachtung rückender Fokus – so notwendig er für veränderte Zugänge auch ist – die eigentlichen ›Objekte‹ weniger stumm macht, ob er ihren Blicken aus Glaskästen und Vitrinen heraus tatsächlich begegnet, ob er ihren Geschichten eine narrative Eigenständigkeit überantwortet.« (Al-Samarai/ Kazeem/Piesche 2007: 171 [Herv. i.O.] How could I operate out of a privileged, white and academic position and intervene without speaking of others, without speaking in place of somebody and without falling in the traps of the colonial repetition and reproduction?
Eine diffuse Erinnerung: Hatte ich einen Urgroßvater mit einer Bierfabrik in Namibia? Im September 2013 reiste ich zu einem Familientreffen und machte spontan erste Interviews mit Mitgliedern meiner Familie. Ich weiß das, was weißt Du? Die meisten von
Koloniale Erbstücke ihnen hatten wenig Ahnung oder kein Interesse an dem Vorfahren, der, wie sich herausstellte, um 1905 eine Zuckerfabrik in der deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika, heute der Republik Tansania, hat bauen lassen. Aber alle Familienmitglieder verschiedener Generationen fingen sofort an, über dieselben Gegenstände aus dem Erbe des Urgroßvaters zu sprechen und Geschichten über diese zu erzählen. I’ve never seen these heirlooms before. I didn’t know they existed. But I remember very well the sand roses, stories of spiders in the size of a palm, and scorpions in envelopes. The house of my uncle was full of such things.
Wenig später begann ich mit der Forschungsarbeit zu kolonialen Erbstücken in deutschen Familien. Erste Recherchen zeigten, dass es weit mehr Familien gab, die noch heute im Besitz von solchen Erbstücken sind. Sie wurden während der deutschen Kolonialherrschaft von Familienmitgliedern, die als Teil des kolonialen Projekts an seiner Durchsetzung beigetragen hatten, mitgebracht. Der Historiker Jürgen Z immerer betont: »Entgegen der häufig zu findenden Praxis, dass ein Erwerb als rechtmäßig angesehen wurde und wird, bis der Unrechtscharakter erwiesen ist, gilt eigentlich das Gegenteil: Koloniale Objekte stehen unter dem Verdacht, unrechtmäßig erworben zu sein, bis das Gegenteil bewiesen ist.« (Zimmerer 2015: 24) Was mich an diesen Objekten interessiert, ist, dass sie anschließend über hundert Jahre, zwei Weltkriege und vier Generationen in den Familien aufbewahrt und weitergegeben wurden. I don’t feel good, sometimes I have nightmares... the hippo whip lies behind my clothes in my wardrobe.
... what shall I do with it? Who am I?
The heir and owner pushed it into my hand after our conversation while I was about to leave: »Maybe it is better off with you«. Did he want to get rid of it? One hundred years. They have been passed on for a hundred years. The great-grandchild tells how it hung on the wall of her grandmother’s dining room – on the ›Afrikawand‹. Also, that elephants are her favorite animals. That’s why she got the elephant tusk. And that’s probably why she went to South Africa later.
I don´t know what to do with the hippo whip in my closet.
Nicht nur in dieser Familie, auch in der Ausstellung Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart (2017) im Deutschen Historischen Museum in Berlin fand sich in einer der Vitrinen eine Nilpferdpeitsche. Dort diente sie der Visualisierung der staatlich angeordneten Auspeitschung und Misshandlung der Bevölkerung in den Kolonien. Die in der Ausstellung bereitgestellten Informationen legten nahe, dass die Peitsche so konstruiert war, dass sie Verletzungen hervorrufen,
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Marie Kirchner aber nicht arbeitsunfähig machen sollte. Weitere Dokumente bezeugen die Diskussion, die damals um ihren Einsatz entbrannte. Sowohl das Museumsobjekt als auch das Erbstück wurden – einmal institutionalisiert und einmal privat – über etwa hundert Jahre aufbewahrt. Warum? Im Kontext der genannten Ausstellung wurde das Museumsobjekt zur Beweislast kolonial-kulturellen Erbes. Da die Nilpferdpeitsche in diesem Ausstellungsdisplay als ›Original‹ ausgestellt ist, re-inszeniert sie, gerahmt durch das spezifische Display des Museums, aber auch die koloniale Gewalt im Blick des Publikums. Eine ähnliche Peitsche hing im Ensemble der Afrikawand über dem Esstisch, an dem die Urenkelin zweimal am Tag aß, wenn sie bei ihrer Großmutter war. Erst als der Sohn der Urenkelin die Peitsche schließlich erbte, in der vierten Generation nachdem sie nach Deutschland gebracht wurde, wird versucht, sich ihrer zu entledigen. Wofür steht sie all die Jahre? Nicht nur derart explizite Objekte verweisen darauf, mit welcher Gewalt die koloniale Herrschaft durchgesetzt wurde. Die Anwesenheit und Weitergabe dieser Objekte verlängert diese Herrschaftsverhältnisse im kollektiven Gedächtnis. Diese Objekte tragen durch ihre Präsentation in Museen und an Familienwänden und ihrer Aufbewahrung in öffentlichen und privaten Archiven zu einer Kontinuität kolonialer Strukturen und kolonialen Denkens bei. In diesen Dingen ruht die Vergangenheit nicht, sie wird mit ihrer Weitergabe, Aufbewahrung und ihrer (Re-)Präsentation vergegenwärtigt. Nora Sternfeld sieht genau darin den Objekt-Effekt: in den kolonialen Konflikt- und Gewaltgeschichten, die diese Objekte nicht zuletzt auch so begehrenswert machen. Durch ihre De- und Rekontextualisierung in Museen und auf dem Markt wurden diese Konflikte über den Objekt-Effekt jedoch zum Schweigen gebracht, kondensiert und nicht thematisiert (vgl. Sternfeld 2016: 33). Sie schlägt deshalb eine Re-Lektüre dieser in den Dingen sedimentierten Konflikte vor (vgl. ebd. 32). »Spekters are the haunting memories and ghostly presences that refuse to rest in peace and cannot be situated firmly within representation.« (Demos 2013: 8) Then, what does it mean to take a decolonial perspective within the German context? To what extent do certain spaces hinder the decolonization of knowledge? How are things seen and understood in predominantly white spaces?
In Verhandlung mit den Dingen treten Alle Objekte aus kolonialen Kontexten zusammen und jedes einzelne für sich genommen bilden, in ihren Verhandlungen, ein verwobenes Netz einer komplexen Kolonialgeschichte, dessen Fadenenden (direkt) bis (zu uns) in die Gegenwart reichen. Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten sich dieser kolonialen Komplexität zu widmen. Es lässt sich ein einzelner Faden aufnehmen und verfolgen, bis er sich im
Koloniale Erbstücke Gewirr mit anderen Fäden wieder verliert, neu verknotet, verdreht oder sich in anderen Fäden auflöst. Ein anderer Faden vermag aber vielleicht einen Weg weisen zu einem Ort, einer Person, einer Handlung zu einem spezifischen Zeitpunkt. Vielleicht lassen sich an einem Punkt im Netz einige Knoten lösen, wenn es zum Beispiel bei einer Rückgabe zu einem Heilungsmoment 10 kommt. Vielleicht können die Knotenpunkte nicht nur als Moment des Konfliktes, sondern mit Javier Rodrigo Montero und Antonio Collados auch als produktive Orte verstanden werden, die in diesen Netzwerken zu neuen Wissensproduktionen und einem (Ver-)Lernen einladen und in ihren kollektiven Projekten heterogene Akteur*innen versammeln (vgl. Montero/ Collados 2012: 14). So entsteht ein Netzwerk, in dem auch die Objekte zu Akteur*innen werden können. »Die nicht-menschlichen Wesen […] sind keine Objekte und noch weniger Tatsachen. Sie erscheinen als neue Entitäten und bringen jene zum Sprechen, die sich um sie herumscharen und miteinander über sie reden.« (Latour 2001 :98)
»Accordingly, the specific form of translation will determine whether and how the language of things with its inherent forces and productiveenergies is subjected to the power and knowledge categories or not.«11
While Latour with his Parliament of Things »opens up a space for nonhumans free from traditional anthropocentric approaches, there is still no guarantee that such an analysis is going to give voice to all the actants involved, or whether the voices of the actants can actually be recovered.« (Mallavarapu/Prasad 2006: 195)
Mignolo verweist darauf, dass die Entkoppelung und das Grenzdenken erst möglich werden, wenn eine Sensibilität für die Kolonialität entsteht. Für eine dekoloniale Praxis schlägt die Musikwissenschaftlerin Birgit Abel vor, den Begriff der restlessness von Emmanuel Levinas mit dem Ansatz von Mignolo zu verknüpfen: »It is the eternal restlessness inherent in de-linking, which is not looking for new paradigms, but for other perspectives, other (hi)stories and other epistemologies.« (Abel 2016: 10) In der 10 | »Once you take this step, even if you have not acquired these knowledges and
understandings as a member of an Indigenous or Afro-Caribbean culture, or any other non-Western culture and civilization, if you are of European descent and mixed blood, once you realize that you have also been colonized, that your mind, your body, your senses, your sight, your hearing have been modeled by the colonial matrix of power, that is, by its institutions, languages, music, art, literature, etc. – or what is the same as Western Civilization – you begin to ›heal‹. The process of healing is that of becoming a decolonial subject, or ›learning to be‹. This was one of the goals of education at the Universidad Intercultural de las Naciones y Pueblos Indígenas Amawtay Wasi, in Ecuador.« (Gaztambide-Fernández 2014: 207 [Herv. i.O.])
11 | Frei für die Performance von der Autorin ins Englische übersetzt. Im Original:
»Die spezifische Form der Übersetzung wird darüber entscheiden, ob und wie die Sprache der Dinge mit den ihnen innewohnenden Kräften und produktiven Energien den Macht- und Wissenskategorien menschlicher Formen der Regierung unterworfen wird oder nicht.« (Steyerl 2006)
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Marie Kirchner Performance ist es die Uneindeutigkeit der Objekte, die über eine Verunsicherung zur Unruhe wird und zu einem möglichen Moment der Entkoppelung von kolonialen Erzählungen und ihren immanenten Epistemen führen kann. Er birgt in sich den Moment des Verlernes von Sehgewohnheiten und kann darüber zu einer Dekolonialen Option werden. Diese Erfahrung vermag einen Erkenntnisprozess auszulösen, der die Möglichkeit einer Entkoppelung in sich trägt. Die Objektperformance Colonial Heirlooms befragt solche Erkenntnisprozesse mit dem Versuch, Betrachter*innen und Dinge miteinander in ein Verhältnis zu setzen und die Blickverhältnisse im Raum und zum Raum in Bewegung geraten zu lassen, um die Blicke der Akteur*innen ineinander zu verschränken. Now we would like to talk about you. What do I mean to you?
What do you see when you look at me?
Do you know who I am?
What do you think I could be? Why? What do I see? What do you think do I know? Who are YOU?
L iteratur Abels, Birgit (2016): »Restless, Risky, Dirty (An Introduction), in: Embracing Restlessness: Cultural Musicology, Hildesheim: Georg Olms Verlag, S. 1-15. Benett, Tony (2010): »Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens«, in: Dorothea von Hantdman/Caroline Meister (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 47-77. Benjamin, Walter (1989): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt a. Main: Suhrkamp, S. 350385. Demos, T.J. (2013): Return to the Postcolony – Specters of Colonialism in Contemporary Art, Berlin: Sternberg Press. Gaztambide-Fernández, Rubén (2014): »Decolonial options and artistic/aesthetic entanglements: An interview with Walter Mignolo by Rubén Gaztambide-Fernández«, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society Vol. 3, No. 1, S. 196-212. Hüttinger, Stephanie (1994): Der Tod der Mimesis als Ontologie und ihre Verlagerung zur mimetischen Rezeption, Frankfurt a. M.: Peter Lang.
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Omnia sunt Communia1: Das kulturelle Erbe hacken Original und Kopie im ethnographischen Museum Sophie Lembcke »Deshalb: Bringt sie her, die Ethnologische Sammlung, räumt die Archive in Gänze leer und stellt all diese Kulturgüter komplett ins Berliner Schloss. Holt sie in die Mitte der Gesellschaft, um begreifbar zu machen, dass Deutschland hier noch eine Bringschuld hat. Eine Zurückbring-Schuld. Eine Ausstellung als Aufgabe – im doppelten Wortsinn. Startet Forschungsprojekte, sucht passende Sponsoren und macht den Rücktransport zum gesellschaftlichen Event. Für. Jedes. Einzelne. Stück. Bis das Schloss irgendwann wieder leer ist. Das wäre ein angemessener Umgang mit diesem Teil deutscher Geschichte. Und dann? Dann könnte man diese Leere einfach mal aushalten. Als Freiraum, der zum Denken inspiriert.«
Gereon Asmuth, 2017/Weg mit den kolonialen Souvenirs
Translating Pasts into Futures: Mit Gipsabformungen, 3D-Print und Code eine gemeinsamen Zukunft entwerfen In den letzten Jahren führte eine Verbesserung von 3D-Druck-Technologien zu neuen Archivpraxen, die etablierte, westliche Modelle der Geschichtsschreibung herausfordern. Mit ihnen lassen sich neue Sammlungs- und Ausstellungskonzepte für ethnographische und kunsthistorische Museen denken. Nicht nur in der 1 | Mit dieser Forderung kämpfen wir seit über 500 Jahren gegen den Kapitalismus. Heute heißt dies: #AllesAllen!
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Sophie Lembcke rchäologie werden diese Techniken intensiv genutzt, sondern auch zeitgenössische A Künstler*innen verunsichern in ihren Reprints den Status des Originals, verwirren Urheberrechts-Diskurse und befragen durch Veröffentlichung von Print-Daten auch post-koloniale Besitzverhältnisse. Ihre Arbeiten machen darauf aufmerksam, dass ein ›Original‹ erst mit seinem Transkriptionsprozess zum Replikat als ›Original‹ hervorgebracht wird, oder wie Hillel Schwartz formulierte: »Erst in einer von Kopien überschwemmten Welt machen wir die Erfahrung der Einzigartigkeit.« (Schwartz 2000: 219) Entsprechende ästhetische, juridische und ökonomische Diskurse stabilisieren dieses Verhältnis von Original – Kopie. Besonderes Augenmerk möchte ich darauf richten, dass jedoch die Kopien von zeitgenössischen Künstler*innen eben genau keine Replikation sind, sondern Künstler*innen bringen, abgesichert durch ihren Status als Autor*innen, in ihrer künstlerischen Produktion, in ihrer Transkription, weitere Originale hervor. Wir haben es also mit zwei verschiedenen Bewegungen zu tun, aus denen ›Originalität‹ hervorgeht. Mit dem Einsatz der 3D-Print-Technologie stellen auch die Künstler*innen Nora Al-Badri und Jan Nikolai Nelles die Frage nach einer Fetischisierung des Originals neu, halten sich jedoch nicht lange mit der Faszination an der jetzt ins Virtuelle gewendeten, vielfachen minimaldifferenten Wiederholung auf – als die Möglichkeit einer unendlichen Replikation des Quasi-Gleichen aus dem Code. Das Künstler*innen-Duo befragt mit ihren Arbeiten vielmehr, was diese Transkriptionen für das Verhältnis von Original, Kopie und Wiederholung für Archive und die mit und in ihnen verhandelten interkulturell-politischen Spannungen bedeutet. 2015 reagiert das Duo auf die seit 1924/25 oft wiederholten Restitutionsforderungen aus Ägypten von der Büste der Nofretete mit dem Hack The Other Nefertiti. Die Idee dreidimensionale Abbilder von Statuen zu unterschiedlichen Gebrauchszwecken herzustellen ist nicht neu: Bereits im 16. Jahrhundert sammelte der Bildhauer Leone Leonie d‘Arezzo Gips-Kopien von antiken griechischen Statuen, deren architektonische Kunst-am-Bau-Anordnung schon den einflussreichen Mitbegründer der Europäischen Kunstgeschichtsschreibung Giorgio Vasari zu einem begeisterten Eintrag in seinen Schriften Le Vite 2 verleitete.
2 | »Leone, in order to display the greatness of his mind, the beautiful genius that he has received from Nature, and the favor of Fortune, has built at great expense and with most beautiful architecture a house in the Contrada dei Moroni, so full of fantastic inventions, that there is perhaps no other like it in all Milan. In the distribution of the facade there are upon pilasters six captives each of six braccia and all of pietra viva, and between these, in certain niches, Fates in imitation of the antique, with little terminal figures, windows, and cornices all different from the common use and very graceful; and all the parts below correspond with beautiful order to those above, and the frieze-ornaments are all of various instruments of the arts of design. From the principal door one enters by a passage into a courtyard, in the center of which, upon four columns, is the horse with the Marcus Aurelius, cast in gesso from the original which is in the Campidoglio. [...]. Besides the horse, he has in that beautiful and most commodious habitation, as has been told in another place, as
Das kulturelle Erbe hacken Gipsabformungen als Machtpolitik: Material-Paragone, Besitz und Deutungshoheit Bereits mit der Entwicklung der Gipsabformungstechniken waren Machtpolitiken verwickelt: Nicht nur über den Raub, Erwerb und Besitz der antiken Originale ließen sich Herrschaftsansprüche herstellen, sondern auch mit teuren, visuellen Transkriptionen aus Gips wurde Herrschaft repräsentiert – oft, wenn die Originale nicht erwerb- oder transportierbar waren. Ein weiteres frühes Beispiel ist die Abformung der marmornen Belvedere-Antiken durch den Bildhauer Francesco Primaticcio im Auftrag des französischen Königs François I. und deren Nachguss als Bronzen auf Schloss Fontainebleau, unter anderem der Laokoon-Gruppe. Die Laokoon-Gruppe ist die bedeutendste Darstellung des mythischen Todeskampfs Laokoons und seiner Söhne. Diese Skulptur, die heute in den Vatikanischen Museen steht, ist, jüngeren archäologischen Debatten zu Folge, vermutlich selbst nur eine Marmor-Kopie aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. oder dem Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr. von einer Bronzeplastik aus Pergamon, die nicht erhalten ist. (Vgl. Kunze 1996) Die Kunsthistorikerin Christine Tauber legt in ihrem Aufsatz Translatio imperii dar, wie François I. diese Abformungs- und Abguss-Technik als Technik der Legitimation und Herrschaft entwickelte: François I. gewann die Schlacht von Marignano (1515) um das Herzogtum Mailand gegen die Alte Eidgenossenschaft (Liga vetus et magna Alamaniae superioris) und schloss 1516 eine Übereinkunft mit Papst Leo X. (das Konkordat von Bologna), indem François I. die Superiorität des Papstes über die Konzilien anerkannte, aber im Gegenzug das Recht erhielt, die kirchlichen Ämter in Frankreich eigenständig zu besetzen. Damit war die Kirche in Frankreich der politischen Sphäre unterstellt. In diesem Machtgefüge forderte François I., entgegen dem seit Ende des 15. Jahrhundert bestehenden Ausfuhrverbot von römischen Antiken, von Papst Leo X. die Herausgabe der 1506 nahe Rom ausgegrabenen Laokoon-Gruppe aus den Vatikanischen Museen. Leo X. ließ als Reaktion von dem florentiner Bildhauer Baccio Bandinelli eine Marmor-Kopie herstellen, die Vasari regionalpatriotisch als vollendeter als das Original betrachtete – zumal der fehlende Arm des Vaters ergänzt wurde.3 Ein Papst Leo X. nachfolgender Papst, Clemens VII., übergab nicht many casts in gesso as he has been able to obtain of famous works in sculpture and casting, both ancient and modern.« (Vasari 1550/1912)
3 | »He made a beginning with one of the boys of the Laocoon, the larger one, and executed this in such a manner that the Pope and all those who were good judges were satisfied, because between his work and the ancient there was scarcely any difference to be seen. But after setting his hand to the other boy and to the statue of the father, which is in the middle, he had not gone far when the Pope died. […] Then, having been provided by the Pope [Clemens VII] with rooms and an allowance, he returned to his Laocoon, a work which was executed by him in the space of two years with the greatest excellence that he ever achieved. He also restored the right arm of the ancient Laocoon, which had been broken off and never found, and Baccio
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Sophie Lembcke François I. das Replikat, sondern der Sammlung der Medici in Florenz. Gegen 1540 beauftragte daraufhin François I. den Bildhauer Primaticcio Gips-Abgüsse von der Laokoon-Gruppe in Rom zu erstellen und nach Frankreich zu bringen, wo dann in einer eigens eingerichteten Gusswerkstatt Bronzen hergestellt wurden. »Ursprünglich sind die Abgüsse als die ›zweitbeste Lösung‹ im Rahmen der Sammlungstätigkeit von François Ier zu interpretieren: Lieber hätte er sicherlich Marmororiginale erworben. Doch sehr bald wird dieses Defizit in einen Vorteil verwandelt: Die Haltung des französischen Königs gegenüber Original und Kopie scheint sich den ungünstigen Gegebenheiten des Kunstmarkts für Antiken schnell und flexibel angepasst und die Wertigkeiten von Original und Kopie in seinen Augen umgekehrt zu haben, weil er das Machtpotential entdeckte, das in Reproduktionen steckte. Die Innovation besteht bei den Antikenabgüssen nicht nur in der künstlerischen Umsetzung mit dem Anspruch, das Vorbild zu überbieten, sondern vor allem im kunstpolitischen Einsatz des Mediums ›Abguss‹ durch den Auftraggeber.« (Tauber 2009: 207)
Tauber stellt die These auf, dass hier eine dem Original überlegene Kopie geschaffen wurde, die in einem Material-Paragone4 mit dem Belvedere-Laokoon steht.5 Sie beschreibt zudem, wie der Abguss und sein Besitz auch durch Anordnung im Ausstellungsdisplay und Veränderungen der Form selbst Deutungshoheiten und -Verschiebungen ermöglicht, wie bei der Schlafenden Ariadne (früher auch bekannt als Kleopatra), deren Körperproportionen an gängige Schönheitsideale angepasst und dann in Fontainebleau als Nymphe rekontextualisiert wurde. (Vgl. Tauber 2009: 209) Die Gipsabformungs-Technik breitete sich aus, wurde Ende des 18. Jahrhunderts industrialisiert, wurde dadurch günstiger und im 19. Jahrhundert schließlich wurden von Museen serienmäßig Gipsabdrücke ihrer Sammlungsstücke verfertigt und unprätentiös per Katalogpreis an Institutionen, (Kunst-)Akademien oder private made one of the full size in wax, which so resembled the ancient work in the muscles, in force, and in manner, and harmonized with it so well, that it showed how Baccio understood his art; and this model served him as a pattern for making the whole arm of his own Laocoon. This work seemed to his Holiness to be so good, that he changed his mind and resolved to send other ancient statues to the King, and this one to Florence; and to Cardinal Silvio Passerino of Cortona, his Legate in Florence, who was then governing the city, he sent orders that he should place the Laocoon at the head of the second court in the Palace of the Medici. This was in the year 1525. This work brought great fame to Baccio.« (Vasari [1550]/1912)
4 | Verkürzt aus paragone delle arti, ein Ausdruck der Kunstgeschichte für ›Wettstreit der Künste‹. 5 | Für weitere Abformungen der Laokoon Gruppe und deren heutige Aufbewahrungsorte siehe die Homepage Digital Sculpture, die sich von 2009-2013 mit 3D-Technologien in der Reproduktion von Skulpturen beschäftigte, URL: http://www. digitalsculpture.org/laocoon/chronology/, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
Das kulturelle Erbe hacken Sammlungen verkauft.6 Mit dem beginnenden 20. Jahrhundert und der sich entwickelnden Notwendigkeit, merkantile Herrschaft über an der Aristokratie orientierten Selbstrepräsentationen zu legitimieren und abzusichern, wurde das ›Ursprüngliche‹ des ›authentischen‹ Originals und dessen einzigartiger Besitz zum Distinktionsmerkmal in der sozialen Hierarchie. Damit kamen auch Gipsreplika aus der Mode. Die Gipssammlungen wurden aufgelöst, gingen kaputt oder wurden zerstört. Derzeit gibt es größere Sammlungen nur noch an einigen Universitäten, beispielsweise am A rchäologischen Institut der Universität Göttingen, die auch ein recht simples Virtuelles Antikenmuseum Göttingen7 mit Fotographien ihrer Sammlung anbietet. Eigenständige Sammlungen von Gipsreplika sind die Skulpturhalle Basel, das Musée des Monuments français (Paris), das Victoria and Albert Museum (London) und die Mengsche Abgusssammlung in der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Auch die SPK (Stiftung Preussischer Kulturbesitz), als Dachverbund der Staatlichen Museen Berlin, hält bis heute an dieser Tradition fest. Die hauseigene Gipsformerei (ehemals Königlich-Preussische A bgussanstalt) besteht seit 1819 und bietet an, circa 7000 Objekte auf Bestellung zu verfertigen. Im Katalog sind unter anderem Kopien der Büste der Nofretete aufgeführt und für 8900€ erwerbbar.
Sophie Lembcke: Screenshot: The Other Nefertiti – 3D-Modell v. Nora Al-Badri/Jan Nikolai Nelles, 2018
6 | Die Produktion von Gips-Abdrücken boomte seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Sie machte antike Kunst in einer ganz neuen Form verfügbar. Damit ging die Etablierung von Archäologie und Kunstgeschichte als je eigene Disziplin einher. Abgüsse wurden zu Forschungsinstrumenten und -gegenständen. (Vgl. dazu Schreiter 2014, 2015 und 2016) 7 | Zugriff auf die Homepage des Virtuellen Antikenmuseums Göttingen unter URL: www.viamus.de, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
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Sophie Lembcke Stein des Anstoßes: Der Fund der Nofretete in Tell el-Amarna Die Büste der Nofretete ist 1912 von dem Archäologen Ludwig Borchardt bei einer Ausgrabungskampagne der Deutschen-Orient-Gesellschaft in Tell el-Amarna, einem Teil der alten Residenzstadt Achet-Aton des Pharao Echnaton (14. Jh v. Chr.), in der Bildhauerwerkstatt des Thutmosis gefunden worden. Ausgrabungsaufzeichnungen zufolge lag die Büste der Nofretete auf dem Fußboden eines Lagerraumes und war mutmaßlich ein Studien-Modell, nachdem in der Werkstatt weitere Büsten angefertigt wurden. Borchardt notierte in seinem Grabungstagebuch sein Erstaunen über den Fund mit den wohl bekanntesten über die Nofretete-Büste gesprochenen Worten: »Beschreiben nützt nichts, ansehen!«8 – eine erste Ahnung des erfahrenen Ä gyptologen, denn der herausragende ästhetische Wert der Büste entwickelte sich erst, als die historische Besonderheit der Amarna-Kunst durch weitere Forschungen verstanden wurde. (vgl. Rumjanzewa 2005, Budka 2002) Das Khedivat Ägypten war seit 1867 ein formeller Vasall des Osmanischen Reiches, aber zu dem Zeitpunkt der Ausgrabungen faktisch ein britisches Pro tektorat. Die koloniale Politik in Ägypten sah vor, dass nur (de facto männliche) Wissenschaftler aus Europa und den USA Grabungserlaubnisse erhielten, welche die unter französischer Verwaltung stehende Altertumsverwaltung erteilte – damit waren nationale Konkurrenz-Verhältnisse kurz vor dem Ersten Weltkrieg in der Archäologie in Ägypten institutionalisiert, was auch bei der Teilung der Funde eine wichtige Rolle spielte. Die Grabungsteilung 1912 in Tell el-Amarna ist bis heute Bezugspunkt für Restitutionsforderungen an der Büste der Nofretete aus Ägypten. 9 Damals mussten, nach kolonialer Rechtsprechung, die Funde à moité exacte mit dem Museum von Gizeh geteilt werden. Eine Hälfte ging somit in den Besitz der jeweiligen (europäischen) archäologischen Unternehmung und ihrer Finanziers über. Der zum Zeitpunkt des Fundes der Nofretete der Altertumsverwaltung vorstehende Franzose Gaston Maspero hatte eine die britische Verwaltung ablehnende und den A rchäologen überaus wohlwollende Praxis der Grabungsteilung etabliert. Bénédicte Savoy beschreibt die Hintergründe für diese Haltung:
8 | Zitiert nach Seyfried (2012: 161), die Leiterin des Ägyptischen Museum nimmt in diesem Aufsatz eine Analyse der Grabungstagebücher vor. 9 | Die Dokumente über diese Grabungsteilung aus den Archiven des Auswärtigen Amtes werden aus deutscher Perspektive bearbeitet von Rolf Krauss (1987), im Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, mit Fokus auf den Streit um die Ausstellung der Fundstücke zwischen Borchardt und Heinrich Schäfer (Direktor des Ägyptischen Museums Berlin). Mahmoud Kassim (2000) untersucht Archiv-Dokumente u.a. des Auswärtigen Amtes, Bundesarchiv Koblenz, Institut für Auswärtige Politik Hamburg mit einem Fokus auf die deutsch-ägyptischen Beziehungen von 1919-1936. Bénédicte Savoy (2011) beschreibt nach Durchsicht des Nachlasses von Pierre Laclau, die Position der Protagonist*innen und deren partikularen Interessen aus einer deutsch-französischen Perspektive.
Das kulturelle Erbe hacken »In wissenschaftlicher Hinsicht waren Maspero die hohe Frequenz und Intensität der Internationalen Grabungsaktivitäten vor Ort wichtiger als einen Exodus der altägyptischen Kultur in die Museen der westlichen Welt zu verhindern. Darüber hinaus betrachtete er eine reibungslose Zusammenarbeit der internationalen Ägyptologie unter französischer Ägide als ein Garant für die Erhaltung der starken Stellung Frankreichs in einem Bereich, in dem sie durch britische Ansprüche immer wieder bedroht zu sein schien.« (Savoy 2011: 22)
Nach der Grabungsteilung der Funde Borchardts, die, damals nicht unüblich, nur nach Fotografien der Objekte erfolgte (vgl. Savoy 2011: 33), wurde die Büste der Nofretete nach Deutschland gebracht und landete im Privatbesitz des einzigen Finanziers dieser Grabungen, James Simon. Zudem wurde von Borchardt und M aspero vereinbart, dass die gesamte Fundgruppe in ihrem Grabungszusammenhang zuerst in Berlin im Ägyptischen Museum »in intimen Charakter für den Protektor der DOG« (Deutschen Orient Gesellschaft) gezeigt wird, um »gute Abgüsse und photogr. Aufnahmen zu machen« (zitiert nach Savoy 2011: 57) und danach der dem Museum von Gizeh zugesprochene Teil nach Kairo zurück verschifft wird. Borchardt fürchtete in der angespannten politischen Situation vor dem Ersten Weltkrieg um seine Grabungserlaubnisse und wollte den gesamten Fund verdeckt halten. Doch der Direktor des Ägyptischen Museums, Heinrich Schäfer, setzte sich durch: Er eröffnet eine Amarna-Sonderausstellung im Säulenhof. Die Portrait-Büsten wurden dort in ein effektvolles und exotisierendes Ausstellungsdisplay mit fiktiver Tempelarchitektur gestellt. Die Nofretete war nicht Teil dieser Ausstellung, das kostbarste Stück der Ausgrabungen verblieb auf Drängen von Borchardt in den Privaträumen des Sammlers James Simon.10 Die Ausstellung im Winter 1913/14 war ein Kassenschlager, die Ausstellungsdauer wurde verlängert. Die inzwischen nach Kairo zurückgebrachten Objekte wurden durch Gipsabgüsse ersetzt und Borchardt kommentierte aus Ä gypten: »Ich denke, dass das Weihnachtspublikum wohl eine Vertauschung der Originale mit Nachbildungen kaum merken wird.« (Zitiert nach Savoy 2011: 60) Die Ausstellung lief dann auch mit ungemindertem Erfolg bis zum Juni 1914 weiter – auch wenn manch vorgebildeter Besucher, wie der Dichter Rainer Maria Rilke, die Vertauschung bemerkte: »nun steht alles um [Echnathon] herum in demselben Raum, Echtes und Abgüsse, das thut ihm nicht Abbruch, aber uns, die wir nun schon einmal lose Augen haben nach rechts und links zerstreuts doch bedenklich.« (Ebd.) Erst 1920, nach Ende des Ersten Weltkrieges, schenkte James Simon die Büste der Nofretete an das Ägyptische Museum, wo sie 1924 zum ersten Mal öffentlich ausgestellt wurde. 1925 erfolgte die erste von vielen Restitutionsforderung von ägyptischer Seite, bei der über einen Tausch gegen ein anderes Objekt aus Kairo verhandelt wurde 10 | Siehe auch für eine ausführliche Darstellung des Streits zwischen Borchardt und Schäfer, Krauss (1987: 8) und Krauss (1991: 2).
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Sophie Lembcke und auch die Übergabe einer Kopie wurde kurz in den ägyptischen Medien diskutiert (vgl. Kassim 2000: 244).
Déjà Vu – Die Nofretete aus Gips Bereits im Jahr 1913 beauftragte Heinrich Schäfer, Direktor des Ägyptischen Museums, eine erste Abformung der Nofretete-Büste durch die Bildhauerin Tina Haim-Wentscher. Sie stellte eine Kopie in Kunststein her, welche James Simon mit folgenden Worten an Kaiser Wilhelm II. verschenkte: »Das lebhafte Interesse, welches seine Majestät bei der Besichtigung u nserer neuen Tell el-Amarna Funde der bunten Königin, wie wir sie nennen, zuwenden die Gnade gehabt haben, ermutigt mich, Seiner Majestät wohlgelungene Nachbildung dieses einzigartigen Kunstwerkes von der Hand des Fräulein Tina Haim zu überreichen mit der Bitte, seine Majestät möge huldvollst darüber verfügen.« 11
Ein weiteres Exemplar, das mit rekonstruierten Ohren, mit Kronenband, Uräus und einem zweiten Auge ›vervollständigt‹ ist, erhält James Simon selbst. Mit zunehmenden Wissen um die Besonderheiten der Amarna-Kunst und verbunden mit dem Wunsch, die Büste der Nofretete der Öffentlichkeit zu präsentieren, engagierte man Anfang der 1920er Jahre Haim-Wentscher ein weiteres Mal, nun mit der Vorgabe ein exaktes Modell herzustellen. Dieses aus Schellack überzogenem Alabaster-Gips-Modell wurde zur Vorlage aller Kopien und man ergänzte die Modelle in den Jahren 1923/26. (Vgl. Dlugaiczyk 2016) Allein für den Zeitraum Juli 1921 bis Ende 1922 wurden über 75 Abgüsse durch die Gipsformerei verkauft, daher kommt Dlugaiczyk zu der Annahme, dass die Büste vor ihrer ersten Veröffentlichung 1924 nicht ganz so geheim gehalten wurde, wie es sich Borchardt wünschte. Sie vermutet, dass sowohl Simon als auch Borchardt und Wilhelm II. die Büste ausgewählten Gästen zeigten und diese danach die Kopien erhielten. (Ebd.) In Folge der Ikonisierung der Nofretete-Büste wurden in Berlin bis in die 1950er Jahre 1286 Kopien der Nofretete-Büste zu privaten Gebräuchen verkauft, zumindest nach dem Verzeichnis des Neuen Museums Berlin. (Ebd.) Raubkopien durch andere Gipsereien, wie die der Gebrüder Micheli in Berlin, sind hier nicht eingezählt. Eine der Kopien der Gebrüder Micheli ist 2010, zeitgleich zur Neueröffnung des Neuen Museums Berlin und der dortigen Präsentation der Nofretete-Büste, im Hellweg-Museum in Unna als »echte Antiquität« und »Unnaer Nofretete«12 ausge11 | Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, die Akten, betreffend den
Großkaufmann James Simon in Berlin 1888-1917, finden sich unter der Signatur: I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr. 19791, S. 85, Berlin, 3.11. 1913.
12 | Die Museumsleitung Beate Olmer spricht gegenüber der Westfälischen
undschau von ihrem »hohem kulturhistorischen Wert« gegenüber den »zahllosen R anonymen Nachbildungen«. (Westfälische Rundschau vom 14.04.201)
Das kulturelle Erbe hacken stellt worden. Auch das Original von Tina Heim-Wentscher (oder die Kopie von Kaiser Wilhelm II.) wird zu diesem Anlass gezeigt im Ruhr Museum in Essen, in der Ausstellung Das große Spiel. Archäologie und Politik (2010). Da Tina Haim-Wentscher eine Künstlerin war, ist der Status ihrer Nofretete-Büste uneindeutig oszillierend zwischen Kopie und Original. Einerseits ist ihrer Version dezidiert eine Funktion als Kopie (als Platzhalter für die ›echte‹ Nofretete-Büste) zugedacht, andererseits war Haim-Wentscher eine anerkannte Künstlerin und eben keine anonymisierte Handwerkerin, sodass ihre Nofretete-Büste – insbesondere die erste, vervollständigte Version (vgl. der Rezeption der Laokoon-Bronzen) – als »eigenständiges Kunstwerk« (Simon an Wilhelm II) angepriesen wurde und als ein Original der Bildhauerin Haim-Wentscher gelesen werden kann, eingereiht neben die Modell-Büste aus der Werkstatt des Bildhauers Thutmosis.
Maximal Original: Die Nofretete aus Code und Patina 2008 veranlasst die SPK (Stiftung Preussischer Kulturbesitz ) eine genaueste Abformung der Nofretete-Büste durch das Ingenieursbüro TrigonArt. Deren Mitarbeiter*innen erstellten mit Hilfe von 3D-Streifenlicht-Scans ein digitales Modell13 und nachfolgend in einem Polyjet-3D-Druck-Verfahren eines aus Kunststoff.14 Von dieser Form ausgehend nahm die SPK Gips-Werkstatt eine Silikonform ab und unternahm unter hohem technischen Aufwand den Versuch, die Büste nahezu »originalgetreu« nacharbeiten zu können. Für die »authentischen« Farbrezepturen erfolgte eine Farbabgleichanalyse durch das Rathgen-Forschungslabor, damit sogenannte »Original-Pigmente« verwendet und in »historischen Malverfahren« aufgetragen werden können. Das nachfolgende Hinzufügen von Patina und den altersbedingten Schäden des Originals soll der »originalgetreue« dienlich sein, »so dass jede Reproduktion ein Unikat darstellt«15 – also möglichst ›perfekte‹ Kopie sei, preist das Forschungslabor die eigene Arbeit an. Ohne aufwändige technische Hilfsmittel und enormes Wissen ließe sich Kopie von Original kaum mehr unterscheiden. Durch die lange Geheimhaltung der Büste nach der Ausgrabung ranken sich seit jeher Gerüchte
13 | Der Abstand der Messpunkte beträgt im Raster etwa 0,1 Millimeter, das sind
etwa 80 Millionen Messpunkte für die Büste als Grundlage für das 3D-Modell. Siehe für Detail-informationen zu Vorgang und Messgenauigkeit die Homepage der TrigonArt, URL: http://www.trigonart.com/3d-vermessung-der-nofretete-446, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
14 | Dieser Vorgang ist dokumentiert und erläutert auf der TrigonArt-Homepage, URL: http://www.trigonart.com/3d-scan-bueste-der-nofretete-1490, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
15 | Die Details des Rathgen-Forschungslabors sind abrufbar auf der Homepage der Staatlichen Museen zu Berlin, URL: http://www.smb.museum/museen-undeinrichtungen/gipsformerei/ueber-uns/nachrichten/detail/neue-edition-dernofretete-replik.htm, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
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Sophie Lembcke darum, dass hinter den Glasfenstern ihrer Vitrine die Büste der Nofretete auch als ihre eigene Kopie ausgestellt sein könnte, oder sie schon immer eine ›Original-Fälschung‹, ein Falsifikat, war.16
Daten als Verschlusssache, eine Verzerrung des kulturellen Gedächtnisses! Diese erneute Transkription der Büste der Nofretete ist begleitet von der Tatsache, dass das Neue Museum Berlin als staatliche Institution nicht nur die Büste, sondern auch die Daten ihres Scans unter Verschluss hält. Die SPK stellt zwar Daten für nicht-kommerzielle Zwecke zur Verfügung, verhindert aber andere Anwendungsmöglichkeiten. Dies ist eine durchaus gängige Praxis. Weltweit haben inzwischen die meisten finanzstarken Institutionen ihre Archive komplett digitalisiert, doch obwohl die Museen oft in staatlicher Hand sind und damit die Daten prinzipiell Allen gehören, sind die Daten der Öffentlichkeit meistens nicht zugänglich. Der Forderung nach Veröffentlichung der Daten stehen oft die komplexen nationalen Urheberrechts- und Verwertungsgesetze entgegen: Ein Digitalisat wird in Deutschland als Eigentum des Digitalisierenden, in diesem Falle der Institution, verstanden. Eine ehemalige Mitarbeiterin der Deutschen Digitalen Bibliothek (DDB)17, Ellen Euler, sagte: »Zwar versprechen Wissenschaftseinrichtungen in der Berliner Erklärung18 einen barrierefreien und offenen Zugang zu kulturellem Wissen, bei dem die Nutzer auch Wissen vervielfältigen und weitergeben dürfen, allerdings ist das in der Praxis häufig noch nicht gegeben. Denn durch die Digitalisierung von gemeinfreien Werken erwerben die Kulturerbeeinrichtungen Rechte [Anm. 16 | Eine Zusammenfassung der Gerüchte um den Fälschungsverdacht gibt Seidler (2009).
17 | Die DDB ist seit 2009 eine der Suchmaschinen, in denen die einzelnen Archive
von Institutionen beschlagwortet und zusammengefasst werden, und bietet Zugriff auf 23.726.543 Objekte, davon 9.346.641 mit Digitalisat, Stand 28.Januar 2018. Die DDB war Teil des europäischen Europeana-Projekts (2.200 Institutionen von 20092015), in der indirekten Nachfolge steht das Archives Portal Europa, dieses bietet Zugang zu Archiven aus ganz Europa. Die Suche umfasst im Januar 2018: 261.713.148 Akteneinheiten, teils mit Links zu Digitalisaten und 6982 Beschreibungen von Archiven und ihren Beständen. Alle Archive enthalten jedoch fast ausschließlich gemeinfreie Objekte. »Tatsächlich sind von den zehn Prozent an Werken, die bisher digitalisiert wurden, nur zwei Prozent im Sinne von Open Access frei nutzbar.« (Euler: 2017)
18 | Anlässlich der Zeichnung der Berliner Erklärung vom Oktober 2003 über
den offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen verabschiedete die SPK eine Best-Practice-Richtlinie, die eine Empfehlung zum Umgang öffentlicher Kultureinrichtungen mit Open Access ausspricht: Da öffentliche Kultureinrichtungen finanzielle Ressourcen für die Digitalisierung der Bestände einsetzen, soll eine kommerzielle Nutzung von Digitalisaten nicht gebührenfrei sein.
Das kulturelle Erbe hacken SL: Schutzrechte wie bei der fotografischen Reproduktion] an ihnen.« (Euler 2017)
Diese Rechtslage widerspricht der Empfehlung der EU-Kommission, nach der die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen haben, dass Gemeinfreies auch digital gemeinfrei bleiben sollte. Deutschland liegt hier in der Rechtsprechung international zurück. Viele Archive sind andernorts bereits unter public-domain-Lizenz zur Verfügung gestellt – vom Rijksmuseum in Amsterdam, das auch 2015 und 2017 auf der Konferenz-Serie 2+3D Photography – Practice and Prophecies 19 zu den Möglichkeiten einer fotografischen Archivierung des kulturellen Erbes forscht, bis zum Metropolitan Museum of Art (MET) in New York, das seit 2012 auf von ihnen organisierten Hackathons die Möglichkeiten von 3D-Print und Code erkundet20 und Besucher*innen seit 2013 mit Tutorials auf ihrer Homepage ermuntert 3D Scans und -Prints zu erstellen und aktiv für Remixe beispielsweise der Skulpturen zu nutzen: »Taking home a ›copy‹ of a sculpture at the Met is exciting, but it might be even more fun to use that work as an inspiration for your own creations.« (Don Undeen 2013) Damit würden die Konsument*innen zu Produzent*innen, die, wie Haim-Wentscher und Baccio, nicht nur Statuen verändern, sondern auch in neue Deutungskontexte (wie in Fontainebleau) stellen können. In Deutschland gibt es seit 2014 den Hackathon Coding da Vinci21, bei dem Softwareanwendungen präsentiert werden, die mit Hilfe offener Kulturdaten von Museen und Bibliotheken entwickelt wurden.
Digital Colonialism und Corporate Archives Euler nennt basierend auf ihrer Erfahrung als leitende Mitarbeiterin der DDB noch weitere Probleme insbesondere kleinerer Institutionen, wie das eingangs erwähnte Archäologische Institut der Universität Göttingen, die oft nicht die personelle Kapazität und die finanziellen Voraussetzungen haben, hier Angebote zu entwickeln und auch längerfristig anzubieten, woraus sich auch eine Verzerrung des kulturellen Gedächtnisses im digitalen Raum ergebe. (Euler/Küchemann 2017) Bei diesem Problem setzt die Holding Alphabet Inc. an, die aus dem jetzigen Tochterunternehmen Google hervorgegangen ist. Zu Google gehört das Google Cultural Institute, welches alle Anwendungen zusammenführt, die sich mit Kunst und 19 | Eine kurze Beschreibung der Konferenz befindet sich auf der Homepage des
Rijksmuseum, https://www.rijksmuseum.nl/en/2and3dphotography, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
20 | Das Programm findet sich auf der Homepage des MET, URL: https://www.
metmuseum.org/blogs/now-at-the-met/features/2012/hackathon, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
21 | Coding da Vinci wird von der Deutschen Digitalen Bibliothek, der Open
nowledge Foundation, der Servicestelle Digitalisierung Berlin und Wikimedia K Deutschland organisiert, URL: https://codingdavinci.de, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
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Sophie Lembcke Kultur im engeren Sinne beschäftigen, unter anderem das seit 2011 bestehende Projekt Google Arts and Culture. Dieses Projekt digitalisiert Archivbestände von Bibliotheken und Museen auf eigene Kosten und stellt den Institutionen Verwertungsrechte an dem Digitalisat zur Verfügung. Mit der Anwendung können innerhalb der Software Google Earth oder über den Browser auf der Homepage des Instituts virtuelle Rundgänge durch über 250 Institutionen und Museen gemacht werden, Stand Dezember 2017, darunter der Prado in Madrid, das Musée d ´Orsay Paris und das Museum of Islamic Art in Qatar. Insgesamt acht Standorte der SPK sind mit Kunstwerken vertreten, da ergamonmuseum, Alte von bereits fünf mit virtuellen Rundgängen: Altes Museum, P Nationalgalerie, Gemäldegalerie und Kupferstichkabinett, das Museum europäischer Kulturen, Kunstgewerbemuseum und die Kunstbibliothek, insgesamt 93 Institutionen nehmen in Deutschland im Januar 2018 mit 59.821 Objekten teil. Virtuelles Durchlaufen und Anklicken sind jedoch Benutzungsmöglichkeiten in den engen Rahmen, welche der Konzern vorgibt. Derzeit sind nur recht beschränkte, auf Konsumieren oder digitales (Daten-)Sammeln ausgerichtete, Anwendungen möglich. Ein Fortschreiben, Umdeuten und neu-situierendes, perspektivierendes Verändern des kulturellen Gedächtnisses liegt in der Hand des Datenriesen und seiner Software-Entwickler*innen. Eine solche Arretierung von Wissen in durch A nwender*innen unveränderliche Datenspeicher schränkt das Translating Pasts into Futures ein: auf die durch Konzerne und (nationale) Institutionen vorgegebenen Lesarten von Vergangenheit. Euler kritisiert dies und setzt sich auf Fachtagungen in Museen22 aktiv dafür ein, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, um mehr Menschen Zugänge zu ermöglichen und eine aktive Weiterverarbeitung zu befördern, statt einem erstarrenden, abschließenden Konservieren der kulturellen Geschichte stattzugeben: »Es gehe darum, Wissen so verfügbar zu machen, dass es Menschen aktiv weiterverarbeiten, anreichern und in neue Kontexte tragen können. Kulturbetrachter werden so zu Kulturschaffenden. Es geht also nicht allein um das Digitalisieren von Kulturbeständen, sondern vor allem darum, einen offenen Zugang zu diesem Wissen zu gewährleisten.« (Euler: 2017)
Künstlerische Intervention: The Other Nefertiti für Alle Auf diesen Knoten von Problemlagen zielt das Künstlerduo Nora Al-Badri und Jan Nikolai Nelles mit einem Scam: Sie veröffentlichten als The Other Nefertiti (2015) High Quality 3D-Printdaten der Nofretete-Büste als public domain – was bedeutet, dass diese Daten juristisch keine Urheber*innen haben und grundsätzlich Allen gehören, also weder sie noch jemand sonst rechtmäßig Immaterialgüterrechte oder 22 | Wie auf der Tagung Museen im digitalen Raum. Chancen und Herausforderungen am 06. Oktober 2017 in der Pinakothek der Moderne, wo Euler die Keynote hielt: Museen & Open Access – Synonyme oder Gegensatzpaar?!
Das kulturelle Erbe hacken rheberrechte beanspruchen kann und die Daten frei verwertbar sind.23 Wie Al-BadU ri und Nelles zu den Daten kamen ist unklar,24 das Ergebnis ihres Hacks ist jedoch, dass jede*r mit der notwendigen technischen Ausrüstung und dem entsprechenden Know-How die ›perfekte‹ Nofretete-Büste im Verhältnis 1:1 als dreidimensionale Plastik ausdrucken kann. Dies kostet in High Quality derzeit circa 6000€. Im Internet kursieren bereits Youtube-Tutorials zum Druck der Büste; hinzu kommen tausende Fotos von ausgedruckten, kleineren, geringer aufgelösten Plastik-Nofretetes. Diese können so vielzähligen Nutzungen zugeführt werden, auch können die Daten verändert oder beispielsweise mit Daten anderer Kunstwerke geremixt werden – eine Praktik zu der ja auch beispielsweise das MET ermuntert.
Sophie Lembcke: Screenshot: The Other Nefertiti – 3D-Modell v. Nora Al-Badri/Jan Nikolai Nelles, 2018
Die Historiker*innen Savoy (2011), Kassim (2000) und die Ägyptolog*innen Krauss (1987/1991) und Seyfried (2012) arbeiteten auf der Basis von deutschen und französischen Archivunterlagen, insbesondere von Grabungstagebüchern, die Um23 | In Deutschland ist Urheberschaft per Gesetz buchstäblich an den
Autor*innen-Körper gebunden und kann nicht aufgegeben werden, lediglich die Verwertungsrechte eines Werkes können weitergegeben werden, gemeinfrei werden Werke erst 70 Jahre nach Ableben der Urheber*innen.
24 | Vorgeblich sind die Printdaten der ›anderen‹ Nofretete-Büste aus Einzel fotografien zusammengestellt, welche sie mit einer Kinect360 Digitalkamera w ährend der Öffnungszeiten aufnehmen konnten und zu einem 3D-Rendering komponierten, aus dem dann die Print-Daten errechnet wurden. Für den Nefertiti-Hack war wohl aber weniger eine kunstvolle Piraterie der Weg der Daten zur G emeinfreiheit, wie 3D-Druck-Spezialist*innen ausführen, sondern ein technikversierter Bluff: Das Ingenieursbüro TrigonArt veröffentlichte auf ihrer Homepage q ualitativ h ochwertige 360° Aufnahmen, aus denen auch The Other Nefertiti e rrechnet sei. ( Vgl. König 2016)
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Sophie Lembcke stände der umstrittenen Grabungsteilung auf. Mit dem erklärten Ziel, die Restitutionsdebatte zu versachlichen. Dieser ›Rechtmäßigkeit‹ gegenüber betonten Vertreter*innen Ägyptens lange ihren »moralischen« Besitzanspruch (Kassim 2000: 236), denn unter kolonialen Machtverhältnissen mag nach der damaligen Kolonialgesetzgebung und -praxis die Teilung faktisch rechtens gewesen sein, doch seitdem haben sich die ethischen Rahmenbedingungen und das Selbstverständnis auch von archäologischen Praxen verändert. So suggerieren diese Veröffentlichungen auch, dass die Begebenheit aufgearbeitet werde, dies passiert jedoch von hegemonial machtvollen Positionen aus – Seyfried ist Direktorin des Ägyptischen Museums, Savoy Professorin in Berlin und jüngstes Mitglied des Collège de France, Krauss lehrte ebenfalls in Berlin und tat sich insbesondere damit hervor, dass er die Nofretete-Büste als ein Falsifikat bezeichnete. Eine Restitution wird auf Basis der von ihnen präsentierten Fakten bislang abgelehnt – die Büste bleibt unter Verschluss. Dieses Vorgehen wird nicht nur von ägyptischer Seite kritisiert, auch Organisationen in Deutschland, wie No Humboldt 21, arbeiten seit Jahren daran, die Verschleierungstaktiken aufzudecken und fordern einen dekolonialisierenden Umgang mit dem kulturellen Erbe in deutschen Archiven. Medienwissenschaftler*innen wie Euler kritisieren die Abschottungsstrategie in dem Umgang mit den digitalen Daten des kulturellen Erbes – und richten sich mit ihren Forderungen nach Gemeinfreiheit gegen die hegemoniale Deutungsmacht von sowohl Google als auch, vertreten durch seine Institutionen, des deutschen Staats. Dies sind diskursive Aushandlungsprozesse, während das Künstler*innen-Duo Al-Badri/Nelles mit ihrem Hack in direkter Aktion in die ökonomischen und politischen Zusammenhänge interveniert. Die Künstler*innen schreiben auf ihrer Homepage neben den Download-Ordnern von The Other Nefertiti: »With the data leak as a part of this counter narrative we want to activate the artefact, to inspire a critical re-assessment of today’s conditions and to overcome the colonial notion of possession in Germany.« (Al-Badri/Nelles 2015)
Zukunftsfähig: Kopierkulturen und Übersetzungskulturen So stehen jetzt zwei Originale nebeneinander und damit stellt sich die Frage, wer welche Büste besitzt: eine gehört derzeit der SPK/Deutschland, eine prinzipiell Allen. Damit lenken Al-Badri/Nelles den Blick auch darauf, in welchem Wertesystem das Verhältnis von Original – Kopie – Replikat ausgehandelt wird: Al-Badri/Nelles (und auch Haim-Wenscher) bringen mit ihren Transkriptionen zwar ebenfalls das Original (die Nofretete-Büste im Neuen Museum) erst als Original hervor, ohne jedoch dabei eine Kopie zu erhalten – die Künstler*innen bringen gleichzeitig weitere Originale hervor, indem der Status als Original diskursiv abgesichert ist durch ihre Autorschaft, qua Kennzeichnung des Hacks als ›ihr‹ Kunstwerk – und gleichzeitig ist es dank public domain: Allen. Auffallend ist, dass demgegenüber bei einer ›handwerklichen‹ Nutzung der Daten, wie bei der Kopie von TringonArt oder einer anonymisierten
Das kulturelle Erbe hacken Produktion wie in der Gipsformerei der Gebrüder Michaeli, die Verwertungsrechte klar geregelt sein wollen. Erinnert sei auch noch an den eingangs erwähnten Material-Paragone von Francesco Primaticcio und François I., welche die Laokoon-Gruppe, statt aus Marmor zu verfertigen, (erneut?) mithilfe neuer Technologien (Gipsabformungen) aus wertvoller Bronze gießen ließen, während Al-Badri und Nelles einer ›perfekten‹ und ›getreu-imitierenden‹ Nachbildung durch die Werkstätten nicht ein ›billiges Plastikmodell aus Erdöl‹ entgegenstellen, sondern ein in den zeitgenössischen Kunstdiskursen neues und innovatives Material verwenden: den Code. Die Produktionen der Künstler*innen Thutmosis, Haim-Wenscher, Al-Badri und Nelles sind technisch-materiell verschieden, erzählen damit von den Bedingungen ihrer Zeit und sind in je anderen soziohistorischen Kontexten situiert. Wer sich, wie taz-Leitartikler Gereon Asmuth, in den deutschen ethnographischen Museen statt den Kunstwerken eines vorgeblich ›geteilten kulturellen Erbes‹25 einen »Freiraum, der zum Denken inspiriert« wünscht, könnte vielleicht Gefallen an der Idee finden, sich an den Leerstellen der restituierten Objekte im Ausstellungsraum – durch die transkriptiven Arbeiten von Künstler*innen wie Tina Haim-Wenscher und Nora Al-Badri /Jan Nikolai Nelles – neue Geschichten gemeinsamer Zukünfte erzählen zu lassen: Translating Pasts into Futures.
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insbesondere von der Leitung des Humboldt-Forums, um einen Verbleib der Objekte in europäischen Sammlungen zu legitimieren. Vertreter*innen der Herkunftskulturen ist lediglich der Platz eingeräumt, Interpretationen und Ausstellungskonzepte zu entwerfen.
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Sophie Lembcke Euler, Ellen/Küchemann, Fridtjof (2017). Interview: »Wir erleben in Europa einen kulturellen Stillstand«, in: FAZ vom 08.05.2017, URL: http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/debatten/republica-ellen-euler-sieht-kulturellen-stillstand-ineuropa-15004621-p2.html, (letzter Zugriff: 03.06.2018). Kassim, Mahmoud (2000): Die diplomatischen Beziehungen Deutschlands zu Ä gypten, 1919-1936. Hamburg: Li Verlag, S. 229-253. König, Peter (2016): »3D-Raub der Mofretete: Eine unglaubliche Geschichte«, in: Make – Heise Online. 26.02.2016. URL:http://www.heie.de/make/meldungen/3D-Raub-der-Nofretete-Eine-unglaubliche-Geschichte-3117841.html, ((letzter Zugriff: 03.06.2018). Krauss, Rolf (1987/1991): »75 Jahre Büste der Nofretete – Nefefertiti«, in: Berlin 1913–1988. 2 Teile, in: Jahrbuch Preußischer Bd. 24, 1987, S. 87-124 und Bd. 28, 1991, S. 123-157. Kunze, Christian (1996): »Zur Datierung des Laokoon und der Skyllagruppe aus Sperlonga«, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts. Band 111, S. 139–223. Undeen, Don (2013): »3D Scanning, Hacking, and Printing in Art Museums, for the Masses«, in: Blogeintrag auf der Homepage des MET, URL: https://www. metmuseum.org/blogs/digital-underground/posts/2013/3d-printing, (letzter Zugriff: 03.06.2018). Rumjanzewa, Marina (2005): »Darum ist Nofretete schön«, in: Du – die Zeitschrift der Kultur 64, S. 42-44 Savoy, Bénédicte (2011): Nofretete – eine deutsch-französische Affaire 1912-1931. Köln: Böhlau. Seyfried, Friederieke (2010): »Die Büste der Nofretete Dokumentation des Fundes und der Fundteilung 1912/1913«, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz Bd. 46, S. 133-202. Schreiter, Charlotte (2014): Antike um jeden Preis. Gipsabgüsse und Kopien antiker Plastik am Ende des 18. Jahrhunderts. Habil. Berlin. — (2105): »Gipse im Museum. Zur Aufstellung von Abgüssen Antiker Plastik im 19. Jahrhundert«, in: Kerstin Poehls/Stephan Faust (H.in), Sammeln. Zur Geschichte einer alltäglichen, musealen und wissenschaftlichen Praxis, Hamburger Journal für Kulturanthropologie, Heft 1, S. 89-102. — (2016): »Europa und der Gips – Formereien, Museen und Abgüsse«, in: Christina Haak/Miguel Helfrich (Hg.in). Casting. Ein analoger Weg ins Zeitalter der Digitalisierung? Ein Symposium zur Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin. S. 23-36. Schwartz, Hillel (2000): Déja-Vu, Berlin: Aufbau Verlag. Seidler, Christoph (2009): »Streit um die schweigsame Schönheit«, in: Spiegel 15.05.2009. URL: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/nofretete- diskussion-streit-um-die-schweigsame-schoenheit-a-624757.html, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
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Zur Relevanz von Museen im digitalen Zeitalter Nora Al-Badri · Jan Nikolai Nelles im Gespräch mit Sophie Lembcke Das Berliner Künstler*innen Duo Nora Al-Badri und Jan Nikolai Nelles hat seit dem Nofretete-Hack The Other Nefertiti Folgeprojekte entwickelt: Da die Nofretete-Büste in der Version von Thutmosis vermutlich ein Studienmodell war, spekulieren A l-Badri/Nelles, dass es noch weitere Büsten der Nofretete im Sahara-Sand geben könnte. Was wäre wenn es ein originaleres Original der Nofretete gäbe, wenn die Einzigartigkeit der Büste wegfiele? Welche Erzählungen hängen sich dann an die Versionen, wie verschieben sich hierdurch Narrative und nationalstaatliche Besitz begehren? Sie veröffentlichten ein Video einer klandestinen, archäologischen Grabung in Ä gypten, bei der eine weitere Büste gefunden wurde. Das Video eröffnet einen weiteren Fragehorizont ihrer Auseinandersetzung mit diesem paradigmatischen Gegenstand: Über den, so Susanne Leeb: »ausbeuterischen Produktionsmodus von Antiquitäten« (Leeb 2017: 107) durch (Raub-)Grabungen, beruhend auf »der Extration von zwei Ressourcen: der Arbeitskraft der lokalen Bevölkerung und der Kulturgüter.« (Ebd.) Hinter vorgehaltener Hand wird erzählt, dass lange Zeit in den ersten architektonischen Entwürfen des Grand Egyptian Museum (GEM) in Ägypten ein Ausstellungsraum eingeplant gewesen war, in dem die Nofretete-Büste zum ersten Mal in Ägypten gezeigt werde sollte – und dieser mutmaßlich leer stehende Raum eine Mahnung für die inzwischen über hundert Jahre geforderte Restitution sein soll. Gebaut wurde dieser Raum letztlich nicht, auch das Museum wird 2018 eröffnet. So stellten Al-Badri/Nelles anlässlich der OFF-Biennale in Kairo 2015, einen 3D-Print des Nofretete Hacks aus: »As an analogue embodiment, which contains physically all information and details of the original form. Nefertiti was thus shown for the first time in Egypt. The object was not a strict copy as a perfectly painted replica, which only mimics the original, but it showed a cultural storage, which doesn’t try to
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Nora Al-Badri · Jan Nikolai Nelles conceal its origin as a technical reproduction but embraces the value of the inherent information.« (Aus dem Portfolio von Al-Badri/Nelles 2015-2016)
Die ausgedruckte Plastik-Büste vergruben sie anschließend in der Nähe von Kairo in der Wüste – ohne die Koordinaten zu veröffentlichen, für eine zukünftige Archäologie und als einen Counter-Act gegen das immer gleiche Ausgraben von Dingen oder Ressourcen.
Nora Al-Badri/Jan Nikolai Nelles, Burial des 3D-Prints nahe Kairo, Setfoto, 2015
SL: Weltweit digitalisieren Archive ihre Sammlungen, in welchem Verhältnis stehen (Archiv-)Daten und die alten Dinge in den Sammlungen zueinander? Wie konstituieren sich damit ein Verständnis von dem Museum als Archiv für Dinge, das jetzt auch eine Database geworden ist, und ein Diskursort werden soll? NnN : Zur Betrachtung von Objekten braucht es seit dem Digitalen kein Museum mehr. Und es gibt inzwischen auch ein neues Publikum, dass den Remix und die Datenbank mehr schätzt als das Original. Solange Museen weiterhin auf das Konzept der Aura und der Originalität beharren, kommen sie nicht aus ihrer Haut heraus und laufen Gefahr weiterhin nur ein konservatives, elitäres Nischenpublikum zu bedienen. Hinzu kommt, dass das digitale Objekt als eigenständiges Objekt wirken kann und kein Sklave des analogen Originals ist. Die Betrachtung eines digitalen Objekts eröffnet eine neue Ebene desselben Objekts. Man kann – im Falle der Nofretete – aus den Augen der Büste sehen, durch sie hindurch, mehr Details als menschliche Augen am analogen Objekt je wahrnehmen könnte... so werden neue Geister freigesetzt, denen sich jede Sammlung früher oder später stellen muss.
Zur Relevanz von Museen im digitalen Zeitalter Das digitale Objekt ist für uns eine emanzipatorische Strategie, aber es ist auch eine Realität, die nicht mehr wegzudenken ist aus dem Leben der meisten Menschen. Der digitale Raum bleibt zwar ein profaner Raum, wie es Boris Groys nennt, der aber immer noch Möglichkeiten zur Subversion und damit auch zur Dekolonisierung bietet, wie auch der Nofretete Hack gezeigt hat. Uns ist völlig bewusst, dass der digitale Raum zum großen Teil von wenigen Softwareunternehmen beherrscht wird und aus der militärischen Forschung entsprungen ist, aber mit dem Digitalen umzugehen ist durch Hegemonialmächte und diese Konzerne auch nicht vollends gemastert. Die technischen Umgangsweisen von Museen und Archiven mit den Dingen – also das unsichtbare digitale Rückgrat, das den alten Ordnungsstrukturen in den Karteikästchen anbei gestellt wird – bieten wichtige Ansatzpunkte für eure Inter ventionen in die oftmals noch kolonial organisierten ethnographischen, archäologischen und naturkundlichen Sammlungen ...
In Bezug auf Museen und Wissensproduktion in der Kultur bedeutet die digitale Ebene, aus unserer Sicht, einen Freiraum, der nicht mehr durch klassische Kategorisierungen oder Besitzverhältnisse zu ordnen ist. Er kann eben auch dezentral, demokratisch und anarchisch sein. Dieses Potenzial zu nutzen, als künstlerische Strategie, ist unser Ansatz. Das alte, eingeübte und bösartige Museum, das noch heute auf dem Gedankengut des Museums des 19. Jahrhunderts basiert, war immer proprietär und kann als Teil einer repräsentativen Post-Demokratie betrachtet werden, bei der es nie wirklich um das Konzept der Commons oder um ein öffentliches Interesse ging. Wir versuchen, das Digitale zu nutzen, um koloniale Kontinuitäten aufzubrechen und kräftig durchzuschütteln. Technologie beeinflusst die Struktur des Geistes und des Denkens, so Derrida, und hat daher auch das Potenzial neue Vorstellungswelten (imaginaries) unserer Realität zu ermöglichen, die zu einer kraftvollen Dekolonisierung führen könnten. Natürlich ist sogar genau das Gegenteil wahrscheinlicher… Was ist eigentlich genau das technisch Neuartige eines digitalen 3D-Scans, eines Codes und eines 3D-Prints – auch gegenüber Fotografien und manuellen Abformungen, wie z.B. Gipsabdrücken?
Methodologisch betrachtet, ist das Scannen von Formen und Raum zu vergleichen mit der Fotografie. Beide Methoden medialisieren ein Stück Wirklichkeit, diese schreibt sich indexikalisch in das jeweilige Medium ein. Dieses dokumentarische Potential der Fotografie ist auch dem 3D-Scannen eigen. Doch die Medien unterscheiden sich auch grundlegend. Nehmen wir an, die Fotografie wäre ein zweidimensionaler Schatten
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Nora Al-Badri · Jan Nikolai Nelles der dritten Dimension, wovon wäre der 3D-Datensatz ein Schatten? Nur ein banales Abbild, eine Kopie, als Reproduktion der Wirklichkeit? Der 3D-Scan ist für uns eine ›absolute‹ Fotografie. Eine rein technische Vermessung, ohne die gestalterischen Möglichkeiten der Fotografie. Sicherlich lassen sich dort experimentell Grenzen zum gestalterischen Potenzial hin austesten, doch gerade für den Fall von Reproduktionen gilt, dass wir für einen konventionellen 3D-Scan keine ausreichende Schöpfungshöhe feststellen können und somit kein Anspruch auf ein Copyright abgeleitet werden kann. Bezüglich der angesprochenen Indexikalität und ›Qualität als Dokument‹ dieser Technologie würde ein Denker wie Vilém Flusser sicher vehement widersprechen. Den rein durch Apparate kalkulierten technischen Bildern (Technobilder), würde er die Qualität absprechen und auf den durch Apparatprogramme erzeugten Text verweisen, der diese technischen Bilder auf einer binären Ebene repräsentiert. Seiner Auffassung nach können diese Bilder nur konkret gesehen werden, wenn der Text, also der Binärcode, vom Betrachter gelesen wird. Die Technobilder, wie 3D-Datensätze, werden zu physischen Objekten re-materialisiert und sind technisch präzise Reproduktionen. Der Akt der Aneignung und das Erzeugen einer evidenten, materiellen Form ermöglichte eine entfesselte Erzählung außerhalb des durch Institutionen dominierten Narratives. Seien es auch ›nur‹ Simulakren des auratischen Originals, so stellen sie doch einen Bezugspunkt für die Vorstellung dar. Das Foto eines geliebten Menschen, das Modell eines heiß begehrten Automobils oder eben Repliken umstrittener Objekte aus Museumssammlungen. Bei all unserer Wissenschaftlichkeit, durch die unser kollektives post-religiöses Selbstverständnis geprägt ist, scheinen unsere kulturellen Gene doch bis dato nachhaltig durch die prä-religiöse Weltanschauung des Animismus geprägt zu sein. Wobei, stark verkürzt, der Einzelne einem Objekt eine Bedeutung verleiht. Im Vergleich zu Religion und Wissenschaft ist es das im Grunde kohärenteste Konzept. Durch das unbegrenzte Vervielfältigungspotential digitaler Daten wird prinzipiell auch jedes Narrativ möglich. Bereits André Malraux hinterfragte die Deutungshoheit des Museums allein durch eine Aneignung der Sammlungsgegenstände in Form von Photographien. Mittlerweile können wir Formen kopieren und reproduzieren, wenn wir Zugang zu den Objekten haben. Es wird auch klar, dass eine Gegenerzählung nicht ausreicht, um das Problem bewusstsein in der Institution zu verankern und so zu einer kollektiven Neu betrachtung zu gelangen. Der digitale Wandel ist im Grunde auch eine Chance für eine Metamorphose des Museums.
Zur Relevanz von Museen im digitalen Zeitalter
Nora Al-Badri/Jan Nikolai Nelles, Disentangled NO. 5, 2017
Neben dem Remix und der Neukontextualisierung der Digitalisate gibt es weitere Strategien, um die Narrationen zu verschieben: Oft werden Stimmen laut, die für Objekte aus ethnographischen Sammlungen einfordern, dass sie in ihre unterschiedlichen Gebräuche zurückgeführt oder in gänzlich neue über führt werden sollen, auch, damit diese aus den westlichen Gebräuchen das Konser vierens und Kategorisierens, aus der kolonialen Wissensproduktion über ›die Anderen‹ und aus dem westlichen, chronologischen Geschichtsverlauf herausgelöst werden ...
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Nora Al-Badri · Jan Nikolai Nelles Also, zuerst mussten wir feststellen, dass die Ursprungskontexte in den meisten Fällen nicht mehr existieren oder zumindest nicht mehr in der Form, wie zur Zeit des kolonialen Unrechts. Wichtiger als die eigentliche Rückführung, die manchmal auch ein Stellvertreterkrieg ist – verdeckt durch das großspurige Versprechen einer Provenienzforschung als apologetischer Akt – ist eine Veränderung der Geisteshaltung, ihre Re-konfiguration und ihr Ver-lernen innerhalb der westlichen Museen, welche diese suprematistische Perspektive aktualisiert. Insbesondere der tiefsitzende Glaube der Institution, dass nur sie selber es sei, welche die Kapazität habe, die Objekte sicher aufzubewahren, zu erhalten und zu erforschen, ist dafür ein gutes Beispiel. Inwiefern ist es auch problematisch alles zu digitalisieren und jedweder Neukontextualisierung zur Ver fügung zu stellen? Ich denke allgemeiner an die Rolle, die solche Dinge für die Identitätspolitiken marginalisierter Gruppen bei realen Kämpfen um Sichtbarkeit und Anerkennung einnehmen. Es gibt oft heftige Debatten darum, wem welche Dinge gehören und wer diese wie ver wenden dar f.
Auch die Frage, was darf digitalisiert werden und was nicht – und noch wesentlicher: wer entscheidet darüber – spielt natürlich eine große Rolle, insbesondere bei sensiblen, heiligen oder rituellen Objekten. Denn aus Sicht einiger Communities ist es so, dass der Prozess der Digitalisierung entweder die ganze Kraft aus dem Objekt nimmt, oder auch umgekehrt, dass beispielsweise ein 3D-Druck genauso wirkmächtig ist, wie das Ausgangsobjekt. In Neuseeland gibt es zum Beispiel das Auckland War Memorial Museum, in dem die ganze Sammlung in den Besitz der indigenen Bevölkerung übergeben wurde und diese nun darüber entscheiden, was digitalisiert werden darf, was in welcher Form ausgestellt wird und was auch nicht. Diese restitute-it-all-Lösung ist tatsächlich aus unserer Sicht die einzige Option. Und entgegen aller institutioneller Angst, ist natürlich auch das Museum in Auckland nicht leer. Im Gegenteil, die Macht- und Besitzverhältnisse wurden radikal verändert. Es wurde um indigenes Wissen holistisch erweitert und damit wurde das Museum auf ein völlig neues Fundament gestellt. Das ist das Fundament für ein zeitgemäßes Museum. Ein Museum, das auch ein epistemischer Raum ist und nicht nur der Selbsterhaltung dient. In diesem Sinne müssen Museen und Sammlungen konstant verhandelbar sein. Es gibt keinen Zeitpunkt, an dem eine Lösung für alle Zeit gefunden sein wird, was gestern noch rechtmäßig war, kann heute als Unrecht betrachtet werden. Aber die Bereitschaft, sich auf einen solchen Prozess einzulassen, ist der Kern, uum den es bei unseren Befragungen der Institutionen geht.
Zur Relevanz von Museen im digitalen Zeitalter Sonia K . Katyal entwir ft den Begriff der Technoheritage, unter anderem auch in Auseinandersetzung mit eurem Nefertiti-Hack.1 Ihr hattet ins Spiel gebracht, dass dieses Konzept sich auch dem universalen Anspruch eines ›Weltkulturerbes‹ entgegenstellt. Inzwischen sind neben nationalstaatlichen Akteuren, wie Museen und Archive – die mögliche Zukünfte formulieren, da sie bestimmte Lesarten von Vergangenheiten vorgeben, und damit auch unsere gemeinsame Gegenwart ausrichten – auch viele große Unternehmen daran beteiligt, sich ihren Anteil an einer shared heritage zu sichern. Dabei geht es nicht immer nur um Deutungshoheiten, sondern es kann auch schlichtweg mit der Digitalisierung viel Geld verdient werden.
In Zeiten des Digitalisierungsfiebers innerhalb der Museen müssen wir andere Fragen stellen, nämlich wem gehören die Daten? Wer generiert sie? Wer baut die Datenbank architektur? Derzeit sehen wir einige konservative Ansätze, wo das Museum quasi als Datenkrake fungiert und Daten sammelt und sammelt, genauso wie es zuvor die Objekte gesammelt hat. Aber es gibt auch progressive Museen, wie zum Beispiel das Statens Museum for Kunst (SMK) in Kopenhagen, die ihre gesamte Sammlung auf eine frei verfügbare public domain stellen. Sicher stellen die digitalen Derivate von Sammlungsobjekten eine immaterielle Ressource dar, welche zum einen materielle Begehrlichkeiten weckt und zum anderen eine Chance bietet, den Umgang mit diesem Erbe grundlegend neu zu verhandeln. Diese Grundsatzverhandlung wird vor allem dadurch relevant, da hierdurch Präzedenzfälle geschaffen werden können, wie mit dem Nofretete Hack. Auf welcher rechtlichen Grundlage wird das Recht auf Abbildung oder auf Reproduktion einer 3000 Jahre alten Büste eingefordert? Dieses Vorgehen durch die Sammlung Preußischer Kulturbesitz (SPK) kann man als Copyfraud bezeichnen – trotz der Unterzeichnung einer Selbstverpflichtung, der Berliner Erklärung aus dem Jahr 2003, zur Schaffung von Zugang zu den Sammlungsgegenständen und deren Digitalisate. Vor zehn Jahren wurde zu diesem Zweck die Europeana gegründet. Eine europaweite Plattform, um jegliche Inhalte der Nationalgalerien, Bibliotheken, Archive und Museen zentral 1 | Katyal umschreibt den Begriff wie folgt: »[Technoheritage is] the legal revolution that is swiftly unfolding regarding the relationship between technology, user interactivity, and cultural institutions, both inside and outside of the law. At the same time that cultural properties are facing destruction from war and environmental change, we are also living in an age of unprecedented interactivity and reproduction—everywhere, museums are offering their collections for open access, 3-D printing, and new projects involving virtual and augmented reality. With the advent of other sophisticated forms of digital technology, the preservation and replication of antiquities have never been easier. An entire swath of 3-D enterprises is based on the simple principle that what one group destroys or seizes, technology can recreate and duplicate, creating copies that are more enduring, more sustainable, and more user-friendly than the original antiquities that inspired them.« (Katyal 2017: 1111)
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Nora Al-Badri · Jan Nikolai Nelles und unentgeltlich in der public domain zugänglich zu machen. Nun gab es einen Sinneswandel, mit dem Resultat, dass Kulturstaatsministerin Monika Grütters den zweijährigen Ausbau der bpk-Bildagentur mit 460.000 Euro fördert.2 Das ist eine Konkurrenzplattform zur Europeana, mit einem latent abweichenden Zweck: der Verwertung und Monetarisierung von Abbildern und Digitalisaten, deren Urheberrechte gerade nicht bei der Institution liegen und die Verwertungsrechte eigentlich Allgemeingut sind. Derzeit entwickelt ihr den NefertitiBot.
Der NefertitiBot ist ein Chatbot und kann als eine Stimme der Subalternen beschrieben werden, welche das Museum dekonstruiert, den dominanten Narrativen gegenübersteht. Es ist auch ein Experiment, hin zu einer post-Autorschaft und post-kuratorischen Praxis durch die Maschinenintelligenz. Im Grunde ist der Bot ein speziell trainiertes und selbst-lernendes System, ein Interface, und vielleicht auch eine Entität, die verantwortlich gemacht werden kann und eine kritische Auseinandersetztung forciert. Wo inter veniert der Bot konzeptionell in das museale Repräsentationssystem, in die herkömmlichen, oft noch kolonialen Ausstellungsdisplays?
Der NefertitiBot ist ein Chatbot, der die Deutungsshoheit übernehmen will, die bislang bei den administrativen und kuratorischen Museumsstrukturen liegt. Ein Bot, durch das die materiellen Objekte anderer Kulturen in den Museen des Globalen Nordens anfangen werden, für sich selber zu sprechen. Dabei werden sie die gewaltvolle und hässliche koloniale Patina abschütteln, indem sie die, den institutionellen Narrativen inhärenten, Fiktionen dekonstruieren und die bisherigen Repräsentations politiken herausfordern. Viele Objekte in Sammlungen könnten beginnen für sich selbst zu sprechen, die Maschinen transzendieren die Vorurteile und die Objekte werden Teil einer Tradition der digitalen Ara. Ausgehend von unserer Annahme, dass Sprache in naher Zukunft immer noch ein wesentliches Medium der Mensch-Maschine-Interaktion sein wird, ist dieser conversational chatbot auch ein Versuch, eine neue Sprache zu generieren. Zum einem, eine Sprache mit den Dingen, mit den Maschinen, zum anderen ist es der Versuch, gemeinsam mit einer Gruppe herausragender Vordenker des dekolonialen Museums eine neuronale Struktur aufzubauen, um eine kritische Befragung der Institutionen und Sammlungen in neuen Dialogformen zu realisieren. 2 | Siehe Statement auf der Homepage der SPK, URL: https://www.preussischer-kulturbesitz.de/schwerpunkte/digitalisierung/alle-news-digitalisierung/news-d etaildigitalisierung/_news/2017/03/13/7842-bpk-bildagentur-zentraler-online-shop -fuer-museen-archive-und-bibliotheken.html, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
Zur Relevanz von Museen im digitalen Zeitalter Es wird ausschlaggebend sein, dass diese Technologien nicht nur von wenigen multinationalen Softwarefirmen oder Regierungsstellen kreiert, entwickelt und distribuiert sind, sondern von vielen gestaltet werden. Wird es möglich sein, durch word vectoring (eine grundlegende Technologie für Chatbots) die Ansätze der Kritischen Theorie in einer K.I. zu verwirklichen? Folglich fordert NefertitiBot nicht nur Repräsentationspolitiken h eraus, sondern auch die Politiken der Technologie-Entwicklung und verlangt nach einer öffentlichen Förderung zur Erforschung der s ogenannten k ünstlichen Intelligenz, eben auch durch den Kultursektor. Inwiefern verändert der Bot kuratorische Praxen?
Der kuratorische Prozess steht derzeit unter der Diktatur des Expertentums und der Institution. Nur wenige, spezifisch ausgebildete Menschen entscheiden über die Sammlungen. Daher könnte man argumentieren, jedes andere Modell, auch eine K.I., wäre unabhängiger und demokratischer als das. Weil eine K.I. – beziehungsweise Maschinenintelligenz – die Daten nicht innerhalb eines sozialen Konstrukts oder aus der individuellen Erfahrung heraus bewertet. Beispielsweise unterscheidet sie nicht zwischen ›Hoch-‹ und ›Populärkultur‹. Abgesehen davon, dass sie demokratischer wäre, geht es darum, weniger Vorannahmen zu haben und weniger anthropozentrisch zu sein. Eine K.I. kann eine hohe Anzahl von Daten verarbeiten, was potentiell zu einem Wissenszuwachs und einer neuen Rationalität führt. Die Erwartung ist, dass K.I. die Möglichkeit hat, Geschichte von unterschiedlichen Perspektiven aus zu erzählen, inklusive jener von nicht-menschlichen Anderen und nicht parteilich zu sein, ohne die Notwendigkeit diplomatisch zu agieren oder unter dem Bann einer Institution zu stehen. Es ist vereinfacht, eine K.I. zuallererst als ein Produkt von Kultur zu sehen. Sie ist eine Maschine, die Muster erkennt. Auch diejenigen Muster, die in unserer Kultur unausgesprochen sind. Das Vorhaben, den Bot eine Sammlung re-kontextualisieren und dekolonialisieren zu lassen, zusätzlich zu einer menschlichen Kurator*in, wird die gesamte Auffassung dieser Sammlung verändern. Nicht zuletzt – ein Bot, das nicht von der Institution angestellt ist und nicht bezahlt wird, ist in der Position, andere Fragen zu stellen – oder?
L iteratur Katyal, Sonia K. (2017): »Technoheritage«, in: 105 Calif. Law Rev. S. 1111-1172. Leeb, Susanne (2017): »Lokalzeit oder die Gegenwart der Antike«, in: Texte zur Kunst 105, S. 99-117. Al-Badri, Nora/ Nelles, Jan Nikolai (2015-2017): Portfolio.
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Das Bild, das weiße Blatt und die Leere Trinh T. Minh-ha Schon seit längerer Zeit verändern Smartphonekameras den Bürger*innenjournalismus, können etwa Zeug*innenvideos die Kraft des Bildes nutzen, um Nation und Welt in Proteststimmung zu versetzen. Dabei scheint es heute notwendig, daran zu erinnern, wie viel mehr noch in der landläufigen Forderung steckt, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Eine solche Forderung stützt sich nicht nur auf die binäre Gegenüberstellung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, welche die komplexe wechselseitige Beziehung von Sehen und Nichtsehen unterschlägt. Sie hält sich auch an den Imperativ des Optischen, der unseren Zugang zu Ereignissen für gewöhnlich determiniert und uns dazu veranlasst, nach den Maßgaben des Sichtbaren zu denken und zu handeln. Im Kontext der Konsumgesellschaft, in der das Auge das dominante Organ ist, bedeutet erschaffen, dem Sichtbaren Form zu verleihen. Dabei wird der Akt des Aufnehmens, Informierens oder Enthüllens dem Sehen – oder dem, was sichtbar ist – oft untergeordnet, während beispielsweise Schreiben, Film- und Videoarbeiten darauf reduziert werden, etwas zu produzieren, das für das Auge lesbar bleibt. Ob eine Arbeit explizit visuell ist oder nicht – die Forderung einer Sichtbarmachung ist allgegenwärtig. Sie hält Schritt mit den gegenwärtigen neuen Technologien des Sehens, welche dieses schneller machen, alles gleichzeitig und immer mehr, selbst bei Nacht und durch blickdichte Oberflächen hindurch, und noch dazu in Abwesenheit – wie beispielsweise in der Kriegsführung mit Drohnen. Ein solcher optischer Imperativ hat in der Vergangenheit viele rational aufgeklärte westliche Forscher dazu verleitet, traditionelle Gesellschaften, die von der Macht des gesprochenen Wortes gelenkt werden, als ›ahistorisch‹ zu betrachten – oder als vollends geschichtslos, da Geschichte sich typischerweise aus geschriebenen oder materiellen Aufzeichnungen zusammensetzt und durch sie definiert ist. Dies ist die Art von Gewalt, die in zivilisatorischer Mission von Gesellschaften ausgeübt wurde, die von quantifizierbarer Materialität und dem geschriebenen Wort beherrscht werden. Und vielleicht sind für gegenwärtige Forscher*innen Erinnerung und Archiv auch deshalb ein allumfassendes Thema. Was man in einem Bild sieht, ist eine Manifestation dessen, wie man es sieht. Beim Forschen wie Erforschen geht es, wie im politischen Widerstand, nicht nur darum, Sicht und Sichtbarkeit zu gewinnen – noch kann es darum gehen, vergeblich
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Trinh T. Minh-ha das Ohr dem Auge entgegenzusetzen oder die anderen Sinne der Sicht. Im Gegenteil ist Unsichtbarkeit der Sichtbarkeit immer inhärent und es sind oft gerade die Formen der im Sichtbaren entstehenden Unsichtbarkeit, die in einem Kampf auf dem Spiel stehen. Beide sind unzertrennlich, denn jedes ist die Bedingung der Entstehung des anderen. Vor dem Hintergrund dieses Gedankens und mit einem erweitertem Verständnis sowohl von ›Aktivismus‹ als auch vom ›Sichtbaren‹ folgen nun einige Beispiele für die Arbeit widerständiger Vielfalt – anhand des Gesehenen, kaum Gesehenen und Unsichtbaren; zwischen Rändern und Grenzen der sichtbaren Realität und durch die Macht der Lücken, der Löcher, der Stille und der leeren Räume.
Ausweis des Untergrunds1 Am 52. Jahrestag des tibetanischen Aufstands kam die Menschenrechtsaktivistin und Theoretikerin Ngawang Sangdrol nach Berkeley, Kalifornien, um einen Vortrag zu halten. Als ehemalige Klosterangehörige und am längsten inhaftierte weibliche politische Gefangene Chinas war sie für ihre musikalische Protestarbeit bekannt, die sie mit ihren Mitgefangenen – die als die Dreizehn Singenden Nonnen Bekanntheit erlangten – selbst im Gefängnis Drapchi fortsetze. Als Dreizehnjährige eingesperrt und später zu einer Gefängnisstrafe von 23 Jahren verurteilt, war sie auch eine der jüngsten politischen Gefangenen. Unter den Geschichten, die sie ihrem Publikum damals erzählte, war auch eine einprägsame kleine Anekdote. Diese eher banale, aber auffallend rührende Anekdote wurde bereits von anderen Gefangenen erzählt – in diesem Zusammenhang erlangt ihr Bericht jedoch noch einmal Bedeutung.2 Sangdrol erzählte, wie vor langer Zeit tibetanischen Gefangenen von chinesischen Wärter*innen Zeitschriften gezeigt wurden, in denen der Westen ob seiner engagierten Unterstützung für den Dalai Lama und Tibet bloßgestellt wurde. Diese wurden als Beleg dafür gezeigt, was sie als Versuche der ›Gehirnwäsche‹ des Westens sahen, die edelgesinnte Agenda der chinesischen kommunistischen Partei zu untergraben. Im Laufe der Zeit erkannten die Wärter*innen, dass die tibetanischen Gefangenen, weit davon entfernt, sich einfach von der Verkommenheit des Westens und der Überlegenheit Chinas überzeugen zu lassen, vom Lesen dieser Artikel zutiefst begeistert wurden. Also begannen sie mit ihrer eigenen Art von Zensur und fingen an, Zeitschriften nur noch mit fehlenden Geschichten auszuliefern – jeder Artikel, der Tibet in einem vorteilhaften Licht erscheinen ließ, wurde von nun an in ein aus der Seite geschnittenes Loch verwandelt. Wie beunruhigend dies auch gewesen sein mag, es hinderte die tibetanischen Gefangenen nicht daran, sich am Anblick dieser klaffenden Löcher zu erfreuen, da sie wussten, dass sie für etwas Gutes standen, das jemand über Tibet gesagt hatte. 1 | Teile dieses Abschnitts und des folgenden Abschnitts »The Empty Chair« wurden dem Buch Lovecidal. Walking with the Disappear. New York: Fordham University Press, 2016, entnommen. 2 | Großer Dank gebührt Tenzin Mingyur Paldron, der diese Anekdote weitergab und viele Informationen über den tibetischen Kampf mit mir teilte.
Das Bild, das weiße Blatt und die Leere Ein Mangel verliert so seine negative Konnotation, um eine Affirmation zu werden, und eine Abwesenheit wird hier als eine freudig erwartete Anwesenheit empfangen. Fülle und Leere erzielen in ihrer repräsentativen Funktion eine ähnliche Wirkung und, ob sie dem Blick nun gewährt oder entzogen wurden, die Artikel hatten eine ähnliche Wirkung auf die Gefangenen. Dies traf auch zu, als Peking den Dalai Lama als Separatisten tituliert hatte und chinesische Autoritäten den Menschen befahlen, Fotos der beliebten Figur im roten Umhang zu entfernen. Die Kampagne, die das Bild des exilierten Anführers aus dem öffentlichen Leben – aus staatlichen Behörden, Klöstern, Institutionen, Hotels, Restaurants und Kulturereignissen – ebenso dem Privaten auszulöschen trachtete, hatte ihre eindringlichen und ihre oberflächlichen Momente. (Das staatliche Verbot, das 1996 verhängt wurde, bezog sich nicht nur auf die öffentliche Zurschaustellung des Bildes Seiner Heiligkeit, sondern noch tiefgreifender auch auf dessen Besitz). Mehrere Male wurde die Strategie gewechselt und das Verbot gelockert, worauf unmittelbar Phasen folgten, in denen das Verbot umso intensiver durchgesetzt wurde: Während chinesische Autoritäten in einigen Städten eine Taktik von Zuckerbrot und Peitsche anwendeten und Tibeter*innen nachdrücklich dazu verlockten, Bilder ihres Anführers auszustellen, mussten Tibeter*innen in anderen Regionen für den Besitz solcher Bilder mit langen Gefängnisstrafen rechnen. Dies wurde begleitet von weiteren Einschränkungen im privaten Bereich – zum Beispiel wurden in der Yulshul Region alle Fahrzeuge von tibetanischen Besitzern angehalten und kontrolliert und etwa achtzehn Säcke mit Fotos des Dalai Lamas verbrannt. *** »Warum haben sie vor einem Bild so viel Angst?« fragte ein Mönch aus Rongwu hinsichtlich einer kommunistischen Partei, die vermeintlich an nichts glaubt und schon gar nicht an die Macht eines bloßen Bildes. Eine solche Kampagne, die mit Gewalt den spirituellen Anführer eines Volkes auszulöschen sucht, hat zu einigen absurden Geschichten von Zensur geführt. So verlor der Zensor eines lokalen Fernsehsenders selbst seinen Job, nachdem ein Bild des Dalai Lama unabsichtlich im Rahmen einer Dokumentation über Tibet ausgestrahlt worden war. Seine Verteidigung, die unvermeidlich hätte Gelächter auslösen müssen, wäre sie nicht so tragisch, lautete, dass er nicht wüsste, wie der Dalai Lama aussähe. Er hatte sein Bild noch nie gesehen, weil es in der chinesischen Presse nie erschienen war. (Vgl. Schechter 1998) Die Paranoia, die sich in den Köpfen der Autoritäten am Bild Seiner Heiligkeit entzündet, zeugt von der erfinderischen Art, in der der tibetanische Kampf sich in dauernder stiller Handlung unmerklich mit jeder neu aufkommenden repressiven Situation wandelt. Das affektive Bedürfnis, das Bild des geliebten Anführers bei sich zu tragen, mag nach der Nostalgie für eine »lang verlorene Liebe« klingen. Im Zusammenhang eines politischen Kampfs gegen Unterdrückung wird ein solches Bild allerdings schnell zu dem, was man einen Ausweis des Untergrunds nennen könnte: Ein Zeichen der Soli-
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Trinh T. Minh-ha darität, wenn nicht gar des Trotzes angesichts der Zensur; ein Weg, sich als Tibeter*in zu identifizieren und die eigene Zugehörigkeit zu einer gefährdeten, verschwindenden Zivilisation zu bekräftigen. Unnötig zu erwähnen, dass schwere Strafen, Beleidigungen und Bedrohungen die stille Hingabe der Menschen nicht gemindert haben – im Gegenteil rufen sie tief emotionale Reaktionen hervor und intensivieren damit letztendlich die Loyalität der Menschen zu ihrer »lebenslangen Laterne«. Je fanatischer die Kampagne und das Verbot, desto glühender das Vertrauen und Festhalten an der »lang verlorenen Liebe«. So lautet eine Antwort auf die Kampagne, die das Gesicht des Dalai Lamas auszulöschen trachtet: »Sie können SHDL in Tibet physisch ausradieren, aber SHDL lebt in den Herzen von 99% der Tibeter*innen in Tibet.«
Der leere Stuhl 3 Liebe ist die Minimalform des Kommunismus […] damit Liebe hält, muss man sich neu erfinden. Alain Badiou
Wann immer tibetanischen Klöstern befohlen wurde, das Bild des vierzehnten Dalai Lama aus dem Blickfeld zu entfernen, haben die Menschen, anstatt es einfach zu entfernen und die dadurch entstandenen Lücken auf Wänden und Altaren zu füllen, dessen Platz leergelassen und eine Lücke zwischen den Bildern anderer geistiger Anführer Tibets oder der Vorfahren entstehen lassen. Oder sie ersetzten das Bild durch ein leeres Blatt Papier, um so seine Abwesenheit als sichtbaren Einschnitt in der Reihe der Erscheinungen zu markieren. Zum großen Ärger der chinesischen Autoritäten hat das Fehlen einer Darstellung Seiner Heiligkeit, egal wie streng die Zensur, wenig dazu beigetragen, die Menschen von ihrer Liebe zu ihm abzuhalten. Ständig über das Indirekte heraufbeschworen, bleibt dieses »so sehr ferne Gesicht«, diese »lang verlorene Liebe« weiterhin eine »lebenslange Laterne«. Ob materiell oder immateriell vorhanden, der leere Raum lebt fort in unendlichen Möglichkeiten. Dieser könnte von einer tiefgreifenden Entschiedenheit zeugen, nicht zu vergessen. Er könnte ein Mittel sein, Evidenzen der Repression zu hinterlassen, eine Stille Geste, die eine abwesende Gegenwart ehrt und an der Kultstätte als konstante Erinnerung sowohl an Zensur als auch den Zensierten dienen. Jeden Tag unternehmen tausende Tibeter*innen einen Ausflug zum Potala Palast, den Menschen auch als der Peak bekannt, Tse Potala – oder, der Ort, der in Lhasa weiterhin das Symbol Tibets und der Heimat des Dalai Lama ist. Jeden Tag häufen sich hunderte von khadas (traditionelle Seidenschals) als Gabe vor dem leeren Thron im Versammlungsraum des Dalai Lama, der einst als Kammer des Goldenen Glanzes bekannt war. Der Anblick von Pilger*innen, die wiederholt auf die Knie fallen und sich auf den Bäuchen ausgestreckt mit dem ganzen Körper vor dem leeren 3 | Siehe Fußnote 2.
Das Bild, das weiße Blatt und die Leere Stuhl niederwerfen, hat seitens der Tourist*innen immer für Fragen gesorgt. Allerdings haben chinesische Reiseleiter*innen auf die Frage, zu wem sie beteten, ohne dass da jemand sei, einheitlich eilig folgendes erwidert: »Sie beten zu den vorherigen Dalai Lamas.« Es wurde zudem berichtet, dass Pilger*innen beim Anblick der leergeräumten Wohnbereiche, in denen der derzeitige Dalai Lama vor seinem Exil lebte, untereinander zu flüstern und innig zu beten anfingen, während sie ihre Gebetsperlen und Schals über jedwede Oberfläche rieben, an die sie für die Segnung herankamen. Von der Zerstörung verschont, weil es der Kulturrevolution als Kulisse diente, in ein Staatsmuseum verwandelt und von all seinen historischen Dokumenten, heiligen Schriften, kostbaren Artefakten und Schätzen enteignet, ist der prunkvolle Potala Palast selber eine leere Hülse für »unendliche wirtschaftliche Chancen« geworden, wie es in Anzeigen des heutigen Chinas heißt. *** In der Geschichte der Bühnensymbolik mag der leere Stuhl als eine übliche Art der Trauerverarbeitung gelten: als ein Zeichen von Abwesenheit oder Verlust – eines Mordopfers, eines fehlenden Geliebten, eines unsichtbaren Gastes oder einer nie erscheinenden Person – er kann auch ein Symbol des Absurden, des Verlangens und der Einsamkeit sein. Sitzen und warten, in Stille warten. (Unter vielen Beispiel finden sich Samuel Becketts Warten auf Godot, Eugene Ionescos Die Stühle oder sogar Van Goghs personifizierende Stuhlmalereien, die einen weitreichenden Einfluss auf diverse Künstler*innen und Designer*innen hatten.) Aber in den gegenwärtig unruhigen Zeiten tritt der leere Stuhl als Ort und ›materielle Evidenz‹ einer erzwungenen Abwesenheit auf. Er hat oft die politische Rolle eingenommen, Machtmissbrauch und dessen diverse Mechanismen der Unterwerfung durch Zensur bloßzustellen und sich in absentia zu widersetzen. Im Kontext Chinas fügt er sich geschmeidig in eine Kette von Techniken der Unterdrückung und Vernichtung, die das Ziel haben, alle »sensiblen Fälle« weg zu »harmonisieren« (wegzuwischen). Nennenswert ist die Wiederkehr solcher Eigentümlichkeiten auf der Weltbühne, wie etwa: der einsame Stuhl und der unbesetzte Sitzplatz; das leere Blatt, leerer Raum, leeres Zeichen; der weiß gewordene Bildschirm ohne Inhalt; der leere Rahmen oder der Rahmen ohne Kunstwerk; und nicht zuletzt das Intervall des Schweigens – sie alle besitzen einen potentiell kraftvollen gespenstischen Effekt. Weitere gutbekannte Fälle kommen in Erinnerung, unter ihnen, wie der Nobelpreis 2010 einem leeren Stuhl verliehen und auch die Lobrede diesem ikonischen Stuhl verlesen wurde, um die Abwesenheit des gefangenen chinesischen Literaturwissenschaftlers und Dissidenten Liu Xiaobo hervorzuheben. Mit Urkunde und Medaille ausgezeichnet soll sein leerer Sitz einen mächtigen Nachhall beim ausgewählten internationalen Publikum der Preisverleihung hinterlassen haben – trotz einer Kampagne der chinesischen Regierung, welche die Repräsentanten diverser Nationen dazu drängen wollte, das Ereignis zu boykottieren. Außerstande selbst teil-
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Trinh T. Minh-ha zunehmen oder ein Familienmitglied oder eine Stellvertretung zu bestimmen, um den Preis persönlich entgegenzunehmen, ist Liu offenbar nicht zum »vergessenen Nobel« (Le Nobel Oublié) geworden, wie es die französische Zeitung Le Figaro befürchtete. Der Träger des Friedenspreises wird nicht nur beständig bei jeder jährlichen Gedenkfeier des Massakers vom vierten Juni erwähnt (in Hong Kong und anderswo, durch die Veröffentlichung seiner Anthologie June Fourth Elegies, insbesondere des Gedichts June Fourth in My Body). Sowohl er als auch der Rechtswissenschaftler und Aktivist Xu Zhiyong wurden kürzlich, noch immer in Abwesenheit, mit dem National Endowment for Democracy Award 2014 ausgezeichnet. Wie erwartet, wurde der Begriff des »leeren Stuhls« kurz nach Lius Nobelpreis-Zeremonie selbst zu einem sensiblen Wort, das aus dem chinesischen Cyberspace verbannt wurde. Es wurde das Wort der Woche im Grass-Mud Horse Lexikon auf China Digital Space – ein von chinesischen Netizens entwickeltes Glossar von Begriffen, denen in widerständigen Onlinediskursen oft begegnet wird, und das häufig dazu genutzt wird, die offizielle Sprache um Zensur und politische Korrektheit zu parodieren, nachzuahmen oder zu untergraben. *** Leere Stühle haben China in jüngerer Zeit wiederholt heimgesucht. Unter mehreren anderen bekannten Fällen ist der leere Stuhl bei den International Women of Courage Awards 2013 nennenswert. Dieses Mal stand der unbesetzte Stuhl unter anderen, besetzten, Stühlen für die tibetanische Schriftstellerin und Dichterin Tsering Woeser, die unter Hausarrest in Peking saß, während das US-amerikanische Außenministerium (mit John Kerry und Michelle Obama) sie in Washington DC ehrte. Als Tochter von Mitgliedern der kommunistischen Partei, deren Vater als höherer Offizier in der Volksbefreiungsarmee gedient hatte, wurde Woeser nicht nur als erste tibetanische öffentliche Intellektuelle in China angesehen, sie war zudem auch weitläufig als eine von Chinas respektiertesten Autor*innen zu Tibet bekannt. Nachdem sie von den chinesischen Autoritäten bereits daran gehindert worden war nach Oslo auszureisen, um den 2007er Freedom of Expression Prize der norwegischen Autorenvereinigung entgegenzunehmen, der zu deren alljährlichem Treffen 2008 vergeben wird, wurde ihr auch 2010 die Chance verweigert, den Courage in Journalism Award von der International Women’s Media Foundation sowie den Prince Claus Award 2011 entgegenzunehmen. Viel gefragt wegen ihrer offenen und fundierten Stimme gegen die repressive, diskriminierende Politik Pekings sind ihre publizierten Arbeiten, darunter ihr Gedichtband Tibet’s True Heart (2008) oder vor kürzerem das Buch Immolations in Tibet: The Shame of the World (2013) in China verbannt, ihre Blogs per Dekret abgestellt. Die Liste bekannter Fälle von leeren Stühlen reicht weiter. Religiöse Personen aus jeder Region Tibets sind ins Exil gezwungen worden und für Tibeter*innen ist es besonders schwer, die Zahl leerer Stühle weiterhin zu überblicken. Wie im Tibetan Political
Das Bild, das weiße Blatt und die Leere Review berichtet: »Die von Peking leergehaltenen Stühle haben ihre eigene Diversität […] Es sind unter ihnen Blogger*innen, Dichter*innen, Dozent*innen, Künstler*innen, Buchhändler*innen, hingebungsvolle Ehefrauen und geliebte Lamas. Ein Faden, der sie verbindet, ist ihre Bereitschaft, trotz des hohen Preises, den Peking ihnen abverlangt, die Wahrheit auszusprechen.« (John N 2013, übers. Isolda MacLiam.)
Übersetzung: Isolda MacLiam
L iteratur Danny Schechter (1998): »The News That Didn’t Make the News«, in: Phillips, Peter/ Project Censored (Hg.), Censored, New York: Seven Stories Press. John N (2013): »Another Empty Chair«, in: The Tibetan Political Review, 26, URL: http://www.tibetanpoliticalreview.com/articles/anotheremptychair, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
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Die Suche nach Mohamed Husen im kolonialen Archiv Ein unmögliches Projekt Eva Knopf Während der Arbeit an meinem Film Majubs Reise (2013)1 haben mich eine Reihe von Fragen begleitet, von denen ich hier einige derjenigen aufgreifen möchte, die sich mit den kolonialen Archiven befassen. Majubs Reise erzählt vom Leben des Afrikaners Majub bin Adam Mohamed Hussein, der sich in Deutschland Mohamed Husen nannte und in den 1930er und frühen 1940er Jahren Statist und Kleindarsteller beim deutschen Film war. Er spielte den Chauffeur von Zarah Leander, den Diener von Hans Albers und den Liftboy von Heinz Rühmann. Mit Majubs Reise wollte ich dem Statisten Mohamed Husen posthum seine erste Hauptrolle geben.
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Mohamed Husen in Fünf Millionen suchen einen Erben (1938) und Die Reiter von Deutsch-Ostafrika (1934)
1 | Buch und Regie: Eva Knopf, Sprecherin: Jule Böwe, Producer: Simon Buchner und Christoph Arni, Associate Producer: Martin Backhaus, Redaktion: Joachim Lang (SWR), Elisabeth Serr (SWR), Bildgestaltung/Kamera: Rainer Hoffmann, Schnitt: Anne Glossmann, Musik: John Gürtler, Ton: Nadja Hermann und Anna Bartholdy, Sounddesign/Mischung: Konrad Kassing, Compositing: Thorsten Löffler, Titeldesign: Julia Ocker, Schnittassistenz: Robin Fischer, Aufnahmeleitung Tansania: David Kyungu, Set-Aufnahmeleitung Tansania: Rashid Faraji, historische Beratung: Marianne Bechhaus-Gerst. Eine Produktion der Filmakademie Baden-Württemberg in Koproduktion mit SWR, in Kooperation mit Transit Film, Friedrich-Wilhelm-M urnauStiftung und dem Goethe-Institut Tansania.
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Eva Knopf
Mohamed Husen in Die drei Cordonas (1940), Eine Frau kommt in die Tropen (1938), Monika – Eine Mutter Kämpft um ihr Kind (1937) und Carl Peters (1941) (von links oben nach rechts unten)
In seiner Rolle als Statist stand Mohamed Husen häufig an den Rand gedrängt, wurde unscharf oder im Schatten stehend gefilmt. Er wurde nicht als Individuum dargestellt, sondern als Teil einer Gruppe, die lediglich den Hintergrund für die Handlungen der Hauptdarsteller bildet. Statisten können nicht selbst agieren, die Erzählung eines Films nicht vorantreiben, keine eigene Subjektivität entwickeln und auch die Akkumulation von Statistenbildern und eine geschickte Montage ermöglichen es nicht, Statisten wie einen Hauptdarsteller in Szene zu setzen. Im Falle Mohamed Husens kommt hinzu, dass er als Schwarzer Mann zumeist in dienenden, häufig auch in rassistisch degradierenden Rollen gefilmt wurde. Als Filmemacherin begibt man sich in ein Dilemma: Diese Bilder zu zeigen, bedeutet, auch die rassistischen Stereotype, die Husens Rollen prägten, zu aktualisieren und in die Zukunft zu tragen. Sie nicht zu zeigen, würde bedeuten, Mohamed Husen in den Archiven zu vergessen, oder zumindest den Versuch zu unterlassen, ihn noch einmal in die (Film-)Geschichte einzuschreiben. Wie aber kann seine Geschichte erzählt werden? Die Frage, ob und wie man Mohamed Husen auf der Basis des Archivmaterials zum Hauptdarsteller in einem Film über sein Leben machen kann, eröffnet neben Fragen der Bild-Dramaturgie und einer generellen Repräsentationskritik auch eine
Ein unmögliches Projekt historiographische Ebene, denn Husens Lebensgeschichte ist eng mit der deutschen Kolonialgeschichte verwoben. In dieser wird die Figur des Statisten zu einer Metapher für die Rolle der Kolonialisierten in der ›großen Geschichte‹. Sie kommen darin, wenn überhaupt, wie Statisten und somit nur ganz am Rande vor. Ist es möglich, die Kolonialisierten wieder in die ›großen Geschichte‹ einzuschreiben? Die Metapher des Statisten deutet bereits an, dass ein solcher Versuch komplexe theoretische und praktische Probleme aufwirft, sowohl auf der Ebene des Archivs als auch der der Erzählung.2 Sie lassen sich, bezogen auf den Film, mit der von Hans Beller wie folgt gestellten Frage adressieren: »[W]ie schaffen wir über Archivfilme eine Vorstellung von Geschichte, ohne uns der Anschauung der überlieferten Bilder zu unterwerfen?« (Beller 1984: 119) Bellers Frage hat für historische Auseinandersetzungen mit Archivmaterial Relevanz, bei denen es eine Spannung zwischen dem historischen Zweck von Fotos und Filmen und ihrer erneuten Nutzung gibt.3 In Bezug auf die Kolonialgeschichte ist sie besonders wichtig, nicht nur, weil lange Zeit nur die Kolonialisatoren – nicht die Kolonialisierten – gefilmt und fotografiert haben, sondern auch, weil Fotografie und Film als Instrumente der Sichtbarmachung als tiefgreifender Bestandteil selbst in die unterdrückenden Machtmechanismen des Kolonialismus eingebunden waren.4 Versteht man ›Archivfilme‹ nicht nur im Sinne von ›historischem Filmmaterial‹ sondern auch als ›Filme über Archive‹, geraten nicht nur die koloniale Fotografie und der koloniale Film in den Blick, sondern auch die kolonialen Archive selbst.5 Damit sind zunächst die Sammlungen kolonialer Verwaltung, Wissenschaft und Sammel2 | Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, dass unserem Wissen nicht einfach »neue
Fakten hinzugefügt werden und die Ausgewogenheit in der Darstellung erhöht« (F eiermann 2002: 79) werden kann, da die »Sprache der Geschichte« (Feierman 2002: 50) selbst eurozentristisch ist. Der indische Historiker Dipesh C hakrabarty fügt dem hinzu, dass ›die Geschichte‹ als Erkenntnismodell jenseits einzelner narrativer Strategien tief innerhalb europäischer institutioneller Praktiken verankert ist (zu denen, wie ich hinzufügen möchte, auch der Umgang mit Archiven gehört).
3 | Beller selbst hat diese Frage in Bezug auf das nationalsozialistische Archiv gestellt. In etlichen Dokumentarfilmen und Dokumentationen der Gegenwart werden nationalsozialistische Propagandabilder als quasi neutrales Material genutzt. Fast alle Aufnahmen von der Wehrmacht an der Front wurden zum Beispiel von Hitlers K ameramännern gedreht und werden in Dokumentationen heute oftmals ohne entsprechende Kontextualisierung verwendet. Unsere Vorstellung von der Geschichte wird so von nationalsozialistischer Propaganda geprägt, ohne dass dies im A llgemeinen wahrgenommen wird. 4 | Die unterdrückte Dynamik der Fotografien wird von den meisten Autorinnen und Autoren theoretisch mit Referenz auf Lacans ›Blick‹ und Foucaults ›Panoptikum‹ gefasst. (Vgl. u.a. Pinney 1992) 5 | Der Begriff des Kolonialismus wiederum bezieht sich hier nicht nur auf die Phase der eigentlichen Kolonien, sondern im Sinne kolonialer Kontexte auch auf die Zeit der kolonialen Expansion seit dem 15. Jahrhundert und der bis heute andauernden Folgen. Koloniale Archive sind deshalb auch solche Archive, die aus den kolonialen Verwicklungen heraus entstanden sind.
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Eva Knopf tätigkeit gemeint, doch der Begriff weist über diese Definition hinaus. In kulturtheoretischen Texten wird der Begriff des Archivs oftmals in Bezug zu demjenigen des Diskurses betrachtet. Der Einzug ins Archiv markiere demnach den Moment, bei dem aus einer spezifischen Stimme diskursives Wissen wird.6 Spivak beschreibt den Moment, in dem die Stimme einer oder eines Kolonialisierten in das koloniale Archiv eingeht, deshalb als »epistemische Gewalt« (1985: 250). Highmore schreibt entsprechend von einem Archival impulse: »The archival process is one that over-codes the materials that enter it – the archive is a form of alteration, of mediation, of production. In recording the lives of others [...], the archival operation inserts discursive ›knowledge‹ in place of a specific ›voice‹. [...] Inserting something [...] into The Archive fundamentally transforms it, rendering it a product of the Archival impulse« (Highmore 2006: 88ff.).
Archive besitzen also eine wichtige diskursive Ebene (die im Folgenden anhand von Foucaults Archivbegriff beschrieben wird)7, erschöpfen sich jedoch weder durch diese diskursive Ebene, noch konnen sie angemessen durch diese allein beschrieben werden. Archive offenbaren die Verknüpfungen zwischen Geschichte und Erinnerung, Wissen und Macht in einer Gesellschaft. ›Das Archiv‹ als einfaches Kürzel für diese komplexen Zusammenhänge zu verwenden, riskiert jedoch, die Mythologisierung der Archive, gegen die eine Analyse eigentlich vorgeht, zu wiederholen und konkrete, spezifische Ausschlussmechanismen zu verwischen (vgl. Milligan 2005: 178).
Mohamed Husen im kolonialen Archiv Zu den ›Informationen‹, die über Mohamed Husen bekannt sind, gehört, dass er 1904 in der damaligen Kolonie Deutsch Ost-Afrika, die geographisch grob dem heutigen Tansania entsprach, geboren wurde. Sein Vater war ein Söldner, ein so genannter ›Askari‹, der von den Deutschen angeheuert wurde, um die Kolonie gegenüber der einheimischen Bevölkerung und den anderen europäischen Kolonialmächten zu verteidigen. Als der Erste Weltkrieg begann, der auch in den Kolonien ausgetragen wurde, war Mohamed Husen noch ein Kind. Mit neun Jahren trat er an der Seite seines Vaters in den Militärdienst ein und kämpfte mit ihm zusammen gegen die Engländer und deren afrikanische Armee. Ungeklärt ist, ob der Vater während des Kriegs, der vor allem unter den afrikanischen Soldaten und Zivilisten große Verluste
6 | Auch die Archive als Orte, Architekturen und Institutionen können wichtige Definitionsmerkmale sein, die hier jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielen.
7 | Der oben zitierte Highmore bezieht sich ebenso auf den Foucaltschen
Archivbegriff.
Ein unmögliches Projekt forderte, starb. Husen selbst überlebte verletzt und geriet in englische Kriegsgefangenschaft.8 Danach versiegen die Quellen. Von der Disziplin der Geschichtswissenschaft werde ein Versiegen historischer Quellen aufgrund der Alltäglichkeit dieses Vorgangs nicht weiter beachtet, schreibt Gayatri Spivak. Deshalb möchte sie sich gerade diesem Problem zuwenden. Sie fragt danach, was von der Geschichtswissenschaft als nicht wichtig genug angesehen werde und deshalb in einem gewissen Sinne versteckt sei. »I want to dwell on this all too familiar phenomenon to note the pattern of exclusions that makes the familiar function as such. As the historical record is made up, who is dropped out, when and why?« (Spivak 1985: 146, Herv. E.K.)9 All die bis hierhin und im folgenden dargestellten ›Informationen‹ über M ohamed Husen stammen aus deutschen Kolonial-Archiven und den Archiven der Nationalsozialisten, beziehungsweise den Institutionen in die diese Archive übergegangen sind, darunter das Bundesarchiv, das Bundesarchiv-Militärarchiv, das Bundesarchiv- Filmarchiv, das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, das Politische A rchiv des Auswärtigen Amtes, das Archiv des Konzentrationslagers Sachsenhausen und das Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin (vgl. Bechhaus-Gerst 2007).10 Es handelt sich bei den Quellen überwiegend um Aufzeichnungen deutscher Beamter des Auswärtigen Amtes und anderer Behörden, Fotos von Veranstaltungen des Kolonialkriegerbundes11 sowie Filmausschnitte und Begleitmaterialien von zum Teil propagandistischen Spielfilmen. Mohamed Husen hat keine eigenen Aufzeichnungen hinterlassen, es sind keine persönlichen Quellen, keine privaten Briefe oder Tagebuch-
8 | Für eine detailliertere Beschreibung siehe Treu bis in den Tod: Von Deutsch-Ostafrika nach Sachsenhausen – Eine Lebensgeschichte (2007) von Marianne B echhaus-Gerst aus dem auch, wenn nicht anders vermerkt, die hier und im weiteren Artikel referierten Informationen über Mohamed Husen stammen. Das Buch bildete darüber hinaus den Ausgangspunkt für meine eigene Recherche in diversen Archiven. 9 | Spivaks Hinwendung zum Archiv folgt einer kritischen Auseinandersetzung mit Hayden Whites bekannter Feststellung, die Geschichte sei eine Literatur. White, so Spivak, übersehe, dass es sich bereits bei den Quellen im Archiv um eine Literatur und nicht wie er schreibe, um ein »un-processed historical record.« handele (White zitiert nach Spivak 1985: 248). »It is against these disciplinary and cultural tendencies of representation that I propose a ›reading‹ of a handful of archival material« (Spivak 1985: 248).
10 | Die Ordnungsstruktur der kolonialen Sammlungen stellt bis heute vielfach das
Raster dar, auf dessen Grundlage Dokumente in den Archiven gesucht werden können. Auf diese Weise, schreibt Dirks, reflektieren Archive selbst die Formen und Formationen kolonialer Epistemologie (vgl. Dirks 1999: 175).
11 | Der Kolonialkriegerbund war eine Vereinigung ehemaliger, vornehmlich weißer, deutscher Kolonialsoldaten die sich unter anderem für die Wiedergewinnung der Kolonien einsetzten.
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Eva Knopf einträge überliefert.12 Es ist mir auch nicht gelungen, enge Verwandte oder Freunde zu finden, die über sein Leben Auskunft geben können.13 Warum tauchen Spuren Mohamed Husens gerade an den erwähnten Stellen in den staatlichen Archiven auf? Warum sind gerade diese Informationen überliefert? Warum verschwindet er und taucht erst Jahre später wieder auf? In die Archive tritt Husen ein, weil er, wie Spivak vermutlich schreiben würde, für die Produktion der Kolonie relevant war.14 Als Sohn eines Söldners wurde er gewissermaßen in den Militärdienst hineingeboren, weshalb seine Geburt verzeichnet ist. Als er nach verlorenem Krieg den Militärdienst verließ, ist sein Werdegang für die koloniale Herrschaft – und damit auch für eine gegenwärtige Archivrecherche – nicht mehr nachzuvollziehen. Dadurch, dass ein solcher Vorgang des Verschwindens in der Disziplin der Geschichtswissenschaft selbst unsichtbar sei, würden es auch die Muster, die hinter diesem Verschwinden stehen, so Spivak. Diese Muster zeichnen sich entlang der Herstellung der Kolonien ab, die sowohl den staatlichen Apparat, die wirtschaftliche Ausbeutung als auch die Produktion der Ideologie beinhaltet. Das heißt von denjenigen die durch die koloniale Verwaltung und Wissenschaft erfasst wurden – etwa weil sie dem Militär angehörten oder zum Beispiel für eine wissenschaftlich, anthropometrische Studie fotografiert wurden –, sind Spuren überliefert. Alle Menschen außerhalb der Produktion der Kolonie sind nach Spivak für die Geschichtswissenschaft im klassischen Sinne unzugänglich (vgl. Spivak 1985).15 Erst zehn Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges, mit dem Deutsch-Ostafrika zur britischen Kolonie Tanganyika wurde, tauchen wieder Spuren von Husen in den 12 | Es gibt einen persönlichen überlieferten Gegenstand, ein Bogen Briefpapier, auf den später noch einmal Bezug genommen wird.
13 | Bechhaus-Gerst war es über den Suchdienst des Roten Kreuzes gelungen, Kon-
takt zu einem Verwandten, Omary Hassan, dem mittlerweile 86-jährigen Ehemann der Tochter von Husens Bruder zu knüpfen. Dieser berichtete, dass Husen seinem Bruder Briefe und Fotos aus Deutschland schickte, die 1952 jedoch allesamt bei einem Hurrikan verloren gingen (Bechhaus-Gerst 2007: 163f.). Als ich 2011 für die Dreharbeiten zu Majubs Reise nach Tansania fuhr, war dieser Kontakt nicht mehr herzustellen und Hassan wahrscheinlich bereits verstorben. Von Husens deutscher Ehefrau verlieren sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Spuren. Husens Kinder sind vermutlich schon früh an Krankheiten und im Zuge des Krieges verstorben. Darüber hinaus gibt es einzelne Menschen, die sich noch an Mohamed Husen erinnern. Unter ihnen der Schwarze deutsche Schauspieler und Journalist Theodor Michael Wonja, der jedoch angibt, nicht enger mit ihm befreundet gewesen zu sein. Auch nach Festivalteilnahmen und mehrfacher Ausstrahlung von Majubs Reise im öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben sich bisher keine weiteren Hinweise auf Familienmitglieder oder Freunde ergeben.
14 | Über das Auftauchen der Rani von Sirmur im Archiv – auf die ich noch einmal
zurückkommen werde – schreibt Spivak entsprechend: »The Rani emerges only when she is needed in the space of imperial production« (1985: 270).
15 | Ich komme unten noch mal auf den Punkt zurück, dass es nach Spivak darüber
hinaus eine Illusion ist, außerhalb der Archive ›unberührte Stimmen‹ finden zu können (vgl. Spivak 1999: 146).
Ein unmögliches Projekt Archiven auf. Die erste Quelle ist ein Dokument des Auswärtigen Amtes, das H usens Anwesenheit in Deutschland bezeugt. Spätestens 1929 heuerte er als Stewart auf einem Schiff der bekannten Reederei Woermann an, verließ Afrika und fuhr von Daressalam bis nach Hamburg. Schließlich klopfte er an der Tür des Auswärtigen Amtes in Berlin, um nachträglich seinen Sold zu fordern, der ihm nach Ende des Ersten Weltkriegs angeblich nicht mehr ausbezahlt wurde. Ein deutscher Beamter schreibt: »Der Ostafrikaner Bajume bin Mohamed16 erhob hier Anspruch auf das Kriegsgehalt seines Vaters und sein eigenes. Papiere hatte er nicht. [...] B ajume [...] ist angeblich Steward auf dem Woermann-Dampfer ›Ubena‹ und fährt am 4.1.30 von Hamburg wieder ab. [...] Ich habe ihm eröffnet, daß sein und seines Vaters Gehaltsansprüche nicht mehr befriedigt werden könnten. [...] Da Bajume erklärte, hier völlig mittellos zu sein, habe ich Herren Ministerialamtmann Eggers gebeten, mit ihm zu einem Reisebüro zu gehen und ihm eine Fahrkarte dritter Klasse nach Hamburg zu kaufen. Geheimrat Eltester hat zu diesem Zweck 20 RM vorgeschossen. Den Rest der 20 RM soll Bajume als Zehrung erhalten. Berlin, den 30. Dezember 1929. gez. Gunzert.«17
Mohamed Husen taucht hier auf, weil er Geld beantragt und den Staat Geld gekostet hat. Das musste verzeichnet werden (vgl. Spivak 1985: 267). Die Perspektive des Eintrags ist diejenige eines Sachbearbeiters, der in seinem Amt in einer bestimmten Hierarchie steht. Welche Kompetenzen demonstriert er mit diesem Eintrag gegenüber seinen Vorgesetzten und Kollegen? Welche sozialen Praktiken und moralischen Tugenden spiegeln sich hier (vgl. Stoler 2002: 93 und Spivak 1985: 253f.)? Ohne diese Fragen an dieser Stelle beantworten zu können: Sie zeigen, dass Husens Forderung mit dem Einzug ins Archiv in die Erzählung eines deutschen Beamten überführt wird.18 Das wird auch in den folgenden Dokumenten deutlich. Ihnen ist zu entnehmen, dass Husen weder auf der Ubena noch auf einem anderen Schiff zurück nach D aressalam gefahren ist, sondern noch mindestens zwei weitere Male beim Auswärtigen Amt vorstellig wurde. Jedes Mal zweifelten die Beamten an der Recht16 | Mohamed Husen nutzte verschiedene Namen. Bajume scheint, ebenso wie H usen, selbst gewählt zu sein (vgl. Bechhaus-Gerst 2007: 11).
17 | Dieses und die folgenden Zitate stammen aus der Quelle BA Berlin, R 1001/1105, Bl.76-80.
18 | Die Kontakte zwischen Kolonialisatoren und Kolonialisierten zeigen zum einen, dass die Kolonialmacht nicht monolithisch war – und ihre Vertreter durchaus verschiedenen Klassen und Ansichten angehörten – und zum anderen, dass die tatsächliche Begegnung mit den Kolonialisierten dichotomen Darstellungen nicht entsprachen, sondern vielschichtiger waren: »[T]he dichotomous representations that westerners use for colonial rule are the outcome of a much more murky and complex practical interactions« (Pels 1997: 163).
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Eva Knopf mäßigkeit der von Husen gestellten Anträge, was sie ihm, laut Protokoll, auch vermittelten. Auf den ersten Blick stellt sich die Frage, ob Husen seinen Sold nach Ende des Krieges tatsächlich nicht erhalten hatte und sein Anspruch damit vor dem geltenden Gesetzt rechtmäßig war oder er einen umso kühneren Plan verfolgte, um an etwas Geld zu kommen. Keine der beiden Varianten – und auch keine andere – lässt sich heute noch belegen. Viel interessanter ist jedoch der Umstand, dass er überhaupt nach Deutschland kam, Forderungen stellte und die Frage, auf welcher Grundlage dies geschah. Auf welches Wissen und auf welche Diskurse greift er zurück, um sein Anliegen vorzutragen? Was speist seine Version der Geschichte, die hier nur indirekt zu vernehmen ist? Und was lässt sich dadurch über Husen sagen? Welche Interpretationen stehen hier derjenigen des Beamten gegenüber?
Der ›Mythos des treuen Askari‹ Um diese Fragen zu beantworten, muss ein wenig ausgeholt werden, denn Husens Forderungen sind eng in die Politik des deutschen Kolonialismus eingebunden. Tatsächlich fanden in der ehemaligen deutschen Kolonie zwischen 1926 und 1928 Soldnachzahlungen von insgesamt über sechs Millionen Mark an 70.000 anspruchsberechtigte Askari statt (vgl. Michels 2013: 303). Diese waren 1929 bereits abgeschlossen und es ist unklar, ob Husen berücksichtigt wurde oder nicht. Einer der Initiatoren für diese Nachzahlungen war General von Lettow-Vorbeck, der sich damit auch bemühte, das Selbstbild der Deutschen als gute und gütige Kolonialherren zu pflegen. Lettow-Vorbeck wurde in Deutschland als Kriegsheld gefeiert. Er war der einzige deutsche General der während des Ersten Weltkriegs im Feld unbesiegt blieb und damit einer der wenigen, die nach dem auf ganzer Linie verlorenen Krieg von den patriotischen Deutschen als Held stilisiert werden konnte.19 Seine Armee bestand überwiegend aus afrikanischen Soldaten, den Askaris.20 Lettow-Vorbeck war es auch, der den ›Mythos des Askari‹ entscheidend prägte. Dieser besagte, dass die Askaris den Deutschen ›treu bis in den Tod‹ gewesen seien und dabei ›preußische Disziplin‹ und großen Kampfesmut bewiesen hätten. Der ›Mythos der Askari‹ wurde von Kriegsveteranen in zahlreichen, damals populären Büchern immer wieder erzählt. So wurde der »treue Askari« gar »zu einem dominanten Topos der Nachkriegszeit« (Bechhaus-Gerst 2007: 49). ›Der Mythos des treuen Askari‹ konnte der von einigen Deutschen so genannten ›Kolonialschuldlüge‹ im Versailler Vertrag, der Deutschland 19 | Heute hat sich diese Einschätzung fundamental gewandelt und Lettow-Vorbeck
wurde unter anderem von dem Historiker Helmut Bley als Kriegsverbrecher bezeichnet (dieser wurde dafür von Lettow-Vorbecks Enkel verklagt, vor dem Amtsgericht Hannover jedoch von der Anklage frei gesprochen), vgl. Knödler 2013; vgl. auch Schulte-Varendorff 2006.
20 | Askari bedeutet auf Arabisch Soldat. Viele der Schwarzen Soldaten wurden, wie
Mohamed Husens Vater, außerhalb der Kolonie angeworben, damit sie keine familiären Bindungen an die Bewohner hatten und leichter gegen sie eingesetzt werden konnten.
Ein unmögliches Projekt als unfähig für die koloniale Herrschaft befand, entgegengesetzt werden. Neben dieser außenpolitischen hatte der Askari-Mythos eine bedeutende innergesellschaftliche Funktion. Er wurde »zum Spiegelbild des Mythos des potenten weißen Führers und Helden« (Michels 2007: 319; vgl. Bechhaus-Gerst 2007: 50). Fast immer sind es Erzählungen weißer deutscher Kriegsveteranen, die an die Askaris erinnern. Von Askaris selbst sind kaum Originaltexte überliefert (vgl. Bechhaus-Gerst 2007: 46) und der ›Mythos des treuen Askari‹ eignete sich nicht dafür, von einem Askari erzählt zu werden, da er letztlich nur die Heldentaten der weißen Soldaten unterstreichen sollte. Doch genau das tut Mohamed Husen. Er – und auch andere in Deutschland lebende Afrikanerinnen und Afrikaner – haben offenbar versucht, den ›Mythos‹ für sich selbst nutzbar zu machen und durch diesen Ressourcen zum Überleben zu generieren (vgl. Michels 2017: 306). Entsprechend schreibt Bechhaus-Gerst, dass Mohamed Husens »Leben in Deutschland [...] durch nichts so sehr geprägt [war] wie durch sein ›Askaritum‹, durch den kolonialrevanchistischen Diskurs in Deutschland zwischen den Weltkriegen und seine [Husens, Anm. E.K.] Instrumentalisierung desselben« (Bechhaus-Gerst 2007: 39). Dadurch änderte sich jedoch der Mythos. Statt, dass es auf Grundlage des kolonialen Archivs möglich ist, Mohamed Husens ›Stimme‹ zu hören, können wir durch Husen ausgelöste Irritationen sowie (diskursive) Un- und Um-Ordnungen aus den Archiven lesen. Es gibt einen Moment im Archiv, der dies besonders deutlich macht und zeigt, wie Husen, nicht zuletzt indem er Forderungen stellte, immer wieder versucht hat, über die Rolle des Fußsoldaten, Statisten und Dieners hinauszuwachsen, die die einzige war, die die Deutschen ihm von sich aus anboten. 1936 beantragt Mohamed Husen, der inzwischen in Deutschland Fuß gefasst hatte und auch erste Filmrollen spielte, beim Polizeiamt Berlin-Pankow das Frontkämpferkreuz, eine nationalsozialistische Ehrenmedaille, die zwanzig Jahre nach Kriegsende im Namen Adolf Hitlers an Veteranen des Ersten Weltkriegs verliehen wurde. Die Beamten des Auswärtigen Amtes waren sich nicht sicher, wie sie mit dem Antrag umgehen sollten und schrieben an Lettow-Vorbeck persönlich. In dem Schreiben ist erläutert, dass das Frontkämpferkreuz eigentlich nur für Weiße vorgesehen sei, »der Reichs- und Preußische Minister des Inneren und der Reichskriegsminister [...] jedoch keine Bedenken gegen die Verleihung des Ehrenkreuzes an die farbigen Angehörigen der ehemaligen deutschen Schutztruppe« hätten (BA Berlin, R 1001/876, Bl.227); was anscheinend auch vereinzelt schon vorgekommen sei. General von L ettow-Vorbeck antwortete am 20.5.1936: »Auf das Schreiben [...] erwidere ich, daß ich die Verleihung des Frontkämpfer-Kreuzes an den ehemaligen Askari Mohamed Husein [sic!] für zu weitgehend und wegen der Folgen, die sowohl die Gewährung als auch die Ablehnung der zu erwartenden weiteren Anträge ehemaliger Askaris haben würden, auch nicht für zweckmäßig halte. gez. v. Lettow-Vorbeck. Generalmajor a.D.« (BA Berlin, R 1001/876, Bl.227)
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Eva Knopf Ohne hier im Einzelnen auf die implizite Demontage des Mythos durch Lettow- Vorbeck einzugehen: Der Briefwechsel deutet darauf hin, dass es den Deutschen, die den Mythos pflegten, nie um einzelne, reale Askaris ging, sondern diese in ihren Heldenmythen nur den Hintergrund bildeten. Doch Mohamed Husen gab sich mit der Absage und der ihm zugewiesenen Statistenrolle nicht zufrieden. Am 20. April 1937 schrieb er eine bittere Beschwerde auf Kiswahili an das Amt. Darin beschreibt er seine Stationen im Krieg und schließt mit den Worten: »Und ich war von Anfang bis Ende im Krieg dabei. Ich war nicht allein. Ich will nicht viel, ich will nur meine Auszeichnung. Das ist mein gutes Recht. Es ist keine Lüge, noch will ich mir etwas unrechtmäßig aneignen, es ist mein Recht. Ich bitte die geschätzten Herren des Auswärtigen Amtes, mir zu helfen. Ich, ich habe meinen Vater verpasst, ich habe im Krieg meinen und den Sold meines Vaters verpasst, selbst meine Anerkennung wollt ihr mir vorenthalten? Wir Nubier und einige Swahili sind sehr betrübt, diese Nachricht zu bekommen. Wir hatten nicht gedacht, dass die Deutschen so eine Art haben.« (BA Berlin, R1001/1105, Bl.152f., Übersetzung übernommen aus Bechhaus-Gerst 2007: 98f.)
Es scheint, als habe Husen den Mythos – entweder strategisch oder tatsächlich – für wahr genommen und er forderte die Deutschen dazu auf, danach zu handeln. Inzwischen hatte der Innenminister jedoch entschieden, dass das Frontkämpferkreuznur an weiße deutsche Soldaten verliehen werden sollte, und das Auswärtige Amt lehnte die Forderung erneut ab.
Mohamed Husen mit Frontkämpferkreuz
Ein unmögliches Projekt Neben dem Beschwerdebrief ist vor allem ein Foto bemerkenswert, das während einer ›Afrika Revue‹ in einer Berliner Kneipe21 aufgenommen wurde. Es zeigt M ohamed Husen in einer an die Askari-Uniform angelehnten Fantasie-Uniform, die er sich vielleicht hat schneidern lassen oder von einem Filmset mitgenommen hat und in der er sich bei kolonialrevisionistischen Veranstaltungen immer wieder zeigte. Das Frontkämpferkreuz trägt er an der Brust. Offenbar hat sich Husen nicht mit der Absage an seine Ehrung abgefunden und sich die Auszeichnung selbst besorgt. Vielleicht hat er sie aus zweiter Hand gekauft, selbst gebastelt oder basteln lassen.22 Zwischen der Absage und dem Foto taucht Mohamed Husen hier als Handelnder in einer Lücke des Archivs auf, in der er sich das Frontkämpferkreuz selbst verliehen hat. Auf diesen Punkt werde ich noch einmal zurückkommen.
Exkurs: Foucault als »umsichtig eurozentrischer« Archivar Der Versuch, Spuren von Mohamed Husens ›Stimme‹ im Archiv zu finden, hat Ähnlichkeiten mit der Suche auf die sich Gayatri Spivak in The Rani of Sirmur – an Essay in Reading the Archives (1985) begibt und die sie vierzehn Jahre später in A Critique of Postcolonial Reason (1999) fortführt. Auch sie sucht in kolonialen Archiven nach den ›Stimmen‹ der Kolonialisierten. Dabei verknüpft sie eine Beschreibung konkreter Archive mit einem erweiterten Archivbegriff von Foucault, der das Archiv als »das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen« definiert (Foucault 1981: 188, Herv. i.O.). Bevor ich bestimmte Aspekte von Spivaks Methode auf die Suche nach Mohamed Husen übertrage, um ›seine Stimme‹ genauer im kolonialen Archiv zu verorten, möchte ich Foucaults Archivbegriff in einem kurzen Exkurs erläutern. Mit dem Begriff des Archivs meint Foucault keine staatlichen oder privaten Gebäude, in denen Dokumente lagern, ebenso wenig die Dokumente selbst. Solche Archive nennt er, wie im Französischen üblich, im Plural Archive (les archives). »Das Archiv« im Singular (l’archive) bezeichnet »das Spiel der Regeln, die in einer Kultur das Auftreten und das Verschwinden von Aussagen, ihr kurzes Überdauern und ihre Auslöschung, ihre paradoxe Existenz als Ereignisse und als Dinge bestimmen.« (Foucault 2001: 902)23 Es sei »das Gesetz dessen, was gesagt werden kann«. (Foucault 21 | In Majubs Reise und Bechhaus-Gersts Buch wurde der Ort der Veranstaltung noch als ›Hamburger Kneipe‹ bezeichnet. Inzwischen ist jedoch geklärt, dass die Vergnügungsstätte Remde’s St.Pauli tatsächlich in Berlin war (mündliche Mitteilung von Bechhaus-Gerst, vgl. Bechhaus-Gerst 2007: 91). 22 | Natürlich kann es sein, dass eine nachträgliche Zusage bei der Recherche nicht gefunden wurde. Dies ist jedoch erstens unwahrscheinlich und zweitens Teil der üblichen Fragilität historischer Forschung, in der ein einzelnes Dokument bisherige, scheinbar gesicherte Annahmen in Frage stellen kann (vgl. Rosen 1993).
23 | Diese generelle Unterscheidung wird hier, wo es schlüssig erscheint, übernommen. Sie kann jedoch nicht absolut gelten, da sie schon wegen der gegenseitigen
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Eva Knopf 1981: 188)24 Ordnet man die Begriffe innerhalb der Foucaultschen Verwendung gemäß ihrer Größe, müsste es heißen: Aussage – Diskurs – Archiv (vgl. Gehring 2004). Wobei mit Aussage nicht der Sprechakt einer Person gemeint ist, sondern gewissermaßen die Subjektposition des Diskurses. Auch wenn Foucaults Archivbegriff sich nicht damit befasst, wie konkrete Archive operieren, besteht eine ebenso lose wie komplexe Verbindung zwischen beiden. In einem Gespräch von 1967 beschreibt Foucault »das Archiv« als »akkumulierte Existenz der Diskurse«. (Foucault 2001: 763) Diskurse seien existent, »weil gesprochen worden ist; diese Ereignisse haben einst im Rahmen ihrer ursprünglichen Situation funktioniert; sie haben Spuren hinterlassen, bestehen weiter fort und üben durch dieses Fortbestehen innerhalb der Geschichte eine Reihe manifester und verborgener Funktionen aus«. (Foucault 2001: 762f.) Die Spuren vergangener Diskurse sind nicht nur in der gesprochenen Sprache der Gegenwart zu finden, sondern auch in den Dokumenten, die in konkreten Archiven lagern. Aussagen eröffnen eine »im Feld der Erinnerung oder in der Materialität der Manuskripte, der Bücher und irgendeiner Form der Aufzeichnung zurückbleibende Existenz«, so Foucault (1981: 44). Die Archive einer Gesellschaft registrieren und konservieren also Spuren von Diskursformationen. Die Archive stehen nicht nur innerhalb bestimmter Diskurse, etwa denjenigen der ordnenden und vergleichenden Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, sie ermöglichen denjenigen Diskursen, die Spuren in den Dokumenten hinterlassen, eine, wie auch immer fragmentierte Weise, fortzubestehen. Foucault selbst befasst sich nicht mit der Frage kulturell fremder, diskursiver Ordnungen. Er versteht ›das Archiv‹ per se als ›das europäische Archiv‹. Auch hat er ›das Archiv Europas‹ nicht in Bezug auf diejenigen Aussagen und Diskurse beschrieben, die sich mit den kolonialisierten Kulturen und dem Kolonialismus befassen. James Clifford nennt Foucault deshalb »auf umsichtige Weise eurozentrisch.« (Clifford 1988: 265, Übers. E.K.) Auch Spivak kritisiert, dass der Kolonialismus als Faktor europäischer Diskursformationen von Foucault unbeachtet bleibe. Das ›Andere‹ sei bei Foucault nicht der ›Wilde‹, sondern die Unvernunft und der Wahnsinn, schreibt Spivak und es scheint ihr, als hätte gerade dieser Fokus Foucaults Blick für die Bedeutung der Kolonien für das europäische Denken verstellt.
Verknüpfung von ›Archiven‹ und ›Archiv‹ nicht immer sinnvoll ist und ›das Archiv‹ hier nur insofern interessiert, als das es Spuren in Archiven hinterlässt.
24 | Die Beschreibung ›des Archivs‹ ist keine Geschichtsschreibung im herkömmlichen Sinn. Sie stellt eine eigene Praxis dar, die Foucault ›Archäologie‹ nennt. ›Das Archiv‹ kann wegen seines enormen Umfangs niemals vollständig beschrieben werden. Der Ausdruck Archäologie »bezeichnet das allgemeine Thema einer Beschreibung, die das schon Gesagte auf dem Niveau seiner Existenz befragt: über die Aussagefunktion, die sich in ihm vollzieht, über die diskursive Formation, zu der er gehört, über das allgemeine Archivsystem, dem er untersteht. Die Archäologie beschreibt die Diskurse als spezifizierte Praktiken im Element des Archivs« (Foucault 1981: 190).
Ein unmögliches Projekt Mohamed Husens Um-Ordnung des Archivs In ihrer Analyse des Archivs übernimmt Spivak Foucaults Archivbegriff, versucht ihn jedoch um Aussagen zu erweitern, die der Subjektposition der Kolonialisierten zugeschrieben werden können.25 Die Rani von Sirmur, eine lokale indische Adelige des 19. Jahrhunderts,26 kündigt in den von britischen Kolonialisatoren geschriebenen und von Spivak analysierten Dokumenten der Archive der East India Company an, einen sogenannten sati, den traditionellen indischen Witwenselbstmord, begehen zu wollen. Doch obwohl eine Frau durch den Akt des sati ihr Leben einsetzt, buchstäblich alles gibt, findet Spivak keine Aussage, die der Subjektposition einer subalternen Frau zugeordnet werden könnte und den sati aus ihrer Sicht begründet. Während die traditionellen, patriarchalen Sanskrit-Texte die Aussage enthalten würden, »the woman wanted to die« (Spivak 1999: 287), verbieten die Briten den sati per Gesetz und legitimieren ihre Kolonialherrschaft unter anderem dadurch, dass sie die indische Frau vor den ›barbarischen‹ Gebräuchen der Inder schützten würden. Die Aussage, die Spivak bezüglich des sati findet, lautet daher »white men are saving the brown women from brown men« (Spivak 1999: 287f.). Zwischen diesen beiden Aussagen verschwinde, so Spivak, die subalterne Frau. »Caught in the cracks between the production of the archives and indigenous patriarchy, today distanced by the waves of hegemonic ›feminism‹, there is no ›real Rani‹ to be found.« (Spivak 1985: 271) Dass sie keine Aussage findet, die der Subjektposition der subalternen Frau hätte zugeordnet werden können, veranlasste Spivak zu dem bekannten Satz ›The subaltern can’t speak‹ – die Subalterne könne nicht sprechen. Versucht man nun wiederum, Spivaks Ansatz auf die Suche nach Mohamed Husen zu übertragen, ergeben sich einige Verschiebungen. Zunächst gilt es, das Offensichtliche festzuhalten, nämlich, dass Husen keine subalterne Frau war und nicht außerhalb der Produktion der Kolonie stand, sondern, als Kind eines Askari, von Geburt an innerhalb der Hierarchie der Kolonie zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Kolonialherren gelebt hat. Sucht man im Archiv nach Aussagen, die die Situation der Askaris beschreiben, findet man den Satz: ›Die Askaris waren den Deutschen treue Soldaten‹. Diese Aussage ist allerdings, wie ›der weiße Mann rettet die braune Frau vor dem braunen Mann‹ der Subjektposition der Kolonisatoren zuzuordnen und legitimiert ihre Herrschaft. Doch wie hat Husen als Askari selbst seine Rolle während und nach der deutschen Kolonialzeit gesehen? Mohamed Husen, so meine These, hat sich, indem er sich selbst das Frontkämpferkreuz verliehen hat, entgegen der diskursiven Ordnung performativ selbst an die Subjektposition der Aussage ›die Askaris waren treue Soldaten‹ gesetzt. 25 | Statt von ›Aussagen‹ schreibt Spivak von ›Sätzen‹ (sentences) und statt von ›Kolonialisierten‹ von ›Subalternen‹ (subaltern) – was im letzteren Fall mit Bedeutungsverschiebungen einhergeht, die hier nicht relevant sind. (Vgl. Spivak 1999)
26 | Und damit ist sie, wie Spivak vorgeworfen wurde, im Grunde keine Subalterne.
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Eva Knopf Dadurch, dass er sich das Frontkämpferkreuz selbst verliehen und es empfangen hat, bringt er die (diskursive) Ordnung – wenn auch nur kurzzeitig – durcheinander. Anhand kleiner Turbulenzen – zum Beispiel der Unsicherheit der Beamten, mit Husens Antrag umzugehen – wird spürbar, dass die Archive nicht in einen leeren Raum hineingebaut wurden, sondern, dass sie auf bestehende Existenzen getroffen sind, an denen ihre Ordnungsversuche vielleicht sogar gescheitert sind. Highmore formuliert entsprechend mit strategischem Optimismus: »The voices that are expelled have the potential to alter the expeller (even if momentarily) and to unbind the archival impulse, and it is through this alteration, which is evident in the archival text, that the lost voices can be heard«. (Highmore 2006: 91) Indem Mohamed Husen sich Aussagen und Orden der Deutschen im Ungehorsam gegen die koloniale und nationalsozialistische Herrschaft aneignete, veränderte er deren Bedeutung. Ein letztes Beispiel aus der Suche nach ihm zeigt, dass er dies explizit anvisierte. Eines der bekanntesten Bilder des ›treuen Askaris‹ ist das bronzene WissmannDenkmal des Bildhauers Adolf Kürle. Es wurde 1904 in Daressalam zu Ehren des ersten Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, Herrmann von Wissman, aufgestellt, nach Kriegsende von den Engländern abmontiert und nach E uropa geschifft. Als es den Deutschen schließlich wieder ausgehändigt wurde, ist es vor der Universität Hamburg aufgestellt worden, in deren Besitz sich das Denkmal bis heute befindet. Die die Kolonialzeit verherrlichende Staue wird seit ihrem Sturz durch Studierende der Universität 1968 verwahrt und befindet sich derzeit in einem Schuppen der Sternwarte.
Das Wissmann-Denkmal aufgestellt in Daressalam (1909) und General von Lettow-Vorbeck vor dem Denkmal vor der Universität Hamburg (Jahr unbekannt)
Die Statue besteht aus vier bronzenen Elementen: Einer überlebensgroßen Figur Wissmanns, die zudem auf einem mannshohen Podest steht, einem namenlosen Askari,27 der unterhalb von Wissmanns Füßen steht und zu ihm aufschaut, sowie einem toten Löwen der vor beiden liegt und einer Reichsflagge, die der Askari wie ein Leichentuch über dem Löwen ausbreitet. Die Statue visualisiert die Aussage ›die 27 | »In der Erinnerung der meisten Deutschen hat er keinen Namen: der Askari«, schreibt auch Michels (2013: 294, Herv. i.O.).
Ein unmögliches Projekt Askaris waren den Deutschen treuen Soldaten‹ durch die Anordnung der Figuren in erstaunlicher Deutlichkeit als einen Satz der den Askari nur dazu nutzt, zum weißen Mann aufzuschauen, damit dieser sich in seinem Blick umso stolzer empfinden kann. Es gibt ein einziges überliefertes Erinnerungsstück aus Mohamed Husens Privatbesitz: Ein Bogen unbeschriebenes Briefpapier. Auf der Suche nach Husens ›Stimme‹ im Archiv kann dieser Fund zu einigem Pathos verleiten, etwa der Frage, was Husen uns, die dies lesen und nach ihm fragen, geschrieben hätte. Wie hätte er von seiner Zeit in Deutschland erzählt? Es ist die Leere, die Abwesenheit eines Textes, die das Briefpapier als Symbol für Husen so treffend erscheinen lassen. Doch der Brief ist nicht ganz leer, Husen nicht völlig ›stumm‹: Er hat den Briefkopf vermutlich selbst gestalten lassen.28 Dieser zeigt dieselben Figuren wie das Wissmann-Denkmal, nur anders angeordnet: Zu sehen ist der Askari, der Löwe und die Fahne. Doch der Askari schaut zu niemandem auf. Er steht aufrecht und schaut voranschreitend geradeaus, er hält sein Gewehr nach vorne gerichtet, bereit es zu nutzen. Der Löwe schreitet neben ihm und brüllt majestätisch. Die Flagge weht stolz im Wind. Ein Deutscher in Tropenuniform ist nirgends zu sehen.
Mohamed Husens Briefpapier
28 | Dieser Briefbogen wurde lange von Jürgen Hahn aufbewahrt, der als Kind mit
Mohamed Husens Sohn Heinz Bodo in der Nachbarschaft um den Rosenthaler Platz in Berlin spielte. Während eines Besuchs bei Heinz Bodo als Mohamed Husen nicht zu Hause war, klaute Hahns älterer Bruder einen ganzen Stapel des Papiers. Hahn fragte sich als Erwachsener oft, was mit Husen geschehen war und traf bei seinen Recherchen auf Bechhaus-Gerst, (pers. Gespräch mit EK). Ich möchte mich auch an dieser Stelle bei Jürgen Hahn herzlich für das Vertrauen bei den Dreharbeiten und den letzten vorhandenen Bogen von Husens Briefpapier bedanken.
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Eva Knopf Es ist wahrscheinlich, dass Husen das Wissman-Denkmal sowohl aus Daressalam, als auch aus Hamburg kannte.29 Dass er es aus seiner Sicht heraus umdeutete, ist eine Vermutung – eine, die zum Beispiel auch die Bildunterschrift nahelegt. Husen unterrichtete Suaheli an der Humboldt-Universität, er durfte sie aber, obwohl dies seine erste Sprache war, nur zusammen mit einem weißen Lehrer lehren. Von der Universität wurde er entsprechend ›Sprachgehilfe‹ genannt. Diese Herabwürdigung nicht anerkennend, bezeichnet er selbst sich in dem Briefkopf als »Lehrer für Suaheli am Auslandsinstitut der Universität«. Die Um-Ordnungen der Elemente der (visuellen) Diskurse sind die deutlichste Art, wie Mohamed Husen im Archiv erkannt werden kann. Sie zeigen noch einmal, dass Husen sich mit der Statistenrolle, die ihm angeboten wurde, nicht zufrieden gab. In Majubs Reise habe ich dieses Verfahren der Um-Ordnung des Archivs aufgegriffen. Bevor ich jedoch noch einmal auf meinen Film Bezug nehme, möchte ich kurz auf Mohamed Husens Leben und Sterben in Deutschland eingehen, dass zwar in der Öffentlichkeit überwiegend, aber nicht ausschließlich durch sein Askaritum bestimmt war. Nach seiner Ankunft in Deutschland fand er zunächst Arbeit als Kellner in einer Western-Bar und spielte später in etlichen Filmen.30 Mohamed Husen heiratete in Berlin eine deutsche Frau und bekam Kinder mit ihr und mindestens einer weiteren Frau. Erneute (und in Deutschland durchaus umstrittene) Kolonialpläne wurden politisch spätestens fallen gelassen, als sich eine Niederlage im Zweiten Weltkrieg abzeichnete. Zu Propagandazwecken oder als Sprachlehrer für zukünftige Kolonialbeamte wurde Mohamed Husen in der Folge von den Deutschen nicht mehr gebraucht. Und auch für die Rolle des Askaris gab es keine Verwendung mehr, weder als Soldat noch als Statist. Die wenigen Entfaltungsmöglichkeiten, die es für ihn gab, wurden immer weiter eingeschränkt. Mohamed Husen wurde schließlich im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert, wo er 1942 starb.
Das Spiel mit der Um-Ordnung in Majubs Reise In Majubs Reise habe ich als eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage, wie »wir über Archivfilme eine Vorstellung von Geschichte [schaffen], ohne uns der Anschau29 | Es gab in der populären Kultur nach dem Ersten Weltkrieg auch viele andere
Visualisierungen des ›treuen Askaris‹, häufig mit Gewehr und Fahne (vgl. Michels 2017).
30 | Darunter die Filme Fünf Millionen suchen Einen Erben (1938), Die Reiter von
Deutsch-Ostafrika (1934), Die drei Cordonas (1940), Eine Frau kommt in die Tropen (1938), Monika – Eine Mutter Kämpft um ihr Kind (1937), Carl Peters (1941), Zu N euen Ufern (1937), Männer müssen so sein (1939), Pedro soll Hängen (1941), Verwehte Spuren (1938), Über Alles in der Welt (1941), Zwischen Hamburg und Haiti (1940), Der Unmögliche Herr Pitt (1938), von denen Ausschnitte in Majubs Reise verwendet wurden. Neben der Arbeit beim Film, war Husen auch bei der sogenannten Afrikaschau tätig, die angeblich authentisch afrikanischen Inhalt darbot, tatsächlich aber eine bunt zusammen gestellte ›exotische‹ Unterhaltungsshow war.
Ein unmögliches Projekt ung der überlieferten Bilder zu unterwerfen« (Beller 1984: 119), Husens Verfahren der Um-Ordnung des Archivs filmisch aufgegriffen. Ich habe die einzelnen Elemente des Wissmann-Denkmals in verschiedenen Formationen aufgestellt und umgruppiert,31 wodurch sich neue Bedeutungen und Beziehungen der Figuren untereinander ergaben.
Die Um-Ordnung des Wissmann-Denkmals während der Dreharbeiten zu Majubs Reise (2013)
31 | Sie wurden in Zusammenarbeit mit Arbeit und Lernen Hamburg GmbH aufgestellt. Geholfen haben Holger Rosenburg, Andreas Dwenger, Detlef Laue, Marcel Skov, Serment Recep Sarikaya und Samet Uslu.
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Eva Knopf Die historischen Filmszenen mit Husen habe ich zunächst meist abgespielt, wie sie aufgenommen wurden. In weiteren Lektüren habe ich je nach Szene verlangsamt, den Ton verändert, die Bilder mit Musik versehen, Details vergrößert und durch die Montage neu kombiniert. Auf der Mikro-Ebene des Archivs sind so Bilder entstanden, die, analysiert man das Archiv auf der Makro-Ebene, nicht darin enthalten sein dürften: ein Blick von Husen, der über seine Rolle hinausgeht, ein Lachen, seine Präsenz als Mensch und Schauspieler.32 In gewissem Sinne folgt diese Strategie der Anthropologin und Historikerin Ann Laura Stoler, die davor warnt, dass Versuche, die Archive ›gegen den Strich‹ zu lesen, leicht einen entscheidenden Fehler begehen: In den Archiven Fragmente zu sammeln und zu ›Gegenstimmen‹ zusammenzusetzen, riskiere zu übersehen, dass die Archive das darin enthaltene Wissen von vornherein geformt haben. Diese Strategie verbleibe innerhalb der ›Logik der Archive‹ und sei potentiell blind gegenüber ihren wissensstrukturierenden Effekten. Das enttäuschende Ergebnis wäre, dass Fragmente gesammelt würden, die vollständig durch das Archiv geprägt sind, ohne dass dies registriert werde (vgl. Stoler 2008). Die mehrfache Lektüre der Bilder in Majubs Reise, das Changieren zwischen den Ebenen, geht auf die wissensstrukturierenden Effekte des Archivs ein und zeigt gleichzeitig, wo die darin enthaltenen Bilder widerständig gegenüber den Herrschaftsmechanismen des Archivs sind.33 Ein solches Verfahren kann die Problematik eines degradierenden Bild-Archivs nicht auflösen, gibt jedoch eine temporäre Antwort und stellt so einen Versuch dar, mit ihm koloniale Lesarten zu unterbrechen. Die Fragen nach dem Umgang mit den Archiven und dem Archivmaterial, die mich von der Recherche bis zur Montage beschäftigt haben, und es heute noch tun, gehen über eine Quellenkritik weit hinaus – beziehungsweise in eine andere Richtung. Es geht darum, anhand der Kritik vorhandener Quellen die Lücken und Brüche der Archive herauszuarbeiten oder auch, das Archiv aufzubrechen, um einen Raum für die Geschichten zu schaffen, die sich außerhalb oder am Rande desselben befinden. Entsprechend schreibt der Philosoph und Kunsthistoriker Hans Ulrich Reck, dass jenes, was das Archiv verschweigt, die Grenze der geschichtlichen Narrativität markiere, und erklärt, dass an die Stelle des wissenschaftlichen Erzählens andere Praktiken treten müssen (vgl. 1994: 205).
32 | Zur Relation von Mikro- und Makrogeschichte siehe Ginzburg (1997) und speziell im Film Kracauer (1971).
33 | Aus Platzgründen gehe ich hier nicht gesondert auf die Unterschiede des ›Sag-
baren‹ und des ›Sichtbaren‹ im Archiv ein, die bei einer weitergehenden Analyse der Bilder des Archivs – und der Strategien mit ihnen umzugehen – jedoch berücksichtigt werden sollten. (Vgl. Deleuze 1992)
Ein unmögliches Projekt Ein ›unmögliches Projekt‹ oder: Das Pathos der Suche Der Versuch, Mohamed Husen im Archiv zu finden, birgt wie die Symbolik des leeren Briefpapiers ein gewisses Pathos in sich. Auch Spivaks The Rani of Sirmur ist zum Teil deutlich durch das Pathos des ›Nicht-Wissen-Könnens‹ gekennzeichnet. Einige Jahre nach ihrer Archivrecherche reiste Spivak nach Indien, weil sie hoffte, der Rani an den Orten, wo sie gelebt hat, zu begegnen. Sie hoffte, ein Foto von ihr zu finden, sie wollte die Rani »berühren« (Spivak 1985: 271), wohl wissend, dass dies nur eine Sehnsucht sein kann. Spivak grenzt diesen Wunsch klar von ihrer wissenschaftlichen Arbeit, ›die Archive zu lesen‹ und die Repräsentation der Rani im Archiv zu dekonstruieren, ab. Ihre Wünsche offen zu legen, ist für Spivak, selbst wenn sie mit Verweis auf Freud bezweifelt, dass man die eigenen Motivationen immer klar erkennen könne, Teil ihrer selbstreflexiven Methodik.
Die Um-Ordnung des Wissmann-Denkmals: Screenshots aus Majubs Reise (2013)
Es ist ein langer Weg von einer Fetischisierung des Archivs, wie sie etwa der Historiker Dominick LaCapra bemerkt, hin zu einer Erzählung des ›Nicht-Wissen-Könnens‹. Wenn das Archiv fetischisiert wird, dann ist es mehr als eine Fundgrube von Spuren der Vergangenheit, die man für die schlussfolgernde Rekonstruktion benutzen kann. Es wird zum Double für die Vergangenheit, welches die mystifizierte Er-
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Eva Knopf fahrung der Sache selbst herbeizaubert (vgl. LaCapra 1987: 137).34 Was beide gemeinsam haben, das Archiv als Fetisch, als Ort an dem man mit der Vergangenheit vermeintlich in direkten Kontakt kommen kann, und etwa Spivaks performativer Darstellung des ›Nicht-Wissen-Könnens‹, ist jedoch das Pathos, mit dem der Vergangenheit begegnet wird. Ein Pathos, dem zumindest Spivak sich sehr bewusst ist (und das auch in Majubs Reise seinen Platz hat). Es ist dieses Pathos, die subjektive Erfahrung des ›Nicht-Erfassen-Könnens‹ der Rani, das es Spivak erlaubt, Verantwortung »vorzuspielen« (»mime«), wie sie selbstkritisch bemerkt (Spivak 1999: 241). Dieses »Vorspielen« von Verantwortung sei jedoch das einzige, was sie überhaupt tun könne. Deshalb dürfe das Pathos nicht verloren gehen.35 Die Kolonialisierten in den kolonialen Archiven zu suchen ist ein ›unmögliches Projekt‹, weil im Zentrum ein ›unmögliches Subjekt‹ steht. George Hartley schreibt über Spivaks Versuch, die Kolonialisierten in den Lücken der Archive zu berühren, sie sei von einem unmöglichen historischen Imperativ angetrieben, der den Gegenstand der Suche unvermeidlich verschiebe: »[H]istory must be written if we are to remain responsible to those who fall out into the margins of discourse, the fade-out points of our narratives, yet this marginal realm is beyond our grasp. What we learn through acting on such an imperative is not knowledge of the impossible object of history but rather an awareness of the limits of our own history writing.« (Hartley 2003: 237)
Der Wunsch danach, außerhalb der Archive eine unberührte Geschichte zu finden, entspringe der Sehnsucht, ›Stimmen‹ zu hören, die durch die Wucht der Expansion der kolonialen und der kapitalistischen Staaten noch nicht berührt oder zerstört wurden. Spivak entlarvt diesen Wunsch als einen, der in der Dichotomie kolonialen Denkens gefangen ist (vgl. Spivak 1999: 283). Es sei wieder der Wunsch nach genau jener Begegnung, die sich die Kolonialisatoren einbildeten, als sie im Indigenen den Vertreter einer zeitlosen Vergangenheit sahen (vgl. Wolf 1986: 531). Der Wunsch, außerhalb der Archive unberührte Quellen zu finden, ist derselbe Wunsch wie der, innerhalb der Archive zu dem Ursprung der Dinge vordringen zu können. Der einzige Unterschied ist, dass man den Archiven nicht mehr zutraut, diesen Wunsch erfüllen zu können. Spivak argumentiert daher, dass wir nicht nach unberührten Quellen suchen dürfen, sondern gerade in die kolonialen Archive gehen müssen, wenn wir die epistemischen Brüche, die das Projekt der Kolonialisierung hinterlassen hat, öffnen wollen. »But if, as critics, we wish to reopen the epistemic fracture of imperialism without 34 | Auch Spivak verweist in diesem Zusammenhang auf LaCapra. 35 | »Yet, the differantial contaminations of absolute alterity (even to utter the words
is to differentiate them from some other thing, which should of course be impossible) that allow us to mime responsibility to the other, cannot allow this pathos merely to be faded out.« (Spivak 1999: 241)
Ein unmögliches Projekt succumbing to the nostalgia for lost origins, we must turn to the archives of imperialist government« (Spivak 1999: 146). Mohamed Husen war nicht unberührt von diesen epistemischen Brüchen. Begibt man sich im Archiv auf die Suche nach seinen Spuren, trifft man nicht zuletzt auf die Widerspruche, die der Kolonialismus hervorgebracht hat. Husen wurde in diese Widersprüche hineingeboren und war von Kindheit an mit ihnen konfrontiert. Sie werden durch ihn sichtbar, weil er die Statistenrolle, die die Deutschen ihm zugedacht hatten, nicht akzeptieren wollte und Forderungen stellte, welche die Grenzen dieser Rolle sprengten und die weißen Deutschen wiederholt irritierte. Auch in der Gegenwart der Recherche löst Husen Fragen aus, die jetzt aus einer postkolonialen Perspek onzentrationslager andere Gründe tive und mit dem Wissen über seinen Tod im K haben: Wie war es für Husen überhaupt möglich, in einem System ›mitzuspielen‹, das ihn strukturell diskriminierte? Suchte man nach einer Ikone für den anti-kolonialen Widerstand, böte Husen sich aufgrund seiner Annäherungen an das koloniale und nationalsozialistische System nicht an. Als Hauptdarsteller, der nicht idealisiert handelt, sondern widerspenstig gegenüber Erwartungen ist imd bis zum Ende Rätsel aufgibt, wird er dadurch umso interessanter.
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U nveröffentlichte Q uellen Mohamed Husens Briefpapier Bundesarchiv Berlin: BA Berlin, R 1001/876, Bl.224 BA Berlin, R 1001/876, Bl.227 BA Berlin, R 1001/876, Bl.224 BA, Berlin R 1001/1105, Bl.76-80 BA Berlin, R 1001/1105, Bl.152f
F ilme Majubs Reise (2013) (D, R: Eva Knopf). Carl Peters (1941) (D, R: Herbert Selpin). Die drei Cordonas (1940) (D, R: Arthur Maria Rabenalt). Die Reiter von Deutsch-Ostafrika (1934) (D, R: Herbert Selpin). Der Unmögliche Herr Pitt (1938) (D, R: Harry Piel). Eine Frau kommt in die Tropen (1938) (D, R: Harald Paulsen). Fünf Millionen suchen Einen Erben (1938) (D, R: Carl Boese). Männer müssen so sein (1939) (D, R: Arthur Maria Rabenalt). Monika – Eine Mutter Kämpft um ihr Kind (1937) (D, R: Heinz Helbig). Pedro soll Hängen (1941) (D, R: Veit Harlan). Über Alles in der Welt (1941) (D, R: Karl Ritter). Verwehte Spuren (1938) (D, R: Veit Harlan). Zu Neuen Ufern (1937) (D, R: Detlef Sierk). Zwischen Hamburg und Haiti (1940) (D, R: Erich Waschneck).
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A Wide Range of Items making Art and the Future What would Kurt Schwitters most likely do in Post-War Breslau? Anna Markowska Jedermann weiß was zum Schuh gehört. Wenn es nicht gerade Holz oder Bastschuhe sind, finden sich da eine Sohle aus Leder und Oberleder, beide zusammengefügt durch Nähte und Nägel. Solches Zeug dient zur Fußbekleidung. (Heidegger 1977 [1950]: 18)
Du trägst den Hut auf deinen Füssen und wanderst auf die Hände.
(Schwitters 1919: 5)
Ist es wirklich unmöglich, sich die Kunstgeschichte Breslaus ohne die bestehenden lokalen Museumskollektionen vorzustellen? Ich möchte diese, auf den ersten Blick sehr naheliegende, Annahme mit dem Hinweis auf Paralipomena und ausgelassene Objekte in Frage stellen. Kunst im Museum stellt sowohl den Triumph aseptisch historischer Einbildungskraft als auch die idealisierte Verschleierung einer spezifischen sozialen und politischen Situation dar – wie Walter Benjamin sagen würde (1975: 50)1 – eine Situation, die zur moralischen Legitimierung ihrer Existenz der Idealisierung bedarf. Vor einiger Zeit glaubte man noch: »Wurde ein Ereignis nicht niedergeschrieben, habe es nicht stattgefunden.« (Banaś 1982: 11) Dennoch weisen uns mündliche Überlieferungen darauf hin, dass Ereignisse, in denen ephemere Kunst aus Alltagsgegenständen geschaffen wurde, stattgefunden haben. Sofern wir auf die Vorstellungskraft zurückgreifen und damit die nachfolgende Sammlung an seltsamen Gegenstän1 | Benjamin zitiert hier Eduard Fuchs.
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Anna Markowska den, die eine nicht-institutionelle, private Kunstgeschichte erzählen, bilden, hat dies gleichsam zur Folge, dass die Rolle schriftlicher Quellen minimiert wird. Dies stellt eine Herausforderung dar, insofern eine alternative Geschichte imaginiert werden soll, die weniger Fiktion als vielmehr Narration wäre – als solche zu gewöhnlich und unnötig, da nicht von instrumentellem Nutzen, als dass sie einen Grund zur Niederschrift geboten hätte. Könnten Gegenstände – in ihrer überraschenden Vielfalt in dieser Stadt, die das deutsche Breslau war und das polnische Wroclaw wurde – das Aufkeimen der Idee der heutigen »Stadt der Begegnung« bewirkt und zu Veränderungen in der Geisteshaltung der Anwohner*innen geführt haben, noch bevor die politischen Wandel stattfanden? Hatten sie Anteil an dem Wandel der politischen Systeme? Zusammenfassend geht es der folgenden Mini-Enzyklopädie darum, eben solche Fragen zu beantworten. »Anstatt Mechanismen und Phänomene aus dem Leben in die Kunst zu übertragen, wurden künstlerische Mechanismen und Phänomene im Leben selber aufgetan«, schrieb Kazimierz Braun, Direktor des Teatr Współczesny (Zeitgenössisches Theater, 1975-1984), über die experimentelle Kunst des 20. Jahrhunderts zu Beginn seiner Direktorenkarriere in Wrocław. Es scheint, als könnte die Zeit der polnischen Avantgarde in dieser Stadt als eine mythische Zeit betrachtet werden, in welcher Dichter, Schauspieler und bildender Künstler in einer einzigen Person zusammenliefen; ebenso das, was damals in verschiedenen performativen Aktionen außerhalb des Theaters gemacht wurde – als mythisches, rituelles Theater. Braun beklagte, dass die Figur des Schauspielers und des Dichters im Theater seit Jahrhunderten »durch theatralische Praxis gespalten und aufgeteilt« sei. In diesem Zusammenhang schrieb er: »[I]n dem Moment, an dem Dichter und Schauspieler voneinander getrennt wurden, endete das mythische Theater und das historische begann« (Braun 1975: 45). Ein Merkmal mythischen Denkens ist nach Claude Lévi-Strauss das Basteln (Bricolage), welches griffbereite Dinge nutzt, Wechselbeziehungen zwischen endlichen Ressourcen an Materialien und Mitteln beobachtet, und nicht entsteht, sofern ein ganzheitliches Projekt besteht (1966 [1962]: 16, 33). Ein Bricoleur wird immer alle Dinge griffbereit finden und muss zu jeder Zeit besonderen Elementen des Bastelns (Operatoren oder Agenten) gegenüber offen sein. Um Gegenstände nebeneinander zu stellen, muss man einen Dialog mit ihnen eingehen und alle möglichen Antworten auf das gegebene Anliegen berücksichtigen. Die Person, welche die ›Gesprächspartner‹ manuell verbindet, tut dies niemals der Profession halber, ihr heterogenes Repertoire ist eine vollständige Welt, außerhalb derer sich keine andere zu beherrschende findet. Diese Welt ist in Wirklichkeit eine Sammlung von Überresten und Abfall, Krümeln und fossilen Zeugen der Geschichte, jene zu transzendieren der Bricoleur aufgrund seiner persönlichen Beteiligung an ihr nicht im Stande ist. Wenn Bricoleure anhand von Ereignissen Zusammenhänge schaffen, kann man versuchen, die Ereignisse, die in Wroclaw hätten stattfinden können und es vielleicht auch taten, sichtbar zu machen. Nach der Apokalypse, die sowohl die Bewohner Breslaus, als auch die Neuankömmlinge durchlebten, fand eine Neugeburt statt, etwas, das nicht nur ein Akt des reinen
A Wide Range of Items making Art and the Future Werdens war, sondern einer der mythischen Rituale – eine Art zielgerichtete Fügung, ein Kompromiss zwischen der Struktur des Projekts und den vorhandenen Werkzeugen –, dem ein Inventar verfügbarer Ressourcen voranging. Der vorliegende Essay handelt von Kunst in einer Stadt, die ein Körper- und Geisteszustand ist und in der für sehr lange Zeit – aufgrund der Sowjetisierung – das Konzept des Privateigentums suspendiert wurde. Aber auch dann konnte ein Gegenstand ein Geschenk, ein Souvenir oder eine Trophäe sein. Dieser Text versucht ein kontinuierliches Fließen zwischen Kunst und Nicht-Kunst, dem alltäglichen Zusammenleben und dem Dialog mit Dingen, sowie die Gegenüberstellung dieser, in einfallsreichen Bricolagen zu beschreiben. Die Unmittelbarkeit einer Erfahrung der materiellen Welt, ohne vorbestimmte Szenarios, ist für diesen Fluss wichtig. Wir können den Moment, in dem ein Gegenstand zum Kunstwerk wird und als solches an einem Ereignis teilhat, nicht fassen, noch wissen wir, wann ein Ereignis zu einem mythischen Ritual wird – es ist jedoch jene Unbestimmtheit und Offenheit, die es uns ermöglicht, auf etwas zu treffen, das eben mehr ist als oberflächliches Spielen. Dieser Essay befasst sich mit Kunst, die nicht notwendigerweise im Museum erfahren wird, aber für jeden verfügbar ist, leicht und handlich, gleichsam einfach zugänglich für Neuankömmlinge und jene, die den Ort gerade verlassen. Menschen begegnen Gegenständen, welche wiederum intersubjektive Beziehungen vermitteln, die – so James J. Gibsons Theorie des Angebots (1979) – bestimmte Handlungen ermöglichen oder sogar beständig beanspruchen. All dies findet gemäß einer städtischen Eigenlogik (Löw: 2008) in Praktiken des Alltagslebens statt (Certeau: 1984[1980]). Die verschiedenen Status der Gegenstände dieser Kollektion durchdringen einander (zum Beispiel »Ziegel«, »deutscher Kitsch«, »alte Werkzeuge«), dennoch sollten drei auswechselbare und unscharfe Typisierungen ihrer Positionen und Rollen hervorgehoben werden. Die vorgeschlagene Klassifizierung wurde auf Grundlage der Konzepte von herausragenden, in Wroclaw lebenden Theaterkünstlern erstellt: Jerzy Grotowski und Henryk Tomaszewski und selbstverständlich Marcel Duchamp: Der Agent oder das Ding-als-Akteur, ist nach Jerzy Grotowski ein Ding der verbalen Dimension; eine auf den Ereignisfluss einwirkende*r Schauspieler*in, manchmal ein bloßes Werkzeug. Neben Bruno Latour (2010) wurde das agentielle Subjekt u.a. von Karen Barad (2007), Alfred Gell (1998) oder Andrew Jones (2002) behandelt. Es war allerdings Grotowski, der uns ein solches Ding im Einsatz auf der Bühne demonstriert hat. Zu den Dingen, die in diese Kategorie fallen, zählen beispielhaft »Adler«, »alle möglichen deutschen Geräte«, »eine Flasche Schwefelsäure«, »Alphabet aus Kupferbuchstaben«, »Kofferraumdeckel«. 2. Ein »vampire-gem« oder auch ein ›Anderes‹ mit ambivalentem Status, halbtot, halb-lebendig, ein Objekt aus Derrida’s hauntology, dessen Reich das der Märchen und Träume ist. Henryk Tomaszewski, ein ausgezeichneter 1.
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Anna Markowska Tänzer und Mime, zudem Leiter eines Pantomime-Theaters, besaß eine riesige Kollektion an Puppenhäusern mit einer Vielzahl an Miniaturen (von Mini-Backformen, kleinen Nähmaschinen und Kaffeeservices bis hin zu winzigen Sofas, Sesseln, Regalen und Tischen), die zur Vorstellung von Stücken dienten. Diese Kategorie umfasst die Beispiele »Flaschenhals«, »Pflastersteine«, »Bücher«, »Trümmer«, »Helm«, »Porträts an der Wand«, »Straßenschilder«. 3. Das undurchdringliche ›Andere‹, ein Meteorit aus einer anderen Realität, ein Fetisch. Bottle Rack von Duchamp könnte, weil es entgegen aller Anstandsregeln aus einer nicht-künstlerischen Welt herangeschleppt wurde, einen solchen Status besitzen. Beispiele dieser Kategorie sind u.a. »Asche, um den eigenen Kopf zu besprenkeln«, »Beute«, »Fotografien sehr schlechter Qualität«, »Distelflaum«, »Talisman«, »Schmierstift [Polnisch: wiszor]«.
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bottleneck 2 A bottleneck collection is a part of a large collection of glass fragments that Marcin Harlender (b. 1959), an artist, amassed as part of his search for discarded items which, after having encountered them, he protects and cares for.
adler The authorities gave Eugeniusz Geppert (1890-1979), the first Rector of the Wrocław Academy of Fine Arts, a demobilised German-made Adler car along with a driver. As Mieczysław Zdanowicz recalls, with the driver being a smith from the metalworks, the car did not undergo his ministering obediently and would frequently not cooperate while driving. That made Geppert the hero of Wrocław’s first ›performances‹ and para-theatrical actions: »It would often happen that a messenger came from the city bearing the alarming news that Professor Geppert was ›standing‹ at a crossroads and waiting for help. Students would drop their classes, run en masse to the crossroads and then accompany the professor in the Adler back to the Academy. This definitely was a peculiar street theatre, predating the Street Theatre Festival by many decades. Another famous car from the pioneer years of Wrocław is a 2.5t Mercedes truck, purchased by the then-under-construction National Museum in Wrocław in 1947. The sounds of the moving Adler and Mercedes served Heidegger to explain the need to bring items to the utmost directness towards us. He warned against perceiving the tangible with the help of the inrush of impressions, although when hearing a Mercedes we can immediately distinguish it from an Adler. It is best to leave an item 2 | Anm. der Herausgeberinnen: Der folgenden Auszug aus dem umfangreichen Lexikon der Autorin wird im englischen Original wieder gegeben.
A Wide Range of Items making Art and the Future »to rest-within-itself« (Heidegger 2002 [1950]: 8). Geppert, apparently, did not read the German philosopher asking questions about sources of art. Unfortunately, history remembers Geppert as a painter, not a performer.
all sorts of German utensils The living situation of the New Silesians in the flats abandoned by Germans and descriptions of utensils and items that they had used was a subject of numerous memories. Stanisław Bereś did not hesitate to write that the whole cosmos of his everyday life, »even the tastes were formed among the products of the German culture,« because – as he wrote – it can’t have been different »since we lived in German houses, in which many generations of German children were born and German elders died; since we slept on German beds and sofas, looked at German paintings, bathed in German bathtubs, ate from German pots and plates, played with German weapons, thumbed German atlases and books with golden spines... .« After praising the materiality of the world comes the jump to the hyperspace: »There is no doubt that during all our childhood the hypodermic osmosis of the Polish and German spirit took place. Although no one would dare think that.« (Bereś 2011: 15). Professor Bereś vel Aronnax called German utensils »crumbs of Atlantis«.
ashes to sprinkle one’s head The opinion of Maciej Łagiewski, director of the City Museum of Wrocław, on levelling German cemeteries by the new residents of Wrocław is brief but clear: »We have reason for sprinkling our heads with ashes.« (Gil-Kołakowska 2000: 226).
backpack German tramway workers were involved in the initial stages of restoring the tramway communication network that was destroyed during the siege of Festung Breslau: »They worked slowly, reluctantly, as if waiting for something […] They came to work with characteristic backpacks containing their most precious possessions. They knew nothing of what transpired in Nazi-occupied territories. They had never heard of extermination camps and the terror against Poles and other nationalities.« (Wójcik 1995: 49).
books Immediately after the war Polish books were truly rare in Wrocław. There were numerous German ones and, as Lothar Herbst (who actually collected and read them) remembered »they were used for a multitude of purposes« (Gil-Kołakowska 2000: 119) which was, of course, a euphemism. Quite some time after the war – as Maciej Łagiewski remembered (Gil-Kołakowska 2000: 232) – they could still be found at paper recycling centres.
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bottle of sulphuric acid In the Nazi era symbolic meanings of certain plants were eagerly remembered and incorporated into the scope of the ideological offensive. That is how the Old German cult of oak groves became a reason to fight the trees. This is what happened to the oak planted in Königsplatz (today’s John Paul II Square) by Adolf Hitler himself. When the city went dark a Polish conspirator would come to the oak with a bottle of sulphuric acid and watered it with the poison. »I was worried that it wasn’t drying out, that the leaves were growing and were green«, he wrote (Kąkolewski 1970: 5). The irrepressible Teutonic oak survived until the end of the war and it seemed that it would stay and find its place in the new socio-political reality. The conspirator, however, did not let it go and this time, with the help of the workers sent by the city authorities, the tree was wrapped up in huge chains and uprooted by a large crane. The action did not arouse the enthusiasm of the residents and the passersby complained that »the greenery was being destroyed again.« Since the oak could not be exiled, it had to die.
brick After the war special demolition brigades retrieved bricks from the ruins of Wrocław (around 150 million bricks annually until 1956, when they managed to go down to ›just‹ 75 million (Mühle 2016 [2015]: 237) in order to send them to rebuild the »truly Polish cities«, which caused the inhabitants of Wrocław to mistrust the ideologically defined »true Polishness«. The dismantling itself, called »securing of German property«, or as Eduard Mühle wrote – chaotic and random dismantling works done in a hurry according to guidelines from Warsaw (2016 [2015]: 237) that contributed to creating new debris – became a quick lesson of local patriotism. After such experiences, the inhabitants of Wrocław acquired an endemic ›brick faith‹ that defended items against being removed from Wrocław under the pretext of the unclear political status of the city. A reference to the »brick faith« is included in Tomasz Bajer’s (b. 1971) Breslau (1996), an installation consisting of bricks with peep-holes through which one can see photographs of old German townhouse floors. There was a map attached to the bricks with a list of places where particular archaeological discoveries originated. The map contains old German street names. »The traces of old Breslau collected by Bajer are just a small fragment of what could not be removed during the time of the Polish People’s Republic despite the efforts of the authorities. Until today German inscriptions, signs or floors peer out from some not yet renovated buildings, reminding us of the genuine origins of the stones on which we tread.« (Bieniek/Mincer 2015: 129) The first memory of Sylwester Chęciński (b. 1930), a famous film director, is connected with those bricks. At that time he did not live in the capital of Lower Silesia yet and found a makeshift shelter in a ruined hotel opposite the railway station. Since the ground floor of the building was completely burned out, the door-keeper’s lodge was located in a nearby guard booth. The future artist’s attention was drawn by a row of quite large bricks lined next to the makeshift counter. The purpose of the
A Wide Range of Items making Art and the Future mysterious collection of bricks became clear the next morning when Chęciński rose early to catch a train. There were so many rats milling about on the staircase that as he recalled, one could not take a step. So when the receptionist noticed him, threw half a brick into the swarm. When the rats retreated to the sides, he shouted: »Now run!« (Gil-Kołakowska 2000: 22) The bricks were thus quite versatile in Wrocław. In 1962 Odra magazine (Nos 7-8, 1962: 95) reported that powdered bricks were added to headache powders sold in grocery and soap stores.
chair A good chair is an expensive item. Young people working their way up can usually afford only second-hand chairs. That is why, when Krzysztof Wałaszek (b. 1960), an impecunious employee of the Academy of Fine Arts in Wrocław was invited to an exhibition in Leipzig in 1999, he was in for a culture shock in the hotel. The new furniture was perfect: not only did it not creak, it did not wobble. One did not have to exercise care when sitting down on chairs because they were not in danger of collapsing. This kind of luxury led to frustration and nostalgia: the artist wanted to return home as soon as possible, or at least feel like at home. This is how the performance called How to Survive in a German Hotel came about. In it Wałaszek adjusted the furniture to the norms he remembered from his mother country. He loosened the screws, distorted the perfect verticals, changed everything to be more human and friendly, not so perfect. A slanting, wobbly chair became his medicine for spleen.
carpeting Up until the introduction of the martial law in 1981, the Creative Associations Club, renovated in 1963, functioned as place for integrating artistic milieus. Originally a very elegant interior (designed by Władysław Wincze), with time, alterations, and years of intensive use, it did not look its best. In the 1970s the carpeting was damaged and got unattached from the floor. This gave the revelling artists an idea for a bet that it was possible to walk underneath it. The whole thing became a matter of honour and Henry Bzdok (b. 1937), a graphic artist and cartoonist from Katowice decided to go for it.3 He won the bet but emerged from under the carpeting as if from a mine: black as night.
cobblestones The southern and western sides of Breslau that were demolished during the war were not rebuilt for a long time due to their unclear status – the uncertainty whether the city would in fact remain in Poland. Grass grew in cleared-off ruins of Wrocław and meadows stretched into the horizon as late as in the 1960s. Only lonely, isolated town3 | Information obtained from Grzegorz Koterski during the author’s oral research in 2016.
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Anna Markowska houses that looked like solitary rocks and old plane trees growing at regular intervals along the old, evenly laid-out cobblestones bore witness to the fact that it used to be a city.
copper letter alphabet In his House of Longings Piotr Adamczyk evokes children’s games in the post-war Wrocław. Their favourite place to play was German cemeteries. One of the book’s protagonists brought pocketfuls of copper letters from her first trip to a cemetery. They could easily be removed from the headstones: »Stonemasons would usually press-fit them – they drilled several rows of small holes in the headstones, hammered small metal rods into the holes and mounted particular numbers and letters onto those rods. It was enough to wedge the blade of a penknife under a letter and pry it loose […]. Having come back home, the girl assembled her letter haul into the alphabet and the father ›congratulated her on being so smart‹.« (Adamczyk 2014:140-141)
debris Removing debris from the city was ambivalent: on the one hand it reduced the size of urban areas where one had to walk among ruins »stinking of urine, wet plaster and mustiness«, as Adam Krzemiński wrote. On the other hand, the ruins were to be pitied because the space for ›vampires‹ and ferreting about in the dark grew smaller. At the same time, the process of the »orderly destruction of what was destroyed« was fascinating. »We felt sorry about the debris, but it was fascinating to see how a mystery became order, piles of sorted out bricks […].« (Krzemiński 1993: 13)
German kitsch The desire to polonise Wrocław and integrate the Western Territories into the rest of Poland led to i.a. having to define Polishness in terms of visual arts. It was most easily done through negation – contrasting unassuming »Polish simplicity« with the »bourgeois German kitsch«. In Wrocław the artists aimed to create Polish art that would be as distant from the German traditions of city as possible. Modernity and kitsch, although this classic Clement Greenberg’s juxtaposition could not be used in this particular case: for an American critic kitsch was equal to the realist tradition, stemming from Repin and pandering to the taste of the Russian peasant. In Poland, however, the kitsch gratifying the taste of a German bourgeois was battled. In fact, this was legitimising the cultivation of the selectively treated French tradition, rather post-Impressionist and Cubist than Dadaist. The so-called kitsch, also German, will only enter Wrocław art in the 1980s, at the time of the break with the consensus with the authorities during the martial law. Then it will become, horror of horrors (?!), a symbol of freedom.
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helmet A rusty German helmet found in the ruins is one of many things that children of Wrocław spontaneously turned into toys. According to consistent memories of children who grew up here, the sea of ruins of the former Festung Breslau was a wonderful place to play games, especially hide and seek. Norman Davies and Roger Moorhouse remarked that the destroyed city offered those willing to play a plethora of nooks and crannies, basements and mounds of debris and every day brought a number of discoveries »which led to building magical treasure collections, consisting of rusty helmets, playing cards, badges, bullets, shells, bayonets, broken down machinery and other odds and ends.« (Davies/Moorhouse 2011 [2002]: 470) Of course, the children were aware that these helmets belonged to dead soldiers, but that only reinforced the mysteriousness and uniqueness of the games and japes. It seems that Andrzej Kostołowski’s »playfulness culture« (2006: 10), the merry atmosphere accompanying various ephemeral artistic actions of the 1970s was very much rooted in this carefree plunder of the ruins (however gruesome this sounds today).
jar The Institute of Zoology of the University of Wrocław inherited tens of thousands of scientific specimen jars: »Looters and hospital convalescents surmised that they could get easy access to alcohol, even complete with ‘chaser snacks’ (as they said themselves). At night they would burgle the poorly secured building, breaking the jars with priceless collections that were destroyed. The scale of the procedure was such that even in Kraków, in Szczepański Square, alcoholic delicacies called ‘żmijówka’ [snake liquor] or ‘żółwiówka’ [tortoise liquor], supposed to cure a number of ailments, were sold. This alcohol came from Wrocław, from […] the Institute of Zoology«, Edward Zubik wrote (1995: 126).
junkers The civilizational and linguistic changes of Polish newcomers were described as follows: »Most settlers did not know such inventions as water heaters, so, just like the indigenous population, they began calling them junkers after the name of the manufacturer, although until then they had associated the name with a company producing German fighter planes and bombers dropping bombs on their old homes. They had to come up with many names – in Wrocław there were no wywietrzniki, cedzaki and ziemniaki [window vents, colanders and potatoes, respectively – words of purely Polish etymology], instead there were lufciki, durszlaki and kartofle [equivalents originating from German (lüften, Durchschlag, Kartoffeln)], and water came not from wąż [hose, Polish etymology] from behind a róg [corner, Polish etymology], but from szlauch [German: Schlauch] from behind a winkiel [German: Winkel].« (Adamczyk 2014: 323-324)
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loot After the war Wrocław, as part of the »Wild Wild West«of the Recovered Territories, was only a brief attraction for displaced people. Soon it turned out that the rebuilding of the city was going too slowly, flats were in short supply, attacks and muggings were common, supplies were problematic and the disastrous state of sewage and water distribution systems caused shortages of running water. That is why people came to Wrocław just for a moment, »to find some easy loot or make some money in the black market.« (Mühle 2016: 245) Understanding the place where one lives as a reservoir of gadgets can’t have left the local artists and their conceptions of creation unaffected. For a long time the motto of appropriating possessions was »Loot because you won’t be staying here.« (Ordyłowski 1991: 119) The appropriation strategy that exists in modern art invites to look at the issues of looting and theft in the spirit of the Robinsons of the 1940s rather than legal intricacies that have grown from the simple and clear Seventh Commandment.
neon tubes Some old neon tubes survived the war and the demolition of Festung Breslau. The site of German Popular Theatre that did not reach our times (before the war it was a revue theatre visited by a theatre company from Paris’s Folies Bergère) now features a Holiday Inn (corner of Świdnicka and Piłsudskiego). The old building of the theatre had been initially repurposed as a technical base for the Polish Theatre, but was eventually torn down. Yet immediately after the war the theatre was in full swing, and its unforgettable element was neon tubes that were affixed to the ribs of the vault over the auditorium. The neon tubes were preserved in excellent condition and shone in full glory of light among the sea of ruins until the 1950s.
old tools Old tools collected by Marcin Harlender are still being used to the fullest extent possible. In Harlender’s opinion, worn-out tools love doing what they had been intended for. However, caution must be exercised because they cannot be overstrained.
pillory In city squares of medieval Europe there used to be poles used for public humiliation, condemning criminals and punishments. One of those pillories still stands in the Market Square of Wrocław. Good news for Polish nationalists: the Polish name pręgierz [pillory] is derived from German Pranger, but bad news for BDSM practitioners: it was not about indulging in sexual pleasures. The second issue remains unclear, however, because the pink vertical pillory that Anastazy Wiśniewski (19432012) put forward at the Wrocław’70 Visual Arts Symposium definitely resembled male mammal genitalia. According to Wiśniewski, the pillory was to be an »Art Centre«, a place where artists would be issued commands and thus order and discipline would be introduced into the art world. Because the artist was a trickster, specialised
A Wide Range of Items making Art and the Future in mocking the authorities, using their tactics and taking them to absurdity, his pillory was presented along with a board which offered to remove Eugeniusz Geppert, the Rector of the Academy, from office. Disciplining using Wiśniewski’s pink pillory was decidedly of anti-establishment nature.
plasterwork The layer of mortar or plaster on building facades became a carrier of historical politics in the post-war Wrocław. In order to transform the heterogeneous society of newcomers into a coherent identity of Wrocław residents, either the old Piast [the first ruling dynasty of Poland] Wrocław had to be uncovered from under German plaster or Teutonic traces had to be plastered or plated over and toxic symbols, advertisements and shop signs had to be covered in order to enable the migrant society to undergo the process of acculturation and create a coherent organism. September 1945 already saw the introduction of punishments for German inscriptions. Two years after the end of military operations Słowo Polskie announced Our spring competition – removing traces of the German language in Wrocław; prizes could be won for pointing out places with German inscriptions. It was not only about inscriptions on plaster, it was also about various plaques (Ordyłowski 1991: 245). Plastering changed Stalin’s bold move to change the borders into a logical act of historical determinism. It is also of interest to note that in a city where the issue of plastering was a political one, fewer paintings of the so-called matter painting (when gypsum, gravel or sand are added to the paint) were created than in Kraków or Warsaw.
portraits on the walls Having entered post-German houses and beginning a new life there, Poles would not always take down family pictures of the previous owners. Former owners stayed for a variety of reasons, as explained by one of the characters in Piotr Adamczyk’s House of Longings: »One has got used to them. Also, they look nice, ornate. And when someone comes to visit, they think that these may be our ancestors, so affluent, for you can’t see that they’re German from their faces.« The newcomers often did not have family pictures of their own: »We had a house with a dirt floor, with an adjoining pigsty under one roof. Why would anyone take a picture of the pigsty?« It was important for the pictures to be ›uniform fre‹ though – such were relocated to the basement. In some houses old pictures were imperceptibly joined by new ones. This is what it looked like in the novel: »My family could only be recognised by the frames. – The Freytags had gold-plated or richly sculpted frames, while ours were simple and black, modest, mostly even unvarnished.« (Adamczyk 2014: 322, 324)
sandbox The architect Apolinary Czepelewski (1909-1988) came to Wrocław’s Academy of Fine Arts from Warsaw and from the mid-1950s taught the links between sculpture, architecture, and landscapes. The students learned the feeling for space through play-
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Anna Markowska ing in a sandbox, because it was there – digging around in the sand – that they shaped their landscapes. After wild backwoods it was time to shape cities with a tangle of traffic junctions and there were »witty students who located their sculptures-spatial forms on the Moon, and then mapped the routes of space flights« (Makarewicz 2015: n.p.).
shoes Artists’ shoes – since Heidegger’s famous essay on worn-out shoes painted by van Gogh – have been carriers of ethic and honesty, manifesting the truth. In high German culture at least one more Lower Silesian must be mentioned along Heidegger, one who »cultivated an interesting heresy« in the nearby Görlitz. Of course, I mean Jacob Böhme, the »cobbler-theosopher« (Waniek 2015: 125). And it is not a long way from Böhme’s heresy to the syncretic religion of the cobbler-mystic Andrzej Dudek-Dürer (b. 1953 or 1471), an artist who believes he is the incarnation of Albrecht Dürer. Dudek-Dürer’s shoes, made of polkofram (a material no longer produced that allegedly was much better than today’s imitation leather), an invention of the Polish People’s Republic era, were purchased at the hefty price of PLZ 120 in 1969 (it was 1/10 of the then average salary). Since that time the shoes have been patched and repaired by the artist many times, and today are not simply functional footwear but a kind of sculpture with the makings of a relic. The artist still wears the shoes. The snips that did not come in handy while repairing them are always packed into jars that are a calendar-like narcissistic reliquary marking the passing of time. On numerous occasions the fans of the artist postulated enlarging the shoes, casting them in bronze and turning them int o a monument not so much in the honour of Dudek-Dürer himself, but the fate of man on the road. As Adam Sobota, art critic, explained: »Putting on shoes and walking in them would still fit the modernist criteria of art if it was limited to the duration of a performance or the presence of these shoes or a picture of them in a gallery, a catalogue, etc. However, it is a completely different thing when something that is called a work of art is and remains an item of everyday use. It is impossible to speak about the assigned space for art but at most about ›places where the author appears‹.« (Sobota 1991: 89)
skull Adam Krzemiński remembered his childhood in Wrocław: »Once a group of boys played football in a ruined shell of a house in Dworcowa street surrounded by a crowd silently watching them: it wasn’t about the game but the ball – it was a skull retrieved from the ruins, a German skull.« (Krzemiński 1993:13)
stole made of post-Wehrmacht rabbit furs Soon after the war, a concert took place during which Professor Zbigniew Drzewiecki accompanied Ewa Bandrowska-Turska. On this occasion the ladies »feigned ball gowns using stoles made of post-Wehrmacht hair-up rabbit furs, while men, clean-shaven and refreshed, adorned themselves with ties.« As it was written in
A Wide Range of Items making Art and the Future the Odra magazine (1961, No 9: 90), in the first row some lieutenant polished his machine gun which blazed as if it was »made of some precious metal«.
street name signs When Wrocław’s German street names were changed into Polish ones, initially, despite it being prohibited, old signs were used since the new ones only occasionally referred to the old names. While Antonienstrasse became św. Antoniego [St. Anthony’s] street, Matthiasplatz – św. Maciej’s [St. Matthew’s] Square, and Parkstrasse – Parkowa [Park] Street, it was difficult to fathom that Blücherplatz was Solny [Salt] Square, and Strasse der SA – Powstańców Śląskich [Silesian Insurgents] Street. »There were 1500 street names to be changed, and by 6 November [1945] only 140 had been verified. Since then the pace of the Commission’s work increased and by April 1946 all streets, squares, bridges, districts and housing estates had received new names.« (Jochelson 1995: 43). At that moment the Polish population of Wrocław was at almost 75 thousand. Occasionally at the beginning of the great migration it would happen that instead of German street names, the newcomers put up signs with the name of their village brought down from the Eastern Borders (Kąkolewski 1970:8).
talisman An item summoning the owner and forcing them to carry out certain actions is called a talisman when those actions are to result in doing good. In 1888 Paul Sérusier painted Le talisman on a small board. It was not only a painting but a magical item – one that was not supposed to exist in the modern art world anymore. Merzzeichnung 222 (1921) by Kurt Schwitters is a small and inconspicuous collage made of paper and fabric scraps. This is a work of an artist that believed in the role of art in the spiritual rebirth of man. Addressing what was poor and wretched, unsuccessful and sluggish, and different and omitted at the same time, was a part of hope. In 1933 the artist had to escape from Germany. The collage, left as part of property of Dr. Erich Wiese (director of the Schlesisches Museum in Breslau until 1933) in Hirschberg (later Jelenia Góra), finally ended up in the present day National Museum of Wrocław. It hangs on the second floor, in the last room reached by turning left from the main staircase. It is easy to be passed over and missed. Merzzeichnung 222 was not on display for a long time, yet its magical power worked. Schwitters used the Entformung procedures in his art. The newly-coined concept of Entformung means transforming old, incumbent materials through metamorphosis and separation i.e. change and regrouping, in order to build a new culture from the old. In order for this transubstantiation to happen, the items had to be freed of Eigengift, the poisonous essence. Rejecting the Eigengift meant that joining the works into a new organism had to happen konsequent – logically and rigorously, yet in accordance with autonomous laws that were still to be discovered. This way it is possible to exteriorise a real, improved, entire reality. And since art in Schwitters’s project aims at being liberated from the chaos and tragedy of life, it was important to reach Urbegriff, the primal concept, the world of cleanli-
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Anna Markowska ness and order (vgl. Elderfield 1985: 237-238). Schwitters’s ideas in the post-Breslau Wrocław could only be reborn after the fall of Communism.
thingamajig [Polish: wihajster] Although the etymology of the Polish word ›wihajster‹ is well known, let us repeat after Adamczyk: »When it was not clear what to call something, a German question was asked: ›wie heisst er?‹, and thus the popular ›wihajster‹ [thingamajig] was coined.« (2014: 324)
thistle fluff In autumn of 1946 huge, rampant thistles that appeared in empty squares among the ruins of Breslau »looked like cotton fields, were enormous, bush-like, and the fluff was flying kilometres wide, forming drifts.« Krzysztof Kąkolewski remarked that although some weeds evoke pleasant feelings in us, e.g. the »Slavic« cornflower, the sight of gigantic prickly thistles that did not want to get rooted out, aroused fear and dread (1970: 9).
tortillon [Polish: wiszor] German Wischer is Polish wiszor or fiszor, fiszorek [tortillon] – a piece of paper or soft leather used to smudge pencil or pastel marks. German artists’ tortillons could be found in the former Academy of Arts and Artistic Industries (next to present-day Polski Square). It was more of a curiosity than a real trophy. But also, an incentive for life to go on as if nothing had happened.
towel German women of the 1940s liked to tie their headscarves in a particular, knot-inthe-front way. The scarves were not necessarily silk, often they were made of cotton, and sometimes they were just colourful cloths or towels. Polish women – perhaps mimicking their German counterparts – took over the custom and after the war their headwear fashion became a political problem: »They tied towels on their heads as turbans in the German way, and this imitation was outrageous as well.« (Ordyłowski 1991: 244) Just before Christmas Eve the Pionier newspaper wrote: »At the time of great efforts to recover these lands quickly, German outfits thoughtlessly worn by Poles lead to understandable dismay in the society.« (»Pionier«, 21 December 1945).
trunk lid Paweł Jarodzki (b. 19580), an artist, had an accident one winter – his car drove into a truck hook which pierced the trunk like a Samurai sword. In order to repair the car the artist needed 2.500 PLN. He decided to earn the money through art, actually through the shaman-like transformation of a utilitarian object into a work of art. With the help of a template he printed a black ›Do not fear‹ sign on the white cover
A Wide Range of Items making Art and the Future and put up the whole thing for sale. The magic did not work and the lid did not want to become a work of art.
very bad quality photograph In the Polish People’s Republic very bad quality photographs were used to teach history of art. Some luminaries of the profession even believed that the worse the quality of the picture the better, because the viewer did not identify with what they saw and were aware that the photograph was only an intermediary. The concept of a simulacrum – mixing the idea of the copy and the original – was not in use yet. Paweł Jarodzki has a childhood memory of how his parents did not allow him to look at a picture from Zdzisław Jurkiewicz’s collection that showed a fragment of Hermann Nitsch’s performance. When he finally managed to see the picture, he saw three black spots. The paper that specialised in reproducing such black spots was Wieczór Wrocławia. The artist especially well remembers a black spot printed during a cold winter, with the caption ›Meanwhile, there’s summer in Australia‹. He cut out the picture. Such an accumulation of poetry was difficult to resist.
wallpaper »The wallpaper in our room was torn-up, we tore it down in long strips to look at the underlay of newspapers on which incomprehensible words in a strange typeface were printed«, remembered Adam Krzemiński (1993: 13). *** Skeptiker*innen könnten in Frage stellen, ob die vorangegangene, alphabetisierte Minikollektion wirklich irgendetwas mit Kunst zu tun habe. Denn Neonreklamen, Einmachgläser und Tapeten, welche von den Bewohner*innen Wrocławs im Alltag gesehen wurden, sind zu keiner Zeit in Museen gezeigt oder in der akademischen Kunstgeschichte erwähnt worden. Gianni Vattimo meinte, dass Duchamps Fountain, ein in den künstlerischen Raum versetztes Urinal, anschaulich mache, wie ein Kunstwerk neue Welten erkunden könne und darin nicht nur Alltagsleben und Banalität, sondern auch Obszönität und Vulgarität erhebe (Zabala 2008: 45-47, 105, 159). Duchamps Haltung ist wichtig, wenn es um den ontologischen Zugang zur Kunst geht, da diese nicht nur die Beziehungen des Betrachters zur Kunstwelt, sondern auch jene zu Gegenständen alltäglicher Routine suspendiert, und – wie Arthur C. Danto es ausdrücken würde – »die Transfiguration des Gewöhnlichen« (1981) oder die Transformation des Üblichen ist. Solche Operationen wurden auch von Schwitters vollzogen. In Wrocław führte die Bricolage zur Wiedergeburt des Theaters und der Kunst, zu ephemeren Aktionen, die selbstverständlich in keinem Museum zu finden sind. Aber wer hat je behauptet, dass wir in Museen nach Kunst zu suchen hätten?
Übersetzung: Isolda MacLiam
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Anna Markowska
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Détournement der Dinge Eine Gebrauchsanweisung Veronika Darian · Jana Seehusen
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Veronika Darian · Jana Seehusen
Peter Fischli David Weiss, Der Beichtstuhl, 1984, Farbfotografie. Alle Fotografien von Peter Fischli David Weiss. Copyright Peter Fischli David Weiss, Zürich 2017; Courtesy Sprüth Magers, Matthew Marks Gallery, Galerie Eva Presenhuber.
Détournement der Dinge
VORSPANN Das hier abgedruckte Skript unterscheidet sich unabdingbar von der Performance, die am 14. Oktober 2017 in Hamburg, aus- und aufgeführt von den Akteurinnen J und V, hätte stattfinden sollen. Es bringt aufeinander neugierige Text- und Bildbruchstücke in einen dramatischen Dialog; es setzt (auf) Regieanweisungen, die nicht ungehört bleiben sollen; es treibt Schindluder mit den eigenen Referenzen, Autoritäten, Quellen und Ausflüssen und überhaupt mit jedweder Bedingung der Möglichkeit, sich adäquat und souverän zu verhalten; es nötigt und benötigt die vielfältigen Akte des Sprechens, Lesens, Sehens, Widersprechens, Wiedersprechens, Widerlesens und so weiter und so fort. Es ist die Dokumentation eines nicht Stattgefundenen im Nachhinein und gleichermaßen die Anleitung zu einem möglicherweise noch Stattfindenden im Vorhinein. Es bleibt schlicht die Lücke. Beibehalten worden ist allerdings das grundsätzliche Vorhaben: Mithilfe des Kafkaschen Hybrids Odradek, einem Wesen zwischen Ding, Objekt, Tier, spürt es in seiner szenischen Versuchsanordnung dem »Détournement der Dinge« nach. Es widmet sich dem doppelten (grammatikalischen) Fall dieser Wendungen, die die Dinge genauso betreffen wie sie von ihnen selbst ausgelöst werden können. Dieses Détournement vollführt gegenüber dem allgegenwärtigen Maß des Menschlichen (Biografie, Ökonomie und alles Weitere) allerlei Kehrtwenden und Kippfiguren und verrückt damit bestehende Ordnungen. Material und gleichermaßen Akteure dieser Versuchsanordnung sind Texte, Tiere, Bilder, Zitate, Regieanweisungen, Dialoge und Kommentare, agierende Dinge und die Ausführenden als Anschauungsobjekte, visuelle Fetzen, Redewendungen, Fake, Fakten und selbstredende Fiktionen. Die eine Lektüre führt zu den basalen Zahlen, den asteralen Anmerkungen, den linkischen Querverweisen und verschiedenartigen Verknotungen, die das Skript anbietet. Eine andere Lektüre lädt ein zur eigenen Ver-Wendung des Angebotenen. So wird sich im Prozess eines asynchronen und egalisierenden, gegenseitigen Kommentierens, im gemeinsamen Widerspruch und gegenseitigen Wiedersprechen ein Archiv im Vollzug realisieren, ein Archiv, das in seiner Aktualisierung andauernd im Entstehen begriffen bleibt.
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Peter Fischli David Weiss, Ein neuer Tag beginnt , 1984, Farbfotografie.
*Lauter Dinge befinden sich auf einem Tisch, auf dem sie durch uns beständig neu angeordnet werden. Wir lassen uns dabei von den Équilibres (1984) von Peter Fischli und David Weiss ins Gleichgewicht bringen. Wir leisten als Ratte und Bär ordentlichen Widerstand, im schönen Gegensatz zum Film Der geringste Widerstand (1981). Wir trainieren die ambivalente Wirkung der installativen Arrangements des Künstlerduos, die auf dem Spiel zwischen Dingen und Worten, zwischen Gezeigtem und Behauptetem gründet.
Détournement der Dinge J: Détournement der Dinge V: Eine Gebrauchsanweisung V: [spricht die Regieanweisung] Während die eine Akteurin das Folgende, gemäß ihrer Rolle als ernst zu nehmende Wissenschaftlerin, möglichst neutral, also im Ton einer psychologischen Versuchsanordnung, vorträgt, richtet die andere, gemäß ihrer Rolle als ernst zu nehmende Wissenschaftlerin, den Versuchsraum, ausschließlich unter Einbezug der im Folgenden festzulegenden Hilfsmittel, möglichst neutral ein. [Pause] [Ein neuer Tag beginnt] V: Man nehme:* J: Einen Zollstock aus Holz im üblichen Maß. V: Etwa 17 Bücher unterschiedlichen Umfangs, Gewichts und Belangs. Verschiedene Garne, Zwirne und Wolle mit Verfilzungen aller Art. Eine Flasche möglichst guten Weins, nach Bedarf zu leeren. Einen Beichtstuhl. Einen Hammer. Noch einen Zollstock. Augenmaß. Eine abgezählte Anzahl Magnetkugeln, farbig. Eine abgezählte Anzahl Lego-Figuren, möglichst fremd, wild und schreckenerregend. Die Freude an Kippfiguren. Karteikärtchen, die weniger Sinn für die Kartei, als vielmehr für ihr Diminutiv aufweisen. Die Haltung eines Mannequins. Einen Haufen Redewendungen. Eine Schneckenkugel samt Schneckenkugelbahn. J: Die Bereitschaft zu einer kapitalismuskritischen Yoga-Übung. V: Die nötige Balance. J: Wildes Denken. V: Franz Kafkas Odradek.1 [Pause]
1 | Zu finden in Kafka, Franz (1978): Die Sorge des Hausvaters (1920), in: ders., Erzählungen, Leipzig: Reclam, S. 183-184.
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Peter Fischli David Weiss, Frühe Reife, 1984, Schwarzweissfotografie.
Détournement der Dinge J: [spricht die Regieanweisung] Wie man bis hierher bereits wahrgenommen hat, ist die Verteilung der Rollen zwischen den zwei Akteurinnen absolut klar: Die eine liest, die andere lenkt. Die eine spielt, die andere spult. Beide dingen und denken. 2 Das ist unser Lauf der Dinge. 3 [Pause] V: »Es war einmal … ›Ein König!‹ werden sofort meine kleinen Leser ausrufen. Nein, Kinder [so belehrt uns der Schöpfer dieses besonders sperrigen, lügenhaften Protagonisten], dieses Mal habt ihr es nicht erraten. Es war einmal ein Stück Holz.« 4 [Pause] V: »Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fragen, sondern behandelt ihn - schon seine Winzigkeit verführt dazu - wie ein Kind. ›Wie heißt du denn?‹ fragt man ihn. ›Odradek‹, sagt er. ›Und wo wohnst du?‹ ›Unbestimmter Wohnsitz‹, sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern.« 5 [Pause] V: Odradek ist buchstäbliche Provokation. Ein erster Versuch, diese Provokation zu bannen, liegt in der versuchten Deutung des Wortes Odradek. Kafka setzt verschiedene Deutungen prominent an den Anfang. Doch »[…] keine [trifft] zu, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.« 6 Das ausgesprochene Wort bleibt uneindeutig, der Sinn entzogen. Odradeks Provokation entfaltet sich im Entzug. J: Jedes Ding hat drei Seiten … V: [spricht die Regieanweisung] Weil die Lese-Anteile gegenüber den Lenk-Anteilen in diesem Abschnitt überwiegen könnten, erlaubt sich die eine Akteurin gegenüber der anderen die Freiheit einer Unterbrechung. Benjamin hätte das vermutlich genauso gefallen wie Brecht. 7 * 2 | »Das Ding dingt, das Dingen versammelt.« Heidegger, Martin (1994): »Das Ding« (1950), in: ders., Gesamtausgabe. Bremer und Freiburger Vorträge. Vorträge 1949 und 1957, hrsg. v. Petra Jäger, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, S. 5-23, S. 13. 3 | Der Lauf der Dinge (1987) (Schweiz, R: Peter Fischli David Weiss). 4 | Collodi, Carlo (2003): Pinocchios Abenteuer. Übersetzt von Theodor Maier, Florenz: Giunti Gruppo Editoriale, S. 15.
5 | Kafka, Sorge des Hausvaters, a.a.O. 6 | Ebd.
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Veronika Darian · Jana Seehusen *[7] »Man darf hier weiter ausgreifen und sich darauf besinnen, dass das Unterbrechen eines der fundamentalen Verfahren aller Formgebung ist. Es reicht über den Bezirk der Kunst weit hinaus. Es liegt, um nur eines herauszugreifen, dem Zitat zugrunde. Einen Text zitieren, schließt ein: seinen Zusammenhang unterbrechen. Es ist daher wohl verständlich, dass das epische Theater, das auf die Unterbrechung gestellt ist, ein in spezifischem Sinne zitierbares ist. Die Zitierbarkeit seiner Texte hätte nichts Besonderes. Anders steht es mit den Gesten, die im Verlaufe des Spiels am Platze sind.« (Siehe Fußnote 7: Benjamin, Was ist das epische Theater?, S. 536)
[Détournement 1: Entwendete Sprache]
Peter Fischli David Weiss, Der geringste Widerstand , 1981, Film. (https://www.youtube.com/watch?v=GeRlFbWzzFU, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
Détournement der Dinge J: Jedes Ding hat drei Seiten: eine Seite, die du siehst, eine Seite, die ich sehe, und eine Seite, die wir beide nicht sehen. V: »Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende.« 8 J: »Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint.« [Pause] V: Der Hausvater wagt einen zweiten Versuch: die Beschreibung der Spule: »Es sieht zunächst aus wie [...], und tatsächlich scheint es [...]; allerdings dürften es [...].« 9 Die Beschreibung verfängt sich im Sprachgestus der Annahme. Odradeks Provokation vollzieht sich also in einem andauernden Entzug. Odradek ist eine Provokation in der Verlaufsform. J: Odradek entwindet sich der Sprache. Er entwendet sie. Er wendet sie. V: Ist das vielleicht die Freudsche »Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt war. [Die wir als Kinder, an diesem Faden haltend,] [...] mit großem Geschick über den Rand [unserer] verhängten Bettchen […] [warfen], so daß sie darin verschwand […]«?10 [spricht die Regieanweisung] Geste des Faden-Wegwerfens. »o-o-o-o« [spricht die Regieanweisung] Geste des Faden-Einholens, wie bei einem geglückten Angelabenteuer; am eingeholten Faden hängt – plötzlich – der Schneckenkugelbeutel. »Da.« [Pause]
7 | Siehe hierzu Benjamin, Walter (1999): »Was ist das epische Theater? (2)«, in: ders., Gesammelte Schriften II.2, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 532-539. 8 | Dies und das folgende Zitat Kafka, Sorge des Hausvaters, a.a.O. 9 | Ebd. 1 0 | Dies und die folgenden Zitate Freud, Sigmund (1999): »Jenseits des Lustprinzips« (1920), in: ders., Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Bd. 13, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 1-69, S.12.
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Unser »o-o-o-o« setzt sich zusammen aus dem Équilibre: Der Sorgemann , Peter Fischli David Weiss, 1984, Schwarzweissfotografie; zwei Odradek-Wesen, gezeichnet von Angela Pusch (16 Jahre) mit der Aufgabe, ein fiktives Kulturplakat zu gestalten, (2016, http://angelapusch.allyou.net/7299167/about, (letzter Zugriff: 03.06.2018)); Ratte und Bär, Mobile, Peter Fischli David Weiss, 2009; Tomas Lov Radi, Kapital ( Thomas Love Working, Capital), Irena Haiduk, 2016 (Foto: David Bornscheuer).
Einblendung: [Die SORGE des HAUSVATERS]
Détournement der Dinge V: [spricht die Regieanweisung und führt sie aus] Wir setzen die Schneckenkugel auf ihre Bahn. [Pause]
V: Es war einmal … J: »… ein Wesen, das Odradek heißt.«11 [Pause] V: [spricht die Regieanweisung; J und V führen sie aus] Wir beobachten die Schneckenkugel. [Pause] J: Wir werden versuchen, die Anweisungen Odradeks auszuführen. [Pause] V: [spricht die Regieanweisung; J und V führen sie aus] Wir beobachten die Schneckenkugel noch etwas intensiver. [Pause]
J: Odradek ist […] V: [spricht die Regieanweisung] Wir beginnen das Titel-Wechsel-Spiel. An der Wand hängen also auf weißen Kärtchen die neutralen Titel-Artikel DIE und DES , die unserem referenziellen Titel Kafkas »DIE Sorge DES Hausvaters« entliehen sind. Die Titel-Substantive werden nach gusto durch – aus dem Folgenden selbstverständlich völlig willkürlich aufgeschnappte – andere Substantive ersetzt. Welch ein Quell weiterer herrlicher (Titel-)Wendungen. Die hängenden Stapel wachsen an.
11 | Kafka, Die Sorge des Hausvaters, a.a.O.
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[Die FORM des Hausvaters] [Die Form des KAFKA]
[Die Form des BORGES]
[Die ORTE des Borges]
[Die LANGUAGE des Borges] [Die language des FOREIGNERS]
[Die KLARHEIT des foreigners]
[Die KLARHEIT des PLÖTZLICH]
Peter Fischli David Weiss, Die Erscheinung, 1984, Farbfotografie.
Détournement der Dinge
V: »Odradek ist die FORM ...« [Pause] V: »… die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt.« 12 V: »Borges, you, after all, translated KAFKA.«13 V: »[...] I tried to be Kafka. And there, of course, I failed. I went on being BORGES.« V: Odradek ist … [Pause] V: … ein Fremder, ein Wanderer. Er wechselt die ORTE, siedelt ständig um. Obwohl er manchmal »monatelang nicht zu sehen« ist, kehrt er »unweigerlich wieder in unser Haus zurück«.14 V: »[Borges,] What ist your connection to the German LANGUAGE?«15 V: »I think it is one of the most beautiful of languages except when spoken by Germans [...]. A beautiful language, like all languages perhaps, when spoken by FOREIGNERS.«16 [Pause] J: Bär: »Ein Genuß, diese KLARHEIT.«17 [Pause] V: Ratte: »PLÖTZLICH diese Übersicht!« [Lange Pause]
12 | Benjamin, Walter (1981): »Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages«, in: Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9-38, S. 31.
13 | Der folgende kurze Dialog ist entnommen: Borges, Jorge Luis (1998): Conversations, hrsg. v. Richard Burgin, Jackson: University Press of Mississippi, S. 215.
14 | Kafka, Sorge des Hausvaters, a.a.O. 15 | Borges, Conversations, S. 220. 16 | Ebd. 17 | Der hier folgende Dialog wiederum ist entnommen: Der geringste Widerstand (1981) (Schweiz, R: Peter Fischli David Weiss).
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Peter Fischli David Weiss, Der geringste Widerstand , 1981, Film.
[Détournement 2: Entstellte Gestalt]
Auke Creutz, Franz Kafkas Odradek, – selbst »gezeichnet« mit Microsoft Paint , 2006.
Détournement der Dinge J: »Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt.« 18 [Pause] V: [spricht die Regieanweisung] Erste Aufforderung an uns: In Gedanken an Odradek mit den Zollstöcken und anderen Hilfsmitteln hantieren! Zweite Aufforderung an die Gruppe der Anwesenden, sich einen eigenen Odradek zu denken. Als Inspiration stellen wir bereits vorhandene WantedPlakate zur Verfügung. Dritte und letzte Aufforderung: Wir lesen gemeinsam aus der Gebrauchsanweisung, die Kafka uns zur Verfügung stellt. J: »Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule […]; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete, aber auch ineinanderverfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor, und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchen auf der einen Seite und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen.«19 V: [spricht die Regieanweisung; J führt etwas aus, unter anderem unter Zuhilfenahme diverser Bücherstapel, die J wahlweise liest, besteigt oder anderweitig (ver-)wendet] Während der Gruppenarbeit hat ein einzelner Mensch die Entstellung nachgestellt. Er oder sie nahm dabei die YogaPosition Baum ein. Er oder sie blieb angelehnt an eine Wand, denn ohne Stütze geht es nicht. Wir werden bei dieser Nachstellung, die enorme Konzentration und zugleich enorme Entspannung verlangt, nicht explizit darauf hinweisen, dass es sich dabei um einen von vielen möglichen Kommentaren erstens zum Verhältnis von Kollektiv und Einzelnem, zweitens zu Verhältnissen unter den Bedingungen des Kapitalismus und last but not least zum prekären Verhältnis zwischen Spannung und Entspannung handelt. J: »Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein.« 20
18 | Kafka, Sorge des Hausvaters, a.a.O. 19 | Ebd. 20 | Ebd.
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J & Vs Arbeitstisch / Ausschnitt, 2017. [Détournement 3: Verkehrte Abläufe]
*[21] Keine Ordnung ist harmlos, jede Ordnung ist Zu-Ordnung, Zu-Richtung, ein AufLinie-Bringen, letztlich ein Gewaltakt. »Nichts ist tastender, nichts ist empirischer (wenigstens dem Anschein nach) als die Einrichtung einer Ordnung unter den Dingen«, so formuliert Michel Foucault die Fallstricke jeglichen Ordnungsversuchs. Foucault lehrt uns seinerseits das Lachen und das Unbehagen sowohl angesichts des Versuchs einer Ordnung der Dinge als auch angesichts ihrer drohenden Unordnung, einer Un-Ordenbarkeit, ihrer Un-Ordentlichkeit anhand einer von Jorge Luis Borges geliehenen »gewissen chinesischen Enzyklopädie«. Die Ordnung, die er vorschlägt, ist eine der künstlichen und darin kontingenten menschengemachten Form: ein Alphabet. Diese künstliche Gestalt aber ist eigentlich eine Un-Gestalt. Denn »[w]as unmöglich ist, ist nicht die Nachbarschaft der Dinge, sondern der Platz selbst, an dem sie nebeneinandertreten könnten.« (Zitate siehe Fußnote 21: Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 19)
Détournement der Dinge V: [spricht die Regieanweisung; J (ver-)wendet die Bücherstapel von den Füßen auf den Kopf] Wir lösen uns aus der Stellung der Entstellung und fangen an, Referenzen auf unserem Kopf zu stapeln. Wir wollen keinesfalls den Eindruck erwecken, ein unzweckmäßiges Gebilde zu sein. [Pause] J: Bär: »Ein Genuß, diese Klarheit.« [Pause] V: Ratte: »Plötzlich diese Übersicht!« [Pause] J: In Wirklichkeit sind die Dinge ganz anders, als sie wirklich sind. [Pause]
V: [spricht die Regieanweisung; J führt sie aus] Das Folgende regt uns an, unser eigenes Bestiarium zu erschaffen. Mit den bestialischsten unserer Lego-Figuren. V: Borges! V: »Auf (den) weit zurückliegenden Blättern (der chinesischen Enzyklopädie ›Himmlischer Warenschatz wohltätiger Erkenntnisse‹) steht geschrieben, dass die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppe gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, j) unzählbare, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von Weitem wie Fliegen aussehen.« 21* V: [spricht die Regieanweisung und führt sie aus] Nach diesen Ordnungskriterien nehmen wir Maß am Menschen, an einem beliebigen, der gerade zur Verfügung steht, zum Beispiel der Mitakteurin: Mit einem Zollstock wird die Höhe gemessen (inklusive der Bücherstapel, die sie gerade auf dem Kopf trägt). Das ergibt, was Wunder, exakt das Maß des 21 | Borges, Jorge Luis (1966): »Die analytische Sprache von John Wilkins«, in: ders., Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München: Hanser, S. 212. Hier zit. n. Foucault, Michel (1997): »Vorwort«, in: ders., Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (14. Aufl.), S. 17-28, S. 17.
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J & Vs Probenraum, 2017.
[Détournement 4: Gewendete Zeiten]
*»Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch ÜBERLEBEN sollte, ist mir eine fast schmerzliche.« (Siehe Fußnote 1: Kafka, Sorge des Hausvaters, S. 184)
Détournement der Dinge ganz ausgeklappten Zollstocks. Wir prüfen nach: Der Zollstock wird nun hinter dem Kopf über den Schultern entlang geführt und reicht von den Fingerspitzen des einen abgespreizten Arms über den Nacken bis zu den Fingerspitzen des anderen abgespreizten Arms – die kurzzeitig fehlenden paar Zentimeter werden durch das zuoberst auf dem Kopf liegende Buch (zufälligerweise Borges Einhorn, Sphinx und Salamander. Ein Handbuch der phantastischen Zoologie 22, das nun die eine Hand verlängert, exakt ausgeglichen. Was Wunder! Danke, Borges! [Pause]
V: [spricht die Regieanweisung und führt sie aus] Wieder setzen wir die Schneckenkugel auf ihre Bahn. [Pause] V: [spricht die Regieanweisung; J und V führen sie aus] Wieder beobachten wir die Schneckenkugel. [Pause]
J: Mit Odradek entwinden wir uns. Mit Odradek entschwinden wir. Mit Odradek üben wir ÜBERLEBEN.*
22 | Jorge Luis Borges/Margarita Guerrero (1964): Einhorn, Sphinx und Salamander: ein Handbuch der phantastischen Zoologie. München: Hanser.
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Veronika Darian · Jana Seehusen
Peter Fischli David Weiss, Das Provisorium, 1984, Schwarzweissfotografie.
Détournement der Dinge
N ACHSPANN In der verbildeten Form, in den entstellten Dingen: Leben ist in allem, »[w]ovon es Geschichte gibt und was nicht allein ihr Schauplatz ist«, sagt Benjamin. Als leidenschaftlicher Sammler faktischer und fiktiver Dinge räumte er ab und zu seine Bibliothek aus. Er fand sich dabei in einem besonderen Verhältnis zu den Dingen wieder, »das in ihnen nicht ihren Funktionswert, also den Nutzen, ihre Brauchbarkeit in den Vordergrund rückt, sondern sie als den Schauplatz, das Theater ihres Schicksals studiert und liebt«. Es gilt, die Dinge als Schaustätten einer eigenen Über-Lebens-Geschichte, eines Eigen-Lebens zu entdecken. Die Dinge treten bei Benjamin nicht neben den Menschen. Sie bieten sich dem Sammler an, rufen ihn, in ihnen Wohnstatt zu nehmen – »nicht, daß sie ihm lebendig wären, er selber ist es, der in ihnen wohnt«. So wird der sammelnde Mensch bei und mit Benjamin zum Spurenleser der Physiognomien, zum Lauschenden fremder Biografien – und nicht zuletzt zum Beobachter seiner selbst in den Dingen.23
Und das verfilzte Ding Odradek lacht …
23 | Alle Zitate aus Benjamin, Walter (1991): »Ich packe meine Bibliothek aus. Eine
Rede über das Sammeln«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 388-396, S. 389.
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Auf der Oberfläche von Text Ofri Lapid Wenn der Anthropologe über ein verziertes Artefakt, eine Tonscherbe oder einen gewebten Stoff schreibt, geht es ihm nicht notwendigerweise um den Bezug zwischen den geometrischen Mustern auf der Oberfläche des Objekts und seinem eigenen geschriebenen Text. Ornamenttraditionen sind in seinen Augen leicht von seiner alphabetischen Praxis zu unterscheiden. Als würden die Wörter, die er schreibt, noch frei in einem Vakuum flottieren und sich dennoch präzise an das Objekt seines Interesses heften, ohne dass diese Geste Auswirkungen auf deren Stellenwert hat. Der Anthropologe kann sich kaum vorstellen, diese merkwürdig abstrakten Figuren, die er an den Artefakten so sorgfältig studiert, mit den vertrauten, für ihn entzifferbaren Buchstaben seiner Schrift zu verwechseln. Selbst wenn er die geometrischen Figuren als die frühe Form eines andersartigen Schriftsystems untersuchte, blieben die Muster ihm distanziert und seinem eigenen Textausdruck untergeordnet, als wären es Bilder, die keinen Gehalt, wohl aber eine beschreibbare Struktur haben. Die Hierarchie des Schreibers ist klargestellt. Das eine System wird benutzt, um das andere mit Sinn auszustatten. Adolf Loos bezeichnete in seinem Aufsatz Ornament und Verbrechen (1908) Ornamente als »rückständigkeit« oder eine »degenerationserscheinung«, als den verdorbenen und entbehrlichen Ausdruck einer transienten Vergangenheit gegenüber der europäischen Moderne: »Ich habe folgende erkenntnis gefunden und der welt geschenkt: evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande. […] Wir haben das ornament überwunden, wir haben uns zur ornamentlosigkeit durchgerungen«
– und bekräftigt seinen kolonialen Standpunkt: »Kein ornament kann heute mehr geschaffen werden von einem, der auf unserer kulturstufe lebt. Anders ist es mit den menschen und völkern, die diese stufe noch nicht erreicht haben.« (Loos 1962: 276).
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Ofri Lapid Für die indigene Gemeinschaft der Piro1, die im westliche Amazonasgebiet lebt, war die Aufteilung zwischen Bedeutung und Form oder Text und Ornament nicht so augenfällig. Vielmehr zeigen ihre Praktiken, dass Adolf Loos seine Aussagen nur treffen konnte, weil er nicht verstand, dass Ornamente mehr als Dekoration sind, die in seiner modernen Dystopie einer ornamentfreien und industriell gestalteten Welt eliminiert werden sollten. In dem Buch Amazonian Myth and its History (2001) beschreibt der Anthropologe Peter Gow, wie Mitglieder der Piro-Gemeinschaft den Inhalt der Bücher von Missionar*innen mit ihren ausgeprägten, traditionellen Mustern assoziierten, welche die Piro-Frauen auf ihrer Haut und auch auf Keramik, Schmuck oder Tücher malten. Die Piro bezeichneten die Schrift der Missionar*innen als »White People Design« oder einfach als »hässliches Design«, da sie nicht den Schönheitskriterien ihrer eigenen, verschlungenen und perfekt symmetrischen Muster entsprachen (ebd.: 208). Die von den Piro-Gemeinschaften praktizierten Maltraditionen labyrinthischer, geometrischer Muster werden begleitet von wortreichen Beschreibungen, die in ihrer mythologisch überlieferten Vergangenheit verankert sind, während des Vorgetragen-Werdens aber je nach Erzählkontext in unterschiedliche Richtungen driften können. Angesichts des Variantenreichtums dieser Beschreibungen sieht die Anthropologie heute in den Mustern Manifestationsformen einer oralen, schriftlosen Kultur. Sie etabliert die Erzählung als Instrument zur Analyse der Muster. Dabei es ist nicht bekannt, ob die Muster aus Wörtern entstanden sind, oder ob den Mustern nachträglich Wörter zugeordnet wurden. Es können endlose Variationen der Muster beobachtet werden, die alle eine gemeinsame Qualität aufweisen – ein Begehren, Oberflächen mit geometrischen Figuren, symmetrischen oder gespiegelten Mäanderlinien zu bedecken. Das Wechselspiel zwischen den leeren und den bemalten Flächen nimmt den gesamten verfügbaren Raum ein. Laut Gow sind die Formationslinien des Piro-Designs stets auf die Oberfläche und das Volumen von Objekten bezogen. Sie sollen seine Sichtbarkeit verstärken, es visuell auffälliger machen (ebd.: 117). Gleichzeitig weisen die Designs auch auf den versteckten Inhalt des Objekts hin. Bei Keramikbehältern, die von Mustern bedeckt sind, ist dies Bier oder Essen. Gow beschreibt, dass dies auch bedeutet, dass bei ornamentierter Kleidung der Körper der Person Inhalt wird und bei Körperbemalung, dass die Haut zur Kleidung wird. Körperbemalung ist somit die radikalste Technik der Piro, da durch sie die menschliche Hautoberfläche zu einem Gefäß und der Mensch zu einem Inhalt wird. Daher ist das Muster auch kein ergänzender Schmuck, 1 | Eine indigene Gemeinschaft, die das westliche Amazonien besiedelt. Peter Gow verwendet für sie die Bezeichnung Piro. In der aktuellen Literatur und als Selbstbezeichnung wird der Namen Yine bevorzugt. Gow begründete seine Wahl damit, dass er sich auf die historische, lokale Verwendung dieses Namens bezieht und die Wiederaneignung des Wortes Yine eine vorkoloniale Authentizität suggeriert. (Gow 2001: 31).
Auf der Oberfläche von Text sondern eine dialektische Vermittlung zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Objekts. Es bezeichnet die Oberfläche so, dass das Äußere und das Innere miteinander in Verbindung gebracht werden. Es entwickelt sich eine Bewegung, bei welcher sich das Äußere dem Inneren anverwandelt und vice versa. Als die Linguistin Esther Matteson, eine Vertreterin der christlichen Mission Summer Institute of Linguistics (SIL), 1947 in der Siedlung Huau eintraf um mit den Piro zu leben, nutzte sie das Wort Gottes und das lateinische Alphabet und übersetze erst einmal die Bibel in die Sprache der Piro. Sie führte auch ein Transkriptionssystem für die bis dahin nur orale Sprache der Piro ein. Matteson zeichnete außerdem die mündlichen Überlieferungen der Piro schriftlich auf. Eine Geschichte handelt von Sangama, dem ersten Piro, der lesen konnte und wurde ihr von Sangamas jüngerem Cousin Morán Zumaeta erzählt. Sie soll sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor der Ankunft der SIL-Missionar*innen, zugetragen haben. Sangama, so sagte Zumaeta, wandte sich mit folgenden Worten an seine Piro-Zuhörer*innen: »›You folks listen to me, but others belittle me‹. They say, ›Sangama the ignorant, the liar. He does his lying by reading dirty paper from the outhouse.‹ They laugh at me, and distort my words all the time. Why should my eyes be like theirs? My eyes are not like theirs. I know how to read the paper. It speaks to me. Look at this one now.‹ He turned its leaves. ›See, she speaks to me. The paper has a body; I always see her, cousin,‹ he said to me. ›I always see this paper. She has red lips with which she speaks. She has a body with a red mouth, a painted mouth. She has a red mouth.‹« (Ebd.: 209)
Gow argumentiert bezogen auf diese Geschichte, dass Sangamas Rede eine einzigartige und individuelle Interpretation von Schrift sei, die keinem westlichen Leseverständnis folgt, sondern an seine Piro-Zuhörer*innen gerichtet ist. Daher ist diese Rede nur in einem schamanischen Kontext zu verstehen: Die Muster werden von einem Schamanen unter dem Einfluss von Halluzinogenen betrachtet und werden dabei zum Instrument einer Diagnose. Sangamas Verständnis folgend mussten die unregelmäßig geformten Buchstaben, auf welche die weißen Menschen in ihren Zeitungen so zwanghaft starrten, unter Berücksichtigung des Trägers der Schriftzeichen gelesen werden, nämlich des weißen Papiers. Wie bei einem durch Halluzinogene geförderten schamanischen Ritual war das Lesen von Buchstaben eine Wissenstechnik, die darin bestand, die anfänglichen Visionen, die durch die Muster und abstrakten Formen entstanden, zugänglich zu machen. Durch den weiblichen Geist des Ayahuasca gehen sie in ihre wahre, menschliche Form über und stärken so die Sinne der Heiler*in für die Diagnose von Krankheiten und der folgenden Behandlung. Deshalb verwandelt sich auch das Papier, Kiruka – in Piro ein weibliches Wort – in Sangamas Rede in ein sprechendes weibliches Wesen mit roten Lippen. Gows Interpretation folgend hat Sangama die Kraft der Schriftzeichen und ihre transformative Macht erkannt. In einer Rede an die Piro-Community stellte Sangama
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Ofri Lapid deshalb auch das Erlernen des White People Design als eine Praxis des Lesens vor, welches ein Heilmittel von – und der Ermächtigung gegenüber – der andauernden Unterdrückung der Piro sowie ihrer Ausbeutung für die westlichen Kautschukindustrie sein kann. Sangamas Worte wurden mehrfach überliefert und niedergeschrieben. Sie formten sich in Konfrontation mit Systemen der Entschlüsselung von Bedeutung, von Unterwerfung und nicht zuletzt im Zuge der Assimilation seiner eigenen Worte, etwa auf den Buchseiten von Gows Forschungsbericht. Dennoch soll Sangama in der von Matteson aufgezeichneten Anekdote gelesen haben (ebd.: 209). Wenn auch auf eine Art und Weise, die weit von der Lesepraxis entfernt ist, die von einer einzigen festgeschriebenen Bedeutung der Buchstaben ausgeht. Seine Worte basierten nicht auf den einzelnen Buchstaben, sondern betrachteten den gesamten gemusterten Papierkörper als mögliches performatives Objekt. Dieses Lesen gebiert stets verändernde Erzählungen, welche die Musterentwürfe begleiten und sich einer endgültigen Fixierung von Bedeutung widersetzen. Vielleicht war Sangama daran interessiert, seine Community zu stärken, indem er das Wissen über geschriebene Texte erlangte. Andererseits könnte seine Rede auch als Akt des Widerstandes, als eine Intervention in das Bemühen des Westens um Alphabetisierung der Piro und der damit verbundenen um Disziplinierung, gewesen sein. Denn die Schrift wird im Rückbezug auf ihr Träger-Medium und an einen spezifischen Adressaten gerichtet, interpretiert – so wird eine Subversion der festgeschriebenen Worte durch das (Vor-)Lesen möglich.
L iteratur Gow, Peter (2001): An Amazonian Myth and its History, Oxford: University Press. Loos, Adolf ([1908]/1962): »Ornament und Verbrechen«, in: Franz Glück (Hg.): Sämtliche Schriften in zwei Bänden. 1. Bd., München: Herold, S. 276–288.
Colonial Neighbours Ein partizipatives Archivprojekt von SAVVY Contemporary Lynhan Balatbat-Helbock · Marlon Denzel van Rooyen · Marleen Schröder · Jorinde Splettstößer im Gespräch mit Eva Knopf · Sophie Lembcke Colonial Neighbours ist ein fortlaufendes partizipatives Archiv- und Forschungsprojekt des Kunst- und Diskursraums SAVVY Contemporary, der 2009 von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung in Berlin ins Leben gerufen wurde. Das Archiv besteht aus Objekten und anderen materiellen sowie immateriellen Spuren des deutschen Kolonialismus – um von ihnen ausgehend die verflochtene(n) Geschichte(n) zwischen Deutschland, dem afrikanischen Kontinent, China und dem Pazifik zu erzählen. Durch einen kollektiven Sammlungsprozess möchte das Projekt Lücken und Auslassungen im deutschen kollektiven Gedächtnis adressieren und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte und ihren fortlaufenden Nachwirkungen in der Gegenwart aufrufen. Das Colonial Neighbours Archiv dient als Ort, an dem diese Geschichte(n) aus Vergangenheit und Gegenwart gesammelt, diskutiert, kontextualisiert und geteilt werden können. Als Plattform für Diskussionen und Interventionen ist es gleichsam ein Ort für Kollaborationen mit Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Schüler*innen. Was hat euch bewogen, das Archiv zu eröffnen?
Marleen Schröder (MS): Den Ausgangspunkt für das Archivprojekt bildete ein Fotoalbum aus dem Jahr 1919, das in dem Familienfundus eines Mitglieds von S AVVY Contemporary aufgetaucht war. Wie sich herausstellte, wurde es von einem deutschen Handlungsreisenden oder Soldaten einige Jahren nach seiner Rückkehr aus den ehemaligen Kolonialgebieten des heutigen Kameruns erstellt. Das Album hat er seinen Eltern gewidmet. Das von ihm als Kamerun-Album betitelte Buch zeigt Fotos von Landschaften, stolz in die Kamera gehaltenen Elfenbeinzähnen, ›exotischen‹ Früchten oder Fotos der einheimischen Bevölkerung. Im Hintergrund einiger Fotos sind Bauten von deutschen Handelsniederlassungen (sogenannten Faktoreien) zu erkennen, wie die Woermannfaktorei des Hamburger Überseekaufmanns und Reeders Adolph Woermann, der mit der Woermann-Linie einen erheblichen Beitrag zur Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents geleistet hat.
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Lynhan Balatbat-Helbock · Marlon Denzel van Rooyen · Marleen Schröder · Jorinde Splettstößer Handelte es sich beim Urheber des Albums um einen Handelsvertreter einer der Faktoreien? Die Nachkommen des Albumerstellers erinnern sich nur, dass der Großonkel damals in das ›ferne‹ Afrika gegangen sei. Viel mehr ist über seinen Aufenthalt dort nicht mehr bekannt. Jedoch blieb das Album über mehrere Generationen hinweg erhalten. Dieser Fund bildete den Ausgangspunkt für Überlegungen, was für weitere Spuren, Objekte, Erinnerungen etc. sich noch in Familienarchiven, Kellern, Dachböden oder auch auf Flohmärkten finden lassen und was sie dazu beitragen können, gegenwärtige Erinnerungspolitiken in Bezug auf den deutschen Kolonialismus zu verändern bzw. eine veränderte Auseinandersetzung mit den Kontexten und Bedeutungen derartiger Objekte zu schaffen. Dies vor allem auch vor dem Hintergrund eines mangelnden öffentlichen Bewusstseins für das Thema, wie es sich auf unterschiedlichen Gebieten widerspiegelt (u.a. der Bau des Humboldt-Forums in Berlin, die Diskussion um Restitutionsforderungen an Raubkunst). Wie kommen die Dinge zu euch und was für Dinge werden euch gebracht? Wollt ihr ein, zwei Dinge vorstellen, die euch besonders bewegt haben?
Jorinde Splettstößer (JS): Wir versuchen das Sammeln radikal zu öffnen: durch einen permanenten Aufruf, der in Form von einem Kurzfilm und Postkarten im Umlauf ist, wird zum kollektiven Sammeln aufgefordert – Objekte, Geschichten und Erinnerungen werden seit Beginn des Projekts vor fünf Jahren von verschiedenen Menschen ins Archiv gebracht. Wir wählen dabei nicht aus, was archiviert wird und was nicht, wodurch das Archiv kollektiv und öffentlich aufgebaut wird. In dem Aufruf fragen wir nicht nur nach Objekten oder Dingen, sondern auch nach immateriellen Spuren wie Geschichten, Liedern oder Erinnerungsfragmenten, um im Gegensatz zur europäischen Priorisierung des schriftlichen Dokuments andere Formen des Erinnerns und der Geschichtsschreibung einzuschließen. Lynhan Balatbat-Helbock (LBH): Konkret handelt es sich hauptsächlich um Alltagsgegenstände, Erinnerungsstücke, die nutzlos in den Wohnungen verstauben, Verpackungsmaterial mit rassistischen Logos, Bücher, Sammelalben, Magazine, Briefmarken, Geschirr, Postkarten, Lieder, Bierdeckel, Schmuck und Geschichten. Welche Dinge mich bewegen? »Bewegen« ist hier vielleicht das falsche Wort, wir möchten mit diesem partizipativen Archivprojekt keine Emotionen explizit triggern oder schockieren. Es geht vor allem darum, eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu kultivieren, also Zusammenhänge und Machtverhältnisse aufzuzeigen. MS: Über den Sammlungscharakter hinaus ist das Archiv vor allem ein Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit den Archivalien, mit ihren Geschichten und Kontexten. Es geht weniger um eine exzessive Anhäufung von möglichst vielen Dingen, sondern vor allem um ein kollektives Sammeln und eine gemeinsame Auseinandersetzung mit den Objekten.
Colonial Neighbours JS: Manche Dinge kommen direkt aus dem persönlichen Besitz, sodass der Akt des Übergebens selbst schon häufig Teil eines Prozesses der persönlichen Auseinandersetzung und Demystifizierung von kolonialen Narrativen im eigenen Denken und der eigenen Lebenswelt ist – häufig sind wir mit Gefühlen von Scham oder Empörung konfrontiert, aber zugleich auch mit Neugierde gegenüber der Zukunft ihrer Objekte und Geschichte in einem solchen Archiv. Ebendiese Geschichten hinter den Objekten versuchen wir über den Kontakt mit den Spender*innen herauszufinden und sie zu einem integralen Bestandteil des Archivs werden zu lassen. Dies geschieht beispielsweise in Form von kurzen Interviews oder Gedächtnisprotokollen, die teils mit den Objekten zusammen gezeigt werden, aber teils auch nur in Form der mündlichen Überlieferung an Besucher*innen weitergegeben werden. Marlon Denzel van Rooyen (MDvR): Not much ›classic historical‹ work has been done on the archive. Most information we have on the objects is empirical. Sometimes donators share the stories of the origins of the objects, but outside of these instances, when all the information we have is that the object was bought at a flea market or found on the street, we are left with only the object and its speculations.
Lynhan Balatbat (2016), Kamerun, Fotoalbum von 1919.
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Lynhan Balatbat-Helbock · Marlon Denzel van Rooyen · Marleen Schröder · Jorinde Splettstößer Colonial Neighbours kann als radical archive bezeichnet werden, in einem Verständnis von radical archives »including both representatives from and considerations of radical politics or practices, as radical or experimental in form, in movements or contexts where archiving is the last site of resistance, and as activating absence« 1 Wann und wie wird archivieren zur radikalen Praxis bei euch, wo ist Colonial Neighbours subversiv wirkmächtig und emanzipatorisch?
MDvR: At the symposium Translating Pasts Into Futures (HFBK 2017) one of the participants suggested to us to work with a proper historian and not just artists because we should take the archive seriously. But history and historians have excluded many narratives and many people. When we invite artists and community members to work on the archive, it is to challenge these predominant narratives and to position themselves within these histories, and begin to tell their own stories. I see this as a translation of history to which oral narration contributes, in that it is a conversion to another form. This word ›translation‹ is important for me because it suggests that there is not one predominant one, say narrative, but many which exist alongside each other. It sets up a dialogical relation between different histories and ways of telling them. So destroying objects to make place, whether for a new object or other stories, is not necessary. These stories are there, we just need to listen differently to understand its translations or transformations. Furthermore, there will always be things less spoken of in the archive, it depends on the people engaging in discussion around the archive. If a group of white academics have a discussion around the archive there, more than likely, it would not be a dialogue around resistance. And that is okay, because it is not a white person’s place to be facilitating this particular discussion. It comes down to who is speaking and who is listening and based on these constraints, certain things will be brought forward and other things will not make the agenda. MS: Die Praxis des Archivierens, Sammelns und Dokumentierens kann dann zu einer radikalen Praxis werden, wenn sie sie auch vor dem, was bisher als unarchivierbar galt, nicht Halt macht und dadurch einer alternativen Produktion von Wissen und Geschichte und so einer veränderten Erinnerungspolitik eine Grundlage bietet. Das Archiv in diesem Verständnis bietet einen Raum zur Dokumentation von silenced histories, die in den staatlichen Institutionen teilweise gar nicht, nur unzureichend oder fehlgeleitet thematisiert werden, wie es in Hinblick auf die Erinnerung und Vermittlung des deutschen Kolonialismus der Fall ist. Unabhängige, nicht-staatliche 1 | Eine Definition der Künstlerin Mariam Ghani, die mit Chitra Ganesh an der NYU 2014 eine Konferenz zu radical archives organisierte. Die einzelnen Beiträge können hier nachgehört werden: http://creativetimereports.org/2014/05/27/radical-archives-mariam-ghani-chitra-ganesh-nyu/, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
Colonial Neighbours Archiv- und Dokumentationsprojekte können in diesem Kontext als tools, als soziale Werkzeuge und Interventionen gedacht werden. Arjun Appadurai sagt dazu: »[...] I proposed that we need to look at the archive, in the spirit of Foucault, less as a container of the accidental trace and more as a site of a deliberate project. The archive as deliberate project is based on the recognition that all documentation is a form of intervention [...] This further means that archives are not only about memory (and the trace or record) but about the work of the imagination, about some sort of social project. These projects seemed, for a while, to have become largely bureaucratic instruments in the hands of the state, but today we are once again reminded that the archive is an everyday tool.« (Appadurai 2003: 24) Insbesondere interessiert uns, was ein ›nachbarschaftliches‹, ›kollektives‹, ›offenes‹ Sammeln ist? Inwiefern ist das ›Nachbarschaftliche‹ wichtig?
JS: Das Nachbarschaftliche ist in zweierlei Hinsicht wichtig. Zum einen befinden wir uns im Stadtteil Berlin-Wedding in direkter Nachbarschaft zu einem von dreißig in Deutschland immer noch existierenden ›Kolonialvierteln‹, dem sogenannten Afrikanischen Viertel. Seit über 100 Jahren wird dort nach wie vor über Straßennamen die deutsche Kolonialherrschaft im öffentlichen Bewusstsein verherrlicht und im Gedächtnis der Stadt verankert. Benennungen wie Togostraße, Lüderitzstraße oder Petersallee reinszenieren das einst von Deutschland beanspruchte Kolonialreich und ehren Kolonialtäter wie Adolf Lüderitz und Carl Peters. Solche revisionistischen und kolonialnostalgischen Umgänge mit deutschem Kolonialismus und Rassismus möchte das Colonial Neighbours Projekt kritisch in den Blick nehmen – denn so wie viele Menschen den rassistischen Kontext der Straßennamen leugnen oder ignorieren, so geschieht es auch mit den alltäglichen Dingen und Objekten, die im Archiv problematisiert und kritisch bearbeitet werden sollen. Zum anderen ist das Nachbarschaftliche ein wichtiger Bezugspunkt auf konzeptueller Ebene. Denn entgegen dem Paradigma der weit entfernten kolonialen Vergangenheit, die immer nur wo und wann anders stattgefunden hat, setzt das Colonial Neighbours Projekt mit dem Aufruf nach persönlichen Dingen direkt bei der sozialen Verwicklung und Positionierung jedes*r Einzelnen an. Kolonialrassistische Mythen finden im Stadtraum, aber auch im Zuhause und im eigenen Denken und Alltag statt. Die Künstlerin und Theoretikerin Grada Kilomba beschreibt in einigen ihrer Arbeiten sehr eindrücklich den psychologischen Prozess bei der Auseinandersetzung mit Rassismus, demnach Menschen zunächst bei sich selbst schauen und eigene Privilegien erkennen müssen, um sie dann hinterfragen und reparieren zu können. Bei SAVVY sprechen wir auch von einem Prozess des Unlearning, des Verlernens, bei dem eben auch andere und neue Umgangsformen mit bisherigem Wissen gefunden werden müssen:
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Lynhan Balatbat-Helbock · Marlon Denzel van Rooyen · Marleen Schröder · Jorinde Splettstößer »Unlearning is not forgetting, it is neither deletion, cancellation nor burning off. It is writing bolder and writing anew. It is commenting and questioning. It is giving new footnotes to old and other narratives. It is the wiping off of the dust, clearing of the grass, and cracking off the plaster that lays above the erased. Unlearning is flipping the coin and awakening the ghosts. Unlearning is looking in the mirror and seeing the world.« (Ndikung/Agudio: 2006) Welche Lücken finden sich mit den Objekten in eurem Archiv, also welche Lücken werden durch die von euch gesammelten Dinge erst sichtbar, weil auffällt, dass sie in den nationalstaatlichen Museen fehlen, dort nicht gesammelt werden?
MS: Zum einen verweist das Archiv selbst auf eine Lücke innerhalb gegenwärtiger Erinnerungspolitiken im Kontext des Kolonialismus und dessen Fortwirkungen. Diese Lücke bildet sozusagen den Ausgangspunkt. Auf der anderen Seite ist das Archiv selbst lückenhaft. JS: Dezidiert postkoloniale und widerständige Positionen sowie Schwarze Perspektiven sind in so wenigen Objekten repräsentiert, dass sie eher die Lücke und das Fehlen dieser Perspektiven unterstreichen. MS: Der Großteil der Objekte gibt die Perspektive der Kolonisierenden wieder, sei es die Postkarte, die aus der ehemaligen Kolonie an die Verwandten in Deutschland geschrieben wurde, oder das Sammelalbum, durch welches versucht wurde, diverses Wissen über die deutschen Kolonien zu verbreiten oder die Sarotti-Pralinen und andere kommerzielle Produkte, die bei der Vermarktung auf rassistische Stereotype zurückgreifen. Diese Perspektive ist natürlich einseitig und schließt die Erfahrungen und silenced histories der Kolonisierten aus, was wir durchaus als problematischen Aspekt des Sammlungsprozesses bewerten. Um dem entgegenzuwirken, ist es wichtig, diese Lücke erstmal zu thematisieren und gleichzeitig zu problematisieren. Es geht demnach nicht um das Auffüllen dieser Lücke, sondern darum, sie dauerhaft zu markieren. JS: Es gibt auch Objekte im Archiv, die eine ambivalente Bedeutung besitzen oder auf vernachlässigte Aspekte der Geschichte verweisen. Auf die im öffentlichen Bewusstsein wenig bekannten Beziehungen zwischen der DDR und den afrikanischen antikolonialen Bewegungen verweisen beispielsweise ein Briefumschlag von 1981 mit dem Stempel »Solidarität mit dem Volk Namibias« und eine Reihe von DDR-Briefmarken, die zum einen das Porträt des guinea-bissauischen Unabhängigkeitskämpfers Amilcar Cabrals zeigen, aber zum anderen auch stolz Altafrikanische Kunstschätze in Museen der DDR in einer Briefmarkenserie abbilden. Kürzlich schickte uns ein Bekannter aus Namibia das Buch Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins
Colonial Neighbours innerste Deutschland von 1912/13, von dem deutschen Marineoffizier Hans Paasche. Der Autor äußert darin seine Kritik am deutschen und europäischen Kolonialismus über eine Sammlung von Briefen eines fiktionalen Charakters, Lukanga Mukara, die er aus Deutschland an seinen König im fiktiven Land Kitara schreibt. Die Kolonie und Heimat Magazine aus den 1920er Jahren verdeutlichen auch einen häufig beschwiegenen Aspekt: die Rolle von weißen Frauen in der deutschen Kolonialpolitik. Auch einige wichtige Schriften postkolonialer Literatur oder historische Aufarbeitungen aus Schwarzer Perspektive wurden ins Archiv gebracht, beispielsweise Paulette Reed-Andersons Rewriting the footnotes – Berlin and the African Diaspora von 2000.
Jorinde Splettstößer (2016): Colonial Neighbours Archiv bei SAVVY Contemporary in Berlin-Wedding.
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Lynhan Balatbat-Helbock · Marlon Denzel van Rooyen · Marleen Schröder · Jorinde Splettstößer Lasst uns über die Archivstruktur als ein Framework für die Bedeutungen der Dinge sprechen. Welche Verschiebungen beobachtet ihr in der Bedeutungssetzung oder Bedeutungs-Zuschreibung auf die Dinge durch ein Umsetzen der Dinge aus privaten Haushalten in eure Archivstruktur bei Colonial Neigbours?
JS: Die Bedeutungs- und Wirkungsgeschichte eines Objekts ist weniger als ein historisches Narrativ als ein relationales Gefüge zu verstehen, das im Verhältnis zu räumlichen, sozialen und körperlichen Beziehungen steht, wovon beispielsweise Arjun Appudarai in Das soziale Leben der Dinge (1986) spricht. Demnach können Objekte in unterschiedlichen Kontexten und Beziehungen neue Bedeutungen annehmen. Das Colonial Neighbours Archivprojekt stellt gewissermaßen ein Prisma der verschiedenen Momente und Möglichkeiten dieser Bedeutungstransitionen dar, da sich die Zusammenhänge der Objekte durch die Offenheit und Lebendigkeit des Archivs permanent verändert. Und da wird bereits durch die Transition eines Gegenstands aus der alltäglichen Sphäre des vorherigen Kontexts, zum Beispiel des Zuhauses, in den Raum des Archivs, der Gegenstand neu gerahmt und kontextualisiert – es wird zum Objekt der kritischen Untersuchung und potentieller Ausgangspunkt einer neuen Bewertung, Deutung und Benutzung. Aus der Normalität, Alltäglichkeit und Unsichtbarkeit heraus wird der Gegenstand, ob materiell oder immateriell, im Kontext des Archivs problematisiert – und Problematisierung ist bereits eine strategische Intervention. Nach Foucault lässt dieser Prozess bereits »etwas in das Spiel des Wahren und des Falschen eintreten und konstituiert es als Objekt für das Denken« (Foucault [1984]/2005: 826) und ist somit der erste Schritt einer Transformation. Wenn wir das richtig verstanden haben, entwickelt ihr die Struktur des Archives erst mit den Dingen, die zu euch gebracht werden. Könnt ihr etwas erläutern, wie ihr zu einer Struktur oder Un-Struktur kommt?
JS: Es gibt keine permanente Struktur, außer der, dass das Archiv offen ist und permanent verändert werden kann. Die bewegliche räumliche Struktur ist dadurch Resultat von Diskussionen, Experimenten oder Zufällen. Dadurch sind die Dinge mal nebeneinander, übereinander, ungeordnet angeordnet, in neuen Konstellationen und in Koexistenz mit anderen Dingen und Diskursen, wodurch sich stets neue Verbindungen oder Widersprüche auftun. Eine Un-struktur gibt es insofern, als dass die Dinge nicht im klassischen Museumsdisplay oder in Archivdosen aufbewahrt sind. Wir haben zwar eine Vitrine, aber der Deckel ist sowieso stets geöffnet, sodass die Dinge angefasst, benutzt und bewegt werden können. Die Idee ist eher mit üblichen Repräsentationsmodi gezielt zu brechen, mal das ganze Archiv in die Vitrine zu stopfen, um sie dann wieder ganz zu leeren.
Colonial Neighbours MDvR: We consider other ways of approaching objects or perhaps not approaching them at all in the first place. Certain objects, through spaces like museums, universities and archives, have taken on functions opposing their original functions. Like a mask which now forms part of an history of African art course. This mask was never made for the purpose of being intellectualised and shut off behind a glass vitrine or to be put on the shelves of an archive. It served a different function and we should be aware of this function. Similarly, the photo album, the first object in the archive, was created with the purpose of being a travel diary, which ultimately would become a gift to the photographer’s family and handed down to the next generation and the generations to come. It was created to be held, looked at, passed around, to be touched. And if it gets destroyed? Well then maybe that is what needs to happen for us to consider other forms of remembering history that is not always through a singular object. It may also allow us to consider how to translate history before the objects we hold so dear to us fade and disintegrate with the histories they contain. JS: Eine konsequent offene Archivpraxis wirft jedoch auch Fragen und Probleme auf, so ist kürzlich ein bedruckter Teller beim Umstapeln zerbrochen und einiges Papierund Kartenmaterial beim Abbau einer Installation von Schüler*innen zu Schaden gekommen. Auch sind hin und wieder Dinge ›verschwunden‹ – wir fragen uns natürlich, warum jemand beispielsweise eine Postkarte der Kolonialschule Witzenhausen mitnimmt und wie wir diese Ereignisse von Entwendung oder Zerstörung bewerten sollen. In gewisser Weise werden durch solche Vorkommnisse die Grenzen des radikal offenen Archivs verhandelt: Was bedeutet ein offenes Archiv für alle in der Praxis? Müssen wir die Objekte schützen? Wir versuchen diese zeitweise auftauchenden ›unbequemen archivarischen Bedürfnisse‹ des Bewahrens und Bewachens zu reflektieren und gleichzeitig zu dekonstruieren: Das Archiv soll ein Ort der Intervention sein, an dem Auseinandersetzung auch Zerstörung oder Entwendung bedeuten kann, an dem Emotionen wie Wut und Empörung ihre Konsequenz haben können. Habt ihr auch schon aus eurem Umgang mit den Dingen heraus neue Kategorien entwickelt oder auch ›zufällig‹ gefunden? Mit welchen archivarischen Ideen experimentiert ihr?
JS: Es gibt keine festgeschriebene Systematik oder Kategorien, es gibt auch nur zeitweise und fragmenthaft Beschriftungen oder kontextualisierende Texte – d iese Frage steht jedoch immer wieder zur Diskussion, denn die Dinge sind zweifellos kommentarbedürftig. Jedoch legen wir eher Wert auf Kommentierungen, Problematisierungen und Bedeutungsverschiebungen durch visuelle, räumliche und partizipative Praktiken. Das Archiv ist eher ein Experimentierfeld, in dem das Verhältnis von Bedeutung, Raum, Objekten und Körpern ausgelotet werden kann. Die Dinge sind im Archiv in ständiger Bewegung. Auch in Resonanz zu Ausstellungsprojekten bei S AVVY verändern wir das Archiv – zum Beispiel haben wir, als es in einer
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Lynhan Balatbat-Helbock · Marlon Denzel van Rooyen · Marleen Schröder · Jorinde Splettstößer Ausstellung um Namen und ihre politischen und sozialen Konsequenzen ging, auch im Archiv das Thema Sprache bei der Produktion von kolonialem Wissen über das ›Fremde‹ in den Fokus gerückt. Ihr ladet Künstler*innen ein, mit eurem Archiv zu arbeiten. Ist diese Idee integral für die Funktionsweise eures Archivs? Hat somit die Spekulation einen festen Platz in eurem Archiv?
JS: Beispielsweise hat die nigerianische Künstlerin Tito Aderemi-Ibitola zusammen mit einer Gruppe von jungen Menschen in einem devised-theatre Projekt ausgehend von dem Archiv, den Dingen und der Nachbarschaft in Berlin-Wedding den Körper und die eigenen Erfahrungen der Teilnehmer*innen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung – als zentrale Kategorie, wenn man so will – gestellt. Die Dinge wurden in diesem Prozess zum Ausgangspunkt einer kritischen Selbstbefragung und der Entwicklung widerständiger Körpersprachen. MDvR: To work with artists is an important part of the way we approach the archive, not only artists but practitioners from various disciplines. There is an exercise which I like using in our workshops where we ask the participants to choose an object in the archive and present the story behind it. And because most of the objects in the archive do not have captions or descriptions, students are left to speculate on the history and meaning of their chosen object. I am always interested to see the different attitudes towards the archive, especially when participants are given access to the same objects and the same information. It can be very telling about each individual. These objects have an impact on each of us, whether we choose to see it or not. The archive can put you in your place or out of place. What I mean is that even within these fictitious narratives the students create, one is able to get a sense of each personal and political positioning towards the archive. The archive can expose that in a person. This process of turning your speculation on, or rather response to the archive into something visual, written, spoken or artistic occurs impulsively and does not necessarily need to be something which leads to a major decolonial project, it could also cause you to be underwhelmed. LBH: Mir ist der »Raum für Spekulation« eigentlich unheimlich, da dieser oft durch Romantisierungen in Bezug zu ›Kolonial- und Kriegsantiquitäten‹ eingenommen wird. Vielleicht löst eine Elfenbeinkette bei dem einen angenehme Gefühle oder nostalgische Erinnerungen aus, bei anderen wiederum steht der Bezug zur Ausbeutung und Gewalt außer Frage und lässt keinen Platz für Spekulationen.
Colonial Neighbours Manche der Objekte sind ungeliebte Familienerbstücke, andere Urlaubstrophäen – welche Rolle spielen Emotionen in eurem Archiv?
JS: Die Rolle von Emotionen ist nicht zu unterschätzen. Das ist vermutlich auch bei jedem staatlichen Archiv so, jedoch versuchen wir diese nicht zu unterdrücken oder zu verschweigen, sondern uns im Gegenteil über sie bewusst zu werden und von ihnen ausgehend zu arbeiten. Der Akt des Herauslösens eines persönlichen Gegenstands aus dem eigenen Besitz und die Übergabe an ein öffentliches Archiv ist ein emotionaler Prozess – im besten Fall ist dies ein Prozess der Dekolonisierung, der den Blick kritisch auf die eigenen rassistischen Denkmuster und die Verstricktheit in kolonialen Lebensweisen richtet. Dieser Prozess kann schambehaftet oder schwierig sein, da es mit dem Verlust eines vielleicht bislang sehr persönlichen Gegenstands zusammenhängt – was ich ganz interessant finde, da sich auch das Abgeben von beispielsweise weißen Privilegien als ein Verlust anfühlen kann und auch dadurch so oft verweigert wird. Das Abgeben von Dingen ins Archiv bedeutet aber eben auch, sich der Bedeutung der Dinge bewusst zu werden und die Kontrolle über deren Bedeutung abzugeben. LBH: Gerade bei Besucher*innen des Archivs sind aber oft auch positiv konnotierte Gefühle im Spiel. Eine Kaffeedose z.B., die mit rassistischen Karikaturen verziert ist, löst bei manchen sogar ›heimelige‹ Gefühle aus, weil sie diese vielleicht in der Kindheit immer bei der Tante auf dem Küchenschrank gesehen haben. Diese Emotionen können wir schwer auffangen und das wollen wir auch nicht. Dennoch finde ich es wichtig hier auch zu unterstreichen, dass es durchaus viele Menschen gibt, die bei solchen rassistischen Darstellungen meinen, »keine bösen Absichten« zu sehen und meinen: »Naja, damals war das einfach so und es ist nicht böse gemeint«. Diese Denkmuster sind Teil des kollektiven Gedächtnisses, die ernst genommen werden müssen. Insofern, als dass wir genauso wie bei den Objekten darauf achten, Gewalt nicht zu reproduzieren, gilt es ebenso hier kritisch mit romantisierenden Gefühlen umzugehen. Welche Projekte entstehen derzeit mit dem Archiv, welche Zukunftsperspektive habt ihr entwickelt?
JS: Das Archiv ist ein permanentes Projekt, von daher ist bisher auch nicht geplant, es zu beenden. Der Werkstattcharakter und die Offenheit des Projekts ermöglicht die permanente Weiterentwicklung und Veränderung durch zukünftig beteiligte Personen, Schwerpunkte und Debatten. Wir bekommen sehr häufig Anfragen von Künstler*innen, Universitäten, Museen und Kunstinstitutionen, die daran interessiert sind, zusammen Projekte zu entwickeln – und auch wir haben viele eigene Ideen, was im Rahmen des Archivs entstehen könnte, die bislang noch auf ihre Realisierung warten (was nicht selten an fehlenden Projektmitteln liegt).
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Lynhan Balatbat-Helbock · Marlon Denzel van Rooyen · Marleen Schröder · Jorinde Splettstößer Neben der Zusammenarbeit mit Künstler*innen, Aktivist*innen und Denker*innen soll das Archiv auch zunehmend Ort der politischen und kulturellen Bildung sein. In vielen Workshops haben wir festgestellt, dass die kritische Auseinandersetzung mit sowohl den Objekten und dem Archiv, als auch mit künstlerischen Praktiken und Wissensformen Menschen zu den Themen Rassismus, kritisches Weißsein und der deutschen Kolonialgeschichte sensibilisieren kann. In unseren Formaten gibt es immer auch einen praktisch- künstlerischen Teil, wodurch die Teilnehmer*innen ihre eigene Stimme und Kreativität aktivieren können. Das Archiv verweist insofern immer auch auf zukünftige Praktiken, die potentiell initiiert werden können, womit ich an die Idee von Derrida des Archivs als eine irreduzible Erfahrung der Zukunft anknüpfe, für den die Frage des Archivs keine Frage der Vergangenheit ist: »It is a question of the future, the question of the future itself, the question of a response, of a promise and of a responsibility for tomorrow« (Derrida 1995: 27)
L iteratur Appadurai, Arjun (2003): »Archive and Aspiration«, in: Joke Brouwer/Arjen Mulder (Hg.): Information is Alive, Rotterdam: V2_Publishing/NAI Publishers. S. 2425. Derrida, Jaques (1995): Archive Fever: A Freudian Impression. Chicago/London: The University of Chicago Press. Foucault, Michel ([1984]/2005): »Die Sorge um die Wahrheit«, in: Daniel Defert et al. (Hg.): Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ndikung, Bonaventure Soh Bejeng/Agudio, Elena (2016): Unlearning the Given – Exercises in Demodernity and Decoloniality of Ideas and Knowledge. SAVVY Contemporary, http://savvy-contemporary.com/en/events/2016/unlearning-thegiven/ (Letzter Zugriff 03.06.2018).
Wie Archive aus antikolonialen Befreiungskämpfen in die Zukunft gewendet werden Cornelia Lund
Luta ca caba inda, der Kampf ist noch nicht vorüber – dieser Titel führt direkt in die archivischen Verästelungen und Schichtungen, denen die folgenden Textseiten anhand der Re-Animation zweier Archive aus antikolonialen Befreiungskämpfen nachspüren möchten. Dabei handelt es sich um das Filmarchiv der PLO (Palestinian Liberation Organization) und einen Archivbestand des nationalen Filminstituts von Guinea-Bissau (INCA – Instituto Nacional de Cinema e Audiovisual). Beide Archive wurden, kurz gesagt, in den letzten Jahren wiederentdeckt, vor dem Vergessen bzw. dem Verschwinden bewahrt und auf verschiedene Weise wieder zum Leben erweckt.1 Im Falle des Filmarchivs der PLO ist dies dem Filmforschungs- und Filmproduktionskollektiv Subversive Film aus Ramallah, besonders Reem Shilleh und Mohanad Yaqubi, zu verdanken. Die Initiative zur R e-Animation des Bestands aus dem INCA ging von Filipa César im Verbund mit einer Gruppe von Mitstreiter*innen aus. Doch dazu später, zunächst zurück zum Titel. Entlehnt ist er einem unvollendeten Film aus dem INCA. Sprachlich zeigt er sich antikolonial selbstbewusst und setzt mit seinem Kreol eine lange Zeit als minderwertig empfundene Sprachausformung gegen die portugiesische Hochsprache. Und sein kämpferisch-zukunftsgerichtetes Potenzial sowie der Fluch der Nicht-Vollendung, der von ihm auszugehen scheint, veranlassten Filipa César, ihn auch als Titel für ihre Arbeiten mit dem Archiv aus Guinea-Bissau zu wählen (vgl. César 2016: 70). 1 | Ich benutze den Begriff »Re-Animation« in diesem Zusammenhang im Sinne der vom Arsenal. Institut für Film und Videokunst e.V. entwickelten Projekte Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart (20112013), Animated Archive (2012) und Visionary Archive (2013-2015), in deren Kontext auch der Archivbestand des INCA bearbeitet wurde.
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Cornelia Lund Die Frage der Nicht-Vollendung und damit die Notwendigkeit, weiter zu kämpfen, lässt sich hierbei nicht nur auf den konkret unvollendeten Film und die historische Situation des Befreiungskampfes in Guinea-Bissau beziehen, sondern eben auch auf die aktuelle Situation. Die ehemaligen Kolonien in Afrika haben sich zwar von der Kolonialherrschaft befreit, sich in einem direkten Wortsinne also de-kolonisiert, doch führt dieser Vorgang, wie Achille Mbembe in Sortir de la Grande Nuit. Essai sur l’Afrique décolonisée feststellt, nicht unbedingt zu einer wirklichen Befreiung, sondern in vielen Fällen eher zu einer »Unabhängigkeit ohne Freiheit« (indépendance sans liberté), einer »Autonomie in der Tyrannei« (autonomie dans la tyrannie; Mbembe 2010: 42). Insofern ist die Arbeit – oder eben der Kampf – der Dekolonisierung, in die sich die Filmarchive einschreiben, nicht abgeschlossen.2 Doch müsste diese im Falle der ehemaligen afrikanischen Kolonien, so Mbembe, hinausgehen über das »antikoloniale und antiimperialistische Erbe der Befreiungskämpfe« (Mbembe 2010: 23) und neue Entwürfe für afrikanische Zivilgesellschaften entwickeln (vgl. Mbembe 2010: 28f). Bezogen auf Palästina stellt sich die Frage der Dekolonisierung umso dringlicher, denn zum einen ist der palästinensische Staat international noch immer nicht durchgehend als solcher anerkannt, zum anderen ist die Frage der von Israel besetzten Gebiete weiterhin ungelöst. Die Befreiungskämpfe der 1960er und 1970er Jahre scheinen also zunächst einmal gescheitert oder haben nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt. Doch wenn, wie Basu und de Jong in ihrem Text zu »Utopian Archives, Decolonial Affordances« schreiben, »the archive [...] affords access to the past and in so doing shapes futures« (Basu/de Jong 2016: 10), dann kann jedem Archiv ein utopisches Potenzial innewohnen. Welche Rolle also spielen Archive, die dieser spezifischen historischen politischen Situation entstammen, für den heutigen Kontext? Wie können sie fruchtbar gemacht werden für Entwürfe aktueller und zukünftiger dekolonialer Gesellschaften? Diesen Fragen gehen Shilleh und Yaqubi sowie César und ihre Mitstreiter*innen bei ihrer kuratorischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Filmarchiv der PLO bzw. dem Archivbestand aus dem INCA nach. In diese Arbeit spielen einerseits die sehr spezifischen Geschichten beider Filmbestände hinein, andererseits sind sie Teil eines größeren aktuellen und historischen Feldes von Diskursen und Praktiken.
2 | Ähnlich formuliert der senegalesische Schriftsteller und Wissenschaftler Felwine Sarr, wenn er konstatiert, dass die afrikanischen Staaten zwar unabhängig geworden, aber noch lange nicht dekolonisiert sind, da alte Netzwerke und Praktiken noch immer Einfluss haben. (»Les indépendances ont été accordées mais le continent n’est toujours pas décolonisé. La décolonisation est un processus qui s’installe dans la durée [...] Les réseaux d’influence et certaines pratiques demeurent.« (Kodjo-G randvaux 2016: o.S.))
Archive aus antikolonialen Befreiungskämpfen (De-)Koloniale Archive In den Diskussionen der letzten Jahre um Archive und ihre Rolle im kolonialen bzw. postkolonialen Gefüge liegt der Fokus meist auf den von offiziellen institutionellen Repräsentanzen der ehemaligen oder aktuellen Kolonialmächte angelegten Archiven. In der Auseinandersetzung mit ihnen entwickeln sich wesentliche Parameter eines dekolonialen Diskurses zum Archiv. Wie die unter gleichen Vorzeichen entstandenen Museen sind koloniale Archive Teil einer imperialen Struktur, verstanden nicht nur im geopolitischen oder räumlichen Sinn, »sondern als Methode der Zergliederung, als Geschichte des Sammelns und als Institutionalisierung dieser Geschichte in Gebilden, die durch Ordnung und Disziplin gekennzeichnet sind.« (Rassool 2017: 150) Letztere wiederum folgen den Regeln der kolonialen Diskurse, womit das Archiv nicht nur deren hierarchische Machtgefüge repräsentiert, sondern ihre Umsetzung in einem Maße stützt, dass das Archiv Teil eines weltweiten Dominanzsystems werden konnte, als dessen Prototyp der viktorianische Archivapparat gelten kann (vgl. Basu/ de Jong 2016: 7). Zugleich geht mit ihrer Einrichtung für die kolonisierte Bevölkerung ein Kontrollverlust über die eigene Geschichte und deren Übermittlung einher (vgl. ebd.: 8). Dieser Verlust ist nicht nur ein diskursiver, sondern er äußerst sich bis in postkoloniale Zeiten auch auf materieller Ebene, da Materialien, welche in den nationalen Archiven der ehemaligen Kolonialmächte lagern, häufig nur schwer oder gar nicht zugänglich für Vertreter*innen der ehemaligen Kolonien sind (vgl. etwa Obolo 2017: 184). Wesentliche Anliegen der diskursiven und praktischen Auseinandersetzung der letzten Jahre mit solchen Archiven sind folglich, diese überhaupt erst zugänglich zu machen und sie zu dekolonisieren. Das heißt zunächst einmal, die kolonialen Denkmuster und Kategorien sowie die koloniale Wissensgeschichte, die in sie eingeschrieben sind, kritisch zu hinterfragen (vgl. Rassool 2017: 150), wobei dieser Ansatz auch fruchtbar gemacht werden kann für weiterführende theoretische Diskussionen über das Archiv. Als Beispiel sei hier nur auf die im Sammelband Refiguring the Archive geführte Diskussion verwiesen, die von der spezifischen Archivsituation in S üdafrika ausgeht. Die dekoloniale Bewegung richtet sich nicht lediglich auf historische Parameter, sondern sie adressiert Archive in ihren zeitgenössischen Funktionsweisen. Die Einleitung zu Decolonising Archives, einer Publikation des von mehreren europäischen Kunstinstitutionen initiierten Projekts »L’internationale«, macht dabei zwei wesentliche Problemkomplexe aus: zum einen eine neoliberale Kommodifizierung von Archiven und ihre damit verbundene kapitalistische Verwertung, zum anderen die fortgesetzte Nutzung der angeblich wertfreien westlichen Ordnungskriterien als »tools for maintaining the role of an archive as an imperial project of domination and affirmation« (L’internationale Online 2016: 5). Neben der diskursiven Bearbeitung der Archive im dekolonialen Sinne spielt ihre praktische Bearbeitung eine entscheidende Rolle – als tatsächliche Neuordnung und ganz wesentlich in künstlerischen Projekten, die beste-
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Cornelia Lund hende Archivstrukturen gegen den Strich lesen. Pascale Obolo etwa verfolgt diesen Ansatz in ihren Arbeiten zur kolonialen Vergangenheit Kameruns. Sie nutzt dabei Performance als Ansatz, denn diese kann, laut Obolo, »das Archiv umwälzen, indem sie dessen originären Sinn verletzt und es gegen sich selbst wendet.« (Obolo 2017: 182) Auf ähnliche Weise, allerdings in verschiedenen Medien, versucht beispielsweise auch eine Anzahl von Projekten, die Spuren palästinensischer Präsenz in offiziellen israelischen Archiven gegen ihre ursprüngliche ideologische Rahmung und damit gegen die Absicht des Archivs zu lesen (vgl. Sela 2016). Als Archive, entstanden unter dezidiert anti-kolonialen Vorzeichen, sind die beiden Filmarchive aus Palästina und Guinea-Bissau zwar Teil der größeren Diskussion um Archive und Dekolonialisierung, allerdings unter etwas anderen Bedingungen: die archivierten Materialien richten sich gegen koloniale Denkmuster und mit der Einrichtung der Archive wird der kolonialen eine eigene, alternative institutionelle Ordnungsstruktur entgegengesetzt. Was das angeht, ist eine Dekolonialisierung nicht notwendig. Was allerdings nicht heißt, dass es nichts gegen den Strich zu lesen gäbe, wie im Folgenden noch zu sehen sein wird. Zugleich gehören sie einem sehr spezifischen (historischen) politischen Umfeld und seiner ideologischen Rahmung an, die in der Auseinandersetzung mit ihnen reflektiert werden müssen.
Militante Bilder Beide Archive sind in Verbindung mit Befreiungskämpfen entstanden. Somit können die archivierten Filme als »militant images« bezeichnet werden, definiert als »film-making practices dedicated to the liberation struggles and revolutions of the late twentieth century.« (Eshun/Gray 2011: 1). Als solche sind sie Teil der »cine-geography«, welche sich durch die Praktiken herausbildet, die militante Bilder definieren: »Ciné-geography designates situated cinecultural practices in an expanded sense, and the connections – individual, institutional, aesthetic and political – that link them transnationally to other situations of urgent struggle.« (Ebd.) Diese Praktiken beziehen sich nicht nur auf den einzelnen Film, seine Aussage und Ästhetik, sondern auch auf Fragen der Produktion, Distribution und Präsentation. So werden im Kontext militanter Bilder neue Modi der Filmproduktion ebenso entwickelt wie alternative Distributionswege, die sich wesentlich auf ein Netzwerk kommunistisch-sozialistischer und befreundeter Organisationen stützen. So konnten etwa Kopien von Filmen der Palestinian Film Unit in einem Archiv in Mozambique und bei einem iranischen Studentenclub in Australien aufgefunden werden (vgl. Shilleh/Yaqubi 2014), im Archivbestand des INCA befinden sich Filme aus der Sowjetunion und der DDR. In diesem Rahmen entwickeln sich auch neue Plattformen für die Präsentation: Die Filme werden unter anderem in Arbeiter- und Studentenclubs und bei Streiks gezeigt und diskutiert (vgl. Eshun/Gray 2011: 1f).
Archive aus antikolonialen Befreiungskämpfen Das Konzept der »ciné-geography« ist hilfreich, um den größeren Kontext zu v erstehen, in welchen sich die beiden Archive einschreiben. Es macht deutlich, dass es sich dabei keineswegs um singuläre Praktiken handelt, sondern dass sie Teil e ines größeren Netzwerkes waren, einer Art Internationale des militanten Kinos. Innerhalb dieses Netzwerkes hat jedoch jedes Filmkorpus seine sehr spezifische eigene Geschichte.
Das verlorene Archiv – oder mit Filmrollen, Gewehr und Olivenzweig Das Archiv der Filmeinheit der PLO stellt einen besonderen Fall dar, insofern es als solches nicht mehr existiert – weder als Sammlung von Filmen noch als Institution oder Gebäude. Während der 1970er Jahre hatten die PLO und damit auch die Filmeinheit und ihr Archiv ihre Basis in Beirut. Das Archiv verschwand 1982 während der israelischen Angriffe auf den Libanon, in deren Folge die PLO und ihre Filmeinheit nach Tunis umzogen. Seitdem rankt sich eine Art Mythos um die Fragen, was mit dem Archiv geschehen und warum es komplett verschwunden ist; der Suche nach ihm ist sogar ein Dokumentarfilm gewidmet.3 Der Status des Archivs als verschwundenes, nur in der Erinnerung fortbestehendes, ist ein sehr prekärer, denn Archive bestehen nicht nur aus Wissen um den Sammlungsbestand oder den Dokumenten selbst, sondern ganz wesentlich auch aus einer architektonischen Dimension. Sie ist es, die dem Archiv erst Status und Macht verleiht. (Vgl. Mbembe 2002: 19) Da das Gebäude in Beirut, in dem sich das Archiv der Filmeinheit der PLO befunden hat, zerstört worden ist, und es nicht sehr wahrscheinlich scheint, dass die zuständigen palästinensischen Behörden in naher Zukunft ein Filmarchiv einrichten werden, hat es sich Subversive Film zur Aufgabe gemacht, zumindest die Dokumente, also die Filme, wieder aufzufinden. Die Filmeinheit der PLO brachte gewöhnlich 70 Kopien ihrer Filmproduktionen in Umlauf, so dass sich die Filme mithilfe alter Kataloge und von Menschen, die noch um die Filme und ihre Geschichte wissen, überall in der Welt verstreut aufspüren ließen, meist sogar in einem recht guten Zustand (vgl. Shilleh/Yaqubi 2014). In einem ersten materiell-medialen Übersetzungsschritt versuchen Subversive Film nun, die Filme von ihrem materiellen Träger (Zelluloid) in digitale Daten zu transferieren, wobei hier die materiellen Träger momentan Festplatten sind. Doch was zeigen diese Filme und warum wurden sie produziert? Die Palästinenser *innen verloren, kurz gefasst, mit der Nakba4 1948 jeglichen Einfluss auf und Kon3 | Kings and Extras: Digging for a Palestinian Image (2004) (Palästina, R: Azza El Hassan) 4 | »Nakba«, Unglück oder Katastrophe, ist die im arabischen Sprachraum gebräuchliche Bezeichnung für die Flucht und Vertreibung von mehr als 700.000 Palästinenser*innen aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina im Jahre 1948.
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Cornelia Lund trolle über ihre bildliche Repräsentation. Wenn sie überhaupt noch ihren Weg auf Bilder fanden, wurden diese nicht von ihnen selbst, sondern von anderen produziert. Ziel der PLO und der palästinensischen Revolution nun war es, besonders mithilfe der Filmeinheit, wieder Bestimmungs- und Herstellungsmacht über das eigene Bild und die Selbstdarstellung der Palästinenser*innen zu erlangen. »We were refugees, homeless, we became now fighters, freedom fighters,« formuliert Yasser Arafat in einem Filminterview von 1971.5 Statt als passive Flüchtlinge in Lagern zeigt die Filmeinheit in ihren überwiegend dokumentarischen Produktionen dann auch konsequenterweise die Palästinenser*innen als Freiheitskämpfer*innen, die ihr Schicksal aktiv in die Hand nehmen – sei es in der Landwirtschaft, in der Bildung oder im bewaffneten Kampf. Diese Bildpolitik wurde mehr oder weniger strikt verfolgt, denn auch wenn alle internationalen und palästinensischen Filmemacher*innen, die sich für kürzer oder länger der Filmeinheit anschlossen oder unter ihrem Label produzierten, die palästinensische Revolution unterstützten, so verfolgten sie dennoch unter Umständen unterschiedliche ästhetische Interessen. Das Archiv ist (noch) nicht öffentlich zugänglich, aber es wird von Reem Shilleh und Mohanad Yaqubi in verschiedenen medialen Formaten teilweise zugänglich gemacht. Dabei macht die Vielfalt der Formate deutlich, dass es nicht nur einen Weg gibt, ein Archiv in die Gegenwart zu übersetzen, es zu re-animieren: Einmal wird die Recherchearbeit zum Archiv begleitet von Publikationen. So haben Subversive Film 2017 The Syllabus veröffentlicht, der handschriftliche Notizen des libanesischen Filmemachers und Mitglieds der Filmeinheit der PLO, Hani Joharieh, zum Ausgangspunkt nimmt für filmpädagogische Überlegungen. Ein weiteres Format sind lecture performances, bei denen Shilleh und Yaqubi Ausschnitte von Filmen aus dem Archiv zeigen und kommentieren und über ihre Arbeit mit dem Archiv sprechen. Die institutionelle Rahmung ist hier eine akademisch-künstlerische im Sinne künstlerischer Forschung. Die Präsentationen finden wahlweise im akademischen Kontext, im Kunst- oder Kinokontext statt. Ein drittes Format sind Filmscreenings mit Diskussionen, die vom akademischen Kontext über den Kinokontext bis zum öffentlichen Raum sehr unterschiedliche Ausformungen annehmen können. Ein wesentliches Moment ist hier, dass Shilleh und Yaqubi die Filme auch zurück in die palästinensischen Gebiete gebracht haben, wo diese Episode der palästinensischen Geschichte ebenso wie die Filme darüber bei den jüngeren Generationen so gut wie unbekannt sind (vgl. Shilleh/Yaqubi 2014). Die Filmvorführungen tragen somit dazu bei, eine Lücke in der kollektiven Erinnerung zu schließen, indem sie den jüngeren Generationen eine Gelegenheit geben, mit der palästinensischen Revolution einen in Vergessenheit geratenen Teil der eigenen Geschichte wiederzuentdecken – und mit ihm die Zukunftsvisionen, die in dieser Zeit entwickelt wurden. Wenn wir mit Dara Waldron davon ausgehen, dass das Archiv 5 | Der Interview-Ausschnitt gehört zu den von Shilleh und Yaqubi in dem abendfüllenden Film Off Frame aka Revolution until Victory (2016) verwendeten Filmausschnitten.
Archive aus antikolonialen Befreiungskämpfen nicht nur unsere gemeinsame Vergangenheit, sondern auch unsere gemeinsame Zukunft birgt (vgl. 2017: 21), so ergibt sich hier nicht nur die Möglichkeit in Vergessenheit geratene Geschichte wieder Teil der kollektiven Erinnerung werden zu lassen, sondern sie auch wieder aktivieren zu können, wenn es darum geht, über die Gestaltung der Zukunft nachzudenken. In einem vierten Format entwickeln Yaqubi und Shilleh ihre eigene filmische Arbeit auf der Basis des Archivs. Hier soll besonders der abendfüllende Film Off Frame aka Revolution until Victory (2016) hervorgehoben werden. Off Frame verfolgt anhand von Fotografien und Filmausschnitten die Geschichte der palästinensischen Revolution und befragt die in diesen dokumentarischen Produktionen entwickelte Rhetorik. Yaqubi und Shilleh arbeiten dabei nicht mit kompletten Filmen, sondern mit Ausschnitten, die ihnen relevant erscheinen. Entlang dieser Teile versuchen sie, nach eigenen Aussagen, eine Erzählung zu entwickeln, die sich aus den Versatzstücken des militanten Kinos ergibt (»splicing militant cinema«; Shilleh/Yaqubi 2014). Diese Erzählung hat nicht unbedingt zum Ziel, die offizielle Narratio der PLO zu bestätigen, sondern die Filme zu be- und hinterfragen. Diesem Zweck folgt nicht nur die Montage des Bildmaterials, sondern es wurde streckenweise auch der stark propagandistische Ton bearbeitet und die Bilder gewissermaßen freigestellt. Umso wirkmächtiger sind in der Folge die gesprochenen Partien. Den Film in seiner Gänze zu analysieren, würde hier zu weit führen; doch sollen einige im Kontext dieser Untersuchung wesentliche Merkmale der entwickelten Narratio herausgegriffen werden: Der Film beginnt mit Fotografien aus Palästina aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg, gefolgt von Filmausschnitten zu den historischen Ereignissen, die 1948 zur Vertreibung der Palästinenser*innen geführt haben. Diese sind parallel montiert mit Yaqubi bei der Sichtung an einem Filmschneidetisch, wodurch von Beginn an die Aufmerksamkeit auf die Konstruiertheit der Anordnung von Bild und Ton gelenkt wird. Hinweise auf das Filmemachen – etwa in Form der Kamera und der letzten Aufnahmen eines im Kampf gefallenen Filmemachers – verweisen im Verlauf des Films immer wieder auf die mediale Verfasstheit und die Rolle der militanten Filmproduktion als Trägerin einer bestimmten Botschaft im Befreiungskampf. Die Anfangssequenz endet mit einem kurzen Ausschnitt aus Jean-Luc Godards Film Notre Musique (2004). Godard erscheint hier selbst im Bild und erläutert einer Gruppe von Zuhörer*innen die Gründung des Staates Israel und die zeitgleiche Vertreibung der Palästinenser*innen sozusagen filmisch als Verbindung von Schuss und Gegenschuss, die das jüdische Volk ins Reich der Fiktion, das palästinensische hingegen ins Reich des Dokumentarischen einziehen lässt.6 Dieses Dokumentarisch-Werden setzt in Off Frame im Anschluss ein mit der Überquerung der Allenby-Brücke und Filmaufnahmen aus Flüchtlingslagern in Jordanien. Beginnend mit den Aufnahmen eines nachdenklichen palästinensischen Kämpfers, der sich an Kampfhandlungen 6 | Wörtlich im Französischen: »Le peuple juif rejoint la fiction, le peuple palestinien le documentaire.«
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Cornelia Lund erinnert, werden diese Darstellungen der palästinensischen Flüchtlingsidentität abgelöst durch die von der Filmeinheit der PLO visuell und akustisch sorgsam entwickelte Identität als Freiheitskämpfer*innen. Ein Filmausschnitt mit einer versammelten Dorfgemeinschaft oder Großfamilie zeigt dabei besonders eindrücklich den Perfektionsgrad bzw. den Grad an Selbstverständlichkeit, mit dem diese Identität in dokumentarischen Aufnahmen vor der Kamera umgesetzt wird. Im Mittelpunkt steht das Gewehr als Sinnbild für das veränderte Selbstverständnis als Freiheitskämpfer*innen. Der Sprecher der Gemeinschaft erklärt die Bedeutung des Gewehrs für den Kampf, wobei er betont, dass jede Altersstufe das passende Gewehrmodell bekommt, was durch die Anordnung der Gruppenmitglieder mit ihren jeweiligen Gewehren visuell bestätigt wird.
Filmstills aus Off Frame aka Revolution until Victory (2016) (Palästina, FR, QA, LB, R: Mohanad Yaqubi)
Archive aus antikolonialen Befreiungskämpfen Ob alt oder jung, männlich oder weiblich, alle arbeiten – so die verschiedenen Filmausschnitte – der Revolution zu; sei es in der Landwirtschaft, in der Schule, bei der politischen Schulung, der Kampfausbildung oder im tatsächlichen Gefecht. Ihr Befreiungskampf bekommt internationale Unterstützung – von französischen Arbeitern über internationale Filmemacher*innen bis zu Vannessa Redgrave, die in einer Filmansprache zu sehen ist. Aber er erleidet auch Angriffe, etwa in der Schlacht von Karame (1968) und bei den Angriffen auf palästinensische Flüchtlingslager in Jordanien im September 1970, welche in ihren verheerenden Auswirkungen gezeigt werden.
Filmstill aus Off Frame aka Revolution until Victory (2016) (Palästina, FR, QA, LB, R: Mohanad Yaqubi)
Passend zum Logo der Filmeinheit – Filmrollen, Gewehr und Olivenzweig – ziehen sich Filmausschnitte wie eine Art Grundton durch, in denen Kämpfer unterschiedlichen Alters auf Arabisch oder Englisch sinngemäß äußern, dass nicht Hass ihr Antrieb sei zu kämpfen, sondern die Liebe zu ihrem Land und der Wunsch dorthin zurückzukehren, und dass ihr Ziel ein friedliches Zusammenleben zwischen Jüd*innen, Christ*innen und Muslim*innen sei. Dieser Grundton wird am Ende des Films aufgenommen, wenn erneut eine, nun zeitgenössische, Schulklasse in Ramallah gezeigt wird, die sich auf die Fragen der Lehrerin einen Staat Palästina mit einem ordentlichen Pass als Reisedokument, aber zugleich Frieden als oberstes Ziel wünscht. Wie eine ferne Erinnerung an die Freiheitskämpfe der revolutionären 1970er Jahre erklingt am Ende die Nationalhymne beim Fahnenappell im Schulhof.
Das »irrelevante« Archiv Kernelemente der Filme aus dem Archiv der PLO finden sich auch in den Filmen der afrikanischen Befreiungsbewegungen wieder. Die Filmemacher*innen in Guinea hielten Reden, Kämpfe, Schulen inmitten des Waldes aber auch offizielle Anlässe
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Cornelia Lund wie die Unabhängigkeitserklärung von Guinea-Bissau 1973 und einen Besuch in Ostberlin fest. Der Fall des Archivbestands aus Guinea-Bissau allerdings liegt anders als der des palästinensischen Archivs und so war auch eine andere »ciné-archaeology« (vgl. César 2015) notwendig: Die Filme waren im INCA gelagert, also noch als zusammenhängender Dokumentbestand in einer Institution vorhanden, allerdings in sehr schlechtem Zustand. Nach dem Staatsstreich im Jahr 1980 bestand von offizieller Seite kein Interesse mehr an den Filmen und sie gerieten mehr oder weniger in Vergessenheit. Während des Bürgerkriegs 1998 wurde das gesamte Archiv auf die Straße geworfen, wo es einige Tage lang, den Witterungseinflüssen ausgesetzt, lag, bevor die Filmemacher*innen davon erfuhren und retteten, was noch übrig war (vgl. Oliveira 2012: o.S.). Filipa César kam 2011 in Kontakt mit dem Archivbestand.7 Bei ihrer Reise nach Guinea-Bissau traf sie auch Sana Na N’Hada und Flora Gomes, die beide 1967 von Amílcar Cabral nach Kuba geschickt worden waren, um dort am ICAIC (Instituto Cubano del Arte e Industria Cinematográficos) Film zu studieren. Mit ihnen und andern Mitstreiter*innen bildete César eine Gruppe mit dem Ziel, das Archiv zu bewahren. Die Antworten auf erste Anfragen um Unterstützung bei der Cinemateca Portuguesa waren nicht ermutigend: das Archiv sei irrelevant, hieß es (Vgl. César 2016: 67). Was möglicherweise an der Zusammensetzung des Bestands lag, der neben Filmmaterial von Filmemacher*innen aus Guinea-Bissau und Tonbändern auch in anderen Archiven vorhandene Filme aus befreundeten (sozialistischen) Ländern wie der DDR, der Sowjetunion, Kuba und Schweden sowie eine Reihe von Videobändern enthält, die Chris Marker mitgebracht hatte, als er 1979 für die Dreharbeiten an Sans Soleil nach Guinea-Bissau reiste. Die einzigartige Zusammenstellung des Materials, die von einer ganz spezifischen historischen und politischen Konstellation mit sozialistisch-antikolonialer Ausrichtung zeugt, schien offensichtlich aus institutioneller Sicht nicht erhaltenswert oder, wie César es formuliert: »›The archive is irrelevant‹ is spellbound, it also means – this archive does not assist a certain system to achieve a certain goal.« (2016: 69) César und ihren Mitstreiter*innen gelang es dennoch, Unterstützung und einen Scanner zu organisieren, mit dem sie eine Digitalisierung unter eher experimentellen Bedingungen durchführen konnten (ebd.: 72). Es gelang dabei, etwa 40 von den ursprünglich 200 Stunden Material zu retten (zunächst Filmbilder und Sound getrennt) und somit für weitere Nutzungen zugänglich zu machen, wobei das gescannte Material deutliche Spuren der ungünstigen materiellen Bedingungen des Archivs trägt. Durch das Verdikt der Irrelevanz ans untere Ende der institutionellen Hierarchie verbannt, wurde das Archiv, ähnlich wie das Filmarchiv der PLO, durch die mangelnde materielle und bauliche Verankerung gleichsam aus dem institutionellen Gefüge freigestellt. Was nur allzu häufig das komplette Verschwinden und damit den Tod 7 | Für eine genaue Beschreibung der Vorgänge vgl. César 2016.
Archive aus antikolonialen Befreiungskämpfen eines Archivs bedeutet, hat jedoch in beiden Fällen zu einer – zumindest zeitweisen – Re-Animation in verschiedenen Formaten geführt. César und ihr Kollektiv haben die Zurückweisung der offiziellen institutionellen Hierarchie genutzt, um deren Kriterien gegen den Strich zu lesen und den Archivbestand für dekoloniale Überlegungen fruchtbar zu machen. Die Macht- und Ordnungslogik des Archivs hinter sich lassend, sind sie dazu übergegangen, statt von einem Archiv, von einem »collective milieu« (César 2016: 72), einer eher horizontalen Struktur also, zu sprechen. Die Formate, in denen sich die Arbeit an dem »kollektiven Milieu« manifestiert, ähneln denjenigen, mit denen Subversive Film arbeitet: Einmal wird es in Texten vorgestellt, in denen César unter anderem die Geschichte seiner Restaurierung beschreibt und mit theoretischen Überlegungen begleitet. Dann wird das Archiv in lecture performances präsentiert, ebenso finden öffentliche Filmvorführungen mit Diskussionen statt. 2014 wurden die Filme bei einer von Filipa César, Sana Na N’Hada, Flora Gomes und Suleimane Biai organisierten Tour durch Guinea-Bissau eben dorthin zurückgebracht und bei den Vorführungen von Sana Na N’Hada live kommentiert. Der Archivbestand wurde zudem in verschiedenen Projekten kuratorisch und künstlerisch erforscht und bearbeitet, etwa im Rahmen der Projekte Animated Archive und Visionary Archive am Arsenal. Institut für Film und Videokunst in Berlin oder in Ausstellungen (z.B. Filipa César. A luta ca caba inda, 2012/13, Jeu de Paume, Paris). So sind auch mehrere filmische Arbeiten entstanden, die mit einer Schichtung und Überlagerung performativer Elemente (meist lecture performances) und Bildern aus der Vergangenheit und Gegenwart arbeiten. Sie erkunden verschiedene Aspekte des Bestandes, Transmission from the Liberated Zones (2015) etwa nimmt den Bestand zum Ausgangspunkt für eine dokumentarische Auseinandersetzung mit der Präsenz schwedischer Sympathisant*innen bei den Befreiungskämpfen. Conakry (2012/13) setzt sich mit der von Amílcar Cabral 1972 in Conakry organisierten Woche der Information auseinander, einer Art anti-kolonialem und anti-imperialistischem Kongress unter der Schirmherrschaft der von Cabral mitgegründeten Afrikanischen Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde (PAIGC). Zu Beginn sehen und hören wir Diana McCarty, die, in einem Studio sitzend, die Geschichte des Archivbestands aus dem INCA und seiner Digitalisierung in Berlin erzählt. Während sie noch spricht, sind Aufnahmen des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen. Dann kommt Grada Kilomba, eingeführt als portugiesische Schriftstellerin, ins Bild. Sie platziert sich vor einer Wand und beginnt, über die in die Filmbilder eingeschriebene Dekolonialisierung zu sprechen: »Here, cinema becomes a decolonial act.« Sie wird sozusagen zur Stimme der Filmbilder, die noch nicht mit ihrem ursprünglichen Ton zusammengefügt wurden. Filmbilder, die von einer großen dekolonialen Versammlung, einem »act of humanism« zeugen, in dem Nord und Süd sich in Conakry auf Einladung Amílcar Cabrals zusammengefunden hatten. Cabral, über den Kilomba in ihrer Schule in Lissabon, »where other black children and I sat in the back«, nie unterrichtet wurde. Cabral, der – und so endet der Film – vier Monate nach der Versammlung in Conakry ermordet wurde und, so wie das Filmfootage, beinahe aus dem
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Cornelia Lund Gedächtnis der offiziellen (westlichen) Geschichte verschwunden wäre. Als hätte dies alles nie existiert, so Kilombas Kommentar. Zwei Stimmen äußern sich in Conakry und entwickeln ihre Gedanken zur Dekolonialisierung, sodass das historische Filmmaterial auf der einen Seite in eine kinematografische Argumentation eingebunden und einer Interpretation unterzogen wird. Auf der anderen Seite wird es geöffnet für verschiedene Ansätze, wird polyphon. Der polyphone Zugriff auf das Material spiegelt sich auch in der Variationsbreite der Formate, in denen die Auseinandersetzung mit ihm stattfindet. Der polyphone Ansatz liegt auch dem abendfüllenden Film Spell Reel (2017) zugrunde. Spell Reel kombiniert Archivfootage mit geschriebenem Text und neu gefilmtem Material, besonders von der Tour durch Guinea-Bissau 2014, bei welcher der Archivbestand in öffentlichen Filmvorführungen präsentiert wurde. Dass die Filme dabei live von Sana Na N’Hada kommentiert wurden, verweist zum einen auf den bei Filmvorführungen in afrikanischen Ländern oftmals üblichen Kommentator, der die Filme live ›bespricht‹. Zum anderen können Kommentar und an die Präsentation anschließende Diskussionen gelesen werden als Referenz auf die Praktiken des militanten Kinos. Und zwar als »ciné-accion« im Sinne Octavio Getinos, als Filmvorführung mit Diskussion im Rahmen einer politischen Veranstaltung, wobei das Ereignis dazu führen sollte, die (passiven) Zuschauer*innen in aktive Protagonist*innen zu verwandeln (vgl. Eshun/Gray 2011: 5) Soweit die Theorie. Die Menschen in Guinea-Bissau mögen sich 2014 nach den Filmabenden nicht direkt zur nächsten Revolution zusammengefunden haben, aber die (Wieder-)Entdeckung einer nahezu verdrängten bzw. bislang weithin unbekannten Vergangenheit veränderte eindeutig ihre Sicht auf die Zukunft. In Spell Reel ist mehrfach eine Engführung zwischen dem Archivmaterial, seiner Präsentation bei den Screenings und den Reaktionen an den verschiedenen Orten in Guinea-Bissau zu sehen: Nach etwas weniger als der Hälfte des Films wird eine Rede Amílcar Cabrals von 1967 gezeigt, bei der er zu Lehrer*innen und Guerillakämpfer*innen darüber spricht, wie entscheidend die Bildungsarbeit der Lehrer*innen an der vordersten Front des Befreiungskampfes sei. Darauf folgen teilweise sehr emotionale Reaktionen vor allem jüngerer Besucher*innen, die sich allesamt unzufrieden mit der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation in Guinea-Bissau zeigen. Ein junger Mann zeigt sich besonders beeindruckt von den Zukunftsvisionen, die Cabral in seinen Reden entwickelt, und leitet daraus eine Verantwortung für die Entwicklung des Landes ab, der sich alle stellen sollten. Hier wird deutlich, wie das Archiv auf zwei Ebenen aktiviert wird: Es wird ein Eindruck vermittelt von der Wirkung, die das Filmmaterial auf Zuschauer*innen bei den Filmabenden 2014 in Guinea-Bissau hatte. Und wir sehen, wie das Archivfootage durch die Montage mit den Filmabenden von 2014 verbunden wird, sodass letztere bereits Teil eines anderen Kinoereignisses, einer anderen filmischen Argumentation geworden sind – nämlich derjenigen, die in Spell Reel entwickelt wird.
Archive aus antikolonialen Befreiungskämpfen Entscheidend ist jedoch, dass jeweils die vergessene Vergangenheit und die mit ihr in Vergessenheit geratenen Ideen für die Zukunft aufgenommen werden, um neue Visionen für eine dekoloniale Zukunft zu entwickeln. Die Betonung liegt auf dem Plural, denn es geht nicht darum, das Archivmaterial einer eindeutigen Lesart zu unterziehen, sondern um seine Öffnung in einen polyphonen Raum. Oder, wie es Mohanad Yaqubi sinngemäß anlässlich von Off Frame aka Revolution until Victory formuliert: Heute haben es Filmemacher*innen in Palästina mit einem sehr geschlossenen Raum zu tun, rasch finden sie sich an einem Checkpoint oder vor einer Mauer wieder. Die Zeit der palästinensischen Revolution hat einen Raum geöffnet; die meisten Filme enden mit Freiheitkämpfer*innen, die in die Landschaft davongehen, ihrer Zukunft entgegen. Es ist diese Offenheit, die es wiederzufinden gilt (vgl. Shilleh/ Yaqubi 2014).
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Weltfragment* Von Dingen in Archiven zu Archiven in Dingen 1
Undine Stabrey »Tatsächlich eröffnet eben die Möglichkeit eines moralischen Nichtmenschentum ein Neudenken, ein Queering, der Moralität, da sie nicht auf der Natur/Kulturtrennung basiert, sondern eben diese Teilung infrage stellt. Mit dieser Neuorientierung würde ›amöbische Moralität‹ nicht einen weiteren kolonialistischen Schritt zur verdeckten Zementierung des Menschen in der Gleichung (der Ungleichheit) durch die epistemologische In-Nutzen-Setzung des Nichtmenschlichen darstellen, bei der alles zu der Frage wird, was das Andere uns lehren kann, oder gar darüber, für wen wir als Ersatz von Verantwortbarkeit (response-ability) sprechen sollten, d.h. anstelle der E rmöglichung einer Antwort durch das Andere selbst.« (Barad 2015: 164, FN 7)
Intro Fossilien, Handy, Text, Seife – nimm, was Du willst: Verdinglichung und Bedingung kennzeichnen den Sapiens2. Menschsein ist bedingt, in der Postmoderne hätte es heißen können: das Subjekt ist bedingt.
1 * | Den Herausgeberinnen danke ich zur Einladung des archäologischen Blicks und einem Beitrag, der unabhängig vom Tagungsansatz entstehen durfte; entsprechend auch der Dank für Kommentare. Gewünscht sind Entstehungs- und Temporalitätskonstellationen in Ding-Perspektive. Hierfür unumgängliches Selbstzitieren kommt mit einem Kompromiss: Publiziertes wiederhole ich nicht – für eine Ökologie des Publizierens. Stattdessen erweitere ich auf Dinge, gemacht aus Leben. 2 | Vieles hier basiert auf: U. Stabrey, Archäologische Untersuchungen. Über Tem-
poralität und Dinge. 2017. Sapiens als abgekürzter Artbegriff trägt eine Intention als Latenz: Die Ferne zum gewohnten ›Mensch‹. Innehalten im Begreifen? Den Denkort im Wortort ausloten? Sapiens als Augenmerk auf Kolonialismen denken, wenn eine von vielen Arten damit begriffen ist? Schau auch: Fussnote 4.
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Undine Stabrey Dinge zeitlichen. Oder anders: Zeit entsteht durch Dinge. Sie zeitlichen Leben zum menschlichen Vorstellungsvermögen. Das ist uns(ere) Bedingung. Die Verdinglichung des Seins als Horizont des Sapiens zeitlicht damit auch, was als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (hier: Gestern, Jetzt und Bald) gedacht wurde und wird. Seit Jahrhunderttausenden schafft Mensch in bedingter Daseinsweise, was ihn auszeichnet: Veränderung als modus vivendi. Veränderung an Leib und Leben, oral weitergegebene Traditionen, klar. Doch Dinge konservieren Veränderung über die Menschheitszeit3. Aktuell wird Veränderung als netzartig organisiert, als N euverortung wahrgenommen. Veränderung wird als Echtzeit ge- und erlebt. Jahr(zehnt)e zuvor bildete ein Verlauf oder ein Danach/Davor Veränderung ab. Vergegenständlichung macht Veränderung sichtbar, egal bei welcher Weltzeit als Fundament dafür. Über Bedingungen sind lange Zeiträume vorstellbar. Die Vergegenständlichung des Seins erzeugt verschiedenste Lebensbedingungen. Das Erleben qua Computer in der Wende des 3. Jahrtausends unserer Zeit zeichnet für viele die Lebensbedingungen des Sapiens aus. Als Leitgegenstand ist die Smartheit die Bedingung schlechthin. Mit digitalen Bedingungen konstelliert Mensch Welt und Wissen neu. Vergegenständlichung schuf zugleich Lebensbedingungen, die durch Zeiten hindurch den Sapiens für viele so auszeichnet, dass Mensch eher unbedingterweise auf Wasser und Nahrung hofft, auf Frieden. Bereits im Sinn des lateinischen colere, daraus cultura, bearbeiten oder bauen Dinge diese Welt. Früh weist Kultur (im Agrarischen den Boden bearbeiten) in ihre Bedingung. Dass Dinge post- und de-kolonialisieren, perspektiviert dieser Ansatz: Nicht Dinge irgendwie als Verlängerung des Menschen, als Gegenstand, Zeug, Sache. Denn wie Blitze, Atome und Milliarden von Kugelgestaltenden sonst tun Dinge etwas. Dinge machen Welt. Menschen können mit Dingen Menschliches zementieren, sie können aber auch den Objektstatus weglassen. Der Objektstatus bringt Statisches in sapientischen Bewegungswahrnehmungen. Dinge müssen bewegt werden. Ohne menschliche Energie passiert scheinbar nichts. Diese Wahrnehmung, das Passivische, Nichtagentische, veranschaulicht interessanterweise ein Lebenwesen. Die Pflanze. Mit weitgehend sesshafter Lebensweise sind Pflanzen fraglos Lebenwesen und oszillieren doch an der Grenze zum Objektnahen – Zimmerpflanze, Schnittblume, Grünfläche. Wir verinnerlichen Pflanzenbewegungen nicht, spüren deren Zeitlichkeit nicht, sie ist dem Sapiens unzugänglich. Tatsächlich ist das mit Dingen und vielen anderen Wesenheiten nicht wirklich anders. Zugleich sind in sapientischen Raumzeitmaterialisierungen (wie Dinge in Anlehnung an Karen Barad gedacht werden können) Ideen wie post-koloniale oder prä- historische Zeiten auch ein Verweilen in alten Zeitlichkeiten. Denn Dinge schufen und schaffen Formen von unterschiedlicher Dauer. Für postkoloniale Konstellative mit Fragen nach Dingbedeutungen ist das einzudenken: Die Idee einer Präfix- 3 | Mensch erkennt sich über Jahr(hundert)tausende nicht primär an Knochen (außer Experten). An Dingen erkennt sich Mensch stets. Ob ein Fund in seiner Funktion verständlich ist, spielt dabei keine Rolle.
Weltfragment Temporalität bezeichnet markant Zeiten im Übergang. Kein post- ist ein post, kein prä- ein prä-, kein trans-4 ein trans. Solange wir mit dem Begriff selbst eine Zeit 5 sind, sind wir in dessen Bedeutsamkeitsraum oder anderen formuliert: in dessen Aktualität. Dinge formen unser Sein massiv und bilden dessen Strukturen solange sie präsentisch sind. Alltagsdinge konkretisieren das. Zum Beispiel die Schule. Als Bildungsarchitektur präsentiert sie oft das Modell des 19. Jahrhunderts. Zugleich wird Schule im Jetzt anders gedacht. Das wird ins Bestehende eingepasst, während gleichzeitig Neues, etwa durch digitale Geräte, alte Formen langsam ändert. Oder Smartheiten, die noch in Form des Buches erst mit nassen Speichern wie DNA oder auch mit Licht zusammen mit dem Internet des Körpers etc. auch formal in neuen Strukturen aufgehen werden. Repeat: Dinge stabilisieren Strukturen, weichen sie auf und (in dieser Doppelung:) Dinge bedingen das Leben inzwischen aller. Ob Pol oder Sahara, Wüstenskorpion oder Weißbär, Tautropfen oder Plankton: derweil sind alle Wesen durch sapientische Aktivität bedingt. Wenn nicht direkt, dann indirekt. Mit Karen Barads Einbezug aller Seinsweisen zur Überwindung des Kolonialismus des Anthrozentrischen (im vorangestellten Zitat) lässt sich fragen: Wie gestalten wir im Jetzt die Wissenschaft von Morgen, wie wollen wir vor allem für Morgen Wissenschaft gestalten? Wer ist wir? Auch koloniale Dingkonstellationen verweltlich(t)en wie Sapiens und Andere die Zeitstrukturen, wie Leben auf dieser Kugel stattfindet. Das meint für die Fragen oben, etwa nach der Wissenschaft von Morgen: eine Verweltlichung (Globalisierung) der Bezüge zwischen Ding und Bedeutung durch jetzige Denkformen zeitlicht kommende Zeiten. Welt und Wissen in Echtzeit formen diese Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeit und Unterschiedlichkeit. Welcher Postkolonialismus für wen? Translating Pasts into Futures – welche Akteure? »Dinge und Anthropozän« veranschaulicht nachfolgend in Konstellativ I das Translating Pasts into Futures, wenn es darum geht, was Dinge eigentlich sein können. Auch im Dingbereich ist ein anthrolithischer Ansatz selbstverständlich, ›lithisch‹ von ›Stein‹ im Griechischen im Sinne von ›das Menschliche verfestigend‹6. Dieser Ansatz illustriert, was Konstellativ I bedenkt: dass die westliche Industrialisierung der Welt eine Dingwelt produzierte, die in Sapiens, obwohl sich nicht mehr als Krone der Schöpfung glaubend (im Wortsinn), tief bestehen bleibt und eine Welt qua Ding4 | Trans-? Auch Plurikolonialismus als Sprachbild ginge: Bisher nicht besetzte, vielleicht nie so besetzt werdende Begriffe weisen in die Flüchtigkeit dieser Deutungsmuster. Darüber lebt mein Text das, was viele, ob Nietzsche, ob Barad etc., unermüdlich betonen, doch oft verhallt wie Worthülsen, dies Denken nicht gewohnt: Denken nicht auf Sprache festlegen, gleichsetzen, womöglich eins aus dem andern folgern, als zwingend(e Argumentarchitektur) begreifen, verifizierend, falsifizierend, gar Subjekt, Objekt, Prädikat als gegebene Sinnstiftungschoreographie betrachten. 5 | Was in einer Zeit denkmöglich ist, charakterisiert sie als Eine-Zeitsein und ist in dafür spezifische temporale Konstellationen gefasst. Dazu Stabrey 2017a, u. a.: 2325, 191, 197, 209. 6 | Sophie Hüglin gilt mein großer Dank für ihre ausgesprochen originelle Idee »Petrifizierung«.
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Undine Stabrey strukturen formt, indem sie Leben vergegenständlicht(e). Ausgestopft-verdinglichte Krokodile als postkoloniale Akteure im Museumsexponat oder auch Handtaschenquadrat historisieren Verdinglichung und formen ein Bald mit. Konstellativ II wiederum färbt Fragen des Bandes in den Tönen eines temporalarchäologischen Blicks: Was übersetzen Dinge, die aus ihrem aktiven Sein, aus ihrer Sinnstiftung oder ›Nutzung‹ gefallen sind? Als Zeitmaschinen enthalten Dinge Handlungen und Haltungen, Sinn und Unsinn und, wie darin eingelagert, sapientische Strukturen von Ordnung. Archäofakt spricht an, dass Dinge zu archäologischen Dingen gemacht (facere, tun, machen; Fakt) werden, wie gemacht Erkenntnis ist und Dinge in Zeit geschoben7 werden – postkolonial? Auch Bedingungen als Alte Weltfragmente bevölkern die Welt nicht wo sie wollen. Archive und Museen sind Erkenntnismaschinen einer Sinnordnung, die Bedingungen in Klassifikation und Kategorie verlagern. Ihre Ablagestrukturen mit Zeigefaktor stören den Lauf der Dinge, indem sie Ordnungsstrukturen über Kontingenz stülpen. Das steht in Frage in einer Zeit, die scheinbar die Welt neu ordnet. Schwarmartige, fluide … Mustermuster aktueller Sinnstiftungen konstellieren in einer Perspektive, die Alle und Alles ins menschliche Sprechen holt und mancherseits versucht, andere Seinsweisen nicht zu kolonialisieren. Das bedeutet in jedem Fall auch, das Wort nicht als Stellvertretung für Weltgestaltung zu nehmen. Diese Macht sapientischer Sprache steht ebenfalls in Frage; hier, indem ich mit ihr spiele. Gedanken aufblitzen lassen können, je nach Lektüre. Offenheit und petrifizierten Gedanken begegnen in Grammatik und Wort. Heißt sapientische Perspektiven post- oder de- kolonialisieren, nicht auch dies bedenken? Siehe Fußnote vier. Summary: Zwei konstellative Wege von Weltfragmenten in Sichtweisen oder von Dingen in Weltbilder skizzieren Bedeutungsbewegungen/Zeitlichungen, was Dinge sein könn(t)en, was sie taten und tun. Als Zeitreisende bewegen Dinge Deutungen. Was wer-wir? sind, was wer-wir? denken, ist auch im Ding. Dasein im zweihändigen Bereich ist bedingt. Derweil deshalb alle Lebenwe(i)sen.
Dinge und Anthropozän Aqua alia Die Erde hat ein neues Archiv! Darin die Zeiten des Menschen gesammelt und ablesbar. Es heißt Anthropozän, ist ebenso alt wie jung und stellt die Frage der Rolle des Menschenzeitalter auf dieser Kugel und als ihre Kolonialisierung in eigener Weise. Der anthrozentrische Begriff sucht eine Überwindung des Menschgemachten durch eine konzeptuelle Aktualität wie auch sein Pendant in Posttemporalitäten, das Nachwirkungen in (s)einem Konstellativ aufspürt. Eine solche Redimensionierung, wie sie die Kugelperspektive ausmacht (symptomatisch im Wort global in allen Varianten), 7 | In der Archäologie wurden und werden Dinge oft händisch in eine Ordnung geschoben/gelegt, anhand bestimmter Merkmale. Vitrinen zeig(t)en so oftmals ›Verläufe‹, etwa chronologische.
Weltfragment weitet Blickwinkel in Zeitgefüge nicht nur des Sapiens und seiner Dinge bzw. Fakte (Konstellativ II bespricht sie). Sondern der planetare Horizont lotet den Gesamtzusammenhang von auch Mensch und Kugel neu aus. Dieser Horizont, diese Sehweise, ist eine Neuverzeitlichung des Seins, der Zeit selbst. Alle Bedeutungschaffenden, ob Pflanze, Tier, Maschine, Smartheit, Berg, Buch, Büchse, sind Teil eines Verstehenwollens von Gesamtheit, hier des Anthropozän. Zum Beispiel: Ob wir Hauptgründe weltwirbelnder Winde kennen, ob menschengemacht oder planetarischer Wandel in Dimensionen, die unserer Art nicht entsprechen oder beides. Ob Wasser Oberhand nimmt und die Alpen Schwimmbecken von Haien im Sinne erdgeschichtlicher Wandel sind. Ob Küsten(städte) im wasserundicht gebauten Schiff Zivilisation Schiffbruch leiden (Winde medialisiert zeigen zunehmend das wasserundichte Leben der Art Mensch). Klar ist: Durch Mensch ist Wasser bedingt. Als Vehikel zu Migration, Nahrung und Neuem ist Wasser als Meerwesen ein riesiges mobiles Sein auf diesem Planten, das von menschlichen Bedingungen kolonialisiert wird; ebenso umgekehrt – Leben kann einzig aquatisch sein (zumindest bis Jetzt). Meer macht qua Aqua Bewegungen als Wegweiser menschlicher Seinsgestaltung: Wasser schafft, politisiert, kolonisiert, ökologisiert … Weltenräume: Als liquides Vehikel seiner eigenen Welt konstituiert und konturiert Wasser Lebensräume an Land, zeitlicht sie. So weist Postund De-Kolonisierung, vom Wasser her gespürt, auf Präfigurationen anthropoorientierter Strukturen. Im aquatischagentischen Blick entsteht das riesige Flüssigwesen, das menschliche Bedingung wurde und genau dadurch Lebenwesen und Dinge in Kontexte bewegt, bewegt hat und bewegen wird, die Weltwahrnehmungen ausmachen. Dabei war die See ein Sehräuber – oder anders: Sie fiel wesenhaft aus sapientischer Deutung. Erst seit Jahrzehnten wird der Seeraum zum sapientischen Sehraum (etwa die Erforschung der Tiefsee): welche post- kolonialen Akteure? Vielleicht so: Wasser als aquatisch-agentisches Wesen weist auf umfassende anthro- koloniale Strukturen. Sapientisch: Gehen wir den Aquemen (Wasser-Episteme) nach, wird aus einem weltumspannenden Kolonialismusvehikel ein Wesen – und die anthrozentrische Präfixkolonialisierung vielleicht weicher. Wasser als Wesen ermöglicht Zuhören; Antworten durch das Andere selbst. Bewegung ist Zeit. ›Vehikel‹ zeigt es bereits, auch bei Dingen. Damit relativiert Sapiens, indem ihm Dinge Zeitvehikel sind. Die weltweite Bewegungszunahme, erfasst im Zeitlichkeitsbegriff der Beschleunigung und lebensweltlich als Verweltlichung (auch hier prononcierter als Globalisierung), verändert den Weltzeithorizont von Jahrmillionen im 19. Jahrhundert zu Jahrmilliarden im Jetzt und positioniert Mensch in erdgeschichtlichen wie in stellaren Zeitgefügen. Weil technisches Tun bedingt, sind Menschen Zeitmilliardäre8. Dinge (ob Text wie die Mathematisierung des Denkens, ob Teleskop wie die Theoretisierung des Sehens) und Verdinglichungen (ob 8 | Zeitmilliardäre mit Michel Serres: Milliardaire désormais, leur [homo digitalis, U.S.] horizon temporel remonte à la barrière de Planck, passe par l’accrétion de la planète, l’évolution des espèces. (Serres 2011: 11)
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Undine Stabrey Pflanzen als Fossilien, ob deren anthrozentrische Technokolonialisierung) bringen uns von Jahrmillionen zu Jahrmilliarden. Dinge sind Zeitvehikel menschlicher Erkenntnis. Am Beispiel Wasser orientiert, ist das allseits präsent: Irma, Burglind etc., Global Warming, ›Umwelt‹ zerstörende Dinge, Plastic Age etc. Wasser reflektiert Dingverhältnisse wie dasjenige von Lebenbedingung und Plastikmasse. Wasser fragt nach, inwieweit Dinge, ob Schiff oder iPhone, formen und wer wen aus welchem Fokus heraus kolonisiert, de- und post- ebenso. Und Wasser bringt in sapientische Gedanken, wie im Jetzt smarter Bedingung Post-, De-Kolonialismen auszuloten sind – auf wen eigentlich bezogen? Der Denkraum des Anthropozän wirft in diesen Konstellationen Dingdenken neu auf, denn das Archiv hat sich vergrößert, ist erdballrund, erscheint mit einem Präfix-Netz bespannt, das seine planetarische Größe in neue Topologien (vgl. Serres 2011: 14f.) bewegt wie Denkweisen aus Jahrtausende alte in situ-orientierten Strukturen heraus9. Die Fundamente solcher Ordnung dynamisieren in eine ›Echtzeit‹. Das Dingarchiv verlässt seine eckige Box, Kennzeichen des Menschorientierten (von Haus bis Papier, vgl. Stabrey 2017b: 63-84) und ein rundes Dingarchiv – die Erde – perspektiviert Kolonialisierung, Leben, Dingwerdung.
De facto: Verdinglichung von Leben Ein Blick aufs Dingarchiv Erde sieht die Verdinglichung von Leben. Die Industrialisierung der Wasserwelt als Bewegung in ›Nahrungs‹- und ›Rohstoff‹ ›fabriken‹, um beim Wasser zu bleiben. Der Blick sieht aus Leben Dinge10 werden und schafft daraus (Denk)Zeitlichkeiten. Indem beispielsweise von Tier oder Pflanze einzelne Teile ihr Wesen verschleiern, so, dass Baumwolle oder Sardine nicht bewusst sind. Wenn Shirt oder Sardinendose und all die Milliarden Verdinglichungen, ihnen vorgängige Lebenwesen ausblenden, ist Leben verdinglicht. Als Zeitreisende binden so gewordene Dinge Gewesenes mit Kommendem, nun ›gefüllt‹ damit, Menschsein zu relativieren. Denkzeitlichkeiten, die ins Augenmerk rücken, was Dinge, deren »Gemachtheiten« (s. Konstellativ II) eigentlich sind. Denkzeitlichkeiten, die auf Verdinglichungen als Form kolonialen Tuns weisen11. Die Industrialisierung der Wasserwelt im 19. Jh. verdeutlicht das auf Anhieb. Etwa Wale als Kämme, Lampenöl, Essen, Kleidung … als Öl der Dingmassen oder Rohstoff der Industrialisierung. Oder Stichwort » Fossilien«: 9 | Ob Sesshaftigkeit von Bildung, Arbeit etc. bei Menschen, ob ›Bergverflüssigung‹ (wir brauchen noch Gänsefüsschen, Nichtmenschorientiertes ist noch nicht unmittelbar verstehbar), ob Pflanzen und ihr Umziehen in andere ›Höhenlagen‹; Unzähliges mehr bewegt das in situ. 10 | Ein Blick im Supermarkt: Nicht nur Verpackung verdinglicht, Oft vereckigt wie Wissensdinge und Möbel (z.B.) und eingeschweißt, wurde Nahrung zum ›Lebensmittel‹, Ware, Ding.
11 | Im Grunde als Form superkolonialen Tuns: Das Kugelproblem resultiert vor allem anderen, vor Kriegen, Krankheiten, Hunger, Naturkatastrophen etc., aus Ding(mass) en (und deren Dauer).
Weltfragment die Industrialisierung des Lebens vor Jahrmillionen. Ebenfalls als Rohstoff (bezeichnend dabei Stoff vom Griechischen für Holz) oder aktuell transformiert in Verpackungen des 21. Jh. Das sind Bedingungen, die die Wasser der Welt und, damit und davon abhängig, das Sein kolonisier(t)en. Ein ganz anderes Beispiel, das bereits plakativ ausgedrückt auf die so folgereichen Kolonialismen zu allen Zeiten in allen Weltgegenden verweist, sind Schiffe für Menschenzwecke. Sie machen Leben(sräume) beherrschbar und formen die Topographie von Mach(barkei)t. Ein weiteres Beispiel: Hygiene formt Leben und die Möglichkeit dazu – Dasein ist vor allem anderen aquatisch. Die Frage ist, wer de-, post- und kolonialisiert welche Wasser und übersetzt somit Wasser in (z.B. Lebens)zeit? Vergleichsweise neu dabei: die Frage ›Lärm‹. Wasserweltwesen sterben, weil Sapiens lärmt: Maschinen mitteln. Was, wer für wen – Postkolonialismus in welchen Relationen? Wer sind die Bedeutungsschaffenden im theoretischen Tanz, in dem Sapiens auslotet, wie präfixkoloniale Dinge – in der Dingwerdung bzw. Dingwelt – Denken formen und damit Idee von postkolonialem Denken. Postkoloniales Denken im Sinn dieses Textes meint die Crew aller Wesenheiten: »Eine bunt zusammengewürfelte Crew queerer Kolleg_innen – unter ihnen soziale Amöben, neuronale Rezeptorstellen in Stechrochen, Blitze, eine Phantonspezies der Dinoflagellaten, Akademiker_innen (eine merkwürdige Gefähretenspezies), und Atome – assistiert dieser Diskussion der queeren Performativität von Natur.« (Barad 2015: 125) ›Dinge‹ aus Leben, viele andere Seinsweisen sind dabei. Anthro-Kolonialismus ist so verwurzelt, dass auch er das Wort mitprägt, das ihn überwinden will. Menschzentriertheit im Beginn des 3. Jahrtausends u. Z. mit rotobotischen Zukünften und Wahrnehmungshorizonten außerhalb menschlichen Tuns ist so verwurzelt, dass vielen Sapiens ihre eigene Art (ohne Biologismen ist es noch schwierig) neu ist, als nur eine von vielen in post- kolonialen Konstellationen. Überwindungen kolonialer Strukturen bedürfen Aller, die großteils als solche erkannt werden wollen. Plakativ: Wir leben in vielerlei Hinsicht im tiefsten Mittelalter. Denken wir präfix-kolonial, sind das oft Gefüge mit Mensch als Absolutum darin, wenn auch unbeabsichtigt: um ihn zentriert ist und wird die Welt politisiert, die Winde klimatisiert, das Wasser kolonisiert, die Idee der Gerechtigkeit geboren und die des Post-, und De-Kolonialen positioniert. Für solche Konstellative gilt, sich Gedanken zu machen, wie Anthropozän und Ding wechselwirken beziehungsweise, wie Dinge kontextuelle Verwicklungen von der Vergangenheit mit in die Gegenwart schleifen. Viel Neuland, dessen Ufer Perspektiven der Dingwerdung, hier aus Leben, anschwemmen. Zur Frage nach dem transformatorischen Potential, das Dingen eigen oder zugedacht ist: Dieses Potential ist groß, auch weil neu auszuloten ist, was Ding als Agens von Zusammenhängen bereits beeinflusst im Tun: Hinein gedingst ins Tetrapak, in die Kühltruhe, in stapelbare Trockenware, wie Pasta, zeigt Verdinglichung im Alltäglichsten, wie Dinge Richtungen und Formen von Weltgestaltung grundieren. Und wie selbstverständlich das scheint. Durch Dingwerdung fliegen in diesem Fall Tier und Pflanze aus der Bedeutungs- und Lebensvielfalt: Verdinglichtes Leben verstärkt
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Undine Stabrey Anthrozentriertheit. Indem Sapiens dadurch weniger dem Lebenkönnen nachgeht, Nahrungssuche, damit Töten, Kochen et cetera, indem Verdinglichung von Leben, etwa die menschliche Geruchswelt nicht einzig beeinflusst, sondern formt, können Dinge als Agenten, als Arten, dem derzeitigen Menschen (eine Art: die anderen sind ausgestorben) direkt verwandt, anerkannt werden. KI und Robotik (u.a. Nourbakhsh 2013) als aktuell neues und künftiges Dingkonstellativ formt und wird Mensch und Ding formen und dabei Teil des Anthropozäns sein. Das verdeutlicht, Dinge als und mit post-, de-kolonialen Konstellativen im Jetzt neu zu kartieren. À propos Robotik: Wie die Verdinglichung von Leben perspektiviert die Verlebendigung von Dingen die Frage nach präfix-kolonialen Sichtweisen. Fragt das Buch nach Strategien postkolonialen Denkens in Bezug auf Dinge für Gestaltungen des kommenden Bald (translating into futures), spricht einiges dafür, Dinge nicht mit Objektcharakter zu versehen. Im Abschied des Denkens im Dual verliert dieses Denken an Aktualität – zumindest im klassischen Sinn und für die Dingfrage in Bezug auf Subjekt und Objekt – und verabschiedet das langsame Schauen, was Dinge ermöglichen, wie sie agieren et cetera und anerkennt Dinge als Wesenheiten und menschliche Bedingung. Archäologische Dinge veranschaulichen das gleich aus anderer Sicht und antworten als Zeitreisende mit ihrer Anachronie von Bedeutungswegen, die erstaunlich lebendige Vorstellungen des Lebens ermöglichen: von Leben von vor Jahr(tausend) en. Wie geht das? Pasts into futures? Gesamthaft ist die Frage weniger »wie«, sondern »wer«. Ein Vortragsbeginn des Archäologen Thanassis Kalpaxis stelle ich vor das Konstellativ. Er berührt diesen Text nicht konkret, verdeutlicht latenterweise vielmehr Fragen nach Archiven »in« Dingen und dem »wer« ihrer Freilegungen. Das Zitat stammt aus dem Kontext des antiken Olympia in Griechenland. Die olympischen Spiele haben dort eine Wurzel, archäologische Großgrabungen wie eine Kunstgeschichte der Antike ebenso. Viele berühmte – kolonialverständlich auch hier: in der westlichen Welt – Skulpturen, die Du vielleicht spontan vor Augen hast, sind von Olympia (gängig zu schreiben wäre: kommen aus, stammen aus, sind in Olympia gefunden worden). Anlässlich der 125igen Jährung deutscher Grabung dort wurde getagt und publiziert, daraus genannter Textbeginn, der Danachfolgendes für sich selbst sprechend verortet: »Einführend sei uns gestattet, folgende Bemerkung in eigner Sache vorauszuschicken. Wir haben häufiger die Erfahrung gemacht, dass es nicht besonders vorteilhaft ist, als Grieche zu Themen Stellung zu beziehen, die mit der Präsenz und den Aktivitäten von ausländischen Archäologen und archäologischen Institutionen in Griechenland in Zusammenhang stehen. Wenn man es dennoch tut und dabei sogar die von diesen Institutionen als gültig akzeptierte Version der Vorträge in Zweifel zieht, sieht man sich fast automatisch dem Vorwurf ausgesetzt, sich dem jeweiligen Problem nicht in objektiver Weise angenähert zu haben. Noch konkreter gesagt, was man vorträgt, wird,
Weltfragment weil angeblich nationalistisch gefärbt, allzu voreilig als den Tatsachen nicht entsprechend abgetan. Wir möchten hier keineswegs bestreiten, dass dieser Vorwurf gegenüber manchen Untersuchungen zu Recht erhoben werden kann. Dabei handelt es sich allerdings in der Regel um Untersuchungen von eher populärwissenschaftlichem Charakter, deren Ergebnisse sich auf der Ebene politisch-moralischer Beurteilungen bewegen, was u. E. ohnehin ein Oxymoron darstellt. Unsere Absichten sind nicht von solcher Natur, d.h. wir haben nicht vor über Gut und Böse zu urteilen. Unser Interesse ist vollkommen anders gelagert und betrifft einzig und allein die Frage, welche in erster Linie die Methodik der Geschichtsschreibung berühren. Wir gehen davon aus, die Zustimmung des Lesers sofort zu erhalten, wenn wir, im Grunde Selbstverständliches behauptend, sagen, dass zur Erreichung des notwendigen Maßes an relativer Objektivität, welche bei jeder nach wissenschaftlichen Regeln entworfenen Darstellung eines geschichtlichen Vorganges gefordert wird, alle teilhabenden Akteure befragt und alle sonst einwirkenden Faktoren untersucht werden müssen. Zu welchen Fehlurteilen und zu welcher Verfälschung von Tatsachen die Missachtung dieses einfachen Grundprinzips führen kann, erkennt man sehr deutlich z.B. an älteren Werken zur Geschichte von Kolonialgebieten, welche alles an den Bedürfnissen und Erfahrungen der Kolonialmächte messen und ausschließlich aus diesen heraus zu erklären versuchen.« (Kalpaxis 2002: 19)
Archäofakte – Von Dingen in Archiven zu Archiven in Dingen Im Heute das Gestern von Morgen In einer a priori kolonial fundierten Wissenschaft ist die Frage: Wer macht(e) Archäologie? Zentral ebenso: Was tun Dinge? Archäofakte ermöglichen ziemlich große Sinngefüge: ob Texte, haptisch dreidimensional im Archiv von Ausstellungsmöglichkeiten, ob Museum oder Modell, Spielzeug oder Kalender. Faszinierend sind diese Sinngefüge aus archäologischer Sicht, weil betreffende Zeiten weit weg vom Jetzt und zugleich lebensweltlich nah rationalisiert sind. Wir können uns etwas vorstellen – sehen wir einen Stein, der Faustkeil genannt wird oder einen weißen Gipsmenschen, genannt Göttin – wegen dieser Sinngefüge. Im weitesten gilt: Archäologie macht Geschichte durch Dinge. In je gegenwartsspezifischer Weise (ver)mitteln Archäofakte über ihre kontingenten Reisen in Erkenntnis und Wahrnehmung Vorstellungen von Geschichte, beziehungsweise als Geschichte. Archäologisch schaffende Menschen helfen dabei. Sie machen mit aktuellem Denken plus Methodologie, beides meist mächtig historisch gewachsen, Zuordnungen. Das enthält das Archäofakt sowie im selben Ding die aktiv-intentionalen Seinskonstellationen vor Jahr(tausend)en, die trotz Wissen sehr fern sind. Archäofakte formen so Geschichte mit einer begrenzten Reichweite an Sinn (vgl.
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Undine Stabrey Kubler 1962: 1). Es entstehen Deutungspuzzle (je nach Kontext) von schöner, grausamer, deutungsgegenwartgetränkter … von lebensformender Struktur samt Ambivalenzen, die Erkenntnisreisen über Jahrtausende hinweg innewohnen. Für Alte Welten sind diese Formen oft mit der Idee: so war es mal als historisch oder in Wissenswelten als epistemologisch, verinnerlicht. Archäofakte sind Resultat der Archäologie, nicht der Kulturen, die diese erforscht. Der berühmte Fund – Was ist es? Wirklich antik? Besonderes? – wird durch Archäologie Teil der Alten Welt, Antike, Prähistorie, je nachdem. Wie das Ding in vormaschineller Zeit meist Handarbeit ist, ein Manufakt, oder gern ein Artefakt, so sind Zuschreibungen zu ehemaligem Sinn ebenfalls gemacht. Das Arte- in Artefakt etwa legt(e) weitreichende Betrachtungsweisen für viele mediterrane Funde nahe: nämlich sie als Kunst(handwerk) zu interpretieren. Diese Haltung verwissenschaftlichte Alte Kulturen vor allem Griechenlands und Italiens in einer Archäologie, der Klassischen Archäologie, deren Augenmerk ob dieser Deutungsgebilde dann lange ›Kunst‹ war. Konstellativ I denkt das Gemachte aus Leben, das maßgeblich Alltagswelten prägt und eben: macht; Archäofakt wiederum weist aufs Gemachte in Alten Welten und gleichermaßen oder eher mehr auf Wissenswelten, hier auf die archäologische Welt. Sie macht aus der Alten Welt Jahr(hundert/tausend)e später als Wissenschaft Bedeutung aus Nachträglichkeit. Die archäologische Welt gestaltet Alte Welten auch dadurch, dass diverse Wissenswelten ins Archäofakt eingelagert werden. Wissen, bedingt im Archäofakt, sind die Materialität unserer Vorstellungen von Alten Welten12. Entsprechend werden auch post-, und de-koloniale Weisen und Welten bedingt sein werden: Indem Archäofakte das Jetzt, das Bald, das kommende Gewesene mit ihrer anachronistischen Deutungsgegenwart füllen (vgl. Stabrey 2017a: 121-128); als Präsenz von Geschichte oder Geschichtetem und als das, was wir Zeit nennen, denken, fühlen, gestalten. Die alten Zeiten, die Deutungszeiten. Diese Anachronie kennzeichnet die Archive in Dingen. Auch in diesen Bewegungen übersetzten Archäofakte verschwundene Kontexte in Sinngefüge, die im Heute das Gestern von Morgen schaffen. In jeder Deutungsgegenwart (entsteht ein Gestern, Heute, Morgen). Das digitale Jetzt perspektiviert das Archiv im Ding, weil es postfaktisch ist. Die Aufmerksamkeit ums Postfaktische umreißt, was Archäologien im digitalen Jetzt und insgesamt Deutungsdynamiken betrifft: Das neue Machen als Geben im Gegebenen in Gefügen permanenter Veränderbarkeit:
Fuck Fakt. Facere – tun, machen. Der Deutungsraum von postfaktisch wurde 2016 schlagartig berühmt und als ›politisch‹ oder ›gefühlt‹ medialisiert. Die Benutzeroberfläche des Seins aber ist gesamthaft neu und »postfaktisch« Indiz dafür. Das Postfaktische veranschaulicht Unterschiede 12 | Zum Verhältnis Materie und Vorstellung vgl. Bachelard, L’eau et les Rêves. Essai sur l’imagination de la matière. 1942.
Weltfragment zur Vorsmartdingwelt temporal und tatsächlich. Ironischerweise stehen Fakten aber für Anderes. Sie kartieren Weltsein in wahr oder falsch oder gelten als objektiv. Ein Grund: Fakten stellen Wissen ins Statische – was Fakt ist gilt. Fakten erscheinen daher wie Gegebenes, sind selbstverständlich ›da‹, ›das ist faktisch so‹. Dergestalt bringt das Gemachte, als Hergestelltes, stets Kontingentes, gemäß der Machenden, Techniken und Sichtweisen ihrer Zeit, Daseinsformen zu Bedeutung. Fakten schaffen als Sinnunterlage des Seins von alltagsweltlich bis erkenntnistheoretisch Selbstverständnisse – wegen ihrer ›Objektivität‹. Ein unzeitgemäßes Denkgebäude. Da ironischerweise im Fakt das Gegebene und nicht das Gemachte gesehen wird, schwindet mit dieser Wahrnehmung das Befragen, was und wie überhaupt Gemachtes wird. Damit schwindet das Bedeuten von Selbstverständlichkeiten, die als ehemals Gemachtes ›für wahr‹ kursieren, selbstverständlicherweise. Das betrifft koloniale Weltbilder, die Antikewissen mitfundieren ebenfalls. Bruno Latour sagt: konsequenterweise sollte man niemals von Daten (›Gegebenem‹) reden, sondern von Fakten (›Gemachtem‹).13 Repeat: Als Zeitreisende sind Archäofakte mehrfach gemacht, in Entstehung und Gebrauch in jeweiligen Zeiten, in Deutungen von Wissenschaft, Öffentlichkeit …, in ihrer Präsenz. Der Wortort postfaktisch bewegt Bedingungen von Wissen mehr hin zu Bedingungen von Information: Postfaktisch verortet Sinnstiftungen des Jetzt außerhalb des Faktischen/Gemachten und macht so Bewegungen durch die Zeit als Wandel von Umdeutungen sichtbar. Lange waren Bedingungen von Wissen händisch, sie sind es noch. Ob Buch oder Smartheit – es ist Anfassen. Doch die Bewegungen (Zeit) mit den Bedingungen sind sehr andere, hin zu Bedingungen der Information. Körpernah mit Tendenz nach innen, erschließt Sapiens Raumzeitmaterialisierungen neu. Dabei ›geben‹ smarte Bedingungen Daten – siehe oben und vom Latein: dare, geben, daher Daten. Die Seinsgestaltung mit Daten ist weniger händisch im Sinn des Manufaktischen, so dinglich die gern immateriell (interessant: Buchli 2016) gefühlten Daten verfasst sind. Daten ermöglichen das Postfaktische als Denkbewegung. Zugleich bietet das Postfaktische Einblicke in Dingwelten, deren Gemachtheit uns immer ferner und damit aus ihrer Nachträglichkeit zum Schlüssel neuer Deutungswelten wird. Das Faktische ist anders begreifbar, entstehen die Deutungsmöglichkeiten der Datenwelt mittels zunehmendem Abstand zu ihrem Davor. Eine Datenwelt, die un/freiwillig (ge)geben wird: post- koloniale Daten? Im Gegebenen und zu Gebenden? Der Deutungsraum kehrt sich um: Von Dingen in Archiven zu Archiven in Dingen. Ist ein Archiv seiner Anlage nach ein Kollektiv (collection) an Dingen, vom epistemischen Raum zur kontingenten (oftmals Papier)lagerstätte (und oft text13 | Vgl. Latour [1993] 1996: 210. Bezeichnenderweise leben wir aber im Datenzeit-
alter. Tatsächlich werden Daten gegeben. Allerdings: Daten für Daten: quid pro quo. Daten sind schnell; das Gemachte verschwindet in smarten Datenbedingungen, darin und dahinter; deren Konstruktion ist auch gegeben, ihre Faktizität bleibt verborgen. Wir leben mit Datenmaschinen bzw. mit deren Oberfläche; eine Benutzeroberfläche, die das Jetzt temporiert, genannt Echtzeit.
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Undine Stabrey bezogen) und so gesehen eine Mehrheit 14, anerkenne ich das einzelne Ding als Archiv. Ein Archiv ›im‹ Ding ist eine Sinnsammlung. Alte Dinge sind nicht postfaktisch im Sinn von fast robotisch produziert, sondern oft manufaktisch, handgemacht, wie lange die Wissenschaft auch15. Ein Archäofakt also ist Sinnspeicher bestimmten Tuns, abgesehen von ehemaligen, ausgegrabenen, vergessenen, neu kontextualisierten … künftigen, nicht antizipierbaren Sinngebungen. Ein lebensnaheres Beispiel als Jahrtausendzeitmaschinen für einzelne Sinnspeicher ist der frische Bildrekord: Stichwort 450 000 000 Geld für einen Leonardo. Nur wenige Jahrzehnte anderer Deutungswelten trennen die kunstvolle Flachware vom Wert 45 Geld. Die Differenz von 7 Nullen ist eine Kürzestfassung der Archive wechselvollen Sinns des berühmten Speichers in Öl. Kontexte wandeln. Der Deutungswandel oft Jahrtausende selber Dinge zeigt das für Alten Welten. Begriff eine Ideenwelt von durch Donner entstandenen Steine als Donnerkeile, waren diese wenige Jahrhunderte später Flint/Feuersteine (vgl. Schnapp 2009: 42, 211 mit Bild). Archäologische Dinge übersetzen Denken und Weltbilder gespiegelt im Ding. Das Sinnarchiv ›im‹ Archäofakt wandelt in einer Archäologie Abwesendes (lebendiger Sinn vor Langem) in Anwesendes (aktuellerer Sinn, wie z.B. wissenschaftlicher). Das Dingarchiv der Archäologie, die Reichweite des Sinns im Archäofakt, reguliert Zeitproduktion. Das ermöglicht Erkenntnisreisen pasts into futures und, als Archiv, spiegelt ein Archäofakt den Umgang mit kolonialen Kontextualisationen (in) einer jeweiligen Gegenwart: Als archäologische Dinge überwinden Kulturreste Distanzen und bringen abwesende Zeiten durch das Bedeuten des Archivs im Ding gemeinsam mit Archäologinnen und Archäologen hervor. Hierin zeigt sich dann, welches Wissen je das Archäofakt formt bzw. nicht – mit Karen Barads und Thanassis Kalpaxis Ansätzen und Beobachtungen im Gedanken. Konkret geschieht das Bedeuten oft haptisch, etwa beim Ausgraben oder im Museum, indem ein Fund in Sinngefüge bewegt und auch so zum Archäofakt gemacht (factum) wird, weil Archäologie eine recht händische (vgl. Stabrey 2017a: Zum Manufaktischen: 123, 122f., 157, 189). Wissenschaft ist. Als Raumzeitreisende archivieren Archäofakte in vielen Zeitlichkeiten, die sie kennzeichnen, Handlungen. Fragt dies Buch nach Interdependenzen zwischen Ding und Archiv, danach, wie diese gehandhabt werden können, ist ein Impuls dazu: ja, gehandhabt! Das archäologische Archiv entsteht durch Raumzeitreisen in Handhabung. Damit konkretisiert weniger das post- die Eigenschaft der Dinge, Zeitmaschinen zu sein, als der Deutungswert des Faktischen. Als ein -post konkretisiert der Deutungswert Fakt das Jetzt: Menschen haben die Welt lange Zeiträume händisch gestaltet, sich dieserart gegenständlich eingerichtet. Die Menschheitsgeschichte ist großteils manufaktum. Damit unterscheidet sich Sapiens von anderen Kugelbewohnern. Auch das geht in präfix-koloniale Daseinsdeutungen ein: Welche Situationen spiegeln wir in Archäofakten? 14 | Siehe dazu Archivideen und -theoretisierungen in Ebeling/Günzel 2009. 15 | Dazu, die Wissenschaftsforschung: etwa Werke von H.-J. Rheinberger, K. Barad, S.J. Gould.
Weltfragment Die Gestaltung und Produktion möglicher Zeiten hängt vom Dingtun ab. Für eine Archäologie der Zukunft kommt zur Frage der Akteure, dem Wer – dem ›Wem gehören‹ – die Antiken hinzu: Wer macht wie welche Wissenschaft für wen und wem ›gehören‹ die jetzigen Dingmassen? Die Archäologie wird sich zum Beispiel dem Müll in kaum vorstellbaren Dimensionen widmen werden. Eine neue Archäologie entsteht, neue Deutungen. Nie war die Welt so dingbevölkert wie jetzt. Seit Jahren gibt es mehr Smartheiten als Menschen. Postkoloniale Strategien müssen für Umgangsweisen damit her. Werden bisherige ›Abhängigkeitsverhältnisse‹ diskursiv weiter festgeschrieben, bzw.: Wie sieht eine Dingdeutung samt einbezogener Crew im Barad’schen Sinne aus? Die Verdinglichung des Seins zeitlicht, was wir Zukunft nennen. Wurde einst aus einem Vogel aus einem tropischem Wald europäisches Wissen gemacht (Fakt), indem die Ordnung der Dinge die Klassifikation von Leben und Sozialität spiegelt(e), wandern die Archive in den Dingen in die Daten(dinge). Künftig steht in Frage, wie präfix-koloniale Daten die Welt und wie archäologische Daten als Postobjektepistemologien (virtuelle besser: atopische) Museen und andere Geschichtsmaschinen bevölkern werden. Das Wie und dabei die Gemachtheit der Daten, das Einbeziehen eines je aktuellen Denkbildes wie hier des post- in jeweilige Deutungen der Archive in Dingen, ist eine der großen Herausforderungen dabei. Die Voraussetzungen dafür sind in teils schöner Weise gegeben: Alte Welten in künftigen Simulationen sind von vornherein veränderbar – das Alte-Welt-Wissen ist als elastisch in Raum und Zeit gedacht. Geschichtemachen wird beweglich, Fakte können nicht mehr statisch sein (auch deshalb: post-faktisch). Dabei wandelt der Dingumgang selbst. Beides formt das Translating der Zeiten und die Deutungswelten des Bald. Ungeheure Dingmassen, ab Industrialisierung des Seins unantizipiert auf mögliche Dingmassenzeiten hervorbracht, treffen auf neue Dingmassen: Smartheiten, die unter vielem etwa sharing ermöglichen und damit andere Handlungen. »Die industrielle Revolution […] brachte eine Unmenge nutzloser oder kaum gebrauchter Maschinen hervor. Sie kommen nicht allzu oft zum Einsatz: Auto und Fahrrad sind häufiger geparkt als in Benutzung, die Kettensäge lagert die meiste Zeit in der Garage, der Pürierstab fristet sein Dasein in der Küche. Nichts spricht dagegen, diese Maschinen ständig und zum Nutzen der Mehrheit zu verwenden.« (Vgl. Serres 2018: 37)
Wie der Dingumgang mit jetzt alten Dingen oder mit bald alten Dingen auch wird: Auch die Archäologie begegnet mit neuen Dingmassen (Daten, 3D-Druck etc.) den skizzierten Post- Kolonialismen zum Nutzen der Mehrheit: Als menschnahe Arten und doch Andere perspektivieren Dinge sapientische Seinsweisen neu und geben sich mit dem Wer lebender Akteure die Hand. Die Crew Aller wird dadurch sichtbarer und anthrozentrische Kolonialismen vielleicht peripher. Auch für die Bildung Alter Welten – translating futures into pasts.
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Undine Stabrey
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Archive des Kolonialen Übersetzungen kulturellen Erbes im Tanz Marc Wagenbach
Übersetzungen kulturellen Erbes im Tanz am Beispiel von Robyn Orlins: »Oh Louis... «(2017) Was ist das koloniale Erbe im zeitgenössischen Tanz? Wie erinnern sich Menschen, individuell und gleichzeitig als Mitglied einer kulturellen, ethischen, religiösen oder sozialen Gruppe? Auf welches Wissen beziehen sie sich? Und was ist die Verbindung von kolonialer Macht, westlicher Hochkultur und Praktiken der Geschichtsschreibung? Diese Fragen hat sich die südafrikanische Choreografin Robyn Orlin gestellt, als sie sich gemeinsam mit dem französischen Tänzer und ehemaligen Solisten der Pariser Oper Benjamin Pech und dem Musiker Loris Barrucand in der Produktion »Oh Louis… we move from the ballroom to hell while we have to tell ourselves stories at night so that we can sleep…« (2017)1 der historischen Figur des absolutistischen Herrschers und Tänzers Ludwig des XIV. und der Geschichte eines (neo-) kolonialen Europas annäherte. In meinen folgenden Überlegungen soll anhand von Orlins choreographischer Arbeit der künstlerische Umgang mit Archiven des Kolonialen näher untersucht werden. Welche ästhetischen Praktiken der Übersetzung historischen Wissens lassen sich finden? Wie ist der Umgang mit kulturellem Gedächtnis (Assmann 1999) von Zuschauenden 1 | Ein Projekt von: Robyn Orlin, Bühnenbild: Atelier Maciej Fiszer, Projektleitung: Anouk Maugein, Lichtdesigner: Laïs Foult, Kostümdesigner: Olivier Bériot, Kostümassistenz: Studio Habeas Corpus, Video: Éric Perroys, Robyn Orlin, Film: Milkshoot, V ikram Gounassegarin, Organisation: Jean-Marc L’Hostis, Ton und Video: A rnaud Sallé, Produktion: Damien Valette, Assistenz Produktion: Marion Paul - Tanz: B enjamin Pech, Musik (Cembalon): Loris Barrucand - Production: City Theater and Dance Group - Damien Valette Prod. - Kooperation: Festival de danse (Cannes), Théâtre de la Ville (Paris), CNDC Angers, mit Unterstützung des CND - Centre n ational de la danse (Artist-in-Residence), DRAC Île-de-France/ministère de la Culture et de la Communication et de Kinneksbond, Centre Culturel de Mamer - Zusammenarbeit mit Théâtre de la Cité Internationale (Paris), Théâtre de la Ville (Paris). UA: 05.12.2017, Angers, Frankreich.
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Marc Wagenbach und Performern? Und was ist die räumliche und zeitliche Situiertheit von Archiven, d.h. von materiellen Trägern und deren performativen Interdependenzen? Denn nicht erst das Verständnis von Archiv als Prozess (Fohrmann 2002) und die Akzentuierung des Archivierens als Moment der Produktion (Von Bismarck 2002) situieren »Archiv« zu Beginn des 21. Jahrhunderts neu. Auch die Diskussion um die Weitergabe von Wissen im Tanz (Klein 2014; 2017) und die Verquickung von Tanzerbe mit Praktiken der Übersetzung des Vergangenen (Klein/Wagenbach 2014), stellen die Frage nach der Funktion von »lebendigen Archiven« (Siegmund 2010: 210) in den Vordergrund. So hat die Beschäftigung mit dem kulturellen Erbe im Tanz in den letzten Jahren Hochkonjunktur, was nicht nur Förderinitiativen wie Tanzfonds Erbe 2 beweisen, sondern auch die wissenschaftliche Debatte um die Begriffe Archiv - Erbe - Tanz (Büscher/Cramer 2016; Cramer 2014; Klein 2014, 2015, 2017; Thurner 2013; Wagenbach 2014). In meinen folgenden Überlegungen werde ich mich einerseits mit der Frage von »Körperarchiven« (Baxmann 2005; 2007) als »lebendige Archive« (Siegmund 2010: 172) im Rahmen eines kulturellen Gedächtnisses von Tanz auseinandersetzen.3 Andererseits setze ich mich mit materiellen und immateriellen Trägern von Erfahrung – Objekten oder Artefakten – auseinander, die als Archive des Verdrängten, des Nicht-Sichtbaren und Abwesenden, fungieren und auf kulturell verdrängte Wissensbestände verweisen können.4 Der erste Abschnitt zu Orlins Stück »Oh Louis...« thematisiert die Situiertheit meines eigenen Erinnerns und Forschens. Er beschäftigt sich mit der Frage von Wissensarchiven und den Praktiken des Erlebens, Schreibens und Deutens von Tanz. Wie erinnere ich mich? Und auf welche Wissensbestände greife ich in meinen Deutungen zurück? Im zweiten Teil, Archive des Kolonialen, reflektiere ich Fragen der künstlerischen Übersetzung kulturellen Erbes im Umgang mit Archiven des Verdrängten und Vergessenen. Abschießend werde ich nach der Übersetzung tän2 | Seit 2011 ist Tanzfonds Erbe eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes: »Die ästhetische und stilistische Vielfalt der Tanzszene in Deutschland ist das Ergebnis einer über hundertjährigen Entwicklung - der Weltruf von Künstlerpersönlichkeiten wie etwa Mary Wigman, Dore Hoyer, Tatjana Gsovsky, Rudolf Laban, William Forsythe oder Pina Bausch nahm seinen Ausgang von Wirkungsstätten des Tanzes in Deutschland. […] Vor diesem Hintergrund richtete die Kulturstiftung des Bundes 2011 einen Fonds für das kulturelle Erbe des Tanzes in Deutschland ein.« URL: http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/programme/tanzerbe/tanzerbe. html (letzter Zugriff: 03.06.2018); offizielle Website Tanzfonds Erbe: http://tanzfonds.de/home/ (letzter Zugriff: 03.06.2018). 3 | Es geht mir nicht um die Vorstellung des Tanzenden oder Aufführenden als
»korporales Gedächtnismedium« (Brinkmann 2013) sondern vielmehr um die Frage von Tanztraditionen als Symbol westlicher Hegemonie und Kolonialgeschichte.
4 | Geprägt sind meine Überlegungen zum Archiv in dieser Auseinandersetzung besonders von Dorota Sajewskas »Materialität des Leidens« (Sajewskas 2016: 344) und ihren Überlegungen zum polnischen Theater und Spuren kultureller Verdrängung in Bezug auf Traumata und Gewalt im Kontext der Shoa (Taylor 2003, Schneider 2011).
Archive des Kolonialen zerischen Erbes und der Konsequenz des eigenen Erlebens im Tanz im Spannungsfeld von Erinnerung, Identität und Archiv fragen.
Wissensarchive im Tanz. Zur Situiertheit der eigenen Erinnerung Das Beobachtungsprotokoll der Aufführung vom 16.12.2017 ist Ausgangspunkt meiner Analyse und der Frage nach der Situiertheit meines Erinnerns und den Praktiken der Übersetzung kulturellen Erbes bezogen auf Robyn Orlins Stück »Oh Louis… we move from the ballroom to hell while we have to tell ourselves stories at night so that we can sleep…«. Es wurde im Kontext des Forschungsprojektes: Bewegungen übersetzen. Tanzästhetische Transformationen und ihre medialen Rahmungen – Das Beispiel des ›afrikanischen Tanzes‹5 generiert und entstand zwischen 08.15 - 09.15 Uhr am Morgen des 17.12.2017 nach der Aufführung des Stückes am Théâtre de la Cité Internationale in Paris. Methodisch habe ich die Aufführung »transkribiert« (vgl. Jäger 2013) und als Ausgangspunkt für meine Analyse gewählt. Basierend auf meinen Erinnerungen an die Aufführung und ihre Atmosphären, Gerüche, den Luftzug im Theaterraum, die Aktionen und wahrgenommenen Reaktionen im Zuschauerraum, beschreibt mein Beobachtungsprotokoll das zu analysierende Stück. Ich habe bewusst diese Vorgehensweise (persönliche Erinnerung und schriftliches Beobachtungsprotokoll) gewählt, um mich einerseits als zuschauender Ko-Produzent des Stückes (vgl. Rancière 2010) auszuweisen: »so wie Schriftsteller ihr Leben als ›Stoff‹ oder Fotografen ihre Umwelt als ›Motiv‹ registrieren, sichten Ethnografen unter Schreibzwang ihr Feld unter dem A spekt‚ empirisches ›Material‹ sein zu können« (Hirschhauer 2001: 437). Andererseits, um auf das Nicht-Beschriebene, die Leerstellen im Kontext einer Verschriftlichung ästhetischen Erlebens hinzuweisen: eines Stillstellens der »Zeit«, die in einem Augenblick festgeschrieben wird und verharrt (vgl. Jäger 2012). Auch habe ich keine weitere Verifizierung des Erfahrenen – wie beispielsweise durch eine Videoaufzeichnung und Aufführungsanalyse des Stückes – hinzugefügt. Vielmehr ging es mir darum, die Instabilität und »Verletzlichkeit« der Praktiken der Dokumentationen ästhetischen Erlebens hervorzuheben und die Übersetzung ästhetischen Erlebens in Daten und deren anschließende Deutung als eine Generierung neuer Sinnzusammenhänge zu verstehen.
5 | Das Projekt: Bewegungen übersetzen. Tanzästhetische Transformationen und ihre medialen Rahmungen – Das Beispiel des ›afrikanischen Tanzes‹ ist ein Teilprojekt unter Leitung von Gabriele Klein im Rahmen des Forschungsverbundes Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformation. URL: https://www.bw.uni-hamburg. de/uebersetzen-und-rahmen/startseite.html (Letzter Zugriff: 03.06.2018).
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Marc Wagenbach Bezogen auf die Erstellung und Verarbeitung der Texte für diese Publikation, d.h. der Übersetzung des Performativen in Daten (Schäfer/Schindler 2017: 483)6 habe ich nur orthografische und grammatikalische Veränderungen des Beobachtungsprotokolls vorgenommen. Dies habe ich nicht getan, um eine Unveränderbarkeit und Authentizität eines Dokuments zu suggerieren, sondern viel mehr, um wiederum das Fragmentarische, Subjektive und Augenblickliche meiner Beobachtungen in Bezug auf das ephemere Ereignis Tanz zu betonen und dem Anschein einer, wie auch immer implizierten, wissenschaftlichen Objektivität oder Vollständigkeit in der Beschreibung und Deutung von Tanz entgegenzuwirken. Erinnern, d.h. in meinem Fall die Erinnerung an den Tanz als ein performatives Ereignis, ist ein Prozess, der sich stets neu ereignet: mit Brüchen, Verschiebungen, zeitlichen Rückbezügen, Überschreibungen und Fehlinterpretationen. Ein Prozess, der sich bestimmter Archive und ihrer situierten Materialien und Dinge bedient. Es ist eine Zone instabiler Sicherheit von Identitäten (Appadurai 2004). Für meine weiteren Untersuchungen habe ich mich dazu entschlossen, das gesamte Beobachtungsprotokoll der Aufführung vom 16.12.2018 anzuführen, um einen Einblick in die gesamte Vorstellung geben und mich tradierten akademischen Gewohnheiten des Redigierens und Optimierens im Sinne kanonisierten wissenschaftlichen Schreibens sowie Kürzungen entgegenzustellen. Es geht um die Beschreibung meiner Wahrnehmung von Welt, der Beschreibung eines ästhetischen Ereignisses.
Beobachtungsprotokoll Es geht direkt los, als ich den Zuschauerraum betrete. Der Tänzer, weiß, mittleren Alters, blaue Weste, rote Trainingshose, nackte Arme, spricht mit dem Publikum, während ich den Saal betrete. Apfelsinen liegen vereinzelt im Zuschauerraum auf Sitzen verteilt. Eine goldene Wärmefolie, die man normalerweise zum Wärmen unterkühlter Körper verwendet, ist über den gesamten Bühnenboden ausgelegt und reicht von den ersten Sitzen bis zu einem auf der Erde liegenden Bühnenzug in der Mitte der Bühne. Der Tänzer sitzt in der ersten Reihe und interagiert mit dem Publikum, das den Saal betritt. Er 6 | Vgl. Protokollieren als Übersetzungsprozess im Kontext sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion: »Eine intensive Reflexion der rhetorischen Strategien der Produktion von Argumenten und wissenschaftlicher Objektivität in der Ethnologie bzw. Anthropologie wurde durch die sogenannte Writing-Culture-Debatte ausgelöst (Clifford/Marcus 1986) [...] In Folge dieser »Krise der ethnografischen Repräsentation« (Berg/Fuchs 1993) geraten auch die rhetorischen Techniken der Konstruktion von Objektivität und Glaubwürdigkeit in ethnografischen Berichten genauer in den Blick. Als Ergebnis der Debatte bleibt vor allem festzuhalten, dass empirische Zitate und Verweise nicht »direkt« aus dem Feld stammen, sondern auf der Basis empirischer Spuren am Schreibtisch erstellt werden. Sie sind damit der sozialwissenschaftlichen Tätigkeit zuzurechnen, der Transformation bzw. Übersetzung von Geschehnissen in Daten, auch wenn sie im Forschungsprozess stark transformiert werden« (Schäfer/Schindler 2017: 482).
Archive des Kolonialen spricht Französisch. Es wird viel gelacht. Ich lache auch. Das Spiel hat begonnen. Ich komme mir vor wie auf einem Basar. Ich sitze 5. Reihe, mittig. Die Bühne ist mit Stoff schwarz ausgehängt. Licht im Zuschauerraum. Jeder sieht jeden und keiner weiß, wo sich die eigentliche Bühne befindet, auf der Bühne oder im Zuschauerraum. Einzelne Zuschauer machen Fotos vom Bühnenbild und dem Geschehen im Zuschauerraum. Drei Löwenballons mit dem Motiv von Walt Disneys König der Löwen sind auf der Bühne zu sehen. Zwei sind am linken und rechten Bühnenrand an der Folie befestigt, ein weiterer neben dem Tänzer. Eine runde Leinwand hängt leicht gekippt über dem Sitz des Tänzers, in der ersten Reihe an der Decke im Zuschauerraum befestigt. Während des gesamten Stücks sind hierauf Projektion einzelner Aktionen des Tänzers – das Raffen der Folie, einzelne Nahaufnahmen von Objekten sowie Aktionen – zu sehen; in Echtzeit, von einer an der Bühnendecke befestigten Kamera. Es ist immer noch unruhig im Raum. Der Tänzer spricht viel, ist witzig und will witzig sein. Unterhaltung am Samstagabend im Theatersaal der Cité Internationale Universitaire de Paris. Er verteilt Schokoladenstücke an die Zuschauer*innen und filmt sich fast fortwährend mit seinem I-Phone, das die Form eines Spiegels mit pinkfarbener Gadget-Umrahmung aus Plastik hat. Er sagt, er sei Ludwig der XIV. Ich kann ihn schlecht verstehen. Eine Zuschauerin wird auf die Bühne gebeten. Sie saß soeben noch neben dem Tänzer in der ersten Reihe. Die Zuschauerin geht ins Zentrum der Bühne, wo auf einem Hocker, ein Paar barocker, goldener Tanzschuhe mit hohem Absatz und langer Lasche stehen. Irgendwie hat sie Lust mitzumachen. Sie wird umgarnt vom Tänzer, der zu ihr sehr charmant ist, fast manipulativ. Sie steckt ihre Hände in die Schuhe und macht nach seinen Anweisungen die Positionen des Balletts nach. Sie hat keine Balletterfahrungen, glaube ich. Der Tänzer erklärt, wofür die Positionen stehen, wie sie gebildet werden. Alles von der ersten bis zur fünften Position. Ballettunterricht mit Objekten. Es wirkt komisch, wie sie die Schuhe mit ihren Händen zum Tanzen bringt. Alle Klatschen, wie bei einer Nummernrevue. Sie geht von der Bühne ab. Es gibt eine Zäsur. Der Tänzer erzählt nun von einer fiktiven Geschichte, um die es in diesem Stück gehen soll: um Ludwig XIV., der ohne Pass nach Afrika reist und zurück nach Europa will. Der narrative Rahmen ist gesetzt. Lichtwechsel. Der Bühnenraum wird verdunkelt. Ein Musiker schiebt - in Jeans, weißem T-Shirt, roten Kniestrümpfen, goldenen Schuhen, Brille und gelber Steppjacke bekleidet - ein Cembalo von links auf die Bühne. Die untere Seite des Barockinstrumentes wird durch eine Lampe angestrahlt. Das Cembalo steht auf einer Platte, die man bewegen kann. Auf ihr befinden sich Kissen und Steppjacken in mehreren Farben: in gelb, blau und rot. Der
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Marc Wagenbach Musiker spricht von einem »Artikel«, der das Verhalten von Sklaven regelt. Seine Stimme klingt durchdringend und klar. Die Stimmung veränderte sich. Er spielt Barockmusik. Der Spaß ist vorbei und geht gleichzeitig weiter. Das Publikum wird vom Tänzer nun gebeten, die auf manchen Sitzen im Zuschauerraum befindlichen Apfelsinen in die Hand zu nehmen: sie zu drücken, zu massieren, zu schälen und den Saft auszusaugen. Eine Apfelsine wie ein »Afrikaner«. Auf »Afrikanisch« zu essen, heißt diese vom weißen Tänzer an das europäische Publikum gestellte Aufgabe. Alles wird zeitgleich auf die Leinwand projiziert. Man drückt die Apfelsine, bis man eine schwache Stelle findet, drückt auf diese, beißt hinein und saugt das Fruchtfleisch, den Saft aus. Alle lachen. Irgendwie ist es ein ambivalenter Moment. Vor mir in der Reihe sitzt eine junge farbige Frau mit ihrem Freund, die bewusst die Apfelsine nicht so isst, wie vorgeschlagen. Beide lachen nicht. »J’adore«, sagt der weiße Tänzer. Das Bild der Live-Übertragung des Apfelsinenessens des Tänzers ist auf der Leinwand eingefroren. Der Musiker geht mit einer Schale - für die übergebliebenen Apfelsinenschalen - ins Publikum. Er gibt dem Tänzer weitere Apfelsinen, der einen kleinen Tanz damit macht, indem er die Apfelsinen zwischen seine Oberarme und den Oberkörper steckt. Die Atmosphäre im Raum verändert sich. Der Musiker spielt Barockmusik und der Tänzer geht zu dem auf dem Hocker stehenden Paar Goldschuhe. Er tanzt nun selbst mit den beiden Schuhen in seinen Händen klassische Formationen, die zeitgleich auf die runde Leinwand übertragen werden: goldene Schuhe in Großaufnahme. Er hält die Objekte zwischen seine Beine und macht einen kleinen Clubtanz, während er einen Orgasmus simuliert. Alles im Crescendo. Die Schuhe werden abgestellt und der Musiker rezitiert wieder einen Artikel des Code Noir, diesmal über die Zuordnung und Definition von Sklaven. Mittlerweile sitzt der Tänzer wieder auf seinem Sitz in der ersten Reihe und trinkt Apfelsinensaft aus einer Plastikflasche. »Der Kapitalismus ist der neue Kolonialismus« hört man den Musiker auf Französisch sagen. Es sind Projektionen einer Apfelsinenpresse in einem Hotel mit einer schwarzen Frau im Hintergrund zu sehen, die gerade den Boden wischt. Der Tänzer zeigt eine Reihe klassischer Bewegungssequenzen, alles unter dem Titel Royal, es ist eine virtuose Präsentation seines Ballettrepertoires. Gleichzeitig sieht man die Projektion eines Röntgenbildes eines Hüftschadens und das Bild des Tänzers während eines Schlussapplauses, alles mit Publikumsjubel und Goldkonfetti. Im Anschluss ein frontaler Partytanz auf seinem Sitzplatz in der ersten Zuschauerreihe: queer, alltäglich, ausgelassen, Gegensatz zum kodifizierten Bewegungsvokabular des Balletts. Wieder un-
Archive des Kolonialen terbrochen und kommentiert durch den Musiker und den rezitierten 3. Artikel des Code Noir, der den Katholizismus als Staatsreligion für Sklaven festlegt. Mittlerweile ist der Tänzer nur noch mit seiner roten Unterhose bekleidet. Man sieht seinen trainierten, muskulösen, dünnen, weißen Körper. Er geht auf die ausgebreitete Folie. Er legt sich auf den Rücken, überkreuzt seine ausgestreckten Beine, drapiert die Folie um sich und streckt seinen Hintern in Richtung der Zuschauer*innen, bevor er aufsteht und von dem Publikum einzelne Kleidungsstücke einsammelt. Er überzeugt sie, ihm Dinge zu geben: Jacken, Schals und Westen. Er zieht sie an, und hängt sie über seine ausgestreckten Arme, beschwert seinen Körper mit ihnen und tanzt. Die Jacken werden zurückgegeben. Wieder wird ein »Artikel« rezitiert. Mit seinem Smartphone als Spiegel in der Hand, filmt der Tänzer die Füße des Publikums auf der Suche nach ›seiner‹ Königin. Der Musiker spielt dazu Dancing Queen von ABBA auf dem Cembalo. Bald darauf findet der Tänzer einen älteren Herren im Zuschauerraum, den er auf die Bühne bringt und zu seiner »Königin« erklärt. Er rafft die Wärmefolie um die Hüften des Zuschauers und steckt Teile der Folie in seine Unterhose. Der Tänzer ist nun unter, neben und auf der Folie; er steht unter der Folie, während der Zuschauer auf der Bühne in seiner Position starr verharrt. Der ältere Herr als »Königin des Abends« genießt die Aufmerksamkeit des charmanten Performers. Zuletzt bekommt er einen Plastikring angeboten, den er aber sofort wieder abgeben muss. Der Tänzer nimmt einen der Löwenballons, filmt seine Füße und geht zum Musiker im hinteren Teil der Bühne: Licht- und Musikwechsel. Es folgt ein Duett des Tänzers mit dem – auf dem Cembalo serielle Musik spielenden – Musiker. Der Tänzer lehnt sich an den Rücken des Musikers. Das Cembalo wir gemeinsam verschoben. Ich höre eine Meeresbrandung vom Band und habe das Gefühl, dass sich alles ›verschiebt‹ und die Zeitlichkeit des Gesehenen sich verändert. Es entsteht ein Gefühl von Intimität, nicht nur ausgelöst durch die Lichtstimmung, sondern vor allem durch die Interaktion der beiden Performer auf der Bühne. Ich weiß gar nicht mehr genau, wann die goldene Wärmefolie am Bühnenzug hochgezogen und der Artikel über die angeordnete Ermordung der Sklaven bei auftretendem Fehlverhalten vom Musiker rezitiert wurde. Jedoch wirft der Tänzer, der hinter der aufsteigenden Folie steht ab einem bestimmten Moment die – zuerst unter dem Cembalo liegenden – zusammengenähten Steppjacken über den Bühnenzug auf die Folie, wie über einen Zaun, so dass sie die goldene Folie herunterrutschen. Die Folie rauscht, wenn sie sich bewegt, wie das Meer. Man sieht auf der runden Leinwand zuerst eine Aufnahme der goldenen Folie im blauen Licht, dann eine Projektion einer Plastik aus übergroßen, geöffneten Handschellen aus Stahl. Der Tänzer sammelt die auf die Folie über den Bühnenzug geworfenen Jacken ein und legt diese um sich, umschließt seinen Körper mit ihnen und
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Marc Wagenbach legt sie letztlich auf dem Stuhl in der ersten Reihe ab. Er geht von hinten unter die Folie, bis er wieder an seinem Platz in der ersten Reihe angekommen ist. Die gesamte Folie ist nun um seine Schultern und seinen Körper drapiert. Es sieht aus, als ob er einen großen, langen Mantel trägt, der den ganzen Bühnenraum umspannt und in Gold hüllt. Der Bühnenzug mit der goldenen Wärmefolie fällt mit einem lauten Aufprall, wie eine riesige Tsunami-Welle, auf den Bühnenboden. Ich spüre den Luftstoß in meinem Gesicht. Nach einer kurzen Zeit sieht man, wie der Tänzer, allein mit einem Tutu aus dem Material der goldenen Folie bekleidet, langsam unter ihr hervorkommt. Mit seinen Händen formt er, wie in einem Schattenspiel, zwei Schwanenköpfe, indem er die Handflächen mit dem Daumen zusammenlegt. Es erklingt Tschaikowskys Musik aus Schwanensee. Währenddessen beißen die beiden ›Fingerschwäne‹ wild aufeinander ein. Lichtwechsel. Der am Cembalo befestigte Löwenluftballon fliegt nach oben. Man sieht seinen Schatten auf der runden Projektionsleinwand, die von hinten angestrahlt wird. Am Ende schwingt der Musiker die Metallstange, den Bühnenzug, an dem immer noch die goldene Folie befestigt ist, in die Richtung des Publikums. Man hört das Geräusch, wie er sich auf die goldene Folie übergibt. Es wird dunkel: Blackout
Archive des Kolonialen »Die Pariser Oper ist der Mutterboden aller Helden des Tanzes«7
M.A. Baron/Lettres sur la Danse
»Es geht direkt los […]«, »Es wird viel gelacht. Ich lache auch. Das Spiel hat begonnen. Ich komme mir vor wie auf einem Basar. Viel Gelächter im Zuschauerraum«, Passagen aus dem Beobachtungsprotokoll, die die Stimmung zu Beginn des Stückes »Oh, Louis…we move from the ballroom to hell while we have to tell ourselves stories at night so that we can sleep...« von Robyn Orlin am 16.12.2017 beschreiben. Es ist eine Atmosphäre, die geprägt ist von euphorischem Lachen, Unruhe, der Interak7 | »Als M.A. Baron 1825 diesen Satz in seinen Lettres sur la Danse formulierte, galt die Pariser Oper tatsächlich als das europäische Mekka der Tanzkunst: Um den Musentempel im Herzen der französischen Hauptstadt kam niemand herum, der es als Tänzer zu etwas bringen wollte. Die Grundlage für den unbestrittenen Vorrang der Pariser Institution gegenüber allen konkurrierenden Häusern hatte gut einhundertfünfzig Jahre früher Ludwig XIV. gelegt. Kaum an der Macht, unterzeichnete er im März 1661 das Gründungsdekret der Académie Royale et la Danse« (Weickmann 2002: 188).
Archive des Kolonialen tion mit dem Publikum, von Gleichzeitigkeit, Tanztradition, Banalität, Hochkultur und Slapstik. Der Tänzer als Showmaster, König und Verführer in einer Person. Bereits im Vorfeld der Aufführung wird im Programmheft darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Tänzer um Benjamin Pech8, einen ehemaligen Étoile und Startänzer der Pariser Oper handelt. Selbst das nationale Fernsehen berichtet darüber.9 Er ist der Tänzer, der über 20 Jahre an der Pariser Oper getanzt hat, nun älter als 42 Jahre ist, damit aus dem Dienst entlassen wird und auch wegen seiner Hüftoperation nicht mehr weiter tanzen kann und unter großem Medienaufwand seinen Abschied am 20.02.2016 im Palais Garnier in Paris feierte.10 Pech symbolisiert mit seiner Geschichte als ehemaliges Mitglied der Pariser Oper: Startum, tänzerische Hochkultur des europäischen Adels und körperliche Deformation zugleich. Er ist das »Produkt« einer weltweit renommierten Kulturinstitution, Tänzerkult à la Taglioni oder Sylvie Guillem: nationales Erbe. Er, der weiße, europäische Mann, verkörpert den tanzenden, absolutistischen Sonnenkönig Ludwig XIV., Gründer der Académie Royale et la Danse, der Ballettschule der Pariser Oper, die auch Pech seit 1986 besuchte. Ludwig XIV. war aber auch der Verfasser des rassistischen Code Noir 11, der den Umgang mit Sklaven in den Kolonien des absolutistischen Frankreich des späten 17. Jahrhundert regelte: der König als Repräsentant von Tanztradition und Kolonialgeschichte gleichermaßen. Jedoch lässt sich diese Atmosphäre der »Unruhe«, des Lachens und inszenierten Tumults, auch als Kommentar gegenüber einer westlichen Hochkultur deuten. Humor als Gegenentwurf zur Seriosität eines institutionalisierten Ballettbetriebes. Verwirrung als Gegenspieler von Ordnung und Reinheit einer klassischen Form. Es sind Destabilisierungen der Vorstellungen von Professionalität im Tanz, Dekonstruktionen eines Feldes westlicher Hochkultur und seiner Praktiken der Rezeption. Nationale Institutionen, wie die Opéra National de Paris, produzieren Biografien von Tänzerinnen und Tänzer. Sie definieren das »korporale Kapital« und den Marktwert ihrer Mitglieder. Sie sozialisieren Körper, bestimmen Ballettmeister, pflegen Ballettschulen mit ihren spezifischen Trainings- und Aufführungspraktiken. Sie sind eine Produktionsstätte von Tanztradition, von kulturellem und sozialem Kapital. Das jahrzehntelange, tägliche Training definiert die korporale Identität ihrer Akteure 8 | Präsentation von Benjamin Pech als Tänzer der Pariser Oper und seine anschließende Definition des Étoile: https://www.youtube.com/ watch?v=6hBl4stTjPE; https://www.operadeparis.fr/artistes/benjamin-pech (Letzter Zugriff: 03.06.2018). 9 | Beitrag über das Stück: »Oh Louis...« auf TV5 Monde, https://www.youtube.com/ watch?v=A05DtQqYX1Y&sns=em (Letzter Zugriff: 03.06.2018). 10 | Biografischer Bezug während des Stückes wie z.B. Röntgenfotos der Hüfte oder Projektion der Applausvorstellung an der Pariser Oper.
11 | »Bien qu’imprégné du droit romain, le Code Noir est, en effet, un texte relevant d’un fait colonial esclavagiste ancré dans une ›modernité‹ qui donne une nouvelle sémantique à la nation de race.« (Nirort 2016: 7).
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Marc Wagenbach und ist, wie im Kontext des Balletts, Praktik einer Disziplinierung von Körpern, einer Kontrolle der Affekte. Institutionen wie diese definieren den akademisierten und professionalisierten Tanzkörper; einen Körper, der verbunden ist mit einer Vorstellung von Perfektion und Virtuosität, von Kontrolle – mit Eleganz, Grazie und Schönheit. Historisch wurde das Ballett als europäische Tanzpraxis im 15. Jahrhundert in Italien begründet, weiterentwickelt im 17. und 18. Jahrhundert am Hof Ludwig XIV. und im 19. Jahrhundert im bürgerlichen Paris und im zaristischen Russland. Es ist eine Tanztradition und ästhetische Praxis feudaler Fürsten sowie republikanischer Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen. Im Besonderen repräsentiert das »Ballett« jedoch – aus der Perspektive eines kolonialisierten Anderen12 – eine Praktik der Disziplinierung und Normierung 13 von Körpern. Es ist dieser kanonisierte, kodifizierte, weiße, westliche »Ballettkörper«, der ein Archiv des Kolonialen darstellt – einen Ort der Produktion des »Zivilisierten« (Elias 1997; Weickmann 2002), das im Gegensatz zu einem kolonialen Anderen steht. In »Oh Louis…« wird dieses korporale Archiv des Balletts zwischen Kolonialismus und Tanzgeschichte auf der Bühne inszeniert. Es wird der trainierte und in der Tradition der Pariser Oper sozialisierte Körper des weißen, männlichen Étoile, des Tänzers als König und Verführer – meiner Interpretation folgend – »ausgestellt« und als ein Symbol westlicher Tanzgeschichte und Hochkultur inszeniert: als Ort institutioneller Machteinschreibungen und Archiv eines weißen Europas.
Die Vergangenheit der Dinge Egal, ob es die goldene Wärmefolie ist, die den Bühnenboden vollständig bedeckt oder die Schuhe des Tänzers oder die Apfelsinen im Zuschauerraum oder die Schokolade, die an das Publikum verteilt wird oder das Smartphone des Tänzers oder die Ballons mit Löwenmotiven oder das Cembalo oder ein Plastikring – in diesem Stück werden Dinge (Miller 2005; 2010) zu Akteuren und Trägern von Narration. Sie beschreiben eine Geschichte des Anderen, des Nicht-Sichtbaren und Verdrängten, was sich exemplarisch an den über die goldene Folie geworfenen Steppjacken nachweisen lässt.
12 | Wie Robyn Olin beispielsweise in ihrem Stück: »Daddy, we have seen this piece
six time before and I still don’t know why they hurting each other…« (1999) im Rahmen der Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen in Südafrikas nach der Apartheid thematisiert hat, repräsentiert die europäische Tanztradition des Balletts, aus der Perspektive eines kolonisierten Anderen, eine Ästhetik europäischer Kolonisatoren.
13 | In ihrer Arbeit: »Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580-1870)« verweist Dorion Weickmann mit Bezug auf Elias’ »Prozeß der Zivilisation« (1939) und Foucaults »Geschichte der Sexualität« (1976) auf die zivilisationsgeschichtliche Bedeutung des Balletts: »als Teil des Zivilisationsprozesses im Sinne einer zunehmenden Disziplinierung des Körpers wie der Sinne« (Weickmann 2002: 13).
Archive des Kolonialen »Ich weiß gar nicht mehr genau, wann die goldene Wärmefolie am Bühnenzug hochgezogen und der Artikel über die angeordnete Ermordung der Sklaven bei auftretendem Fehlverhalten vom Musiker rezitiert wurde. Jedoch wirft der Tänzer, der hinter der aufsteigenden Folien steht, ab einem bestimmten Moment, die – zuerst unter dem Cembalo liegenden – zusammengenähten Steppjacken über den Bühnenzug auf die Folie, wie über einen Zaun, so dass sie die goldene Folien herunterrutschen.«14
Das Motiv »Jacken«, die der Tänzer zuerst vom Publikum einsammelte, die er anzog und mit denen er tanzte, wird in dieser Passage weiterentwickelt. Die Situiertheit der Dinge, Themen und Aktionen auf der Bühne – das über eine Wand/Zaun/Grenze Herüberwollen (Thema), die Ermordung der Sklaven (gesprochener Text, Videoprojektion), das Meeresrauschen (Sound vom Tonband), die goldene Wärmefolie (Materialität), das Herunterrutschen der Steppjacken auf der Folie (Choreografie der Dinge), die rauschende Folie (live produzierter Sound), die aneinander genähte Steppjacken in mehreren Farben (Choreografie der Dinge/Materialität), die Steppjacken, die aussehen wie Rettungswesten (Materialität) – produziert in ihrer räumlichen und zeitlichen Erscheinung eine Narration einer über das Mittelmeer geflüchteten und ertrunkenen Person. So findet an dieser Stelle im Stück eine Übersetzung kolonialer europäischer Ausbeutung und Flucht bezogen auf ein neue, (neo-)koloniale Realität statt. Das Ding »Steppjacke« wird zum Objekt eines Verlustes, zu einem Symbol des oder der Abwesenden, das die unbekannten Geschichten Geflüchteter repräsentiert. »Der Tänzer sammelt die, auf die Folie über den Bühnenzug geworfenen Jacken ein und legt diese um sich, umschließt seinen Körper mit ihnen, und legt sie letztlich auf dem Stuhl in der ersten Reihe ab.«15 Es ist ein fast intimer Moment der Trauer, der die Vergangenheit der abwesenden Akteure gegenwärtig werden lässt und ihre Flucht über das »goldene Meer« (d.h. die »goldene Folie«) sichtbar macht – eine ethische Aufforderung der Realisierung ihres Leides. Somit macht das Stück an dieser Stelle ein Archiv des Verdrängten sichtbar, das – für Europäer – im kollektiven Gedächtnis 16 (Assmann 1999: 19) nicht existiert: die Geschichten und Biografien der im Mittelmeer ertrunkenen Geflüchteten.
14 | Beobachtungsprotokoll vom 16.12.2017. 15 | Ebd. 16 | »Dies Gedächtnis setzt sich nicht einfach fort, es muß immer neu ausgehandelt,
etabliert, vermittelt und angeeignet werden. Individuen und Kulturen bauen ihr Gedächtnis interaktiv durch Kommunikation in Sprache, Bildern und rituellen Wiederholungen. Beide, Individuen und Kulturen, organisieren ihr Gedächtnis mit Hilfe externer Speichermedien und kultureller Praktiken. Ohne diese läßt sich kein generationenund epochenübergreifendes Gedächtnis aufbauen […].« (Assmann 1999: 19)
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Marc Wagenbach Von Schwänen und dem Ertrinken. Zur Situiertheit des Ästhetischen Während der Musiker Loris Barrucand17 im gesamten Stück einen kritischen Kommentator des Geschehens darstellt, der die einzelnen Artikel des Code Noir rezitiert und sich dem »unterhaltsamen Spiel« entzieht, ist der Tänzer als König es, der das heitere Divertissement auf der Bühne leitet und initiiert. Am Ende des Stück fährt nach dem Aufprall der »goldenen Folie« auf den Bühnenboden das Stück mit Tschaikowskys Musik aus dem Ballett Schwanensee fort – ein finaler Kommentar bezogen auf eine europäische Tanztradition. Zu sehen sind – im Fingerspiel des nur mit einem goldenen Tutu aus dem Material der Wärmefolie bekleideten Tänzers – zwei sich neidisch bekämpfende Schwäne. Der »weiße« Schwan, Inbegriffe des romanischen Balletts18, wird hier vom »weißen« Tänzer als ein degeneriertes, neurotisches und aggressives Tier gezeigt. Im Kontext der Dramaturgie des Stückes ist der, den Schwan verkörpernde Balletttänzer, zu einem Sinnbild einer europäischen Hochkultur geworden, die in Anbetracht der (neo-) kolonialen und humanitären Katastrophe, der im »Meer aus Gold« ertrinkenden Menschen, ihren Sinn und ihre Bedeutung verloren hat. Zusammenfassend verfolgt das Stück folgende Punkte im Rahmen de-kolonialer Praktiken: 1. Nicht nur auf einer thematischen Ebene (Ludwig des XIV.) werden Tanzgeschichte und Kolonialgeschichte (Code Noir) zusammengeführt, sondern auch durch den Gebrauch von Objekten und Dingen (z.B. Steppjacken und Folien) neu Narrationen etabliert, die durch ein komplexes, heterogenes Netzwerk performativer Praktiken und Relationen auf der Bühne produziert werden und Geschichten des Abwesenden (»silent history«) beschreiben, die koloniale Strukturen und Machtverhältnisse aufzeigen und destabilisieren. 2. Es werden neue Sehgewohnheiten produziert, die Momente der Instabilität und des Unwohlseins auf Seiten der Zuschauer*innen produzieren, die die Beziehung zwischen dem kulturell »Eigenen« und »Anderen« neu definieren. 3. Ferner wird das Selbstverständnis eines humanen Europas durch die Konfrontation mit dem neu situierten ›kulturell Eigenen‹, d.h. dem Vorhandensein neokolonialer Bezüge, problematisiert und infrage gestellt. 17 | Biografie von Loris Barrucand, https://www.jeunes-talents.org/musiciens/743/ Loris-Barrucand (Letzter Zugriff: 03.06.2018).
18 | Als Abgrenzung zum »schwarzen Schwan« (3. Akt) der im romantischen Ballett
Schwanensee das dämonisierte - auch koloniale »schwarze Andere« - in dem Fall das Zerrbild der »schwarzen Odette« - symbolisiert.
Archive des Kolonialen Das Stück Oh Louis…we move from the ballroom to hell while we have to tell ourselves stories at night so that we can sleep… handelt von Tanz- und Kolonialgeschichte. Ausgehend von der Figur Ludwig des XIV. übersetzt es das Vergangene in einen (neo-) kolonialen Kontext, in dem es Archive des Verdrängten und Kolonialen sichtbar macht und nach der Beziehung des Ästhetischen zum Ethischen fragt. Es reflektiert westliche Identitäten und ein kollektives Selbstverständnis europäischer Hochkultur mit ihren hegemonialen Ansprüchen und stellt eurozentrische Praktiken der Selbstvergewisserung von Geschichte infrage, indem es Zonen der Ambivalenz und Instabilität produziert. Es ist das europäische Selbstverständnis eines als »tradierungswürdig« und »wertvoll« definierten kulturellen Erbes, d.h. einer beschriebenen künstlerischen »Leistung«, die im Gegensatz zu dem »Nicht-Überlieferten«, Marginalisierten und kolonialisierten Anderen steht. Das Stück verdeutlich, dass bereits der Akt »Geschichte zu haben« – »Teil einer bedeutenden Tradition zu sein«, etwas »zu erben« – ein fundamentaler Bestandteil und eine affirmative Praktik in der Reproduktion des autopoetischen und selbstreferentiellen Feldes des europäischen Bühnentanzes darstellt. Ein Tanzerbe – und das beziehe ich nicht nur auf den Bereich des Balletts, sondern auf alle tradierten Tanztechniken im Kontext westlicher Hochkultur – das Identitäten von Tänzer*innen, Institutionen und Gruppen produziert. Tanzgeschichtsschreibung und die Praktiken der korporalen Tradierung eines Tanzerbes sind ein kulturelles Kapital, das eine Praktik der Affirmation und folglich des Machterhalts westlicher Hochkultur darstellt.19 Aufgrund dieser Wichtigkeit der Praktiken der Geschichtsschreibung und des Schreibens über Tanz im Kontext der Affirmation und Reproduktion kolonialer Machtstrukturen, ist es mir wichtig, meine eigene wissenschaftliche Praxis zu verorten und auch Grenzen meiner Vorgehensweise aufzuzeigen. Ich habe versucht, mich dem Stück über ein Beobachtungprotokoll zu nähern – ein subjektiver und auch einseitiger Ansatz, der ein gewisses »Verhaftet-Sein« in der eigenen Erinnerung mit sich bringt. Jedoch macht gerade diese methodische Vorgehensweise deutlich, dass zur Erforschung des Nicht-Gesagten, des Unausgesprochenen und Atmosphärischen, das eigene Gefühl als Seismograf des Erlebten nutzbar gemacht werden kann, um Archive des Verdrängten aufzudecken und sie zu beschreiben. Es ist die Frage nach dem
19 | »Verteidiger des europäischen Anspruchs auf die Moderne berufen sich ge-
wöhnlich auf die kulturelle Geschichte der alten hellenisch-römischen Welt und auf die Welt des Mittelmeers vor der Existenz Amerikas, um ihren exklusiven Anspruch darauf zu legitimieren. An diesem Argument ist kurios, dass es erstens unterschlägt, dass der tatsächlich entwickelte Teil dieser Welt des Mittelmeerraums islamisch- jüdisch war. Zweitens war es in dieser Welt, in der das griechisch-römische Erbe, die Städte, der Handel, die handelsorientierte Landwirtschaft, der Bergbau, das Textilhandwerk, die Philosophie und die Geschichte bewahrt wurden, während das zukünftige Westeuropa von Feudalismus und kulturelle Obskurantismus beherrscht war« (Quijano 2016: 50).
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Marc Wagenbach kolonialen Erbe im zeitgenössischen Tanz, der ich mich versucht habe, mit dieser Vorgehensweise zu nähern: der Übersetzung meines kulturellen Erbes.
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Epistemisch Ungehorsam sein – Zur Dekolonialisierung von Designdiskursen Mara Recklies
Hintergrund Die Grundlagen westlicher Disziplinen kolonialkritisch zu reflektieren ist eine Notwendigkeit, der seit einigen Jahrzehnten immer größere Aufmerksamkeit zuteilwird. Am meisten sicherlich durch die Postcolonial Studies, jedoch auch durch andere Fächer und Diskurse, wie z.B. die in der Soziologie virulente Diskussion über kosmopolitisches Denken und kosmopolitische Wissenschaft (vgl. Köhler 2007: 68). So betonen etwa der Soziologe Ulrich Beck und der Politikwissenschaftler Edgar Grande, dass das akademische Selbstverständnis, wertfrei zu arbeiten und sich auf objektive wissenschaftliche Grundlagen zu beziehen, sich in einem Widerspruch zu der »implizit existierenden Parteilichkeit« (Beck/Grande 2010: 208) befindet, berücksichtigt man die historischen Umstände, unter denen die westlichen Denker in der Vergangenheit die akademischen Fundamente schufen. Auch wenn ihr universalistischer Anspruch es nicht vermuten lässt, beruhen die Theorien der Moderne auf einem »begrenzten Spektrum frühmoderner, nationaler Erfahrungen« (ebd.: 189), die vor dem Hintergrund politischer Herrschaft und ökonomischer Aneignung von Territorien, ihren Ressourcen und ihrer Bevölkerungen gemacht wurden. Die imperialen Verhältnisse, unter denen sich die modernen Wissenschaften und Disziplinen formierten, prägen sie bis heute. Besonders deutlich wird dies in lateinamerikanischen dekolonialen Diskursen artikuliert, in welchen die ganze westliche Episteme im Sinne des peruanischen Soziologen Aníbal Quijano als ›kolonial‹ bezeichnet wird (vgl. Quijano 2005: 263). ›Kolonial‹ meint dabei die strukturelle Reproduktion »kolonialistischer Muster in Ökonomie, Politik und Kultur auch nach und jenseits kolonialer Herrschaft« (Waibel/ Kastner 2012: 11), die bis in die Gegenwart zwischenmenschliche Kommunikation, soziale Ordnungen oder das Denken und Wahrnehmen überhaupt bestimmen (ebd.: 19). Diese Kritik an der über Jahrhunderte reproduzierten Kolonialität geht einher mit einer fundamentalen Modernekritik, in der Moderne und Kolonialität nicht als voneinander unabhängig oder aufeinanderfolgend betrachtet werden, sondern vielmehr als sich bedingende Komponenten (vgl. Rath 2014: 99).
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Mara Recklies Wie verhält es sich mit solch einer kritischen Überprüfung im Design? Verglichen mit anderen Disziplinen erwachte das Interesse an kolonialkritischen Perspektiven und Praktiken hier verhältnismäßig spät. Dabei sind sie besonders im Design spannend, da sie zwei Ebenen betreffen, die jedoch miteinander verknüpft sind. Die eine ist die praktische Ebene, also die Entwurfspraxis sowie die mit ihr korrespondierende Fertigung und Distribution von Gütern, ihr Verkauf, ihre Nutzung und Entsorgung. Die zweite Ebene ist die theoretische Auseinandersetzung mit Design, wie sie in den Designwissenschaften, der Designtheorie und -forschung oder etwa der Philosophie des Designs stattfindet. In ihren Diskursen wird noch immer mit Theoremen operiert, deren Fundamente in der Zeit des Spätkolonialismus geschaffen wurden – was nicht zwingend in jeder Hinsicht ein Problem darstellen würde, würden sie mit Bedacht gehandhabt werden und wäre ein Bewusstsein für das geschaffen, was sich in ihnen fortschreibt. Zwar wurden die historischen Entstehungsbedingungen bestimmter Grundannahmen bereits in einigen Untersuchungen kritisch reflektiert, jedoch scheinen, gerade im deutschsprachigen Raum, noch gewisse Hemmungen zu existieren, sich dezidiert der Kolononialität des Designs zu widmen. Zugleich scheint mir jedoch auch, als häufen sich in den letzten Jahren Indizien dafür, dass sich dies bald ändern könnte. Nicht nur Konferenzen1, sondern auch einige Publikationen und die Gründung der Forschungsgruppe Decolonizing Design im Jahr 2016 widmen sich zum Beispiel der Verschränkung von Design und Kolonialität oder der Dekolonialisierung von Design (Vgl. Kalantidou/Fry 2014, Design Philosophy Papers, Volume 15, Issue 1, 2017, Design and Culture Vol. 10, 2018).
Epistemischer Ungehorsam In diesem Aufsatz möchte ich nicht bestimmte koloniale Praktiken des Designs in den Mittelpunkt stellen, sondern die Wissenskultur des Designs (vgl. Mareis 2011), die Episteme. Denn nicht zuletzt sie bedingte die Vorstellung sowie das (Selbst-)Verständnis von Design als Disziplin, die auf der Grundlage rationaler Prinzipien Funktionales, Neues und Innovatives entwirft und damit zu menschlichem Fortschritt und globaler Entwicklung beiträgt. Besonders interessant werden die Überlegungen zur Episteme jedoch im Hinblick auf eine Forderung des argentinischen Literaturwissen1 | So etwa die Konferenz Beyond Change. Questioning the Role of Design in Times
of Global Transformations des Swiss Design Network (FHNW Academy of Art and Design in Basel, 8.-10.3.2018) oder das von Decolonizing Design veranstaltete Symposium Intersectional Perspectives on Design, Politics and Power an der School of Arts and Communication, (Malmö University, Sweden 14-15 November 2016). Des Weiteren waren Luiza Prado und Pedro Oliviera für Decolonizing Design Gast auf der Jahrestagung Situated in Translation: Global Media and Cultural Practices unseres Forschungsverbunds und hielten dort einen Vortrag mit dem Titel All Design is Situated. Design, Politics and Power (Hochschule für bildende Künste, 18-20.05.2017). Hierfür sei ihnen an dieser Stelle noch einmal mein herzlicher Dank ausgesprochen.
Dekolonialisierung von Designdiskursen schaftlers Walter Mignolo.2 In seiner Schrift Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität setzt dieser sich mit der Kontrolle und Herrschaft des Doppelgespanns Moderne/ Kolonialität über sämtliche Wissens- und Erkenntnisformen auseinander. Wobei sein Fokus nicht allein auf der Epistemologie liegt, sondern auch auf der Vereinnahmung der Hermeneutik (dem Verstehen) und der aisthesis (der Wahrnehmung) durch den Westen, die er als die drei tragenden Stützen einer »kolonialen Matrix der Macht« (Mignolo 2012: 49) identifiziert, die sich bis in die Gegenwart reproduziert. Am Beispiel der aisthesis bedeutet das etwa, dass sie durch die Vereinnahmung des imperialen Denkens im 18. Jahrhundert in ein »Gefühl des Schönen und Erhabenen« verwandelt worden ist, wobei das Erhabene zunehmend in den Hintergrund rückte, bis das Schöne sich letztlich in einer Ästhetik totalisierte, »die auf den okzidentalen Begriff der Kunst beschränkt blieb« (Mignolo 2012: 50). Die Einführung strikter Prinzipien, die festlegten was schön und erhaben ist, was funktionell und was nutzlos ist, mündeten schließlich in den normativen westlichen Vorstellungen eines kultivierten Geschmacks, »always othering anything that fell through the coarse sieve of the normative Western/ Northern aesthetics while presenting its local affective experience as universal.« (Tlostanova 2017: 8, vgl. Sondegger 2016, Leeb/ Sonderegger 2016 als auch Gikandi 2011).3 Um der kolonialen Matrix der Macht Widerstand zu leisten, fordert Mignolo zu einem epistemischen Ungehorsam auf, der mehr als ein erkenntnistheoretisches Unterfangen ist, das sich gegen akademische Diskurse richtet. Nämlich ein Ungehorsam, der die etablierten »Regelsysteme und Begründungszusammenhänge und deren machtbasierten Gültigkeiten« (Waibel/ Kastner 2012: 7) hinterfragt und sich damit auch gegen das alltägliche und in gesellschaftlichen Institutionen verankerte, eurozentristische Denken richtet. Wahrheit soll dezentralisiert werden, was in Mignolos Diktum »man ist, von wo aus man denkt« Ausdruck findet, welches er dem 2 | Auf Mignolo nimmt in der vorliegenden Publikation auch der Beitrag von Marie Kirchner Bezug. Vgl. S.33 3 | Vor dem Hintergrund, dass es gegenwärtig im deutschsprachigen Raum erste Bestrebungen gibt, Grundzüge einer Designästhetik herauszuarbeiten, hoffe ich, dass auch die Geschichtlichkeit der Ästhetik in ihr Berücksichtigung finden wird. Weisen doch einige Stimmen, wie etwa die der postkolonialen feministischen Denkerin Madina Tlostanova, die Ästhetik des Designs bereits als kolonial in dem Sinne aus, dass sie von Beginn an universalistisch und homogenisierend war, indem sie starre ästhetische Prinzipien vorschrieb und andere ablehnte (Tlostanova 2017: 3). Beispiele liefern Design- und Gestaltungsmanifeste vom Bauhaus über den Funktionalismus bis hin zu ästhetischen Trends und Gestaltungsprinzipien der Gegenwart, wie den Minimalismus. (Vgl. zur gegenwärtigen Debatte um Designästhetik Feige 2018, als auch Neuhaus/Ruf 2019 i.V.). (Siehe zum Stand der Designästhetik die kommende transdisziplinäre Tagung Designästhetik. Theorie und soziale Praxis im Arp-Museum Bahnhof Rolandseck, 14./15. Juni 2018 ebenso wie das Panel: Das ist Designästhetik! bei dem Kongress Das ist Ästhetik der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, Februar 2018).
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Mara Recklies westlich cartesischen »Ich denke, also bin ich«4 gegenübergestellt (vg. Mignolo 2012: 122). Diese Dezentralisierung ist es auch, die den epistemischen Ungehorsam zu einem Grenzdenken werden lässt, das eine »Grenzepistemologie« bildet, welche die »Entkopplung« (Mignolo 2012: 67) von den okzidentalen Grundlagen des modernen Denkens ermöglichen soll.5 Dabei steht jedoch kein »ontologisches Außen« oder gar eine »von der Moderne unberührte Reinheit« im Mittelpunkt des Grenzdenkens, sondern eher eine »Exteriorität, die als Differenz und Dissens zum hegemonialen Diskurs gedacht ist« (Waibel/ Kastner 2012: 15).
Das Archiv Wie aber ließe sich dieses Modell des epistemischen Ungehorsams auf Design – oder präziser – die Theorie und Philosophie des Designs übertragen? Dieser Aufsatz leistet fraglos keinen epistemischen Ungehorsam. Sondern er ist der Versuch zu skizzieren, was der Gegenstand eines epistemischen Ungehorsams im Design überhaupt sein könnte. Dabei beziehe ich mich nicht allein auf Mignolos Begriff der Episteme, sondern auch auf den von Foucault. Was Foucault in der Archäologie des Wissens (Foucault 1981: 187) als das Archiv beschreibt, kann in diesem Zusammenhang als nahezu äquivalent mit der Episteme betrachtet werden.6 Denn das Archiv bezeichnet, wie auch die Episteme, eine Art »›höhere‹ Einheit« (Frank 2004: 146), aus der die Diskurse entspringen und die festlegt, was in ihnen gesagt und gedacht werden kann und was nicht. Das Archiv steht also immer »an der Wurzel der Aussagen« und definiert dadurch im Vorweg »das System ihrer Aussagbarkeit«. Foucault bezeichnet es daher auch als »das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen.« (Foucault 1981: 188). Diskursive Formationen können erst durch die Berücksichtigung der Episteme bzw. des Archivs kontextualisiert werden, da diese ihre »Existenzbedingungen« (Foucault 1981: 43) festlegten. Epistemischer Ungehorsam im Sinne Mignolos bedeutet demnach nicht allein die Dekolonialisierung von Diskursen, sondern kann sich nur unter Berücksichtigung ihres kolonial geprägten Ursprungs vollziehen. Obwohl kürzlich in einigen philosophischen Untersuchungen von Design betont wurde, dass es nur im Hinblick auf die modernen Diskurse verstanden werden kann, aus denen es hervorging (vgl. Feige 2018: 41ff, 86ff. als auch Parsons 2016: 54ff.), werden die modernen Designdiskurse oft zu isoliert betrachtet und analysiert. Das koloniale Archiv, das ihre Existenzbedingungen bestimmt hat, findet kaum Berücksichtigung. Doch dass die Moderne – und mit ihr einhergehend der Modernismus 4 | Auch formuliert Mignolo an anderer Stelle ein Diktum, dass die Dezentralisierung
der Ästhetik zum Ziel hat: »Man ist und fühlt, von wo aus man ist« (Mignolo 2012: 99).
5 | Hier bezieht sich Mignolo ebenfalls auf Quijano (vgl. Mignolo 2012: 52). 6 | Vgl. zum Begriff der Episteme und des Archivs bei Foucault: Frank 2004: 145f., wo es unter anderem heißt, das Archiv sei ein Konzept, welches die Episteme aus Foucaults Die Ordnung der Dinge ablöst.
Dekolonialisierung von Designdiskursen – Formationen sind, deren Entwicklungen und Weltanschauungen ohne den Kolonialismus, die Herrschaft über andere Völker, ihre Unterdrückung und Ausbeutung, nicht denkbar gewesen wären, bedeutet in aller Konsequenz, dass Design nicht nur vor dem Hintergrund der Industrialisierung und dem Erstarken des Kapitalismus verstanden werden kann, sondern dass es ebenso eine Berücksichtigung des Kolonialismus und der imperialistischen Weltanschauung braucht, die seine grundlegenden Überzeugungen, Praktiken und modi operandi konstituierten. Zugleich verweist die Notwendigkeit, sich des Archivs der Designdiskurse bewusst zu werden darauf, dass es bei der Dekolonialisierung nicht wie manchmal angenommen um eine Dekolonialisierung der Kolonialisierten geht, »sondern auch (und vielleicht grundsätzlich) um die Dekolonialisierung der Kolonialisatoren« (Mignolo 2012: 65). Die Dekolonialisierung ist also eine »doppelte Tätigkeit« (ebd.: 77), welche nicht nur die Unterdrückten, sondern auch die Eliten betrifft, die bislang eine »epistemische Privilegierung« (ebd.: 78) genossen haben.
Die Ismen Bevor ich jedoch auf tiefer auf die epistemische Kolonialität des Designs eingehe, möchte ich zunächst möglichen begrifflichen Unklarheiten vorbeugen. Die divergierenden Designbegriffe erschweren es nämlich enorm, ohne eine terminologische Klärung, von der Kolonialität des Designs oder seiner Wissenskultur zu sprechen. Denn Design kann als Form zwei- und dreidimensionaler Gestaltung von Dingen, oder als »ästhetische Praxis« aufgefasst werden, wie es der Philosoph Daniel Feige (Feige 2018) oder der Kultursoziologe Andreas Reckwitz (Reckwitz 2012) beschreiben (auch wenn ihre Ansichten nicht deckungsgleich sind). Design wird von manchen aber auch als nahezu universell einsetzbare Planungs- und Entwurfswissenschaft aufgefasst, wie es seit den 1970er Jahren z.B. häufig in der Designforschung der Fall ist (vgl. Rittel 1992).7 Hinzu kommt der besonders im Diskurs der Dekolonialisierung virulente Begriff des ontologischen Designs, der von dem Philosophen Tony Fry etabliert wurde.8 Er bezeichnet ontologisches Design als »a way of understanding the dynamic designing relations between the world, things and human beings« (Tlostanova 2017: 52), also die Gestaltung und den Entwurf der Beziehung des Menschen zur Welt, den Dingen und anderen Lebewesen in ihr. In solch einen Designbegriff ist die Kontrolle und Disziplinierung menschlicher Wahrnehmung und Interpretation der Welt natürlich bereits eingeschrieben. Design wird zu einem »set of specific ontological, epistemic and axiological notions imposed forcefully onto the whole world, including its peripheral and semiperipheral spaces in which alternative versions of life, social struc7 | Hingewiesen sei an dieser Stelle auf drei Untersuchungen, die m.E. die Diskussion bündeln: Mareis 2011, Feige 2018 als auch Parsons 2016. 8 | Auch Feige nimmt eine ontologische Unterscheidung vor, um Design z.B. von Kunst trennen zu können. Jedoch ist sein Designbegriff wesentlich enger als der Frys (Vgl. Feige 2017).
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Mara Recklies tures, environmental models or aesthetic principles have been invariably dismissed« (Tlostanova 2017: 3). Ein ebenso weiter Designbegriff wird auch von Mignolo in seiner Schrift Local Histories/ Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking (2000) stark gemacht, in der er das Doppelgespann Moderne/Kolonialität zu einem »overall design« (ebd.: 1) stilisiert, das die Beziehung zwischen der Welt, den Dingen und den Menschen gestaltet und determiniert. Allerdings braucht es meiner Ansicht nach keinen derart erweiterten Designbegriff, um die Kolonialität des Designs fassen zu können. Auch mit einem konventionelleren Verständnis von Design, das etwa das Entwerfen von Objekten und Kommunikationsoberflächen meint, kann die koloniale Imprägniertheit der Episteme exemplifiziert werden. Jedoch existieren bislang leider nicht viele Untersuchungen von Design, die sich dezidiert als Epistemologien ausweisen und nicht die Designpraxis, also die Frage nach dem Wissen, das in dem Entwurfsprozess zum Einsatz kommt, fokussieren (vgl. Parsons 2016: 35ff.). Eine Ausnahme findet sich bei dem schwedischen Designhistoriker Kjetil Fallan, der in ihr auf den Unterschied zwischen der Episteme des Designs und den aus ihr hervorgehenden »Ismen« verwies.9 Auch wenn Fallan seine Untersuchung nicht im Rahmen post- oder dekolonialer Analysen vornimmt, erweist sie sich als äußert hilfreich. Denn sie erlaubt es, ein Verständnis für den Gegenstand des Ungehorsam zu entwickeln. Auch Fallan bezieht sich auf die Episteme im Sinne Foucaults, die nicht Wissen, wissenschaftliche Erkenntnisse oder ihren Wahrheitsgehalt bezeichnet, sondern ihre Entstehungsbedingungen – das, was über die Möglichkeiten der Produktion von Wissen und Erkenntnis entscheidet. Dabei verweist er jedoch auf die Bedeutung der Episteme für die Enstehung von »Ismen« : »The epoch’s slowly but ever changing episteme both restricts and affords what is possible to say, think, comprehend and do at any given time. This is where the rules that constitute people’s action come into being. Here, the situations in which institutions are embedded arise. This is the background against which every new ism takes shape.« (Fallan 2010: 114)
Auf das Design übertragen bedeutet dies, dass die Ismen des Designs (Beispiele wären etwa der Funktionalismus, der Konstruktivismus, der Postmodernismus oder der Minimalismus) aus der Episteme hervorgehen. Laut Fallan folgen sie den Werten und Weltanschauungen der Episteme. Sie können diese aber auch diskutieren oder sich gegen sie auflehnen, denn sie stehen in einem reziproken Verhältnis: Während die Bedingungen der Ismen durch die Episteme vorgegeben werden, kann die Entwicklung der Ismen wiederum die Episteme verändern. 9 | Eine von meiner verschiedene, äußerst interessante Auseinandersetzung mit den Ismen des Designs aus postkolonialer Perspektive findet sich auch bei Boehnert/ Onafuwa (2016).
Dekolonialisierung von Designdiskursen Ein wesentliches Kennzeichen solcher Ismen ist, dass sie dogmatischen Charakter und programmatischen Anspruch haben, dabei jedoch weit entfernt von der objektiven Logik wissenschaftlicher Theorien operieren. Sie sind normativ und, »tend to propose or dictate how art/architecture/design should be« (Fallan 2010: 116). Selbst wenn die »Ismen« des en Designs sich als rational begründbare Theorien ausgeben oder als solche betrachtet werden, sind sie von ihnen verschieden, tatsächlich sind es maskierte Ideologien. Fallan schlägt sogar vor, manche »Ismen«, die besonders starke Ideologien hervorbringen, nach Thomas Kuhn als ›metaphysisches Paradigma‹10 zu betrachten. Tatsächlich weisen sie nämlich viele übereinstimmende Eigenschaften auf: »The metaphysical paradigms correspondend to isms describing a world view, a set of beliefs, a metaphysical speculation, a new way of seeing or an organizing principle«. Die Ismen, die die Wirkmacht haben zu Weltanschauungen zu werden, sind besonders die der ›großen‹ Epochen, insbesondere, »the dominant world view of the twentieth century-modernism« (Fallan 2010: 134). Bereits an dieser Stelle fällt auf, dass die Beschreibung der Ismen mit dem korrespondiert, was Mignolo als »koloniale Matrix der Macht« bezeichnet, nämlich »ein aus Glaubenssätzen gesponnenes Netz, vor dessen Hintergrund gehandelt und Handlung rationalisiert wird« (Mignolo 2012: 50). Gerade diese modernistischen Ideologien sind es jedoch auch, denen etwa von dem kanadischen Philosophen Glenn Parsons, eine tragende Rolle für das Verständnis des Designs der Gegenwart zugesprochen wird. »Modernism supported a rational conception of Design« heißt es bei ihm, »it offered a reinterpretation of some of the key criteria of Design – the functional, the symbolic and the mediating – and rejected certain other interpretations of them as irrelevant.« (Parsons 2016: 54) Nun drängt sich die Frage auf, weshalb gewisse, nicht rational begründete, Ideologien und Theoreme im Design fortleben können und nicht zu einem späteren Zeitpunkt als Ideologien entlarvt und ad acta gelegt werden. Fallan ist der Auffassung, dass sie nicht erkannt werden, da sie unartikuliert bleiben. Nicht nur die Artefakte selbst bergen sie als »cultural modes« (Fallan 2010: 117), sondern auch die Designpraxis und ihre theoretische Reflexion. Zusammengefasst, die ganze Designkultur kann verstanden werden als »co-production of ideology and practice« (ebd.: 118).
Das Neue Die Bevorzugung funktionalistischer, möglichst sachlicher und betont industrieller Formgebung ab der Jahrhundertwende (die bis heute dafür sorgt, dass Funktionalität und Effizienz als dem Design wesentlich gelten) beruht nicht, wie manchmal 10 | Fallan referiert bei der Unterscheidung verschiedener Paradigmen bei Kuhn auf Masterman (1970): Sie identifiziert in ihrer Untersuchung insgesamt 22 verschiedenen Paradigmen bei Kuhn, wobei Fallan sich lediglich auf das bereits erwähnte metaphysische Paradigma, als auch »sociological« und »artefact paradigms« bezieht. (Vgl. Fallan 2010: 134 als auch Kuhn 1967).
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Mara Recklies angenommen, auf rational kalkulatorischer, sondern ästhetisch-ideologischer Ebene. Schon vor vielen Jahren hat unter anderem der Designhistoriker Gert Selle darauf verwiesen und betonte, dass in der sachlichen Formgestaltung der modernen Massenprodukte vor allem »die Rationalität des industriellen Produzierens und der kapitalistischen Wertschöpfung dingfest werden« (Selle 2007: 107) sollte. Dies zog bis heute wirksame Konsequenzen für das Design nach sich, denn ab diesem Zeitpunkt wirkte plötzlich alles »unabweisbar rückständig, was sich gegen das funktionsästhetische Prinzip richtet«, wie es bei ihm heißt. Führende Hersteller verstanden sich nicht länger als Produzenten, sondern vielmehr als sozial- und kulturpolitische Institutionen, welche ästhetische Pädagogik betrieben. »Kunstsoziale, ästhetisch-kulturelle und erzieherische Fragen der Zeit werden vor dem Hintergrund einer industriellen Entwicklung diskutiert«, resümiert Selle, die »zweck- und materialgerechte Gestaltung« wurde als eine Tat »der Wahrhaftigkeit« dargestellt, mehr noch, als »eine sittliche Leistung« (ebd.: 115). Doch wirklich verstanden werden kann die darin zum Ausdruck kommende ideelle Überlegenheit des Rationalen und der Primat des Neuen nur im Hinblick auf das spätkoloniale Weltbild und die mit ihm einhergehenden Hierarchien der Moderne. Schließlich sind das Neue ebenso wie die Neuheit »Schlüsselbegriffe der Rhetorik der Moderne« (Mignolo 2012: 138). Die Idee der Überlegenheit des Neuen präsentiert den Geist des Modernismus, der nicht nur mit einem bedingungslosen Fortschritts- und Entwicklungsglauben einherging, sondern praktisch auf ihm beruht. »Modernism can be seen as a constant quest for modernity, or the wish to establish an anti-traditional tradition« heißt es etwa bei Fallan (Fallan 2010: 111). Doch erwähnt er an dieser Stelle nicht, dass diese modernistische Abwertung des ›Traditionellen‹ auch in abgrenzender Abwertung kolonisierter Gesellschaften erfolgt, welche als ›traditionell‹ betrachtet wurden. Was in der Logik der Moderne nichts anderes bedeutet als: »rückständig im Vergleich zu ihren europäischen und amerikanischen Gegenstücken« (Beck/Grande 2010: 189). Wobei rückständig und unterentwickelt hier nicht nur industriell oder ökonomisch meint, wie Mignolo betonte, sondern »sowohl geistig als auch epistemisch« (Mignolo 2012: 125). Das Selbstverständnis der Moderne, fortschrittlich zu sein, wäre ohne die zeitliche Verortung der ›Primitiven‹ und ›Barbaren‹ in das ›Traditionelle‹, welches ein zeitliches ›Davor‹ markiert, niemals möglich gewesen (vgl. Mignolo 2012: 121f.). Eine solche Abgrenzungsstrategie, in Bezug auf die moderne Gestaltung, lässt sich besonders gut in dem Text Ornament und Verbrechen aus dem Jahr 1908 von Adolf Loos beobachten, der unter anderem von Parsons als konstitutiv für das Selbstverständnis des Designs beschrieben wird (vgl. Parsons: 59ff). So lautet etwa einer der folgeschweren Sätze von Loos, die »evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstand« (Loos 1962: 277).11 Der 11 | Vgl. zur Rhetorik von Loos und seinen Zeitgenossen Makiuika 2010. Auf den Text Ornament und Verbrechen nimmt in diesem Band Ofri Lapid Bezug, als auch meine Frage an Ruth Sonderegger. Vgl. S.
Dekolonialisierung von Designdiskursen Primat des Neuen, der auf der Abgrenzung vom Veralteten, nicht mehr Zeitgemäßen beruht, wird bis in die Gegenwart von der Konsumkultur reproduziert. Sie ermisst Qualität daran, »der/die Erste oder Beste in bestimmten Bereichen zu sein«, wie es bei Mignolo heißt, oder auch »das Beste einer bestimmten Produktlinie zu produzieren oder zu kaufen.« (Mignolo 2016: 138) Bis heute stellt es ein Problem dar, »dass das Abfeiern von Neuheit und Veränderung«, und dies trifft nicht nur, aber besonders auf das Design zu, »die Folgen dieser Veränderung abschattet.« (Mignolo 2012: 139)12 Aber nicht nur in dem Primat des Neuen und in der Überlegenheit des Fortschritts, verbunden mit der Abwertung des ›Alten‹, ›Nicht-Westlichen‹, schreibt sich koloniales Denken fort. Auch in dem universalistischen Anspruch des Designs, jedweden Gegenstand optimieren zu können und damit einen Beitrag zur Entwicklung der Welt und zu kontinuierlichem Fortschritt zu leisten. Eine koloniale Hybris die sich von Beginn an darin äußerte, dass Design immer wieder in den Dienst moderner Utopien gestellt wurde oder sie maßgeblich entwarf. Nicht nur der russische Konstruktivismus, sondern auch das Bauhaus waren von ausgeprägten providentiellen und messianischen Motiven getrieben. Sie versprachen neue Gesellschaftsformen und Lebensweisen oder sogar die Hervorbringung neuer menschlicher Lebewesen, was sie in die Nähe des social oder biological engineering rückt (vgl. Groys/Hagemeister 2005). Als Beispiel lässt sich der sowjetische Konstruktivismus anführen, welcher eine ideale kommunale Umgebung gestalten wollte in der, durch eine Reihe spezifischer kontrollierter Rituale, ein perfekter Mensch geformt werden sollte, welcher auf eine zuvor bestimmte Weise glücklich sein sollte13 (vgl. Tlostanova 2017: 3). Die vermeintliche Fortschrittlichkeit der Moderne findet ihre Entsprechung in den teleologischen Narrativen des Designs, wie sie etwa der Designhistoriker Nikolaus Pevsner hervorbrachte (vgl. Pevsner 1957). Sie behaupten eine stringente Entwicklung des Designs, die der Gesellschaft kontinuierlich zu Entwicklung und Wohl verhalf. Doch auch wenn diese teleologischen Narrative inzwischen entlarvt sind (vgl. u.a. Breuer 1998: 14f.), ist bis heute die Tendenz zur Glorifizierung oder zum »black-boxing« (Fallan 2010: 127) der im Design wirksamen »Ismen« zu beobachten. Ein tragisches Beispiel liefern die oft gut gemeinten, jedoch kontraproduktiven Designprojekte, die in den ehemals kolonialisierten Teilen der Welt Hilfe leisten möchten und zu der vielrezipierten Frage führten, ob humanitäres Design der neue Imperialismus sei (vgl. Nussbaum 2010).
12 | Kursivierungen sind aus dem Original übernommen. 13 | Das praktische Scheitern dieser Entwürfe zeigt den Widerstand gegen die
erzwungene Kollektivität: Inzwischen wurden die meisten Überreste der konstruktivistischen Wohnanlagen von ihren Bewohnern umgestaltet, sie verweigerten es, ihr Leben in den vorgestalteten öffentlichen Räumen wie Gemeinschaftscaféterias oder Gemeinschaftswaschräumen zu verbringen und bauten in ihre Zellen oft nachträglich private Badezimmer, Küchen oder Balkone ein. (Vgl. Tlostanova 2017:3)
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Mara Recklies »Another history, another designing«14? Wie aber kann – oder muss – ausgehend von solchen kolonialkritischen archäologischen Analysen, Mignolos Aufforderung Folge geleistet werden? Ist eine Explizierung des modernen und damit spätkolonialen Ursprungs des Designs ausreichend, um zu der »befreienden Irritationen identitärer Selbstvergewisserung« (Waibel, Kastner 2012: 40) zu führen, die dekoloniales Denken und dekoloniale Praktiken kennzeichnen soll? Kann es überhaupt einen Ungehorsam gegen die Episteme des Designs geben? Bisweilen herrscht über diese Frage keine Einigkeit. Zumal das Konzept des »epistemischen Ungehorsams« auch durchaus kritisch betrachtet wird.15 Felix Aster etwa verwies darauf, dass Formen epistemischen Ungehorsams kein neues oder unbekanntes Phänomen sind und soziale Kämpfe um Befreiung sowie korrespondierende historiographische Narrative schon immer in bestehende Wissensordnungen, ihre Repräsentationslogiken oder Subjektivierungsweisen interveniert hätten. Zudem kritisierte er, dass es bei Mignolo klinge, als würde es sich bei dem okzidentalen Denken um einen »homogenen Block« handeln, welcher »zudem noch kaum hinsichtlich seines eurozentrischen Gehalts hinterfragt worden wäre« (Aster 2014: 106), was Eva Blome mit ihrem Einwand, dass der binäre »Gegensatz von europäischen/ kolonialistischen und außereuropäischen/kolonialisierten Wissenssystemen« (Blome 2014: 110f.) doch eigentlich für die europäische Moderne charakteristisch sei, weiter untermauert. Hinzu käme, dass es einer gewissen Skepsis gegenüber (Re)Essenzialisierungen anderer Wissensformationen bedürfe, denn, wie Blome mit Donna Haraway ausführt, »im Anspruch, eine Perspektive aus der Position der weniger Mächtigen einzunehmen, liegt [...] auch die ernstzunehmende Gefahr einer Romantisierung und/ oder Aneignung dieser Sichtweise. Das Sehen von unten ist weder einfach zu lernen noch unproblematisch« (ebd.: 111, vgl. Haraway 2005: 83). Ist das Konzept des »epistemischen Ungehorsams« also keines, das tatsächlich in die Praxis der Theorie und Philosophie überführt werden kann? In den letzten Jahren ist ein Anstieg an Publikationen im Design zu verzeichnen, die sich mit indigenious ways of knowing und learning befassen, welche den westlichen Konzepten zur Seite gestellt werden (u.a. Tunstall 2013). Auch werden vereinzelt Designkonzepte entwickelt, die kosmopolitischen Anspruch haben (z.B. Yaneva/ Zaera-Polo 2017). Darüber hinaus ist eine Geschichtsschreibung im Gange, welche nicht eurozentrisch ausgerichtet ist und versucht, einen bewussteren Umgang mit Nationalismen zu finden (u.a. Fallan 2010, Dilnot/ Fry/ Steward 2015). Doch selbst, wenn all diese Bestrebungen eines Tages zu einem Paradigmenwechsel führen würden, bezweifelt 14 | Diese Zwischenüberschrift ist zitiert aus Dilnot/ Fry/ Steward 2015: 122. 15 | Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle auch, dass in den letzten Jahren
hitzige Diskussionen entbrannten, in deren Mittelpunkt Antisemitismus-Vorwürfe standen. Vgl. http://antisemitismus-wastun.blogspot.de/2012/04/offener-brief-antisemitismus-was-tun.html als auch http://www.jenspetzkastner.de/fileadmin/user_ upload/PDF/Antwort_an_Freudmann_090412_final.pdf (abgerufen 14.02.2018)
Dekolonialisierung von Designdiskursen Mignolo, dass ein epistemischer Bruch oder eine paradigmatische Wende im Sinne Kuhns jemals zu dekolonialem Denken führen können16: »Der dekoloniale Umsturz gehört einem anderen Raum an«, heißt es bei ihm. Nämlich »dem der epistemischen Energie und dem eines fehlenden Archivs, das vom Stimmengewirr der Enterbten [...] verdrängt worden ist« (Mignolo 2012: 170). Wohl deshalb heißt es an anderer Stelle auch bei ihm: »Es genügt nicht, den Inhalt der Rhetorik der Moderne und dessen Komplizenschaft mit der Logik der Kolonialität anzuprangern« (Mignolo 2012: 168). Auch wenn es vor diesem Hintergrund der westlichen Denkpraxis tatsächlich unmöglich scheint, sich durch sich selbst von der kolonialen Matrix zu lösen, ist das kein Grund, westliches Denken und seine Disziplinen pauschal zu verurteilen. Ich möchte anmerken, dass die Aufforderung zur Dekolonialisierung nicht zu einem Dekolonialismus mit universalistischem Anspruch werden darf, dessen Ideologien und Weltanschauungen die etablierten Ismen lediglich durch neue ersetzen. Mündet der Aufruf zu epistemischem Ungehorsam in der Erwartung eines Gehorsams gegenüber dem Ungehorsam, verliert er seine Glaubwürdigkeit. Die mitunter verhärteten Fronten und Oppositionen innerhalb der Postcolonial Studies und des dekolonialen Denkens scheinen manchmal auf derartige Tendenzen hinzuweisen. Es sind mitunter ungastliche Diskurse, in denen die strikte Ablehnung kolonial imprägnierter Begrifflichkeiten, Strukturen oder Konzepte das Denken beschränken und Verständigung erschweren oder unmöglich machen.17 Zugleich wird oft übersehen, dass die Konventionen des Forschungsbetriebs einen »Anschluss neuen Wissens an existierende Wissensbestände« (Schmidt 2012) fordern. Ohne sich die Wirkmächtigkeit dieser Konventionen zu vergegenwärtigen und sie zu berücksichtigen – was natürlich auch ein Verstoß als auch ihre Subversion oder Instrumentalisierung bedeuten kann –, wird das Konzept des epistemischen Ungehorsams tatsächlich immer ein bloßer Auf16 | Wobei er sich an anderen Stellen, z.B. im Hinblick auf die geforderte,
›Entkopplung‹, durchaus auf Foucault bezieht: »Sich abzukoppeln um die Begriffe des Diskurses zu verändern bedeutet unter anderem den Bruch mit der Art und Weise, in der Worte und Dinge vorausgesetzt werden, wie Foucault gezeigt hat.« (Mignolo 2012: 83, FN 38). Köhler bezeichnet solche Vorgehensweisen als »paradoxale Aneignung des Westens« in welchen die »eurozentristischen Herrschaftstechniken und Institutionen, die in den Händen der Subalternen als Waffe gegen die westliche Hegemonie verwendet werden.« (Köhler 2007: 113)
17 | Ganz abgesehen von solchen Hürden zeugt ein Dialog in dem 2014 erschienenen
Buch Design in the Borderlands (Fry/ Kalantidou 2014) trotz alles Wohlwollens von den großen Schwierigkeiten, sich innerhalb des Diskurses zu verständigen. Als die Herausgebenden Mignolo fragen: »Border Thinking and border epistemology assert the imperative of ›thinking the other‹. Does this ›taking a position‹ presume an existence, or possiblity, of betweenness’ as the locus of (both) the one and the other?« (Ebd. 173) verneint dieser und antwortet: »The ›in-between‹ is a concept of modern and postmodern epistemology not border epistemology.« (ebd.: 174). Woraufhin ihn Fry in einem als A response titulierten Antworttext fragt: »Are we talking about the same thing?« und als Beispiel anführt: »certainly we do not share the same understanding of ›betweenness‹: it is not the same as ›in-between‹ but an ontology of non-binary oscillation (movement within the contradiction rather than between contradictiory positions.« (ebd.: 185)
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Mara Recklies ruf bleiben. Mignolo war dies jedoch auch bewusst und so beschrieb er den Schritt, die Komplizenschaft westlicher Wissenschaft und Disziplinen mit der Kolonialität zu kennzeichnen, durchaus als »notwendig«, wenn auch »nicht hinreichend« (Mignolo 2012: 168). Ein Grund, sich nicht weiter mit Mignolo und vor allem der Idee eines dekolonialen, epistemischen Ungehorsams zu befassen, ist diese Kritik also auch im Sinne Mignolos nicht. Ich stimme Rebecca Fuchs zu, dass die Texte der Denker der Dekolonialisierung in jedem Falle ermöglichen, dass »westliche Theorien globaler gedacht und im Kontext einer modernen/kolonialen Geschichtsschreibung neu gelesen und gegebenenfalls umgedeutet werden« (Fuchs 2014: 109). Und das ist dringend notwendig, denn die Dekolonialisierung der Episteme ist nicht nur ein Problem intellektueller Eliten oder bestimmter kultur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Betrachtete man sie so, würde sie ihrer »kognitiven Sprengkraft« (Schmidt 2012) beraubt und die Macht des Kolonialismus für die gegenwärtigen globalen Verhältnisse unterschätzt werden.
Welche Aufgabe schließt sich also daran an, eine kolonial imprägnierte Episteme sichtbar zu machen, wie ich es in diesem Text skizziert habe? Mignolo schreibt, das Ziel der Dekolonialisierung sei, die »Monokultur« modernen Denkens aufzuheben, wobei er mit Monokultur »die Totalität der großen Erzählungen der okzidentalen Zivilisation« (Mignolo 2012: 67) meint. Demzufolge bestünde der epistemische Ungehorsam etwa darin, ein anderes Verständnis von Design zu entwickeln. Ein Design, dessen Überlegenheit nicht auf der Überhöhung des Neuen, des Innovativen, des Effizienten liegt, das plurale Ästhetiken erlaubt und seinen universalistischen Anspruch und messianischen Gestus aufgibt. Wie ein solches Design in der Moderne, die gegenwärtig »ihre eigenen Grundlagen aufhebt« (Beck/ Grande 2010: 187), gedacht und praktiziert werden kann, wird derweil erst anfänglich verhandelt.
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Dekolonialisierung von Designdiskursen sign-as-Symbolic-Violence.pdf http://www.decolonisingdesign.com/wp-content/uploads/2017/06/Boehnert_Onafuwa_Design-as-Symbolic-Violence.pdf (L etzter Abruf: 20.01.2018). Breuer, Gerda (1998): „Universalistische Erneuerung im Dienste des Verzichts. Eine Hinführung zum Kompendium der Texte“, in: Conrads, Ulrich und Neitzke, Peter (Hg.): Ästhetik der schönen Genügsamkeit oder Arts&Crafts als Lebensform. Programmatische Texte, erläutert von Gerda Breuer. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg S. 9-60. Dilnot, Clive/ Fry, Tony/ Steward, Susan (2015): Design and the Question of History. Design, History, Futures, London: Bloomsbury Academic. Fallan, Kjetil (2010): Design History. Understanding Theory and Method, Bloomsbury, London/ New York. Feige, Daniel Martin (2018): Design. Eine philosophische Analyse, Berlin: Suhrkamp. Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens, [1969] Frankfurt/M.: Suhrkamp. —(1972): Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Frank, Michael C. (2004): »Kolonialismus und Diskurs: Michel Foucaults ›A rchäologie‹ in der postkolonialen Theorie«, in Kollmann, Susanne/ Schödel, Kathrin (Hg.): PostModerne De/Konstruktionen: Ethik, Politik und Kultur am Ende einer Epoche, LIT Verlag Münster, S. 139-155. Fry, Tony (2017): »Design for/by ›the Global South‹«, In: Design Philosophy Papers 15 (1), S. 3-37. Fry, Tony/Kalantidou, Eleni (2014): »An Exchange. Questions from Tony Fry and Eleni Kalantidou and answers from Walter Mignolo«, in: ebd. (Hg.): Design in the Borderlands. London/ New York: Routleg, S. 173-188. Fuchs, Rebecca (2014): »Jenseits der Grenzen des epistemischen Ungehorsams«, ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 1/ 2014, Bielefeld: Transcript, S.108-109. Gikandi, Simon (2011): Slavery and the Culture of Taste, Princeton/Oxford: Princeton University Press. Groys, Boris/ Hagemeister, Michael/ von der Heiden, Anne (Hg.)(2005): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu begin des 20. Jahrhunderts, Suhrkamp: Frankfurt a.M. Haraway, Donna (1995): »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: Dies (Hg).: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/New York: Campus, 73-97. Kant, Immanuel (1974): Werkausgabe in 12 Bänden - X: Kritik der Urteilskraft, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Köhler, Benedikt (2007): Soziologie des neuen Kosmopolitismus, Berlin: Springer. Kuhn, Thomas (1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Reale imaginierte Gemeinschaften Nationale Narrative und die Globalisierung der Designgeschichte Kjetil Fallan · Grace Lees-Maffei Design ist schon seit Jahrhunderten, vom Anfang bis zur späten Moderne, global, regional, national und lokal zugleich (vgl. Calvera 2005). Die Seidenstraße und der transatlantische Sklavenhandel sind Beispiele für die vormoderne und frühmoderne Globalisierung der Wirtschaft und stehen in enger Verbindung mit der Entwicklung von ähnlichen globalen Kommunikationskanälen, die der Herstellung und dem Design von Gütern dienten. Die Autos, die wir heute als ›italienisch‹ feiern, könnten auch von Brit*innen und Brasilianer*innen im Auftrag multinationaler Unternehmen aus Polen oder Pakistan entworfen worden sein, die für den Markt in der Schweiz oder in Swaziland herstellen (vgl. Fallan/ Lees-Maffei 2013c: 1). Ein einleuchtendes Beispiel für die heutige Hybridisierung von Design-Identitäten ist, dass eines der geläufigen gelben Taxis in New York City – ein ikonisches Wahrzeichen amerikanischer Designkultur – inzwischen ein japanisches Auto ist, nämlich das Toyota Camry Hybrid-Modell. Doch auch wenn Design heute globaler denn je sein mag, ist es noch immer von globalen, regionalen, nationalen und lokalen Zusammenhängen geprägt, auf die es wiederum zurückwirkt. Technologische Entwicklungen wie das Internet, digitale Cloud Dienstleistungen und CAD-CAM ermöglichen es Autodesigner*innen von Delhi über Detroit bis Dubai zusammenzuarbeiten. Doch wie vielgereist die Designer*innen selbst auch immer sein mögen, sie arbeiten in Umgebungen in denen lokale, regionale, nationale und internationale Faktoren eine Rolle spielen. Der lange Prozess der Globalisierung wurde von Diskursen begleitet, die sich in den verschiedenen Zeiten auf bestimmte geo-kulturelle Kontexte mehr konzentriert haben, als auf andere. Und auch wenn in den vergangenen zwei Jahrhunderten und darüber hinaus das Nationale für das Verständnis von Kultur und Identität – sowie für Politik und Ökonomie und eine Reihe anderer Faktoren – die dominante Kategorie war, sind Mainstream-Medien ebenso wie akademische Diskurse in unserem eigenen Jahrhundert in erster Linie mit der Globalisierung beschäftigt (vgl. Applebaum/ Robinson 2005). In den Geistes- und Sozialwissenschaften haben internationale Entwicklungen in der Hochschulbildung, der kontinuierliche Einfluss der postkolonialen Theorie und der gegenwärtige Fokus auf Nachhaltigkeit das Verständnis von Design
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Kjetil Fallan · Grace Lees-Maffei verändert. Viele Designhistoriker*innen kritisierten bereits die Vorliebe ihres Fachs für westliche, industrialisierte Nationen, die darin gründet, dass Design in Abgrenzung von industrieller Manufaktur definiert wird. Sie (wir) erweitern gegenwärtig unsere Perspektive, indem wir Global Design History schreiben, um den Titel einer Anthologie aus dem Jahr 2011 zu zitieren (vgl. Adamson/ Riello/ Teasley 2011). In ihr werden Nationalgeschichten dafür kritisiert, einem neuen globalen Blick nicht angemessen zu sein der es sich zur Aufgabe macht, die gegenwärtige Gesellschaft und ihre historischen Narrative von der geopolitischen Zwangsjacke der Nationalstaaten zu befreien (vgl. Traganou 2005: 166). Arjun Appadurai ging sogar so weit zu behaupten, dass der Nationalstaat eine überholtes Merkmal für die Konstruktion von Identität sei (vgl. Appadurai 1996: 169). Ist die Nation also bloß imaginär, ein moderner Mythos, wie es Ernest Kellner behauptet hat? (vgl. Gellner 1983 als auch Anderson 1983) Oder kann diese zugegebenermaßen komplexe Konstruktion noch immer einen wertvollen Bezugsrahmen für die Designgeschichte(n) bieten? Obwohl nationale und regionale Geschichten des Designs sich als überzeugende Bezugsrahmen für die Diskussion gemeinsamer sozio-ökonomischer, kultureller und identitätsbezogener Fragen erwiesen haben, ist der Nationalstaat, sofern er das je gewesen ist, nicht mehr die einzige soziokulturelle oder politisch-ökonomische Einheit, die unsere Identitäten und Erfahrungen formt. Vor dem Hintergrund gleichzeitiger Euphorie als auch Moralpanik gegenüber den Effekten der Globalisierung ist es entscheidend zu erkennen, dass die vielgerühmten globalen Ketten von Design, Manufaktur und Handel noch immer aus nationalen Unternehmen bestehen. Dieser Artikel argumentiert für eine Wiedereinführung der Kategorie des Nationalen im zeitgenössischen akademischen Verständnis von Design – sowohl des vergangenen als auch des gegenwärtigen. Er liefert damit eine aktuelle Betrachtung des historiographischen und methodologischen Werts nationaler Bezugsrahmen in der Geschichtsschreibung des Designs. Wir beginnen indem wir darlegen, wie das dominante nationale Paradigma sowohl im Mainstream als auch im akademischen Diskurs hinter das Globale zurücktrat, um anschließend das Nationale wieder ins Globale der Designgeschichte einzuführen.
Die Nation und die Geschichtsschreibung Seit ihren Ursprüngen im Europa des mittleren 19. Jahrhunderts bis in das späte 20. Jahrhundert haben die Nation und das Nationale das vielleicht am weitesten verbreitete und langlebigste Paradigma in den Geschichtswissenschaften als akademische Disziplin geboten (vgl. Berger 2005: 631). Unmut Özkirimlis gründliche historiographische Untersuchung von Schriften über die Nation betrachtet ihre Entstehung in einem ›primordialen‹ Verständnis von der Nation als natürliche Einheit (vgl. Özkirimli 2010). Wie etwa im Patriotismus, stützt sich primordialer Nationalismus auf ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und emotionaler Bekräftigung nationaler Identität. Es scheint,
Reale imaginierte Gemeinschaften als würde die kontinuierliche Dominanz der Nation als Interpretationskategorie dazu führen, dass viele Menschen die Vorstellung einer Nation wenn auch nicht als natürlich, so doch als irgendwie unumgänglich annehmen. Begriffe wie Mutterland, Vaterland und Heimatland verflechten Verwandtschaft und Territorium miteinander und unterstützen dadurch ein ›soziobiologisches‹ Verständnis von Nation, in dem kulturelles Erbe und zeitliches Bestehen einer Nation Makros bilden, die mit den Generationenfolgen von Familie korrelieren (vgl. Grosby 2005: 43). Erst mit dem wachsenden Einfluss poststrukturalistischer Theorie auf die Geschichtswissenschaften ab den 1980ern wurde das Primat des Nationalen als Narrativ und Erkenntnisrahmen ernsthaft in Frage gestellt. In den Geistes- und Sozialwissenschaften mündete diese Herausforderung im Wiederaufleben des Interesses am Nationalen – jedoch nicht als gegebene oder nützliche Analyseeinheit, sondern als konstruierter Gegenstand. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Nation konzentrierte sich vor allem darauf, ihre symbolischen und repräsentativen Aspekte zu dekonstruieren (vgl. Berger 2005: 650-660). Özkirimli ordnet drei der wichtigsten Autoren zur Nation – Ernest Gellner, Benedict Anderson und Eric Hobsbawm – als Modernisten ein, deren Anliegen es war, die Idee von einer natürlichen oder unumgänglichen Nation zu demontieren. Sie entlarvten Nationen als Konstrukte – als Ergebnis gezielter Bemühung, Tradition und imaginäre Gemeinschaften zu erfinden. Ihre Emphase lag hierbei jedoch bedauerlicherweise auf der Hochkultur und dem öffentlichen Diskurs und weniger darauf, alltägliche und demotische Beispiele für das Nationale zu berücksichtigen (vgl. Hobsbawm/ Range 1993, Anderson 1983, Gellner 1983). Die zweifellos einflussreichen Theorien über nationale Identität, wie sie Gellner, Anderson, Hobsbawm und andere vorschlugen, sind vor allem von Tim Edensor dafür kritisiert worden, dass sie einen viel zu starken Fokus auf die ›Hochkultur‹, zeremonielle Praktiken, Staatsinterventionismus und öffentliches Leben aufweisen. Was diese Darstellungen übersehen, behauptet er, »is a sense of the unspectacular, contemporary production of national identity through popular culture and everyday life.« (Edensor 2002: 12) Wie wir sehen werden, bringt dieses Übersehen bedeutende Implikationen mit sich, wenn es darum geht, die Wichtigkeit von Design für die Kommunikation nationaler Identität zu verstehen. Özkirimli wendet sich zunächst ethnosymbolischen Betrachtungsweisen der Nation zu, wie etwa Anthony D. Smiths Untersuchung zu Nation und Ethnizität, bevor er zu ›neuen‹ Betrachtungsweisen des Nationalismus kommt, wie sie etwa für die Arbeiten von fünf Theoretikerinnen und Theoretikern charakteristisch sind, die auf unterschiedliche Weisen von postkolonialer und feministischer Theorie geprägt sind (vgl. Blom/Hagemann/Hall 2000). Unter ihnen ist Michael Billig und dessen Arbeit zum »banal nationalism«, welche repräsentativ für die Untersuchung von Design als demotisches Phänomen ist (vgl. Billig 1995). Özkirimli legt mit seiner Untersuchung einen synthetischen Ansatz vor, der das Beste der fachübergreifend von ihm rezipierten Literatur vereint. Damit gelangt er zu einem Verständnis des Nationalen als »neither illusory nor artificial, but [...] socially constituted and institutional, hence ›real‹
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Kjetil Fallan · Grace Lees-Maffei in its consequences and a very ›real‹ part of our everyday lives.« (Özkirimli 2010: 217) Das Buch schließt mit einem Appell für engere Zusammenarbeit zwischen Theoretiker*innen des Nationalismus und Historiker*innen: Operieren erstere allzu häufig in einem abstrakten Modus und mit unzureichendem Bezug auf spezifische empirische Beispiele, ignorieren letztere theoretische Entwicklungen zugunsten von »descriptive narratives of particular nationalisms.« (Ebd. 219)
Postkolonialismus und die Nation Als Ergänzung zu sowohl poststrukturalistischen Ansätze zum Verständnis von Nation, als auch ihrer Gegner*innen, liefern von postkolonialer Theorie geprägte Arbeiten kritische Perspektiven. Der moderne Nationalstaat ist ein junges Konstrukt, noch dazu eines, das auf die nicht-westliche Welt als Teil und Folge des Kolonialismus transponiert und übersetzt wurde. Diese Rolle des Nationalstaats in historischen Narrativen hat die postkoloniale Geschichtsschreibung beschäftigt. Zum Beispiel argumentierte Dipesh Chakrabarty: »European thought is at once both indispensable and inadequate in helping us to think through the experiences of political modernity in non-Western nations, and provincializing Europe becomes a task of exploring how this thought – which is now everybody’s heritage and affects us all – may be renewed from and for the margins.« (Chakrabarty 2000: 16) Die Geschichten moderner nicht-westlicher Nationen lassen sich besser verstehen, wenn man die Rezeption und Reinterpretation kolonialen Denkens in diesen Gesellschaften zur Kenntnis nimmt, anstatt sie zu verwerfen. Letzteres würde eher einer »postcolonial revenge« gleichkommen, eine weniger produktive Strategie (Gandhi 1998: x). Ausschlaggebend ist jedoch, dass Postkoloniale Theorie zu einer Erneuerung – und Verbesserung – des nationalen Paradigmas geführt hat. Ein Schlüsselbeispiel ist Partha Chatterjees Kritik an Benedict Andersons Behauptung, dass kolonialer Nationalismus zwangsläufig auf europäischen Modellen fußt. Nach Chatterjee entsteht dieses Missverständnis, wenn Historiker*innen den politischen Sphären der Gesellschaft den Vorrang über die kulturellen geben, während eine Kulturgeschichte der kolonialen Nationen das Aufkommen moderner nationaler Kulturen erkennen lässt, die sich unabhängig oder zumindest parallel zum westlich dominierten Kolonialstaat entwickelt haben (vgl. Chatterjee 2010). Auf ähnliche Weise und anhand von Beispielen aus der Geschichte der vormals kolonisierten Welt verwirft Chatterjee Appadurais Aufruf als vorschnell, Nation zu überwinden (vgl. Appadurai 1996: 158–177). Dagegen setzt er sich für größere Aufmerksamkeit gegenüber historischen Prozessen ein, die »located on a different site« sind, »not the moral-cultural ground of modernity and the external institutional domain of global civil society but rather the ground of democracy and the internal domain of national political society.« (Chatterjee 2010: 176). Nennenswert ist auch, dass in nichtwestlichen Gesellschaften wie Indien und China nationale Narrative dem modernen westlichen Nationalstaat und dessen Geschichtsschreibung bei weitem vorausgehen (vgl. Woolf 2006).
Reale imaginierte Gemeinschaften Am Beispiel von Fernando Ortizs Begriff der »Transkulturation« hat Walter Mignolo postkoloniale Perspektiven sogar dafür kritisiert, sich zu sehr auf den nationalen Bezugsrahmen zu stützen: »You find either a nation-state that becomes an empire (like Spain or England) or one undergoing uprisings and rebellions to become autonomous, working toward the foundation of a nation.« (Mignolo 2000: 16) Im Bemühen diese Dichotomien zu überwinden hat Samer Akkach jedoch kürzlich vorgeschlagen, die Marginalisierung der kolonisierten Welt ebenso als Produkt des Postkolonialismus, wie des Kolonialismus anzusehen. Er argumentiert, der Prozess der Marginalisierung und des Separatismus sei, zumindest im Fall der arabischen Welt, »coincided with the self-conscious desire of the Arabs to disentangle themselves from the colonisers’ history, the history of the West, and to rewrite their independent national history and reconstruct their cultural identity.« (Akkach 2014: 70)
Von Nation zu Nation: Alternative Zugänge Verschiedene scalar foci wurden vor allem von der Französischen Annales Schule ausprobiert, die für longue duree Studien plädierte, die aufschlussreicher seien als kurzzeitige (vgl. zum Beispiel Braudel 1969). Derweil haben Felder wie Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte und Mikrogeschichte dazu tendiert, andere Analyseelemente in den Mittelpunkt zu rücken – beispielsweise die Familie, das Dorf und die Region. Jüngere Alternativen zum nationalen Paradigma beinhalten vergleichende und transnationale Geschichtswissenschaft. Von Relevanz für die Designgeschichte ist beispielsweise Greg Castillos Untersuchung der Bedeutung des Zuhauses, bzw. seine Darstellung während des Kalten Krieges als Demonstration der jeweiligen Vorteile sozialistischer und kapitalistischer Gesellschaften und der mit ihnen verbundenen Lebensweisen (vgl. Castilllo 2010). Castillos Arbeit erstreckt sich vergleichend von Ost nach West, vom Sowjetblock zu den Vereinigten Staaten, und verfolgt ihre Auseinandersetzung anhand der materiellen Kultur der konkurrierenden Regime und der sie umgebenden Diskurse. Designhistoriker*innen könnten sehr davon profitieren, die Arbeit des bedeutenden Tensions of Europe Projekts und der dazugehörigen Buchserie Making Europe zu berücksichtigen – von der nur ein Resultat die Untersuchung von Ruth Oldenziel und Mikael Hård ist, welche die verschiedenen Debatten um die unterschiedlichen technologischen Entwicklungen umkreist, die von Konsument*innen in ganz Europa von 1850 bis heute übernommen wurden (vgl. Oldenziel /Hård 2013). Diese Arbeit ist überaus wertvoll um zu veranschaulichen, welchen Platz Design und Technologie für das Verständnis von Nationen und deren Beziehungen zueinander einnehmen. Letztendlich verlassen sich jedoch sowohl vergleichende als auch transnationale Geschichtswissenschaft auf die Nation als Entität und konzeptionelle Kategorie und produzieren damit eine Geschichtsschreibung, die die Nationalgeschichte eher ergänzen als in Frage stellen. Ebenfalls ergänzend sind regionale Geschichtsschreibungen, ob von Regionen innerhalb von Nationen (zum Beispiel die Studie North East America von Daniel Maudlin und Robin Peel 2013) oder übernationalen Regionen (zum Bei-
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Kjetil Fallan · Grace Lees-Maffei spiel die Studien über Skandinavien in einer von einem der Autoren dieses Beitrags herausgegebenen Arbeit (vgl. Fallan 2012). Die wachsenden Wissenschaftsfelder der Weltgeschichte und der Globalgeschichte bieten weitreichendere Alternativen zum nationalen Paradigma. Unter den designgeschichtlichen Interventionen dieser Bereiche finden sich Victor Margolins monumentale World History of Design, die eine chronologische Einteilung mit regionalen und nationalen Perspektiven verbindet, sowie die Global Design History Anthologie, die einer museologischen Perspektive entstammt (vgl. Margolin 2015). Die Studie History of Design: Decorative Arts and Material Culture, 1400-2000, bemüht sich ebenfalls darum, ein globales Feld abzudecken.1 Indem sie den material turn in den Geisteswissenschaften mit dem Wunsch verbindet, die westliche Ausrichtung der meisten Felder zu überschreiten, argumentiert Ruth Phillips, »[i]t is no accident that a concern with materiality has accompanied the rise of global consciousness and the reframing of curricula and research in ›world‹ terms – e.g., ›world‹ history, art history, literatures.« Deren Zusammenfallen wird, behauptet sie, durch das Wohlwollen des material Turns für die »critical analysis of alternative sensory regimes« (Phillips, 2013: 140) ermöglicht. Weltgeschichten des Designs sind demnach insofern verlockend, als dass sie die Dinge kulturübergreifenden Übersetzungen und einem entsprechenden Verständnis aussetzen. Als Verfechter*innen der Border Studies warnen Tony Fry und Eleni Kalantidou jedoch vor einer solchen Weltgeschichte: »The plural nature of design cannot any longer be gathered and contained within any homogenising frame, notwithstanding for a ›world history of design‹ to be ›manufactured‹ within design history.« (Fry/ Kalantidou 2014: 6, Fry 1989) Nationale Studien mögen unter der Enge ihrer Grenzen leiden, sind jedoch vielleicht weniger anfällig für Pauschalisierungen bezüglich der Gemeinsamkeiten riesiger internationaler Gebiete als das Projekt einer Weltgeschichte.2 Ganz offensichtlich verweist die Geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte auf vielfältige Herausforderungen in Bezug auf den nationalen Bezugsrahmen, und Alternativen gibt es zuhauf. Trotz dieser höchst bedeutsamen und einflussreichen Entwicklungen in den Geschichtswissenschaften ist das nationale Paradigma weit davon entfernt verworfen zu werden, beinahe lebt es sogar wieder auf. Stefan Berger hat vorgeschlagen, die politischen Umwälzungen nach dem Ende des Kalten Krieges als Auslöser für das neu aufkeimende Interesse an Nationalgeschichten zu verstehen: »The nation is about to return to the historical stage, as it is still widely identified as the most powerful community of memory.« (Berger 2005: 673) Allerdings unterscheiden sich die neuen Nationalgeschichten deutlich von den homogenisierenden, monolithischen Narrativen, die für traditionelle Geschichtsschreibung so charakteristisch sind: 1 | In der ersten Ausgabe allerdings unter Ausschluss von Australien/ Ozeanien, vgl. Kirkham/ Weber 2013. 2 | Für eine kritische Diskussion der Konzepte der Welt- und Globalgeschichte des Designs siehe Huppatz, D. J. 2015.
Reale imaginierte Gemeinschaften »Where the old national paradigms worked on the basis of ›othering‹ and inclusion/ exclusion mechanisms, the new histories have steadfastly opposed excluding certain stories in order to make the overall story a homogenous one. [...] The historical master narrative needs to be pluralized in order to arrive at more tolerant and playful forms of cultural identity.« (Ebd. 678)
Nationalgeschichten sind als aus der Mode gekommen und starr dargestellt worden, zum Beispiel in der von François Hartog aufgeworfenen Frage: »How should we write national history without reactivating the patterns of nineteenth century historiography: that is to say, the close association of progress and the nation […] or without presenting it as a paradise lost?« (Hartog, 1996: 112). Derlei Sorgen scheinen selbst auf einem veralteten und starren Verständnis der Nation als analytischer Kategorie zu gründen. Wenn die Nation stattdessen als dynamische, sich kontinuierlich entwickelnde Entität – als ein »essentially contested concept« – begriffen wird, scheint es möglich, die von Hartog beschriebene Falle zu umgehen (vgl. Loren 2008: 30). Wir behaupten, dass der nationale Bezugsrahmen – obwohl oder vielleicht gerade, weil er umstritten ist – weiterhin ein notwendiges und lohnendes Konzept zur Geschichtsschreibung bleibt.
Nationen in Nationen Umstritten ist die Bedeutung der Nation sowohl von innen als von außen. Wenn transnationaler Dialog im Design, in internationalem Handel und supranationaler Politik auf die äußerliche Komplexität nationaler Narrative weist, dann dient auf der anderen Seite eine Reihe intra-nationaler Kontexte dazu, ihre inhärente Komplexität aufzuzeigen. Viele, wenn auch nicht alle modernen Nationalstaaten beinhalten ethnische, geographische, linguistische und kulturelle Entitäten, deren Ausdehnungen oft nicht mit den Staatsgrenzen übereinstimmen. Die disparate Gesetzgebung der Staaten, aus denen die USA sich zusammensetzen, kann beispielsweise über Gedeih und Verderb unternehmerischer Bemühungen entscheiden Produkte und Systeme zu designen, die nahtlos auf nationaler (und internationaler) Ebene funktionieren sollen (vgl. Jørgensen 2011). Die umstrittenen nationalsprachlichen Identitäten vieler Regionen und Städte, wie z.B. Brüssel, spiegeln sich in ihrer materiellen Kultur wieder. In anderen Fällen herrschen regionale kulturelle Identitäten so sehr vor, dass sie die nationalen geradezu überschatten. In Italien ist campanilismo – die Bindung zur Heimatstadt – noch immer eine starke Kraft, mit der zu rechnen ist, wobei regionale Diversität die Designgeschichtsschreibung stark beeinflusst hat (vgl. Fallan/ Lees-Maffei 2013c: 6). In Spanien schienen die lokalen und regionalen Designkulturen Barcelonas und Kataloniens zeitweilig die der Nation zu überschatten (vgl. Narotzky 2009, Calvera 2013). Auch in so verschiedenen Ländern wie Schweden und den Vereinigten Staaten ist die Region als Einheit der designhistorischen Analyse aufgekommen (vgl. Kaplan 2011, Edwards et al. 2000).
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Kjetil Fallan · Grace Lees-Maffei So politisch aufgeladen und ethisch prekär die Belange solcher geographisch bestimmten Sub-Nationen auch sein mögen, wird die Situation noch viel heikler, wenn sie die Ethnizität betrifft, auch wenn diese Komplexität selten von Designhistoriker*innen anerkannt wird. Trotz der anhaltenden multi-ethnischen Zusammensetzung von Nationen wie dem Vereinigten Königreich oder den Vereinigten Staaten, und trotz der zentralen Bedeutung von Design für Kulturen der Diaspora, wird in ihren Designgeschichten Diversität noch immer spärlich widergespiegelt (vgl. z.B. McMillan 2009). Die Bildung ethnisch inklusiver nationaler Narrative wird noch komplexer, wenn indigene ›Nationen in Nationen‹ in Betracht gezogen werden, wie z.B. die first nation Völker Canadas, die Maya Völker Meso-Amerikas oder die Sami Bevölkerung Skandinaviens. In solchen Fällen besitzen diese Bevölkerungen manchmal sogar Heimatländer, deren Territorien nationale Grenzlinien überschreiten, während sie selber als (staatenlose) Nationen angesehen werden. Am anderen Ende des Spektrums finden sich verstreute Völker wie Juden und Roma, deren materielle Kulturen selten in nationalen Narrativen artikuliert werden und bezüglich derer erst jetzt die Verbindungen zwischen Migration und Designgeschichte untersucht werden (vgl. Engelke/ Hochscherf 2015). Diese vielen Komplexitäten, die der umstrittenen Entität der Nation inhärent sind, müssen bei dem Schreiben nationaler Designgeschichten erforscht und erläutert werden, sodass inklusivere und repräsentativere Darstellungen nationaler Designkulturen konstruiert werden können.
Transnationale Designgeschichten Genauso wie wir davor warnen, das Nationale zugunsten des Globalen zu verwerfen, vermeiden wir es, für das Gegenteil zu plädieren – und das Globale zugunsten des Nationalen zu verwerfen. Nationen sind keine isolierten Einheiten, sie sind an vielfältigen Dialogen mit ihren Nachbarn, Freunden, Einflussnehmenden, Handelspartnern und Feinden beteiligt. In Anbetracht der Wichtigkeit internationaler Kontakte ist es überraschend und bedenklich, dass so viele akademische Studien von nationalen Grenzen eingehegt werden. Designte Räume, Objekte, Bilder, Prozesse und Verhaltensweisen sind sicherlich in der Lage nationale Identität zu kommunizieren; zugleich ist der erweiterte Austausch von Menschen, Ideen, Gütern und Dienstleistungen über nationale Grenzen hinweg aber auch ein Charakteristikum von Globalisierung. Die Globalisierung trägt uns also auf, international situierte Untersuchungen zu produzieren, in denen nationale Designgeschichten im internationalen Kontext verstanden werden. Ein Weg zu diesem Verständnis ist transnationale Designgeschichte. Um zu verstehen, was überhaupt an einer Nation besonders ist, müssen wir sie verlassen, aus der Distanz wahrnehmen und von einem konzeptionellen archimedischen Standpunkt aus bewerten. Um dies zu illustrieren: Italienisches Design ist ein Mythos, der sowohl in Designläden, Magazinen und Gallerien in London, New York, Paris und Sydney als auch in den Designstudios, Fabriken, Klein- und Mittelstandsunternehmen in Mailand, Florenz, Turin oder Rom fabriziert wird (vgl. Lees-Maffei
Reale imaginierte Gemeinschaften 2013). Dieser Mythologisierungsprozess beinhaltet sowohl bedeutsame Ausstellungen wie Italy: The New Domestic Landscape, die im Jahr 1972 im New Yorker Museum of Modern Art stattfand, als auch die alltägliche Berichterstattung in der Presse. Natürlich müssen Nationale Studien nicht nur außerhalb der betreffenden Nation oder von Ausländer*innen geschrieben werden. Dennoch sollten Designhistoriker*innen häufiger die aufwändigere Arbeit auf sich nehmen, die in transnationalen, übernationalen regionalen und/oder komparativen Studien liegt, um die Art besser zu reflektieren, in der Design international begriffen, produziert, vermittelt und konsumiert wird. Der Konsum und die Vermittlung von Gütern finden nicht an dem Ort statt, an dem sie hergestellt werden. Diese Tatsache bietet Design- und Kulturhistoriker*innen ein reichhaltiges Forschungsfeld (vgl. Lees-Maffei/Houze 2010). Wenn Menschen umziehen, durchleben sie einen Prozess kultureller Anpassung oder »Transkulturation«, wie Fernando Ortiz den Vorgang insbesondere in Bezug auf Kuba formuliert hat (vgl. Ortiz [1940] 1995: 98). Ortizs Konzept der Transkulturation kann auf die Bewegungen von Gütern, Bildern und Ideen angewendet werden, die von den Produzent*innen, Konsument*innen und Vermittler*innen einen Prozess kultureller Anpassung verlangen. In seinem monumentalen Werk postkolonialer Theorie hat Edward Said die transkulturelle Praxis des »Orientalismus« als die exotisierte Darstellung eines verallgemeinerten Mittleren und Fernen ›Osten‹ charakterisiert (vgl. Said 2009). Saids Orientalismus ist literarisch, derweil drücken aber auch Designobjekte Orientalismus aus, von der Chinoiserie der Weidenmuster britischer Keramik aus dem achtzehnten Jahrhundert, die von Delfter blauen Variationen auf chinesischer Keramik beeinflusst waren, bis zu der Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts aufblühenden Mode des Japonisme (vgl. MacKenzie 1995: 127–129). Ebenfalls von höchstem Interesse für eine transnationale und/ oder transkulturelle Designgeschichte ist Homi K. Bhabhas (1994) postkolonialer Begriff der »Hybridität« als Dialog zwischen Kolonisierender*m und Kolonisierter*m gegenüber dem Konzept eines binären und rigiden Verhältnisses von Zentrum und Peripherie. In jüngerer Zeit ist die Tendenz kulturelle Hybridität als Form transnationaler oder multikultureller Kommunikation zu feiern der Erkenntnis gewichen, dass die an der Produktion von Hybridität beteiligten Nationen oft an ungleichen Machtverhältnissen teilhaben (vgl. Kraidy 2002: 317, als auch 2005). Diese Ungleichheit ist beispielsweise in der Amerikanistik erkannt worden. Die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus ist zugunsten eines Verständnisses der Vereinigten Staaten in der Welt und einer globalen Amerikanistik diskreditiert und so gut wie aufgegeben worden. Neue Strömungen in der Amerikanistik veranschaulichen, was Janice Radway eine »bifokale Sicht« genannt hat. Sie beschreibt eine solche als die »a capacity to attend simultaneously to the local and the global as they are intricately intertwined« und als »a relational and comparative perspective« (Radway, 1999: 23f.). Nationale Identität kann nicht allein im Fokus einer gegebenen Nation verstanden werden. Deshalb lässt sich argumentieren, dass transnationale oder vergleichende
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Kjetil Fallan · Grace Lees-Maffei Designgeschichten sich besser dazu eignen, nationale Identität im Design und die transnationale Natur von Design und dessen Geschichten zu verstehen als die Untersuchungen einzelner Nationen, trotz der Bemühungen dieses Feld zu globalisieren.
Globalisierte Nationen Wir leben in einem Zeitalter der Globalisierung. Globalisierung hat offensichtliche Auswirkungen auf die Rolle nationaler Bezugsrahmen und die Erfahrung nationaler Identität. Zugleich leben wir auch »in a nationalised world. The concept of the nation is central to the dominant understandings of both political community and of personal identity« (Cubitt 1998: 1). Die wachsende Mobilität von Menschen, Produkten und Informationen mag das konzeptionelle Raster der Nationalität komplexer denn je gestalten, sie lässt es dennoch nicht verschwinden. Tim Edensor schrieb »globalisation and national identity should not be conceived in binary terms but as two inextricably interlinked processes« denn »as global cultural flows become more extensive, they facilitate the expansion of national identities and also provide cultural resources which can be domesticated, enfolded within popular and everyday national cultures.« (Edensor 2002: 29) Ganz ähnlich hat Anthony Smith argumentiert, dass Globalisierung, weit davon entfernt, Nationen, Nationalismen und nationale Identitäten obsolet zu machen, deren Rolle in der gegenwärtigen Gesellschaft umgestaltet (vgl. Smith 1995). Bei der Geschichtsschreibung sollte es heute also weniger darum gehen, das Globale gegen das Lokale, Regionale und Nationale auszuspielen, als darum, die Interaktionen und Einflüsse zwischen diesen unterschiedlichen Maßstäben zu erforschen: »As each scale of observation and analysis is associated with specific cognitive benefits, the very principle of a variation of scales is more important than the choice of one single scale.« (Revel, 2010: 59). Bis an diese Stelle haben wir den Niedergang des dominanten nationalen Paradigmas beschrieben und eine Reihe von Alternativen zu ihm aufgezeigt. Nun kommen wir zum gegenwärtigen und letzten Stand der Nationalgeschichtsschreibung: Jetzt erkennen wir, dass das Lokale, Regionale, Nationale und Globale in einer dynamischen Gleichzeitigkeit operieren. Von dieser Position aus können wir Design und nationale Identität betrachten.
Design und nationale Identität Konstruktivistische Zugänge zu nationaler Identität haben Designkultur bis zu einem gewissen Grad in ihre Analysen einbezogen, die sie allerdings zumeist nur gestreift hat und daraus selten viele neuen Einsichten in die Bedeutung und Rolle der gestalteten Artefakte gezogen hat. In seinem Aufruf zu einem interdisziplinären Ansatz zur Untersuchung von nationalen Narrativen besteht Stefan Berger darauf, dass Wissenschaftler*innen in Kunsttheorie und Geisteswissenschaften »need to study fictional, artistic, musical, visual and historiographic representations of the national
Reale imaginierte Gemeinschaften pasts alongside each other.« (Berger 2008: 10) Jedoch haben bis heute wenige Untersuchungen Design systematisch in solche Betrachtungen einbezogen. Die materielle Kultur, auf die sich in diesen Untersuchungen berufen wird, beschränkt sich hauptsächlich auf Bereiche mit explizit symbolischer Funktion, wie beispielsweise Flaggen, Münzen, demotisch Kleider und Monumente (vgl. z.B. Billig 1995). Forderungen nach Aufmerksamkeit für weniger offen nationalistische materielle Kultur blieben bislang unbeantwortet, sodass diese kulturellen Aspekte unzureichend erforscht bleiben (vgl. Smith 1991: 77, Edensor 2002: 12). Edensors Kritik, die verschiedenen Arbeiten von Gellner, Anderson, Hobsbawm, Smith und Hutchinson seien zwar nützlich, in ihrer Vernachlässigung von Populärkultur und der skalaren Praktiken im Alltagsleben aber unvollständig, sticht vielleicht gerade deswegen hervor, weil sie für größere designgeschichtliche Aufmerksamkeit gegenüber nationaler Identität appelliert. Edensor stellt fest, dass »[t]he intimate relationships between people and the things they make (or used to make) become important signifiers of identity for national communities«. Daraus schließt er, dass »mass manufactured commodities are associated with particular nations, also often carrying mythic associations that connote particular qualities and forms of expertise.« (Ebd. 105) Traditionelle, hölzerne Geländeskier sind hier ein gutes Beispiel: Obgleich technologisch überholt, bleiben diese Skier ein Symbol nationaler Identität in der volkstümlichen norwegischen Vorstellungswelt. Folglich ist die Beziehung zwischen Design und nationaler Identität extrem praktisch, konkret und materiell, wirkt aber auf der Ebene des öffentlichen Imaginären, des Mythos und des Symbols: »In the face of globalisation, commonly shared things anchor people to place.« (Ebd. 116) Designer sind nicht nur für die Abzeichen von Staat und Monarchie verantwortlich, für Flaggen, Währungen, Stempel und andere Insignien der Nation, mit denen sie sich an die Öffentlichkeit richtet; sondern sie statten ebenso unsere alltägliche Umgebung mit Gütern und Dienstleistungen aus, die wir als gegeben nehmen, und die bis heute von Untersuchungen nationaler Identität weitestgehend ausgeschlossen wurden. Seitdem sich jedoch Historiker*innen immer mehr mit materieller Kultur befassen, wird auch diese bedauerliche Lücke langsam gefüllt. In der Einleitung seines populären Projekts A History of the World in 100 Objects betont Neil MacGregor die Rolle von Designartefakten in der Erzählung von Nationalgeschichten im globalen Kontext: »All round the world national and communal identities are increasingly being defined through new readings of their history, and that history is frequently anchored in things.« (MacGregor 2012: xxv). Beispielsweise wurde Design in einigen ehemaligen Kolonien, die im Verhältnis zu westlichen Nationen erst später industrialisiert wurden, auf bedeutende Art als ein Weg angesehen »for countries on the periphery to come to terms with modernity, with the modern project, and not only in the realm of industry, but also in that of social organization.« (Bonsiepe 1991: 252). Seitdem Gui Bonsiepe diese Worte vor mehr als einer Generation schrieb, ist die Vorstellung einer Peripherie die ein einziges Zentrum impliziert, in Frage gestellt worden. Weitaus akzeptierter ist heutzutage das Modell multipler
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Kjetil Fallan · Grace Lees-Maffei Zentren als Möglichkeit, kulturelle Differenzen im globalen Maßstab zu verstehen (vgl. Calvera 2014, Kikuchi/ Lee 2014: 325). Dennoch ist die enge Beziehung zwischen Design, designten Gütern und nationaler Identität ebenso für die sogenannten ›post-industriellen‹ Gesellschaften typisch, in denen das nationale industrielle Erbe und das nationale Designerbe zentrale Kennzeichen für die Identität geworden sind. Das UNESCO Weltkulturerbe Ironbridge in England beheimatet zehn Museen, die der ›Geburtsstätte der Industrie‹ gedenken, darunter nicht nur die Iron Bridge selbst, sondern unter anderem auch das Coalport China Museum und das Coalbrookdale Iron Museum. Die Stätte wird ob ihrer geographischen Einfassung durch die Topographie der Schlucht als besonders und von »outstanding universal value« angesehen: »The Industrial Revolution had its 18th century roots in the Ironbridge Gorge and spread worldwide, leading to some of the most far-reaching changes in human history.« (»Ironbridge Gorge«: UNESCO World Heritage Convention List 2015). Andernorts ist das einflussreiche Designerbe der skandinavischen Region und ihrer konstitutiven Nationen massivem öffentlichem Interesse ausgesetzt und Gegenstand anhaltender Auseinandersetzungen. Den ikonoklastischen Höhepunkt dieser Auseinandersetzung bot das dänische Designkollektiv Spring, als es bei einer Veranstaltung anlässlich ihrer Ausstellung im Trapholt Art Museum dem Y Stuhl von Hans Wegner eine Kettensäge anlegte, um Widerstand gegenüber den überragenden Schatten der ›moderne Klassiker‹ und ihrer hemmenden Wirkung auf den running room einer neuen Generation von Designer*innen auszudrücken. Kjetil Fallan hat an anderer Stelle vorgeschlagen, dass »products clearly identified with national industrial heritage have become increasingly important identity markers in our time of ‘liquid modernity,’ and their capacity to convey and evoke memories of temps perdu is more significant than ever.« (Fallan 2013a: 81). Ein gutes Beispiel bietet die bemerkenswerte Beliebtheit in Neuseeland ›kiwiana‹ zu sammeln – Objekte, die als sinnbildlich für jüngere Nationalgeschichte und kulturelle Identität angesehen werden (vgl. Bell 2013). Die Designgeschichte hat jedoch nicht nur dargelegt, wie Designobjekte als Kennzeichen nationaler Identität fungieren können, sondern auch scharfe Kritik an selbigem Phänomen geäußert und die Mythen, die stereotypische nationale Designikonen feiern, in Frage gestellt (für ersteres, vgl. Aynsley 1993. Für letzteres, vgl. Jackson 2002, als auch 2006). Dieses essentielle anti-essentialistische Projekt liegt Folgeprojekten dieses Feldes zugrunde, darunter Fallans revisionistische Essay-Sammlung zu skandinavischem Design und unsere gemeinsame Arbeit zu italienischem Design (vgl. Fallan 2012, Fallan/Lees-Maffei 2013c). In letzterer hat Lees-Maffei darauf hingewiesen, dass noch immer die Tendenz besteht, die Leistungen der Ideenfindung und des Designens gegenüber Prozessen der Herstellung, Vermittlung und Konsumption zu privilegieren. Selbst angesichts der allgemeinen Anerkennung der globalen Natur des gegenwärtigen Designs würde so die Herkunft von Gütern determiniert werden (vgl. Lees-Maffei 2013: 287ff).
Reale imaginierte Gemeinschaften Ebenfalls sind mehr oder minder vom Post-Kolonialismus beeinflusst sind die Kritiken der Assoziation von Design, nationaler Identität und Arbeit in einer Designgeschichte, die die reduktiven oder einseitigen Instanzen dieser Assoziation bislang überbetont hat. D. J. Huppatz hat beanstandet, dass, »[w]hereas it is by now widely acknowledged that the histories of modernism and of colonialism are deeply entangled, design history has not properly explored this connection.« (Huppatz 2010: 33). Yuko Kikuchi und Yunah Lee haben sich ebenso kritisch über das Ausmaß geäußert, in welchem die von ihnen als ›euroamerikanisch‹ bezeichnete Designgeschichte es versäumt hat, Arbeiten außerhalb dieser Region zu integrieren. So würden z.B. weder die aufkommende wissenschaftliche Arbeit zu ostasiatischer Designgeschichte, noch sämtliche nicht in englischer Sprache verfassten Darstellungen von Designgeschichten zur Kenntnis genommen werden (vgl. Kikuchi 2011, als auch 2014). Die sprachlichen Probleme der Geschichtsschreibung lassen sich nicht einfach lösen. Notwendig wären deutlich bessere Förderungen für zweisprachige Publikationen, eine massive Verbesserung sprachlicher Fertigkeit unter Designhistoriker*innen oder vielleicht eine technische Lösung, die Übersetzungen möglich macht, die akademischen Ansprüchen genügen. Bis dahin können Designhistoriker*innen weiterhin daran arbeiten, unterschiedlich definiertes Design aus der gesamten Welt breiter abzudecken – unter Berücksichtigung der Wirkungen von Kolonialismus und Post-Kolonialismus: »[...] the history of design is entangled with the history of colonialism, even if this appears to be deliberately avoided in most design history discourses. It was not just design in the colonial spaces that perpetuated or supported colonialism; design in the “metropoles” made use of a seemingly unlimited supply of raw materials, contributed to the rise of consumerism, and created demand for products that perpetuated the colonial system of exploitation of labour, extraction of raw materials, and environmental destruction.« (Pereira/ Gillett 2014: 113).
Es wartet in diesem Sinne noch viel Arbeit darauf, getan zu werden und damit ein vielversprechendes Projekt, welches viele Ergebnisse für das Verständnis von Design verspricht. Ein jüngeres Beispiel dafür ist Arden Sterns Studie darüber, auf welche Art die handgemalten Ladenbeschilderungen in Lusaka in Zambia »visually linked to globally dominant design practices« sind, aber »their creators simultaneously imbue graphics of diverse geographic, historical, and cultural provenance with Zambian specificity« (Stern 2014: 406) in einem Prozess der Domestikation.
Schlussfolgerung In diesem Artikel widmeten wir uns dem intellektuellen Kontext der gegenwärtigen Situation. Wir argumentieren dafür, dass Untersuchungen des Nationalen sowie nationaler Identität im Design heute ihren Gegenstand innerhalb von lokalen, regiona-
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Kjetil Fallan · Grace Lees-Maffei len und globalen Kontextes verorten müssen, wenn sie die Prozesse möglichst genau schildern wollen, mittels derer Design in unserem Jahrhundert produziert, vermittelt und konsumiert wird. Wir haben einige methodologische Probleme betrachtet, die dieser Prozess aufwirft, und einige der vielen Strategien reflektiert die Designhistoriker*innen zur Verfügung stehen, um sich dem Ziel anzunähern Designgeschichte zu globalisieren, ohne dabei die Wichtigkeit des Nationalen im Design zu verleugnen.
Übersetzung: Isolda MacLiam
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Pop und Hybrid-Pop Überlegungen zur Dekolonisierung von Pop-Musik und ihrer neuen globalen Geschichtsschreibung Holger Lund »Wenn Du dekolonisiert wirst, dann entfernst Du nicht einfach den Kolonialismus. Der wesentliche Gegenstand der Dekolonisierung ist eine kritische Auseinandersetzung mit kolonialen Denkmustern, kolonialen Kategorien, kolonialer Wissensgeschichte [...].« (Rassool 2017: 150) »Tatsache ist, dass wir ein Problem mit unserer Geschichte und unserer Erinnerung haben, denn diese wurde meist durch die Erober*innen und nicht durch die Kolonisierten verfasst. Generationen von Kameruner*innen wurde beigebracht, dass ihre Vorfahren die Gallier waren, obwohl das völlig falsch ist.« (Obolo 2017: 179)
Ausgangspunkte Ausgangspunkte der folgenden essayistischen Überlegungen zur Dekolonisierung von Pop-Musik und ihrer globalen Geschichtsschreibung sind sowohl meine Arbeit für das Berliner Vinyllabel Global Pop First Wave, als auch die Feststellung, dass die Kolonialisierung nicht vorbei ist. Global Pop First Wave ist ein von mir betriebenes musikarchäologisches Sublabel des Experimentalmusiklabels Corvo Records in Berlin.1 Der Schwerpunkt liegt auf Wiederveröffentlichungen nicht-westlicher, speziell türkischer Pop-Musik. Für die 1 | Vgl. Webpräsenz von Global Pop First Wave, URL: http://corvorecords.de/globalpop-first-wave/, (letzter Zugriff: 03.06.2018). Alle Veröffentlichungen sind von mir kuratiert worden, lediglich die Kompilation Saz Beat Vol. 3 habe ich zusammen mit Cornelia Lund realisieren können.
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Holger Lund Releases des Labels, die sich mit der sogenannten ersten Welle globaler Pop-Musik in den 1960er und 1970er Jahren befassen, arbeite ich weltweit mit einem Netzwerk von Händler*innen, Informant*innen und Wissenschaftler*innen zusammen. Zudem suche ich international Plattenläden und Privatarchive auf und greife auf verschiedene musikbezogene Datenbanken im Internet zurück. Ausgangspunkt für das Kuratieren der Kompilationen sind die analogen Originalschallplatten (mitsamt den Coverinformationen, welche oft die ersten, entscheidenden Hinweise geben), die in einem Berliner Mastering-Studio digitalisiert, restauriert, erneut gemastert, wiederum auf analoges Vinyl geschnitten und danach in einem Presswerk gepresst werden. Die Auswahl der Stücke versucht Zugänge zu zu Unrecht vergessener, übersehener oder peripherisierter Musik zu geben, die Auswahl selbst ist bereits Teil einer Um- und Neuschreibung des pop-musikalischen Kanons. Die Feststellung, dass die Kolonialisierung nicht vorbei ist, kann man, je nach Perspektive, entweder damit begründen, dass sie noch nie vorbei gewesen ist, oder damit, dass gerade ein neo- bzw. para-kolonialer Schub stattfindet (vgl. Mbembe 2017: 290 und 310f). Und natürlich hängt es auch davon ab, was man unter Kolonialisierung versteht. Versteht man darunter territoriale Landnahme, findet gegenwärtig in Afrika mit den massiven, von Polizeigewalt eskortierten Landnahmen durch multinationale Agrarkonzerne eine neo-koloniale Landnahme statt, wie sie in dem Dokumentarfilm Dead Donkeys Fear No Hyenas, (R: Joakim Demmer, Deutschland 2017) beobachtet worden ist. In dem Dokumentarfilm The Revolution Won’t Be Televised (R: Rama Thiaw, Senegal 2016) wird erläutert, dass die EU von korrupt-willigen Regierungseliten, die mit Hilfe des Westens herrschen, Fischereirechte an der Westküste Afrikas aufgekauft hat, speziell auch an der senegalesischen Küste. Die EU verkaufte diese Rechte an multinationale Fischereikonzerne und entzieht somit tausenden Kleinfischern ihre Existenzgrundlage, produziert dadurch Flüchtlinge, die dann wiederum als billigste Arbeitskräfte in Europa Verwendung finden können. Überall werde ich an das Problem der (Neo-)Kolonialisierung erinnert. Etwa wenn ich einen Blick in die Küche des Restaurants im Haus der Kulturen der Welt in Berlin werfe, einer Institution, die offiziell einen kolonialkritischen Diskurs unterstützt, jedoch Anzeichen einer klassischen Erste- bis Dritte-Welt-Struktur aufweist: eine weiße, deutsche und männliche Gesamtleitung, einen türkischstämmigen Küchenchef und viele schlechtbezahlte afrikanischstämmige Küchenhilfen. Ich habe daher den Eindruck, koloniale Strukturen scheinen hier stärker als der – durchaus ernst gemeinte – Diskurswille. Oder kommt dieser seit Jahren noch nicht einmal im antikolonialen Diskursstammhaus gegen koloniale Strukturen an? Woran liegt das – und wie verhält es sich damit bei meiner eigenen Arbeit für Global Pop First Wave? Das Eingewobensein in neo- oder postkoloniale Widersprüche begegnet mir ebenso bei dem Label Global Pop First Wave. Das Anliegen der Dekolonisierung von Musik, verstanden als eine Ablösung von kolonialen Macht-, Denk- und Bewertungsstrukturen hinsichtlich der Musik, wird vorranging von den USA und Europa aus
Pop und Hybrid-Pop betrieben, weil hier immer noch zentrale Macht- und Entscheidungszentren liegen, auch für den post- bzw. dekolonialen Diskurs. Ein Beispiel: peruanische psychedelische Musik der 1970er Jahre. Erst nachdem das Brooklyner Hipster-Label Barbès Records seit 2004 mehrere Re-Issues mit dieser Musik veröffentlich hat,2 entdeckten Peruaner*innen in Peru ihre eigene psychedelische Musik wieder bzw. ließen ihr eine neue Wertschätzung angedeihen, nach dem Motto: wenn Hipster-Brooklyn diese Musik cool findet und wiederveröffentlicht, muss es auch cool sein. Folglich wird diese Musik auf Parties und in Clubs in Peru nun wieder gespielt. Entscheidend ist dabei jedoch: Die archivische Aufarbeitung und Neubewertung läuft über Brooklyn. Ähnlich verhält es sich mit türkischer Popmusik der 1960er und 1970er Jahre. Vom kalifornischen Stones Throw Podcast #12 Turkish Funk Mix (2006)3 bis hin zur Kompilationsserie Saz Beat Vol. 1-3 (2013-2017) auf Global Pop First Wave, aber auch die muntere Nutzung türkischer Samples z.B. für Hip-Hop-Beats in den USA (Oh No, Dr. No’s Oxperiment, 2007) oder in Schweden (Rikard Skizz Bizzi, Ur Funktion 2, 2016), verschafften historischer türkischer Popmusik neue Beliebtheit innerhalb und außerhalb der Türkei. Sie führte ebendort auch zur Gründung entsprechender neuer türkischer musikhistorischer Labels wie Arşivplak (übersetzt: Archivschallplatte; seit 2012 4) von Volga Coban, welches die eigene, von der türkischen Militärdiktatur der 1980er Jahre ausgelöschte, Pop-Musikvergangenheit der 1960er und 1970er Jahre aufarbeitet und re-archiviert. Ein ähnlicher Fall liegt mit dem nigerianischen Label Odion Livingstone [sic!] vor, das der Producer und Musiker Odion Iruoje der nigerianischen Pop-Musik der 1960er-1980er Jahre widmet, oder mit dem ugandischen Label Nyege Nyege Tapes, das sich um eher aktuellere ugandische Musik kümmert.5
2 | Vgl. die Webpräsenz von Barbès Records, URL: http://barbesrecords.com/ und im Verzeichnis von Discogs, URL: https://www.discogs.com/label/80243- Barb%C3%A8s-Records?sort=year&sort_order=, (letzter Zugriff: 03.06.2018). In der Folge wurde dann z.B. in London das anglo-peruanische Label Tiger’s Milk Records gegründet, welches seit 2012 peruanische Psychedelic veröffentlicht, vgl. Tiger’s Milk Records im Verzeichnis von Discogs, URL: https://www.discogs. com/label/464849-Tigers-Milk-Records?sort=year&sort_order=, (letzter Zugriff: 03.06.2018). 3 | Vgl. die Webpräsenz des Stone Throw Podcast, URL: http://www.stonesthrow. com/podcast, (letzter Zugriff: 03.06.2018). 4 | Vgl. Arsivplak im Verzeichnis von Discogs, URL:https://www.discogs.com/ label/797207-Arsivplak, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
5 | Vgl. die Webpräsenz von Odion Livingstone, URL: http://odionlivingstone.com/ about-us/ sowie im Verzeichnis von Discogs, URL: https://www.discogs.com/ label/1108310-Odion-Livingstone und die Webseite des Labels Nyege Nyege Tapes, URL: https://nyegenyegetapes.bandcamp.com/ sowie Nyege Nyege Tapes im Verzeichnis von Discogs, URL: https://www.discogs.com/label/1075104-Nyege-N yegeTapes, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
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Holger Lund Knackpunkt Knackpunkt der Musikgeschichtsschreibung – und zugleich Knackpunkt der Dekolonisierung von Pop-Musik – ist und bleibt: Wo, von wem und wie erfolgt eine Umund Neubewertung historischer Pop-Musik? Wer kann eine neue Wertschätzung einleiten? Wer verwaltet die Archive, wer schreibt den Kanon, wer die Geschichte – und wie geschieht das? Zentrale Macht- und Entscheidungszentren für den Diskurs liegen auch dafür immer noch in den USA und Europa. Ein Beispiel: Obgleich es mehrere türkische Publikationen zur türkischen Pop-Musikgeschichte gibt – die erste, Türk Pop Müziği Sanatçilari Ansiklopedisi, stammt sogar bereits aus dem Jahr 1978 – wird die erste international maßgebliche Geschichte der türkischen Popmusik auf Englisch von einem Redakteur des renommierten britischen Musikmagazins Wire, Daniel Spicer, im Frühjahr 2018 unter dem Titel The Turkish Psychedelic Explosion: Anadolu Psych 1965-1980 veröffentlicht werden. Und ihre Maßgeblichkeit wird vor allem auf der Position des Verfassers sowie der Englischsprachigkeit des Buches beruhen, denn aus der Türkei selbst wurde bislang keine entsprechende englischsprachige Publikation in den Diskurs eingespeist. Analog zu Bonaventure Soh Bejeng Ndikungs Position, wie er sie mit seinem Projektraum Savvy Contemporary im Berliner Wedding vertritt, wo er unlängst eine genuin afrikanische Physik einforderte,6 müsste ein weiterreichender Ansatz zur Dekolonisierung von Pop-Musik allerdings nicht nur nicht-westliche Pop-Musikgeschichten verfassen, sondern etwa mit einer entsprechenden genuin afrikanischen Pop-Musikgeschichte arbeiten, die von afrikanischer Perspektive aus die eigene musikalische Vergangenheit aufarbeitet und eben auch bewertet 7. Als Nicht-Afrikaner, der in Europa lebt, kann ich so etwas nur bedingt tun, gleichwohl jedoch unterstützen. Auch dazu soll dieser Beitrag dienen. Zurück zu Bewertungsfragen, die immer auch Hierarchie- und Machtfragen sind: Wer schreibt die globale Pop-Musikgeschichte? Primär der Westen mit seinen institutionellen Akteuren: Journalist*innen, Redakteur*innen und Wissenschaftler*innen sowie Labelverantwortliche durch ihre (Re-)Releases. Wie bewertet die westliche Pop-Musikgeschichte die nicht-westliche Pop-Musik? Nicht besonders gut – oder exotistisch. Sowohl Simon Reynolds in Retromania (2009) wie auch Diedrich Diederichsen in Über Popmusik (2014), immerhin zwei der wichtigsten Publikationen zu Pop-Musik der letzten Jahre, kommen tendenziell zu folgendem Fazit: nicht-westliche Pop-Musik ist zwar gut gemeint, aber kopiert schlecht. Unhinterfragter Maßstab aus westlicher Sicht sind vor allem weiße, männliche, westliche Pop-Größen wie Elvis, 6 | Zu einem spezifisch afrikanischen Denken im Rahmen eines Afropolitanismus vgl. auch Mbembe (2017: 25). 7 | Ob und inwiefern dies nach einem westlichen Geschichtsmodell geschehen kann, bedarf noch weiterer, hinterfragender Auseinandersetzung. Vorgängig zu einer a frikanischen Pop-Musikgeschichte müsste wohl eine spezifische afrikanische ( Musik-)Geschichtsschreibung bzw. (Musik-)Erinnerungskultur entwickelt werden.
Pop und Hybrid-Pop The Beatles, The Rolling Stones etc. Mit ihnen wird die nicht-westliche Pop-Musik abgeglichen und man stellt fest: soundtechnisch ist das weit vom primär erachteten Original entfernt, musikkünstlerisch ist das in allen Pop-Aspekten – vom Gesang über die Musikgrafik der Plattenhüllen bis hin zur Mode – ein schwacher Abklatsch der westlichen Originale. So wird nicht-westliche Pop-Musik entwertet, es entsteht Musik zweiter Klasse im Vergleich zu erstklassiger westlicher Pop-Musik. Genau mit dieser Perspektive, die nur das Entlehnen oder Kopieren von Originalen sieht und auch nur dies für den Blick zulässt, wird musikhistorischer Kolonialismus betrieben. Es entsteht Musik erster (westlicher) und zweiter (nicht-westlicher) Klasse entsprechend dem großen Kolonialprojekt der Klassifizierung in Menschen erster und zweiter Klasse, darin das hierarchisch-klassifizierende Modell der Missionierung fortschreibend, wie es Jean-Marie Teno beispielsweise in seinem Dokumentarfilm Le malentendu colonial (Kamerun, Frankreich, Deutschland 2004) kritisch expliziert hat. Aus diesem Kolonialprojekt der Klassifizierung, wie Teno es ausführt, werden (koloniale) Rechte und Ansprüche abgeleitet, Positionen und Bewertungen bestimmt, die dann, welches Wunder, stets zu Gunsten der superiorisierten Klasse und zu Ungunsten der Inferiorisierten ausfallen. Oder: Die nicht-westlichen Elemente nicht-westlicher Pop-Musik werden als exotistischer Wert gleichsam kulinarisch genossen, so wie man etwa Currygewürze schließlich auch positiv als Gewürz wertet, welches das ewige Einerlei der heimischen Küche zu durchbrechen vermag. Sowie als weitere Möglichkeit: Ein projizierender, orientalistischer Blick im Sinne Edward Saids legt Sehnsüchte und Ängste in eben jene dann mystifizierten, nicht-westlichen Elemente.
Drehpunkt Was allerdings konsequent übersehen wird, sind die tatsächlichen Positionen und Anliegen nicht-westlicher Pop-Musiker*innen. Diese sind in den 1960er und 1970er Jahren zwar fasziniert von der neuen elektrifizierten und elektronischen Pop-Musik der westlichen Welt, deren Elektrifiziertheit als Symbol der Moderne fungiert, betreiben allerdings keinen schlicht entlehnenden oder kopierenden, sondern vielmehr einen hybridisierenden Ansatz. Bei ihm werden zahlreiche Elemente der eigenen musikalischen Kultur – Sprache, Kompositionen, Instrumente, Rhythmik, Harmonik, Melodik – mit jenen der westlichen Pop-Musik verbunden um daraus etwas Neues, Gemeinsames entstehen zu lassen, das sowohl über die herkömmliche lokale Musik als auch über die westliche Popmusik hinausgeht: Hybrid-Pop. Paradebeispiele dafür sind etwa Genres wie ›Anatolian Rock‹ oder ›Highlife‹. Sie verschmelzen lokale, indigen-traditionelle Musikstrukturen mit global-westlichen Musikstrukturen. Damit entwickelt Hybrid-Pop zugleich eine spezifische, nicht-westliche Moderne – eigene multilokale Positionen einer anderen Moderne. Ein typisches, geradezu symbolisches Beispiel dafür ist das für die Saz Beat-Kompilationsserie von Global Pop First Wave namensgebende Instrument: die Saz. Diese
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Holger Lund ist ein traditionelles orientalisches Saiteninstrument, optisch und klanglich grob zwischen Sitar, Laute und Gitarre einzuordnen. Sie wurde in den 1960er Jahren in der Türkei elektrifiziert und dann auch westlich-gitarristisch gespielt, unter anderem mit Verzerrer und Wah-Wah-Effekten. Ein gutes Beispiel hierfür ist Cengiz Coskuners Instrumentalstück Samsun’un Evleri (1973)8, wiederveröffentlicht auf der Kompilation Bosporus Bridges Vol. 3, des Berliner Labels Black Pearl (2018). Es handelt sich um eine türkische, auf einem Volkslied basierende Komposition, die jedoch mit Schlagzeug und Bass sowie zwei elektrifizierten Saz – Rhythmus- und Lead-Saz – versehen wird, die mit warmer Verzerrung und Wah-Wah-Pedal im Rock-Idiom gespielt werden. Hier ist dann beides enthalten: elektrische urbane Moderne und anatolische rurale Kultur – eben eine elektrische, rural-urbane andere Moderne. Beispiele für unterschiedliche Konzeptionen von Hybrid-Pop, für unterschiedliche Mischungsverhältnisse bei den Hybridkonstruktionen, liefert meine ebenfalls auf Global Pop First Wave erschienene Kompilationsserie The Trip. Psychedelic Music from the Hippie Trail Pt. 1-4 (2015-2016). Je weiter sich die Stücke auf dem Weg der Hippies von Europa nach Asien von Europa entfernen, desto höher wird dabei der Anteil nicht-westlicher, indigener Elemente. Und das ist nicht alleine eine kuratorische Entscheidung meinerseits gewesen, sondern bildet, mit Ausnahmen, tendenziell durchaus die Sachlage ab. Es gibt aber auch Hybrid-Pop, der weniger auf eine Vermischung, als vielmehr auf eine Koexistenz der Ausgangssubstanzen setzt, wie etwa Niama Makalou et African Soul Band mit ihrem Stück Kognokoura Drissa Coulibaly (1980)9. Elemente von Musik aus Mali werden strukturell neben afro-amerikanischen Disco-Funk gestellt, wie zwei separate Schichten, sodass man das Stück als Musik aus Mali oder als Disco-Funk hören kann. Und es gibt Hybrid-Pop durchaus auch in der westlichen Welt selbst. Wenn etwa die Spencer Davis Group zur US-Besatzungszeit Det war in Schöneberg/ Mädel, Ruck Ruck Ruck (1966)10 anstimmt, so wird dabei anglo-amerikanischer Rock’n’Roll mit deutschem Liedgut hybridisiert.
Fluchtpunkt Die Frage der Dekolonisierung von Pop-Musik habe ich im Untertitel mit der Frage einer neuen globalen Musikgeschichtsschreibung verbunden. Denn beides hängt zusammen: Eine Dekolonisierung nicht-westlicher Pop-Musik kann nur über eine
8 | Vgl. die auf YouTube hochgeladene Aufnahme des Stücks, URL: https://www. youtube.com/watch?v=Dr8_C2PmIUU, (letzter Zugriff: 03.06.2018). 9 | Vgl. die auf YouTube hochgeladene Aufnahme des Stücks, URL: https://www. youtube.com/watch?v=k8sZiFQ6W-8, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
10 | Vgl. die auf YouTube hochgeladene Aufnahme des Stücks, URL: https://www. youtube.com/watch?v=7VkoOo2q-RM, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
Pop und Hybrid-Pop Neudarstellung 11 der globalen Pop-Musikgeschichte als Pop-Musikgeschichte und Hybrid-Pop-Musikgeschichte erfolgen, sie bedarf zudem lokal perspektivierter Musikgeschichten, also einer afrikanischen, arabischen, türkischen, lateinamerikanischen etc. Pop-Musikgeschichte. Dabei gilt es auch, die spezifischen Funktionen der Pop-Musik kritisch zu erfassen und zu verstehen. Im nigerianischen Biafra-Bürgerkrieg etwa diente die Förderung von Pop-Musik und diese selbst seitens der militärischen Apparate sowohl der Rekrutierung von Soldaten als auch der musikalischen Behauptung einer afrikanischen Moderne.12 Pop-Musik ist hier militant music – aber eben nicht militärische westliche Marschmusik als offizielle Disziplinierungsmusik, sondern sexualisierter Funk und Soul als offizielle Anlock- und Verführungsmusik, um zum Militär zu gehen bzw. dort zu bleiben. Auch hier, im militärischen Bereich, finden wir also eine andere Moderne. Aktuell ist eine Neuschreibung der globalen Musikgeschichte durchaus im Gange, jedoch noch weitgehend fragmentiert. Größere Zusammenschauen sind entweder eher strukturell orientiert, wie Motti Regevs Buch Pop-Rock Music (2013), dabei lokale Besonderheiten tendenziell ausklammernd, oder zeitgenössisch orientiert, wie die Berner Plattform norient.com. Allerdings bin ich mir sicher: Eine Neuschreibung der globalen Musikgeschichte als Pop-Musikgeschichte und Hybrid-Pop-Musikgeschichte wird erfolgen. Denn man kann die immer globaler werdende Arbeit von mittlerweile so vielen pop-musikarchäologischen Labels für nicht-westliche Musik, auch flankiert von sehr bedeutsamen Archiven für traditionellere nicht-westliche Musik, wie jenes der Amar Foundation for Arab Music13, – und vor allem die (Hybrid-)Qualitäten der wiederveröffentlichten Pop-Musik – schlichtweg nicht mehr ignorieren. Und so kommt es zu ambivalenten Entwicklungen: Die genannten musikalischen Qualitäten führen einerseits zu einer Einspeisung dieser historischen Pop-Musik in die aktuelle westliche Musik, via Sampling im Hip-Hop oder Afro House, andererseits führen sie zu einem neuen Interesse an nicht-westlicher Pop-Musik, sowohl in den entsprechenden Herkunftsländern, als auch in den westlichen Ländern, was manchen nicht-westlichen Musiker*innen sogar eine zweite Karriere beschert und manchen Stilrichtungen eine Re-Aktualisierung und Fortführung. So etwa bei The New Generation Of Turkish Psychedelic (2016), für die der in Deutschland und der 11 | Diese kann als textuelle Neuschreibung oder auch in alternativen
geschichtsmedialen Aufzeichnungsformen wie Audio History oder Video History erfolgen. Lokale mediale Ressourcen und lokale mediale Kompetenzen sollten hier den Ausschlag geben.
12 | Vgl. Ankündigung der Plattenveröffentlichung Wake up You! The Rise and
Fall of Nigerian Rock, 1972-1977 von Now-Again Records, URL: http://www. nowagainrecords.com/announcing-wake-up-you/, (letzter Zugriff: 03.06.2018). sowie die Buchpublikation zur Platte. ( vgl. Alapatt, Eothen/ Ikonne, Uchenna: 2016).
13 | Vgl. Die Webpräsenz der Amar Foundation for Arab Music Archiving and
Research, URL: http://www.amar-foundation.org/, (letzter Zugriff: 03.06.2018). Dieses Online-Archiv für arabische Musik kann auch als Modell eines Archivs nichtwestlicher, etwa arabischer Pop-Musik betrachtet werden.
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Holger Lund Türkei aufgewachsene und heute in Deutschland lebende Ercan Demirel aktuelle (post-)psychedelische Musik aus der Türkei kompiliert hat. Vor allem jedoch, das ist vielleicht am wichtigsten, führen besagte Hybrid-Qualitäten zu einem neuen identitären (Selbst-)Verständnis in der nicht-westlichen Welt und ihrer Diaspora, in der nun die jeweilige eigene musikkulturelle Vergangenheit nicht mehr als minder- oder unwertig, sondern als wertgeschätzt und international gewürdigt erfahren werden kann. Dieser Prozess wird, das kennzeichnet seine Ambivalenz, sowohl von westlicher wie von nicht-westlicher Seite aus betrieben, mit durchaus divergierenden Interessen. Nichtsdestotrotz ist der eben erwähnte Aspekt der Umwertung dabei vielleicht einer der wichtigsten überhaupt, auf jeden Fall hinsichtlich einer Dekolonisierung von (nicht-westlicher) Pop-Musik. Das gilt auch für jene Teile der Pop-Musik, die eine problematische Komplexität aufweisen, wie der Einsatz von Pop-Musik als militant music. Denn schließlich hat die nigerianische Pop-Musik gerade aufgrund dieses – zweifelhaften und ethisch bedenklichen – militärischen Kontextes eine besondere Qualitätsentwicklung durchlaufen können. Aber dergleichen Komplexitäten und Widersprüchlichkeiten waren beispielsweise schon bei den kriegsverliebten Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch nicht viel anders gelagert. Den Einsatz futuristischer Musik als militant music hätten sie – leider – bestimmt begeistert befürwortet. Und nicht zuletzt: haben wir überhaupt die richtigen (ethischen) Maßstäbe und eine entsprechende Position, solche Aspekte jenseits der westlichen Welt zu beurteilen, wo wir uns innerhalb dieser damit schon so schwertun? Müsste hierbei nicht auch eher eine afrikanische (Musik-)Ethik ansetzen?
Zusatzpunkt Zurück noch einmal zu Global Pop First Wave und meiner Labelarbeit. Derzeit sind immer mehr kooperative Modelle, bei denen westliche und nicht-westliche Partner*innen gleichberechtigt oder zumindest möglichst gleichberechtigt zusammenarbeiten, zu beobachten. Den kooperativen Ansatz möchte ich auch zum Modell weiterer Arbeiten für Global Pop First Wave machen bzw. daran anknüpfende wissenschaftliche und kuratorische Arbeiten. Gegenwärtig planen wir, Cornelia Lund und ich, zusammen mit der türkischen Wissenschaftlerin und Kuratorin Banu Çiçek Tülü ein wissenschaftlich-kuratorisches Projekt, das sich unter dem Titel Hybrid Glamour - Turkish Pop Music Images mit türkischer Pop-Musik der 1960er bis 1980er Jahre und deren Kommunikationsdesign befasst; auf Plattencovern, Fotos, Postern und Anzeigen in damaligen Musikmagazinen sowie Auftritten der Musiker*innen in damaligen Filmen und Clips. Und als Medienkunst- und Mediendesignplattform fluctuating images14 planen Cornelia Lund und ich gegenwärtig eine Ausweitung der Kooperationen mit afrika14 | Vgl. die Webpräsenz von Fluctuating Images, URL: www.fluctuating-images.de, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
Pop und Hybrid-Pop nischen Partner*innen wie etwa mit der senegalesischen Kunst- und Kulturproduktionsplattform Wakh’Art 15 in Dakar. Denn nichts erscheint uns wichtiger, als im gegenseitigen Austausch ein waches, kritisches, sich selbst reflektierendes und prüfendes Dekolonisieren zu erreichen. Dafür schätzen wir insbesondere auch den Dialog mit Luiza Prado und Pedro Oliveira, zwei brasilianischen Vertreter*innen der Decolonizing Design-Gruppe.16
L iteratur Alapatt, Eothen/ Ikonne, Uchenna (2016): Wake Up You! The Rise and Fall of Nigerian Rock 1972-1977, Los Angeles: Now Again. Diederichsen, Diedrich (2014): Über Popmusik, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Mbembe, Achille (2017): Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin: Suhrkamp. Obolo, Pascale (2017): »Occupy Schloss von Puttkamer. Decolonize Architecture Now«, in: AfricAvenir International e.V. (Hg.), No Humboldt 21! Dekoloniale Einwände gegen das Humboldt-Forum, Berlin, 2017, S. 178-187. Spicer, Daniel (2018): The Turkish Psychedelic Explosion. Anadolu Psych 1965-1980, London: Repeater Books. Rassool, Ciraj (2017): »Rückführung und das ›Neue Museum‹«, in: AfricAvenir International e.V. (Hg.), No Humboldt 21! Dekoloniale Einwände gegen das Humboldt-Forum, Berlin, S. 142-157. Regev, Motti (2013): Pop-Rock Music, Cambridge: Polity Press. Reynolds, Simon (2009): Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past, London: Faber & Faber, 2009.
F ilme Dead Donkeys Fear No Hyenas (2017) (D, R: Joakim Demmer) Le malentendu colonial (2004) (CM, FR, D R: Jean-Marie Teno) The Revolution Won’t Be Televised (2016) (SN, R: Rama Thiaw)
15 | Vgl. das Archiv der Webpräsenz von Fluctuating Images http://www.fluctuatingimages.de/de/node/607, sowie ein Interview mit Cornelia und Holger Lund von Wakh’Art Music, URL: http://www.wakhart.com/cornelia-et-holger-lund/ und die Ankündigung von Wakh’Art Music, URL: www.wakhart.com/wakh-art-lespartenariats/, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
16 | Vgl. die Webpräsenz von Decolonising Design, URL: http://www.decolonisingdesign.com/, (letzter Zugriff: 03.06.2018).
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Fragen zur Kolonialität der europäischen Ästhetik Ruth Sonderegger
mit Fragen von Mara Recklies
Sie betonen in Schriften und Vorträgen, dass die Ästhetik in Reaktion auf imperiale und koloniale Verhältnisse zu verstehen ist. Was bedeutet das und welche Konsequenzen lassen sich daraus für die zeitgenössische Ästhetik ziehen?
Vielleicht sollte ich mit einer Präposition beginnen. Ich glaube nämlich, dass die Entstehung der philosophischen Ästhetik nicht in Reaktion, sondern als Reaktion auf den kolonial gestützten Kapitalismus verstanden werden muss, wie er sich ab dem 17. Jahrhundert von Westeuropa aus zu entfalten beginnt. Oder anders gesagt: Es ist nicht lediglich hilfreich, bei der Analyse des Beginns der Disziplin der Ästhetik unter anderem auch auf die imperialen und kolonialen Verhältnisse einzugehen, die der Formierung der Ästhetik voraus gehen. Vielmehr ist die neue Disziplin eine recht direkte Reaktion auf diese Verhältnisse. Die Regeln dieser Verhältnisse strukturieren auch die Ästhetik selbst; in mancherlei Hinsicht bis heute. Oder noch einmal anders gesagt: Die westliche Ästhetik ist seit und in ihrer Gründung eine – wie auch immer schräg verschobene – Auseinandersetzung mit imperial-kapitalistischen Verhältnissen. Wenn ich von Strukturierungen der philosophischen Ästhetik spreche, die bis heute fortwirken, so denke ich zunächst einmal an die Formierung des Kollektivsingulars ›Kunst‹, der uns auch heute noch zu leicht über die Lippen geht. Es ist nämlich alles andere als selbstverständlich, von ›der‹ Kunst, ›der‹ Kunsttheorie oder ›der‹ Ästhetik zu sprechen. Der Kollektiv-Singular ›Kunst‹ hat sich in Europa – und hier erst im 18. Jahrhundert – allmählich gegenüber der bis dahin üblichen Rede von einer Vielzahl von Handwerken und Künsten (die jeweils eigene Regeln und Ästhetiken besaßen) durchgesetzt. Auf der anderen Seite verbirgt sich in der Rede von ›der‹ Kunst bzw. ihrer Theorie auch ein kontrovers universalistischer Anspruch. Denn es sind in Europa – hauptsächlich in England, Frankreich und Deutschland – entwi-
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Ruth Sonderegger ckelte ästhetische Theorien, die beanspruchen, über die Kunst ganz generell sprechen und urteilen zu können. Der viel größere Rest der Welt tritt in den Kunsttheorien ab dem 18. Jahrhundert hauptsächlich zur Abgrenzung des wahrhaft Kunsthaften vom als primitiv gebrandmarkten Handwerk in Erscheinung. Oder anders gesagt: Den ›Primitiven‹ wird u.a. beispielsweise vorgeworfen, dass sie nicht in der Lage sind, zwischen Kunst, Handwerk und Design ordentlich zu unterscheiden. Im Übergang der Rede von den Handwerken und Künsten hin zum Kollektiv-Singular ›Kunst‹ spiegelt sich auch die häufig als Ausdifferenzierung in verschiedene, mehr oder weniger autonome, gesellschaftliche Sphären oder Subsysteme bezeichnete Veränderung europäischer Gesellschaften. Bereiche wie Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Recht, Politik etc. sollten einander in den neu entstandenen bürgerlichen Gesellschaften in Ruhe lassen. Diese für das Funktionieren des sich industrialisierenden Kapitalismus notwendige Ausdifferenzierung, die mit neuen Formen der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung (Stichwort: männliche Produktion vs. weibliche Reproduktionsarbeit) und der Klassenaufteilung einhergeht, wird häufig mit dem Beginn der Moderne gleichgesetzt. Sie gilt als Zeichen der Fortschrittlichkeit oder, genauer gesagt, als Zeichen der Fortschrittlichkeit Nordwesteuropas. Nicht-ausdifferenzierte Gesellschaften gelten dem westlichen Bewusstsein seither als ›primitiv‹. Eng mit der Ausdifferenzierung in verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche verbunden ist auch der schillernde Begriff der Autonomie, der in ganz verschiedenen Diskussionen und theoretischen Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielt. Nicht umsonst ist der Autonomiebegriff das Scharnier im sich etablierenden, aufgeklärten bürgerlichen Subjektverständnis, das sich gegen die Bevormundung von Kirche, Adel und die als vorurteilsbehaftet geltende Tradition richtet. Zwar gilt für jedes der gesellschaftlichen Teilsysteme, die sich im 18. Jahrhundert gegeneinander ausdifferenzieren, dass sie (relative) Autonomie beanspruchen. Doch in jenem gesellschaftlichen Subsystem, das sich im 18. Jahrhundert als Kunstfeld zu separieren und institutionalisieren beginnt, ist die Berufung auf die Autonomie besonders massiv. Der Begriff ›moderne Kunst‹ wird geradezu zu einem Synonym der Bezeichnung ›autonome Kunst‹. Dabei meint ›Autonomie‹ im Kunst-Kontext zugleich die Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Sphären wie auch die Herauslösung der Kunst aus den klassischen Beauftragungsinstanzen Kirche und Adel bis hin zur Behauptung einer vollkommenen Regellosigkeit der Kunst. Diese Ausdifferenzierung und Autonomisierung gesellschaftlicher Teilbereich ist nur halb so emanzipatorisch wie sie sich erst mal, aber ohnehin nur für das aufstrebende Bürgertum, anhört. Denn sie impliziert auch, dass Kunst nun nichts mehr mit Ökonomie, Politik, Moral, Recht oder Ethik zu tun haben soll. Vielmehr soll Kunst jenes selbstreferentielle System werden, zu dem sie sich dann ja auch immer stärker entwickelt hat. Am vielleicht krassesten und sicher am wirkmächtigsten ist die absolute Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen erstmals (1790) in Kants Kritik der Urteilskraft (Kant 1974) ausgearbeitet worden. Kant fordert gleich am Beginn dieses
Fragen zur Kolonialität der europäischen Ästhetik Buches, dass politische und ethische Fragen der Produktionsbedingungen von schönen Gegenständen, aber auch materialkundliche Fragen überhaupt nichts mit der ästhetischen Beurteilung der jeweiligen Gegenstände zu tun haben sollen. Erstere, die ethisch-politischen, gehören in die praktische Philosophie, zweitere in die Wissenschaft und beide sind Kant zufolge von der Ästhetik kategorial unterschieden. Simon Gikandi hat darauf ver wiesen, dass das europäische Konzept der Kultivierung des Geschmacks eng mit Geschichte der Sklaverei zusammenhängt. Auch im Design herrscht bis heute das Primat des kultivierten Geschmacks vor. Kann dies als ein Beispiel für die Ver wicklung von Ästhetik und Macht oder Herrschaft gelesen werden?
Ich freue mich, dass Sie Simon Gikandis Überlegungen ins Spiel bringen. Seiner Studie Slavery and the Culture of Taste (Gikandi 2011) kann ich, was die historischen Fakten in England betrifft, nichts hinzufügen. Er hat ja mit kaum zu übertreffender Detailgenauigkeit nachgewiesen, inwiefern die Entstehung des modernen, ausdifferenzierten Kunstfelds bzw. die Gründung der entsprechenden Institutionen in England sich maßgeblich einer Weißwaschaktion kolonial erwirtschafteten Gelds verdankt. Man kann auf der Grundlage von Gikandis Forschung also sagen, dass der kolonial gestützte Kapitalismus dieses Feld ermöglicht hat. Neben solchen direkten Finanzierungszusammenhängen zwischen Kolonialismus und dem sich etablierenden und autonom werdenden Kunstfeld betont Gikandi aber in der Tat auch den nicht ganz so direkten Zusammenhang zwischen Geschmackskultivierung und Sklaverei. Spezifischer müsste man wohl sagen, dass das Besitzen – letztlich auch schon das Erlernen – von Geschmack von der Ästhetik als Abgrenzungsmechanismus installiert wurde, mit dem zwischen den sog. Zivilisierten und den weniger oder gar nicht Zivilisierten unterschieden werden konnte. Diese Unterscheidungen wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts deswegen immer wichtiger, weil die Barbarei des Kolonialismus ihre perverse Blüte ja gerade in jener Zeit hatte, in der in Westeuropa tendenziell universalistische Verfassungen und Moralen konzipiert wurde. Unter diesen Bedingungen wurde es zur nicht gerade kleinen politischen und philosophischen Herausforderung, die Versklavung und das dabei in Kauf genommene Sterben von Tausenden, ja Millionen Menschen zu verteidigen. Am einfachsten gelang das durch ›Beweise‹, dass manche Menschen keine Menschen sind oder zumindest noch keine Menschen im vollen Sinn. Bei der Konstruktion solcher Beweise spielten die in der englischen Ästhetik geradezu obsessiv diskutierten Geschmacksfragen Gikandi zufolge eine immense Rolle. Denn mit der Kategorie Geschmack bzw. taste konnte man eine Grenze zwischen zivilisierten und kultivierten Bürger(inne)n einerseits und den Unkultivierten und Unzivilisierten auf der anderen Seite ziehen. Diese Grenzziehung wurde umso dringlicher, als gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei in England Fahrt aufgenommen hatte.
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Ruth Sonderegger Etwas überspitzt könnte man vielleicht sogar sagen, dass die englische Ästhetik des 18. Jahrhunderts nichts anderes als ein langer Diskurs über taste und die Lernbarkeit von taste ist. Das beginnt am Beginn jenes Jahrhunderts bei Addison, der den kultivierten ästhetischen Geschmack mit Bezug auf ein koloniales Importgut erster Güte erläutert, nämlich mit Bezug auf den Tee. Genauer gesagt erläutert er taste an der Fähigkeit, verschiedene miteinander vermischte Teesorten unterscheiden zu können. Auch jene, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts Thesen über die Angeborenheit von Geschmack verwerfen und – wie etwa Hume (Hume 2006) oder Lord Kames (2005) – die Lernbarkeit von ästhetischem Geschmack behaupten, kommen jeweils zum Schluss, dass es letztlich immer nur ganz wenige gentlemen sind, die es zu wirklichem taste bringen. All das hat Gikandi, wie gesagt, ausführlichst rekonstruiert. Auf dieser Grundlage habe ich mich in letzter Zeit vor allem mit Kant und der Frage beschäftigt, inwiefern die deutsche Ästhetik, welche Gikandi nur streift, in einem ähnlichen Fahrwasser unterwegs war, wenngleich die deutschen Fürstentümer zur Zeit Kants sicher keine Kolonialmacht im Sinne Englands waren. Dabei bin ich zum Schluss gekommen, dass etwa Kant in seiner Kritik der Urteilskraft farbigen Menschen nicht nur in Beispielen abspricht, für das reine Geschmacksurteil zu wenig zivilisiert zu sein. Vielmehr zeigen seine Überlegungen zum sensus communis als dem ultimativen Beweis des Geschmacksvermögen und des Ausweises von Zivilisiertheit, dass dieses Vermögen nur in sehr wenigen Menschen bereits ausgebildet ist, die meisten es noch lernen müssen und manche auch gar nicht lernen können. Zu diesem Fazit kommt Kant in einem Kontext, in dem er erläutert, warum die Irokesen und Kariben (noch) keine Ahnung vom sensus communis haben. (Vgl. Sonderegger 2018) Die Ästhetik beginnt sich zunehmend dem Design zu widmen. Wie könnte eine emanzipatorische, dekoloniale Designästhetik aussehen oder ver fahren? Gibt es, dem Titel unserer Publikation entsprechend, »Praktiken medialer und epistemischer Transformation«?
Ich muss in Bezug auf diese Frage vorausschicken, dass ich alles andere als eine Designtheoretikerin bin und deshalb nur wenig zu antworten habe. Ich komme darum noch mal auf das eingangs Gesagte zurück. Was einem bei der Beschäftigung mit der Entstehung der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert sofort auffällt, ist die immer konsequentere, in Deutschland noch viel aggressiver als in England vollzogene Trennung zwischen angewandter Kunst bzw. Handwerk oder Design einerseits und reiner Kunst auf der anderen. Da diese Trennung nicht einfach eine Trennung war bzw. ist, sondern eine Hierarchie impliziert, der zufolge ›das Reine‹ über dem ›Angewandten‹ steht, das ›Kultivierte‹ über dem ›Primive(re)n‹, könnte man vermuten, dass dekoloniale und emanzipatorische Ästhetiken automatisch mit der Auflösung dieser hierarchischen Trennung beginnen. Diesbezüglich scheint mir allerdings gerade in der Gegenwart Vorsicht geboten. Denn erzwungene Synthesen sind grundsätzlich nicht besser als erzwungene Teilun-
Fragen zur Kolonialität der europäischen Ästhetik gen – und ich sehe heute im Kunstfeld ziemlich gewaltige Imperative dahingehend, dass Kunst sich mit Forschung, aber auch Handwerk und Design vereinigen soll, sei es aus Exotismus oder weil solche Synthesen im Zeitalter des Kreativkapitalismus neuen Mehrwert versprechen. Im Licht dieser Veränderungen würde ich zwar ganz entschieden bejahen, dass es »Praktiken medialer und epistemischer Transformation« gibt. Aber ich möchte hinzufügen, dass solche Veränderungen nicht per se emanzipatorisch oder dekolonial sind. Man denke nur daran, dass nicht-westliche Künstler*innen im verwestlichten Kunstfeld häufig darauf festgelegt, ja mehr oder weniger gezwungen werden, nicht-westliche Handwerks-Kunst bzw. das, was dafür gehalten wird, zu produzieren. Man müsste also sehr phänomenspezifisch untersuchen, wann mediale und epistemische Transformationen tatsächlich (selbst-)ermächtigenden, emanzipatorischen Charakter haben und wo das Gegenteil der Fall ist. Lassen sich an der gegenwärtigen Konsumästhetik noch immer die Spuren des Kolonialismus erkennen? Oder, in Anlehnung an Böhme gefragt: Inwiefern wirken in der Ästhetik der industriekapitalistischen Produktion imperiale oder koloniale Verhältnisse fort?
Auch diese Fragen kann ich nicht annähernd befriedigend beantworten. Ich versuche aber noch einmal, ein paar Konsequenzen aus meiner Beschäftigung mit dem Entstehen der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert in Bezug auf die beiden Fragen zu ziehen. Vielleicht sollte man zunächst einmal darauf hinweisen, dass Konsumästhetik und Industriekapitalismus keineswegs neuere oder gar nur gegenwärtige Phänomene sind. Wenn man etwa Sidney W. Mintz‘ Forschungsergebnisse in Sweetness and Power (Mintz 1985) ernst nimmt, dann entsteht der industrialisierte Kapitalismus im Zusammenhang der kolonialen Zuckerproduktion in der Karibik und gelangt von dort aus erst nach England. Der koloniale, industrialisierte Kapitalismus wiederum produziert eines der prominentesten Güter der Konsumästhetik, nämlich Zucker. Auf der anderen Seite ermöglicht der kolonial gestützte (Industrie-) Kapitalismus, wie Gikandi gezeigt hat, den Kunst- als einen Luxusmarkt und befördert damit die Konsumästhetik. Wie eng der Zusammenhang zwischen der Ästhetik als einer Agentur der Zivilisationsbescheinigung (bzw. Bescheinigung des Gegenteils) und dem kolonial gestützten Kunstmarkt in England ist, hat auch Carmen Mörsch – und zwar im Ausgang der Frage nach der Entstehung des Konzepts der ästhetischen Bildung in England – erforscht. Sie hat rekonstruiert, inwiefern dieselben Waisenhäuser, in denen die Kinder des Lumpenproletariats mit Kunsterziehung auf den rechten Weg der ausbeutbaren Arbeitskräfte zurückgebracht wurden, zugleich dazu dienten, kolonial erwirtschafteten Mehrwehrt – öffentlich sichtbar – karitativ anzulegen und sich damit moralisch reinzuwaschen. Und ineins damit, so Mörsch, waren diese Waisenhäuser die ersten öffentlichen Ausstellungsorte, an denen Kunst als Luxusgut gekauft und damit neuer, unmessbarer Mehrwert erwirtschaftet werden konnte. Denn schon damals hat sich
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Ruth Sonderegger jene Kunstökonomie etabliert, die Bourdieu als bis in die Gegenwart gültig behauptet hat: Kunst hat dieser Ökonomie zufolge keinen rational berechenbaren Wert und darf deshalb beliebig viel kosten. Darum behaupten gerade Kunstliebhaber*innen und noch dezidierter Kunstbesitzer*innen bis auf den heutigen Tag, dass Kunst mit Geld nicht zu bezahlen sei, ja eigentlich mit Geld gar nichts zu tun habe. Bekannte Texte, wie etwa Ornament und Verbrechen von Adolf Loos von 1908 werden bis heute im Design gelesen, zitiert und haben nahezu Kultstatus. Oft wird ihr rassistischer Charakter dabei entweder nicht berücksichtigt oder marginalisiert. Wie könnte eine dekoloniale Designästhetik mit ihnen ver fahren?
Ich habe mich nie ernsthaft mit Loos und dessen Rassismus beschäftigt, diesbezüglich aber sehr viel von meinem Kollegen Christian Kravagna gelernt. (Vgl. Kravagna 2010) Das ist ein interessanter Hinweis. Ich danke Ihnen, dass Sie sich für diesen Austausch Zeit genommen und meine Fragen beantwortet haben.
L iteratur Gikandi, Simon (2011): Slavery and the Culture of Taste, Princeton/Oxford: Princeton Univ. Press. Hume, David (2006): »Of the Standard of Taste«, in: Ders., Essays. Moral, Political an Literary, New York: Cosimo Classics, S. 231-255. Lord Kames (2005): »Standard of Taste«, in: Ders.: Elements of Criticism, Volume II, online frei zugänglich unter: URL http://lf-oll.s3.amazonaws.com/titles/1431/1252-02_LFeBk.pdf, (letzter Zugriff: 03.06.2018). Kant, Immanuel (1974): I. Kant, Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Band X, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kravagna, Christian (2010): »Adolf Loos and the Colonial Imaginary«, in: Tom Avermaete, Serhat Karakayali, Marion von Osten (Hg): Colonial Modern. Aesthetics of the Past – Rebellions for the Future, London: Black Dog Publishing, S. 244-261. Mintz, Sidney W. (1985): Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History, New York et al. Penguin. Mörsch, Carmen (2017): Die Bildung der Anderen mit Kunst: Ein Beitrag zu einer postkolonialen Geschichte der Kulturellen Bildung (= Kunstpädagogische
Fragen zur Kolonialität der europäischen Ästhetik ositionen 35), hg. von A. Sabisch, T. Meyer, H. Lüber, E. Sturm, UniversitätsP druckerei Hamburg. Sonderegger, Ruth (2018): »Kants Ästhetik im Kontext des kolonial gestützten Kapitalismus. Ein Fragment zur Entstehung der philosophischen Ästhetik als Sensibilisierungsprojekt«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (im Erscheinen).
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Kurzvitae der Autor*innen Nora Al-Badri ist eine multi-disziplinäre Medienkünstlerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin und studierte Politikwissenschaften in Frakfurt am Main. Ihre Arbeiten wurden u.a. auf der Venedig Biennale für Architektur, Istanbul Design Biennale, ZKM K arlsruhe, NRW Forum, Telefonica Stiftung, Gorki Herbstsalon, Warburg Institute, Lethaby G allery London gezeigt. Seit 2009 arbeitet sie regelmäßig mit Jan Nikolai Nelles zusammen. Lynhan Balatbat-Helbock ist Kuratorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei SAVVY Contemporary Berlin und Teil des partizipativen Archiv-Projekts Colonial Neighbours. Sie studierte Postcolonial Cultures and Global Policy an der Goldsmiths University of London. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit den Spuren der Kolonialgeschichte in der Gegenwart. Sie war Assistentin für das documenta14 Radioprogramm - Every Time a Ear di Soun (2017) und bei dem Julius Eastman Projekt – Maerzmusik Festival (2018). Derzeit arbeitet sie mit der Künstlerin Agnieszka Polska für den National Gallery Prize. (September 2018). Veronika Darian ist Juniorprofessorin am Institut für Theaterwissenschaft der
Universität Leipzig. Promotion 2004 zum Theater der Bildbeschreibung. Sprache, Macht und Bild in Zeiten der Souveränität. Weitere Buchveröffentlichungen: Die Praxis der/ des Echo. Zum Theater des Widerhalls (Mithg., Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2015); Momentaufnahme Theaterwissenschaft. Leipziger Vorlesungen (Mithg., Berlin: Theater der Zeit 2014); Verhaltene Beredsamkeit? – Politik, Pathos und Philosophie der Geste (Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009); Mind the Map! – History Is Not Given (Mithg., Frankfurt a.M.: Revolver 2006). Forschungsschwerpunkte: Das Theater des Alter(n)s und der Dinge; Biographie und Narration in Theater, Tanz und Performance; Theater in Gesellschaft(en) in Transformation; Habilitationsprojekt unter dem Arbeitstitel: Schauplätze des Eigensinns. Marlon Denzel van Rooyen, geboren 1995 in Johannesburg Südafrika, lebt derzeit in Berlin. Er arbeitet im Colonial Neighbours Archive bei SAVVY Contemporary Berlin. In seiner Arbeit erkundet er in partizipativen und künstlerischen Formaten die Kolonialgeschichte und ihre Auswirkungen in der Gegenwart. U.a. in Workshops mit dem Kulturagentenprogramm Berlin, Deutsches Historisches Museum, Martin Gropius Bau and IFA Gallery Berlin. Gruppenausstel-lungen u.a. Schlachtenfestival - I am Safe, Neue Galerie Wünsdorf (2017), Occupation, The Point of Order Gallery, Johannesburg (2016), B A C K S P A C E (r e - t r a c e), Ithuba Gallery, Johannesburg.
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Archive dekolonialisieren Kjetil Fallan ist Professor für Designgeschichte an der Universität in Oslo. Er studierte
Design, Soziologie und Geschichte und promovierte an der Norwegian University of Science and Technology (NTNU). Gemeinsam mit Grace Lees-Maffei gab er das Buch Designing Worlds. National Design Histories in an Age of Globalization heraus (Berg Publishers, 2010). Er ist Autor von zahlreichen weiteren Büchern und Aufsätzen, die unter anderem in Zeitschriften wie Design and Culture, dem Journal of Design History oder den Design Issues veröffentlicht wurden. darunter Design History: Understanding Theory and Method (Berg Publishers 2010). Er ist im wissenschaftlichen Beirat des Journal of Design History, als auch der Zeitschrift Design and Culture. Alyssa Grossmann ist Anthropologin und Filmemacherin. 2010 promovierte sie an der Universität Manchester im Bereich der Sozialanthropologie und Visuellen Anthropologie. In ihrer Forschungsarbeit untersucht sie Überschneidungen und Grenzen zwischen künstlerischen und anthropologischen Methoden, Praktiken und Formen. Dabei bedient sie sich experimenteller, sensorischer und visueller Methodologien, um Alltagspraktiken des Erinnerns und der Erinnerung zu erforschen. 2016 hat sie ihre Postdoc-Stelle am Center for Critical Heritage Studies abgeschlossen und ist derzeit als Associated Researcher an der Valand Academy of Fine Arts in Schweden tätig. Marie Kirchner ist Künstlerin und promoviert derzeit an der HFBK Hamburg in einer
theoretisch-praktischen Arbeit, PHD in practice, zu kolonialen Erbstücken. In der Forschungsarbeit befasst sie sich mit der Frage, auf welche Weise sich die deutsche Kolonialgeschichte über Objekte in die Gegenwart transportiert. Zuvor hat sie an der HfBK Dresden Bildhauerei studiert. Schwerpunkt ihrer künstlerischen Arbeit sind Objektinstallationen, die persönliche und gesellschaftliche Zustände befragen und die einzelnen Fragmente miteinander in Assoziationsketten verweben. Eva Knopf ist Filmemacherin und Filmwissenschaftlerin an der Universität Hamburg und unterrichtet an der FU Berlin. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Forschungsverbund Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen der Universität Hamburg und HFBK. Sie studierte Ethnologie und Medienwissenschaft in Göttingen, Amsterdam und Berkeley, sowie Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Sie setzt sich an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis mit bewegten Bildern auseinander, wobei ihre Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Dokumentarfilm, Essayfilm, Archivmaterial und Geschichtsdarstellung, sowie Visuelle Anthropologie liegen. Ihre letzten Filme waren u.a. Majubs Reise (2013) und Myanmarket (2017). Ofri Lapid fragt in ihrer künstlerischen Arbeit nach der Rolle sozialer, ökonomischer
und wissenschaftlicher Austausch- und Transferprozesse bei der Konstruktion von kulturellem Erbe. Ihre künstlerische Praxis umfasst kollaborative, ortsspezifische Projekte, die in Dörfern, z.B in Indien, Bulgarien und Finnland stattfinden. Seit 2016 arbeitet
Kurzvitae der Autor*innen sie an einer praxisorientierten Doktorarbeit, PHD in practice, an der HFBK Hamburg, die sie der Erforschung der traditionellen visuellen Praktiken der amazonischen Shipibo-Conibo-Gemeinschaft und der Art und Weise widmet, wie diese in anthropologischen und populären Diskursen erzählt und aufgezeichnet wurden. Grace Lees-Maffei ist Professorin für Designgeschichte an der Universität in
Hertfordshire. Gemeinsam mit Kjetil Fallan gab sie Designing Worlds. National Design Histories in an Age of Globalization (Berg Publishers, 2010) heraus und zusammen mit Rebecca Houze The Design History Reader (Berg 2010). Im Jahr 2011 erschien von ihr Writing Design: Words and Objects (Berg 2012). Sie verfasste zahlreiche Aufsätze, die unter anderem in Zeitschriften wie Journal of Design History, den Design Issues oder Design and Culture veröffentlicht wurden. Sie war unter anderem als Redaktionsleiterin für das Journal of Design History tätig. Sophie Lembcke war wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Forschungsverbund
Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen der Universität Hamburg und HFBK. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Bildende Kunst in Wien, Paris und Hamburg und schloss mit einer queerfeministischen Arbeit zu Visuellen Autobiographien ab. Derzeit promoviert sie an der HFBK in einem PHD in practice zu den widerständigen Potentialen von Kunst in Hybridisierungs- und Dezentralisierungs prozessen. Desweiteren erforscht sie mit Erzählfiguren, wie Trickster, Hexen, Cyborgs und Piraten, queere und dissidente Subjektkonstruktionen und Autorschaftspraktiken. Als Kulturproduzentin beschäftigt sie sich mit dem Zusammenhang von Wissensproduktion und strukturellen Vorbedingungen und entwickelt kollektive, widerspenstige Formate, die darin intervenieren. Cornelia Lund ist Kunst- und Medienwissenschaftlerin sowie Kuratorin. Seit 2004 ist sie Ko-Leiterin der Medienkunstplattform fluctuating images (Berlin, www. fluctuating-images.de). Zu ihren Forschungsthemen gehören dokumentarische Praktiken, audiovisuelle Kunstpraktiken, Designtheorie, post- und dekoloniale Ansätze. Publikationen: Design der Zukunft (2014), Post-digital Culture (2015; http://post-digital-culture. org/), The Audiovisual Breakthrough (2015; http://www.ephemeral-expanded.net/audiovisualbreakthrough/). Holger Lund arbeitet als Kunst- und Designwissenschaftler sowie als Kurator. 20082011 vertrat er die Professur für Theorien der Gestaltung an der Hochschule Pforzheim, seit Ende 2011 hat er die Professur für Medienkunst an der DHBW Ravensburg inne. Seit 2004 leitet er zusammen mit Cornelia Lund die Kunst- und Designplattform fluctuating images in Berlin. Verschiedene Publikationen zu Musikvisualisierung, Design und Pop-Musik. Zudem betreibt er das pop-historische Musiklabel Global Pop First Wave.
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Archive dekolonialisieren Anna Markowska ist Professorin an der Universität in Breslau als auch Kuratorin und Kunstkritikerin. Ihre Forschungsschwerpunkte bilden Kunst und Kultur von 1945 bis heute, insbesondere Kunst nach dem Holocaust, polnische Kunst im Kommunismus sowie das Verhältnis von Kunst und Macht. Sie veröffentlichte unter anderem Dwa przełomy. Sztuka polska po 1955 i 1989 roku (Torun 2012), Permafo 1970-1981 (Wroclaw Contemporary Museum, Motto Books 2013) und ist Herausgeberin von Trickster Strategies in the Artists‘ and Curatorial Practice (Tako 2012). Jan Nikolai Nelles ist ist ein multi-disziplinärer Medienkünstler. Er lebt und arbeitet in
Berlin und studierte Kunst und Design in Offenbach. Seine Arbeiten wurden u.a. auf der Venedig Biennale für Architektur, Istanbul Design Biennale, ZKM K arlsruhe, NRW Forum, Telefonica Stiftung, Gorki Herbstsalon, Warburg Institute, Lethaby G allery London gezeigt. Seit 2009 arbeitet er regelmäßig mit Nora Al-Badri zusammen. Mara Recklies ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für bildende
Künste Hamburg (HFBK). Sie studierte Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wo sie ihr Studium mit einer Arbeit zu Vilém Flussers Designbegriff abschloss. Sie war u.a. Gastforscherin am Flusser Archiv der Universität der Künste Berlin (UdK), lehrte an der Köln international school of Design (KISD) und war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsverbund Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen. Derzeit promoviert sie an der CAU Kiel im Fach Philosophie zu Genese und Strukturwandel der Designkritik im 20. Jahrhundert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben Design und (Design-)Kritik künstlerische Interventionen und widerständige Praktiken, ihr besonderes Interesse gilt den politischen Dimensionen von Design. Marleen Schröder ist seit 2014 Co-Koordinatorin des partizipativen Archivprojekts Colonial Neighbours des Kunst- und Diskursraums SAVVY Contemporary in Berlin-Wedding. Sie hat Kunst- und Kulturwissenschaften in Potsdam, Berlin und Paris studiert und arbeitet derzeit im Feld Ausstellungsorganisation am Bereich Bildende Kunst und Film am HKW – Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Jana Seehusen, Künstlerin und Autorin, forscht zu Sprach- und Handlungsweisen
des Zwischen, des Dritten und der Verschiebung, sowie Fragen von Un/Sichtbarkeit, Subjekttheorie und Identitätspolitiken. Derzeit promoviert sie an der HFBK Hamburg in einem PHD in practice. Publikationen: Echo: Lauter widerständige Entwürfe. Künstlerische Praktiken von Korrespondenz und Transfer (Berlin 2015); »How to Perform Entangled Memories: Vom Sehen im Nichtsehen« in: Entangled Memories: Remembering the Holocaust in a Global Age (Universität Hamburg 2017); »Imagine Another Topology!«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Gender Blog, www.zfmedienwissenschaft.de (2016), Visualität und Abstraktion. Eine Aktualisierung des Figur-Grund-Verhältnisses, mit Hanne Loreck (Hg.) (HFBK Hamburg 2017).
Kurzvitae der Autor*innen Ruth Sonderegger ist seit 2009 Professorin für Philosophie und ästhetische Theorie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Zuvor hat sie an der FU Berlin, sowie an der Universiteit van Amsterdam unterrichtet. Ihre Forschungsfelder sind (Kolonial)Geschichte der Ästhetik, kritische Theorien und Theorien des Widerstands. Jorinde Splettstößer ist Kuratorin und Kunstvermittlerin bei SAVVY Contemporary im partizipativen Archiv- und Forschungsprojekt Colonial Neighbours. Sie hat Kunstwissenschaften, Gender Studies und visuelle Kunst in Berlin und Santiago de Chile studiert und war Mitarbeiterin im Forschungsprojekt Affective Societies an der FU Berlin. Zurzeit forscht sie für ihre Masterarbeit zu künstlerischen und musealen Erinnerungspraktiken zum deutschen Kolonialismus und assistiert in Alphabetisierungsklassen für Migrant*innen. Sie interessiert sich für emanzipatorische Bildungsprozesse, für Geschichtspolitik und künstlerisch-kuratorische Praktiken. Undine Stabrey, Archäologin und Wissenschaftsforscherin, beendet just ein Projekt zur
Temporalität von Bildungsbedingungen und Digitalität. Sie wurde in Paris & Bern mit einem wissensphilosophischen Essay über Temporalität und Dinge promoviert und lehrt Altertumswissenschaften und Antikekonstruktion an der Uni Bern. Ihr Interesse gilt der Zeitlichkeit wissenschaftlicher Argumentation, prognostischen Strukturen formaler Gestalt und Epistemologien von Altertumswissenschaften. Trinh T. Minh-ha ist Filmemacherin, Autorin, Komponistin, Feministin und post-koloniale Theoretikerin. Ihre Arbeiten – darunter zahlreiche Bücher, Filme und Installationen – erhielten weltweit große Anerkennung und prestigeträchtige Auszeichnungen. Sie lehrt derzeit als Professorin an der University of California in Berkeley im Fachbereich Gender and Women‘s Studies sowie Rhetorik (Film). 2016 erschien ihr aktuellstes Buch Lovecidal: Walking with the Dissappeared. 2015 feierte ihr neuester Film Forgetting Vietnam Premiere. Marc Wagenbach war von 2009 bis 2013 wissenschaftlicher Leiter der Pina Bausch Foun-
dation. Er promovierte im Bereich Medienwissenschaft und Ästhetik an der Universität Köln. Er ist Gründer und seit 2014 Leiter des internationalen Forschungszentrums für zeitgenössische Künste Ekeby in den Niederlanden. 2017 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund Übersetzen und Rahmen an der Universität Hamburg im Teilprojekt: Bewegungen übersetzen. Tanzästhetische Transformationen und ihre medialen Rahmungen – Das Beispiel des ›afrikanischen Tanzes‹.
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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Götz Großklaus
Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9
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Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo
Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3
Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)
Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
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