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German Pages 360 [354] Year 2021
Rosemarie Boenicke Transformationen des Bildungsbegriffs
Pädagogik
Rosemarie Boenicke (Prof. em. Dr. phil.), geb. 1948, war in den Bereichen der Bildungswissenschaft und Schulpädagogik an der Heidelberger Universität sowie in der Lehrer*innenausbildung und Schulentwicklung in Darmstadt und Wiesbaden tätig. Sie habilitierte sich an der TU Darmstadt zum Bildungsbegriff von H.-J. Heydorn.
Rosemarie Boenicke
Transformationen des Bildungsbegriffs Zur Logik bildungstheoretischen Denkens
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Inhalt
1.
Einführung............................................................................... 9
Teil I Annäherungen 2.
Vorspiel zu Wasser – Herders »Journal meiner Reise im Jahr 1769« .................... 23
3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8
Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre« ......... 31 Bildungsromane: Die Praxis des Selbstbezugs ............................................. 31 Die Perspektive der Bildungsgangforschung .............................................. 34 Irrfahrten I: »Anton Reiser«.............................................................. 35 Theaterdonner und bürgerliche Öffentlichkeit ............................................ 55 Irrfahrten II: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«............................................... 59 Bedeutungsschichten von Bildung ....................................................... 64 Turmpädagogik.......................................................................... 70 Schöne Seelen........................................................................... 72
4. 4.1 4.2 4.3
Grundbegriffe........................................................................... Selbst ................................................................................... Subjekt.................................................................................. Individuum ..............................................................................
77 77 85 97
Teil II Lektüren 5. 5.1 5.2 5.3 5.4
Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden« .............................. 111 Bedeutungsfacetten des Bildungsbegriffs .................................................111 Voraussetzungen: Methodologische und theoretische Grundannahmen .................... 113 Vom Wert der Verschiedenheit ........................................................... 117 Selbstbezug und Weltbezug .............................................................. 121
5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10
»Leitfaden bei der freien Selbstbildung« ................................................ 128 Zusammenwirken der Individuen und der »Begriff der Menschheit« ...................... 135 Träume von Vollkommenheit ............................................................ 138 »Ausbildung aller menschlichen Kräfte« ................................................. 142 Allgemeine Menschenbildung, praktisch gedacht .........................................148 Anknüpfungspunkte .................................................................... 153
6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10
Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen« .................................159 »Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung«.....................................159 »Rückkehr aus dem Anderssein« ........................................................ 161 Lektionen des Abschieds ................................................................166 Neue Wissensformen .................................................................... 171 »Denken als besondere Wirklichkeit« .................................................... 176 Funktionen der Erinnerung............................................................... 181 »Umgestalten der Seele« ................................................................184 »Unterwerfen« und »richten«: Institutionalisierte Bildung ................................190 Bildungsgänge und Bewusstseinsgeschichte .............................................196 Feuerbachs Zweifel ..................................................................... 202
7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8 7.9 7.10
Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig« ............................................... 209 Experimentelles Denken ................................................................ 209 Romantische Bildungstheorie: Eine Skizze................................................ 214 Umstellung der Prämissen ............................................................... 219 Responsivität, Berührung ............................................................... 225 Produktive Imagination ................................................................. 229 »Moralische Bildungslehre«............................................................. 233 »Selbstfremdmachung – Selbstveränderung – Selbstbeobachtung« ...................... 236 »Bildung der Erde« ..................................................................... 240 »Keime künftiger Organe« .............................................................. 246 Die Lehrlinge zu Sais ................................................................... 250
Teil III Zur Logik von Bildungstheorien 8. Abbrüche, Neubestimmungen........................................................... 261 8.1 Zum Funktionswandel von Bildung ....................................................... 261 8.2 Begräbnis der humanistischen Bildungsidee: Hans Freyer, »Zur Bildungskrise der Gegenwart« (1931)................................................................... 276 8.3 Nach dem Endspiel: Adornos »Theorie der Halbbildung« (1959)........................... 280 8.4 Bildungssubjekt und soziales Subjekt ................................................... 288 9. Umstellungsprozesse des Bewusstseins ............................................... 297 9.1 Der freigesetzte Vasall.................................................................. 297 9.2 Wissenwollen und die Stufen des Lernens ............................................... 300
9.3 Transformatorische Bildungsprozesse................................................... 305 9.4 Bildung in Übergangsgesellschaften...................................................... 317 10. 10.1 10.2 10.3 10.4
Interaktion, Verständigung, Responsivität .............................................. 321 Das antwortende Ich..................................................................... 321 In den Zwischenräumen ................................................................ 327 Veränderungen im Begriff des Wissens .................................................. 338 Die Ausdehnung des Wahrnehmungsfelds ............................................... 344
Literatur .....................................................................................351
1. Einführung
In einem Briefroman lässt Montesquieu Anfang des 18. Jahrhunderts einen fiktiven orientalischen Herrscher sich auf Reisen begeben und dazu seine Freunde, seinen Harem und seine treuen Eunuchen und Diener verlassen.1 Vermutlich seien er und sein Begleiter die ersten Menschen, die durch das Bedürfnis nach Wissen dazu gebracht worden seien, alle diese Glücksgüter gegen die Mühen einzutauschen, die das Erlangen neuer Kenntnisse mit sich bringe, so der Herrscher. Jedoch dürften die Grenzen des Landes, in das er hineingeboren sei, nicht die Grenzen seines eigenen Wissens sein; deshalb müsse er sein Land verlassen.2 Montesquieu veröffentlicht die »Lettres persanes« 1721. Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts wird dann das Motiv der Reise mehr und mehr zur Metapher eines inneren Bildungsprozesses. Die Betonung liegt dabei auf der Einsicht, dass gegenstandsbezogene Kenntnisse nur durch den Bezug auf das wahrnehmende Selbst Bedeutung erlangen. Neue Formen der Selbstthematisierung entwickeln sich in diesem Kontext, die den prozeduralen Charakter der eigenen Identität betonen, das konstante »Werden«, das nicht mit der Phase des Heranwachsens abgeschlossen sei.3 Die Individuen stehen rapide sich verändernden Landschaften des Wissens gegenüber, sie finden sich nicht mehr in Lebenswelten vor, in denen das, was wahr und richtig ist, feststeht, Bewertungen vorgegeben, daraus folgende Verhaltenserwartungen definiert sind. Dies sollen die Individuen nun selber leisten, immer aufs Neue. Das Subjekt dieses Wissens muss sich nicht mehr auf Reisen begeben, um dessen Grenzen zu erkunden, die Fragen nach der eigenen Position und Perspektive holen es an Ort und Stelle ein. Die Notwendigkeit des Selbstbezugs als Ausgangspunkt, um in einer Welt schneller Veränderungen einen eigenen Standort zu entwickeln, wird im 18. Jahrhundert zu einem so wichtigen Thema, dass die Frage, was solche Prozesse ermöglicht, einen eigenen Begriff zugeordnet bekommt, den der Bildung. Dabei bleibt aber alles auf das einzelne Ich bezogen 1 2 3
Montesquieu (1998), Lettres persanes, hg. von P. Malandain, Paris. Vgl. ebd., S. 25. Bei Wilhelm v. Humboldt wird dieses Werden zu einem übergreifenden Prinzip. »Denn offenbar sind wir im Werden«, fasst er 1793 seine Reflexionen in einem Brief an Körner zusammen und dies gelte ebenso für das Individuum wie für die Gattung Mensch. (W. v. Humboldt (1981), An Christian Gottfried Körner: Zur philosophischen Geschichte der Menschheit. Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. V. Darmstadt, S. 171-174, hier S. 174).
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Transformationen des Bildungsbegriffs
und eingeschränkt – ein Ich, das »nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Wert und Dauer verschaffen will«.4 Zunächst ist Bildung nur ein anderes Wort für Gestaltung und Gestalt, aber nun avanciert der Begriff gegen Ende des 18. Jahrhundert zu einer Art Leitvorstellung, die eine neue Auffassung des Umgangs mit sich selbst bezeichnet. Man braucht diesen »neuen Ankömmling in unserer Sprache«5 , um eine bestimmte Haltung zu sich selbst, zum eigenen Leben auszudrücken: sich selbst zur Aufgabe zu machen, die eigenen Fähigkeiten und Begabungen in ihrer Einzigartigkeit zu entfalten und weiterzuentwickeln. Aufgeladen ist dies mit gesteigerten Erwartungen an das eigene Selbst, mit der Vorstellung, man sei ein Wesen, das sich selbst erschafft, indem es frei wählen kann, welches Wissen es braucht, welche Erfahrungen ihm helfen, sich selbst zu verstehen, das urteilsfähig ist und über die Ressourcen verfügt, die eine weit zurückreichende Kultur ihm zur Verfügung stellt. Dies geht einher mit dem Glauben an eine individuelle Formensprache, die in jeder Person angelegt sei; Bildung heiße, sie immer noch reiner und vollständiger zum Ausdruck zu bringen. Dem Bauplan einer Pflanze vergleichbar dränge dieses Formprinzip auf Aktualisierung, sei aber darauf angewiesen, dass an seiner Verwirklichung gearbeitet wird. Das Individuum wird sich selbst zum Projekt. Mit Schule, überhaupt mit Institutionen, die Bildungsangebote organisieren, hatte diese Idee zunächst überhaupt nichts zu tun; sie konnten solche Bildungsprozesse nur behindern. Reisen, möglichst vielfältige Erfahrungen mit anderen Menschen, Wissenserwerb in vielen Feldern, die individuelle Auseinandersetzung mit der kulturellen Überlieferung schienen dafür der beste Weg zu sein. Ausgerechnet der später Verantwortliche für die Entwicklung des preußischen Schulsystems, Wilhelm von Humboldt, warnt in jungen Jahren davor, die »vom Staat angeordnete oder geleitete Erziehung« auszubauen und ihr Bildungsaufgaben zu übertragen: Alles hänge bei Bildungsprozessen von der »höchsten Mannigfaltigkeit« der Erfahrungen, der eigenen Selbsttätigkeit und dem Begreifen der eigenen natürlichen Anlagen in ihrer Individualität ab, und nichts davon könne öffentliche, institutionalisierte Bildung leisten.6 Im Motiv des auf Reisen gehenden Herrschers kündigt sich bei Montesquieu ein sich veränderndes Selbstbild an. Um neues Wissen zu erlangen, verlässt er sein Reich. Über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende hatten sich die Abkömmlinge der Herrschaftselite auf die Ausbildung persönlicher Verhaltensqualitäten konzentriert, hatten Lehrmeister herbeigeholt, die sie im Fechten und der Redekunst unterrichteten, aber dies war stets von Wissenserwerb im engeren Sinne abgegrenzt worden. Max Weber fasst zusammen, dass diese Praxis die »ritterlich oder asketisch oder (wie in China) literarisch oder (wie in Hellas) gymnastisch-musisch oder zum konventionellen angelsächsischen Gentleman kultivierte Persönlichkeit« zum Ziel hatte und damit ein »Mehr an ›Kulturqualität‹ […], nicht von Fachwissen.« Und er fügt hinzu: »Das kriegerische, theologische, juristische Fachkönnen wurde natürlich dabei eingehend gepflegt«, aber
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W. v. Humboldt (1960), Theorie der Bildung des Menschen, a.a.O., Bd. I, S. 234-240, hier S. 235. Moses Mendelssohn, Schriften zur Philosophie, zit. Ernst Lichtenstein (1971), Artikel »Bildung«, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Darmstadt, Sp. 921-937, hier Sp. 921. W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, a.a.O., Bd. I, S. 56-233, hier S. 105/06.
1. Einführung
es gehörte einer anderen Ordnung als der der Bildung an, es gehörte nur zum Katalog notwendiger Qualifikationen für zukünftige Tätigkeiten, nicht zu dem, was die »Persönlichkeit« auszeichnet.7 Nun, um 1800, wird in vielen Schriften die Empfindung ausgedrückt, sich inmitten einer Zeitenwende zu befinden, die das Individuum mit der Erwartung konfrontiert, auf veränderte Lagen mit veränderten Anforderungen an sich selbst zu reagieren, die sich nicht in der Kultivierung der Verhaltensdimension erschöpfen.8 Zwar verschieben sich die Machtverhältnisse zugunsten des Bürgertums nur vorsichtig in Deutschland, aber dieses neue Bürgertum baut seine Position aufgrund eines Wissens aus, das unmittelbar die Lebensverhältnisse in Gestalt neuer Produktionstechniken verändert und auch gewisse bürgerliche Schichten mit so viel Geld ausstattet, dass sie allein darüber zum Machtfaktor werden. Auf diese neue Situation sind die zu diesem Zeitpunkt entstehenden Bildungskonzepte auf zweifache Weise eine Antwort: Sie werten den Erwerb von Kenntnissen, breit angelegtem Wissen, eigener Urteilsfähigkeit auf Kosten des Ideals bloßer Kultiviertheit auf und binden andererseits diese Dimension an Vorstellungen von Selbstentfaltung und zunehmender Autonomie. Wieder soll Bildung mehr sein als bloß funktional geforderter, beruflich einsetzbarer Kenntniserwerb, aber die Zielsetzung ist jetzt eine andere. Die gleichzeitige Steigerung von Selbstentfaltung und Wissenserwerb soll die Individuen in die Lage versetzen, tradierte Selbstverständlichkeiten der Lebensführung durch eigenständige Reflexionsleistungen zu ersetzen. Es entstehen übergreifende Diskurse, in denen die Forderung nach Neubestimmung des eigenen Selbst- und Weltbezugs Gestalt annimmt, und dazu verwenden sie den Bildungsbegriff. Dies ist kein bloßer Gedanke, der sich auf veränderte Positionsbestimmungen und das Sprechen über neue Erfahrungen beschränkt, offenbar sitzt die Erschütterung tiefer. Goethe veröffentlicht den Roman einer unglücklichen Liebe9 , nicht gerade ein ungewöhnlicher Topos, und darauf antwortet die männliche Jugend mit einer Selbstmordwelle, offenbar Ausdruck eines bis zum Äußersten getriebenen Gefühls der Selbst-Infragestellung. Radikale Selbstproblematisierung ist auch das Thema der meisten Theaterstücke jener Zeit, und bei vielen Angehörigen des Bürgertums ist es üblich, beinahe täglich den Abend im Theater zu verbringen.10 Weite Reisen – wer zu den Gebildeten rechnen will, muss irgendwann in Rom gewesen sein – gehören ebenfalls dazu und sind zu dieser Zeit viel gefährlicher, als man sich dies heute vorstellen mag. In Tagebüchern, Briefen, Reiseberichten, Essays kreist die Rede um ein Selbstverhältnis, das sich in einem kontinuierlichen Prozess der Selbstthematisierung und Selbstbefragung ebenso kontinuierlich verändert. Bildungstheorien sind die Reflexionsebene dieser veränderten Praxis des Selbstbezugs. Sie müssen offenbar auch dann, wenn sie als
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M. Weber (1964), Wirtschaft und Gesellschaft, zweiter Halbband. Köln, Berlin, S. 737 (Herv.i.O.). J. Dolch spricht von einem »geradezu ›dekorativen‹ Gesamtcharakter« der auf Kultivierung ausgerichteten Bildungsgänge der Antike. (J. Dolch (1971), Lehrplan des Abendlandes. Darmstadt, S. 26). Hegel nimmt seine Gegenwart als etwas wahr, das, »ein Blitz, auf einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt« (W.F. Hegel (1986), Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, Red. E. Moldenhauer und K.M. Michel, Bd. 3. Frankfurt a.M., S. 19). Es handelt sich um »Die Leiden des jungen Werthers«, erschienen 1774. Zeugnis davon geben J.P. Eckermanns »Gespräche mit Goethe«.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Entwürfe, als programmatische Forderungen und idealtypische Konstruktionen gelingender Selbst- und Weltverhältnisse auftreten, als Reaktionen auf Krisenerfahrungen verstanden werden. Zu Konjunkturen der Bildungsthematik kommt es immer dann, wenn traditionelle Orientierungen ihre Tragfähigkeit verlieren. Im Falle der klassischen Bildungspostulate des 18. Jahrhunderts richtet sich die Forderung nach Veränderung fast ausschließlich an das eigene Selbst; Bildungstheorien treten als Forderung an die Individuen auf, das eigene Selbstverständnis zu klären, die eigenen Mittel zu erweitern, Lernprozesse zu verstetigen. Die eigene Entwicklung soll Ergebnis dieses Lernens und nicht bloßer (sei es biologischer, sei es kognitiver) Reifungsprozesse sein. In diesen Klärungsversuchen machen Bildungstheorien Anleihen bei der neueren Philosophie und bei antiken Autoren; sie greifen auf Denkfiguren wie die der Monade oder der Entelechie zurück und verwandeln sie in die orientierenden Ideen der Selbstvervollkommnung, Autonomie, der Freiheit eigener Selbstschöpfung. Dagegen sind die Humanwissenschaften – Anthropologie, Pädagogik, Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte – erst noch im Entstehen, noch liefern sie nur wenige Bezugspunkte. Ebenso wenig sind Bildungstheorien zu diesem Zeitpunkt Systematisierungen der Dimensionen jener Praxis, für die Bildung steht und wie sie Friedrich Schleiermacher in seinen Vorlesungen bezogen auf Erziehung bereits genau umreißt. Stattdessen kreisen die klassischen Bildungstheorien um 1800 um die Logik einer Selbstkonstitution durch Bildung und heben jeweils einen Aspekt daran hervor bzw. erheben ihn zum entscheidenden Merkmal. Ihre Verfasser haben nicht die Intention, eine in sich geschlossene, ausformulierte Bildungstheorie zu liefern; ihrem eigenen Selbstverständnis nach ist ihr Bildungsbegriff eher Teil anthropologischer, geschichtsphilosophischer oder erkenntnistheoretischer Zusammenhänge und wird jeweils unter diesem Titel behandelt. Zunächst – so die These – treten Bildungstheorien um 1800 als Übersetzung subjektphilosophischer Konzeptionen in lebensweltliche Entwürfe gelungener Selbst- und Weltverhältnisse auf. Die Stationen bildungstheoretischen Denkens um 1800 und einige seiner Weiterentwicklungen werden hier mit dem Ziel dargestellt, einerseits übergreifende Motive dieses Bildungsdenkens herauszuarbeiten, andererseits aber allmähliche Verschiebungen und Brüche innerhalb dieser Denkformationen zu verdeutlichen, die aus der Notwendigkeit entstehen, die Begrenzungen subjekttheoretischen Denkens zu überschreiten. Dass die Motive frühen Bildungsdenkens (z.B. das der eigenen Unabgeschlossenheit oder der Arbeit an sich selbst) immer wieder in den verschiedenen Phasen bildungstheoretischer Reflexion auftauchen, ist plausibel, wenn Bildungstheorien als Aspekte einer Theorie der Moderne verstanden werden, die noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Um deren Einsatzpunkt zu verdeutlichen werden in Teil I zunächst an wenigen Beispielen vortheoretische Arten der Thematisierung von Bildung beleuchtet. Dabei gerät ein frühes Reisejournal Johann Gottfried Herders und die dort formulierten, geradezu sich überschlagenden Erwartungen an die Möglichkeiten von Bildung in den Blick. Sie sind nicht nur äußerst vielfältig, sondern auch in sich widersprüchlich; nahezu alle Möglichkeiten, über Bildung zu sprechen, werden hier versammelt, und dies meist auf einer einzigen Seite. Er, Herder, habe die Intention, einer »Zeit der Bildung« für sein Land zum Durchbruch zu verhelfen, aber Voraussetzung dafür sei, »alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören, und nur selbst zu erfinden, was ich denke und
1. Einführung
lerne und glaube!«11 Herders programmatischen Äußerungen werden in diesem ersten Teil zwei Romane als Beschreibungen der Praxis von Bildungsprozessen zur Seite gestellt. Sie lesen sich wie Falldarstellungen: Bei Karl Philipp Moritz und Johann Wolfgang Goethe erscheint Bildung einerseits als Möglichkeit, seinem Leben eine selbstgewählte Gestalt zu geben, andererseits stellen beide Autoren ihre Protagonisten Anton Reiser und Wilhelm Meister als fast auf ganzer Linie scheiternde Heroen der Selbstkonstitution durch Bildung dar. Die Ziele ihrer selbstgewählten Bildungsprozesse lösen sich ihnen unter den Händen auf, stattdessen sind sie mit Selbsttäuschungen konfrontiert, aus denen sich keine Lehren ziehen lassen. Wenn schon beide Romane wie äußerst kritische Kommentare zu Pindars gerne zitierter Devise »Werde, der du bist« wirken, so wird in einem letzten Abschnitt dieses ersten Teils ein kurzer Blick auf Grundbegriffe geworfen, die sowohl diesen Satz als auch seine Kommentare tragen: auf die Begriffe »Selbst«, »Subjekt« und »Individuum« in ihrer bildungstheoretischen Dimension. Wenn das Ich der Bildungstheorien hier als die lebensweltliche Entsprechung zum Subjektbegriff der Philosophie verstanden wird, so richtet sich zugleich die Aufmerksamkeit auf die Hypotheken subjektphilosophischer Konstruktionen. Um die These dieser Entsprechung zu konkretisieren, werden anhand der im II. Teil vorgestellten Konzeptionen drei paradigmatische bildungstheoretische Weiterentwicklungen des Subjektbegriffs, wie er die Philosophie jener Zeit bestimmt, diskutiert. An den Entwürfen von Humboldt, Hegel und Novalis soll gezeigt werden, dass sie zwar vom Subjektbegriff ausgehen, aber auf unterschiedliche Weise seine Grenzen markieren und auf unterschiedliche Weise über ihn hinausgehen. Alle drei Konzeptionen können als Neubestimmung der Position des Ichs in seinem Verhältnis zu etwas Unbekanntem, Neuen und Fremden gelesen werden. Die Vertiefung in unbekannte Sachgebiete schließt neue Seiten am eigenen Selbst auf, erkennt Wilhelm v. Humboldt bei der Lektüre wissenschaftlicher Texte12 , und gerade indem er diese zunächst ihm fremden Texte sich anverwandelt, kommt er seinem Ziel, »sich selbst verständlich […] zu werden«, näher.13 Neues Wissen führt zu Neubewertungen des Eigenen im Lichte des Fremden. Anders als zuvor wird in der Erfahrung des Anderen – der neuen Gedanken, fremden Meinungen, unvertrauten Perspektiven – das Ich sich auf veränderte Weise selbst zum Thema. Humboldt gelangt zu der Einsicht, dass ein Ich nur ein Bewusstsein seiner selbst entwickeln kann, wenn es sich mit dem Unbekannten und Fremden auseinandersetzt, aber in diesem Prozess ist es zugleich von Entfremdung bedroht. Ebenso wie in Humboldts Gedankengang das Sich-Einlassen auf das Unvertraute eine ambivalente Erfahrung ist, setzt Georg Wilhelm Friedrich Hegel wenige Jahre später seinerseits Entfremdung an den Anfang von Bildung. Aber während bei Humboldt das Individuum das Fremde in etwas Eigenes transformiert, das als »Licht« und »Wärme« erfahren wird14 , führt Hegels Konzept von Bildung zu einem radikalen Sich-
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Johann Gottfried Herder (2002), Journal meiner Reise im Jahre 1769, historisch kritische Ausgabe, hg. v. Katharina Mommsen. Stuttgart, S. 35, 12. Vgl. W. v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, a.a.O., Bd. I, S. 237. Ebd., S. 235. Ebd., S. 237.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
selber-fremd-Werden und darüber schließlich zu einem auf Dauer gestellten »Sichanderswerden«.15 Als Leiter eines altsprachlichen Gymnasiums hört er die Klagen seiner Schüler, dass all das, was man sie zu lernen zwinge, nichts mit ihnen zu tun habe. In einer seiner Gymnasialreden erklärt er ihnen, dass es dieser Entfremdung bedarf, um neue Erfahrungen zu machen, exemplarisch sei dafür das Sich-Ausliefern an die neue Erfahrung einer fremden Sprache und an die in ihr ausgedrückten fremdartigen Gedanken.16 Hier sei gefordert, sich vom Vertrauten und unmittelbar Gewissen zu lösen, überhaupt von der Unmittelbarkeit des Erwartbaren, und sich zu öffnen gegenüber Unvertrautem und bisher Ungedachtem. Das aber sei gebunden an Negation, d.h. die Fähigkeit, die Herrschaft des Gegebenen und Selbstverständlichen außer Kraft zu setzen, mit ungewissem Ausgang. So werden bei Hegel – ganz anders als bei Humboldt – Negation, Konflikt, Widersprüche zu treibenden Elementen von Bildungsprozessen und begründen die menschliche Geschichte als Entwicklungsprozess des Wissens. Auf unterschiedliche Weise erscheinen Bildungstheorien in diesen beiden Konzeptionen wie das selbstreflexive Gegenstück zur Subjektphilosophie der zeitgenössischen Erkenntnistheorie. Dass der Selbstbezug des Ichs Grundlage jedes Bezugs zu den Gegenständen ist, ist eine Einsicht der Erkenntnistheorie17 ; auf welchen Wegen es sich aber zu einer Instanz entwickelt, die sich ihrer selbst bewusst ist, und welche Aufgaben sich ihr dabei stellen, machen die gleichzeitig entstehenden Bildungstheorien zum Thema. Es gibt aber auch Gegenpositionen, denen diese Anbindung an die subjektphilosophischen Prämissen und die Gleichsetzung von Bildung mit individueller Selbststeigerung als zu eng erscheint. Ausformuliert findet sich diese Gegenposition bei Novalis; im Zentrum steht bei ihm das »Wechselverhältnis« der Lebewesen, da »man sich nur in Verbindung, nicht allein wahrnehmen kann«.18 Ein Begreifen der Responsivität zwischen den aufeinander Bezogenen, ihre wechselseitige »Berührung« rückt bei Novalis in einer über einen langen Zeitraum sich erstreckenden Auseinandersetzung mit Johann Gottlieb Fichtes Subjektphilosophie zunehmend in den Mittelpunkt der Reflexionen. Bildung bedeute, sich eine veränderte Haltung gegenüber dem Anderen zu erarbeiten, und dies setze eine Veränderung des Verhältnisses zum eigenen Selbst voraus: »Wir verstehen natürlich alles Fremde nur durch Selbstfremdmachung – Selbstveränderung – Selbstbeobachtung.«19 Die Verschiebung der Perspektive, die sich bei Novalis andeutet, findet sich in neueren Entwicklungen bildungstheoretischen Denkens wieder, die auf eine Krise des Bildungsbegriffs antworten. Lange Zeit waren bildungstheoretische Diskussionen, zumal in Fragen des Kanons, von einer kulturkritischen Abschottung gegenüber neuen gesell-
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G.W.F. Hegel (1986), Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 23. G.W.F. Hegel (1986), Gymnasialreden. In: Ders., Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808-1817, a.a.O., Bd. 4., S. 321. Hegel war von 1808 bis 1816 Gymnasialdirektor in Nürnberg. I. Kant (1975), Kritik der reinen Vernunft, Werke in zehn Bänden, Bd. 3, hg. v. W. Weischedel. Darmstadt, S. 136 (B 132) Novalis (1960 ff), Schriften in vier Bänden, hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. II. Stuttgart 1960ff., S. 215, Fragment 303 Novalis (1981), Werke, hg. v. Gerhard Schulz. München, S. 116
1. Einführung
schaftlichen Erfahrungen geprägt.20 Als Antwort darauf entstanden im Verlaufe des 19. Jahrhunderts und dann verstärkt im 20. Jahrhundert zunächst Umdeutungen, dann Formen vehementer Kritik des klassischen Bildungsdenkens. Teil III zeichnet zunächst noch einmal kurz das Schicksal des klassischen Bildungsideals im 19. Jahrhundert nach, das einerseits wesentliche Positionen traditionellen Bildungsdenkens konservierte, vor allem die Hochschätzung kultureller Traditionen, aber ihre Kenntnis nun zu »Bildungsgütern« und »Kulturbesitz« ummünzte. Spätere kritische Auseinandersetzungen mit dem klassischen Bildungsbegriff legten im 20. Jahrhundert häufig diese verflachte Rezeption der Kritik am Bildungsdenken überhaupt zugrunde. Mitte des 20. Jahrhunderts spricht Theodor W. Adorno von der »objektiv zerfallenen Bildung«.21 Neben dieser Abkehr von der Bildungsthematik entstand aber im 20. Jahrhundert eine weitere Linie bildungstheoretischer Diskurse, die parallel zur Krise traditionellen Bildungsdenkens, aber weniger sichtbar verlief und auf sehr grundsätzliche Weise auf eine Neuorientierung von Bildungstheorien abzielte. Die Aufgabe des dritten Teils ist vor allem, diese Linie nachzuzeichnen, die sich knapp und eher vorläufig als intersubjektive Wende bezeichnen lässt. Sie gewinnt seit Anfang des 20. Jahrhunderts Konturen und tritt neben vorherrschende Bildungsdefinitionen in Gestalt eines verbindlichen Kanons und der Merkmale einer »gebildeten Persönlichkeit« als zweiter, auf lange Zeit implizit bleibender Bildungsbegriff. Er lässt sich im Nachhinein als Entsprechung zur kommunikativen Wende der Philosophie beschreiben, angefangen mit Martin Bubers Essays zum »Dialogischen Prinzip« und ähnlichen theoretischen Ansätzen in seinem Umfeld. Es sind Verschiebungen, die sich von langer Hand vorbereitet hatten und sich bis zu Humboldts Betonung der Bedeutung des Gesprächs und Novalis’ Ansätzen zu einer responsiven Erkenntnistheorie zurückverfolgen lassen. Als folgenreich erweist sich insbesondere Humboldts Schritt, in enger Anlehnung an die Subjektphilosophie seiner Zeit und doch entgegen ihren Intentionen an die Stelle des autonomen Subjekts das Individuum treten zu lassen. Es ist ein Ich, das sich nicht über seine verallgemeinerungsfähigen Eigenschaften, sondern die Bedeutung des Singulären, nicht nur über seine »Selbsttätigkeit«, sondern auch seine »Empfänglichkeit« begreift22 , nicht nur über seine Eigenschaften als Akteur, sondern auch als Teil eines gemeinsam vollzogenen Verständigungsprozesses. Implizit ist darin bereits der Schritt angelegt, den dann die Theorien der Intersubjektivität vollziehen werden: Wer sich über die eigene Individualität begreift, möchte in ihr von anderen wahrgenommen und anerkannt werden. Das Individuum braucht andere, um in ihren Spiegelungen seine ihm allein zukommenden Fähigkeiten wahrzunehmen.23 Dies bedeutet für Bildungstheorien, über Modelle der Selbstentfaltung hinausgehen zu müssen und all jene Qualitäten auszubuchstabieren, die Reziprozität ermöglichen. Insbesondere müssen sie die Frage 20 21 22 23
Ein exemplarisches Beispiel dafür sind F. Nietzsches Vorträge zur »Zukunft unserer Bildungsanstalten«. Th.W. Adorno (1972), Theorie der Halbbildung. Gesammelte Schriften, Bd. 8. Frankfurt a.M. (zuerst 1959), S. 103. W. v. Humboldt, a.a.O., Bd. I, S. 237. Dass dies einiges Konfliktpotential birgt, wird erst Hegel thematisieren. An die Stelle der Harmonieannahmen von Humboldt tritt bei ihm ein Kampf um Anerkennung und damit eine über sich hinaustreibende Dynamik von Dissens und Differenz.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
beantworten, auf welchen Grundlagen gelingende Intersubjektivität basiert und was bildungstheoretisch daraus folgt: Bestimmt werden muss, unter welchen Bedingungen sich die Ausbildung kommunikativer Verhaltensmöglichkeiten vollzieht. In der Regel treffen ja nicht ein Ich und ein Du in Gestalt von Verhandlungspartnern mit definiertem Auftrag, klarer Position und eindeutigem Rollenverständnis aufeinander; was hier Ich und Du bedeutet, nimmt vielmehr im Zwischenraum ihres wechselseitigen Bezugs aufeinander überhaupt erst konkrete Gestalt an. Dies ist ein Prozess, der Perspektivenwechsel und Überprüfungen der eigenen Rolle zur Voraussetzung hat, und er ist darauf angelegt, dass sich die Beteiligten in ihm verändern. In Bildungstheorien werden solche Erfahrungen reflexiv, vor allem aber verknüpfen sie sich mit der Frage nach der Gestaltung und Gestaltbarkeit dieses Bezugs und implizit mit der Frage, wie wir gemeinsam leben wollen. Pointierter als in Bildungstheorien, die Aspekte der Selbstentfaltung und Selbststeigerung in den Mittelpunkt stellen, werden mit diesem Schritt ethische Fragen zum Thema. Lange waren Bildungstheorien ausschließlich von einer Ethik der Selbstbeziehung bestimmt, zunehmend müssen sie Fragen beantworten, die sich auf eine Ethik des gemeinsamen Zusammenlebens richten. Das treibende Motiv von Bildung, jene Selbstverständigung, von der Humboldt sprach, treibt in diesen Theorien auch die Auseinandersetzung und Verständigung mit dem Anderen und Fremden an. Damit verändert sich der Begriff des Wissens: es wird zum reflexiven Wissen über Differenzen der Rollen und Perspektiven, dann aber auch zu einem Wissen über Unanschauliches, über das, was im Nahbereich eigener Erfahrungen nicht aufgeht: Das eigene Handeln steht in Beziehung zum Leben Anderer, aber dies kann das Leben weit Entfernter sein, »die konkrete Lebenswelt des Individuums [ist] in globale Kontexte verflochten«.24 Teil III zeichnet diese Umstellungsprozesse des Denkens nach, das Mehrdeutigkeiten nicht auflöst, aber daran arbeitet, ihre Implikationen zu verdeutlichen. In der Konsequenz verändert sich dabei der Bildungsbegriff; eine besondere Bedeutung bekommen nun Artikulations- und Dialogfähigkeit, die Verbalisierung eigener Stellungnahmen und die Fähigkeit zuzuhören, kollaborative Versuche, bisher Ungedachtes zu formulieren, eine Sprache zu finden zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis, Beobachter- und Teilnehmerperspektive, für Bilder des Uneindeutigen. An dieser kurzen Skizze der drei Teile der Darstellung wird deutlich: Sie konzentrieren sich auf einen relativ einlinigen Gedankengang, der von Konzeptionen eines subjekttheoretisch orientierten Bildungsbegriffs, wie er um 1800 entwickelt wird, ausgeht, um dann dessen immanente Grenzen und die bildungstheoretischen Ansätze zu ihrer Überschreitung zu diskutieren, wie sie vor allem im 20. Jahrhundert allmählich Gestalt annehmen. Dies ist selbstredend nur einer von vielen Zugängen zur Entwicklungslogik von Bildungstheorien. Von Anfang an treten sie als Reflexionen veränderter gesellschaftlicher Anforderungen auf und stellen die Aufgaben dar, die den Individuen aus diesen Prozessen erwachsen, sie übersetzen den gesellschaftlichen Wandel in Aufgaben, die sich Individuen stellen, um zu einem veränderten Welt- und Selbstbezug zu gelangen, und sie nehmen in diesen Reflexionen von unterschiedlichen Bildern des Gelingens ihren Ausgang. All diese Bildungstheorien vereint, dass sie eher die Gestalt idealtypischer Entwürfe annehmen, als dass sie Rechenschaft darüber geben, auf 24
Klaus Seitz (2002), Bildung in der Weltgesellschaft. Frankfurt a.M., S. 264.
1. Einführung
welche Weise sich das Ich in seinen Bildungsprozessen in den Korridoren realer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und Diskurse bewegt. Erst im 20. Jahrhundert lässt sich eine zunehmende Verschiebung von der bloßen Postulierung von Zielsetzungen hin zu argumentativen Begründungen beobachten. Während für die klassischen Bildungstheorien noch gilt, dass die Problematik eigener Normativität in der Regel undiskutiert bleibt, wird im 20. Jahrhundert zunehmend der normengeleitete Entwurf durch die bildungstheoretische Reflexion der Voraussetzungen dieser Zielsetzungen flankiert, wenn nicht sogar ersetzt. Aber der Charakter des Entwurfs gelingenden Selbst- und Weltbezugs ist in den Bildungstheorien der Moderne insofern systematisch angelegt, als sie sich nicht mehr wie in den Gesellschaften der Vormoderne darauf beschränken können, die Verpflichtungen zu benennen, die sich den Angehörigen der verschiedenen Schichten oder überhaupt dem Bewohner einer bestimmten Welt als Bildungsaufgaben präsentieren, und die dafür nötigen Lernschritte zu formulieren.25 In den Gesellschaften der Moderne, in denen es den Einzelnen stärker überlassen ist, sich selbst einen Platz, d.h. eine Tätigkeit, eine Lebensform, ein Selbstverständnis entsprechend den eigenen Fähigkeiten zuzuweisen, verändert sich die Funktion von Bildungstheorien. Ihre Bedeutung liegt nicht mehr allein darin, die Lernaufgaben zu formulieren, die für die Individuen mit diesem gesellschaftlichen Wandel entstehen und die Erwartungen an sie zu präzisieren„ sondern sie stellen an sich den Anspruch, einen reflexiven Bezug auf diese Anforderungen offenzuhalten und eine zweite Ebene zu etablieren, auf der diese Aufgaben selbst einer Prüfung unterzogen werden können – die heimliche Normativität dieser Bildungstheorien besteht in ihrem Anspruch, alle Normativität auf ihre Gültigkeit hin zu befragen. Dass sich diese Untersuchungen hier eher Fragen der Zielvorstellungen und ihren Entstehungsbedingungen zuwenden, als der Rekonstruktion realer Abläufe von Bildungsprozessen und ihren Ursachen, hat einen angebbaren Grund. Dass zunehmend neben die Reflexion einer möglichen die Rekonstruktion der vorhandenen Praxis getreten ist, war mit der Hoffnung verknüpft, dem Normativitätsproblem auszuweichen: Denn Bildungsforschung als Rekonstruktion empirischer Prozesse aus der Beobachterperspektive gibt lediglich unterschiedliche Realisierungsformen von Bildung zu Protokoll.26 Jedoch wird diese rekonstruktive Arbeit als Rechenschaft über vorhandene Praktiken das Normativitätsproblem nicht los. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass in dem Blick auf Bildungsprozesse implizit auch eine Perspektive enthalten ist, wie gelingende Praxis aussehen könnte. Dies muss nicht notwendig die Gestalt konkreter, ausformulierter Vorstellungen annehmen, aber in jede Untersuchung faktischer Abläufe gehen Erfolgskriterien ein, die in einem weiteren Horizont von Zielvorstellungen eingebettet sind. Als Bilder gelingender Prozesse lenken sie den Blick, heben einzelne Merkmale hervor und gehen in die Formulierung der Beobachtungskategorien
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Dies ist der Gegenstand des Alkibiades-Dialogs von Platon. Unter dieser Perspektive ist auch der Schulabbruch Teil eines Bildungsgangs. Gewiss kann man auch dies als Aspekt eines Bildungsprozesses begreifen, aber nur, wenn eine Auseinandersetzung mit dieser Erfahrung möglich wird. Aber was, wenn eine solche Auseinandersetzung nicht zustande kommt, z.B. durch das Fehlen des dafür nötigen sozialen und kulturellen Kapitals, d.h. Unterstützung und reflexive Bewältigungsformen?
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ein. Wenn dies so ist, muss solchen Rekonstruktionen ein Klärungsprozess vorgeschaltet werden, der sich auf eben jenen Hintergrund von Vorstellungen richtet, unabhängig davon, wie artikuliert sie sind. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Analyse der orientierenden Bilder, die sich in Bildungstheorien, aber auch empirischen Forschungsfragen sedimentieren, hier als eine Aufgabe angesehen, die der Rekonstruktion beobachtbarer Praxis vorangehen muss. Ebenfalls nicht eingegangen wird hier auf die Auseinanderentwicklung der Praxisformen von Bildung, wie sie sich mit den Begriffen der formalen und informellen Bildung umreißen lassen. Es wäre wichtig, die ihnen zugrundeliegenden Bildungsbegriffe in ihrem Bedeutungsfeld zu untersuchen, den Sinn des Wortgebrauchs von »Bildungswesen«, »Bildungssystem« oder »Bildungsmaßnahme« in seinem Verhältnis zur Thematisierung individueller Bildungsprozesse.27 Charakteristisch für institutionalisierte Bildungsprozesse und deren Bildungsbegriff ist, dass sie gesellschaftlich erwünschtes Verhalten bewirken sollen, und dieses Ziel kann nicht im Ungefähren belassen werden: Bildungspläne müssen angeben, was darunter verstanden und wie es erreicht werden soll, aber Vorabdefinitionen, was in Bildungsprozessen erreicht werden soll, vertragen sich nicht mit dem, was mit dem Bildungsbegriff intendiert wurde und wird. Bei formaler Bildung ist von Lernprozessen die Rede, die sich eher in den Kategorien von Qualifikation, Allokation, Enkulturation und Integration beschreiben ließen28 , und es wäre zu bestimmen, auf welche Weise der Bildungsbegriff hier sinnvoll verwendet werden kann. Vielleicht liegt der Überschneidungsbereich von schulischem Lernen und Bildung lediglich in der Verfügung über ein Koordinatensystem aus Kenntnissen, Kulturtechniken und Erarbeitungsstrategien, das Schule vermittelt und das Voraussetzung für selbst aufgesuchte Bildungserfahrungen ist. Auch solche Klärungen sind jedoch nur möglich mit Blick auf bisherige Auslegungen des Bildungsbegriffs und dessen Veränderungen. Nur im Nachvollzug, wie sich bildungstheoretische Fragestellungen entwickelt haben und in gegenwärtigen Erwartungen präsent sind, ist ihr Verständnis möglich und lässt sich bestimmen, ob die beiden Bildungsbegriffe der formalen und informellen Bildung ein Gemeinsames haben, oder sie sich längst gegeneinander verselbständigt haben.
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Wenn Heinz-Elmar Tenorth davon spricht, von Schule werde »für alle Heranwachsenden ein wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Curriculums konstruiert, das individuelle Bildungsprozesse den Zwecken und Funktionen der Schule unterwirft«, wird deutlich, wie klärungsbedürftig der Sinn solcher Begriffe ist. Individuelle Bildungsprozesse werden hier gleich zweifach überformt: durch die Einwilligung in die Imperative eines »gesellschaftlichen Curriculums« und durch die Eigenlogik der Institution, die aber gleichwohl beansprucht, Bildungsinstitution zu sein. (H.-E. Tenorth (2020), Die Rede von Bildung. Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz. Berlin, S. 84) H. Fend (2006), Neue Theorie der Schule – Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden, S. 51.
Wofür das Wort »Bildung« im 18. Jahrhundert steht, wird in Johann Gottfried Herders Reisejournal, eigentlich dem Tagebuch einer Zäsur zwischen zwei Lebensabschnitten, deutlich: nämlich für ein ebenso unbegrenztes Vertrauen in die eigene Selbsthervorbringung wie die Gestaltung der Welt. Von der Überzeugung eigener Selbstwirksamkeit würde die neuere Psychologie sprechen. Einen sehr viel kritischeren Blick auf dieses Selbstgefühl werfen die beiden Bildungsromane, die in diesem Teil diskutiert werden. All diesen Texten ist gemeinsam, dass sie von Bildung in einem vortheoretischen Raum sprechen und ausloten, wie die Bildungsprogrammatik in den biographischen Prozess eingreift. Einige der tragenden Grundbegriffe, auf deren Basis diese Entwürfe konzipiert werden, werden am Ende auf ihre Implikationen hin untersucht.
2. Vorspiel zu Wasser – Herders »Journal meiner Reise im Jahr 1769«
Im Mai 1769 gibt Herder seine Stelle als Hilfsprediger und Lehrer an der Domschule in Riga auf und hält seine Abschiedspredigt. »Die letzte Leiche« wird bestattet1 und wenige Tage später befindet er sich auf einem Schiff, das ihn nach Frankreich bringt. Johann Gottfried Herder ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht 25 Jahre alt und dabei, sich als Autor einen Namen zu machen; er besitzt, wie er rückblickend in einem Brief an Caroline Flachsland am 22. 09. 1790 schreibt, »die ganze Liebe der Stadt«2 , es gibt allerdings auch eine Reihe von Misshelligkeiten in Kontakt mit Ämtern und Kollegen. Um ihn zu halten trägt man ihm die volle Stelle des Pastors an der St. Jakobs-Kirche und die Leitung des örtlichen Lyzeums, d.h. der livländischen Ritterakademie an. Mit seinen in freigeistigem Ton gehaltenen Predigten erntet er Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bewunderung, ebenso viel Aufmerksamkeit allerdings mit einer langwierigen literarischen Querele, die für ihn zunehmend peinlich wird, da er nicht nur andere verunglimpft hat, sondern obendrein in öffentlichen Erklärungen die Autorschaft dieser seiner anonym verfassten Schmähungen verleugnet, wobei jeder im damals kleinen Riga weiß, dass er der Verfasser ist. Diese zunehmend ehrenrührige Geschichte gibt schließlich den Ausschlag für seinen Aufbruch, den er als »schleunig, übertäubend, und fast abenteuerlich« schildert (73 ), hinzu kommt aber sein Bedürfnis, aus einem Leben auszubrechen, das ihn fest1
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J.G. Herder (2002), Journal meiner Reise im Jahre 1769, historisch kritische Ausgabe, Stuttgart, S. 4. Die Seitenangaben aller folgenden Zitate werden in den Text in Klammern eingefügt und beziehen sich auf diese Ausgabe. Herder, zit. K. Mommsen (2002), Nachwort zu J. G. Herder (2002), a.a.O., S. 199. Die Zahlen in Klammern sind Seitenangaben und beziehen sich auf J. G. Herder, Journal, a.a.O. Entgegen der Originalschreibweise Herders und ihrer Wiedergabe in der historisch-kritischen Ausgabe von Katharina Mommsen u.a. wird in dieser Darstellung (trotz anfänglichen Bedenken) in allen Zitaten die Orthographie und Interpunktion der Rechtschreibreform von 2006 verwendet. Grund dafür ist, dass die Schreibweise des Originals, gerade in aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten, stark vom Inhalt ablenken kann. Da es im vorliegenden Text nicht um eine im engeren Sinne philologische Arbeit geht, werden die Ausdrucksqualitäten der Schreibweise des 18. Jahrhunderts vernachlässigt.
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legt und einschränkt: auf das gesellschaftliche Leben dieser kleinen Provinzstadt, auf die Rolle als Lehrer, wo er doch selbst noch studieren möchte, auf eine bürgerliche Lebensführung als Lehrer und Prediger. »Ich gefiel mir nicht, als Gesellschafter weder, in dem Kreise, da ich war; noch in der Ausschließung, die ich mir gegeben hatte. Ich gefiel mir nicht als Schullehrer, die Sphäre war [für] mich zu eng, zu fremd, zu unpassend, und ich für meine Sphäre zu weit, zu fremd, zu beschäftigt. Ich gefiel mir nicht als Bürger, da meine häusliche Lebensart Einschränkungen, wenig wesentliche Nutzbarkeiten, und eine faule, oft ekle Ruhe hatte. Am wenigsten endlich als Autor, wo ich ein Gerücht erregt hatte, das meinem Stande ebenso nachteilig als meiner Person empfindlich war. Alles also war mir zuwider. Mut und Kräfte genug hatte ich nicht, alle diese Miss-Situationen zu zerstören, und mich ganz in eine andere Laufbahn hineinzuschwingen. Ich musste also reisen«. (Ebd.) Dabei hat er durchaus die Vorstellung von einer zukünftigen Mission in Riga – seine Reise – oder besser Flucht – wird von ihm als Bildungsreise verstanden, und zwar im Sinne der Ausbildung: Sie soll ihn ausstatten mit jenen Kenntnissen, Erfahrungen und mit jener Lebensart, die er für seine ehrgeizigen gesellschaftlichen Ambitionen zu brauchen glaubt. Er ist unzufrieden mit sich selbst, bezichtigt sich, zu wenig zu wissen, und was er wisse, sei das Falsche. Um jene Karriere zu machen, die er mit Mitte zwanzig anstrebt, muss er »französische Sprache und Wohl[an]stand, englischen Geist der Realität und Freiheit, italienischen Geschmack feiner Erfindungen, deutsche Gründlichkeit und Kenntnisse, und endlich, wo es nötig ist, holländische Gelehrsamkeit, einsammeln«. (29) Am wichtigsten sei dabei ein Frankreich-Aufenthalt, denn dies sei das »Jahrhundert Frankreichs«. (121) Wohlgemerkt ist dies das Frankreich vor der Revolution. »Welche Schande, bei Landräten und Sekretären von Wind und von Geschmack kein Französisch zu sprechen!« (120) Um mitreden zu können, sei es ratsam, »die französische Oper und Komödie zu studieren« (121), ebenso »Musik- und Tanzkunst«, »Kupferstecher-, Maler- und Bildhauer-Kunst«, »Anekdoten von Paris zu wissen!« (Ebd.) Und schließlich »die französischen Gelehrten kennen zu lernen, wäre es auch nur, wie sie aussehen, leben, sich ausdrücken, bei sich und in Gesellschaft sind!« (Ebd.) Ein solcher Lehrgang in französischer Lebensart erscheint als Voraussetzung, »das in meiner Zeit auszurichten, wozu ich da bin«. (122) Dazu wünscht er sich einen französischen Mentor und sich selbst »Biegsamkeit […], um mich nach ihm zu bilden!« (Ebd.) Der Wunsch nach Ansehen und Erfolg mischt sich mit Träumen von künftiger Bedeutsamkeit (»ein zweiter Zwinglius, Calvin und Luther […] werden!« 28). »Wie viel habe ich zu diesem Zwecke an mir aufzuwecken und zu ändern […] – wie viel habe ich zu lernen!« (33) So wird die Reise auch zu einer Bestandsaufnahme der eigenen Voraussetzungen, zur Bilanzierung der eigenen Vorhaben und Ziele. Keinen besseren Ort gibt es dafür als ein Schiff. »Auf der Erde ist man an einem toten Punkt angeheftet«, aber »was gibt ein Schiff, das zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphäre zu denken! Alles gibt hier dem Gedanken Flügel und Bewegung und weiten Luftkreis! […] Wo ist das feste Land, auf dem ich feste stand?« (11) Zwei Monate dauert seine Überfahrt von Riga bis zur Mündung der Loire; der Wegfall der vertrauten Umgebung (»die kleine Kanzel und der Lehnstuhl und das Katheder«, 11) ermöglicht eine »neue Denkart« (12), zumal er »ohne Bücher und Instrumente« (13) unterwegs ist. Auch seine Sprache ist vom Fluten der Assoziationen geprägt, reiht Wogen
2. Vorspiel zu Wasser – Herders »Journal meiner Reise im Jahr 1769«
von Wortfolgen aneinander, mit Schaumkronen von Ausrufezeichen und Gedankenstrichen, ein Projekt überstürzt das andere, als habe er keine Zeit eine Wahl zu treffen; das Ende des Absatzes oft ohne Punkt, als solle sich der Gedanke selber zu Ende denken. Auch inhaltlich rollt auf den Leser eine Welle nach der anderen zu: Entwürfe, Projekte, knappe Charakteristiken, Einfälle, Theorien, Selbstanalysen, Gedankenexperimente in ständiger Steigerung, über weite Strecken ein Bewusstseinsstrom, bei dem ein Gedanke einen anderen erzeugt, nur eines nicht: eine Reisebeschreibung. Selbstkritisch räumt Herder ein: »Mein Geist ist nicht in der Lage zu bemerken, sondern eher zu betrachten, zu grübeln!« (33) Noch schärfer: »Womit habe ich es […] verdient, dass ich nur bestimmt bin, Schatten zu sehen, statt wirkliche Dinge mir zu erfühlen?« (133) Wir erfahren nicht viel von den äußeren Bedingungen und Stationen der Reise.4 Einige wenige Hinweise des Journals ergeben allenfalls Andeutungen der Reisestationen: Auf der ersten Seite erhalten wir in gedrängter Form einen Überblick über die Vorbereitungen der Reise, siebzig Seiten später folgt die Angabe: »Ich schiffte [an] Kurland, Preußen, Dänemark, Schweden, Norwegen, Jütland, Holland, Schottland, England, die Niederlande vorbei, bis nach Frankreich« (77), um dann sogleich die Ebene zu wechseln: »hier einige politische Seeträume.« (Ebd.) Es folgen auf den nächsten vierzig Seiten Reflexionen zur politischen und kulturellen Lage von Russland und Frankreich. Gerne hätte er in Kopenhagen seine Reise beendet, aber »Trägheit« und »Schläfrigkeit« verhinderten dies. (120) So kommt er nach Frankreich, in einer Hafenstadt elf Kilometer vor der Mündung der Loire geht er an Land und reist von dort nach Nantes. Von diesem Reiseabschnitt Auskunft zu geben lehnt er mit dem Hinweis auf die »Niedrigkeit« solcher Schilderungen ab. (122) Der Beginn seines Berichts über die Ankunft in Nantes bringt auf den Punkt, was dieses Reisejournal im Ganzen zu einem »sonderbaren Ding«5 macht: Die Außenwelt ist bloßer Stichwortgeber für Erkundungen der mentalen Innenwelt und wird von ihr regelrecht aufgesogen; der erste Anblick von Nantes löst eine ganze Kaskade von Emotionen in Gestalt detaillierter und höchst heterogener selbstkritischer Betrachtungen aus. Zunächst klagt er sich bei seinen Eindrücken einer »Verzerrung ins Groteske« an, statt wie andere »große Schönheit« wahrzunehmen. (123) Die Gründe für diesen ihm eigentümlichen »Zuschnitt der Sehart« liegen, so mutmaßt er, in seinem »erste[n] Eintritt in die Welt der Empfindungen«, also in der frühen Kindheit oder sogar Geburt. Dieser erste Eindruck – »der erste Ton, die erste Stimmung der Seele, der erste Anstoß von Empfindungen« wird als den ganzen weiteren Lebensgang beeinflussend verstanden, für ihn werde dadurch stets aus der anfänglichen »Betäubung« ein »Schauder, statt ruhiges Gefühl des Vergnügens«. (Ebd.) Immer gehe es bei ihm sogleich ins »gothische Große«, daraus werde dann ein »Gefühl für Erhabenheit«, das gleich darauf in
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Die Textform des Journals entsteht anhand von während der Reise angefertigten Notizen, größtenteils in Nantes, der ersten Station der Reise, wo Herder von Juli bis November bleibt, viel Zeit in Bibliotheken, Museen und Theatern verbringt und später von sich sagt, dass er sich in allem, »was Geist der Zeit ist«, Büchern, Theaterstücken, Journalen »herumgeworfen und herumgewälzt« hat. Die auf dem Schiff verfertigten Notizen sind der Kristallisationskern der später verfassten und nun unter dem Eindruck der neuen Erlebnisse zustande kommenden endgültigen Textgestalt. Herder, zit. Mommsen a.a.O., 2002, S. 187.
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»das Weinerliche« umschlägt. (123/24) Eine »unglückliche verzogene Natur« sei dies, ein »Unglück, diese zu haben«. (123) Die steile Aufgipfelung der Attribute hin zum Erhabenen und der folgende plötzliche Absturz machen in dieser Selbstcharakteristik vor allem eines deutlich: Nicht die Gegenstände der äußeren Welt, sondern ihr unendlich vielfältiger Widerhall im eigenen Inneren sind Thema des Reisejournals. Die Reise ist eher eine durch diese vielfältigen echogebenden Instanzen der eigenen Innenwelt als eine von Riga nach Paris. Zur eigentlichen Aufgabe des Reisejournals wird die Führung einer Art von Logbuch der Ideen, Pläne, Einsichten dieses halben Jahres. Nacheinander wird man mit sechs Buchprojekten, Plänen für die Reform Livlands, Erörterung der Chancen, zum Regierungsberater von Katharina der Großen zu werden und der Ausarbeitung einer umfassenden Schulreform vertraut gemacht. Zunächst tauchen die Umrisse einer zu schreibenden »Universalgeschichte der Bildung der Welt« auf. (17) Ihr Gegenstand sollen »Literatur, Religion, Sitten, Denkart und Rechte« sein, und zwar »aller Räume! Zeiten! Völker! Kräfte! Mischungen! Gestalten! Asiatische Religion! und Chronologie und Polizei!6 und Philosophie! Ägyptische Kunst und Philosophie und Polizei! Phönizische Arithmetik und Sprache und Luxus! Griechisches Alles! Römisches Alles! Nordische Religion, Recht, Sitten, Krieg, Ehre! Papistische Zeit, Mönche, Gelehrsamkeit! Nordisch asiatische Kreuzzieher, Wallfahrer, Ritter! Christliche, heidnische Aufweckung der Gelehrsamkeit! Jahrhundert Frankreichs! Englische, holländische, deutsche Gestalt! – Chinesische, japanische Politik! Naturlehre einer neuen Welt! Amerikanische Sitten u.s.w. – Großes Thema: das Menschengeschlecht wird nicht vergehen, bis dass es alles geschehe! Bis der Genius der Erleuchtung die Erde durchzogen!« (Ebd.) Von diesen und den anderen geplanten Schriften verspricht er sich, dass sie »lehren und bilden!« (35) und dass dies »die Menschheit […] aufklären hilft; sie zu einer neuen Höhe erhebt; sie zu einer gewissen neuen Seite lenkt; sie in einem neuen Licht zeigt; […] eine sehr nutzbare und bildende Aussicht!« (34/35), denn eine »Zeit der Bildung« (35) werde durch sie anbrechen. Auch Fragen der Lebensführung soll ein Buch gewidmet werden, und zwar sowohl auf das Leben des Einzelnen als auch des Miteinanders in der Familie und in der Gesellschaft bezogen. Aber nicht nur als Prediger und Aufklärer möchte Herder »Gewalt über die Seelen« (38) haben, sondern auch als politischer »Genius Livlands« (29) in die Geschichte eingehen. »Ich gehe durch die Welt, was hab‹ ich in ihr, wenn ich mich nicht unsterbl[ich] mache.« (77) Deshalb wird auch eine Denkschrift für Katharina die Große geplant, die Missstände in Russland analysieren soll und mit der Hoffnung verbunden wird, »ein Gesetzgeber für Fürsten und Könige zu sein! und wo ist ein besserer Zeitpunkt als jetzt, nach Zeit, Jahrhundert, Geist, Geschmack und Russland!« (81/82) Dann noch »ein anderes Werkchen […], wie die Christliche Religion jetzt zu lehren sei« (127) und der Plan zu einer ästhetischen Schrift und schließlich »ein Werk über die Jugend und Veraltung [d.h. Alterung] menschlicher Seelen«. (134) Alle diese Projekte werden von der Intention, einer »Zeit der Bildung« zum Durchbruch zu verhelfen, angetrieben. Sie wird gleichgesetzt mit einem »Zeitalter, wo der kriegerische und Religionsgeist aufgehört hat, wo nichts als der Kommerz-, Finanzen- und
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Hier im Sinne von Staatsverwaltung.
2. Vorspiel zu Wasser – Herders »Journal meiner Reise im Jahr 1769«
Bildungsgeist herrscht«. (53) Diese neue postfeudale Zivilgesellschaft der Bürger setze andere Fähigkeiten und Orientierungen als der »alte Geist der Feudalkriege« voraus (187), und Herder sieht es als seine Aufgabe an, sie zu propagieren: »werde ein Prediger der Tugend deines Zeitalters!«, fordert er sich auf. (31) Zukünftig werde es nicht um nationale oder religiöse Zugehörigkeiten gehen, sondern darum, »eben der aufgeklärte, unterrichtete, feine, vernünftige, gebildete, tugendhafte, genießende Mensch, den Gott auf der Stufe unserer Kultur fordert«, zu sein. (Ebd.) Auch das »Große und Gute« anderer Kulturen solle man sich dabei zu eigen machen, »sollte es auch nur zur Nacheiferung sein […] – o was schläft in all dem für Aufweckung der Menschheit.« (Ebd.) Eine enthusiastische Aufbruchsstimmung, freilich konterkariert von Selbstzweifeln und Selbstkritik, durchzieht alle diese Projekte. Herder nimmt seine Zeit als historische Phase des Anfangs und Neubeginns wahr; alles ist aufs Zukünftige gerichtet. Sein Vertrauen, unendlich viel bewirken zu können, bezieht er offenbar aus seinen Erfahrungen als Prediger: Er will »rühren« und »überreden«, er will »alle Triebfedern, die im menschlichen Herzen liegen, vom Schreckhaften und Wunderbaren bis zum Stillnachdenkenden und Sanftbetäubenden, kennen, erwecken, verwalten und brauchen lernen«. (30) Der Begriff des Nutzens steht dabei im Vordergrund; die Ziele »zu bilden und Nutzen zu schaffen« sind für ihn identisch. (36) Mit keinem seiner Projekte glaubt er sich im Widerspruch zu den Interessen der politisch Mächtigen: »Eifer für das menschliche Beste, Größe einer Jugendseele, Vaterlandsliebe, Begierde auf die würdigste Art unsterblich zu sein, Schwung von Worten zu Realien, zu Etablissements, lebendige Welt, Umgang mit Großen, Überredung des Gen[eral] Gouv[erneurs], lebendiger Vortrag an die Kampenh[ausen], Gnade der Kaiserin, Neid und Liebe der Stadt.« (77) All dies bleibt Entwurf. Das Tagebuch wird in Paris abgebrochen, eine Anfrage, ob Herder die Stelle des Hauslehrers beim Fürstbischof von Lübeck übernehmen könne, beendet die Reise, die in Paris zunehmend von Geldsorgen überschattet war. Auch wenn der Überschwang der Größenphantasien, die alle diese »Seeträume« (ebd.) des Jahres 1769 durchziehen, befremdet und bei Herder bald einem »Stimmungsumschwung« weicht, so lässt sich doch in dieser frühen Schrift die Entstehung des Bildungsbegriffs sozusagen in statu nascendi verfolgen, und zwar einerseits als politisches Projekt der Menschenformung einschließlich von Überlegungen zu seiner institutionellen Durchsetzung und andererseits als Wille zur Bearbeitung des eigenen Selbst. In dieser frühen Phase seiner Schriften möchte Herder seine Projekte allesamt dem Staat andienen. Der russische Staat und seine oberste Repräsentantin Katharina die Große, so meint er, müssen Interesse an Untertanen haben, die gebildet, kultiviert, aufgeklärt, unterrichtet und vernünftig sind.7 Dazu wolle er den Plan einer Nationalerziehung liefern, »um uns in Sprachen und Bildung, dem Geschmack und der Feinheit unseres Jahrhunderts zu nähern und nicht hinten zu bleiben!« (38) Es gibt für ihn keinen Gegensatz zwischen den Herrschaftsinteressen des Staates und den Bildungsinteressen
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Hans Weil spricht vom »Pathos der Schriften aus der Frühzeit«. Später seien »ihr Zukunftsglaube, ihr Zusammenfassen aller geistigen und sozialen Gegebenheiten seiner Welt und Zeit zu einem, wenn auch ungeklärtem Ziele, […] einer Art kontemplativer Weltbetrachtung gewichen. Selbst wenn Herder später Zielgedanken äußert, klingt das gedämpft.« (H. Weil (1930/1967), Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips. Bonn, S. 50)
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des Bürgers. Dieser müsse den Wunsch nach Horizonterweiterung, nach Erweiterung des Umfangs an Wissen und Kenntnissen haben und so auch der Staat. Herrschaftskritik, die in Frankreich in eine Revolution münden wird, deutet sich an keiner Stelle an. Auffällig ist die noch ganz unfestgelegte Bedeutung der Wörter »Bildung« und »bilden«. Häufig werden sie im Sinne eines geradezu handwerklichen Herstellens gebraucht. Für ihn als Lehrer und Prediger gehe es darum, »den menschlichen Geist zu bilden« (ebd.), Aufgabe sei die »Aufweckung der Menschheit« (31), und »um zu bilden« (44) sei zunächst ein »Plan der Erziehung und Aufweckung einer menschlichen Seele« nötig sowie jemand, »der es ausführe und selbst dahinbilde!« (55). Der transitiven Bildungsarbeit entspricht die individuelle Empfänglichkeit dafür, und »so bildet sich Seele, Gedächtnis, Charakter« (45) des einzelnen Individuums als Teil »einer zu bildenden Menschheit« (35). Auch für ihn selbst sei es nötig, »die rechten Quellen von Büchern kennen [zu] lernen, um mich an ihnen, wenn ich sie habe, zu bilden« (43). Eine »Zeit der Bildung« soll durch eigene Aufklärungsschriften sowie durch verbesserte Schulen eingeleitet werden, deren Curriculum er genau durchdenkt. Geplant ist über dies ein »Jahrbuch«, das »Historie und Roman, Politik, und Philosophie, Poesie und Theater« vereinen soll (35), und von einem solchen Buch, das »nur bilden will«, erwartet er, dass es »seinen Autor berühmt, und was noch mehr ist, beliebt machen« werde. (Ebd.) Sich »zum Nutzen und zur Bildung der lebenden Welt einweihen« und »das Zutrauen der Regierung, des Gouvernemen[t]s und Hofes gewinnen«, ergänzen einander (29). So »hätte [ich] alles in meiner Gewalt: […] alles würde Hebel, mich weiter fortzubringen.« (33) Was sich später bildungstheoretisch in Untersuchungen zu Möglichkeiten individueller Entfaltung, der allgemeinen gesellschaftlichen Funktionen von Bildung und zum Erwerb sozialen oder kulturellen Kapitals ausdifferenzieren wird, ist hier noch eng miteinander verflochten. Der Bildungsbegriff ist amalgamiert mit Überlegungen, wie Herder sein eigenes Ansehen steigern könne (von größter Bedeutung nach den Demütigungen der Riga-Affäre), aber auch mit Wünschen nach eigener Macht über andere: Er möchte »alle Triebfedern, die im menschlichen Herzen liegen, […] kennen, erwecken, verwalten und brauchen lernen.« (30) Er malt sich aus, wie es sein würde, wenn er, von seiner Reise zurückgekehrt, andere »über die Dunkelheit erleuchte, die mir selbst noch anhing!« (12) Eigenes Geltungsstreben mischt sich mit der Einsicht, dass sich auf gesellschaftlicher Ebene neue Anforderungen an Mentalitäten und Kompetenzen abzeichnen und Herder leitet daraus für sich die Aufgabe ab, diesen Wandel aktiv zu betreiben, geleitet von der Vorstellung einer neuen »Zeit der Bildung« und »einer zu bildenden Menschheit«. Dies ist, unabhängig von der Suche nach eigenem Vorteil, bei ihm verbunden mit einem weitausgreifenden kulturhistorischen Projekt: Herder will die Geschichte menschlicher Kulturen als Entwicklungsprozess beschreiben, der das gegenwärtige Bewusstsein präformiert hat, und als beständiges Werden nicht abgeschlossen ist. Durch die Darstellung der Geschichte als aufeinander aufbauende Phasen soll eine »lebendige« Anschauung der Gegenwart in ihrer Gewordenheit möglich werden. Auch dies ist eine weitere Schattierung des Bildungsbegriffs: Zum einen soll die eigene Kultur in ihrem Bildungsprozess deutlich werden und zum anderen die eigene Stellung darin zum Gegenstand der Reflexion werden: Eine neue Art historischen Wis-
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sens soll die eigene Haltung zu dieser Kultur bewusstmachen. Wenn sich »auf der Stufe unserer Kultur« (31) nun der Beginn einer neuen Ordnung abzeichne, sei es von größter Wichtigkeit, »die Barbarei zu zerstören, die Unwissenheit auszurotten, die Kultur und Freiheit auszubreiten« (28) und seine kulturgeschichtlichen Studien sollen diesen Prozess befördern helfen. Aber dazu geht er auch auf die Suche nach neuen Formen des Wissenserwerbs und der Wissensverwendung und glaubt den feudalen Staat dabei auf seiner Seite. Was sich hier entrollt, ist aber auch die Agenda des Subjekts, das eingreifen und umformen, sich bilden und andere verändern will, Einfluss haben und sich selbst darstellen will. Selbstbehauptung, Selbstüberbietung, Selbstüberschreitung sind die Mittel dazu. Zwar ist dafür Voraussetzung die Aufnahme neuen Wissens, kultivierte (in Frankreich zu erwerbende) Lebensart und Urteilsvermögen. Aber Bildungsprozesse sollen die Individuen vor allem darin unterstützen, dass sie »auf die ihnen eigene Art empfinden« (143). Selbstständigkeit ist das Ziel, und damit entsteht eine Forderung, die in eine andere Richtung verweist: die Vorstellung, in völliger Autonomie alles aus sich selbst schöpfen zu können und zu müssen: »Wann werde ich so weit sein, um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören, und nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne und glaube!« (12) Auf den ersten Blick steht dies in Widerspruch dazu, dass Herder sich immer wieder Rechenschaft darüber gibt, wie viel er noch zu lernen habe, um seine Pläne zu verwirklichen. Nun tritt die Frage: »was muss ich zerstören?« daneben (29). Damit sind vor allem die »unverstandenen Ideen«, die von anderen übernommen werden, und die Vorherrschaft »akademisch toter Erklärungen« gemeint (41). »Jeder Mensch muss sich eigentlich seine Sprache erfinden, und jeden Begriff in jedem Wort so verstehen, als wenn er ihn erfunden hätte.« (140) Sein Ideal wäre es, alles »aus sich herausfinden zu können« (13), und er möchte »nicht eher aufhören, bis ich mir selbst alles weiß, da ich bis jetzt mir selbst nichts weiß.« (14) In der Schule, die er entwirft, würde es zum Programm erhoben, dass die Schüler dazu »aufgeweckt« werden, »selbst zu betrachten« und dies würde eine »Revolution in der Seele« bewirken. (Ebd.) Von der Vermittlung »lebendiger Kenntnisse« erwartet er ein anderes Verhältnis zum Wissen in Abgrenzung zur gesellschaftlichen Sphäre abgestorbener kultureller Überlieferungen. Deshalb dominiert in seinen pädagogisch-didaktischen Überlegungen die Dichotomie des Lebendigen und des Toten. Der übliche Unterricht sei »ohne lebendige Anschauung«, ohne »lebendige Begriffe« (42), sodass der Einzelne in »ein Wörterbuch von Künsten und Wissenschaften« (91) verwandelt werde. Verworfen wird die Übernahme fertiger Kenntnisse, »das Lernen fremder allgemeiner Begriffe« (144), durch das die Individuen der Autorität »toter Erklärungen« unterworfen würden. Gleichzeitig besteht für Herder kein Zweifel an der Bedeutung von Sachkenntnissen, aber so wichtig ein weitgesteckter Horizont von Kenntnissen sei, so würden sich doch auf die Weise, wie sie bisher vermittelt werden, nicht im geringsten zur »Aufweckung einer menschlichen Seele« (55) beitragen: »Ein Kind lernt tausend Wörter, Nuancen von Abstraktionen, von denen es durchaus keinen Begriff hat; tausend andere, von denen es nur einen halben Begriff hat, in beiden wird es gequält, seine Seele abgemattet und auf Lebenslang alt gemacht.« (140) So sieht er denn auch die herkömmliche Schule als »eine Welt alternder Seelen, unter einem veralteten Lehrer« (ebd.), wobei »veraltet« hier die Bedeutung von »frühzeitig gealtert« hat. Das Resultat von »Lernen ohne Sachen, von Worten ohne
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Gedanken« (139) sei eine Art Selbstverlust: nie ganz da zu sein, wo man ist. Sich selbst verordnet er deshalb die radikale Kehrtwende: »nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne und glaube!« (12) Dennoch kreist Herders Bildungsdenken beständig um die Frage des Wissens. Bezogen auf den Kanon vorhandenen kulturellen Wissens, von dem er durchaus meint, dass er angeeignet werden muss, bedeutet dies, dass Methoden entwickelt werden müssen, durch die »lebendige Begriffe« entwickelt werden können. Entscheidend sei dafür die »sinnliche Anschauung«8 , da nur so ein Wissen erworben werden könne, das »zu einer Reihe von vielen starken, lebhaften, getreuen, eigenen Gedanken« führt (144). Notwendig sei es, »jede Wissenschaft in allen Begriffen und jede Sprache in allen Worten auf die Sinne zurückzuführen, in denen und für die sie entstanden sind.« (143) In seinem Entwurf eines Curriculums für eine zu gründende »livländische Vaterlandsschule« (38) soll das »Leben« in Gestalt von Naturalien, Instrumenten, Anschauungsmaterialien aller Art im Zentrum stehen. Wenn sichergestellt sei, dass in den didaktischen Arrangements, die er plant, »Begriffe durch Sinne« erworben werden, komme es zu völlig veränderten Formen des Wissenserwerbs. »[W]ie lebt die menschl[iche] Seele auf: nun kein Zwang, keine Schule mehr. Alles Neugierde, die Neugierde Vergnügen. D[a]s Lernen Lust und Ergötzen; üben, sehen, neu sehen, Wunderdinge sehen, welche Lust, welche schöne Jugend.« (141) Dass diese »Revolution in der Seele« ganz und gar auf – nunmehr positiv bewerteten – Erziehungsmaßnahmen beruht, wird von Herder nicht reflektiert. Das Handeln, die Subjektposition, bleibt der Lehrerpersönlichkeit vorbehalten; sie ist es, die diese Art von Lernprozessen ermöglicht; der Schüler (»Ein schöner Jüngling« – an Mädchen ist nicht gedacht, 146) bleibt in der Rolle des Adressaten. Er »müsste nichts als richtige Sensationen haben, und aller Ideen beraubt werden, die noch nicht für ihn sind.« (Ebd.) Dem entspricht die Vorstellung, dass man zeitweilig das Kind vor der Masse des bereits Gedachten schützen und ihm eine Art artifizielle, pädagogische »Wüste« zur Verfügung stellen müsse, in der es nach Art des Robinson Crusoe seine eigenen Erfahrungen machen soll. (141) Erziehung und Bildung sind in den Reflexionen Herders noch nicht voneinander geschieden, durch Erziehung der Heranwachsenden soll die Aufgabe »einer zu bildenden Menschheit« (10) bewirkt werden, die sich aufgrund von Erziehungsmaßnahmen verjüngt: »Die Jugend der menschlichen Seele in Erziehung wieder herzustellen – o welch ein Werk!« (142) Erst in späteren Ansätzen um 1800, in den bildungstheoretischen Reflexionen von Humboldt, Hegel, Novalis und anderen, wird diese Differenz von Bildung und Erziehung deutlichere Konturen gewinnen und damit das, was Bildung zu einer eigenständigen Praxis des Selbst- und Weltbezugs macht.
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»Erfahrung« ist ein Begriff, der in frühen Bildungstheorien noch keine Verwendung findet.
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
3.1
Bildungsromane: Die Praxis des Selbstbezugs
Es sind ausgerechnet zwei fiktionale Texte, die im 18. Jahrhundert die Empirie zu bildungstheoretischen Entwürfen liefern: »Anton Reiser« von Karl Philipp Moritz und »Wilhelm Meisters Lehrjahre« von Johann Wolfgang Goethe. Beide Romane sprechen ebenso von Bildungsprozessen als auch von deren Grenzen, sie thematisieren unterschiedliche Bildungsvorstellungen und stellen die Frage nach dem Unterschied zwischen der Bildungsgeschichte, die eine Person durchläuft, und einer bloßen Abfolge von Begebenheiten, aus der sich ihr Leben zusammensetzt. Bildungsromane können mit der Intention geschrieben werden, zentrale bildungstheoretische Positionen zu illustrieren, wie z.B. in Wielands »Geschichte des Agathon«, oder idealtypische Reifungsprozesse nachzuzeichnen, wie in Tiecks »Franz Sternbalds Wanderungen«.1 Daran gemessen vollzieht sich in den Romanen von Moritz und Goethe eine Art realistische Wende; sie haben nicht die Aufgabe, bildungstheoretische Programmpunkte zu verdeutlichen, sondern sind detailreiche Darstellungen einer gesellschaftlichen Situation, in der sich die Individuen mit neuartigen Forderungen an ihr Selbstverhältnis und ihr Verhalten anderen gegenüber konfrontiert sehen. Von ihnen wird erwartet – und sie richten diese Erwartung selbst an sich – dass sie einen eigenen Lebensentwurf gegen konventionelle Festlegungen entwickeln und sich selbst einen Ort in der Gesellschaft anweisen. Aus diesem Selbstverständnis heraus sollen sie zu anderen in Beziehung treten. In der Regel nimmt dies die Gestalt des Bildungsimperativs in der Moderne an: Von den Individuen wird verlangt, das eigene Selbstverhältnis sich zur Aufgabe zu machen und durch Arbeit an sich selbst die eigenen Fähigkeiten in ihrer individuellen Einzigartigkeit zu entfalten. Diese Forderungen sind ganz aus der Perspektive des einsamen Subjekts gedacht, das auch im Zentrum der Philosophie dieser Zeit steht. Knapp zwanzig Jahre später kann Hegel bereits die gesellschaftliche Seite dieses gesellschaftlichen Zusammenhangs 1
Der Begriff des Bildungsromans als Gattungsbezeichnung macht erst 1819 in einem Vortrag von Karl v. Morgenstern (»Über das Wesen des Bildungsromans«) seinen Auftritt.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
viel genauer aussprechen, wenn er auf den Bruch zwischen Tradition und Moderne hinweist und die eigene Zeit als »eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode« darstellt2 . Verknüpft wird dies von ihm mit der Aufforderung zur Selbsttransformation jedes Einzelnen. Der Mensch sei zwar »einerseits ein natürliches Wesen«, sagt der Gymnasialdirektor Hegel in seiner als Unterrichtsmaterial für seine Schüler geschriebenen »Propädeutik«, andererseits aber auch »ein geistiges, vernünftiges Wesen« und insofern »ist er nicht von Natur, was er sein soll.«3 Für Hegel ist eindeutig, was aus dieser Diagnose folgt: Um »sein Einzelwesen zu seiner allgemeinen Natur zu erheben«, vernünftig, d.h. mit dem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit denken und handeln zu können, brauche der Mensch Bildung: Ausbildung seiner Vernunft, seiner Denkfähigkeit, seines Wissens, seiner moralischen Urteilsfähigkeit. Allgemein gilt, dass die Bildungstheorien, die unter dem Einfluss der Aufklärung im 18. und frühen 19. Jahrhundert Gestalt annehmen, die Bedeutung von kognitiven Prozessen, historischem Wissen und autonomen Urteil betonen. Dies – so W. v. Humboldts Zusatz – sei aber nur auf der Basis eines Bewusstseins möglich, das diese Leistungen vollbringt: das Ich in seiner Individualität. In dieser eigenen, nur einem selbst zukommenden Stellung zur Welt gelte es »vor sich selbst verständlich […] zu werden«4 . Dieser Aspekt findet sich sogar noch radikalisiert in den Aufrufen zur Selbsttransformation, der einige religiöse Bewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts kennzeichnet, vor allem die Volksbewegung des Pietismus: Hier soll die eigene Seele zum Gegenstand der inneren Umgestaltung gemacht werden. All dem ist der Ausgangspunkt gemeinsam, eingeschliffene Lebensvollzüge außer Kraft zu setzen und jedes Mal soll dies durch Ausbildung der Reflexionsfähigkeit geschehen (pietistisch formuliert: durch Selbsterforschung) und der Fähigkeit zur Selbstdistanz (pietistisch: Entsagung, bildungstheoretisch: Negation von Unmittelbarkeit). Nur sprechen die Bildungstheorien nicht von Selbstumgestaltung als einem Bildungsprozess der Seele, sondern der Vernunft, die frei von allen Bindungen ihr Urteil sprechen soll. Bildungstheorien betonen die Veränderung des eigenen Selbst, die sich in der Auseinandersetzung mit etwas ihm Fremden und Neuen vollzieht, vor allem in Gestalt neuer Kenntnisse, davon ein Bewusstsein zu erlangen setze aber die Exploration des eigenen Selbst voraus. Kants Forderung, das Wagnis des Wissens einzugehen und dabei den Mut zu haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, richtet sich umstandslos auf Gegenstandserkenntnis mit dem Ziel der Naturbeherrschung. Die Voraussetzungen dafür, »ohne Leitung eines anderen« diese Erkundungen vorzunehmen und zu einem eigenen Urteil zu gelangen, lässt er im Dunklen5 . Sich selbst verstehen und die Welt verstehen treten bei ihm auseinander. Eher sind es die Bildungstheorien dieses ausgehenden 18.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1986), Phänomenologie des Geistes. Werke in zwanzig Bänden, Red. E. Moldenhauer und K.M. Michel, Bd. 3. Frankfurt a.M., S. 18. G.W.F. Hegel (1986), Texte zur Philosophischen Propädeutik, a.a.O., Bd. 4, S. 9-302, hier S. 258. Wilhelm v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. I. Darmstadt 1960-1981, S. 234-240, hier S. 235. Immanuel Kant (1975), Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Werke in 10 Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 9. Darmstadt, S. 53-61, hier S. 53.
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
Jahrhunderts, die es sich zur Aufgabe machen, den blinden Fleck der subjektiven Voraussetzungen aufzuklären, indem sie die Stellung des Selbst in Prozessen der Wissensaneignung thematisieren. Es komme bei der Hinwendung »zu den Gegenständen außer ihm« darauf an, dass sich der Mensch »in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere«, so Wilhelm von Humboldt6 , sondern vielmehr über neue Kenntnisse auch neue Seiten des eigenen Selbst zu entdecken. Pietistische Motive der Selbsterforschung werden dabei aufgegriffen; Humboldt fordert dazu auf, sich von seinen inneren Haltungen und Einstellungen ein Bewusstsein zu verschaffen und das, was verborgen im eigenen Inneren ruht, zum Gegenstand »innere[r] Bildung« zu machen7 , wobei Humboldt vor allem die »Erhöhung seiner Kräfte« betont – mehr als die Bedeutung von Wissen und Verstandesleistungen8 . Die beiden Bildungsromane, die hier diskutiert werden, liefern eine Ansicht der Praxis, die sich im Klima dieser Diskurse entwickelt und von denselben Imperativen geleitet wird: Sich selbst hervorbringen in freier Verfügung über die eigenen Fähigkeiten und auf der Basis einer immer wieder aufs Neue herzustellenden Klarheit über sich selbst – dies ist das Identitätskonzept, dass beide Protagonisten, Anton Reiser und Wilhelm Meister, verfolgen. Dabei entwickeln die beiden Romane ein vielschichtiges Bild der Verheißungen und Irrwege solcher Aufbrüche, den verfließenden Grenzen zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Anerkennung, der Suche nach Selbstüberschreitung und der Verstricktheit in etwas, das am eigenen Selbst unverständlich bleibt. Beide Romane lesen sich über lange Strecken wie Protokolle des Scheiterns von Bildung, lassen dabei dann aber die Frage aufkommen, ob die Konzepte der Bildungstheorien nicht zu eng gefasst sind. Beide Romane haben einen gemeinsamen Schwerpunkt in der zentralen Stellung, die das Theater und der Beruf des Schauspielers für beide Protagonisten hat. Die Bühne ist nicht nur der Ort, in einer Hauptrolle die eigene Einzigartigkeit unter Beweis zu stellen. Das eigentliche Ziel ist der Ausdruck von Empfindungen und das Durchspielen von Identitätsentwürfen, die sich kritisch vom üblichen bürgerlichen Selbstverständnis abgrenzen. Reiser wünscht sich nichts mehr, als »öffentlich vor den versammelten Einwohnern seiner Vaterstadt seine Talente zu entwickeln, und zeigen zu können, wie tief er empfand, was er sagte, und … solche erschütternden Empfindungen wieder bei Tausenden zu erregen« (357; 392)9 . Nur mittelbar ist damit die Bildungsthematik angesprochen, denn hier geht es um heroische Alternativen zu alltäglichen Lebensentwürfen, die nur in Ausnahmesituationen Kontur gewinnen, es geht um Genie und Berufung. Was diese großen Begebenheiten und diese großen Charaktere der Dramenliteratur sowohl für Anton Reiser als auch für Wilhelm Meister so anziehend macht, ist der
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W. v. Humboldt, a.a.O., S. 237. Ebd., S. 238. Ebd. Zitate aus dem »Anton Reiser«-Roman beziehen sich auf die von Wolfgang Martens herausgegebene Ausgabe, die im Reclam-Verlag erschienen ist (Stuttgart 2001) sowie auf den ersten Band der von Heide Hollmer und Albert Meier herausgegebene zweibändigen Werkausgabe (Frankfurt a.M. 1999). Die Seitenangaben in Klammern weisen zuerst die Seite in der von Martens herausgegebenen Ausgabe nach, die zweite Seitenangabe bezieht sich auf Hollmer/Meier (Hg.).
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Umstand, dass ihre Verkörperung gerade nicht am Ende langfristiger Bildungsprozesse steht, sondern sofort, und dies glanzvoll, umgesetzt werden kann. Die Attraktivität der Bühne beruht offenbar für Schauspieler wie für das Publikum darauf, dass hier neue Identitätsmodelle durchgespielt werden können, aber auch darauf, dass sie ohne allzu viele Konsequenzen nur gespielt sind. In beiden Romanen wird dies als Verlockung dargestellt, die wie eine Verheißung gegenüber der Mühsal des eigenen Wegs ins Leben wirkt. Gleichzeitig wird man mit dem facettenreichen Scheitern dieser Aspirationen vertraut gemacht und mit den Formen, die die Protagonisten entwickeln, um sich diesem Scheitern zu konfrontieren.
3.2
Die Perspektive der Bildungsgangforschung
Häufig erscheinen in Bildungsromanen die Entwicklungsprozesse der Individuen eher wie der Testfall und nicht wie eine Bestätigung bildungstheoretischer Programmatik. Dies gilt auf jeden Fall für »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Obwohl deklariert als Romane (bei »Anton Reiser« handelt es sich in Wirklichkeit weitgehend um eine Autobiographie), fungieren sie wie quasi-empirische Fallanalysen von Bildungsprozessen unter genau definierten sozialen und historischen Bedingungen. Mit einer ähnlichen Zielsetzung untersucht die Bildungsgangforschung die Defacto-Ebene von Bildungsprozessen, anstatt auf programmatischer Ebene die Ziele von Bildung, die darin zum Ausdruck kommenden Menschenbilder oder Möglichkeiten der Umsetzung zu untersuchen. Bildungsgangforschung10 thematisiert Bildung als biographischen Prozess eines Individuums in Auseinandersetzung mit seinen sozialen Rahmenbedingungen und mit geltenden normativen Vorgaben – eben jenen Zielen und Menschenbildern, von denen Bildungstheorien sprechen und die sie implizit voraussetzen. Nicht eine eigene normative Programmatik des Gelingens zu entwickeln ist das Ziel der Bildungsgangforschung, sondern der empirische Prozess. Allenfalls Anklänge traditioneller Selbstbestimmungstheorien klingen an, wenn M. A. Meyer (1998) im Anschluss an R.J. Havinghurst11 betont, dass die Bearbeitung typischer Entwicklungsaufgaben im Prozess des Heranwachsens dann zu Bildungsprozessen werden, wenn das Individuum seine Art der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Vorgaben selbst wählen oder zumindest die Umstände, die eine solche Wahlfreiheit einschränken, reflektieren kann. Damit kommen auch eigene Einstellungen und die eigene Haltung in den Blick. Im Gegensatz zu Entwicklungsprozessen, die sich ja allein auf solche der biologischen Reifung beschränken können, finden Bildungsprozesse überall da statt, wo sich eine Person auf die Suche nach individuellen Lösungen für solche Fragen begibt und sich Rechenschaft darüber gibt. In der Regel wird es dabei seine Widerfahrnisse
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Der Ansatz der Bildungsgangforschung wird vor allem entwickelt in: Meinert A. Meyer, Andrea Reinartz (Hg.) (1998), Bildungsgangdidaktik. Opladen; Matthias Trautmann (Hg.), Entwicklungsaufgaben im Bildungsgang. Wiesbaden; Hans-Christoph Koller (Hg.) (2008), Sinnkonstruktion und Bildungsgang. Opladen. Robert J. Havinghurst (1972), Developmental Tasks and Education. New York.
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
eher als Stufenfolge von Erfahrungen und nicht als bloßes Auf und Ab von Wechselfällen begreifen. Bildungsgangforschung begreift alle persönlichen Auseinandersetzungen mit Entwicklungsaufgaben unter Einschluss von Sackgassen und Umwegen als den Bildungsprozess eines Subjekts. Damit wird der Bildungsbegriff erweitert, denn er wird nur mittelbar auf Kenntniserwerb bezogen und legt den Schwerpunkt auf eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit und des Aktionsradius. Damit kommt zugleich die Fähigkeit, neue Beziehungsmuster oder Formen der Problemlösung zu entwickeln, in den Blick. Weiter gedacht kann dies bedeuten, dass ein so verstandener Bildungsprozess sich auch auf vorbewusster Ebene abspielen kann und das, was zu ihm führte, auf den ersten Blick gar nicht sichtbar ist. Gerade dies veranschaulichen die beiden hier dargestellten Romane. Neben dem Handlungsaspekt wird von der Bildungsgangforschung besonders der Aspekt der Freiheit betont, den das Individuum für sich bei der Suche nach Antworten auf Entwicklungsaufgaben in Anspruch nimmt: Denn in einem gewissen Maße steht es jedem Individuum frei, auf Distanz gegenüber Erwartungen zu gehen, kulturelle Vorgaben zu übernehmen oder abzulehnen, seine Interessen neu zu definieren. Hervorgehoben wird dabei, dass es auch solche, zweifellos relative, Freiheitsgrade auf individueller Ebene sind, auf denen schließlich sogar die Veränderung einer Kultur in großem Maßstab beruht. Insofern nimmt die Bildungsgangforschung einen Perspektivwechsel vor – weg von der Konzentration auf prinzipielle Fragen und hin zu individuellen Sinnkonstruktionen. Der dabei entwickelte Bildungsbegriff erweist sich als hilfreich, Begebenheiten und Widerfahrnisse, mit denen ein Subjekt konfrontiert wird, in ihrer ganzen Vielfalt in den Blick zu nehmen, abseits von typischen Bildungserfahrungen wie dem Kunsterlebnis, der Lektüre, dem Gespräch, der Reise, dem Schulbesuch oder der Ausbildung für einen Beruf. Ihr Bildungsverständnis ist weniger eingeengt auf kognitive Kompetenzen und bezieht die ganze Vielfalt von Erfahrungsmöglichkeiten ein. Hier überschneidet sich ihr Interesse mit jenen Bildungsromanen, die es sich zur Aufgabe machen, die »innere Geschichte« eines Menschen zu schildern. So jedenfalls bezeichnet Karl Philipp Moritz in der Vorrede zum ersten Teil des »Anton Reiser« sein Vorhaben (6; 86), und in den beiden hier untersuchten Romanen führt dies zur Kartographierung von Problemfeldern und nicht zu Modellen gelingender Praxis.
3.3
Irrfahrten I: »Anton Reiser«
Karl Philipp Moritz entfaltet im »Anton Reiser« ein großes Spektrum von Schauplätzen formaler und informeller Bildung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: der Schule und Universität, der privaten Gesprächskreise und Lektürezirkel, der religiösen Unterweisung, der Handwerksbetriebe und Theaterbühnen. Als »psychologischer Roman« betitelt, ist dies auf den ersten Blick die Biographie eines fiktiven Heranwachsenden aus der Unterschicht, bei genauerem Hinsehen Moritz’ eigene Autobiographie der Zeit zwischen seiner Geburt und dem zwanzigsten Lebensjahr. Es ist zugleich die Geschichte von einem, der auszieht, sich in der Gesellschaft einen sozialen Ort fern
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von seiner Herkunft zu suchen, einer Gesellschaft, die jedoch nicht im Geringsten auf soziale Mobilität angelegt ist. Dennoch ist dies nicht der Roman eines sozialen Aufstiegs12 , sondern der Irrfahrt von jemandem, der in seinem unbedingten Wunsch, in seinen besonderen Fähigkeiten gesehen und beachtet zu werden, keinen Platz in der Gesellschaft findet. Der Roman handelt in großen Teilen vom Leben der Schuster und Perückenmacher, der Essigbrauer und Garköche, der Hutmacher und Regimentsmusiker, und von der Schwierigkeit, dieses soziale Habitat hinter sich zu lassen.13 Dennoch ist das Bild, das Moritz entwirft, nicht das einer statischen Gesellschaft, sondern eines Umbruchs, der sich aber im religiösen Bereich vollzieht. Die Kirchen sind voll, den Gottesdienst besucht man am Sonntagvormittag und dann noch einmal nachmittags, man wechselt zwischen einzelnen Predigern, diskutiert und vergleicht, schließt sich neuen Bekenntnissen an, gerade in den von Moritz dargestellten Ständen verbringt man die Abende mit Beten, Singen und dem Vorlesen frommer Schriften. Die religiöse Thematik spaltet die Familien; Antons Vater gehört einer quietistischmystischen Richtung an, während die Mutter bibeltreue Protestantin ist. Beide haben für einander nur Verachtung übrig, Moritz spricht rückblickend von einer »Hölle von Elend« (11; 90). Charakteristisch ist, dass die Geschicke der Familie von einer weit entfernten Person dominiert werden, dem geistlichen Führer der Glaubensgemeinschaft, der der Vater angehört, und so beginnt der Roman nicht mit frühen Kindheitserinnerungen, sondern mit der Skizze des Lebens in einem entfernt liegenden Schloss, das der Titelheld erst sehr viel später, im Alter von acht oder neun Jahren kennenlernen wird. Der es bewohnt, ein Landadliger, lebt abgesondert, entfernt »von allen übrigen Einwohnern des Orts, und ihrer Religion, Sitten und Gebräuchen«, sein Haus ist von ihnen »durch eine hohe Mauer geschieden« (7/8; 87). Dies ist der Ort, der Reisers gesamte Kindheit überformen wird, Sitz einer religiösen Gemeinschaft, deren Anhänger aus allen sozialen Schichten stammen, vom adligen Haupt der Sekte über Verwalter und Haushälterin bis zu den Dienstboten sowie zahlreichen Besuchern, die regelrechte Wallfahrten zu diesem Ort unternehmen. Unter ihnen ist »jährlich, wenigstens einmal, […] auch Antons Vater.« (11; 89) So kommt es, dass die Lehre der französischen Mystikerin Madame de Guyon, deren Schriften der Adlige übersetzt, aufs Entschiedenste alle Abläufe in Antons Familie regiert. Wenn sie vom »Ausgehen aus sich selbst und Eingehen ins Nichts« spricht (8; 88), so zielt dies praktisch nicht nur auf die »Vernichtung« aller Leidenschaften und damit die Missachtung eigener Wünsche und Bedürfnisse, sondern auch und vor allem der aller anderen, zumal die Lehre von »der gänzlichen Ertötung und Vernichtung aller, auch der sanften und zärtlichen Leidenschaften, mit der harten und unempfindlichen Seele [des Vaters] übereinstimmte« (11; 90). Immer wieder ist »Verachtung« das Wort,
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Dieser beginnt im Leben von Karl Philipp Moritz da, wo der Roman endet. Moritz ist nacheinander Hutmacherlehrling, Gymnasiast, beinahe Schauspieler, Student, Lehrer, Konrektor, Reiseschriftsteller, Journalist, Professor der schönen Künste, Königlich Preußischer Hofrat und in letzteren beiden Eigenschaften skandalumwitterter Liebling der Berliner Bildungselite. Der Roman wurde in mehreren Folgen in der Zeit zwischen 1785 und 1790 veröffentlicht. Er schildert Ereignisse zwischen 1756 und Mitte der siebziger Jahre.
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
das zur Schilderung der Familienbeziehungen herangezogen wird, und diese Verachtung wird auch dem Sohn entgegengebracht, als ein weiteres Kind geboren wird, er selbst aber krank wird. Immer wieder kommt Moritz auf diese in der Kindheit liegenden Anfangsbedingungen zurück: »Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden« (13; 91). Er fühlt diese Verachtung fortan auch »gegen sich selbst« (22; 99), und dies gibt dem Roman seinen Charakter einer unnachsichtigen Selbstanalyse. Anton besucht keine Schule, weil dafür kein Geld da ist; er ist acht Jahre alt, als der Vater beschließt, selbst ihm das Lesen beizubringen. Zu diesem Zweck kauft er zwei Bücher, »das eine eine Anweisung zum Buchstabieren, und das andere eine Abhandlung gegen das Buchstabieren« (15; 93). Der Vater gibt zwar seinen Unterrichtsplan bald wieder auf, aber mit Hilfe der beiden Bücher bringt sich Anton nun selbst das Lesen bei und arbeitet sich durch beide Bücher durch. Mit dem Lesen ist ihm »eine neue Welt eröffnet«, er liest alles, was er findet, freilich um den Preis, dass »er schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealische Welt verdrängt« wird (16/17; 94/95). Entscheidend ist, dass diese Leseabenteuer in völliger Isoliertheit stattfinden, da das einsame Lesen von keinerlei Gesprächen oder Angeboten formaler Bildung flankiert wird. Der Vater ist Regimentsmusiker, oft lange Zeit nicht zu Hause, die Mutter duldet immerhin Antons Romanlektüren, die vom Vater verboten sind. Geschichten von frommen Kindern, christlichen Märtyrern und antiken Helden werden von ihm zu einer Art privater Mythologie verbunden, die aber in das reale Leben hineinreicht, etwa wenn die Rede vom »Jesulein« in einem Buch dazu führt, dass Anton tagelang ein imaginäres Jesuskind als seinen jüngeren Spielgefährten in einer Schubkarre spazieren fährt, um ihm »dadurch ein Vergnügen zu machen« (25; 102), und auch mit Gott führt er Gespräche »auf einem ziemlich vertraulichen Fuß« (23; 100). Seine Spannungen reagiert er in großangelegten Schlachtordnungen aus Blumen und Pflaumenkernen ab; wenn er auf sie mit geschlossenen Augen einschlägt und danach die Verwüstungen betrachtet, so erblickt er häufig »mit einer sonderbaren wehmütigen und doch angenehmen Empfindung sich selbst unter den Gefallenen.« (28; 104) Die erlebte Gewalt verlangt nach Ausdruck und auch nach Fortsetzung, wobei er zugleich die Rolle von Täter und Opfer spielt. Offensichtlich gibt es kaum Bezugspersonen im Leben von Anton, die ihm wohlgesonnen sind – außer dem Jesulein, Gott und einer Base, die ihn zum Arzt bringt. Auch der quietistische Landadelige hat sich wider Erwarten nicht seiner angenommen. Dadurch stößt Anton auch nicht auf die Diskrepanz zwischen der Realitätssphäre, die eine geliebte Bezugsperson repräsentieren könnte, und der eigenen Sphäre imaginierter, »romanhafter« Verhältnisse. Die Zäsur, die hier der Schulbesuch setzen könnte, gibt es nicht. Anton hat einige Zeit Privatstunden bei einem »Schreibmeister«, aber dies wird ersatzlos gestrichen, als der Vater nicht korrigierte Fehler in den Heften seines Sohnes findet. Dann lässt er ihn einige Monate »auf Zureden einiger Bekannter in der öffentlichen Stadtschule eine lateinische Privatstunde besuchen« (42; 115/16); den Unterricht in den übrigen Fächern lehnt er ab. Obwohl Anton rasch in die schmale Spitzengruppe der Klassenbesten vorstößt und alles daransetzt, auf diesem »Pfad des Ruhms« (44; 117) weiter fortzuschreiten, muss er die Schule wieder verlassen, weil beschlossen worden ist, ihn eine Hutmacher-Lehre bei einem Glaubensbruder im fernen Braunschweig
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absolvieren zu lassen. Dass er im Konflikt zwischen seinem Wunsch, zur Schule zu gehen, und der Anordnung des Vaters keine Chance hat sich durchzusetzen, ist Anton klar und er zieht daraus eine einfache Konsequenz: Wenn ihm schon verwehrt wird, im Positiven seine Leistung zu zeigen, dann will er wenigstens im Negativen die letzten Handlungsspielräume nutzen: In den letzten Wochen seines Schulbesuchs setzt er alles daran, zum schlechtesten Schüler von allen zu werden. Seinem Rauswurf kommt er nur dadurch zuvor, dass dies der festgesetzte Tag ist, an dem der Vater ihn von der Schule nimmt. Überraschenderweise erfährt man nichts über die Erfahrungen, die Anton mit Gleichaltrigen macht. Er war immer Außenseiter, allein schon »wegen seiner armseligen, schmutzigen, und zerrissenen Kleidung«, und kann deshalb auch keinen Kontakt zu anderen Kindern herstellen. Während der kurzen Phase seines Schulbesuchs schämt er sich, unter den hämischen Blicken seiner Klassenkameraden nachmittags Dienstbotengänge erledigen zu müssen, während diese in den Straßen flanieren. So überlagert der unerfüllte Wunsch nach Anerkennung alle anderen; der Wunsch nach Nähe verkehrt sich dabei in die Sehnsucht danach, sich hervorzutun, nach »Ruhm«, Aufmerksamkeit, öffentlicher Anerkennung. Drastisch illustriert der Erzähler diese Beziehungsunfähigkeit am Beispiel der Besuche bei einem alten Mann, Theologe und ehemaliger Hofmeister, der dem Jungen zugewandt und voller Wertschätzung begegnet. Aber Anton spürt offenbar sehr wohl, dass dieser aufgrund seines hohen Alters und dessen Gebrechen inzwischen in einer schwachen Position ist. Er nutzt dies aus und macht die Begegnungen zur Farce: Zwar ist er geschmeichelt, dass ihn der Alte an den eigenen Studien mystischer Schriften teilnehmen lässt, experimentiert dann aber vor allem damit, welche Schlüsselwörter den jeweils gewünschten Eindruck erzeugen, und bezichtigt sich, »heimlich lachen« zu müssen, wenn »der alte Mann sein Geschriebenes las« (50; 125). Der Autor hat bisher im aufklärerischen Duktus zunächst das Umkippen der quietistischen Lehre in familiären Terror gezeigt und nun mit dieser Begebenheit sein Verfahren radikalisiert. Hinter der »Bühne« manifester Handlungen wird eine Hinterbühne gezeigt, auf der das eigentliche Stück gespielt wird: Es geht weder um die Vertiefung in mystische Lehren noch um die Beziehungsebene freundschaftlicher Wertschätzung des alten Mannes. Der Erzähler macht seinem Protagonisten den Prozess, indem er zeigt, dass das Repertoire seiner Verstellungskunst nun auch das Verhältnis zu seinem neuen pietistischen Lehrherrn bestimmt. Jedoch findet er sich hier in Verhältnissen wieder, denen allein mit Klage (über die Bigotterie der anderen) noch Selbstanklage (eigener Eitelkeit und Gefallsucht) beizukommen ist. Die Lehrlinge leben im Haus des Hutmachers Lobenstein, der Arbeitstag beginnt um sechs und endet, wenn nicht nachts durchgearbeitet wird, mit dem Abendessen um acht, danach und ebenso am Morgen gibt es Andachtsübungen und nur sonntags etwas Freizeit. Alles wirkt dunkel, eng, kleinlich; die »kalte, trockene, gebieterische Miene« (57; 129), die Anton an Lobenstein wahrnimmt, ist für ihn Ausdruck von »Intoleranz und […] Menschenhass« (62; 133). Jedoch bekommt er von seinem Meister nach anfänglicher Geringschätzung mehr und mehr Sympathie entgegengebracht, und dieser findet auch bald einen Grund, dass Anton »ihm von nun an zur Gesellschaft sein, und in einem Bette neben ihm schla-
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
fen« muss. (64; 135)14 Immerhin ist dies die erste tiefergehende Wertschätzung, die Anton in seinem Leben erfährt, und sie bewirkt bei ihm eine weitreichende Veränderung. Offenbar aufgrund der Aufwertung durch Lobenstein, der ihn an seinen nächtlichen Gesprächen mit Freunden teilnehmen und ihm Klavierstunden geben lässt, tritt Anton mit einem neuen Selbstbewusstsein auf. Es äußert sich als »Lebhaftigkeit« und »Heiterkeit«, und gerade dies führt zu seinem Sturz: Er hält sich nicht mehr an die pietistische Spielregel, »ein niedergeschlagenes, misanthropisches Wesen, vorgegebene Beängstigungen und Beklemmungen seiner Seele« zu zeigen (70; 140). Ob seiner »lebhaften und weltlich gesinnten Mienen« (71; 141) wird der Landadlige konsultiert, und der befindet, dass »der Satan seinen Tempel in Antons Herzen« errichtet hat (ebd.). So sehr dieses Verdikt für Anton ein »Donnerschlag« ist (ebd.), wird es doch zum Wendepunkt. Anton beginnt an der Autorität derer zu zweifeln, die ihn auf diese Weise aburteilen. Seine eigenen Gefühle sind ganz andere und er ist von deren Richtigkeit überzeugt. Da er an sich selbst keine Veränderungen wahrnehmen kann, ist es ihm unmöglich zu glauben, er sei »von Gott verworfen« – nicht einmal mit Niedergeschlagenheit vermag er auf den Lobensteinschen Urteilsspruch zu reagieren. Aber die Zeit der Schonung ist für ihn vorbei; er wird jetzt ausgenutzt und zu Arbeiten herangezogen, die eigentlich seine Kräfte weit übersteigen. Zusammen mit einem anderen Lehrling muss er nächtelang Hüte vom kochenden Sud ins kalte Flusswasser hinter dem Haus tragen und sie dort waschen, wozu im Winter erst ein Loch ins Eis geschlagen werden muss. Jedoch betrachtet er seine aufgesprungenen blutenden Hände jetzt mit Stolz; sie erscheinen ihm wie »Ehrenzeichen von seiner Arbeit« (72; 142). Er vermag sogar aus all dem »eine Art von süßem Freiheitsgefühl, das er bisher nicht gekannt hatte«, abzuleiten, ein Gefühl »von innerer Wertschätzung« aufgrund der »Anstrengung seiner Kräfte« (73; 142). Hinzu kommt, eine gänzlich neue Erfahrung: die innige Freundschaft, die ihn zunehmend mit dem anderen »Lehrburschen« verbindet. Sorgfältig motiviert Moritz diese Veränderungen im Bewusstsein seines Protagonisten. Am Anfang der Entwicklungen, die sein neues Selbstbewusstsein begründen, steht nicht die Arbeit, die Anton im Haus des Hutmachers verrichtet, sondern Moritz stellt an den Anfang ein Gefühl: Anton fühlt sich aufgewertet als jemand, dem Zuneigung entgegengebracht wird, der als Gesprächspartner anerkannt wird, der – Klavierunterricht! – eine besondere Behandlung erfährt. Auf der Basis dieses neuen Selbst-
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Dabei muss »in einem Bette« wohl mit Betonung des »einen«, d.h. als »im selben Bette« gelesen werden. Eine Ehefrau hat Meister Lobenstein nicht. Darüber, ob es hier um eine homosexuelle Initiation geht, wird der Leser sorgfältig im Ungewissen gelassen. Der Autor vermeidet jegliche Doppeldeutigkeit oder Anzüglichkeit in der Schilderung dieser Beziehung. Sie ist von wachsender »Zuneigung des Herrn L. […], je mehr [Anton] nach seiner geistlichen Führung ein Verlangen bezeigte«, und bei Anton von »eine[r] Art von Liebe« geprägt (67; 138). Ganz ironielos wird das Meister-Schüler-Verhältnis als auf die religiöse Sphäre bezogen dargestellt, so, wenn Moritz formuliert, Lobenstein habe Anton in diesen Nächten gelehrt, »dass er sich Gott nur ganz hingeben solle« (64; 135). Das zeitgenössische Tabu über der Homosexualität findet im Roman allenfalls einen Ausdruck in der Verdrängung des Weiblichen (vgl. O. Gutjahr (1996), Das verdrängte Weibliche in K.Ph. Moritz’ »Anton Reiser«. In: Recherches Germaniques 26, S. 19-40): Alle tragenden Figuren sind männlich und Reiser nimmt zu keinem Zeitpunkt eine Beziehung zu einer Person weiblichen Geschlechts auf.
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gefühls kann er ungerechte Beurteilung zurückweisen, anstatt lediglich mit Niedergeschlagenheit zu reagieren, und er kann sich auf die eigenen Leistungen beziehen. Die Zeit scheint für ihn gekommen, das Feld ständiger Suche nach Anerkennung hinter sich zu lassen und neue Interessen zu entwickeln.15 Tatsächlich beginnt er in dieser Zeit, sich mit den unterschiedlichen Predigern in den Kirchen der Stadt zu beschäftigen, die in der Rolle eines »öffentlichen Redners« auftreten (75; 144). Kirchen sind hier eine Art vorbürgerlicher, religiös grundierter Öffentlichkeit, der Andrang in ihnen erheblich; besonders gefeiert werden die Bußpredigten eines Pfarrers, die sich über viele Stunden hinziehen und die Anton vor allem aufgrund der Gewalt, die der Redner über die Seelen seiner Gemeinde ausübt, beeindrucken. Der Pfarrer ist nicht nur eine Person, der er tiefste Verehrung entgegenbringt, sondern die auch eine Macht ausübt, von der Anton, aufgewachsen in der Privatheit pietistischer Glaubenszirkel, bis dahin nichts wusste. Als die einzige Form der Glückseligkeit erscheint ihm jetzt, so zu werden wie dieser Pfarrer und »öffentlich vor dem Volke reden zu dürfen« (86; 154). Seine Liebe und Verehrung gegenüber dem Prediger wird zur Identifikation: So möchte er werden, und als ersten Schritt beginnt er zuhause die gehörten Predigten aufzuschreiben. Dies empfindet er als tiefgreifende Wende – »vorher hatte er mit dem Herzen zugehört, jetzt hörte er zum ersten Male mit dem Verstande zu« – und diese »neue Entwicklung seiner Verstandeskräfte« wirkt auf ihn, als werde es »in seiner Seele licht« (99; 166). Der Ausdruck »Die Höhen der Vernunft« (97; 163), den der Pfarrer manchmal gebraucht, ergreift ihn bis an den Rand der Tränen, denn auf einmal bekommt etwas Sinn, das ihn schon lange beschäftigt: Eine Stadt hat oberhalb der Ebene der Häuser noch eine zweite Ebene, die der Türme, der Uhren, der Glocken. Ebenso gibt es in der Kirche über den Köpfen der Gemeinde noch eine Empore für Orgel und Chor. Wie eine zweite Realität erhebt sich etwas über das Alltagsleben, und Anton spürt diesen Beobachtungen in langen Reflexionen über Traum und reale Erfahrung nach. Fast berührungsfrei davon verläuft die andere Ebene: Sie wird bestimmt vom Leben im Hause des Hutmachers, und er sieht ein, dass er dieses Leben so schnell wie möglich beenden muss, denn der Meister verfolgt ihn mit zunehmendem Hass und kennt ihn so gut, dass er weiß, wie er ihn am tiefsten verletzen kann. So führt er Anton, der auf dem Rücken mit einem Tragkorb bepackt ist und deshalb nur gebückt gehen kann, »wie ein Lasttier« quer durch die Stadt (101; 168), um Hüte auszuliefern. Nach dieser Demütigung versucht Anton sich im Fluss zu ertränken. Seinem Freund gelingt es, dies zu verhindern, aber nun geht alles sehr schnell, der Vater wird herbeigeholt und Anton regelrecht abgeschoben. Bei seiner Rückkehr nach Hannover ist Anton vierzehn Jahre alt; die Lehrzeit fern von Zuhause war ein tiefer Einschnitt, die seiner Lektürewelt eine andere Realitätsebene zumindest an die Seite gestellt hat. Er ist stolz auf seine Arbeitsfähigkeit und neben allem Ausgeliefertsein an die Willkür von Vaterfiguren auch in der Lage, sich abzugren-
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Hier denkt Moritz psychologischer als Hegel in der Herr-Knecht-Parabel der »Phänomenologie des Geistes«: Hegel lässt den Knecht allein auf Grund der von ihm verrichteten Arbeiten und des damit verbundenen Kenntniserwerbs zur Wahrnehmung des eigenen Werts gelangen.
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zen und deren Autorität zu bezweifeln16 . Gelernt hat er mit Ambivalenzen umzugehen, musste er doch als Zeuge im Dauerstreit seiner Eltern häufig dem einen gefühlsmäßig, dem anderen sachlich rechtgeben. Aber es ist eine Art »wildes Denken«, auf Grundlage dessen er all dies verarbeitet, abgeleitet aus griechischen Sagen und den mystischen Gesängen der Mme Guyon. Formale Bildung gab es nur in Gestalt kurzer Intervalle: Stunden bei einem »Schreibmeister« und private Lateinstunden in einer öffentlichen Schule; Lesen hat er sich selbst beigebracht. Die Vorstellungen von dem Leben, das er führen möchte, haben nicht viel zu tun mit den Lebensumständen, die er vorfindet; vor allem möchte er zur Schule gehen. Anton hat sich »das Studieren fest in den Kopf gesetzt«, und zwar aus »Ehrfurcht gegen alles, was studiert hatte« (54; 126). Ein mächtiger Antrieb ist für ihn, von anderen beachtet und anerkannt zu werden oder sogar wie sein Vorbild, der Pfarrer, Macht über die Seelen zu haben. Aber es ist nicht nur das Verlangen nach Ansehen und Einfluss, das Anton Reiser antreibt, sondern da ist noch etwas anderes, das vielleicht am ehesten als Bedürfnis, sich Klarheit über sich selbst zu verschaffen, beschrieben werden kann. Wenn er die Predigten des Pfarrers zuhause aus dem Gedächtnis nachschreibt, so um herauszufinden, was ihn daran so fesselt, und wenn er dabei feststellt, dass seine Ideen zunehmend an Klarheit und innerer Logik gewinnen, so weil er in diesen »Verstandeskräften« (100; 166) ein neues Hilfsmittel kennenlernt, sich selbst zu verstehen. Zunehmend tritt neben sein Bedürfnis nach Anerkennung der Wunsch nach einem Selbstverhältnis, das nicht mehr auf »romanhaften Ideen« (61, 84) basiert und die »Leiden der Einbildungskraft« (89; 157) hinter sich gelassen hat. Diese Suche nach Klarheit findet Ausdruck im Bild der Brücke, über die Anton zu Beginn seiner Lehrzeit die fremde Stadt betreten hat, und auf der er nach anderthalb Jahren wieder steht. Er wünscht sich, es möge ihm gelingen, die Ereignisse der dazwischenliegenden Zeit »in einem einzigen vollen Blick zusammenzufassen« (93; 161), ohne sich dabei »an das Momentane, Alltägliche und Zerstückte« darin zu verlieren (94; 161). Er möchte sich vom »Ganzen seines hiesigen Lebens« ein Bild machen (ebd.), und das ist so lange nicht möglich, wie er »in seiner Denkkraft« nicht dafür Platz schaffen kann (93; 161). Was Anton in diesem Augenblick leitet, ist der Wunsch, seinen inneren Erfahrungen eine Gestalt und eine Realität zu geben, die nicht seinen Phantasien und Träumen, der bloßen Einbildungskraft entspringen. Er möchte seine Erlebnisse gedanklich so verarbeiten, dass dies über den »engen Zirkel seines Daseins« hinausführt (ebd.). So tastend hier der Erzähler den Vorstellungen seines Protagonisten Ausdruck gibt, so hat er damit doch in dieser knappen Formulierung den Kern der Bildungsintentionen zusammengefasst, die diese Zeit bestimmen: Anton Reiser will mit seinen Gedanken das Gegebene transzendieren und folgt damit den Bildungsintentionen des Idealismus. Auf die Zeit im Hause des Hutmachers Lobenstein hatte sich Anton gefreut, weil der versprochen hatte, ihn in die Schule zu schicken, aber dieses Versprechen wurde von ihm nicht gehalten, Anton wurde als billige Arbeitskraft eingesetzt. Dennoch hat sich
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Als der Vater den »missratenen Sohn« (103; 169) beim Hutmacher abholt und mit ihm zurück nach Hannover wandert, beweist Anton seine Selbstständigkeit, indem er zwar bemerkt, dass der Vater »gegen ihn kalt und verschlossen« ist, aber das macht ihm wenig aus: »Anton bemerkte kaum die Länge des Weges, auf eine so angenehme Art unterhielt er sich mit seinen Gedanken.« (104; 170)
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etwas im Verlaufe der Lehre für Anton geändert: Er kann Freundschaft empfinden, Arbeitsstolz, manchmal sogar Heiterkeit. Wenn Anton nun nach Hannover zurückkehrt, tut er dies gerne, weil nun endlich die Möglichkeit eines Schulbesuchs konkrete Gestalt annimmt: Er soll konfirmiert werden, und um dazu zugelassen zu werden, muss er »irgendeine Schule« finden, an deren Religionsunterricht er teilnehmen kann (109; 174). Eigentlich zielen Antons Aspirationen höher, er möchte eine Lateinschule besuchen und damit das Anrecht auf ein Studium erwerben, aber zunächst ist ihm auch »irgendeine« Schule recht, denn jede dient Anton zunächst nur als Plattform für sein Geltungsbedürfnis. Er wird in der Folge drei verschiedene Schulen besuchen, aber sein Wunsch sich hervorzutun, verkehrt gleich in der ersten die Situation auf eine geradezu groteske Weise. Sie ist eine Ausbildungsschule für angehende Dorfschulmeister, von seinen Eltern ausgewählt, da sie für die Schüler kostenlos ist und sie kein Geld für ihn ausgeben wollen. Eine der Übungsaufgaben für die zukünftigen Lehrer ist ausgerechnet die Niederschrift der sonntags gehörten Predigten aus dem Gedächtnis. Anton lässt keine Gelegenheit aus zu zeigen, dass er, der Schüler, dies mindestens ebenso gut kann wie seine selbst noch jungen Lehrer, so wie überhaupt sein Ziel ist, überall »der erste zu sein und die meiste Aufmerksamkeit auf sich gerichtet zu sehen« (115; 179). Jedes Gebet und jede Erläuterung eines Psalms werden von ihm in eine Konkurrenzsituation umgemünzt, aber es sind nicht seine Mitschüler, mit denen er konkurriert, sondern seine Lehrer, die ihrerseits unter der Aufsicht eines Inspektors stehen und sich ständig in einer Prüfungssituation befinden. Sein Übereifer führt dazu, dass er schließlich gar nicht mehr aufgerufen wird. Dann wird ein Wechsel an die Schule des Pfarrers nötig, der ihn konfirmieren wird, und hier gelingt es ihm schon besser, nicht nur Aufmerksamkeit für seine Leistungen, sondern auch Sympathie und Interesse an seiner weiteren Entwicklung zu wecken. Der Rektor der Schule ist bereit, ihm ein Stipendium des Prinzen zu verschaffen und für seinen Wechsel an das Gymnasium zu sorgen. Allerdings fällt dieser Übergang weniger glanzvoll als gedacht aus; seine Eltern, die von Hannover wegziehen, organisieren ein kompliziertes System der kostenlosen Unterbringung und Essensmöglichkeiten, damit das Geld, das Anton bewilligt wird, nicht angegriffen werden muss. So schaffen sie ein lückenloses Netz von Abhängigkeit, Kontrolle und Hungerleiderei, das für den auf jedes noch so versteckte Anzeichen von Herabwürdigung überreagierenden Anton zur beständigen Qual wird. Noch schlimmer als im Haus des Hutmachers kommt ihm seine neue Situation vor, denn dort hatte er wenigstens »ein gewisses Recht dazusein« (137; 199), während er nun überall als Kostgänger nur stört: Alle seine »Wohltäter« leben selbst in extrem armseligen und beengten Verhältnissen und zählen ihm die Bissen in den Mund. Was lernt Anton Reiser in der endlich ihm nun offenstehenden Höheren Schule? In erster Linie erwirbt er gute Lateinkenntnisse, außerdem Orientierungswissen in Geographie und Geschichte, und schließlich Kulturtechniken, z.B. die Fähigkeit, »systematisch zu Werke zu gehen« (112; 176) und trotz Desinteresse »aus Pflicht aufmerksam« zu sein (161; 219). Der Lehrplan scheint für alle Schüler von eher randständiger Bedeutung zu sein, in erster Linie geht es um das Erringen und Behaupten einer bestimmten Position. Wie ein ironischer Kommentar zum Begriff der formalen Bildung verkehrt sich Antons gesamte Erfahrung mit Schule und Unterricht in die Probe darauf, wieviel Aufmerksamkeit und Achtung er zu erringen vermag und wie viele »Demütigungen
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und Herabwürdigungen« (134; 196) dem gegenüberstehen. In die neue Situation trägt er seine alten Verletztheiten und Eitelkeiten hinein, aber noch schwerer wiegt, dass er mit seinem Eintritt in die Höhere Schule tatsächlich gegen die soziale Ordnung einer Ständegesellschaft verstößt, die fast schon Züge eines Kastensystems trägt17 . Ohnehin scheint Wissensvermittlung oder die Erweiterung individueller Fähigkeiten nicht die eigentliche Aufgabe des Gymnasiums zu sein: Die Halbwüchsigen sitzen in Gruppen von sechzig bis siebzig Schülern in Hörsälen, in denen »ewige Unruhe« (162; 220) herrscht, und zumindest in den unteren Klassen liegt neben dem Katheder die Peitsche, von der auch öfter und »freigiebig« Gebrauch gemacht wird (161; 219). Oder man muss zur Strafe neben dem Katheder knien, kann sich dabei aber mit andern unterhalten, ohne dass dies weiter auffällt (159; 218). Die eigentliche Aufgabe dieser Schule scheint in der Habitusformation zu liegen: Die Schüler lernen Rangfolgen auszuhandeln, mit Strafen gesichtswahrend umzugehen, die Anforderungen des Unterrichts zu unterlaufen, über Zugehörigkeit und Ausschluss zu bestimmen, auf ihre Lehrer herabzusehen. Es geht eher um die richtige Ausdrucksweise und Kleidung, um Auftreten und Selbstdarstellung als um Begabung oder schulische Leistungen. Inmitten dieser Schülerschaft muss Anton Reiser wirken, als käme er von einem anderen Stern. Zwar begleitet ihn noch eine Weile der Nimbus, Stipendiat des Prinzen zu sein, aber diese anfängliche Achtung schlägt bald um in eine »Art von unerklärbarer allgemeiner Antipathie gegen ihn« (199; 252). Das Geld des Stipendiums kommt bei ihm nicht an, da die Personen aus dem Bekanntenkreis seiner Eltern, die sich um ihn kümmern, beschlossen haben, es für seine Zukunft zu sparen. So fällt er allein schon optisch heraus: Er trägt einen aus seiner Lehrlingszeit übriggebliebenen »alten Rock«, abgetragen und so kurz, dass er »ihm ein lächerliches Ansehen« gibt (188; 243). Dies vermehrt seine Schüchternheit. Hinzu kommt seine »Büchersprache«, denn »die Sprache der feinen Lebensart« beherrscht er nicht (138; 200); es fehlt ihm »immer an den rechten Ausdrücken« (189; 244), und so greift er auf die Sprache zurück, die er aus der Bibel und dem Katechismus kennt, denn er möchte sich »nicht gemein ausdrücken« (131; 194). Aber am schwersten wiegt seine Befangenheit; er fühlt sich »verlegen, albern und dumm« (192; 246). Ein eigentlich geringfügiger Zwischenfall, der für andere Schüler wahrscheinlich kaum zum Problem geworden wäre, führt bei Reiser dann endgültig zum sozialen Absturz: Ein Mitschüler wird aufgefordert, ein Gebet vorzulesen, gleichzeitig sagt ein Banknachbar etwas zu Reiser, das dieser mit einem Lächeln quittiert. Dabei nimmt er wahr, dass der Direktor ihn beobachtet und versucht schnell das Lächeln in eine ernsthafte Miene zu verwandeln. In seiner Selbstwahrnehmung gelingt ihm das aber »nicht im mindesten auf eine edle, sondern vielmehr höchst misstrauische, gemeine, und sklavische Furcht verratende Art«, was der Direktor nicht nur »mit einem Blick
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Ein Licht wirft darauf das Thema »Brot holen«: Bei der ersten Erwähnung, dass er von seiner Zimmerwirtin dazu gezwungen wird, dies Brot »unter den Armen durch die Stadt [zu] tragen« (146), möchte man noch an Antons Überempfindlichkeit glauben. Aber an einer späteren Stelle zeigt sich, dass seine Vorkehrungen – erst in der Dämmerung gehen, die abgelegensten Straßen wählen – noch nicht ausgereicht haben: Ein Mitschüler bemerkt ihn »zu seinem größten Schrecken«, verspricht erst Verschwiegenheit, bedroht ihn dann aber später damit, den »Vorfall« anderen zu erzählen (166/67; 225). Brot holen bedeutet Wechsel in eine niedrigere Kaste.
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des Zorns und der Verachtung« quittiert, sondern er äußert sogar vor versammelter Klasse »ein paar Worte über das Niederträchtige in seiner Miene« (193; 247/48). Von da an weicht Reiser den Blicken des Direktors aus, wird nicht mehr aufgerufen und unter seinen Klassenkameraden mehr und mehr zum Gegenstand erst von Spott und Witzen, dann von gezielten Demütigungen. Eine Abwärtsspirale ist in Gang gekommen; Reiser reagiert auf den Hohn seiner Mitschüler, indem er sich gehen lässt. Seine Desintegration vollzieht sich auf allen Ebenen: »seine Gestalt verfiel von Tage zu Tage […], es war ihm beinahe alles gleichgültig, sein Mut war gelähmt […] – aber das alles erweckte auch kein Fünkchen Mitleid gegen ihn.« (200; 253) In Moritz’ Darstellung erweist sich die Bildungsinstitution als Ort der Zerstörung von Identität, sofern sich der Betreffende sozial unangepasst verhält. Jedoch zieht Moritz in seinen mitlaufenden Reflexionen solche Erklärungen für sozialen Ausschluss nicht heran, sondern analysiert die sich zuspitzende Situation allein als die Eigendynamik von Fehlverhalten, Verachtetwerden und dadurch sich verschärfender Verhaltensproblematik, einem Teufelskreis von Zurücksetzung aufgrund eines Betragens, das »selbst eine Folge von vorhergegangener Zurücksetzung« ist (205; 257). Ein Ausbruch aus diesen Zuschreibungen erscheint als unmöglich. Seine Lehrer versuchen nicht, den von ihnen durchaus registrierten Verfallsprozess zu verhindern, sondern halten ihm diesen Niedergang vor, anstatt nach den Gründen zu fragen. Sie betreiben den Ausschluss aktiv, indem sie Reiser zunehmend als »Domestik« behandeln (206; 258). Zwar besucht dieser weiterhin die Schule, schwänzt aber öfter; er macht zwar »ohne es eigentlich mit Absicht zu treiben, […] einige Fortschritte«, aber eher »wie zufällig« (211; 263). Er gehört nicht dazu, und das einzige, was ihn aufrechterhält, ist seine Fähigkeit, »in gewissen Stunden sich ganz aus seiner wirklichen Welt zu versetzen« (195; 249), bzw. »die Augen davor zuzuschließen« (204; 256). Die Bildungsgüter, vor allem Bücher, taugen nur noch dazu, sich beim Lesen hinauszuträumen in eine andere Welt, die von großen edelmütigen Gefühlen bestimmt wird. Obwohl diese Gegenwelt Trost spendet, wirkt sie letzten Endes am weiteren Niedergang Reisers mit. Der hat inzwischen seine »Freitische«, d.h. die kostenlosen Essensmöglichkeiten verloren, ebenso seinen Schlafplatz, und dafür problematische neue Freunde gewonnen. Auch fühlt sich Reiser inzwischen in seinem Äußeren zu verwahrlost, um überhaupt noch sein Stipendium beim Prinzen abholen zu können und ist jetzt wirklich in Gefahr zu verhungern. Auf der Ebene der materiellen Lebensbedingungen hat Reiser buchstäblich nichts mehr, das ihm Sicherheit verleiht; er schläft auf dem Fußboden der »Stube« zwischen anderen, wenn er nicht im Sommer auf den Dachboden auswandert; seine für ihn angefertigte Kleidung wird als für den Alltag zu gut für ihn unter Verschluss gehalten, er ernährt sich zeitweilig nur von dem Teig, der beim Perückenmacher als Hohlform anfällt und den er sich für einen angeblich vorhandenen Hund ausbittet. Moritz’ bittere Pointe ist, dass all dies unter dem Vorzeichen des ihm endlich ermöglichten Besuchs einer Höheren Schule und unter tätiger Mitwirkung der Lehrer geschieht. Reiser ist ein »Gegenstand des Hasses, der Verachtung und des Spottes« (199; 252) auch bei den Lehrern. Das Gymnasium ist nicht einfach nur der austauschbare Rahmen, sondern ursächlicher Grund für seinen Persönlichkeitszerfall. Er wird als nicht zugehörig aussortiert, sein Niedergang beobachtet und – sofern man ihn nicht direkt betreibt – wie ein Naturereignis hingenommen.
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Explizit macht Moritz darauf aufmerksam, dass Bildungsprozesse erst möglich werden auf der Grundlage von Achtung und Anerkennung; sie sind deren Voraussetzung. Die Möglichkeit, diese Achtung wahrnehmen zu können, begründet nicht nur Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, sondern ist Bedingung, sich überhaupt auf Lernprozesse einzulassen. Um Bildung zu ermöglichen, bedarf es vor allen anderen Angeboten, die das Gymnasium bereithält, der Zusicherung anerkannt zu werden.18 »Was Reisern damals aus seinem Zustande [hätte] retten […] können, wäre eine einzige wohlangewandte Bemühung seiner Lehrer gewesen, ihn bei seinen Mitschülern wieder in Achtung zu setzen. Und das hätten sie durch eine etwas nähere Prüfung seiner Fähigkeiten und ein wenig mehr Aufmerksamkeit auf ihn sehr leicht bewirken können.« (215/16; 266) Selbstachtung, so Moritz, konnte »sich damals bei ihm nur noch auf die Achtung anderer Menschen gründen« (236; 283). Von der Schicht der Honoratiorensöhne und seinen Lehrern wird sie ihm systematisch verweigert. Der einzige, bei dem er sich noch einmal in der Woche sattessen kann, mit dem er kenntnisreiche philosophische Debatten führt, die sich über viele Stunden hinziehen und der sich nicht an seinem heruntergekommenen Aussehen stört, ist ein Schuster (vgl. 228/29; 276/77). Aber auch die »Wut, Romane und Komödien zu lesen und zu sehen« (239; 287)19 und damit »aus der wirklichen in eine idealische Welt« auszuweichen, ist in den Augen von Moritz zentral für den geschilderten Zerfallsprozess, allerdings mit der Einschränkung, dass sie ihn nur vollendet, nicht begründet. Der Grund, »wodurch ihn das Lesen von Romanen und Komödien zu einem so notwendigen Bedürfnis geworden war« (ebd.), liegt tiefer und wird von Moritz in jenen unerträglichen Beziehungserfahrungen lokalisiert, die ihn »schon von seiner Kindheit« an verfolgen (ebd.). In Romanen und Theaterstücken stößt er auf Beziehungsformen, nach denen er sich sehnt; in ihnen geht es um »Großmut, Entschlossenheit, Uneigennützigkeit und Standhaftigkeit« (195; 249). Stattdessen ist entgleisende Kommunikation die Grunderfahrung von Reiser. Sie wird von ihm jedoch wie ein Schicksal wahrgenommen und nicht in ihren Ursachen begriffen – dazu »hatte seine Denkkraft damals noch nicht Stärke genug« (239/40; 287), wie der Erzähler anmerkt. Stattdessen sucht Reiser alle Schuld bei sich. In einer eindrucksvollen Analyse zeigt Moritz, dass selbst noch ein solches Schuldbekenntnis aus der Scheinwelt kommt, in die sich Reiser geflüchtet hat: Es sei, so Moritz, »nichts weniger als Heuchelei« (239; 287), was Reiser in einer Bestandsaufnahme seines Unglücks aufschreibt; es gehe ihm in dieser Selbstbezichtigung vor allem darum, die »Rolle« eines »recht großen Bösewichts abzugeben« (242; 289). Wenn unter Bildung die Eröffnung von Möglichkeiten der Selbstreflexion und der zunehmenden Selbstbestimmung verstanden werden soll, ist unter dem Einfluss der 18
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Anerkennung würde hier heißen, dass er als der behandelt wird, der er potentiell sein kann und darin bildsam ist. Bildsamkeit wäre insofern eine pädagogisch »notwendige theoretische Projektion des Ziels auf den Weg zum Ziel hin« (Alfred Langewandt (1983), Artikel »Bildsamkeit; in: Dieter Lenzen (Hg.), Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Stuttgart, S. 347-350, hier S. 348). Reiser aber wird festgelegt auf den, der er zu diesem Zeitpunkt ist, und zwar vor allem sozial ist – eine, wenngleich unbewusste, Maßnahme seiner Lehrer gegen unerwünschte soziale Mobilität. »Komödie« wird hier im allgemeinen Sinn von »Theaterstück« verwendet. Reisers Lieblinge sind Trauerspiele, über denen er »mit rotgeweinten Augen« brütet (221; 271).
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Schule für Reiser genau das Gegenteil eingetreten. Als Lehrling konnte er sich noch als jemand begreifen, dem diese Selbstbestimmung von außen verwehrt wurde; jetzt ist er der Akteur, der an sich selber vollendet, was andere ihm antun: Sie nehmen ihn nicht ernst und er sich ebenso wenig. War er unter der Herrschaft des Hutmachers durchaus dazu fähig, seine Situation zu reflektieren, so kann er jetzt nur noch mithilfe eines Geflechts der Selbstillusionierungen überleben. Die Entwürdigung unter dem Einfluss der Schule ist totaler und tiefgreifender als durch die Ausbeutung als Lehrling. Selbstbewusstsein im Sinne der Selbstachtung ist ihm ohnehin verlorengegangen, aber selbst ein realistisches Bewusstsein seiner Situation ist kaum noch vorhanden. Sich selber kann er so nicht retten, sondern sich nur in immer neue theatralische Rollen hineinphantasieren. Seine Rettung ist der Pfarrer, der ihn konfirmierte, und der ihn nun – sehr gegen seinen Willen – »aus seiner idealischen Romanen- und Komödienwelt wieder in die wirkliche Welt« zurückholt (243; 290). Dass dieser Reisers Selbstanklagen, »anstatt dadurch gerührt zu sein«, einfach nur »lächerlich« findet, wird vom Erzähler als »der entscheidende Augenblick« gewertet, in dem sich entscheidet, wie Reisers Selbstverhältnis künftig aussehen wird, ob er sich weiterhin in wechselnde theatralische Posen hineinsteigert oder es schafft, »ein aufrichtiger und ehrlicher Mensch« zu sein (242; 290). Der Pastor sorgt für eine neue Bleibe und die Stabilisierung von Reisers Einkünften, und Reiser selbst muss unter seinem wachsamen Blick sich um seine Kleidung, seine Schulden und sein Verhältnis zu seinem Stipendiengeber kümmern. Als »eine neue Epoche seines Lebens« (243; 291) erscheint ihm dies nicht allein aufgrund der materiellen Veränderungen, wichtiger noch ist, dass er beginnt, auf eine andere Art über sich selbst nachzudenken. Dazu dient ihm ein Tagebuch, das er zwar schon seit einiger Zeit als Liste von Begebenheiten führt, das er aber erst jetzt in seiner Möglichkeit begreift, sich über sein »inneres […] Leben« Klarheit zu verschaffen (246; 294). Da sind zum einen seine »Vorsätze«: »feierliche Gelübde«, selbst auferlegte »Gesetze« und »Lebensregeln« (247; 294, 248; 295), andererseits aber alle Fehlschläge seiner Versuche, »die vorige Achtung und Liebe der Menschen« zurückzugewinnen (249; 296). Er zieht sich zurück, aber nun um nachzudenken. Sein Geldmangel schließt ihn aus der Gesellschaft seiner Mitschüler aus, aber diese Einsamkeit ist auch selbstgewählt. Nie fühlt er sich wohler, als wenn er, sobald es die Temperaturen erlauben, auf den Dachboden ziehen und dort lesen und arbeiten kann. Seine Interessen haben sich »seit jener schrecklichen Epoche seines Lebens« (252; 299) verändert, und er beginnt nun, »die Wonne des einsamen Studierens« zu entdecken (ebd.). Er beginnt mit »Gottscheds Philosophie«, gefolgt von »Wolfs Metaphysik«, und entdeckt bald, dass er durch bloßes Lesen nicht weiterkommt, sondern Methoden der Systematisierung und Zusammenfassung entwickeln muss. Die erarbeiteten Inhalte werden zur Landkarte. »Alles, was er noch nicht durchdacht hatte, lag auf dieser Karte wie ein unbekanntes Land vor ihm, welches genau kennenzulernen er eine ordentliche Sehnsucht empfand.« (253; 299) Was vorher »bloße leere Namen« waren, verwandelt sich in »deutliche Begriffe«; »was ihm vorher dunkel und verworren gewesen war«, wird ihm »licht und helle«, und diese Erfahrung lässt ihn »alle Schwierigkeiten des Einzelnen« ertragen (253; 299/300). Als »eine neue Schöpfung« beschreibt dies der Erzähler, die allein durch »Denkkraft« entstehe (253; 300); erst jetzt habe Reiser überhaupt angefangen systematisch nachzudenken. Reiser verlässt kaum seinen Dachboden; »in einer
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Zeit von sechs Wochen […] saß er vom Morgen bis zum Abend mit der Feder in der Hand bei seinem Buche, und ruhte nicht eher, bis er vom Anfang bis zum Ende durch war.« (Ebd.) Es ist ein Zustand, in dem er »minder unglücklich« ist (254; 300), aber er stößt auch auf Hürden in seiner Arbeit, die »wie eine bretterne Wand oder eine undurchdringliche Decke« das Denken behindern (254: 301), und die ihn »ohne Stütze und ohne Führer in den Tiefen der Metaphysik« umherirren lassen (255; 301). Diese Begrenzungen, auf die Reiser stößt, hängen mit dem Charakter der Sprache selbst zusammen. Das Ausloten der Grenzen des Erkennbaren und Sagbaren tritt an »die Stelle seiner vorigen romantischen Träume« (255; 301). Moritz schildert eine Gemengelage von neuen Erfahrungen: Allem voran die Erfahrung des Begreifens, die Erarbeitung von Denkmitteln und Kenntnissen, damit sind aber zugleich auch neue und unbekannte Zweifel verbunden. Hinzu kommen Konstellationen, die Reisers alte, sein Leben von jeher prägende Verzweiflungen wiederbeleben: Obwohl er sich »in Zeit von ein paar Monaten« ein größeres Wissen erarbeitet »als seine ganzen akademischen Jahre hindurch« (256; 302), erfährt der um ihn besorgte Pfarrer nur, Reiser sei beim Auftritt von »Luftspringern« gesehen worden, und schließt daraus, dass dessen »alter Hang« zur Komödie wiedererwacht sei (249; 296). Sogar die Verfluchung durch seinen Vater trägt ihm dies ein. Dies und andere Rückschläge, sowie anhaltende Kopfschmerzen grundieren diese Phase, die nur im Rückblick wie eine glückliche Zeit erscheint. Vor allem in den Wintermonaten lebt er zusammengedrängt mit allen anderen Hausgenossen in der einzigen beheizten Stube, in der sich alle am Abend versammeln; es ist laut und überfüllt, seine unbeheizte Kammer auf dem Dachboden fast unbewohnbar. Ausführlich stellt er Reflexionen über den »unendlichen verwirrten Haufen sich einander durchkreuzender, menschlicher Schicksale« an (260; 306), eine demütigende Empfindung, weil ihm auch seine eigene Existenz dadurch »klein und unbedeutend gemacht« erscheint. Der Anspruch auf die eigene Individualität wirkt trügerisch angesichts der Beliebigkeit und Austauschbarkeit individueller Lebensformen, wie er sie nachts hinter den erleuchteten Fenstern ahnt, das eigene Leben und der eigene Tod gleichgültig. Im Schneeregen steht er wieder einmal an einem Flussufer und schwankt zwischen »Lebensüberdruss und der instinktmäßigen unerklärlichen Begierde fortzuatmen« (265; 310), bis ihm einfällt, »dass er den Abend bei seinem Wirt dem Fleischer frische Wurst zu essen bekommen würde – und dass die Stube sehr warm geheizt sein würde« (ebd.), und so bleibt er am Leben. In diese Phase fällt eine neue Lektüreerfahrung, die nicht nur bei ihm, sondern bei fast allen Lesern in dieser Zeit die Welt auf den Kopf stellt: Er lernt in Wielands Übersetzung die Dramen Shakespeares kennen. Dies bedeutet ein abruptes Ende für Reisers philosophische Studien, denn hier findet er »mehr als alles, was er bisher gedacht, gelesen und empfunden« hat (266; 311). Er liest die Dramen wie einen Kommentar zu den Grübeleien der letzten Zeit. Dass seine Verzweiflung über die Unerheblichkeit und Austauschbarkeit der einzelnen, individuellen Existenzen »in jeder erleuchteten Stube, deren in einem Hause oft so viele waren« (260; 306), gerade in die Phase seiner philosophischen Studien fällt, ist wohl kein Zufall, denn in den Ordnungen metaphysischen Denkens hat das Individuum keinen Platz. Durch die Shakespeare-Lektüre bekommt Reiser zum ersten Mal einen Blick für »die Welt der menschlichen Leidenschaften« (267; 312), und er begreift, dass sie sowohl etwas Allgemeines, für jedes Leben gleicherma-
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ßen Bedeutungsvolles sind, als auch für jeden eine völlig einzigartige Erfahrung, Moment stärksten Spürens der eigenen Individualität. In seinen Lektüren fühlt er sich in fremde Leben ein und gerade, dass er an den großen Emotionen anderer teilnimmt, bedeutet, dass er sich selbst nicht mehr als »einzeln und unbedeutend« fühlt. Dass er »die Empfindungen Tausender beim Lesen des Shakespeare« teilt, ist hier nicht mit dem gefürchteten »Gefühl von dem Verlieren unter der Menge« (261, 267; 307, 312) verbunden, stattdessen spürt er es wie eine Befreiung, nicht allein zu sein. Damit ist eine Tür aufgestoßen und es eröffnet sich eine Reihe neuer Entwicklungen. Anstatt sich in fremde Welten hineinzuträumen, wozu die Shakespeare-Dramen ja reichlich Anlass gäben, führt ihre Lektüre dazu die eigene Position zu bestimmen. Ausgestattet mit den Denkmitteln und Begriffen, die er sich in seinen Studien erarbeitet hat, beginnt er nun mit der Arbeit an Aufsätzen, die er als Briefe an einen Freund formuliert, denn er empfindet »ein unbeschreibliches Vergnügen daran […], Gedanken, die er für sich gedacht hatte, nun in anpassende Worte einzukleiden, um sie seinem Freunde mitteilen zu können« (268).20 Geleitet werden sie vom Bedürfnis, sich Klarheit über »die innere Geschichte seines Geistes« zu verschaffen (268; 312), dann folgen eine Reihe lyrischer Versuche. Die immer wieder neu sich einstellenden verletzenden Erfahrungen mit Gleichaltrigen in der Schule führen zwar immer noch zu langwierigen Grübeleien, aber nun versucht er auch sie poetisch zu verarbeiten und ihnen sogar eine positive Wendung zu geben, indem er ihnen Gegenbilder von Nähe und Freundschaft an die Seite stellt. Diese Erweiterung seiner Ausdrucksmöglichkeiten geht einher mit einer weiteren Öffnung: Reiser vergräbt sich nicht mehr bei Kränkungen in seiner Dachkammer oder umkreist die Stadt in nächtlichen Spaziergängen auf dem Wall, sondern er geht nun zum Tor hinaus in die Natur. Obwohl er wieder einmal einen drastischen Beweis von Nichtachtung seitens seiner Lehrer einstecken musste – er wird bei einer Prüfung nicht mit einer einzigen Frage bedacht – fühlt er sich »hier auf dem freien Felde« »aus allen den kleinlichen Verhältnissen, die ihn […] einengten, quälten und drückten, auf einmal in die große offene Natur versetzt« (274/75; 319). Die Entfernung aus der Stadt, »der zusammengedrängte Haufen Häuser, den er noch in der Ferne sah«, das offene Feld verschaffen ihm ein bisher unbekanntes Gefühl der Distanz und der »ungewöhnliche[n] Kraft in seiner Seele, sich über all das hinwegzusetzen« (275; 319). Einen so großen Stellenwert räumt der Erzähler dem Hinaustreten in die Natur ein, dass er von diesem einsamen Spaziergang sagt, er habe Empfindungen in Reisers Seele ermöglicht, die »mehr zur eigentlichen Bildung seines Geistes bei[getragen hätten] – als alle Schulstunden, die er je gehabt hatte, zusammengenommen.« (276; 320) Angesichts »der großen freien Natur« – Wiese, Fluss und »kleiner klarer Bach« – hat er das Gefühl, »zu Hause« zu sein, »das junge Grün der Bäume, der Gesang der Vögel und der kühle Morgenduft« (282;325) wird für ihn zum Spiegel. Sogar als »Heimat« bezeichnet er die Stelle, an die er öfter
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Das Verfassen von Briefen, die Pflege einer umfangreichen Korrespondenz avanciert im 18. Jahrhundert zu einer Art Gesellschaftsspiel des gebildeten Bürgers, und Anton Reiser versucht diese kulturelle Zugehörigkeit für sich zu beanspruchen, wenn er seine Gedanken in die Form von Briefen bringt – allerdings mit dem Makel, dass diese Briefe an den einzigen Freund, den er hat, von ihm nicht beantwortet werden, da sie sich sowieso am Abend zwecks Shakespeare-Lektüre sehen.
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
zurückkehrt (ebd.). An Stelle der Fixierung auf »Aufmerksamkeit« und »Ruhm« wird der Gedanke möglich, dass sein Dasein »in sich und für sich selbst« von Bedeutung ist, unabhängig von den Verhältnissen zu anderen (277; 320) – was ihn allerdings nicht von Selbstmordgedanken abhält, wenn diese Vorstellung an Kraft verliert. Gerade mit dieser Öffnung für die Erfahrung der Natur macht Moritz sinnfällig, dass Reiser seinen Aktionsradius beständig erweitert hat; er hat sich neue Handlungsspielräume und Erfahrungsmöglichkeiten geschaffen, die sich wie konzentrische Kreise um den stets virulent bleibenden Identitätskern des Gefühls des Verachtetwerdens und tiefer Verlassenheit anlagern. Deutlich wird aber auch, dass seine Bildungsprozesse zum größten Teil außerhalb der Schule, trotz ihrer und gegen sie stattgefunden haben; seine größte schulische Leistung bestand wohl bisher vor allem darin, sich überhaupt Zugang zu ihr verschafft und sie bisher überlebt zu haben. Unter dieser Perspektive ist der »Anton Reiser« tatsächlich ein »Anti-Bildungsroman«21 . Andererseits hat der Schulbesuch Reiser mit Kulturtechniken, vielleicht auch Haltungen und Einstellungen ausgestattet, die es ihm ermöglichen, seinen Kompensationen für erlittenes Unrecht eine produktive Wendung zu geben. Als Kind hat er sich in die Lektüre von Heldensagen geflüchtet und seiner Verzweiflung Ausdruck gegeben, indem er auf Pflaumenkerne, in Schlachtordnung aufgestellt, eindrosch, jetzt fällt »sein Geschmack […] auf lauter wissenschaftliche Bücher« (252; 299) und darauf, sich in die Schlachtordnungen philosophischer Systeme hineinzudenken. Dass es ihm gelingt, da wo er den Überblick zu verlieren droht, eigene Strategien zu entwickeln, anstatt sich entmutigen zu lassen, geht wohl auf den Schulunterricht zurück, aber er entwickelt das Gelernte weiter. Er entwirft »auf kleinen Blättchen schriftliche Tabellen«, in denen er die einzelnen Argumentationsschritte dem Ganzen der Fragestellung zuordnet und legt Zusammenfassungen an durch das »simple Abschreiben des Hauptinhalts« (was nicht so simpel ist, denn entscheidend sei in der Philosophie, wie er sagt, »bei dem Einzelnen nie das Ganze aus den Augen« zu verlieren. (253; 299)) Nur über den zeitlichen Rahmen damit verbunden, führt der Erzähler Protokoll darüber, was simultan zu diesen Denkabenteuern in Reisers Empfindungen vor sich geht, und dies bedeutet in erster Linie, dass Reiser Konsequenzen aus dem Gelesenen zieht, die ihn an den Rand des Freitods bringen: Es sind Gefühle der Kleinheit, Austauschbarkeit und Belanglosigkeit der individuellen Existenz, die durch seine philosophischen Lektüren zumindest verstärkt worden sind. Vermeintlich zufällig findet er aber immer wieder einen Ausweg, der sich ihm zumeist über seine Gänge zum »Antiquarius« auftut. Tatsächlich stößt er hier immer wieder durch »Zufall« in den Bücherreihen genau auf die Lektüre, anhand derer er sich einen veränderten Zugang zu sich und der Welt erarbeitet. Dass dies nach seinen philosophischen Studien nun die Dramen Shakespeares sind, führt ihn zunächst einmal ganz allgemein zu der Erkenntnis, dass die Identität eines jeden auf seinen Affekten basiert, seinen Empfindungen, Gefühlen, Leidenschaften. Das entnimmt er einerseits seiner Dramenlektüre, andererseits macht er auch diese Erfahrung ganz unmittelbar, denn er fühlt »seinen Geist unwiderstehlich mit emporgerissen«, so sehr, dass er all das Gelesene Abend für Abend seinem Freund, 21
Vgl. Hans-Joachim Schrimpf (1977), Karl Philipp Moritz. In: Benno v. Wiese (Hg.), Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin, S. 881-910.
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der am anderen Ende der Stadt als Klavierbauer lebt, vorliest (266; 311) und nun eine ihm völlig neue Erfahrung tiefer Verbundenheit mit diesem Freund macht, denn beide haben nicht nur eine ausgezeichnete Begabung für das Nachempfinden der dramatischen Verwicklungen, sondern auch für den Austausch über das, was diese Dramenlektüre in ihnen auslöst, sodass bei beiden »die schwellende Leidenschaft mit dem wachsenden Interesse der Handlung stieg«, wie Moritz sich ausdrückt (ebd.). Der Veränderungsprozess, den Reiser durchläuft, besteht also zum einen aus einer Zunahme an Kenntnissen und Erfahrungen im Umgang mit kulturellem Wissen, zum anderen im graduellen Anwachsen der Fähigkeit, diese Erfahrungen zu reflektieren und seinen bisherigen Lebensgang zu verstehen. So ist beispielsweise sein Studium philosophischer Grundlagentexte nur Ausgangspunkt, und das eigentlich Bemerkenswerte liegt wohl eher in seiner Fähigkeit, nicht dabei stehen zu bleiben, sondern sich mit seinen Gängen in die Natur, der Shakespeare-Lektüre und dem intensiven Austausch darüber selbst besser zu verstehen. Er begreift seine Außenseiterposition, indem er sie bis in seine Kindheit zurückverfolgt und einsieht, »dass verdrängt zu werden von Kindheit an sein Schicksal gewesen war« (276; 320). Dabei bleibt er nicht stehen, sondern leitet für die jetzige Situation ein neues »Selbstgefühl« ab: dessen, der danebensteht und »ruhig zusehen« kann (ebd.). Er beginnt sich in seiner Individualität zu verstehen und begreift, dass sie an die »Reihe seiner Erinnerungen an das Vergangene« gebunden ist und sich als »Kette dieser ununterbrochenen Erinnerungen« herstellt (269; 314). Erinnert werden muss hier an die Bestimmungen der Bildungsgangforschung, die einen besonderen Nachdruck auf selbstgewählte Formen der Auseinandersetzung mit normativen Vorgaben und sozialen Regeln legt. Dabei betont sie, dass diese Fähigkeit vor allem Distanz gegenüber Erwartungen und die Fähigkeit zu ihrer Ablehnung impliziert, aber auch die Möglichkeit, eigene Haltungen und Einstellungen zu überdenken und so zu zumindest die Möglichkeit für eine Erweiterung eigener Handlungsmöglichkeiten zu schaffen. Nur bis zu einem gewissen Grade taugen diese Kriterien zur Charakteristik von Reisers Verhalten; zu häufig wird er in die Defensive getrieben und kann sich nur reaktiv verhalten. Hier verläuft eine Grenze der Möglichkeit, Ereignisse in Bildungserfahrungen zu transformieren; deutlich wird, dass Bildungsprozesse als aktive Suche nach neuen Erfahrungen auf bestimmte Voraussetzungen in der Vergangenheit angewiesen sind. Zumindest zum Teil setzen sie die Sicherheit voraus, die einmal die Fürsorge der nahen Bezugspersonen geschaffen hat.22 Die Vernachlässigung, die Reiser in seiner Kindheit erfahren hat – keine angemessene Kleidung, kein Arzt bei Krankheiten, kaum Schulbesuch, Ausschluss von Kontakten mit Gleichaltrigen und der Teilnahme an Festen – findet ihre Fortsetzung im Wegzug der Eltern, als er das Gymnasium besucht. Sein Absturz dort beruht auch darauf, dass ihn niemand auffängt oder ihm Hilfe anbietet. Unberaten, wie er ist, führt dies zum Wegbrechen aller inneren Ressourcen, die er durch jene »romanhaften Ideen« ersetzt, deren er sich selbst anklagt. Erst als er diese Hilfe bekommt, dass jemand sich um ihn kümmert, nehmen die Erfahrungsfelder, die er sich zur Kompensation sucht, eine produktive Wendung.
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Auf der Theorieebene heißt dies, dass Bildungsprozesse an Voraussetzungen gebunden sind, die Gegenstand von Sozialisationstheorien sind.
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Sie sind frei gewählt, und immer deutlicher begreift er sich darüber in seiner Individualität. Wie ein Gegenspieler tritt aber sein Hunger nach Anerkennung und Beifall auf und zwingt ihn immer wieder dieselben Verhaltensmuster auf. Und so wird im letzten Drittel des Romans deutlich: Dies ist keine Geschichte einer Emanzipation und kein Entwicklungsroman, denn Moritz zeigt, wie ein Kindheitstrauma das weitere Leben so dominiert, dass Entwicklung, zumindest phasenweise, kaum noch möglich ist. Ein Bildungsroman ist der »Anton Reiser« allenfalls in dem Sinne, dass er den Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung und Bildungsverhinderung lenkt. So wird der Roman im letzten Teil zum Protokoll des Scheiterns von Bildung. Karl Philipp Moritz zeichnet die Geschicke seines Helden, nämlich seines eigenen juvenilen Ichs, nur bis zum Alter von zwanzig Jahren nach.23 Im vierten Teil, dem letzten, wird alles zur Farce: Die eigene Vita wird durch Lügengeschichten ersetzt, da sie Reiser »nicht romanhaft genug« erscheint (431; 458), Theatergruppen, die ihn einstellen sollen, sind immer gerade abgereist, seine Wanderung ist ein Herumlaufen im Kreis, aber so, dass er auf dem Rückweg für eine Strecke, die »er auf der Hinreise in wenigen Stunden zurückgelegt hatte, beinahe vier Tage zubrachte« (430; 457/58), der rettende Ausweg, doch ein Studium zu beginnen, ist vertane Zeit, nämlich mit Zufallslektüren – Reisebeschreibungen und rührseligen Romanen – und Schlafen zugebracht, eine neue Freundschaft ist in Wirklichkeit eher »ein peinlicher Zustand […], den sie sich aber einander nicht gestanden« (469; 492). Die in den ersten drei Teilen geschilderten Erfahrungen fallen in eine Zeit, in der er immer noch Schüler ist. Fast alle seine Mitschüler sind inzwischen jünger als er; die Schülergeneration aus der Zeit seines Eintritts in das Gymnasium hat die Schule bereits wieder verlassen. Seine Situation hat sich in gewisser Weise dadurch verbessert, denn er ist seine alten Quälgeister los, und auch ein neuer Direktor hat die Führung übernommen und steht ihm positiv gegenüber. Die unterschiedlichen Felder, in denen sich Reiser Kompetenzen erworben hat, haben aber mit dem Schulbetrieb wenig zu tun; weder seine Studien neuzeitlicher Philosophie, noch seine genaue Kenntnis der Werke Shakespeares und der neueren deutschen Literatur, noch seine eigenen essayistischen und lyrischen Arbeiten stehen in irgendeiner Verbindung zu Unterrichtsinhalten. Jedoch erwecken seine Gedichte außerhalb der Schule inzwischen Aufmerksamkeit. Dies nimmt eine unverhoffte und positive Wendung, als der neue Direktor Übungen einführt, in denen die Schüler öffentliche Proben ihrer Rezitations- und Deklamationsfähigkeit ablegen. Daran nimmt Reiser teil und rezitiert Gedichte aus eigener Produktion, ohne den Autor zu benennen. Der Direktor bestätigt ihm, dass die Gedichte »gut ausgewählt« seien, worauf Reiser sich denn doch zu seiner Autorschaft bekennt – »und von dem Augenblick an schien dieser Mann sein Freund zu werden« (308; 349). Tatsächlich folgt daraus eine abermalige und tiefgreifende Veränderung in Reisers Leben, das gleich mehrfach eine Wendung zum Guten zu nehmen scheint: Er erhält den Auftrag, zum Geburtstag der Königin eine Lobeshymne zu verfassen und sie öffentlich bei der Feier dieses Tages vorzutragen. Dazu gehört auch, persönlich die Ho23
Hugo Eybisch hat bereits 1909 detailliert die Übereinstimmung des Romans mit den biographischen Stationen im Leben von Moritz nachgewiesen: Untersuchungen zur Lebensgeschichte von K.Ph. Moritz und zur Kritik seiner Autobiographie, Leipzig 1909.
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noratioren der Stadt aufzusuchen und sie einzuladen, und auch ein »gutes Kleid« wird nun beschafft, sodass er »mit dem Hut unterm Arm und den Degen an der Seite«, in Seidenstrümpfen und hübschen Schuhen, »Ministern, Räten, Predigern, Gelehrten, kurz, […] Personen aus allerlei Ständen, die er bisher nur in der Entfernung angestaunt hatte«, seine Aufwartung macht (320:359). Er hat »das ehrenvollste Ziel erreicht, nach welchem ein Primaner […] nur streben konnte, und welches nur von wenigen erreicht wurde.« (Ebd.) Reiser steht jetzt der Zugang zu allen Positionen des gehobenen Bürgertums offen. Er, der vom unteren Rand der Gesellschaft, aus dem »gemeinen Volk« kommt (denn als mehr gelten Handwerker, Bauern, kleine Ladenbesitzer und Musikanten nicht), kann sich nun für die Laufbahn des Geistlichen oder Gelehrten, Arztes oder Beamten, Juristen oder Lehrers entscheiden. Ein Abitur gibt es noch nicht, ein Nachweis über den Besuch einer höheren Schule reicht aus. Stattdessen macht er sich quasi unbemerkt an einem Sonntag auf den Weg, um sich einer etwa 400 Kilometer entfernten Schauspielertruppe anzuschließen – zu Fuß und mit einer Barschaft von einem Dukaten. Er trägt sein festliches Gewand und einen »Überrock«, einen »Galanteriedegen«, seidene Strümpfe und seine hübschen Schuhe, überdies hat er noch ein zweites Paar Strümpfe, ein Hemd zum Wechseln, ein Ankündigungsplakat für die Geburtstagsrede auf die Königin mit seinem Namen und Homers Odyssee dabei. Seine eigene Odyssee wird im Nichts enden; vom Direktor der Schauspielertruppe, die sein Ziel ist, wird er abgelehnt, bei einer zweiten interveniert die Universität, an der er sich pro forma und zur Überbrückung eingeschrieben hat, und eine dritte löst sich gerade auf, als er sie erreicht. Hier endet der Roman. Man kann den »Anton Reiser« als die Geschichte eines sozialen Aufsteigers lesen, aber nur bis zum glanzvollen Moment, als er als Festredner und Repräsentant des Gymnasiums vor den Honoratioren der Stadt auftritt. Dann entscheidet er sich gegen diese Bürgerlichkeit und dafür, seiner lange zurückgedrängten Theaterleidenschaft zu folgen. Er fasst dies als seine Berufung auf – wobei der Erzähler daran Zweifel anmeldet und ohnehin seinem Protagonisten »Selbstverkennung« vorwirft (297; 338). Überhaupt werden zunehmend gereizte Untertöne in Rückblick des Erzählers auf sein vergangenes Jugendlichen-Ich unüberhörbar. Unverblümt spricht er aus, dass es Reiser nur darum gehe, »Ruhm und Beifall einzuernten«, und dass dazu »nichts bequemer als das Theater scheinen musste, […] wo die Sucht nach Beifall gleichsam privilegiert ist.« (364; 398/99) Insofern beruhe sein Hang zum Theater lediglich auf »Neigung« und »mancherlei Arten von Selbsttäuschungen« (382; 414), denn »wer nicht über der Kunst sich selbst vergisst, [sei] zum Künstler nicht geboren« (414; 443). Genau dies ist für Reiser nicht möglich und das Theater lediglich »Zufluchtsort«. Es ist »kein echter Beruf« (ebd.) im professionellen Sinne, da bei ihm dem Wunsch Schauspieler zu sein »kein reiner Darstellungstrieb« zugrunde liege (ebd.), sondern nur Suche nach Selbstbestätigung. Grund seiner Selbsttäuschung sei, dass Reiser »von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz hatte« (413; 442) bzw. »aus der wirklichen Welt verdrängt wurde und […] mehr in Phantasien als in der Wirklichkeit lebte« (382; 414). Jedes »fremde Schicksal«
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werde dafür genutzt, ihn von seinem eigenen Mangel zu befreien; es sei für ihn eine »Lebensflamme«, da die eigene »beinahe erloschen« sei (413; 442).24 Je mehr Reiser daran setzt, doch noch eine Karriere als Schauspieler machen zu können, desto tiefer führt dies in den Augen des Erzählers zu einer Art Pseudo-Identität. Reiser, so seine Kritik, versuche in jeder Situation nur eine »Rolle« zu spielen und täusche sich auch noch darüber (425; 452), da ihm die »Ideenwelt« wirklicher erscheint als die Realität (432; 459). Allerdings seien es diese Selbstüberhöhungen, die ihn vor Verzweiflung retten, denn diese ganze Phantasiewelt hat als Grundierung »Selbstverachtung, zurückgedrängtes Selbstgefühl« und die wiederum »ihren Grund in seinen Schicksalen von seiner Kindheit an.« (481; 502) Jedoch hat Reisers Begabung ihm die Möglichkeit einer bürgerlichen Existenz eröffnet, und während seiner Irrfahrt auf der Suche nach einer Anstellung als Schauspieler wird sich dieses Angebot wiederholen. Fast durch Zufall wird er Student – für ihn nur ein Überlebenstrick, basierend auf falschen Angaben, die ihm aber das Interesse und die Unterstützung seiner Professoren sichern. Nach seiner Immatrikulation scheint es ihm »eine Zeitlang«, als sei er nun sogar etwas Besseres als ein Schauspieler, nämlich »ein Mitbürger einer Menschenklasse, die sich durch einen höheren Grad von Bildung vor allen übrigen auszuzeichnen streben.« (444; 470). Sogar einen Lehrauftrag erhält er schon nach kurzer Zeit und ist nun sogar stolz auf sich, denn er versucht sich davon zu überzeugen, »dass er durch eigene Anstrengung sich aus seinem unerträglichen Zustand gerissen und seinen Standpunkt in der Welt aus eigener Kraft verändert« habe (448; 474). Lange kann er jedoch dieses Bewusstsein nicht aufrechterhalten; schon nach kurzer Zeit beginnt er das »Immerwiederkehrende« seiner Tätigkeiten zu verabscheuen, die Existenz »in Reih und Glied« (449; 474). Fast war er so weit, »die Idee des ruhigen Bleibens« für sich akzeptieren zu können (448; 474), dann aber macht »ein neuer unglücklicher Anfall von Poesie« alles wieder zunichte (489; 509). Als seine Kommilitonen ein Theaterstück einstudieren, in dem auch Reiser eine Rolle erhält, nimmt das Elend erneut seinen Lauf in einem Wechsel von Erfolgen, Selbstüberschätzungen, Verzweiflungen, Geldnöten, Herumirren und zunehmender Destabilisierung. Reisers »ganzes misslungenes theatralisches Leben« (487; 507) wird von ihm nicht deshalb so hartnäckig weiterverfolgt, weil er von der gesellschaftlichen Mission des Theaters überzeugt ist und wie Schiller die »Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet«25 . Seit Lessing hatte das Theater vorsichtige Ansätze der Herrschaftskritik
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Noch vernichtender fällt Moritz’ Urteil hinsichtlich der poetischen Begabung seines Protagonisten aus: Schon aus der Wahl seiner Gegenstände (Einsiedler, Meineid, Blutschande, Vatermord) lasse sich ableiten, »dass bei ihm keine echte poetische Ader stattfinde, weil er die Poesie in den Gegenständen sucht, die in ihm selber schon liegen müsste« und er eher auf den »Effekt« bedacht sei (476/77). Diesen Titel gab Schiller nachträglich seiner 1784 gehaltenen Vorlesung. Er betrachtet das Theater hier ausschließlich unter dem Aspekt seiner Wirkung auf das Bewusstsein des Zuschauers. Es solle »Menschen- und Volksbildung«, »Bildung des Verstands und des Herzens« und die Entwicklung eines »Nationalgeist[s]« bewirken (Friedrich Schiller (1967), Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, Sämtliche Werke, Bd. 5. München, S. 818-831, hier S. 819, 821, 830), und dies im Namen des Staats, d.h., einer übergreifenden Instanz, die sich von den Einzelinteressen regionaler Duodezfürsten emanzipiert hat und die Interessen des Bürgertums repräsentiert. Alle
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entwickelt; aber es gibt beim Autor des »Anton Reiser« keinerlei Hinweis darauf, dass er diese Dimension und damit die Bühne als Medium der neuen politisierten bürgerlichen Öffentlichkeit wahrnimmt; dementsprechend ist auch Reiser dafür blind. Übrigens geht Moritz in seinen Äußerungen zum zeitgenössischen Theater ausschließlich auf handwerkliche Aspekte ein und bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf das – in seinen Augen verderbliche – Vorbild der Komödie »Figaros Hochzeit«, das in Frankreich erst nach jahrelangen Auseinandersetzungen mit der Zensur aufgeführt werden konnte. Über diese Dimension verliert aber Moritz kein Wort, die politische Seite des Stücks von Beaumarchais, die in Frankreich für großes Aufsehen bis hin zu Aufruhr gesorgt hatte, entgeht ihm völlig; er sieht in ihm nur einen »lustigen Schwank«, der sich in einer Folge von »Theatercoups« an den Grenzen des guten Geschmacks bewegt. Für ihn ist das Stück lediglich ein Beleg für »die Frivolität unseres Zeitalters«26 . So, wie sich hier Moritz einer Identifikation mit den Interessen des Bürgertums verweigert, so ambivalent ist das Verhältnis Reisers zu der Klasse, der er nun zumindest potentiell angehören könnte. Die erlittenen Demütigungen als Schüler haben eine Art soziales Vakuum in ihm entstehen lassen. Von seinen Lehrern und Mitschülern wurde er die meiste Zeit verachtet, gleichzeitig hat er nahezu vollständig den Rückhalt in seiner Herkunftsschicht verloren und sie erscheint ihm nur noch als »Menge«, »Gewimmel«, »Haufen«, mit dem er sich nicht vermischen will. Auch hatten deren Vertreter ihn während seiner Zeit als Gymnasiast in der Mehrzahl eher drangsaliert als unterstützt, ihm sein Stipendium nicht ausgezahlt und ihn der Lächerlichkeit preisgegeben, etwa wenn die für ihn angefertigte Kleidung als zu gut weggeschlossen wurde (obwohl sie ohnehin und demütigender Weise nur aus dem grauen Tuch der Bedienten war). Anerkennung erhält er – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf Dauer weder von der einen noch der anderen Seite. Dies könnte erklären, dass Reiser immer dann, wenn ihm der Aufstieg ins Bürgertum unmittelbar offensteht, eine Kehrtwendung macht und sich dem letzten Schritt verweigert. Als er zum Geburtstag der Königin seine in Hexametern verfasste Rede hält, die ja doch sein ganzer Stolz ist, kommt ihm, als es so weit ist, »alles so tot, so öde vor«, weil nun an die Stelle seiner Phantasien »das Wirkliche« getreten ist (322; 361), dessen bürgerliche Erscheinungsformen ihm inzwischen nicht mehr sehr verlockend erscheinen: Er empfindet sie als Wiederkehr des immer Gleichen. Und als er während seiner Suche nach der Schauspielertruppe kurzzeitig an der Erfurter Universität Fuß fasst und sich ihm hier sogar die Aussicht auf eine Universitätslaufbahn eröffnet, ist es auch hier das »Immerwiederkehrende«, das ihn daran abschreckt (449; 474). Reiser sucht eine Position außerhalb der Gesellschaft, Bürger möchte er nicht sein,
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Menschen sollen mittels des Theaters »durch eine allwebende Sympathie verbrüdert« (831) werden. Die Schaubühne »unterstützt die weltliche Gerechtigkeit«, ist aber selbst »eine Schule der praktischen Weisheit« (826), sie verbreitet die Wahrheit über Missstände und sorgt für die »Aufklärung des Verstandes« (828). Sie ist Instrument der Volkspädagogik: »Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchem von dem denkenden besseren Teile des Volkes das Licht der Weisheit herunterströmt.« (Ebd.) Reiser denkt so weit nicht; er möchte, »durch die Erschütterung seiner Nerven auf jede Nerve des Zuschauers wirkend«, an die Empfindungen seiner Zuschauer appellieren, ohne darüber hinausgehende Zwecke zu verfolgen (359; 394). K.Ph. Moritz (1997), Übersicht der neuesten dramatischen Literatur in Deutschland. In: Ders., Werke in zwei Bänden, Bd. 2, hg. v. H. Hollmer u. A. Meier. Frankfurt a.M., 870-875, hier S. 871/72.
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sondern ihn nur darstellen, auf der Bühne und als eine von vielen möglichen sozialen Identitäten. Es ist die Rolle des Helden, die er sucht. Die außeralltägliche Welt, die allein als Existenzmedium für ihn in Frage kommt, soll eine Welt außerhalb der Gesellschaft sein, aber sie bietet ihm keine Lebensmöglichkeit. Denn das soziale Nirgendwo ist nicht der Ort, wo das Individuum umso ungehinderter von gesellschaftlichen Anforderungen seine Bildungsprozesse vorantreiben könnte, und selbst die Natur, phasenweise von Moritz wie ein Zufluchtsort gezeichnet, nimmt Reiser gegenüber in einer Folge von Nachtwanderungen bedrohliche Züge an. Drastisch schildert Moritz diese soziale Unzugehörigkeit als Ort psychischen Zerfalls. Im Laufe seiner Irrfahrt kommt Reiser übrigens auch noch sein Exemplar der Odyssee abhanden, zusammen mit seinem Überrock, und eine Heimkehr, wie für Odysseus, gibt es für ihn ohnehin nicht – wohin sollte er zurückkehren?
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Theaterdonner und bürgerliche Öffentlichkeit
Um sein Bedürfnis nach Auszeichnung und einer hervorgehobenen Stellung zu erfüllen ist für Reiser die erste und wichtigste Voraussetzung, überhaupt eine Schule besuchen zu können und dann die Aufnahme in das örtliche Gymnasium. Sozialer Aufstieg führt über Bildung, genauer: das Durchlaufen der formalen Bildungsangebote, die das Bürgertum für seine Söhne bereitstellt. Dies ist im 18. Jahrhundert noch nicht im selben Maße an das Leistungsprinzip gebunden wie das spätere öffentliche Schulsystem; der Besuch des Gymnasiums genügt als Statusausweis, zertifizierte Abschlüsse und Formen der Leistungsmessung sind noch unentwickelt. Nach Bedarf kann von einer aufnehmenden Institution wie der Universität eine Stellungnahme des Schuldirektors eingefordert werden, wie dies in Anton Reisers Fall von Seiten der Erfurter Universität geschieht. Aber Reiser macht über fast die gesamte Zeit am Gymnasium die Erfahrung von Ausgrenzung und Ausschluss, und die Anerkennung, zu der er ganz am Schluss gelangt, beruht auf Bildungsprozessen, die sich nicht der Schule verdanken, sondern die er für sich selbst außerhalb der Schule und zum Teil gegen sie entwickelt hat. Er bleibt Außenseiter, denn er hat kein Geld, spricht nicht die Sprache der anderen, trägt nicht die richtige Kleidung, hat die falsche Mimik und Gestik. Anerkennung wird an diesem Ort der höheren Bildung nicht auf der Grundlage dessen, was man kann und weiß gewährt, sondern nur aufgrund von Herkunft und Statusausweisen, bestimmten Einstellungen und der Art sich zu geben, aber auch dies nicht kampflos. Von den beständig untereinander ausgetragenen Kämpfen der Gymnasiasten um attraktive Plätze in der Hierarchie des Ansehens ist Reiser allerdings von vornherein ausgeschlossen. Wenn wechselseitige Anerkennung eine Art Leitwährung des sich etablierenden Bürgertums und dessen soziale Dimension des Selbstbewusstseins ist, so lernt er nur deren brutale Rückseite kennen: Verachtung. Die anderen Schüler verfügen über Gemeinsamkeiten, zu denen Anton Reiser keinen Zugang hat, denen aber als Bedingung dieser Anerkennung eine geradezu existenzerhaltende Bedeutung zukommt. Der Leser bekommt vorgeführt, dass ohne dieses Gemeinsame der Persönlichkeitszerfall für den nur auf sich gestellten Einzelnen einsetzt.
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Diese Anerkennungsregime treten in der Phase des sich konsolidierenden Bürgertums, um die es hier geht, als Vertragsfähigkeit in Kraft. Macht ist immer weniger in der glanzvoll auftretenden Person des Souveräns konzentriert, sie bekommt zunehmend die Gestalt von Netzwerken der Vertragspartner. Es sind Netzwerke von Tauschbeziehungen, und diese Verbindungen werden wichtiger als die Personifikation der Macht in Gestalt des Souveräns. Jeder Bürger ist als potentieller Vertragspartner zumindest rechtlich ein Ebenbürtiger und dies ist eine Form der Anerkennung, die von den konkreten Eigenschaften des jeweiligen Individuums absieht. Ihre reale Basis erhält diese Fiktion prinzipieller Gleichheit durch Bildungsgänge, die alle durchlaufen und damit Zugang zu einem Wissen haben, das allen Angehörigen dieses Standes zur Verfügung gestellt wird.27 Es fungiert im Austausch der Bürger als kulturelles Kapital, seine Funktion ist wichtiger als die Inhalte, die die Schule vermittelt. Dadurch verliert Schulwissen inhaltlich an Bedeutung, und dies wird auch von den Schülern so wahrgenommen. Seine wichtigste Funktion besteht neben der Bereitstellung von Kulturtechniken in der Schaffung eines gemeinsamen kommunikativen Raums, d.h. den Regeln diskursiven Räsonnements und akzeptierten Formen der Selbstdarstellung. Denn das Selbstbewusstsein der Bürger speist sich nicht nur aus Statussymbolen und Funktionen, sondern auch aus ihrer Teilnahme an einem übergreifenden Diskurs, auch wenn der in Deutschland weitgehend auf die Sphäre privater Zirkel reduziert ist. Diese Diskursfähigkeit ist nicht nur deshalb von so überragender Bedeutung, als zu dieser Zeit überhaupt erst die Spielregeln bürgerlicher Herrschaft vereinbart werden, sondern auch zur Bewältigung eines Widerspruchs: Denn einerseits basiert die neue bürgerliche Gesellschaftsform auf der formalen Gleichheit der Teilnehmer, andererseits aber auf dem Reservoir der individuellen, höchst einzigartigen Fähigkeiten jedes Einzelnen. Der Anspruch, in dieser Einzigartigkeit anerkannt zu werden, bedeutet, dass auch das Private im öffentlichen Räsonnement Platz erhalten muss: die eigene Empfindung, der ästhetische Geschmack, das subjektive Urteil. Seinen Ausdruck findet dies in einer zunehmenden Aufmerksamkeit für die Ausdrucksmittel der Kunst. Die sich entwickelnde literarische Öffentlichkeit ist in Deutschland in erster Linie eine Öffentlichkeit der Medien: Während in Frankreich und England in großer Zahl Cafés entstehen, die dem Austausch dienen, findet Meinungsbildung in Deutschland vor allem im privaten Austausch über Journale und Bücher statt, Briefeschreiben spielt eine große Rolle. Allenfalls Lesezirkel, Subskriptionsbüchereien und Wanderbühnen stellen eine Art Semi-Öffentlichkeit her. Sie sind die Kristallisationskerne eines gerade erst entstehenden »Lese- und Zuschauerpublikums«, das als »eine neue soziale Kategorie« seinen Auftritt macht.28 Von den besonderen Verhältnissen, die für Deutschland gelten, hat Germaine de Stael einen anschaulichen Bericht in der Darstellung ihrer Reiseerlebnisse geliefert. Auch noch im Deutschland der Zeit um 1800 – de Stael beginnt ihre Reise 1803 – ist
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»Unter Sozialhistorikern besteht ein allgemeiner, wenn auch vager Konsens, dass sich die moderne Bildung zusammen mit der Formation durchgesetzt habe, die sich als ›Bürgertum‹ bezeichnen lässt.« (Reinhart Koselleck (1990), Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung. In: Ders. (Hg.), Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart, S. 11-46, hier S. 11). Jürgen Habermas (1969), Strukturwandel der Öffentlichkeit, 4. Aufl., Neuwied, Berlin, S. 49/50.
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
die regionale Zersplitterung der Grund für das Fehlen einer intellektuellen Öffentlichkeit. Selbst die bekannten Schriftsteller »sehen sich […] beinahe nie und verkehren nur durch ihre Schriften miteinander. Jeder geht dort seinen Weg für sich […] Außerdem bewirkt auch die Langweiligkeit der Gesellschaft, dass man sich an ein zurückgezogenes Leben gewöhnt.«29 Statt Geist gebe es bei diesen provinziellen gesellschaftlichen Treffen eher »plumpe Scherze« und »jene läppische Langweiligkeit, die einem vertraulich ihre schwere Tatze auf die Schulter legt.«30 Jedoch sei die Enge, Repressivität und Rückwärtsgewandtheit des deutschen Provinzlebens um 1803 nur die eine Seite: »Diese Zerrissenheit Deutschlands […], die seiner politischen Kraft verderblich war, war allen möglichen Versuchen, die Genie und Einbildungskraft wagen mochten, äußerst förderlich.«31 Zwar bieten selbst die kleinen Städte »nicht die geringste Zerstreuung: es gibt dort kein Theater und nur wenig Gesellschaft, und so verrinnt die Zeit Korn um Korn und unterbricht durch kein Geräusch die Reflexion.«32 Die Klassen leben voneinander abgesondert, es gibt keinerlei Verbindung zwischen dem Leben der Bürger und dem Leben an den kleinen Höfen der Provinz, es gebe »keinen geistigen Mittelpunkt, kein Zentrum der öffentlichen Meinung«.33 Im Gegenzug bemerkt sie, dass Paris zwar die Elite des Landes vereinige, dem Rest des Landes aber dadurch alles Interessante nehme. Insofern habe der deutsche Provinzialismus auch seine Vorteile, glaubt de Stael: In der deutschen Provinz sei eine allgemeine Aufgeschlossenheit gegenüber literarischen und theoretischen Themen zu finden. Aber auch »das rauhe Klima, der geringe Reichtum und der ernste Charakter des Landes würden dort das Dasein sehr drückend machen, wenn die Kraft des Gedankens sich nicht von allen diesen kleinlichen und beschränkten Verhältnissen frei gemacht hätte.«34 Man könne »sich in Frankreich keine Vorstellung davon machen, wie allgemein die Bildung in Deutschland ist«35 , wobei auch das »monotone Stubenhockerleben«36 , das durch das Wetter erzwungen werde, eine Rolle spiele. Es herrsche, fasst sie rückblickend zusammen, »in Bezug auf literarische und metaphysische Meinungen eine Art milde, friedliche Anarchie, die jedem gestattete, seine individuelle Anschauungsweise vollständig frei zu entwickeln.«37 Eine Sphäre öffentlicher Diskurse sei kaum ausgebildet und werde durch »die Liebe zum häuslichen Leben«38 ersetzt. Eine »wirkliche öffentliche Meinung« könne sich nicht entwickeln, denn es gebe keinen Austausch über die Grenzen des jeweiligen Betätigungsfelds hinweg und für den Intellektuellen sei es ganz natürlich, »fünfzehn Stunden täglich Jahre
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Germaine de Stael (1980), Über Deutschland. Stuttgart, S. 116. Ebd., S. 112. Ebd., S. 56. Ebd., S. 113. Ebd., S. 56. Ebd., S. 113. Ebd., S. 115. Ebd., S. 132. Ebd., S. 56/57. Ebd., S. 117.
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hindurch der Einsamkeit und der Arbeit zu widmen«39 . Politisch sei dies ungefährlich: »Die Einsamkeit führt zu abstrakter Spekulation oder zur Poesie«40 . Jene Anerkennungsregime, von denen weiter oben als Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft die Rede war – zugestandene, erkämpfte, versagte Anerkennung – bleiben unter den von Germaine de Stael beschriebenen Bedingungen weitgehend auf ihre formale Zusicherung beschränkt. Glücksritter der Anerkennungskultur, wie sie Diderot in »Rameaus Neffe« beschreibt, sind für Deutschland kaum denkbar. Anerkennung wird nicht täglich neu ausgehandelt im Streit der Meinungen, wie er in den Cafés und Clubs in Frankreich und England immer neu ausgetragen wird. Zurückgezogen, häufig auf eine sonderlinghafte Weise in sich gekehrt, tragen die Wortführer der öffentlichen Meinung in Deutschland ihren Streit nur virtuell aus, nur »schwarz auf weiß«, wie Goethe rückblickend auf deutsche Verhältnisse während seiner italienischen Reise anmerkt. Jeder beziehe sich nur auf die Einsamkeit seiner vier Wände und nur auf Geschriebenes; »jeder kauzt sich damit in eine Ecke und knopert daran, wie er kann.«41 Ganz eingehüllt in seine privaten Verhältnisse bleibt es ihm völlig selbst überlassen, welche Art der Bildung er sich zur geben wünscht; sie entsteht kaum aus dem Zusammenspiel mit anderen. Vor diesem Hintergrund bekommt das Theater eine überragende Bedeutung. Hier gelten die benannten Beschränkungen nicht, oder zumindest nicht in dieser Drastik. Hier tritt der Einzelne aus seiner Isolation heraus; als Publikum bekommen die Gesellschaftssubjekte die ganze Bandbreite ihrer Konflikte in ihrer gesellschaftlichen und privaten Dramatik vorgeführt. Jeden Abend im Theater zu verbringen ist für viele fester Bestandteil ihres Lebens. Sie suchen hier nicht so sehr das politische Räsonnement, die Klarheit der vorgebrachten Argumente, sondern das Entscheidende sind die Zwischentöne der Empfindungen. Über sie können die neuen Anforderungen an die Einzelnen begriffen werden, die vor der Aufgabe stehen, sich in ihrer neuen bürgerlichen Identität selbst zu erfinden. Die Bühne ist der Ort der Aushandlung dieser neuen Anforderungen, Ort der Präsentation von Rollenmodellen für den Umgang mit Traditionen und der Möglichkeiten, sich auf abweichendes Verhalten zu beziehen. Bildung bekommt die Bedeutung der Teilnahmemöglichkeit an den Diskursen, die sich auf diese Theaterwelt beziehen und damit bekommen die Individuen Anknüpfungsmöglichkeiten geboten, sich zu den vorgestellten Entwürfen zu positionieren. Diese haben aber häufig den Charakter von Phantasmagorien: Nicht nur geben fremde Schauplätze, historisch entfernte Zeiten häufig den Rahmen ab, sondern auch der Gefühlshaushalt der Protagonisten ist von außeralltäglicher Unbedingtheit. Das Theater gibt der Erfahrung Ausdruck, was es heißt, nach neuen Identitätsmodellen zu suchen, aber es kompensiert auch das Eingeschlossensein in die bestehenden. Im vollen Doppelsinn des Wortes stellen die Schauspieler etwas dar: Sie geben auf der Bühne Verhältnissen Ausdruck, die das Publikum bewegen, stellen Formen des Scheiterns und der geglückten oder tragischen
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Ebd., S. 116. Ebd. Johann Wolfgang Goethe (1982), Italienische Reise, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 11. München, S. 57.
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
Auflösung von Konflikten dar. Gleichzeitig stellen sie etwas dar bezogen auf ihr gesellschaftliches Ansehen; Aufmerksamkeit ist ihnen auch außerhalb des Theaters gewiss. Ein »außerordentlicher Mensch« zu sein, das ist der Anspruch, den Reiser im »Clavigo«, dem Stück des jungen Goethe, wiederfindet. Vor allem wünscht sich Anton Reiser Reputation, aber sie soll sich der Fähigkeit verdanken, der einzigartigen Tiefe seiner Empfindungen Ausdruck zu geben, eine Ausdrucksfähigkeit, die ihn seiner Meinung nach über andere erhebt. Auf dem Boden liegend zerkratzt er sich das Gesicht mit einer Glasscherbe, weil ein Mitschüler, der ihm die Rolle des Clavigo weggenommen hat, auf der Bühne eben an dieser Darstellung erhabener Empfindungsfähigkeit scheitert. Gleichzeitig ist er sich dessen bewusst, dass diese Schauspielerei im Grunde genommen eine problematische Abkürzung ist: Er empfängt hier eine Anerkennung, für die er nicht viel getan hat, sein Selbstbewusstsein borgt er sich aus den Figuren zusammen, die er darstellt: Er erntet, ohne gesäht zu haben, wie er selbstkritisch anmerkt. Für Wilhelm Meister wie für Anton Reiser ist die Bühne der zentrale Orientierungspunkt in ihrem Nachdenken über mögliche Lebensentwürfe. Beide wollen sich auf keinen Fall angesichts der in Produzenten und Rezipienten gespaltenen Öffentlichkeit im Lager der Zuschauer wiederfinden. Aber während Anton Reiser mit Hilfe des Theaters einen Ort außerhalb der Gesellschaft zu finden hofft, möchte Wilhelm Meister, der Bürgersohn, etwas für diese Gesellschaft leisten. »Mir glüht die ganze Seele bei dem Gedanken, endlich einmal aufzutreten und den Menschen in das Herz hineinzureden«, sagt Wilhelm Meister ganz am Anfang seiner Theaterlaufbahn. (65)42
3.5
Irrfahrten II: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
Es ist dieses von Madame de Stael beschriebene Deutschland der kleinen Provinzstädte und verstreuten ländlichen Adelssitze, das auch den Rahmen von Goethes Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« abgibt. 1777 begonnen, arbeitet der Verfasser mit längeren Unterbrechungen 20 Jahre daran. Die Französische Revolution findet zwischenzeitlich im Nachbarland statt und kommt im Roman nur als ein vages Bewusstsein zum Ausdruck, »dass uns große Veränderungen bevorstehen« (590; 56343 ), sogar die Möglichkeit einer Staatsrevolution erscheint möglich (564; 591); jedoch wird dies nur am Rande erwähnt. Gesellschaftliche Veränderung ist (im Gegensatz zum folgenden Band der »Wanderjahre«) kaum Thema der Dialoge, die weitgehend den Roman ausmachen. Vielmehr werden diese Gespräche von der Frage nach der Lebensform des Individuums beherrscht, das sich in einer Welt vorfindet, in der es seine Lebensweise anders als die Generationen zuvor frei wählen kann.
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Die Quellenangaben zu den Zitaten beziehen sich auch hier auf zwei Ausgaben: auf Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre in der von Ehrhard Bahr im Reclam-Verlag herausgegebenen Ausgabe, Stuttgart 1982 (erster Nachweis in Klammer) sowie auf die von Erich Trunz (1982) herausgegebene Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 7. München, S. 65. Auf diese Ausgabe beziehen sich alle zweiten Seitenangaben in Klammern im folgenden Kapitel. Zu den verwendeten Textausgaben vgl. Anm. 42.
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In Wilhelm Meisters Elternhaus hat man im Gegensatz zu den familiären Umständen Anton Reisers Geld, alles ist »nach dem neuesten Geschmacke« (38; 40), dabei »solid und massiv […], der Vorrat reichlich, das Silbergeschirr massiv, das Tafelservice kostbar« (39; 41), und wenn Wilhelm als Kind Lust darauf hat, das Marionettenspiel zu erlernen, so überlässt man ihm »ein paar Zimmer im obersten Stocke«, damit er dort eine Bühne aufschlagen und seinen Zuschauern Plätze anbieten kann (18; 21). Wilhelm ist der einzige Sohn eines Kaufmanns mit weitläufigen Handelsbeziehungen, und es steht fest, dass er »auf dem Comptoir und der Börse, im Laden und Gewölbe« einmal die Geschäfte übernehmen wird (78; 79). Aber Wilhelm Meister kann mit dieser Welt des Vaters nicht viel anfangen, und als er auf eine Reise zu Geschäftspartnern geschickt wird, verbindet er damit selbst ganz andere Pläne, nämlich die Möglichkeit, »sich aus dem stockenden, schleppenden bürgerlichen Leben herauszureißen« (32; 35). Er hat vor, sich nicht nur »dem Drucke seines bisherigen Lebens zu entziehen«, sondern damit auch »einer neuen, edleren Bahn zu folgen« (41; 42), und zwar indem er Schauspieler wird. Zusammen mit seiner heimlichen Geliebten, einer Schauspielerin, sieht er sich sogar als »Schöpfer eines künftigen Nationaltheaters« (33; 35). Sich über diese Pläne mit seinen Eltern auseinanderzusetzen bleibt ihm erspart, denn sie sind es ja, die ihn auf die Reise schicken, wenngleich in anderer Absicht. Die Equipage steht bereit; dass auf Wilhelms Seite hier eigentlich ein Betrug vorliegt, fällt ihm nicht auf. Die ersten Kapitel schildern ihn als selbstbezogen und wenig wahrnehmungsfähig in Bezug auf Erfordernisse der Wirklichkeit; so wie er als Kind, vertieft in Ausstattungsfragen seines Marionettentheaters, erst bei Ankunft des Publikums bemerkte, dass er ja auch einen Text und zumindest einen Handlungsfaden braucht, macht er sich auch jetzt wenig Gedanken über die materielle Seite seiner Pläne. »Ich habe von Jugend an die Augen meines Geistes mehr nach innen als nach außen gerichtet«, rechtfertigt er dies später (267; 257); der Erzähler hingegen spricht von »Selbstbetrug, wozu er eine fast unüberwindliche Neigung spürte« (216; 210). Für den Beginn des Romans bedeutet dies, dass er bei nächtlichen Besuchen bei seiner Geliebten nicht einmal bemerkt, dass sie über seinen weitläufigen Erzählungen von seiner Kindheit längst eingeschlafen ist. »Auf den Flügeln der Einbildungskraft« liebt er Mariane (11; 14); dass ihr Lebenswandel nicht ganz unproblematisch ist, bekommen offenbar alle anderen mit, nur er nicht. Gleich zu Anfang ist von ihm die Rede als dem »zärtlichen, unbefiederten Kaufmannssohn« (7; 10), und das heißt nicht nur: noch nicht flügge, sondern auch: kein Geld44 , denn damit wird er vom Vater offenbar nicht ausgestattet. Aber die Gage seiner Freundin ist so gering, dass sie auf zahlungskräftige Liebhaber angewiesen ist, und als dieses Doppelspiel ans Licht kommt, bricht für Wilhelm alles zusammen: seine Heirats- und Zukunftspläne, sein Zutrauen zu sich selbst, zu seinem »Talent als Dichter und Schauspieler« (78; 78), er fühlt sich »zerschmettert« (84; 84) und erholt sich nur langsam. In dieser Situation wird er auf die Reise geschickt. Diese »Wanderung in die Welt« (33; 35) wird Wilhelm Meister immer weiter vom Elternhaus entfernen. Der Erzähler entrollt dies als Nacheinander unterschiedlicher Erfahrungsräume und Beziehungskonstellationen, die gleichzeitig Phasen seines Bildungsgangs sind. Nach einer Phase des Sich-treiben-Lassens gibt es für Wilhelm Meis44
»unbefiedert« hier im Sinne von »unbetucht«, »blank«.
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
ter eine Phase des Ernstmachens mit dem gewählten Metier am Theater und schließlich eine Phase des Bruchs mit bisherigen Vorstellungen und der Konfrontation mit neuen Konzepten der Lebensführung. Eine Topographie der Lebensformen und Handlungsmöglichkeiten in der deutschen Provinz des 18. Jahrhunderts wird dabei entrollt: in kleinen Landstädtchen und unterwegs, auf Schlössern von Landadligen und den Bühnen der Provinz. Durchmustert man zunächst die Erfahrungsräume, in die diese Wanderung Wilhelm Meister bringt, so beginnt Phase eins als Bekanntschaft mit den Versprengten einer inzwischen aufgelösten Wanderbühne, als Hineingezogenwerden in deren Aktivitäten, und diese verlagern sich durch Zufall in das Schloss des ortsansässigen Grafen. Der möchte unbedingt zu Ehren des besuchenden Prinzen ein kleines Stück aufgeführt sehen, das diesen als Heerführer und Held verherrlicht, und Wilhelm Meister glaubt bereits an »seinen Eintritt in die große Welt« als Theaterdichter und Schauspieler (168; 164). Das Engagement ist zwar glanzvoll, aber kürzer als gedacht. Auf der Weiterreise kommt es zu einem Überfall; die kleine Truppe wird ausgeraubt, bekommt aber auch Hilfe von einer geheimnisvollen Fremden. Dann retten sich die Schauspieler in die nächstgrößere Stadt und zu Theaterdirektor Serlo, einem Bekannten Wilhelms. War für Wilhelm Meister bisher selbst nicht klar, ob das Umherziehen mit der kleinen Truppe und den mehr oder weniger phantastischen Gestalten, die sich nach und nach an sie angelagert haben, nur eine Episode ist, sodass er schleunigst Kontakt zu den Handelspartnern aufnehmen sollte, derentwegen er eigentlich unterwegs ist, so ändert ein Brief alles: Sein Vater ist gestorben und sein Jugendfreund Werner, Wilhelm eng verbunden durch gemeinsame Kindheit und die gemeinsame Tätigkeit im gemeinsamen Handelshaus der Väter, teilt ihm mit, welche Dispositionen er zur Fortführung der Geschäfte getroffen hat. Er ist überdies inzwischen mit einer Schwester von Wilhelm verheiratet, sodass er annehmen kann, in allgemeinem familiärem Interesse zu handeln. Es sind Neuordnungen, die eigentlich keinen Platz für Wilhelm lassen, nicht einmal wohnen könnte er mehr im Elternhaus. Dass aber ein Entschluss, wie es weitergehen soll, Wilhelm dadurch abgenommen wird, ist für ihn eine solche Erleichterung, dass er keinen Einspruch gegen die Regelungen des Freundes erhebt, sondern ihm mitteilt, dass er nun Schauspieler werden will. Dann unterzeichnet er den Kontrakt mit Serlo. Einmal unter Vertrag genommen, erweitert sich rasch sein Tätigkeitsfeld: Er übersetzt und bearbeitet Theaterstücke, insbesondere Shakespeares »Hamlet«, arbeitet daran mit, Stücke zur Aufführungsreife zu bringen und übernimmt Bühnenrollen. Serlo gibt gerne mehr und mehr Pflichten an Wilhelm Meister ab und dieser erweist sich als »ein treues und fleißiges Werkzeug« (359; 344), allerdings ohne davon sonderlich zu profitieren; aufgestiegen zum Regisseur hat er nicht die nötige Autorität, seine Vorstellungen von »Ordnung und Genauigkeit« gegen die Aufsässigkeit und den Schlendrian der Schauspieler durchzusetzen (360; 345). Die Tätigkeit am Theater hat ihren Glanz verloren, und es scheint ihm nun, »dass dieses Handwerk weniger als irgendein anderes den Aufwand an Zeit und Kraft verdiene. Das Geschäft war lästig und die Belohnung gering.« (Ebd.) Als er den Auftrag bekommt, persönlich einen Brief der Theaterleiterin an ihren ehemaligen Geliebten zu überbringen, übernimmt er gerne diese Mission. Wieder kommt er so in ein Schloss, aber dieses Mal findet er hier eine Gruppe von jungen
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Aristokraten vor, die damit beschäftigt sind, eine Reihe von Land- und Sozialreformen in Angriff zu nehmen. Im Zentrum steht Lothario, erst vor kurzem aus Nordamerika zurückgekehrt, wo er in den Freiheitskriegen gekämpft hat.45 Dort hat er verstanden, dass die Neuordnung, für die er sich im fernen Amerika eingesetzt hat, vor allem zuhause auf den eigenen Gütern umgesetzt werden muss: »Hier, oder nirgends ist Amerika!« (451; 431) Mitten in diese Phase der Umstrukturierungen fällt Wilhelm Meisters Besuch, und man äußert den Wunsch, dass er eine Zeitlang bleiben möge. Hier entdeckt er jene eindrucksvolle Frau wieder, die wie ein rettender Engel nach dem Überfall erschienen war, die »Amazone«, und der Roman endet mit der Aussicht auf eine Heirat. Soweit die Skizze von Wilhelm Meisters Werdegang. Aber ist dies ein Bildungsgang? Erst durch die Personen, mit denen er in Kontakt kommt, wird er dazu. Das Personal, das der Autor in Szene setzt, nimmt er eher von den Rändern der Gesellschaft, dem Rand der herumziehenden Komödianten und Artisten und dem Rand der aristokratischen Elite. Die »Trümmer einer Schauspielergesellschaft« (92/93; 92), mit denen Wilhelm am Anfang seiner Reise Bekanntschaft macht, Philine und Laertes, sind zunächst nur eine angenehme Bekanntschaft, um sich die Zeit zu vertreiben, daran lagert sich aber rasch ein Kreis anderer Personen aus dem Schauspielergewerbe an, die auf der Durchreise bzw. Suche nach einer Anstellung sind. Wilhelm hat Geld, wenn auch nicht sein eigenes, wirkt planlos, hat Interesse am Theater und auch an Philine: Rasch lässt er sich so dazu bringen, die Theaterausstattung einer aufgegebenen Bühne für die Schauspieler aufzukaufen. Mehr durch Zufall wird er vom Geldgeber der neuen kleinen Kompagnie zu deren Teil, so wird er als einigermaßen repräsentable Figur vorgeschickt, als die Truppe die Möglichkeit eines Engagements im nahen Schloss erhält. Inmitten der Schauspieler fühlt er sich wohl, er ist in diesem neuen Verhältnis Theaterdichter, Kulissenmaler, Schauspieler und Regisseur, dabei aber stets im Zwiespalt angesichts seiner eigentlichen Verpflichtungen, denn eigentlich ist er ja immer noch im Auftrag seines Vaters auf einer Geschäftsreise. Eine Rückkehr ins bürgerliche Leben wird dann jedoch vor allem durch ein Mädchen von zwölf bis dreizehn Jahren erschwert, das er einer Gruppe Seiltänzern kurzerhand abgekauft hat, als er Zeuge ihrer Misshandlung wird: Mignon. Er hat nun Verantwortung für einen Menschen, der, merkwürdig zwitterhaft und in Jungenkleidung und überhaupt ein »Rätsel« (98; 98), verschlossen und anhänglich, ihn rasch »Vater« nennt, und dies zu einem Zeitpunkt, als Wilhelm Meister erste Hinweise darauf erhält, dass er mit Mariane ein Kind gezeugt und im Stich gelassen hat. Zuneigung und ein Gefühl der Verantwortung empfindet er auch einer zweiten Person gegenüber, die sich ihm anschließt, einem alten, verarmten Harfenspieler, und er bezeichnet beide als seine, obwohl seltsame, »Familie«, denn er spürt ihnen gegenüber eine Nähe, die er sonst nicht gekannt hat. Allerdings ist das Verhältnis zu den anderen Personen in seiner Umgebung eher unbefriedigend, Philine trotz ihrer Reize unberechenbar, Laertes nicht mehr als ein angenehmer Zeitgenosse, und die immer zahlreicher werdende Schauspielertruppe ohne alle Ambitionen. Umso mehr schmeichelt ihm die Aufmerksamkeit der aristokratischen 45
»Es ist die Zeit nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Erklärung der Menschenrechte von 1776«. (Erich Trunz (1982), Anmerkungen. In: J. W. v. Goethe (1982), Wilhelm Meisters Lehrjahre, a.a.O., S. 712-811, hier S. 786)
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
Damenwelt während des kurzen Engagements im Schloss des Grafen. Sein »schlenderndes Leben« (246; 238) und seine Unerfahrenheit – »ich habe nicht leicht jemanden gesehen, der die Menschen, mit denen er lebt, […] so von Grund aus verkennt wie Sie«, sagt jemand zu ihm (267; 257) – machen ihn immer wieder zu jemandem, den andere für die Erfüllung ihrer eigenen Pläne benutzen – bis hin zu einer Situation, in der Wilhelm weder gegen seinen Widerstand, noch mit seiner Zustimmung als Doppelgänger des Grafen verkleidet wird, in dessen Haus er wohnt, ein Scherz, der das ganze weitere Leben des entsetzten Grafen beeinflussen wird. Wilhelm Meister nimmt beim Eintritt in Serlos Theaterkompagnie alle Personen, mit denen er bisher gelebt hat, Mignon, den Harfner, seine Schauspielerkolleginnen und –kollegen mit, letztere nicht ohne Probleme, da sie Serlo als völlig unbrauchbar erscheinen. Hier, im Medium einer wirklich professionell arbeitenden Bühne, lernt Wilhelm Meister erst begreifen, was Theaterspiel sein kann, und wie wichtig dafür professionelle Diskussionen unter den Beteiligten sind; selbst randständige Personen wie die eher lästigen »Theater- und Garderobenfreunde«, ständig sich aufdrängende interessierte Laien, bekommen Bedeutung, denn sie verlangen Erläuterungen, Erklärungen, Begründungen von Wilhelm Meister für seine Interpretation der Stücke, etwas, das niemand zuvor von ihm gefordert hat. Er wird als fachlich kompetenter Gesprächspartner vorausgesetzt und muss dieser Erwartung gerecht werden. Ebenso komplex ist die Rolle, die er Aurelia gegenüber zu spielen hat, die mit ihrem Bruder Serlo zusammen die Bühne leitet, und die ihn zum Adressaten ihrer Bekenntnisse, Verzweiflungen, Stimmungsumschwünge und destruktiven Bemächtigungen macht. Er begegnet ihrer Gebrochenheit mit Achtung, ebenso wie Philines Unberechenbarkeit, obwohl beide ihn fast nur in Schwierigkeiten bringen. Hier, wie auch Mignon und dem Harfner gegenüber, wird seine Urteilslosigkeit zu Stärke, denn er nimmt sie so, wie sie sind und betont, dass er Philine eher Dank schuldig sei: »ihre Aufführung ist zu tadeln, ihrem Charakter muss ich Gerechtigkeit widerfahren lassen.« (331; 318) Aurelia, todessehnsüchtig und dann bald sterbend, schreibt vor ihrem Tod einen Abschiedsbrief an ihren ehemaligen Geliebten Lothario, den sie Wilhelm bittet zu überbringen. So macht er die Bekanntschaft mit den jungen, klugen Aristokraten, die zusammenleben, genauestens die Umbrüche ihrer Zeit wahrnehmen und den Wunsch haben, Verantwortung in diesem Prozess zu übernehmen. Einige dieser Personen kennt Wilhelm bereits; mit Jarno, Armeeangehöriger und vormals Höfling im Schloss des Grafen und mit einem Geistlichen, einer Zufallsbekanntschaft, hat er vorher bereits mehrmals gesprochen. Die von ihm verklärte »Amazone«, die ihm nach dem Überfall geholfen hat, erweist sich als Lotharios Schwester. Sie alle verwirklichen unterschiedliche Lebensmodelle tätiger Fürsorge, und Wilhelm wird zum Betrachter dieser für ihn ungewohnten Form der Lebensführung im Dienste des anderen. Wilhelm taucht in diesem Schloss in Begleitung eines kleinen Jungen auf, Felix, den er bei Aurelia vorgefunden hat und dessen er sich nun annimmt. Allmählich wird ihm deutlich, dass es sich bei Felix um den eigenen Sohn handelt, in Theaterkreisen weitergereicht von einer Person zur anderen. Auch Mignon und der Harfner werden auf Anraten seiner Gastgeber herbeigeholt; die schon lange kränkelnde Mignon stirbt hier. Wilhelm ist auf diesem und dem Schloss von Lotharios Schwester ausschließlich von Ranghöheren umgeben, er wird gerne als Gesprächspartner akzeptiert, aber letzt-
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lich fungiert er vor allem als Empfänger von Aufträgen und als Objekt ihrer Pläne, die ihn mal als Begleiter einer unerwünschten Geliebten zu Bekannten schicken, mal vorsehen, dass er sich als Gesellschafter eines Besuchers mit ihm auf eine Reise quer durch Deutschland machen soll. Es wird über ihn beschlossen, da er ohne eigene Pläne ist. Mehr noch wird ihm allmählich klar, dass ein Großteil der hier versammelten Personen Teil einer pädagogischen Geheimgesellschaft, der Turmgesellschaft sind, die ihn in durchaus wohlmeinender Absicht beobachtet und schon seit langem beobachtet hat. Von ihr wird später die Rede sein (s.u., Kap. 3.7). Im Gegensatz zu dieser pädagogischen Kontrolle seines Werdegangs, von der er erst nachträglich erfährt, steht das Verhältnis zu seinem Sohn, das unmittelbar und beinahe brüderlich ist, so sehr, dass er sich außerstande fühlt, »ihm eine Richtung zu geben« (527; 503). Deshalb wünscht er sich die Ehe mit einer jungen Frau aus Lotharios Kreis, was jedoch eine unabsehbare Verwicklung von Liebesbeziehungen heraufbeschwört, bis sich am Schluss eine Verbindung mit der eigentlich und immer Geliebten, der »Amazone« andeutet.
3.6
Bedeutungsschichten von Bildung
Auch Wilhelm Meisters Reise ist mit ihren Stationen wie der »Anton Reiser« am Urbild der Odyssee orientiert. Nur steht hier kein Heros im Mittelpunkt, sondern eine Art negativer Held, der über lange Strecken vom »Selbstbetrug, wozu er eine fast unüberwindliche Neigung spürte«, angetrieben wird (216; 210). Auch wenn er sich allmählich besser kennenlernt, wird er gegen Ende des Romans von sich sagen: »Aber und abermal gehen mir die Augen über mich selbst auf, immer zu spät und immer umsonst.« (636; 607) Wilhelm Meister spricht gerne vom Schicksal als der Instanz, die über sein Leben entscheidet; der Ansicht des Abbé, dem Abgesandten der Turmgesellschaft, dass es dabei eher um Zufälle gehe und die eigene Vernunft diese »zu lenken, zu leiten und zu nutzen« habe, steht er ablehnend gegenüber, da dies seinen Glauben an eine »Macht, die über uns waltet und alles zu unserem Besten lenkt«, in Frage stellt (70/71; 71). Weder freundliche noch zürnende Götter, wie sie das Schicksal des Odysseus bestimmen, gibt es in der Welt des Wilhelm Meister mehr, und der Autor lässt es sich nicht nehmen, doch dem Zufall oft das letzte Wort zu geben, ohne Chance hier etwas zu lenken oder zu leiten. Wilhelm Meister macht sich auf »ohne Zweck und Plan« (560; 534), getrieben allein von einer Abneigung gegen jene Art von bürgerlicher Karriere, die man ihm von Haus aus zugedacht hat: dem Eintritt in das Handelskontor des Vaters. Gegen dieses Verharren im Hergebrachten wird für ihn »Bildung« zu einem Begriff, der ihm Orientierung gibt und das Ausscheren aus der vorgesehenen Laufbahn rechtfertigen soll: »mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.« (301; 290) Historisch findet er eine Situation vor, in der es für den Einzelnen möglich geworden ist, die Bindungen traditioneller Lebensmodelle in Frage zu stellen, aber damit ist noch nicht sichtbar, wie der neue Freiraum gefüllt werden kann. Bildung erscheint als Möglichkeit, sich so zu entfalten, dass das eigene Leben ganz auf diese den Fähigkeiten des eigenen Selbst sich verdankende Grundlage gestellt ist. In einem Brief an den Jugendfreund Werner, der inzwischen Kollege
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
im selben, von den Vätern geleiteten Handelshaus ist, außerdem Schwager und Nachlassverwalter nach des Vaters Tod und insofern berechtigt, Rechenschaft zu fordern, erläutert er, was er mit der Bildung, »die er sich zu geben« wünscht, meint (300; 289). Deren Verständnis steht ganz unter dem Eindruck des Lebens am gräflichen Schloss, das er kurz gesehen hat, und dessen Kultiviertheit möchte er selbst auch erwerben. Bildung hat in diesem Brief noch ganz die Bedeutung von Formung, und zwar nach dem Vorbild der Aristokratie: sie bedeutet »Leibesübung« und sicheres Auftreten, Arbeit an der eigenen »Sprache und Stimme«, schließlich noch die Ausbildung von »Geist und Geschmack« (303; 292). Er bewundert den schönen Schein aristokratischer Machtrepräsentation und möchte Schauspieler werden, um ebenfalls zu »glänzen«, übersieht dabei aber, dass dem auf dem Theater erzeigten Schein wenig entspricht. Für ihn ist zu diesem Zeitpunkt Bildung gleichbedeutend mit dem »vornehmen Anstand«, den er an den Bewohnern des Schlosses gesehen hat, und der seiner Meinung nach zum »freien Anstand« werde, wenn er auf einer gelungenen Selbstdarstellung beruhe (302; 290)46 . Der Bürger werde hingegen durch die Arbeit, die er leistet, auf wenige Funktionen eingeschränkt, letztlich auf seine bloße Leistungsfähigkeit und Brauchbarkeit. Er werde nicht gefragt: »›Was bist du?‹, sondern nur: ›was hast du? welche Einsicht, welche Kenntnisse, welche Fähigkeit, wie viel Vermögen?‹« (Ebd.; 291) Er könne lediglich »sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden« (301; 290), müsse darüber hinaus aber sich an »das reine stille Gefühl der Grenzlinie, die ihm gezogen ist«, halten (302; 291). Der Adlige zeige hingegen mit seiner eleganten Erscheinung, dass er »überall vorwärtsdringen« könne; er »darf und soll scheinen« (303; 291), denn er repräsentiere eine Welt, in der man »keine Grenzen kennt« und in der aus jeder Person »Könige oder königähnliche Figuren erschaffen werden« können (302; 291). Der Autor lässt seinen Helden damit einem Verhaltensideal nachlaufen, das er zuvor bereits der Lächerlichkeit preisgegeben hat, nämlich in seiner Darstellung des Grafen und dessen künstlerischen Ambitionen. »Scheinen« reduziert sich hier auf den Schein vorgetäuschter Kennerschaft.47 Wenn Wilhelm Meister glaubt, durch den schö46
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Goethe greift hier auf ein Persönlichkeitsideal zurück, das vor allem durch den im 18. Jahrhundert in Deutschland viel gelesenen Shaftesbury populär wurde. Für Shaftesbury bedeutet Bildung die Umformung des Selbst zu einer harmonischen Einheit. Diese Harmonie wird als Leistung hoch bewertet, und zwar insbesondere von der höfischen Gesellschaft. »Es ist das Ethos des cortigiano, der nach der Norm der Harmonie … die Formung zum sichtbaren und fühlbaren Bilde erstrebte«, um sich so von der »Masse« abzuheben (Hans Weil (1967), Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, Bonn, S. 30/31). Dieses Bildungsverständnis wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter der Wortführerschaft Herders vom Interesse an individuellen Eigenschaften und Ausdrucksqualitäten verdrängt. Wilhelm Meister hat von solchen Tendenzen nicht allzu viel mitbekommen, hängt veralteten Verhaltensmodellen an und hatte sich auch vorher schon als jemand entlarvt, der Shakespeare nicht kennt. Stattdessen hängt er nach wie vor der als antiquiert geltenden Ästhetik Racines und Corneilles an, und nun wird er als jemand bloßgestellt, der veraltete höfische Bildungsideale vertritt. Er besteht auf der Einfügung einer allegorischen Minerva, die eigentlich für die Logik des Stückes nicht gebraucht wird, ihm aber Weihe geben soll, und gibt genaueste Anweisung zu deren Kostüm. Es muss dann dafür Sorge getragen werden, dass das Stück im Ganzen dem gräflichen Auftraggeber nicht vor Augen kommt, da sein schlechter Geschmack nicht in allen Teilen umgesetzt wurde.
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nen Schein des Schauspiels daran partizipieren zu können, so weil er nur die Außenseite der Macht mitbekommen hat, die er nachahmen will: »Du siehst wohl«, schreibt er an Werner, »dass das alles für mich nur auf dem Theater zu finden ist […] Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den oberen Klassen« (303; 292). Das Bildungsverständnis, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählich an Konturen gewinnt und das in erster Linie auf die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten, sogar auf eine Art von Wahrheitsanspruch der eigenen Individualität zielt, hat in diese Vorstellungswelt noch keinen Eingang gefunden. Ausgerechnet Jarno, zu diesem Zeitpunkt noch Höfling, gibt Wilhelm Meister zu verstehen, dass er mit seinen Vorstellungen nicht ganz auf dem neuesten Stand ist, und er macht Wilhelm auf die Hohlheit seiner Verhaltensideale aufmerksam: »Es ist schade, dass Sie mit hohlen Nüssen um hohle Nüsse spielen.« (180; 175) Und es sind ironischerweise gerade junge Aristokraten, die am Ende des Romans Wilhelm mit einem neuen Verständnis von Bildung als Raum für Neuorientierungen und Neubewertungen konfrontieren. Aber gerade als Wilhelm Meister in der von ihm gewählten Aufgabe einer Annäherung an das feudale Verhaltensideal glänzen will, muss er jene Qualitäten entwickeln, die er am bürgerlichen Existenzmodell kritisierte, er muss als Theatermacher seine Leistungsfähigkeit zeigen und »Mühe, Fleiß und Anstrengung« investieren (360; 345). In ehrenvoller Weise wird er mit immer neuen Funktionen betraut – er bearbeitet Stücke, wird in die Inszenierung des »Hamlet« einbezogen, entwickelt eine eigene Interpretation des Stücks, in dem er die Hauptrolle spielt – und dazu braucht er Kenntnisse und analytische Fähigkeiten, die er sich selbst beibringt. Diese Ausweitung seiner Aufgaben kommt durch seine Neigung zustande, an alles »ein allgemeines, theoretisches Gespräch anzuknüpfen« (284; 273) und dabei »nach seiner Art weitläufig und lehrreich« zu werden (252; 244). Er sieht, wie wichtig das Gespräch mit kompetenten Gesprächspartnern ist, eine Erfahrung, die er vorher nicht gemacht hat, und trifft auf Personen, »die ihn nicht allein vollkommen verstanden, sondern die auch sein Gespräch belehrend erwiderten« (252; 243). Es wird erwartet, nicht lediglich Ideen zu entwickeln, sondern Position zu beziehen und Schlüsse aus dem Gesagten abzuleiten. Um eigene Auffassungen durchzusetzen, ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Text nötig; am Theater interessierte Laien wollen Auskünfte und konfrontieren Wilhelm mit der Notwendigkeit, eigene Entscheidungen argumentativ begründen zu müssen, und so lernt er auch, grundsätzlichen Konflikten mit Serlo nicht auszuweichen, etwa bezüglich der Frage, ob das zahlende Publikum Einfluss nehmen darf auf den Ausgang eines Stückes (vgl. 327; 314). Seine herausgehobene Position bringt ihn zwangsläufig in Konflikt mit dem Ensemble, an dem er jetzt vor allem »Schlendrian« bemerkt. Schauspieler sind für ihn eine Gattung Menschen, die völlig »mit sich selbst unbekannt sind« und »ihr Geschäft ohne Nachdenken treiben« (453; 433/34). Dann aber ergeht es ihm ähnlich wie Anton Reiser angesichts der Möglichkeit zu einer abgesicherten bürgerlichen Existenz: Gerade »in dem Augenblicke, als Wilhelm durch Mühe, Fleiß und Anstrengung sich mit allen Erfordernissen des Metiers bekannt gemacht und seine Person sowohl als seine Geschäftigkeit vollkommen dazu gebildet hatte, schien es ihm endlich in trüben Stunden, dass dieses Handwerk weniger als irgendein anderes den nötigen Aufwand von Zeit und Kräften verdiene. Das Geschäft war lästig und die Belohnung gering.« (360; 345) Seine Bühne, muss er feststellen, ist in
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
nichts besser als die übrigen. Er jedoch hat sich verändert, den »fremden Lichtern und Leitsternen« schenkt er weniger Beachtung, die Zeit ist vorbei, als er »auf die Erfahrungen anderer [… e]inen übermäßigen Wert« legte, sich unterschiedslos alles, was andere meinten, »ja ganze Gespräche«, ohne eigenes Urteil aufschrieb (296; 285). Sondern er bezieht deutlich Position, z.B. als Serlo immer entschiedener die Kommerzialisierung des Theaters vorantreibt (vgl. 327; 314, 367; 351). Will man die »Lehrjahre« als Bildungsroman lesen, so beginnt eine Auseinandersetzung mit der Bildungsthematik im engeren Sinne ab der Mitte des Textes, nämlich mit dem Brief an Werner, dem Entschluss, mit allen Konsequenzen und ohne Hintertür Schauspieler zu werden. Zwar beschäftigt ihn auch vorher schon »die Bildung, die er sich zu geben« wünscht, aber in erster Linie als Negation des ihm vorgezeichneten Weges. Seine Aspirationen, eine Identität nach eigenem Entwurf zu entwickeln, werden vom Autor durch eine Begebenheit in seiner Kindheit motiviert: Nicht nur findet sich da bereits das Bedürfnis zu »glänzen«; sogar sein Abendgebet verrichtet er mit seidener Schärpe und Dolch (vgl.57; 58). Sondern es wird auch nahegelegt, dass dies auf der Identifikation mit einem Helden aus der Bildersammlung beruht, die damals als »eine kostbare Sammlung von Gemälden, Zeichnungen, Kupferstichen und Antiquitäten« sowie antiken Plastiken einen Teil des Hauses schmückte (38; 40). Der Großvater hat sie, z.T. auf Italienreisen, zusammengestellt, der Vater verkauft sie. Die Bildung, von der Wilhelm spricht, soll wohl etwas vom Glanz dieser frühen Eindrücke zurückbringen, und so bleiben auch die Vorstellungen, die er bezogen auf adliges Verhalten formuliert, dem Kinderblick auf die Prinzen und Prinzessinnen auf jenen Bildern verhaftet. Mit seiner Abkehr vom Theater stellt sich im Grunde wieder das Problem der Planlosigkeit von Wilhelm Meisters Wanderung, aber nun in verschärfter Form. Das Darstellen fiktiver Identitäten erscheint ihm nun wie eine Zeitvergeudung und seine erste Zeit mit der Truppe, als sehe er »in ein unendliches Leere« (441; 422): »erinnern Sie mich nicht, woher ich komme und wohin ich gehe« (453; 433). Das »Scheinen«, das ihn am Beruf des Schauspielers so gereizt hatte, ist für ihn nur noch falscher Schein. Sachlich merkt Jarno dazu an, dass dies ja eigentlich kein Grund zur Enttäuschung sei, denn dies sei nun einmal das Geschäft des Schauspielers, »denn wenn er sich und anderen nicht etwas scheint, so ist er nicht.« In dieser Hinsicht blickt Serlo weiter, wenn er den Schein, den die Bühne herstellt, als »erlogene Wahrheit« bezeichnet. Denn hier handelt es sich um einen Schein, durch den ein Wahres durchscheint, und insofern spricht Serlo auch von der »innere[n] Wahrheit« des Stücks (322; 309). So weit denkt Wilhelm nicht; er sieht nur die glanzvolle Fassade, von der er sich jetzt enttäuscht abwendet. Goethe hatte in seiner ersten Fassung des Romans, »Wilhelm Meisters theatralische Sendung«, sich ganz auf diese Problematik der Bedeutung des Theaters für eine Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet, konzentriert. In den »Lehrjahren« werden diese Theatererfahrungen48 zu einer Episode, die Wilhelm Meister schließlich so rasch wie möglich hinter sich zu bringen sucht. Aber so sehr er sich fortwünscht, so ratlos steht er der Aufgabe gegenüber, eine neue Rolle für sich zu finden; »die Bildung, die er sich zu geben wünschte« (300; 289), war bisher mit seinen Theaterambitionen verknüpft, und es ist nichts Neues an deren Stelle getreten. Erste Überlegungen zu dieser 48
Goethe leitete von 1776 bis 1817 das Weimarer Theater.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Wendung, die der Roman in der Neufassung nimmt, entwickelte Goethe wohl während seines Aufenthalts in Rom. Gegen Ende seines Aufenthalts, dem er mit Beklemmung entgegensieht – er hatte sich in einer Art Nacht- und Nebelaktion auf seine Reise nach Italien gemacht, anstatt von einem Kuraufenthalt an den Weimarer Hof zurückzukehren – fasst er zusammen, wie sich ihm sein Leben zu diesem Zeitpunkt darstellt. Er sagt von sich, dass er »durch eigenen Willen exiliert, mit Vorsatz irrend, zweckmäßig unklug, überall fremd und überall zu Hause, mein Leben mehr laufen lasse als führe und auf alle Fälle nicht weiß, wo es hinaus will.«49 Es ist dieses Lebensgefühl, das er in den »Lehrjahren« darstellt, indem er Wilhelm Meister auf eine Irrfahrt schickt. Auch der lässt sein Leben mehr laufen als dass er es führt, und wenn er nun Serlos Theaterkompagnie verlässt, so weil er auf diese Reise, die ihm äußerst recht ist, geschickt wird. Und wenn er in dem Schloss bleibt, in das ihn diese Mission geführt hat, so weil seine Situation zu unklar ist, als dass er eigene Pläne entwickeln könnte. Aber er führt hier fast gänzlich das Leben des Zaungastes, der die Aktivitäten der anderen betrachtet. Allerdings hat sein Leben sozusagen größeren Ballast bekommen, da er nun in Begleitung von Felix ist und sich um ihn kümmert. Sein »schlenderndes Leben« hatte zwar für eine solche Fürsorge auch schon in der ersten Phase Platz gehabt, als er begann, sich um Mignon zu kümmern, aber im Rückblick klagt er sich an, die eingegangene Verpflichtung schlecht eingelöst zu haben. Er habe Mignon vor allem unterhaltsam gefunden, eigentlich aber sie »aufs Grausamste vernachlässigt« (528; 504). Offenbar falle es Männern schwer, »für ein Wesen außer uns Sorge [zu] tragen«, denn auch Felix gegenüber habe er nicht den Impuls gehabt, »das geringste für ihn zu tun«, so lange er nicht wusste, dass er sein Vater ist (ebd., 503/04). Nun aber, mit Felix an seiner Seite, erscheint ihm alles neu, er bemerkt erst jetzt, »welch ein schwaches Interesse er an den Dingen außer sich genommen hatte, wie wenig er kannte und wusste« (522; 498), denn das Kind stellt ununterbrochen Fragen, und sein Vater weiß keine Antwort. Er stellt fest, dass er »nicht viel bekannter mit den Gegenständen« ist als der Kleine und hat das Gefühl, dass er nun durch dessen Fragen »die Natur durch ein neues Organ« zu betrachten lernt (ebd.). Jetzt erst »schien auch seine eigene Bildung erst anzufangen, er fühlte die Notwendigkeit, sich zu belehren, indem er zu lehren aufgefordert wird.« (Ebd.) Dabei geht es nicht nur um Kenntnisse, sondern insgesamt um ein Gefühl der Verantwortung gegenüber dem Kind, nämlich »nachhaltig zu wirken« im Interesse des Sohns (514; 491). Der Erzähler nennt dies die »Tugenden eines Bürgers« (526; 502), die Wilhelm jetzt erst in sich ausbildet, nämlich das Interesse an Besitz, da er bemerkt, dass es »äußerer Hilfsmittel bedürfe«, um das Kind großzuziehen (514; 491). Das erste Mal sieht er »die Welt nicht mehr wie ein Zugvogel an« (526; 502), und als er jetzt einwilligen muss, sich an der Neuordnung der Hinterlassenschaft seines Vaters zu beteiligen, freut er sich sogar »recht lebhaft des Besitzes«, dessen Nutznießer Felix einmal werden wird (ebd.; 501).50
49 50
J. W. v. Goethe (1982), Italienische Reise, a.a.O., S. 414. »In diesem Sinne waren seine Lehrjahre geendigt«, kommentiert der Erzähler (526; 502) und wertet Wilhelm Meisters Bildungsgang hier ausschließlich unter dem Aspekt seiner erfolgreichen Einmündung in eine bürgerliche Werteordnung.
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
Wilhelms bisheriger »Unbekanntschaft mit der Welt« (454; 434) entsprach ein Bildungsideal, das ganz an der Vervollkommnung des eigenen Selbst ausgerichtet war; äußere Umstände waren dazu allenfalls Hilfsmittel. Zunächst ging es ihm lediglich darum, seine »Natur« im Sinne zunehmender Kultiviertheit der Verhaltensweisen auszubilden. An Serlos Theater stellte er sich dann zunehmend der Aufgabe, Sicherheit in der Ausübung eines Metiers und die dafür nötigen Kenntnisse zu erwerben. Nun stellt der Abschied vom Theater eine Art Moratorium her, indem er in erster Linie damit beschäftigt ist, sich über seine eigenen Selbsttäuschungen aufzuklären. In diese Bestandsaufnahme eigener Defizite fällt die Bekanntschaft mit dem neuen Personenkreis um Lothario. Hier trifft er auf Menschen, die diese Art der Bildung als Vervollkommnung des eigenen Selbst lediglich als Vorbedingung ansehen, um in Bezug auf die eigene Umgebung gestaltend tätig zu werden. Ihr Ethos des Tätigseins macht den Doppelsinn von Bildung zu ihrem Credo, nämlich auch in die eigene Umwelt bildend einzugreifen. Es sei gut, so Jarno, wenn ein Mensch sich nach einer Phase der Konzentration auf sich selbst in einem zweiten Schritt »in einer größeren Masse verlieren lernt, wenn er lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen. Da lernt er erst sich selbst kennen; denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit anderen.« (516; 493) In den »Wanderjahren« wird dann geradewegs eine neue »Zeit der Einseitigkeiten« in Gestalt der Konzentration auf das situativ Erforderliche vertreten und eine allgemeine Bildung, die ja in erster Linie eine allseitige Bildung des Selbst sein soll, allenfalls als Vorbereitung dazu angesehen – und so trägt der Roman denn auch den Untertitel »Die Entsagenden«. Der Abbé, Vordenker der Gruppe um Lothario, betont jedoch, dass Selbstbezug und Tätigkeitsorientierung keine Gegensätze seien, da »man sich selbst eigentlich nur in der Tätigkeit zu beobachten und zu erlauschen imstande sei.« (576; 549) Die Bedeutung des Handelns zu betonen impliziere vielmehr neben der Konzentration auf die gestellte Aufgabe die realistische Einschätzung der eigenen Kräfte und deren Ausbildung. Nicht alle Talente, die man in sich vorfinde, gelte es auszubilden, sondern auszuwählen und an seinen Stärken zu arbeiten, damit aber zugleich in die eigene »Begrenzung« einzuwilligen, so Jarno (580; 553). Sein Bekenntnis zu einer »pflichtmäßigen Tätigkeit« im Dienste anderer Menschen ist innerhalb der Logik des Romans mehr als nur eine der unterschiedlichen Auslegungen des Bildungsbegriffs, die der Leser in seinem Verlaufe kennenlernt. Der Roman bündelt in den letzten Büchern seine Energien, um in einer Reihe von Variationen Jarnos Auffassungen zu konkretisieren. Dennoch bleibt ungewiss, was Wilhelm Meister mit diesen Ideen anfängt; sie kommen zum falschen Zeitpunkt, denn er hat andere Sorgen, und sie kommen ihm in ihrer Allgemeinheit sentenziös vor. Eher neigt er zu der Auffassung, dass »die Natur uns auf ihre liebliche Weise zu allem bildet, was wir sein sollen.« (526; 502) Vor allem die Vorstellung, dass Bildung auf ein Ziel hinarbeiten müsse, »anstatt uns auf dem Wege selbst zu beglücken«, bleibt ihm fremd (ebd.). Diese Differenz der Auffassungen, die auch unter den Stichworten einer allgemeinen Bildung aller Kräfte und einer Spezialisierung der Ausbildung in den theoretischen Schriften der Zeit verhandelt wird, wird bei Wilhelm von Humboldt zu einem entschiedenen Plädoyer zugunsten einer nicht zu frühen Festlegung führen.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
3.7
Turmpädagogik
Lotharios Schloss, auf das Wilhelm zureitet, erscheint von weitem als eine unregelmäßige Ansammlung von »Türmen und Giebeln« und wurde offenbar in mehreren Bauphasen mit weiteren Anbauten versehen, »die teils nah, teils in einiger Entfernung davon errichtet, mit dem Hauptgebäude durch Galerien und bedeckte Gänge zusammenhingen.« (442; 423) Auffällig an dem Ensemble ist ein großer Turm, der allerdings verschlossen ist, und es zeigt sich, »dass eine ganze Seite des Schlosses […] immer unzugänglich« bleibt und es zu »gewissen Galerien und besonders zu dem alten Turm« keinen Eingang gibt (515/16; 492/93). So, wie die Teile des Schlosses durch eine Reihe von Galerien, Gängen und Geheimgängen miteinander verbunden sind, zeigt sich in dieser Phase des Romans auch seine Handlung: Was zunächst als eine lineare Abfolge von Stationen erscheint, die das Thema der mythischen Reise des Helden auf der Suche nach sich selbst variieren, zeigt sich nun als Folge von Episoden, die durch eine gemeinsame zweite Ebene zueinander in Beziehung stehen. Als sei die Konzeption einer linearen Abfolge, bei der sich eine Situation aus der anderen entwickelt, Goethe als Konstruktionsgesetz zu einstimmig gewesen, wird kurz vor Beginn des letzten Buchs sowohl der Held als auch der Leser darin eingeweiht, dass alles ganz anders ist und war. Bisher erschien die zentrale Figur des Romans als zwar schwaches, nämlich von Selbsttäuschungen und situativen Fehleinschätzungen gebeuteltes Subjekt seiner Geschichte; nun wird am Ende des 7. Buchs enthüllt, dass Wilhelm Meister zumindest in gewisser Hinsicht den Objektstatus nie verlassen hat und ihn nicht verlassen konnte, weil er seiner Wahrnehmung entzogen blieb. Wilhelms Geschichte entfaltet sich vor dem Hintergrund einer zweiten Ebene von auf ihn gerichteten pädagogischen Maßnahmen; er wird beobachtet, seine Schritte kontrolliert. Jedoch wird nach einer stark an freimaurerische Riten angelehnten Initiationszeremonie51 von Jarno gesprächsweise enthüllt, dass dies nur mehr die Nachklänge eines quasi bereits aufgegebenen Projekts seien: Es handele sich um ein »Unternehmen, bei dem es anfangs den meisten Eingeweihten großer Ernst war und über das nun alle gelegentlich nur lächeln.« (574; 548)52 Alles ist in Wirklichkeit anders, als es zunächst erscheint. Ihre Aufgabe sieht die Turmgesellschaft darin, denjenigen, »an dem viel zu entwickeln ist«, zu beobachten und auf unauffällige Weise zu lenken und zu leiten (576; 550).53 Zentraler Vordenker dieser Gruppe ist der Abbé; auch sein Zwillingsbruder (578; 551), 51
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Goethe war seit 1780 Mitglied der Freimaurerloge »Amalia«, er wurde 1781 »Geselle« und 1782 »Meister«. Auch die Turmgesellschaft übt sich in »Benennungen von Lehrlingen, Gehilfen und Meistern« (576; 549). Durch diese letzte Wendung wird Sinn und Tragweite der vom Autor eingeführten zweiten Ebene in Zweifel gezogen. Sie wird installiert und gleichzeitig in Frage gestellt, der feierliche Initiationsritus wird zur Farce. Der Autor schafft hier ein Problem, das innerhalb der Logik des Romans nicht völlig aufgelöst wird. Die erste Fassung des Romans kommt ohne Turmgesellschaft und deren Abgesandte aus. Zu möglichen Gründen ihrer Einführung s.u. Mit anderen Worten ist dies ein hochselektives Programm: Nur wenige sind auserwählt; alle anderen werden »teils aufgehalten, teils beiseite gebracht« und mit »Hokuspokus« abgespeist, so Jarno (576; 549).
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
sowie Lothario und Jarno gehören dazu, ebenfalls ein Arzt, der an vielen Stellen einen flüchtigen Auftritt hat. Es waren der Abbé und sein Zwillingsbruder, die als »Unbekannte« immer wieder in Wilhelms Leben auftauchten und ihn in Gespräche verwickelten, sogar durch einen geheimnisvollen Auftritt in Wilhelms Hamlet-Inszenierung ihm aus einer Verlegenheit halfen. Pädagogisches Credo dieses Zusammenschlusses ist paradoxer Weise das Nicht-Eingreifen: nämlich in der »Erziehung des Menschen« darauf zu achten, »wohin seine Neigungen und Wünsche gehen« (438; 419) und deren Befriedigung zu unterstützen. Dass der Einzelne sich zum Tätigwerden heranbildet ist das oberste Ziel, und diese Tätigkeit kann er nicht ausüben, »ohne die Anlage dazu zu haben« (545; 520). Es sei »jede, auch nur die geringste Fähigkeit uns angeboren, und es gibt keine unbestimmte Fähigkeit« (ebd.), wobei »in jeder Anlage […] auch allein die Kraft [liegt], sich zu vollenden« (579; 552). Aber diese Fähigkeit müsse entdeckt und in ihrer Entfaltung unterstützt werden; ebenso könne durch äußere Einflüsse dieser Bildungsgang gestört werden. Die Individuen richten dann »das Streben nach Gegenständen, die so oft mit der Natur, die sich nach ihnen bemüht, nicht übereinstimmen.« (546; 520) So ist das Ziel, »den wirklichen Anlagen aufzuhelfen« (545/46; 520), aber verwirklicht werden soll dies durch eine Pädagogik des Irrtums: »Nicht vor Irrtum zu bewahren, ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den Irrenden zu leiten«, lautet die programmatische Formulierung während der Initiationszeremonie (518; 494/95). Der Betreffende müsse seine Erfahrungen mit eigenen Irrwegen machen, denn »der Irrtum könne nur durch das Irren geheilt werden.« (577; 550) Ein solcher Prozess sei jedoch auf Begleitung, diskrete Leitung angewiesen; Natalie erwähnt, wie wichtig die Hinweise des Abbé für ihre eigene Entwicklung waren: »er machte mich mit mir selbst, mit diesen Wünschen und Neigungen bekannt und lehrte mich, sie zweckmäßig zu befriedigen.« (552; 527) Wilhelm erfährt diese Unterstützung eher in Form einer verdeckten Beobachtung und benennt deutlich die Problematik von Aktivitäten dieses Typs: Die Erkenntnis, »beobachtet, ja sogar gelenkt worden« zu sein, verursacht ihm eine »Art von unangenehmer Empfindung« (530; 506), er muss davon ausgehen, dass seine »Wächter und Aufseher« (ebd.) ständig, aber unsichtbar präsent waren und dass sie auch jetzt »ich weiß nicht was für einen seltsamen Zweck mit und an uns ausführen.« (573; 547) Nicht zufällig ist das Zentrum dieses Panoptismus ein für alle anderen verschlossener Turm. Vielleicht muss diese Turmgesellschaft als der nicht ganz geglückte Versuch des Autors verstanden werden, die Bildungsthematik über den Individualismus privater, in die jeweilige Biographie eingekapselter Vorstellungen hinaus weiterzudenken. Goethe sucht eine Lösung für den Missstand, individuelle Bildungswege allein dem Zufall zu überlassen. Die Lösung dieses Problems liegt für ihn in einer Pädagogisierung der Bildung; sie soll sich nicht in den spontanen Selbstbildungsprozessen eines Subjekts erschöpfen, sondern diese sollen eine Instanz zur Seite gestellt bekommen, die gegebenenfalls korrigierend eingreifen kann. Die Logik des bildungstheoretischen Konzepts der Turmgesellschaft erfordert die pädagogische Begleitung, wenn dies nicht auf Fatalismus und Indifferenz derjenigen hinauslaufen soll, die ihre Irrtümer gewahr werden. Zu einem Zeitpunkt, zu dem es in nur geringem Maße formale Bildungsangebote gibt, verfällt Goethe auf die Idee, diese pädagogische Ebene an eine Geheimgesellschaft zu delegieren. Er wird dieses Thema in »Wilhelm Meisters Wanderungen« wieder aufneh-
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Transformationen des Bildungsbegriffs
men und nun die Lösung nicht mehr in einer nach dem Vorbild der Freimaurerlogen konzipierten Privatinitiative suchen, die als pädagogische »Wächter und Aufseher« andere leitet, sondern dies in eine »pädagogische Provinz« verlagern, die bereits die Gestalt einer Schule bzw. eines Internats angenommen hat. Vielleicht muss das Konzept der Turmgesellschaft als Suche nach gesellschaftlichen Realisierungsformen von Bildung vor deren Institutionalisierung verstanden werden, das heißt vor der Einrichtung eines formalen Bildungssystems. Aber die Aktivitäten des »Turms« müssen auch als Ironisierung jeglicher Vorstellung von Autonomie verstanden werden, die Wilhelm Meister jemals für seine Handlungen beansprucht hat, und es bleibt offen, ob Goethe diese bittere subjektkritische Pointe tatsächlich intendiert hat.
3.8
Schöne Seelen
Unterbrochen wird der Gang der Handlung von einem eingeschobenen Text, den »Bekenntnissen einer schönen Seele«, einem authentischen Bericht einer Person aus Goethes Frankfurter Umfeld, die über ihren inneren Werdegang spricht.54 Es ist die Darstellung eines Wegs der mystischen Erleuchtung und der Lebensform, die sich daraus ergibt. Der Autor übernimmt diesen Text fast unverändert, nur gegen Ende wird er locker mit den Fäden der Handlung verknüpft. Dennoch hat dieser Teil nicht nur die Funktion, ein Gegenmodell zu Wilhelm Meisters Bildungsgang zu entwerfen, sondern auch eine Art von genealogischer Abkunft der lebenspraktischen Haltungen zu skizzieren, die Wilhelm an den Personen der Gruppe um Lothario wahrnimmt.55 Denn in den letzten Büchern der »Lehrjahre« verschiebt sich insgesamt die Bedeutung von Bildung hin zu einer Umgestaltung der Lebensführung. In den autobiographischen »Bekenntnissen« nimmt dies die Gestalt einer immer tiefer reichenden Erkundung der eigenen Seele in ihrer Kommunikation mit dem »Unsichtbaren« an (375; 359/60), später bei den jungen Aristokraten als Nachfahren der »schönen Seele« wird dies zu einer abermaligen Umwendung dieser Konversion hin zu den Belangen des alltäglichen Lebens. Diese Jüngeren haben die gleiche Entschiedenheit und innere Sicherheit, das, was sie als wichtig erkannt haben, umzusetzen, nun aber nicht bezogen auf das eigene Selbst in seiner Verbindung zu Gott, sondern auf das, was ihrem Umfeld nottut, um die Lebensbedingungen aller zu verbessern. Implizit verbirgt der Autor darin zumindest den Ansatz einer Bildungsutopie: Zunächst heißt Bildung, auf der Basis der Reflexion der ungleichen Lebensbedingungen derer, die hier als Herren und Diener oder Knechte zusammenleben, zu Konzeptionen einer veränderten Situation zu gelangen. Mit der Umsetzung 54 55
Es handelt sich dabei um Susanne von Klettenberg (1723-1774), pietistische Schriftstellerin und mit dem goethischen Elternhaus befreundet, aber auch verwandt. Dargestellt wird eine Abfolge von drei Generationen, deren mittlere die »schöne Seele« der »Bekenntnisse« ist. Ihre religiöse Ausrichtung findet ein weltliches Gegenstück in ihrem Oheim, dem Bruder ihres Vaters, Erbauer des Schlosses, in dem Natalie schließlich wohnen wird, und Verfechter einer starken Theorie des Menschen als »schöpferische[r] Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein soll« (423; 405). Dieser Oheim ist wiederum der Erzieher der Kinder in der dritten Generation nach dem Tode ihrer Eltern, darunter Natalie und Lothario, Nichte und Neffe der »schönen Seele«.
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
wird aber auch ein Umfeld geschaffen, das so durchgestaltet ist, dass es auf die Personen, die in ihm leben, zurückwirkt. Die »schönen Seelen« bringen über die ganze hier vorgestellte genealogische Reihe hinweg die Umwelt, in der sie leben wollen, selbst hervor. Architektur wird zum Ausdruck dieser Haltung: Wilhelm Meister hat beim Erwachen in Natalies Schloss, das sie geerbt hat, denselben Eindruck, den auch schon die »schöne Seele« beim ersten Betreten hatte, nämlich sich »gesammelt« und auf sich »selbst zurückgeführt« zu fühlen (419; 402). Auch Wilhelm glaubt beim morgendlichen Herumstreifen durch die Räume, in ihnen »das Maß zu erkennen, nach dem und zu dem unser Innerstes gebildet ist.« (541; 516)56 Diese Schlossarchitektur ist Ausdruck der Überzeugung des Oheims, dass es Aufgabe des Menschen sei, dass »er die Umstände so viel als möglich bestimmt und sich so wenig als möglich von ihnen bestimmen lässt.« (423; 405) Er habe der Welt als ihr Baumeister gegenüberzutreten, »der nur dann den Namen verdient, wenn er aus diesen zufälligen Naturmassen ein in seinem Geiste entsprungenes Urbild mit der größten Ökonomie, Zweckmäßigkeit und Festigkeit zusammenstellt.« (Ebd.) In abgeschwächter Form, nämlich der Überzeugung von der Notwendigkeit kontinuierlichen praktischen Eingreifens, findet sich diese Haltung auch in der dritten Generation. Aber so, wie Wilhelm Meister dieses Schloss nur durchstreift – und dabei auf die Bildersammlung seiner Kindheit stößt, die der Oheim aufgekauft hatte: »Es war, als wenn er ein Märchen erlebte« (537; 513) – bleibt er auch diesen Einstellungen gegenüber weitgehend in der Zuschauerrolle. Mehr noch: Als er ein einziges Mal aus dieser Rolle auszubrechen versucht, geht dies gründlich schief und er erzeugt eine unübersehbare Folge von Verwicklungen, zu deren Auflösung er nichts beizutragen vermag: Beeindruckt von der Ausstrahlung einer Freundin von Natalie, Therese, dieses »ganz klaren menschlichen Wesens« (484; 463), aber auch vom Wunsch nach einer neuen Mutter für seinen Sohn beseelt, verfasst er an sie einen Brief mit einem Heiratsantrag, und unter dem unangenehmen Eindruck, von den Turmpädagogen stets »beobachtet, ja sogar geleitet worden« zu sein, vermeidet er dabei sorgfältig, dass jemand etwas davon erfährt. Er versucht so seine Selbstbestimmung zurückzugewinnen, hat dabei aber übersehen, dass seine eigentliche Liebe Natalie gilt und auch auf der Seite Thereses die Verhältnisse recht kompliziert sind. Kurz: Das Bekenntnis des Oheims zur Bestimmung des Menschen als Baumeister seiner Welt wird von der Romanhandlung zumindest da in Frage gestellt, wo es um Wilhelms eigene Geschichte geht. Auffällig an der Schilderung der Personen im Umkreis des »Turms« ist ihre statuarische Darstellung in Parallele zur Architektur der völlig zur Ruhe gekommenen Proportionen. So differenziert die Darstellung von Gestalten wie Philine, Mignon, Aurelie und Serlo ist, so entindividualisiert wirken die Personen in diesem letzten Teil. Die Männer der Turmgesellschaft sind ernsthaft, ausgeglichen, klug, weitblickend und sensibel; dabei verfolgen sie stets einen »geraden Weg« (488; 467). Noch häufiger tauchen die Attribute der Klarheit, Ruhe, Heiterkeit, Leidenschaftslosigkeit in der Darstellung
56
Die Vorstellung, einen Lebensraum als etwas Äußeres zu erzeugen, das auf das Leben des Individuums zurückwirkt und es umformt, hatte Goethe wohl von seiner italienischen Reise mitgebracht, wo er angesichts der »wirkliche[n] Größe und Körperlichkeit« der antiken Architektur den Eindruck hatte, dass sie ihn »von innen heraus umarbeitet« (Goethe, Italienische Reise, a.a.O., S. 52, 150).
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Transformationen des Bildungsbegriffs
der Frauen auf. Sie kennen keine Identitätskrisen; selbst die Herauslösung der »schönen Seele« der »Bekenntnisse« aus allen gesellschaftlichen Konventionen wird bloß vom einfachen Gefühl absoluter Notwendigkeit geleitet. Therese ist eine »helle Erscheinung« (484; 463), Natalie »teilnehmend, […] liebevoll und hilfreich« (544; 518), auch sie eine »schöne Seele«, »mehr […] als unsere edle Tante selbst«, so Lothario (637; 608). In vielen verschiedenen Wendungen wird auf die »Reinlichkeit dieses Daseins« hingewiesen (543; 518), sei es das von Natalie oder ihrer Tante oder Therese. Mignon hat am Ende ihre dunkle Männerkleidung abgelegt und tritt Wilhelm im weißen Engelskleid entgegen. Es sind iphigeniehaft klassizistische Gestalten, flecken- und schattenlos, Natalie und Lothario allerdings mit einem Bruder im Hintergrund, Friedrich, der »das Opfer dieser pädagogischen Versuche« ist (546; 521)57 . Für das, »was man bös in der Welt nennt«, hat der Oheim nur die Erklärung, dass »die Menschen zu nachlässig sind«; wären sie dazu in der Lage, »ihre Zwecke recht kennenzulernen und, wenn sie solche kennen, ernsthaft daraufloszuarbeiten«, würde alles eine Wendung zum Guten nehmen (423; 405/06).58 In diesen Ansichten des Oheims tritt die schon von Jarno und Lothario bekannte Betonung des Tätigseins in drastischer Verkürzung auf, ergänzt durch die ästhetische Aufhebung von Widersprüchen in einer schönen, von Menschen umgestalteten Welt. Das Stillgestellte dieses Klassizismus findet seinen genauesten Ausdruck in dem in das Schloss integrierten Mausoleum, das sich der Oheim selbst errichtet hat. Es zitiert altägyptische Vorstellungen von Tod und Ewigkeit in Gestalt granitener Sphinxfiguren und Sarkophage, und in einem solchen Sarkophag findet Mignon einbalsamiert, d.h. vor Verfall geschützt, ihre letzte Ruhe. Völlig aus dem Blick gerät im Rahmen dieser Reinheitsphantasien, die sowohl durch Personen als auch Räume repräsentiert werden, dass diese Erlesenheit Probleme und Konflikte generiert, die nicht in das vom Autor entworfene Bild passen. Es ist schwer vorstellbar, wie dieses Ideal auf Dauer mit der Toleranz vereinbart werden soll, über die angeblich alle verfügen. Weitergedacht und außerhalb der freundlichen Szenen des Romans muss von einer beständigen Notwendigkeit des Aussortierens all dessen ausgegangen werden, das dem zugrundeliegenden Reinheitsideal nicht entspricht. In letzter Konsequenz muss da, wo von Reinheit die Rede ist, immer auch der Ausschluss des als unrein Wahrgenommenen mitgedacht werden, eine auf Selektion angelegte und angewiesene Welt verbirgt sich hinter der Harmonie. Wilhelm Meister durchwandert diesen Bezirk eher wie sich ein Planet durch ein Sternbild bewegt, nur dass hier von keiner Gesetzmäßigkeit dieser Bewegung die Rede sein kann. Als er »die Bildung, die er sich zu geben wünschte« (300; 289), verwirklicht hat, Bildung verstanden als Kultiviertheit, wie er sie bei den Höflingen gesehen 57
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Es ist Friedrichs Funktion, nicht nur Wilhelms Eintritt in die Welt der Schausteller und Schauspieler zu eröffnen (vgl. S. 91; 91), sondern auch gegen Ende den Roman mit einer kleinen Bildungssatire zu versorgen. Gefragt, wie es komme, dass er neuerdings seine Sätze mit Zitaten aus der gesamten Weltliteratur zu garnieren weiß, erzählt er, dass er sich eine Weile mit seiner Freundin Philine in ein leeres Schloss eingemietet habe, in dem es aber noch eine reichhaltige Bibliothek gab. Ihre Langeweile hätten sie sich damit vertrieben, dass jeder sich mit zufällig ausgewählten Büchern versorgt habe und sie sich abwechselnd je eine zufällig aufgeschlagene Seite vorgelesen hätten. Es ist kaum nötig darauf hinzuweisen, wie undiskutabel diese Erklärung ist. Nicht erst heute, angesichts ungeplanter Nebenfolgen, ist deutlich geworden, dass ernsthaftes Darauflosarbeiten selber das Problem sein kann.
3. Bildungsgänge als Roman – »Anton Reiser« und »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
hat, ist sie ihm kein erstrebenswertes Ziel mehr59 . Bei ihm bleibt Bildung ein Prozess von grundsätzlicher Unabgeschlossenheit und ohne innere Teleologie. Er ist kein Prozess des »Werde, der du bist«, denn es gibt kein festes Sein: Dieses Selbst verändert sich beständig unter dem Einfluss seiner Erfahrungen. Die Vieldeutigkeit, die der Bildungsbegriff im Verlaufe des Romans annimmt, ist Ausdruck der Verschiebung der Zielsetzungen. Wenn der Wilhelm Meister des zweiten Bandes, der »Wanderungen«, inzwischen Arzt geworden ist, hat dies wenig mit seinen anfänglichen Wünschen zu tun, aber viel mit dem, was er im Zusammensein mit der Gruppe um Lothario wahrgenommen hat; die Richtung, die seine Bildungsprozesse weiterhin nehmen werden, sind in keiner Weise absehbar. Die einzige Konstante in seinem Leben ist wohl eine unbestimmte Sehnsucht, die ihn weitertreibt. Aber man sorgt für Wilhelm Meister in diesem letzten Teil, man entscheidet über ihn, er ist »Werkzeug« der Pläne anderer. Auch seine Eheschließung ist bereits entschieden, man setzt ihn nun davon in Kenntnis. Dass diese Entscheidung ganz in seinem Sinne ist, ändert nichts daran, dass er das Objekt der Beschlüsse von anderen bleibt: An Vorstellungen von Bildungsprozessen des Subjekts als Entwicklung autonomer Selbstverfügung werden nachdrückliche Zweifel angemeldet. Die Betonung liegt auf der Offenheit der Bildungserfahrungen: Selbst noch, als Lothario am Ende des Romans Wilhelm das Angebot eines »Bundes« unterbreitet, treten andere Ereignisse dazwischen, bevor Wilhelm noch darauf antworten kann. Weder dieser Bund noch der einer Ehe mit Lotharios Schwester Natalie ist ein Ruhepunkt. In den »Wanderungen« ist Wilhelm Meister schon wieder unterwegs; die Ehepartner haben offensichtlich auf die herkömmliche Familienform verzichtet, es besteht nur Briefkontakt; es sind »Entsagende«, wie der Roman im Untertitel heißt.
59
Im Nachhinein sagt er von sich, »dass ich da Bildung suchte, wo keine zu finden war« (518; 495), aber offensichtlich hat er sein frühes Bildungsideal erfolgreich umgesetzt, wie Werners begeisterte Reaktion auf ihn zeigt, als er ihn nach vielen Jahren wiedersieht (vgl. 523; 499).
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4. Grundbegriffe
Die Perspektive der ersten Person Singular wird mit Beginn der Neuzeit auf unterschiedliche Weise und unter verschiedenen Namen bedeutsam: Die Neubewertung des Selbst in Programmatiken der Selbsthervorbringung, der Aufstieg des Subjektbegriffs zur zentralen theoretischen Kategorie und Konzepte der Individualisierung als Bildungsprozess sind Facetten der Frage nach der Bedeutung des Ichs. Zugleich sind diese Wertungen Ausdruck einer »Neuorganisation der Beziehungen des Menschen zur Welt«, der Zusammenhänge und Trennungen in der Welt des Wahrnehmbaren herstellt, diese Phänomene zu »signifikanten Ganzheiten« zusammenfasst und ihnen ihre Bedeutung gibt.1 Nicht nur wird die Ordnung nun als subjektiv hervorgebracht anstatt als objektiv gegeben oder göttlich geschaffen verstanden, sondern immer mehr rückt dabei das Individuum in seinen auf nichts Allgemeines reduzierbaren Eigenschaften ins Zentrum.
4.1
Selbst
In seinem letzten Text, den »Träumereien eines einsamen Spaziergängers«, gibt sich Rousseau Rechenschaft über seine Lage: Er sei »allein auf Erden«, umgeben von Feinden, ohne Freunde, »losgelöst von ihnen und von allem«. Jetzt verenge sich alles auf die eine Frage: »was bin ich selbst? Das bleibt mir noch zu untersuchen.«2 Ähnlich hatte auch Augustinus im 4. Jahrhundert in seinen »Bekenntnissen« formuliert, dass er in seinen Selbsterforschungen mehr und mehr sich »selbst zu einem großen Rätsel« geworden sei, und insofern ist dies keine Frage, die erst mit der Neuzeit entsteht. Aber mit Gottes Hilfe sei es ihm, Augustinus, dann möglich geworden, diese innere Fremdheit zu überwinden, der Herr habe ihn zu sich selbst umgewendet, »Auge in Auge mir selbst gegenüber« habe er nun gestanden. Selbsterforschung wird bei ihm zur Voraussetzung der Nähe zu Gott: »Denn hältst du nur fest, haben wir Halt, suchen wir Halt
1 2
Philippe Descola (2011), Jenseits von Natur und Kultur. Berlin, S. 115, 106. Jean-Jacques Rousseau (1978), Träumereien eines einsamen Spaziergängers. In: Ders., Schriften in zwei Bänden, Bd. 2, S. 637-759. München, Wien, hier S. 639.
78
Transformationen des Bildungsbegriffs
bei uns selbst, sind wir haltlos.«3 Rousseau erhofft sich hingegen vom Bezug auf das eigene Selbst, in ihm eine Instanz zu finden, die Sicherheit gibt. Das Selbst wird zum Schutz gebenden Innenraum gegen eine als feindlich oder schädlich empfundene Außenwelt. Etwas haben aber beide Fälle gemeinsam: Selbstbezug bedeutet, dass das Ich aus seinen unmittelbaren Lebensvollzügen heraustritt, indem es sich selbst thematisiert. Es wird zu einem Bezugspunkt, der sowohl intuitive, spontane Nähe verheißt als auch Ausgangspunkt von Zweifeln ist. Die autobiographischen Schriften Rousseaus sind alle Rechenschaftsberichte, in denen das Ich sich Klarheit über die eigenen Charakterzüge, individuellen Besonderheiten, Stärken und Schwächen zu verschaffen sucht. Bei der »sorgfältigen Zergliederung«4 seiner selbst stellt Rousseau schließlich sogar die eigene Wahrheitsliebe, die die Abfassung seiner »Bekenntnisse« leitete, auf dem Prüfstand: Indem ich, so Rousseau, dieser Wahrheit »meine Sicherheit, meine Interessen, meine Person mit einer Unparteilichkeit, für die ich kein anderes Beispiel unter den Menschen kannte, aufopferte«5 , führten diese immer wieder neu aufgenommenen Versuche, sich über seine »wahren Beweggründe«6 für das bisherige Handeln Rechenschaft zu geben, nicht zum erwarteten Ziel: Hinter der Wahrheitsliebe entdeckt er Selbsttäuschung und was auf den ersten Blick wie Tugend aussieht, erweist sich als Bequemlichkeit.7 Auf der anderen Seite liegen seinen Fehlern Neigungen zugrunde, die »durchgängig unschuldig«8 sind: Zwar habe er sich »nur Fehler vorzuwerfen«, deren Grund sei aber Schwäche, »denn nie kam überlegte Bosheit in mein Herz.«9 Rousseau führt einen Prozess gegen sich selbst und nicht von ungefähr lautet der Titel einer seiner autobiographischen Schriften »Rousseau richtet über Jean-Jacques«. Es ist eine Arbeit des Trennens und Unterscheidens mit dem Ziel, all das abzutragen, was die eigene, innere, als ursprünglich vorausgesetzte Natur verdeckt. Sie gelte es zu erkennen und dazu sei völlige Einsamkeit nötig. Erst dann gebe es Stunden, so Rousseau, »wo ich völlig ich selbst bin und mir ganz ohne Ablenkung, ohne Hindernis gehöre und wo ich in Wahrheit sagen kann, ich sei das, was die Natur aus mir machen wollte.«10 Es ist mit anderen Worten sowohl Nähe als auch Distanz, die dadurch entsteht, dass sich das Ich auf sich selbst zurückwendet. Indem es sich ein Bewusstsein seiner Einstellungen und Haltungen, Bedürfnisse und Wünsche verschafft, stößt es auf eine innere Diskrepanz, denn offensichtlich entspringt dies nicht alles seinem bewussten Willen, sondern ist etwas, das es ohne sein Zutun in sich vorfindet, ein »Rätsel«. Sowohl bei Augustinus als auch bei Rousseau stößt die Selbstbeobachtung auf Fremdes und das eigene Selbst erscheint dabei als eine von der Außenwelt abgegrenzte Instanz, die dem Ich wie ein inneres Alter Ego Antwort gibt und eine Position vertritt, die nicht immer der des Ich entspricht.
3 4 5 6 7 8 9 10
Augustin (1977), Bekenntnisse, Stuttgart, S. 98, 216, 115. J.-J. Rousseau (1978), a.a.O., S. 675. Ebd. Ebd., S. 705. Ebd., S. 706. Ebd., S. 715. Ebd., S. 732/3. Ebd., S. 648.
4. Grundbegriffe
Bei Wilhelm von Humboldt wird der Versuch »vor sich selbst verständlich […] zu werden«, schließlich zu einer vorrangigen Aufgabe von Bildungsprozessen.11 Auch hier stößt die Selbstreflexion des Ich auf ein inneres »Chaos«12 , und Humboldt empfiehlt deshalb »ein genaues Studium seiner selbst«13 , mehr noch: Es sei wichtig »an uns selbst zu arbeiten«.14 Deutlich wird die Angst vor Selbstverlust durch Entfremdung ausgesprochen, und es ist allein das Ich, das davor retten kann. Durch seine Verwandlung durch Fremdes in Eigenes könne es »Licht und […] Wärme« herstellen.15 Dies gelingt ihm über den Erwerb neuer Kenntnisse, denn damit eignet sich das Ich neue Begriffe und Methoden an, die Eigenes in ein neues Licht tauchen und ihm eine Stimme geben. Bildung wird hier einerseits als Praxis des Selbstbezugs entworfen und andererseits an Kenntniserwerb gebunden, eine Kopplung, die auf Dauer den Bildungsbegriff bestimmen wird. Der Aufstieg von Selbsterkundung und Selbstverständigung zu einer kulturellen Praxis ist von Charles Taylor anhand von Dokumenten der europäischen Geistesgeschichte in einer umfangreichen Studie herausgearbeitet worden.16 Seinen Untersuchungen vorangestellt ist die These, dass das Ich in seinem Selbstbezug auf etwas in sich stößt, das ihm vielleicht als fremd, auf jeden Fall aber wie eine autonome Instanz mit einer eigenen Stimme gegenübertritt. Besonders deutlich wird dies, wenn es Wertungen und intuitive moralische Stellungnahmen wahrnimmt, die von großer Sicherheit und als Gewissen sogar Unbedingtheit sind. Sie sind zwar den Reflexionen des Ich zugänglich, aber von einer Unbedingtheit, die kaum verhandelbar ist. Taylor bezeichnet diese inneren Stellungnahmen insofern als »Quellen des Selbst«, als sie das Individuum mit der Notwendigkeit der Selbstreflexion konfrontieren; es macht die Erfahrung, dass seine intuitiven moralischen Wertungen von anderen Meinungen und den kulturellen oder politischen Positionen der Umgebung kaum berührt werden. Insofern kann die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst zu Differenzerfahrungen oder sogar zu Konflikten mit der Gesellschaft führen.17 »Ein Selbst ist jemand nur dadurch, dass bestimmte Probleme für ihn von Belang sind«18 , und für jeden stehen dabei möglicherweise andere Fragen im Vordergrund. Sich davon Rechenschaft zu geben, heiße »sich das eigene Leben verständlich zu machen.«19 Darin stelle sich das individuelle Selbst immer aufs Neue her; es habe keine »immerwährende und deutungsunabhängige Verankerung im Innersten unseres Wesens«20 , sondern verändere sich in den Akten der Selbstprüfung und Selbsterkundung. All dies ist ein einsames Geschäft: Mit einem so erratischen Selbst als innerem Referenzpunkt zeigt sich das neuzeitliche Ich als völlig auf sich selbst 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
W. v. Humboldt (1980), Theorie der Bildung des Menschen, Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. I. Darmstadt, S. 234-240, hier S. 235. A.a.O., S. 486. Ebd., S. 416. Ebd., S. 486. A.a.O., S. 237. Charles Taylor (1996), Quellen des Selbst. Frankfurt a.M. Am kompromisslosesten macht sich diese »innere Stimme« als Gewissen bemerkbar. Ebd., S. 67. Ebd., S. 63. Ebd., S. 331.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
gestellt, da es nicht, wie bei Augustinus, das Selbst als Teil der göttlichen Ordnung begreifen kann. Es ist allein mit seinem eigenen Selbst als antwortgebender Instanz. Das »Rätsel«, von dem Augustinus spricht, bekommt als Vorstellung, durch Akte der Selbstreflexion, sogar durch Arbeit an sich selbst zu einem genaueren Selbstverständnis zu gelangen, eine neue Deutung. Diese Arbeit zielt weniger auf Selbsttransparenz als auf die Vergegenwärtigung einer inneren Gemengelage, weniger auf Lösung dieses Rätsels als auf einen Prozess immer erneuter Selbstvergewisserung. Es ist das 18. Jahrhundert, die Zeit der Entstehung des Bildungsbegriffs und seiner ersten theoretischen Formulierungen, in der sich Menschen verstärkt über diese Trennung eines »Innen« und »Außen« der eigenen Lebensführung zu definieren beginnen, vielleicht in Deutschland noch mehr als in anderen Ländern.21 In seinem Buch »Kritik und Krise« führt Reinhart Koselleck diese Bereitschaft, dem Leben in der Gesellschaft eine Innenwelt der privaten Anschauungen und Gesinnungen gegenüberzustellen, auf Nachwirkungen der Religionskriege, in Deutschland vor allem den Dreißigjährigen Krieg, zurück.22 Fragen persönlicher Gewissensentscheidungen waren hier quälend virulent geworden und um zu überleben oft die Verleugnung des eigenen Glaubens gefordert. »Das Gewissen und die Erfordernisse der Situation lassen sich nicht mehr vereinen«.23 Dies treibt einen Keil zwischen innere Einstellung und äußere Haltung, ohne dass noch klar ist, welche der beiden eher im Recht ist. »Die Gesinnung oder die Tat, beides zugleich oder nur eines von beiden? Was eher, die Gesinnung oder die Handlung?«24 Es sind solche Fragen, die zu einer Aufspaltung der Welt in ein »Innen« und »Außen« führen und den »Innenraum der Gesinnung«25 für den Einzelnen zu einer unhintergehbaren Realität machen. In der Konsequenz bedeutet dies zugleich eine Spaltung in »privat« und »öffentlich«. Das Gewissen wird zur privaten Moral außerhalb der politischen Sphäre und damit zu einem Geheimnis, »das als ein solches dem Souverän zwangsläufig entgeht […]. Hier liegt […] der spezifische Einsatzpunkt der Aufklärung.«26 Denn diese Sphäre des Privaten und Innerlichen in Distanz zum politischen Handeln, zum Handeln überhaupt, ist ja nicht nur eine des Rückzugs, sondern auch der kritischen Beobachtung und des Einspruchs. Die Spaltung eröffnet Reflexionsmöglichkeiten, die als politische Meinung über die bloß private und zurückgezogene Kontemplation der Zeitläufe hinausdrängen. »Das Moralische, das danach trachtet, politisch zu werden, wird das große Thema des 18. Jahrhunderts sein«.27 Das eigene Selbst, die Befragung eigener Einstellungen und Haltungen, wird zu einem Kompass, über den das sich formierende Bürgertum im 17. und 18. Jahrhundert seine Identität definiert und sich über eine Abgrenzung zur herrschenden Politik und über die Kritik an deren In-
21 22 23 24 25 26 27
Dies könnte zu einer Erklärung für den »deutschen«, d.h. nicht ohne weiteres übersetzbaren Bildungsbegriff beitragen. Reinhart Koselleck (1973), Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a.M. Ebd., S. 15. Ebd., S. 20. Ebd., S. 29. Ebd. Ebd., S. 31.
4. Grundbegriffe
haltsleere in Gestalt bloß formaler Regularien zu definieren beginnt.28 Dies aber trägt zu einer immer weitergehenden Abtrennung eines »Innenraums der Gesinnung«29 vom Außen der Politik bei; die Verfestigung dieser Spaltung ist der Grund, warum Koselleck seine Studie im Untertitel: »eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt« nennt, denn der beschriebene Prozess spitzt sich seiner Analyse zufolge mehr und mehr und sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein zu. Sein Vorwurf lautet, dass die von den intellektuellen Zirkeln, den sogenannten Gebildeten, vorgetragenen Kritik gleichzeitig eine Einwilligung in die eigene politische Machtlosigkeit ist. Im 20. Jahrhundert kehrt sie wieder als »innere Emigration« und Unfähigkeit zu politischem Engagement gegen den Faschismus. Für das 18. Jahrhundert gilt, dass bei dieser Wendung nach innen die Instanz des Urteilenden selbst, die Umwendung des Blicks weg vom kritisierten Sachverhalt hin zum inneren Resonanzraum des Selbst und dessen Problematisierung in den Vordergrund tritt. Die Diskurse jener Zeit pflegen eine »dualistische Aufspaltung der Welt in einen Bereich der Moral und einen Bereich der Politik«30 , in ein Innen und Außen, die die Welt des Innen als die bessere erscheinen lässt. Erkundung des eigenen Selbst, Arbeit an der Erweiterung des eigenen inneren Raums, an der Entfaltung der subjektiven Möglichkeiten erscheinen als sinnvollere Alternative, als der politischen Kritik gesellschaftliches Handeln folgen zu lassen. All dies vollzieht sich zu einem Zeitpunkt, der von der graduellen Auflösung der politischen Ordnung feudaler Herrschaft und damit der Infragestellung traditioneller Formen der Existenzsicherung bestimmt wird, und gleichzeitig ist auch das christliche Weltbild oder zumindest die Autorität der Kirche von einer schleichenden Erosion betroffen. In allen Schichten besteht ein Bewusstsein, dass nahezu alle Lebensverhältnisse von Veränderungen betroffen sind, und vielleicht ist die Wendung ins Private und Innerliche auch ein Anzeichen einer darauf bezogenen Überforderung. Insofern wird das Schwinden der von einer göttlichen Autorität sanktionierten Ordnungsstrukturen zunehmend von dem Bewusstsein einer zweiten, vom Menschen gemachten Ordnung flankiert. Während die Bürger zunehmend Kritik an der Dysfunktionalität des feudalen Regierungsstils üben, der »Unberechenbarkeit und unstete[n] Willkür höfischer oder lokaler Beamter, Gnade und Ungnade des Herrn und seiner Diener«31 , ersetzen neue ökonomische Strukturen die bisherigen Machtverhältnisse. Die auf Treuebeziehungen und Naturalleistungen beruhenden gegenseitigen Verpflichtungen von Lehnsherren und Vasallen werden von der Konkurrenz prinzipiell ebenbürtiger Gewerbetreibender und der damit einhergehenden Unsicherheit ab-
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Auch Koselleck betont in diesem Zusammenhang die Rolle des Theaters und wie groß seine Bedeutung im 18. Jahrhundert ist, wurde ja bereits anhand der Bildungsromane deutlich. Koselleck betont jedoch besonders einen Aspekt, der den Protagonisten der beiden Romane eher entgeht, nämlich dass »die Kunst als Antipode bestehenden Herrschaft auf[tritt]. Sie ist ein Symptom der geistigen Struktur des 18. Jahrhunderts, die die ganze Welt zur Bühne polarer Kräfte machte« (Ebd., S. 83). Zumindest für Anton Reiser und Wilhelm Meister hat das Theater diese politische Funktion nicht; es dient ihnen vor allem als Bühne für ihre Selbstdarstellung. Ebd., S. 29. Ebd. Max Weber (1956), Wirtschaft und Gesellschaft. Köln, Berlin, S. 817.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
gelöst, der ehemalige Leibeigene wird zum »freien Verkäufer seiner Arbeitskraft«.32 Gegen die Kirche gewendet, gewinnt die Anschauung an Raum, dass nicht »Gott […] Wohlstand und Armut [gibt], sondern beides hängt vom Menschen selbst ab.«33 Auch diese so unmittelbar in die Lebensgestaltung des Einzelnen eingreifende Auflösung der traditionellen Ordnung wirkt daran mit, dass die Rückwendung auf das eigene, denkende Selbst oft als der einzige Anker erscheint. Das Selbstverhältnis der Individuen hängt nun davon ab, wie sie sich zur Produktion neuen Wissens in Beziehung setzen, welche Bedeutung sie ihm verleihen. Neue Instrumente und Apparate, flankiert von Experimenten, in denen sie zum Einsatz kommen, bewirken, dass nunmehr der Mensch es ist, der »die Phänomene produziert und bereitstellt, die man zu beobachten wünscht.«34 Wenn aber immer häufiger Phänomene des Neuen, Ungesehenen, Ungedachten den Alltag bestimmen, müssen sich die Zeugen dieses Prozesses der Aufgabe stellen, selbst die Bedeutung dieser Phänomene zu bestimmen und in einen Zusammenhang zu bringen. Zentral sei die Erfahrung, so Hannah Arendt in ihrer Untersuchung »Vita activa«, dies selbst hervorzubringen und so auf eine veränderte Weise in der Außenwelt auf sich selbst zu stoßen. »Anstatt mit objektiven Eigenschaften […] finden wir uns mit den von uns erbauten Apparaten konfrontiert«35 und diese neue apparatevermittelte Sicht auf die Dinge bedeute insofern einen Bruch mit dem bisherigen Weltbild, als der Apparatebauer selbst in den Blick gerät. Bis dahin war man davon ausgegangen, dass alle menschliche Erkenntnis mehr oder weniger ein getreues Abbild einer vorgefundenen, auf den übergeordneten Gesetzen des Kosmos beruhenden Ordnung ist. Kants auf den ersten Blick provokative Formulierung, dass man zwar immer angenommen habe, die »Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten«, weiter käme man aber, würde man davon ausgehen, dass »die Gegenstände… sich nach unserer Erkenntnis richten« müssen36 , ist nur eine genaue Beschreibung dieser neuen Position, als Erfinder neuer Apparate und Instrumente aufzutreten, angefangen beim Fernrohr. Insofern die Ergebnisse aller Messungen von der Genauigkeit bei der Konstruktion des Verfahrens- und Auswertungsschritte abhängen, wird der Messende selber zum wichtigsten Messinstrument. Er ist Beobachter und insofern in einer herausgehobenen Position, die direkte Interaktionen mit dem Ausschnitt der Welt ausschließt, den er beforscht. Insofern er aber auch Konstrukteur dieser Versuchsanordnung ist, muss er sich selbst beobachten, um die Angemessenheit und Genauigkeit der eigenen Verfahrensschritte sicherzustellen. Sie müssen seiner strikten Kontrolle unterworfen werden und damit muss er sich selbst der Kontrolle unterwerfen: Als Beobachter wird er zum Beobachter seiner selbst. Diese Aufwertung des Selbst als Instanz, die Wissen und zielgenaues Handeln
32 33 34 35 36
Karl Marx (1968), Das Kapital, Bd. 1. Berlin, S. 743. Bernhard Groethuysen (1978), Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, 2 Bde., Bd. 2. Frankfurt a.M., S. 104. Hannah Arendt (1992), Vita activa oder vom tätigen Leben. München, Zürich, S. 288. Ebd., S. 255. Immanuel Kant (1975), Kritik der reinen Vernunft. Werke in zehn Bänden, hg. von W. Weischedel, Bd. 3. Darmstadt, S. 25/B XVI.
4. Grundbegriffe
verbürgt, mischt sich insofern auf eine merkwürdig verschlungene Weise mit Imperativen der Selbsterforschung, Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung, und zwar so, dass sie sich direkt auf die alltägliche Lebenspraxis auswirken. Dieser kritische Blick auf die eigenen Voraussetzungen macht das Selbst zum Objekt anstatt wie vorher Rückzugsort und Anker zu sein. Mit den rasanten Veränderungen der Gegenstandserkenntnis entsteht ein verändertes Bewusstsein des eigenen Selbst, das in ein immer erst zu entwickelndes Verhältnis zu dieser schwer zu bestimmenden und sich verändernden Welt neuen Wissens gesetzt werden muss. Sich selbst zu verändern wird parallel zu dem neuen Wissenszuwachs in Bezug auf die äußere Welt zur Aufgabe; sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Selbstreflexionen des späten 18. Jahrhunderts und findet ihren Ausdruck im Begriff der Bildung, diesem »neuen Ankömmling in unserer Sprache«, wie Moses Mendelsohn 1784 formuliert.37 Bildung als Selbstgestaltung und Selbstbearbeitung wird zur zentralen Aufgabe eines jeden Einzelnen erklärt. Diesen zweiten Aspekt des Selbst, nämlich nicht nur als Selbstständigkeit Voraussetzung für die Steigerung persönlicher Freiheiten zu sein, sondern zunehmend zum Objekt der Kontrolle und zur Selbstunterwerfung zu werden, hat Max Weber als die »Anpassung der Menschen an die Voraussetzungen geordneter, bürgerlich-kapitalistischer Wirtschaft«38 bezeichnet. Sie steht im Dienst seiner autonomen Entscheidungsfähigkeit und nicht in erster Linie der Steigerung fremder übergeordneter Herrschaftsstrukturen. Die Formen der Selbstständigkeit, auf die Weber bei der Untersuchung der von feudalen Herrschaftsverhältnissen befreiten Bürger stößt, verlangen eine methodisch-rationale Lebensführung, z.B. in Gestalt von Pflichterfüllung, Verzichtbereitschaft, gesteigerten Arbeitsleistungen und Sparsamkeit, kurz: eine »innerweltlichen Askese« und dazu eine Versachlichung der Beziehungen zu anderen Menschen. Dies alles erfordert Triebverzicht und Selbstkontrolle und damit die Problematisierung all jener Regungen des eigenen Selbst, die auf einfache Bedürfnisbefriedigung hoffen. »Ein waches, bewusstes, helles Leben führen zu können, war […] das Ziel – die Vernichtung der Unbefangenheit des triebhaften Lebensgenusses die dringendste Aufgabe –, Ordnung in die Lebensführung derer, die ihr anhängen, zu bringen, das wichtigste Mittel der Askese«39 . Eine verstärkte Rückwendung auf sich selbst, Selbstprüfung, Selbsterforschung und Selbstproblematisierung werden unter diesem Vorzeichen zum Normalfall des Selbstbezugs. Hinzu kommt ein Drittes: Zu einer weiteren Quelle der Rückwendung auf sich selbst werden all jene Konflikte, die aus der unterschiedlichen Rationalität der ökonomischen und der religiösen Sphäre für den Einzelnen entstehen. Beide konfrontieren das Individuum mit höchst unterschiedlichen Ansprüchen. Gewinnstreben auf der einen steht neben Askeseforderungen auf der anderen Seite und diese verschiedenen Ansprüche müssen vom Einzelnen in Gestalt einsamer Gewissensprüfung und Selbsterforschung
37 38 39
Ernst Lichtenstein (1971), Artikel »Bildung«, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Darmstadt, Sp. 921-937, hier Sp. 921. M. Weber (1975), Die protestantische Ethik I, hg. von J. Winckelmann, Hamburg, S. 49. Ebd., S. 135/6.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
austariert werden. Ein Zeugnis davon legen die in diesem Zusammenhang entstehenden religiösen Tagebücher ab, die quasi Rechenschaftsberichte der eigenen Selbstprüfung sind. In ihnen werden »Sünden, Anfechtungen und die in der Gnade gemachten Fortschritte fortlaufend oder auch tabellarisch eingetragen«40 . Der reformierte Christ fühle sich mit ihrer Hilfe sozusagen beständig selbst den Puls, so Weber41 . Die Bildungsromane von Moritz und Goethe legen davon Zeugnis ab, sie zeugen aber auch von Versuchen des Ausbruchs aus diesem Regime, und in beiden Fällen misslingt dies weitgehend. Weber hebt »das Gefühl einer unerhörten, inneren Vereinsamung«42 hervor, deren Entstehung er auf eine ausgeprägte Berufsorientierung, die familiäre Bindungen überlagert, zurück, hinzu komme die Unterwerfung unter Ratschlüsse Gottes, die »jedem menschlichen Verständnis entzogen« sind.43 Das Individuum versuche diese Situation abzumildern, indem es sein Leben aller »Plan- und Systemlosigkeit entkleidet«44 und »ein durch konstante Reflexion geleitetes Leben«45 führt. Durch Selbsterforschung versuche es die zum Teil unvereinbaren Aufgaben zu lösen, welche die Forderungen ökonomischen Erfolgs, persönlichen Loyalitäten und religiösen Gehorsams stellen. Traditionelle Normen der Lebensführung bieten dafür kaum noch eine Richtschnur, nur im eigenen Selbst lässt sich Orientierung finden. Man muss davon ausgehen, dass jenes Gefühl innerer Vereinsamung, von dem Max Weber spricht, eine allgemein verbreitete Stimmung war, die auf der Auseinanderentwicklung der gesellschaftlichen Sphären beruhte: Die Unterschiede von Berufs- und Privatleben, Forderungen der Zweckrationalität einerseits und affektiven Bedürfnissen auf der anderen Seite bestimmten den Erfahrungshaushalt. Die zunehmende Eigengesetzlichkeit der verschiedenen Lebensordnungen und Rationalitätssphären bedeuteten in der Regel, dass das einzelne Individuum mit Ansprüchen konfrontiert war, die unvereinbar waren. Der einzige Ausweg war, sich auf sich selbst zu besinnen und um in solchen Konflikten nicht unterzugehen, war es gefordert die eigene Position zu klären und Rechenschaft vor sich abzulegen. Das eigene Selbst wurde zum wichtigsten Bezugspunkt in den einsamen Versuchen des Ich, sich ein Bewusstsein seiner widersprüchlichen Bedürfnisse, Interessen, Rollen, Handlungszwänge und Verantwortungen zu verschaffen. Daraus resultiert etwa seit dem 16. Jahrhundert die Entstehung von Begriffen, die »mit dem […] Pronomen ›selbst‹ gebildet werden. So entstehen z.B. ›Selbststand‹, ›Selbstständigkeit‹, ›Selbstbetrug‹ oder ›Selbstbildnis‹. Im 18. Jahrhundert kommen ›Selbsterkenntnis‹, ›Selbstliebe‹, ›Selbstsucht‹, ›Selbstbeherrschung‹, ›Selbstbesitz‹, ›Selbstdenken‹ und viele andere Wortbildungen dieser Art hinzu.«46 Das Selbst als Fremdes und Rätsel, als zu bearbeitendes Chaos, als Gesprächspartner und innere Einspruchsinstanz, als inneres Ausland, dessen Abkömmlinge eine schwer verständliche Sprache sprechen oder gleich ganz unterworfen werden müssen – allen diesen 40 41 42 43 44 45 46
Ebd., S. 139. Ebd. Ebd. Ebd., S. 122. Ebd., S. 134. Ebd. Volker Gerhardt (1995), Artikel »Selbstbestimmung«, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9. Darmstadt, Sp. 335-346, hier Sp. 335.
4. Grundbegriffe
Bedeutungen liegt die Vorstellung eines Selbst zugrunde, das sich nicht völlig in die Vielfalt der Tätigkeiten und wechselnden Anforderungen auflöst, sondern sich als von ihnen unterschiedene Instanz wahrnehmen lässt.
4.2
Subjekt
Ende des 18. Jahrhunderts verlagert sich der Wortgebrauch von »Bildung« als einem anderen Wort für Gestalt hin zur Bezeichnung von Prozessen der Gestaltung und insbesondere hin zur Entfaltung der eigenen Individualität. Zuvor hatte dieser Begriff vor allem die physische Erscheinung bezeichnet, etwas Statisches, aber keinen Vorgang. Nun verlagerte sich die Aufmerksamkeit auf das Unabgeschlossene. »Denn eigentlich sind wir im Werden« fasst W. v. Humboldt dieses Lebensgefühl in einem Brief an Körner zusammen.47 Selbstreflexion soll diesen Prozess anleiten; Wissen über die Welt und Selbstbezug sollen miteinander verschränkt werden: In Lektüre, Studien und auf Reisen soll der Blick auf sich selbst geschärft, die Zusammenhänge, in denen das Ich steht, geklärt, durch neues Wissen Selbstveränderung bewirkt werden. Bei näherem Hinsehen erscheinen diese Vorstellungen von Selbstentfaltung wie lebensweltlich gewendete Entsprechungen zur gleichzeitig entwickelten Subjektphilosophie, denn auch hier steht das Ich mit seiner Handlungsfähigkeit und seinem Wissen, seiner Fähigkeit zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung im Mittelpunkt. Analog zur subjektiven Wende der Philosophie wird auch dem empirischen Menschen die Aufgabe zugemessen, sich als Subjekt, nämlich als Urheber des eigenen Entfaltungsprozesses zu konstituieren. Die Familienähnlichkeiten zwischen dem Subjekt der Transzendentalphilosophie und den Entwürfen eines Subjekts der Bildungstheorien sind unübersehbar: Was erkenntnistheoretisch dazu dient, die internen Prozeduren der Erkenntnis zu rekonstruieren, verdichtet sich bildungstheoretisch zu einem normativen Menschenbild, das der Reflexivität, dem Denken und Wissen Vorrang einräumt. So, wie Kant fordert, dass Selbstbezug alle Gegenstandserkenntnis begleiten müsse, kreisen zeitgenössische Bildungstheorien um die selbstreflexive Wende des Ich; seine Analyse der Erkenntnistätigkeit findet eine Entsprechung in Humboldts Fundierung von Bildung im Bedürfnis, »vor sich selbst verständlich […] zu werden«48 . Insofern wird Subjektivität im 18. Jahrhundert auf zweierlei Weise zum Thema: Als die des einzelnen Individuums in seiner Besonderheit, das Prozesse der Enttraditionalisierung, Vereinzelung und Selbstproblematisierung durchläuft und dabei sich aufgefordert sieht, aktiver Gestalter der eigenen Biographie mithilfe individueller Bildungsprozesse zu werden, und andererseits wird das Subjekt als überindividuelle Instanz entworfen, die ein allen Menschen gemeinsames, kulturell invariantes Allgemeines verwirklicht – und zwar in Gestalt seiner Vernunft, ihrer Produktivität und Autonomie. An die Stelle einer an sich seienden Ordnung der Dinge tritt das Subjekt, das diese
47 48
W. v. Humboldt (1981), An Chr. G. Körner: Zur philosophischen Geschichte der Menschheit. Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. V. Darmstadt, S. 171-174, hier S. 174. W. v. Humboldt (1960), Theorie der Bildung des Menschen, Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. I. Darmstadt, S. 234-240, hier S. 235.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Ordnung begründet – und zwar durch sein Denken. Dies ist Thema der Erkenntnistheorie, aber analog zu dieser subjektiven Wende der Philosophie wird auch dem empirischen Menschen die Aufgabe zugemessen, sich als Subjekt – und das heißt nun als Urheber des eigenen Entfaltungsprozesses – zu konstituieren. Vorstellungen von Freiheit, Selbstbestimmung, Rationalität, verändern unter bildungstheoretischem Vorzeichen ihren Sinn und werden zur normativen Forderung. Dieser Statuswandel wurde umso undurchschaubarer, als er mit Idealen aufgeladen wurde, die ganz anderen Quellen entstammten, vor allem der von Winkelmann angeleiteten Antike-Rezeption. Unter deren Eindruck wurden Ideale von Einheit, Ganzheit und Harmonie den Freiheitsvorstellungen angefügt, aber sie wirkten wie ein beschränkender Zusatz und sollten wohl vor allem vor den drohenden Entregelungen der Moderne schützen.49 Im Rückblick wird deutlich, dass sich Kants Erkenntnissubjekt zwar als allgemeiner, alle Menschen gleichermaßen repräsentierender Protagonist versteht, aber tatsächlich eine neue Ordnung repräsentiert, deren Exponenten die Angehörigen des Bürgertums sind. Eine neue Gesellschaft als Herrschaftsform zu errichten, die den Feudalismus und Absolutismus ablösen soll, bedeutete die Etablierung anderer Spielregeln des diskursiven Austauschs, neuer Formen der Artikulation des eigenen Selbst und damit neue Ansprüche an die einzelne Person. Der feudale Herrscher war Gott untertan gewesen und hatte dies auf Schritt und Tritt bezeugt; nun soll jeder und jede sich selbst als Ausgangspunkt von Handeln und Veränderung begreifen. Der Subjektbegriff der Erkenntnistheorie ist Ausdruck dieser neuen Perspektive. Nicht die Welt in ihrer Gottgegebenheit, sondern das Ich, das ihre Zusammenhänge erkennt, steht im Zentrum. Dieses Ich spricht nicht eine in den Dingen liegende Wahrheit aus, sondern stellt diese her. In »den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens« liege die Möglichkeit, »der Natur gleichsam das Gesetz vorzuschreiben und sie gar möglich zu machen.«50 Der einzige der hier vorgestellten Theoretiker, der um 1800 diesen Herrschaftsaspekt mitbedenkt, ist Hegel. Bei ihm heißt Bildung Arbeit an der eigenen, persönlichen und sozialen Identität nach dem Einsturz der überlieferten feudalen Herrschaftsform, und solche Bildungsprozesse erscheinen als einzige Möglichkeit, um die damit verknüpften, neu sich stellenden Aufgaben zu bewältigen. Er verdeutlicht diese Vorgänge
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Alfred Schäfer hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese Eigenschaften ihre normative Kraft in großen Teilen bis jetzt aufrechterhalten haben. Sie finden sich nicht nur in bildungstheoretischen Konzepten, sondern bestimmen die alltägliche Selbstwahrnehmung der Individuen. »Individuen in westlichen Gesellschaften verstehen sich als selbstbestimmt, authentisch usw., und das kann man ja wohl von ihnen erwarten.« (A. Schäfer (2011), Das Versprechen der Bildung, Paderborn u.a., S. 14) Die eigene Entscheidung wird als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. »Man wird erwarten können, dass jemand seine Biographie als schwierigen Prozess der Selbstfindung beschreibt, dass Menschen, wenn man sie hinsichtlich ihres Lebenswandels befragt, auf das Recht der Selbstbestimmung pochen, dass Jugendliche hinsichtlich ihres Musik- oder Modegeschmacks auf authentischen Selbstausdruck verweisen.« (Ebd., S. 13) Entkleidet vom Pathos der Freiheit und Selbstgesetzgebung sind dies nur relative Ansprüche. »Selbstbestimmung, Authentizität, Individualität – solche Konzepte verweisen darauf, dass bei aller sozialen Eingebundenheit dennoch Freiräume postuliert werden können, die als solche von anderen zu akzeptieren sind.« (Ebd., S. 14) I. Kant (1975), Kritik der reinen Vernunft, Werke in zehn Bänden, Bd. 3, hg. v. W. Weischedel. Darmstadt, S. 153/54 (B 159/60).
4. Grundbegriffe
anhand der emblematischen Figur eines »Vasallen«, der als treuer Diener des Feudalismus, aber auch als Profiteur dieser Machtstrukturen erlebt, dass sie hinfällig werden und sich auflösen, was ihn zu einer Neubestimmung seiner eigenen Position zwingt.51 Der Zusammenbruch der alten Herrschaftsform hatte sich als langfristiger und quälender Delegitimierungsprozess angekündigt, aber nun, da er vollzogen ist, kann ihm, dem einstigen Vasallen, keiner sagen, wer er ist und wie er leben soll. Denn mit den tradierten Machstrukturen sind auch alle glaubwürdigen Autoritäten verschwunden und sogar das Konzept der Autorität steht selbst in Frage – einschließlich einer überlieferten und Orientierung gebenden »Sittlichkeit«. Dem Vasallen ist der gesellschaftliche Boden entzogen; das entstandene Vakuum könnte allenfalls durch Selbstvergewisserung der eigenen Identität gefüllt werden, aber diese Identität ist selbst ein Produkt der alten Ordnung, ebenso die Kategorien, darüber nachzudenken. Deshalb ist für Hegel die »Sprache der Zerrissenheit […] die vollkommene Sprache und der wahre existierende Geist dieser ganzen Welt der Bildung.«52 Daraus erwächst die Nötigung sich neu erfinden zu müssen, dies aber sei möglich aufgrund jenes Vernunftprinzips, das jeder in sich vorfinde. Es eröffne die Freiheit, diesen Prozess selbst zu gestalten. Bildung heißt unter dieser Perspektive, als Akteur einer neuen Herrschaftsformation aufzutreten, die das Vernunftsubjekt ins Zentrum stellt. Dabei wird der Subjektbegriff lange Zeit ausschließlich im Sinne selbstbewusster Autorschaft verwendet: als autonome Urheberschaft, Ausgangspunkt von Zuschreibungen, Ursprung von Handlungen, und gerade die Kontextlosigkeit des philosophischen Subjektbegriffs sichert diesen Allgemeinheitsanspruch ab. Wenn der Bildungsbegriff des 18. Jahrhunderts dem Modell der Subjekttheorien der Philosophie nachgebildet ist, erfordert dies einen kurzen Exkurs zu den Merkmalen dieses Subjekts. Denn der Mittelpunktstellung des Erkenntnissubjekts als weltkonstituierender Instanz entspricht die Rolle des Bildungssubjekts, dem alle Gegenstände der Welt zum Material werden, um »die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Wert und Dauer verschaffen« zu können, wie W. v. Humboldt in einer zentralen Reflexion zusammenfasst.53 Was in der Philosophie des 18. Jahrhunderts formuliert wird, muss als tiefgreifende Reorganisation des Wissens verstanden werden. Gebunden ist dies an einen Positionswechsel des Ich. Es repräsentiert nun nicht mehr die Einzelnen als Teil der Welt und ihrer Ordnung, vielmehr sind sie nun zu Produzenten des Wissens über diese Welt aufgestiegen, und dies ermöglicht die Verfügung über sie. Subjekt sein bedeutet, dass alles andere zum Objekt wird; dies aber zieht die Frage nach sich, wie verlässliche Erkenntnis möglich ist, denn sie ist die Voraussetzung für die Verwandlung der Dinge in Objekte der Naturbeherrschung. Das Subjekt transformiert die Gegenstandswelt in eine Reihe von wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisordnungen mit dem Ziel der Nutzbarmachung der Dinge. Entsprechend wird das Erkenntnissubjekt allein aus diesen Funktionsnotwendigkeiten entworfen.
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G.W.F. Hegel (1986), Phänomenologie des Geistes. Werke in zwanzig Bänden, Red. E. Moldenhauer und K.M. Michel, Bd. 3, Kapitel VI B: Der sich entfremdete Geist. Die Bildung. Frankfurt a.M. Hegel, a.a.O., S. 384. W. v. Humboldt, a.a.O., S. 235.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Als Antwort auf die Frage nach gesicherter Erkenntnis ist es zunächst notwendig, dieses Ich von der empirischen Person abzulösen; es ist nur logische Instanz, ein die Vielfalt der Wahrnehmungen vereinheitlichendes Zentrum. Es liegt allen Vorstellungen von Dingen in der Außenwelt voraus und vereinigt in sich die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis: Das ›subiectum‹, das aller Erkenntnis Zugrundeliegende, ist logischer Ort, Urheber, aber als Voraussetzung Akteur ein bloßes »X« und der Ordnung der Erkenntnis unterworfen. Es verliert den Status eines identifizierbaren Ichs, das Gründe angeben, Verantwortung übernehmen, Antwort geben kann, und wird ein Ich, das ebenso gut »Er, oder Es (das Ding), welches denkt, […] = x« heißen könnte.54 Jedoch weiß Kant, dass Gegenstandsbezug und Selbstbezug nicht voneinander zu trennen sind. Ein Bewusstsein seiner selbst, so Kant, sei Bedingung allen auf ein Außen gerichteten Denkens, der Selbstbezug Voraussetzung für konsistente Aussagen. Diese Konstanz sieht er gegeben, wenn das Subjekt im Hintergrund seines Nachdenkens über die Außenwelt zugleich »die Vorstellung Ich denke hervorbringt«55 . Träfe das Subjekt in sich eine solche Identität nicht an und würde es stattdessen in sich auf ein »vielfärbiges verschiedenes Selbst«56 stoßen, so könnte es nichts über Zusammenhänge in der Objektwelt aussagen, da es auf der Zeitachse zu Vergleichen gar nicht fähig wäre. In dieser Funktion der Objekterkenntnis ist es sich selbst jedoch nur als ein von allen Bestimmungen leeres »Ich denke« präsent, eine Vorstellung ohne die Objekterkenntnis störenden Inhalt. Zwar ist es zeitlich und »numerisch« identisch, aber eine auf die Einheit seines Denkens reduzierte leere Präsenz. Wenn sich das Subjekt auf sich selbst zurückwendet, so findet es in sich – und zwar nicht anders als in seinem Bezug auf äußere Dinge – ein Vorstellungsmaterial, das es seinen Ordnungsmustern unterwirft und damit zugleich auch verfehlt: Was dieses Selbst ist, bleibt wie das Ding an sich unerkannt. Insofern entspricht der Aufwertung des Ich zur weltkonstituierenden Instanz seine Abwertung in qualitativer Hinsicht. Unter dem Namen des Subjekts wird es reduziert auf seine Leistung, und die besteht in der Transformation der Dinge in Objekte der Verfügung und Nutzbarmachung. Das Kantische Erkenntnissubjekt steht geradezu paradigmatisch für eine technologische Rationalität, die zu diesem Zeitpunkt erst Konturen bekommt. Seine wichtigste Eigenschaft ist es, der Ausgangspunkt aller Aktivität zu sein, und als solches ist es mit den Insignien der Souveränität ausgestattet: Es ist Ursprung allen Wissens, autonom in seinem Denken, es erhebt den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit seiner Erkenntnisse. Um diesen Status eines Produzenten valider Erkenntnisse heraus zu präparieren, werden Reduktionen vorgenommen: Situative Bedingungen, Leib, Empfindungen, Interessen und Bedürfnisse müssen außer Betracht bleiben. »Der Begriff des Menschlichen hat in diesem Felde keinen fassbaren Sinn«57 , denn es ist bloßer Funktionsträger. Da es sich nur um die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis handeln soll, ist sie auf dieser Stufe »schlechterdings von aller Erfahrung unabhän-
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I. Kant (1975), Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 344/B 405. Ebd., S. 136/B 132. Ebd., S. 137/B 134. Richard Kroner (1921), Von Kant bis Hegel, Bd. I. Tübingen, S. 115.
4. Grundbegriffe
gig«58 , und damit unterliegt ein solches Möglichkeitssubjekt auch keinen situativen und damit wechselnden Einflüssen.59 Den Prozessen der Objektivierung der Gegenstandswelt entspricht eine Subjektivierung, die das Ich auf die Funktion, Produzent gesicherter Erkenntnis zu sein, reduziert. Vor die Aufgabe gestellt, die Bedingungen zuverlässiger Objekterkenntnis zu entwickeln, wird nur derjenige Ausschnitt des Ich thematisiert, der dies übernimmt, das Denken. Es fasst die Welt nicht passiv auf, sondern stellt zwischen den wahrgenommenen Dingen Verbindungen her, ordnet sie in Gestalt von Unterscheidungen und Zusammenhängen. Diese Spontaneität des Verstandes als Fähigkeit, Verbindungen zwischen Dingen herzustellen, ist etwas, das »nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann«60 . Die von Kant analysierten Ordnungsmuster sind nicht in der Welt, sondern werden ihr vom Subjekt zugeschrieben; die Produktivität dieser subjektiven Leistungen schießt dabei aber in gewisser Weise über das, was dem Subjekt von außen gegeben ist, hinaus: Denn die Gegenstandswelt ist zunächst nur als »das Mannigfaltige«, als Chaos der verschiedenartigen Dinge gegeben, aber vom Subjekt werden Verbindungen dadurch hergestellt, dass es diese Vielheit den Ordnungsprinzipien seines Verstandes unterwirft. Den Wahrnehmungen, die ein Subjekt in der empirischen Welt macht, vorausliegend und diesen vielmehr erst ihre Form gebend, soll dieses Apriori der Erkenntnisformen die Einheitlichkeit, Unwandelbarkeit und innere Stimmigkeit der Erkenntnisse verbürgen. Besonderen Nachdruck legt Kant insofern darauf, jene Merkmale herauszuarbeiten, die eine Unterscheidung zwischen Rezeptivität und Spontaneität ermöglichen, also zwischen all jenen Anteilen einer Vorstellung, die von außen verursacht und jenen, die vom Subjekt selbst hervorgebracht werden. Damit wird noch einmal bekräftigt, dass die Ordnung in der Gegenstandswelt vom Subjekt erzeugt wird, die diese Gegenstände einer sonst in der Welt gar nicht vorfindlichen Vereinheitlichung unterwirft. Auf dieser Spontaneität beruht die Autonomie des Subjekts. Zusammenhänge und Verknüpfungen herzustellen zwischen Wahrnehmungen ist »ein Actus seiner Selbsttätigkeit«61 , zu dem das Subjekt aufgrund der formalen, von aller Außenwelt unabhängigen Eigenschaften seiner Verstandestätigkeit in der Lage ist. Sie richtet sich aus an logischen Strukturen, die im Subjekt ihre Quelle haben und den Erfahrungen Gestalt geben, da sie ihnen als Anschauungsformen und Kategorien vorgeordnet sind. Aufgrund dessen kann das von Kant entworfene Vernunftsubjekt beanspruchen, »aus und durch sich selbst zu subsistieren, ohne sich durch seinen Bezug auf ein Außen, ein gesetzgebendes Anderes verändern zu lassen.«62 Es sind große Hoffnungen, die sich an diese Konzeption knüpfen: die auf Freiheit und nahezu unbegrenzte Gestaltungsmöglichkeit der umgebenden Welt. 58 59
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I. Kant, ebd., S. 46/B 3. Es sind logische Gründe, die dies gebieten: »Man wird zugestehen, dass das Subjekt, das die Welt der Erscheinungen konstituiert, nicht selbst eine Erscheinung sein kann« (Jacob Rogozinski (1988), Der Aufruf des Fremden. Kant und die Frage nach dem Subjekt. In: Manfred Frank/Gérard Raulet/Willem van Reijen (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt. Frankfurt a.M., S. 192-229, hier S. 196. I. Kant, ebd., 135/B 130. Ebd. J. Rogozinski, ebd., S. 203.
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In den gleichzeitig formulierten Bildungstheorien der Zeit findet sich dieses aktive, sich über seine Selbsttätigkeit definierende Subjekt als Ich wieder, das die Welt neu ordnet, Verbindungen herstellt, Unterscheidungen und Zusammenhängen formuliert. Über seine Bildungsprozesse erzeugt es sich selbst und wird »zum selbstermächtigenden, selbstverfügenden, selbsttransparenten, selbstbestimmten, selbsttätigen, selbstverwirklichenden und selbstreflexiven Subjekt«63 . Pädagogik wird mit der Aufgabe betraut, die Ermöglichungsbedingungen dafür zu entwickeln. Das Ich, das dafür Modell steht, trägt in seinen Eigenschaften der Vernunftfähigkeit, Spontaneität und Selbsttätigkeit die Merkmale des Erkenntnissubjekts. Es wird von der Philosophie des 18. Jahrhunderts als »reines« Ich entworfen, und insofern stellt sich dabei nicht die Frage nach den Realisierungschancen dieses Fähigkeitskatalogs: Das Ich der Erkenntnistheorie ist ein Denkmodell. Überträgt man dessen Eigenschaften aber auf empirische Individuen, so übersetzt sich das Selbst- und Weltverhältnis des abstrakten Modellsubjekts in konkrete Forderungen: Es soll sich nun auf neue Weise begreifen, es soll sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen bedienen, es soll sich selbst als eine Person hervorbringen, die den Mut hat, sich auf nichts als die eigene Vernunft zu verlassen, alle anderen Regungen der Kontrolle zu unterwerfen und dies als Prozess stetiger Zunahme an Selbstbestimmung begreifen. Mit dieser Übersetzung subjektphilosophischer Prämissen in bildungstheoretische Entwürfe wurden weitere Voraussetzungen übernommen, die unter diesem Vorzeichen als so selbstverständlich erschienen, dass deren Problematisierung nicht nötig erschien, allen voran die Vorstellung, dass Bildungsprozesse die eines einzelnen, isolierten Ichs seien, das abgetrennt von der Welt ihr gegenübersteht, sie sich aneignet und zu seinem Material macht. Über diese Erfahrungen wird es zum Individuum, zu etwas Einzigartigem, das diese Einzigartigkeit durch seine vielfältigen Kenntnisse, sein Urteilsvermögen, seine Reflexionsfähigkeit und seine Distanz zur Welt selbst herstellt. Beispielhaft wird dieses Selbst- und Weltverhältnis deutlich, wenn Wilhelm von Humboldt auch da noch, wo er die Bedeutung des Dialogischen betont, dies als Vorgang formuliert, bei dem »einer den Reichtum des anderen sich eigen« macht64 . Die andere Person erscheint nur als Quelle für die Entfaltung des Ich. Die Subjekt-Objekt-Spaltung der Erkenntnistheorie kehrt schließlich auch in einem Bildungsverständnis wieder, das Selbstbezug als Prozess kontinuierlicher Selbststeigerung versteht: Der Einzelne macht sich zum Objekt seiner selbst, zum Objekt seiner Selbstreflexionen, seiner Arbeit an sich selbst, seiner kritischen Beurteilung. Angesichts dieser nachdrücklichen Betonung der Autonomie und Souveränität des Subjekts wirkt es zunächst rätselhaft, dass das hypokeimenon des Altgriechischen und das subiectum des Lateinischen nicht nur das aller Erkenntnis Zugrundeliegende sind,
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Ulrich Binder (2009), Das Subjekt der Pädagogik. Die Pädagogik des Subjekts. Das Subjektdenken der theoretischen und der praktischen Pädagogik im Spiegel ihrer Zeitschriften. Bern, Stuttgart, Wien, S. 565. Auch noch für den Zeitraum von 1970 bis 2005 entdeckt Binder in den von ihm untersuchten pädagogischen Periodika »eine pädagogische Theorie des Subjekts, die aus einem Konglomerat an subjektphilosophischen Versatzstücken gebildet wird« (a.a.O., S. 246). W. v. Humboldt (1960), Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, a.a.O., Bd. I. Darmstadt, S. 56-233, hier S. 65.
4. Grundbegriffe
sondern auch das Unterworfene. Anders als im Deutschen bleibt diese Ambivalenz im Französischen und Englischen bis in die heutige Alltagssprache hinein erhalten und deutet auf eine Komplikation im Subjektstatus selbst: Das französische »sujet« und das englische »subject« kann sowohl die hervorbringende Instanz als auch Gegenstand einer Wahrnehmung, einer Rede oder einer ästhetischen Produktion sein. Der Wortgebrauch von »subject« im Sinne von Untertan oder Gegenstand (z.B. eines Gesprächs) findet sich im Englischen häufiger als der emphatische Subjektbegriff, und auch das französische »sujet« ist in erster Linie eine »personne soumise à une autorité souveraine«.65 Vollends bei den Wörtern »assujettissement« und »subjectivation« geht es um Unterwerfung. Insofern ist es für M. Foucault naheliegend, diesen Doppelsinn zum Ausgangspunkt einer Reihe von Studien zu machen, die dem inneren Zusammenhang beider Bedeutungen unter dem Titel der Subjektivierung nachgehen. Geleitet werden seine Untersuchungen von der Überzeugung, dass beide Wortbedeutungen Aspekte derselben Sache sind: Die Macht des souveränen Subjekts beruhe auf Ordnungsmustern, an deren produktiver Kraft es partizipiert, indem es sich ihr unterwirft, die es aber nicht durchschaut. Zum Subjekt, so meint Foucault in den Schriften im Umkreis von »Überwachen und Strafen«, wird es durch Bildungsprozesse, die letztlich Prozesse heteronomer Formierung sind, die es aber an sich selbst vollstreckt.66 Die auktoriale Verfügungsmacht des Erkenntnissubjekts kantischer Prägung lässt diesen Doppelsinn und damit die Frage nach den Kosten dieser Ermächtigung nicht aufkommen; das transzendentale Subjekt als Repräsentant einer als rein gedachten Vernunft wirft sozusagen keinen Schatten. Regungen, die dem Modus dieses idealen Akteurs nicht entsprechen, bleiben von vornherein außer Betracht. Erst wenn der Kontext der Erkenntnisakte in den Blick geriete, würde deutlich, dass sie ihrerseits einer Logik unterworfen sind, die ihre auktoriale Macht einschränkt: zum Beispiel durch die Präformationen der Sprache, der historischen Bedingungen, des Eigensinns des Leibs und der Funktionsweisen des Gehirns. Dieser Doppelsinn der Subjektivierung kehrt auch wieder im Selbstverhältnis des Ichs. Zwar ist es seine Aufgabe, die Gegenstände einer funktionalen Logik zu unterwerfen und sie zu Objekten der Verfügungsgewalt, des Eingriffs, der Aneignung und Herrschaft zu machen. Aber diese Ausübung von Herrschaft beschränkt sich nicht auf Gegenstände in der Außenwelt, sondern erstreckt sich auch auf das eigene Selbst. Herrschaft über die äußere Natur setzt Herrschaft über die innere voraus in Gestalt einer
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Le petit Robert, Dictionaire de la Langue Francaise (1996), Paris, p. 2166/67. Dem liegt ein sprachgeschichtlicher Positionswechsel von »Objekt« und »Subjekt« am Ausgang des Mittelalters zugrunde. Fritz Mauthner bietet dafür einen Erklärungsansatz an: »Eine Geschichte dieser auffallenden Begriffsvertauschung [… würde] das überraschende Ergebnis haben […], dass diese Vertauschung nicht etwa mit dem Bewusstsein einer Umkehrung vorgenommen wurde, dass vielmehr das Wort objectum bis gegen Mitte des 18. Jahrhunderts langsam in die Bedeutung des Außendings, das Wort subjectum ebenso langsam in die Bedeutung einer die Dinge wahrnehmenden Person hinüberglitt«, ein Prozess, der in der Scholastik begann. Hier bereits bahnte sich die Einsicht an, dass alles, »was wir bisher […] als das allein Wahrnehmbare mit dem Worte subjectum bezeichnet haben, […] im Grunde nur in unserm eigenen Ich vorhanden« ist. (Fritz Mauthner (1980), Artikel »objektiv (subjektiv).« Wörterbuch der Philosophie, Bd. II. Zürich, S. 174-181, hier S. 174/5).
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Selbstdisziplinierung, die methodisches Handeln, Genauigkeit, das Einhalten von Regeln ermöglicht, und dies setzt Selbstkontrolle, Selbstdistanz, Selbstzwang voraus. Herr im eigenen Haus zu sein heißt nicht nur, anderen den Status des Untergebenen zuzuweisen und sie auf bestimmte Verhaltensweisen einzuschränken, sondern diese Disziplin zur allgemeingültigen zu erklären: sie auch auf sich selbst anzuwenden. Dieser Doppelsinn im Subjektbegriff wird von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« entfaltet. Dass der Anspruch auf Verfügungsgewalt sich auch noch auf das Erkenntnissubjekt selbst bezieht, gehört ihrer Lesart zufolge der »Urgeschichte der Subjektivität« selbst an.67 Denn diese Gewalt muss das Subjekt zunächst gegen sich selbst richten: Es muss sich zu einem Wesen zuschneiden, das zielgerichtet und effizient zu handeln vermag und sich nicht ablenken lässt. Seine eigene innere Natur steht ihm dabei im Wege und muss diesen weiter gesteckten Zielen insofern erst noch unterworfen werden; seine Autonomie beruht auf der erlernten Distanz gegenüber den eigenen Bedürfnissen. In der »Dialektik der Aufklärung« haben Horkheimer und Adorno dies als »Verleugnung der Natur im Menschen« analysiert.68 Sie finden diese Logik emblematisch in der Figur des Odysseus dargestellt. Er ist das mit allen Aspekten der Macht ausgestattete abendländische Subjekt, König von Ithaka und Befehlshaber über eine Flotte von zwölf Schiffen, mit denen er in den Krieg zieht, vor allem aber ist er ein neuer Typus des Helden, der sich nicht nur durch seine Herkunft, sondern vor allem durch seinen überlegenen Verstand, seine Erfahrenheit und seinen Ideenreichtum vor allen anderen auszeichnet. Odysseus ist nicht so sehr der weise König, sondern »listenreich«. In seiner Klugheit sei er den Göttern vergleichbar, so die Sage, allerdings dadurch auch ihrem Zorn ausgesetzt, weil er ihnen häufig in die Quere kommt, und dies zahlen sie ihm heim. Nachdem er alle Kriegshandlungen siegreich überstanden hat, lässt ihn Homer im 12. Gesang der Odyssee nahezu scheitern an einer Bedrohung ganz anderer Art: an den Verlockungen der Sirenen, deren Singen unbekannte Lust verspricht. Allerdings weiß Odysseus, dass dies in Wirklichkeit eine tödliche Falle ist, die Gebeine der Getöteten bedecken die Insel. Odysseus »kennt nur zwei Möglichkeiten des Entrinnens. Die eine schreibt er den Gefährten vor. Er verstopft ihnen die Ohren mit Wachs, und sie müssen aus Leibeskräften rudern. […] Frisch und konzentriert müssen die Arbeitenden nach vorwärts blicken und liegenlassen, was zur Seite liegt. […] Die andere Möglichkeit wählt Odysseus selber, der Grundherr, der die anderen für sich arbeiten lässt. Er hört, aber ohnmächtig an den Mast gebunden, und je größer die Lockung wird, um so stärker lässt er sich fesseln«69 , eine »ahnungsvolle Allegorie«70 dessen, was neuzeitliche Subjektivität charakterisieren wird. Er vermeidet zwar, zum Opfer mythischer Mächte zu werden, aber bezahlt dies mit der Verleugnung eigener Wünsche. Der »identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen«71 lässt sich nur aufrechterhalten, wenn auf die Vollständigkeit der Regungen
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Max Horkheimer, Theodor W. Adorno (1969), Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M., S. 62. Ebd., S. 61. Ebd., S. 40. Ebd., S. 41. Ebd., S. 40.
4. Grundbegriffe
verzichtet wird: Alles, was diesem Charakter nicht entspricht, muss ausgeschaltet werden, »und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.«72 Die Souveränität des Subjekts als Selbstzwang: Nur wenn Odysseus seine Spontaneität und Bewegungsfreiheit aufgibt, kann er seine Autonomie gegenüber den Sirenen bewahren. Er muss Teile seines Selbst zum Opfer bringen, und dies ermächtigt ihn in der Folge zur Herrschaft über andere. Nur erweist sich deren Grundlage, die verunstaltete und reduzierte Subjektivität, zu nichts anderem mehr befähigt als zur Irrfahrt; »mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung, sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig.«73 Der Subjektstatus gründet dieser Analyse zufolge auf erlittenen Gewaltverhältnissen, sei es äußerer Gewalt oder Selbstzwang, in die das Subjekt aber dadurch verstrickt bleibt, dass es selber Macht ausübt. Das Subjekt, das in diesen Prozessen Kontrolle ausübt, wendet die Verfahren des Klassifizierens, Objektivierens und Prüfens nicht nur den Erkenntnisgegenständen gegenüber an, sondern entwickelt ein Bewusstsein seiner selbst ebenfalls auf dieser Basis; was darin nicht unterzubringen ist, wird abgespalten. Aber indem es Kategorien einer übergeordneten Vernunft auf sich selbst anwendet, unterwirft sich das Individuum einer kaum von ihm durchschaubaren Logik, in der sich die eigene Unterwerfung unter dieses Gesetz und die Souveränität, es selbst zu exekutieren, unauflöslich vermischen. Nicht mehr der Sieg der Verstandeskräfte über die Triebnatur wird hier gefeiert, sondern die Selbstschädigung analysiert, die diese Abschnürung bedeutet: »Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht, denn die beherrschte, unterdrückte und durch Selbsterhaltung aufgelöste Substanz ist gar nichts anderes als das Lebendige, als dessen Funktion die Leistungen der Selbsterhaltung einzig sich bestimmen, eigentlich gerade das, was erhalten werden soll.«74 Es seien die Nöte der Selbsterhaltung, die den Subjektstatus mit Herrschaft und in letzter Konsequenz mit Gewalt identifizieren, so das Fazit der »Dialektik der Aufklärung«. Das Subjekt befindet sich in einem beständigen Kampf gegen die mythischen Mächte des Irrationalen und zugleich gegen eine feindliche Natur, die niedergerungen werden muss und dabei in eine bloße Ressource für das eigene Überleben verwandelt wird. Der Status des Subjekts ist unaufhebbar daran gebunden, alles um sich her in Objekte zu verwandeln, und dieser Verwandlungsakt ist von Eigeninteressen geleitet, die für sich beanspruchen eine übergreifende Vernunft zu repräsentieren. Worauf Horkheimer und Adorno im antiken Gewandt der Odysseus-Erzählung aufmerksam machen, sind die Konsequenzen, die sich aus dieser Verquickung von Subjektcharakter und Herrschaft ergeben: Der Herrscher kann seine Autonomie nur wahren, wenn er sich der strengsten Selbstdisziplin unterwirft, wenn er in sich selbst eine Trennung einführt und Teile seiner selbst aufgibt. Es geht um die Sicherstellung zweifelsfreier Objekterkenntnis im Dienste instrumenteller Naturbeherrschung, und die destrukti-
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ven Basisprinzipien dieses Verfahrens sind die der »reinen Vernunft« des Kantischen Erkenntnissubjekts. Neben der Dominanz des Gegenstandsbezugs fällt an diesem Subjektbegriff vor allem der Verzicht auf eine inhaltlich ausdifferenzierte Selbstbeziehung auf, in der das Subjekt mit sich selbst in Dialog mit sich treten könnte. Die Konzeption eines Subjektbegriffs, der ganz aus Erkenntnisfunktionen und damit Herrschaftsinteressen abgeleitet wird, erscheint im Nachhinein von beeindruckender diagnostischer Klarheit, aber bezogen auf eine Welt, von der zu diesem Zeitpunkt allenfalls erste Konturen erkennbar sind. Er ist so konzipiert, dass kein Selbstverhältnis, das andere Beziehungsmodelle entwirft, mit diesem Gegenstandsbezug interferiert; mit Foucault gesprochen wird hier geradezu der Beweis geführt, dass es kein »Außerhalb der Macht« gibt. Subjektivierung heißt bei Foucault, dass das Subjekt sich über seine Teilhabe an Macht konstituiert, an der es über sein Wissen partizipiert und dessen Logik es sich unterwirft. Subjekt kann nur sein, wer allem anderen die Objektposition zuweist, sogar dem eigenen Selbst. Jedoch verläuft durch das Denken von Foucault ein Bruch: In einer späten Umkehrung der Denkrichtung glaubte er die Spuren einer Praxis zu entdecken, die einer anderen Logik folgt und in kleinen Schritten die Details eines veränderten Selbstverhältnisses entwickelt. Ausgangspunkt dafür ist in »Der Wille zum Wissen« und der »Hermeneutik des Subjekts« der Begriff der Sorge, des Sorgetragens für sich oder nahestehende Andere. Dies entwickelt er anhand antiker Anweisungen zu Techniken der »cura sui«, der Selbstsorge. All dies bleibt fragmentarisch und wird am Ende von ihm sogar widerrufen75 , aber es entspringt dem Impuls, Hinweise auf eine Erfahrungsebene zu sammeln, die unterhalb der Logik der Macht eine andere Rationalität entfaltet. Foucaults Rückgang auf antike Vorstellungen kann auch als Interesse an Konzeptionen verstanden werden, die durch die hegemonialen Ansprüche des erkenntnistheoretischen Subjektbegriffs an den Rand gedrängt oder zum Verschwinden gebracht wurden. Dabei handelt es sich zum Teil um Gegenentwürfe, die anderen kulturellen Traditionen entspringen, zum Teil entwickeln sie sich aber auch aus der Auseinandersetzung mit dem dominanten Subjektbegriff der Philosophie, wie er dargestellt wurde. Sie entspringen dann in immanenter Kritik der Analyse von Defiziten dieses Ansatzes und gelangen so zu einer veränderten Auffassung des Subjekts. Auf diesen Weg begibt sich Dieter Henrich in einem Text, der sich mit »Fichtes ursprünglicher Einsicht« beschäftigt.76 Auch Henrich beobachtet, dass in den klassischen Subjekttheorien das Selbst immer bloß »als Prinzip verstanden [wird], aus dem anderes Wissen begründet werden kann.«77 Gegenstandsbezug ist das leitende Prinzip, das Verhältnis zu sich selbst werde nicht thematisiert oder allenfalls der Beziehung zu allen möglichen Sachverhalten »in der Sphäre der Gegenstände« nachgebildet.78 Das, was das Subjekt nach Auffassung von Henrich eigentlich ausmacht, nämlich von sich selber zu wissen, wird aus-
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Vgl. Michel Foucault (2005), Die Rückkehr der Moral. In: Ders., Dits et Ecrits, Schriften in vier Bänden, Bd. 4. Frankfurt a.M., S. 851-873, hier S. 861. D. Henrich (1966), Fichtes ursprüngliche Einsicht. In: D. Henrich/H. Wagner (Hg.), Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für W. Cramer. Frankfurt a.M., S. 188-232. Ebd., S. 191. Ebd., S. 195.
4. Grundbegriffe
geblendet. Tatsächlich stoße das Subjekt aber beständig auf sich, wenn es nach den Erkenntnisbedingungen fragt, und werde dadurch sich selbst zu »Thema und Frage«. Diese Frage kann nur gestellt werden, wenn ein »ursprüngliche[s] Selbstsein« vorausgesetzt wird: Das Selbst werde nicht durch die Denkakte des Ichs konstituiert, sondern vorgefunden. Dass es ein solches »ursprüngliches« Wesen des Ich gebe und dass es dem Selbstbezug zugänglich ist, versteht Henrich als Fichtes »ursprüngliche Einsicht«, mit der er aus der Kantischen Denktradition ausbricht und auf sie bezieht sich sein »Erstaunen über diese einzigartige Weise der Erkenntnis«.79 Es handelt sich dabei um eine Unmittelbarkeit des Selbstbezugs, der nicht in den Formen begrifflicher Erkenntnis aufgeht, und diese Differenz ist »vielleicht sogar ein Abgrund. Ihn zu durchmessen, ist von nun an Aufgabe der Philosophie.«80 Für den Subjektbegriff bedeutet dies zunächst die Konfrontation mit »Schwierigkeiten, die Form seines Selbstverhältnisses zu begreifen.«81 Selbstbezug lässt sich nicht nach dem Muster des Objektbezugs denken, sondern beruht auf etwas, dem im Vergleich zum Bezug auf Objekte »eine ganz andere Verfassung zuzuschreiben ist. […] Wir sind uns in unserem Selbstverhältnis nicht adäquat erschlossen«82 , wir sind uns nicht durchsichtig und häufig auch nicht nah. Rechenschaft über sich selbst kann sich jemand nur über sein Denken geben, und so ist sich das Ich nur über sein Denken präsent, jedoch nicht auf die Weise »wie ein Sachverhalt, der ihm vorliegt und den es beschreibt und erklärt.«83 Bei Descartes entstand die Notwendigkeit einer Thematisierung des Subjektstandpunkts, als er sich mit der Notwendigkeit konfrontiert sah, sich des eigenen Selbst als dem einzigen Sicherheit gebenden Punkt zu vergewissern. In dieser punktförmigen Selbstevidenz ging es nicht um eine Thematisierung individueller Besonderheiten, und dennoch war deutlich, dass es hier um ein ganz konkretes Sich-seiner-selbst-inne-Sein geht, das voraussetzt, dass das denkende Ich einen Leib und eine Lebensgeschichte hat. Einen abstrakten Selbstbezug gibt es nicht: »Gewissheit kann nur aus der Evidenz hervorgehen, die allein einem … anschaulich Gegenwärtigen eigen zu sein vermag.«84 Es ist diese Anschaulichkeit, die mit dem »Sich-selbst-Gegenwärtigsein« ins Spiel kommt, und damit den Subjektbegriff verändert. Henrich geht davon aus, dass ein Denken, das auf Gegenstände der Außenwelt bezogenen ist, von anderer Art ist als der Selbstbezug, der auf Evidenzerfahrungen beruht. Diese Erfahrungen haben eine besondere Qualität, die als Selbstgewissheit erlebt wird, aber sie sind nicht mit Selbsterkenntnis gleichzusetzen. Selbstgewissheit ist nicht auf ein Material angewiesen, wie es aus der Beobachtung äußerer Gegebenheiten bezogen wird, sondern nur darauf, dass ich (und niemand anderes) diese Wahrnehmung mache. In solchen Evidenzerfahrungen ist die Subjekt-Objekt-Trennung aufge-
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Ebd., S. 196. Ebd., S. 197. Dieter Henrich (1982), Selbstbewusstsein und spekulatives Denken. In: Ders., Fluchtlinien. Frankfurt a.M., S. 125-180, hier S. 156. Henrich (2007), Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität. Frankfurt a.M., S. 26. Ebd., S. 35. Ebd., S. 19.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
hoben. Ziel sind nicht beschreibbare Eigenschaften der empirischen Person, sondern nur dieses »Dass« des Selbstbezugs: dass dies stattfindet. Die Wirklichkeit dieses Wissens hängt nicht von wahren Sätzen über das Ich ab, sondern von seiner Verankerung in der Wahrnehmung des Selbst. Insofern betont Henrich zwar die »Doppelstellung«85 des Ich in seinem Welt- und Selbstbezug und knüpft dabei an Kants Einsicht an, dass Gegenstandserkenntnis ohne ein Bezug auf das eigene Ich nicht möglich ist. Aber bei ihm bekommt der Selbstbezug eine zentrale Stellung, da durch ihn das Ich zum Subjekt wird. Sich selbst begegnet das Ich zum Beispiel in der »Geschichte seiner Meinungen«.86 Indem es sich vergangener Einstellungen und Haltungen und deren »Deutungsgeschichte« erinnert, vergegenwärtigt es sich nicht nur deren Abfolge, sondern stößt auf das sich in den Stadien dieser Meinungsgeschichte Durchhaltende. Damit, dass es sich dieses Eigenen, dieser spezifischen Interpunktion der Ereignisse, vergewissert, gewinnt es auch über seinen Weltbezug Klarheit. Das Verhältnis zur Welt gewinnt seine »Form von der Möglichkeit des Selbstbezugs her«.87 Deshalb bedeutet Subjektsein bei Henrich sowohl sich als unterschieden wissen von der Welt, als auch sich in ihr zu lokalisieren, und dies geschieht über praktisches Handeln. »Von dem, was dem Subjekt als solchem eigentümlich ist […], nehmen Prozesse ihren Ausgang. Man kann sagen, dass sie allesamt Prozesse sind, in denen das Subjekt sich zu einer erweiterten Gestalt entfaltet und sich seiner selbst nunmehr innerhalb ihrer innewird.«88 Der Subjektstatus ist hier daran gebunden, ein Wesen zu sein, »das von sich selber weiß.«89 Dies beginnt schon bei einfachsten Selbstlokalisierungen in Gestalt von »›dies‹, ›hier‹ und ›jetzt‹«.90 Aber für das Bewusstsein ist dies (in der Regel) eine einfache Evidenz und nicht an Akte der Selbstvergewisserung gebunden. Unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten thematisiert dieser Subjektbegriff einerseits ein Wissen, das jedes Ich im Verlaufe der ersten Schritte seiner kognitiven Entwicklung ganz unproblematisch erwirbt, andererseits aber auch ein Wissen zweiten Grades, nämlich ein Bewusstsein dieses Wissens als Reflexivität.91 Dieses Bewusstsein nimmt die Gestalt eines Denkens in zwei gegenläufigen Richtungen an, indem es sich zugleich auf die Dinge und das eigene Selbst bezieht und deren Relationen erforscht. Es ist ein Wissen, das zur Unterscheidung des Subjekts von der »Welt« führt und ihm ermöglicht, sich einen bestimmten Platz in ihr zuzuweisen. Dies zeigt sich in seinen »Gedanken von seinem Unterschiedensein« in Bezug auf Andere oder Anderes.92 Mit
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Henrich (1982), a.a.O., S. 151. Ebd., S. 137. Ebd., S. 140. Henrich (2007), a.a.O., S. 23/4. Ebd., S. 23. Im Selbstverhältnis ist mit dieser einfachen Lokalisierung natürlich zugleich all das aufgerufen, was nicht hier und jetzt ist, aber durch Erinnerung, die Kontinuität des eigenen Bewusstseins, präsent gehalten wird. Henrich (1982), a.a.O., S. 136. Zusammenfassend ließe sich sagen, dass die Subjektkonzeption von Henrich das genaue Gegenteil der technologischen Rationalität repräsentiert, die das Erkenntnissubjekt kantischer Prägung charakterisiert: Dieses Subjekt konstituiert sich über die Ausbildung von Reflexionsvermögen. Henrich (2007), a.a.O., S. 37.
4. Grundbegriffe
dem Unterschiedensein wird die andere Person zum Thema, das Subjekt tritt in die Sphäre der Intersubjektivität.93 Dass »das Subjekt überhaupt nur in seinen Gedanken existiert, dass es sich also nicht so präsent ist wie ein Sachverhalt, der ihm vorliegt und den es beschreibt und erklärt«, bedeutet, dass sich über das Denken eine andere Form der Wirklichkeit neben der der Sachverhalte herstellt. Das »Wissen, welches ich von mir habe«, ist »wirkliches Wissen«, »Wissen von einem Wirklichen«, darüber hinaus aber »selbst Wirklichkeit«.94 Die Sphäre des Selbstbezugs lagert über die Sphäre einfachen Selbstinneseins hinaus Reflexionen des eigenen Verhältnisses zu den Beziehungen an, in denen das Subjekt steht. Als Suche danach »vor sich selbst verständlich zu werden«, wurde dies von W. v. Humboldt bezeichnet, als »Sichanderswerden« im Prozess der Reflexion von Hegel, als »Sichselbstfremdmachung« von Novalis. Damit ist eine Ebene bezeichnet, die sich Bildungsprozessen öffnet.
4.3
Individuum
Dass es um 1800 zu einer Konjunktur von Begriffen kommt, die Aspekte des Ich thematisieren – des Selbst als Vergewisserung eigener Identität, des Subjekts in seiner Eigenschaft als Akteur, Urheber, Erkenntnisinstanz, des Individuums in seiner Differenz gegenüber anderen – dies ist Indikator dafür, dass sich der Einzelne nicht mehr in erster Linie über seine Teilhabe an übergreifenden Ordnungen und Traditionen, sondern über seine Unabhängigkeit von ihnen begreift. Herder formuliert den Plan, »nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne und glaube«95 und Novalis schreibt in einem Brief an den Bruder am 16. März 1793: »Glaube mir, wir können alles aus uns selbst herausbilden«. Damit verbindet sich ein Bewusstsein eigener Individualität aufgrund der Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit der eigenen Fähigkeiten. Mit dieser Betonung des Individuellen gelangen im 18. Jahrhundert eine Reihe neuartiger Wertvorstellungen zu Ansehen: Autonomie in der Ausgestaltung des eigenen Selbstentwurfs und die persönliche Freiheit, zwischen Lebensstilen zu wählen, auf Distanz gegenüber gesellschaftlichen Vorgaben und Rollenerwartungen zu gehen, ästhetische Kreativität, Intimität der religiösen Erfahrung, Originalität, Genialität. Die Unverwechselbarkeit der eigenen Lebensgeschichte soll sich nicht Zufällen verdanken, sondern wird zur eigenen Leistung erhoben. Nicht, dass die Vorstellung neu ist, der Einzelne habe sich wesentlich über seine Differenz gegenüber gesellschaftlichen Mächten zu bestimmen, – auch die christliche Religion hatte immer solche Distanzierungsleistungen eingefordert. Aber diese Haltung war dort religiös definiert und in den religiösen Praktiken des Gebets, der Meditation, der Askese und Bußübungen rituell abgestützt. Wenn sie individuierende Wirkungen hatten, so war dies doch nicht ihr Ziel und im Gegenteil war dies der Sünde
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Überlegungen dazu, was dies bildungstheoretisch heißt, sind das Thema von Teil III. Henrich (1982), a.a.O., S. 144. J.G. Herder (2002), Journal meiner Reise im Jahre 1769, hg. v. K. Mommsen. Stuttgart, S. 12.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
verdächtig.96 Und für die Renaissance war bei aller Wertschätzung des Individuellen dessen Ausbildung in erster Linie Sache der sogenannten großen Persönlichkeiten in ihrem »brennende[n] Verlangen nach etwas Großem und Denkwürdigen«97 , wie Jacob Burckhardt schreibt. Stattdessen wird nun im 18. Jahrhundert und im Gefolge der aufklärerischen Forderungen nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung Individuation zu einer Erwartung, die sich an jeden richtet. Die Einzigartigkeit der Konstellation von natürlichen Anlagen und erworbenen Fähigkeiten soll sich in eigenständiger Lebensgestaltung, in Selbstbestimmung, in der Berufs- und Partnerwahl, als Befreiung von Konventionen und als Mut, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, realisieren. Insofern ist Individualität an ein Bewusstsein eigener Fähigkeiten gebunden und dies in Hinblick auf andere Personen und unter gesellschaftlicher Perspektive. Die Konzeption des Selbst beruht auf einer Umkehrung der Blickrichtung weg von den Gegenständen der umgebenden Welt hin zu den eigenen verinnerlichten Wünschen, Befürchtungen und Intentionen. Die Vorstellung, ein Individuum zu sein, richtet sich hingegen auf die Differenz zwischen Ich und gesellschaftlichen Rollenerwartungen. Dem eigenen Selbst Konturen zu geben entspringt Akten der Reflexion, die eigene Individualität zur Geltung zu bringen, erfordert vor allem die performative Darstellung eigener Einzigartigkeit. Insofern ist das Individuum auf einen gesellschaftlichen Raum angewiesen, der Selbstdarstellung auf Basis individuellen Wahlverhaltens fördert und erwartet und diese Individuation honoriert.98 Dabei soll im Folgenden unter Individuation die Entwicklung von Eigenständigkeit als lebensgeschichtlicher Prozess verstanden werden, unter Individualisierung hingegen die übergreifenden gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen der »Herauslösung aus traditionellen Gemeinschaftsformen«99 mit dem Ziel der Erweiterung von Handlungsspielräumen für den Einzelnen. Dass eine Kultur dem Individuellen zur Geltung verhilft, setzt voraus, dass ein Interesse am Einzelnen in seiner Andersheit entstanden ist. Es setzt die Bereitschaft voraus, das Individuelle nicht als Fall und Belegstück einem Allgemeinen zu subsumieren, sondern es in seiner Eigenart anzuerkennen.100 Die Bereitschaft muss vorhanden sein, Partikulares als bedeutungsvoll wahrzunehmen und nicht als vernachlässigbares 96
Louis Dumont unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Individualismus als »valeur supreme« und als ungewolltem Nebeneffekt (vgl. L. Dumont (1983), Essais sur l’Individualisme. Paris, S. 37 ff). 97 Jacob Burckhardt (1927), Die Kultur der Renaissance. Stuttgart, S. 142. 98 Ohne diesen gesellschaftlichen Raum wäre Individualität in ihrer »radikalen Singularität und Unwiederholbarkeit« jene Eigenheit, für die traditionell »Ausdrücke, in denen der Stamm *idio- auftritt«, vorbehalten sind: »Der aus dem Verband des Gemeinwesens und der ›allgemeinen Sache‹ ausscherende Einzelne ist kein Bürger, sondern ein Idiot.« (Manfred Frank 1988, Subjekt, Person, Individuum. In: Ders./G. Raulet/W.van Reijen, Die Frage nach dem Subjekt. Frankfurt a.M., S. 7-28, hier S. 8). 99 Markus Schroer (2001), Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven. Frankfurt a.M., S. 9. 100 Streng genommen ist das Individuelle nicht das Besondere, denn dann wäre es lediglich ein Exemplar des Allgemeinen und ließe sich aus ihm ableiten. Insofern ist es »vom Begriff des Ganzen aus niemals in einer logischen Kette von Ableitungen zu erreichen«, sondern nur über ein Verständnis seiner Einzigartigkeit. Vgl. Manfred Frank/Anselm Haverkamp (1988), Ende des Individuums –
4. Grundbegriffe
Randphänomen. Der Aufstieg der Kategorie des Individuellen zeigt insofern eine Veränderung des Umgangs mit eigenen Erfahrungen an. Historisch gibt es die Anerkennung des Individuellen auch schon in der Antike101 , und doch versagt die Philosophie über lange Strecke an der Aufgabe, dem einzelnen Phänomen gerecht zu werden. Anerkennung des Individuellen ist noch nicht damit gegeben, dass vom Individuellen als kleinster unteilbarer Einheit die Rede ist, denn damit ist es nur als logische Größe benannt, auf die sich ein Merkmalskomplex zurückführen lässt. Wenn der Aufstieg der neuzeitlichen Wissenschaft weitgehend identisch ist mit der Entwicklung von Kategorientafeln und Klassifikationsschemata, so ist die Philosophie stark an diesem Prozess beteiligt, und das heißt, dass gerade sie dem Phänomen des Individuellen lange Zeit kaum Bedeutung zuerkennt, da es sich begrifflich nicht fassen lässt und dem Allgemeinheitsanspruch der Vernunft zuwiderläuft. Nur an ihren Rändern, bei Herder, Lichtenberg und W. v. Humboldt, den Frühromantikern und dann in der Lebensphilosophie entwickelt sich dieser Blick für das Konkrete, Einzelne, Nicht-Subsumierbare. Wieder aufgenommen wird dieser Faden von der Kritischen Theorie, wenn sie den latent destruktiven Charakter identifizierenden Denkens als einem »Gleichmachen eines jeglichen Ungleichen« analysiert102 und stattdessen in das »Besondere und Einzelne samt seiner Widerstandskraft« Hoffnung setzt.103 Die neue Aufmerksamkeit für das Individuelle wird von W. v. Humboldt mit besonderer Emphase formuliert. »Eigentümlichkeit« und »Mannigfaltigkeit« stehen obenan in seiner Werthierarchie. Für ihn wird das Individuum zum zentralen Bezugspunkt in einer Zeit, in der »alles […] wankt« und »eine wirkliche Umkehrung aller Verhältnisse stattgefunden hat«104 , wie er mit Blick auf die Französische Revolution schreibt. Individuation bedeutet ein Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten und Kräfte zu entwickeln: Im Mittelpunkt stehe »der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Wert und Dauer verschaffen will. […] Rein und in seiner Endabsicht betrachtet, ist sein Denken immer nur ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich, […] in sich frei und unabhängig zu werden.«105 So solipsistisch dies formuliert ist, befürchtet Humboldt keine Auseinanderentwicklung der Gesellschaft in ichbezogene Individualisten, da sich die Entfaltung eigener Fähigkeiten in »Wechselwirkung«106 mit anderen vollziehe. Für ihn ist es selbstverständlich, dass die Bildung des einzelnen Individuums allen zu Gute kommt. Sie alle verbinde das Interesse an einer guten, Freiheitsrechte
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Anfang des Individuums?« In: Dies. (Hg.), Individualität. Poetik und Hermeneutik, Bd. XIII, S. XII – XX. München, S. XIV. Dem Wort nach taucht es erstmals bei Cicero als Übersetzung des griechischen atomos auf, als Vorstellung findet es sich bereits bei Demokrit und dann bei Aristoteles. Vgl. Theo Kobusch (1976), Artikel »Individuum, Individualität«, Abschnitt Antike und Frühscholastik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4. Darmstadt, Sp. 300-304, hier Sp. 300. Th.W. Adorno (1973), Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt a.M., S. 174. Th.W. Adorno (1975), Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a.M., S. 91. W. v. Humboldt (1960), Über den Geist der Menschheit, a.a.O., Bd. I. Darmstadt, S. 506-518, hier S. 506. W. v. Humboldt (1960), Theorie der Bildung des Menschen, a.a.O., Bd. I, S. 235. Ebd., S. 236.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
gewährenden Einrichtung der Gesellschaft. »Verschieden in ihren Anlagen und Fähigkeiten, teilen alle Menschen das gleiche Interesse mit einander, und verfolgen dasselbe Ziel«, sodass »sie bestimmt scheinen, nur miteinander ein vollständiges Ganzes zu bilden«107 . Deshalb fordert er »enge und mannigfaltige Verbindungen eigentümlicher Charaktere mit einander«108 , wobei »einer den Reichtum des anderen sich eigen machen« kann109 . Diese etwas vage Vorstellung von einer »alle Menschen« umfassenden Gemeinschaft konkretisiert sich in den späten Schriften zum Bewusstsein der Angewiesenheit auf Austausch: »Im Menschen […] ist das Denken wesentlich an gesellschaftliches Dasein gebunden, und der Mensch bedarf, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungsbeziehungen, zum bloßen Denken eines dem Ich entsprechenden Du. […] Der Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft.«110 Individualisierung steht somit für ihn in keinem Widerspruch zur Entwicklung der Gesellschaft und den Aufgaben, die der Einzelne in ihr übernimmt. Die Möglichkeit von Konflikten zwischen den auf ihre Selbststeigerung konzentrierten Individuen sieht er zwar, aber solche Auseinandersetzungen werden als produktives Element im Gang menschlicher Selbstvervollkommnung gewertet. Wenn jeder »nur aus sich selbst, und um seiner selbst willen sich entwickelte«, so würde im Konfliktfall »auch das Ringen der Kräfte dieser Menschen die höchste Energie zugleich beweisen und bewirken.« Am Beispiel der Antike lasse sich lernen, dass hier eine »größere ursprüngliche Kraft und Eigentümlichkeit einander begegnete, und neue wunderbare Gestalten schuf.«111 Variationen entwickeln produktive Effekte und »nichts wirkt so lebendig rund um sich her, als die menschliche Individualität.«112 Sie erschafft Neues durch die Verschiedenheit der Vorlieben, durch die Spontaneität der Verknüpfungen und die Urteile, die das Individuum aus seinen individuellen Sichtweisen ableitet, durch seinen Bezug auf kulturelle Traditionen. All dies lässt Individualität als Quelle produktiver Neubewertungen erscheinen. Diese Fähigkeit zur Produktion des Neuen ist es, die dem Individuum in der beginnenden Moderne zu einem solchen gesellschaftlichen Ansehen verhilft, dass Wilhelm von Humboldt schreiben kann, ein Fehler gegenwärtiger Ansichten sei es, »dass man die Vollendung des Menschengeschlechts in Erreichung einer allgemeinen, abstrakt gedachten Vollkommenheit, nicht in der Entwicklung eines Reichtums großer individueller Formen sucht«113 , bzw., positiv gewendet: »Jede Bemühung für die Fortschritte des Menschengeschlechts, die nicht von der Ausbildung der Individuen ausginge, würde […] fruchtlos und chimärisch sein, wird hingegen für diese gesorgt, so 107 108 109 110
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W. v. Humboldt (1960), Das achtzehnte Jahrhundert, a.a.O., Bd. I, S. 376-506, hier 384/385. W. v. Humboldt (1960), Ideen zu einem Versuch, a.a.O., Bd. I, S. 82. Ebd., S. 65. W. v. Humboldt (1963), Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus, a.a.O., Bd. III. Darmstadt, S. 144-367, hier S. 201. Der Ausdruck »gesellschaftliches Dasein« muss an dieser Stelle eher im Sinne von Geselligkeit verstanden werden; das Abstraktum »Gesellschaft« als soziologische Kategorie existiert für Humboldt noch nicht. W. v. Humboldt (1960), Ideen zu einem Versuch, a.a.O., Bd. I, S. 67. W. v. Humboldt (1960), Plan einer vergleichenden Anthropologie, a.a.O., Bd. I, S. 337-376, hier S. 349. W. v. Humboldt (1960), Betrachtungen über die Weltgeschichte, a.a.O., Bd. I, S. 567-577, hier S. 576.
4. Grundbegriffe
erfolgt jener Einfluss auf das Ganze von selbst und ohne ausdrücklich darauf gerichtete Absicht.«114 Dabei bleibt diese Hochschätzung des Individuellen fest verankert in einer metaphysischen Zwei-Welten-Theorie: In Anlehnung an Platons Ideenlehre sei es Aufgabe der Menschheit, die ewigen Urbilder der Ideensphäre historisch zu verwirklichen, die aber im Reich der Menschen in verschiedene individuelle Aspekte auseinandertreten; alles Individuelle ist nur eine Facette, aber zugleich »Offenbarung« der Idee.115 Warum dieses Thema zusammen mit dem Aufstieg des Bildungsgedankens im 18. Jahrhundert einen solchen Bedeutungszuwachs erfährt, erschließt sich, wenn man einen genaueren Blick auf die Umstände der Modernisierungsprozesse wirft, auf die diese Konzeptionen antworten. Individualisierung ist im 18. Jahrhundert sowohl eine Antwort auf ökonomische und gesellschaftliche Traditionsbrüche, durch die sich viele als vereinzelt begreifen, als auch auf Prozesse gesellschaftlicher Ausdifferenzierung. Es gibt zwei Hauptachsen, an denen entlang sich diese Differenzierungsprozesse vollziehen: Da ist einerseits die Unterscheidung zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre und andererseits entsteht ein Bewusstsein von Differenz durch Erfahrungen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Dass sich die Individuen in ihren Leistungen unterscheiden, die jeder einzelne gesellschaftlich erbringt, wird auf neue Weise zum anerkannten Wert. Verdeutlichen kann man sich dies anhand der 1776 erschienenen Studie »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« von Adam Smith. Ausgehend von der gestiegenen Bedeutung der Warenproduktion und der damit einhergehenden Arbeitsteilung untersucht er, auf welche Weise sich die Zunahme von Arbeitsteilung und Tausch auf die Beziehungen der Gesellschaftssubjekte zueinander auswirkt, wenn für sie die Maxime gilt: »Jeder tut, was er am besten kann und setzt es ein, um zu bekommen, was andere besser können. So spart jeder Arbeit (d.h. Mühe) und erhöht seinen Nutzen.«116 Ein solches Interesse an Vielfalt bedeutet natürlich einen Individualisierungsschub. Er bereitet den Boden dafür, das soziale Ansehen einer Person nicht mehr so sehr von seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe, definiert über Stand, Beruf, Herkunft oder Religion, abhängig zu machen, sondern von seinen individuellen Fähigkeiten und Leistungen. Soziale Wertschätzung soll nicht mehr dem Umstand geschuldet sein, dass jemand Angehöriger einer bestimmten Statusgruppe ist und deren Verhaltensimperative repräsentiert, stattdessen sollen in erster Linie noch die Fähigkeiten und die Leistungsbereitschaft des Einzelnen diese Wertschätzung begründen. Damit wird aber zugleich jeder, »ob er es weiß oder nicht, in solchen Gesellschaften als Einzelner in einem ständigen, teils stillschweigendem, teils ausdrücklichen Konkurrenzkampf der Individuen hineingestellt«117 , muss sich in seiner Einzigartigkeit beweisen und will dies auch. Der historische Prozess zunehmender Individualisierung gehe mit dem Empfinden des einzelnen Menschen einher, »er sei ›innen‹ etwas, das ganz für sich allein, ohne Beziehung
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W. v. Humboldt (1960), Das achtzehnte Jahrhundert, a.a.O., Bd. I, S. 392. Vgl. W. v. Humboldt (1960), Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers, a.a.O., Bd. I, S. 585-606, besonders S. 601ff. Karl Graf Bellestrem (2001), Adam Smith. München, S. 136. Ebd.
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zu anderen Menschen existiere und erst ›nachträglich‹ zu anderen draußen in Beziehung trete«, so Norbert Elias.118 Moderne bedeutet, dass sich keiner mehr darauf beschränken soll, die Erwartungen und Forderungen seiner sozialen Umwelt lediglich zu internalisieren und in eigene Verhaltensorientierungen umzuformen; die Erwartung besteht, sich als Individuum selbst zu erfinden. In der Konsequenz führt dies zu einer wachsenden Distanz zwischen den Gesellschaftssubjekten und zu dem »Empfinden des einzelnen Individuums, letzten Endes ganz alleine zu sein, […] ganz für sich der ›Außenwelt‹ der Menschen und Dinge gegenüberzustehen«119 . Diese Empfindung kann aber durch die Selbstdarstellung als Individuum gemildert werden. Sie kann zu dem Selbstbewusstsein führen, »sich von anderen abzuheben«, sich nicht nur »von anderen zu unterscheiden«, sondern »sich vor ihnen auszuzeichnen«.120 Der Vereinsamung im sozialen Austausch entspricht ein Bedürfnis nach Steigerung des eigenen individuellen Profils, denn gleichzeitig mit dem Bedürfnis nach Unterschiedenheit geht ein Bedürfnis einher, in dieser Einzigartigkeit anerkannt zu werden. So verbindet sich Individualisierung nicht nur mit dem Bedürfnis nach Artikulation und Selbstdarstellung, sondern diese verstärken das Leistungsprinzip als Voraussetzung für Aufmerksamkeit und Anerkennung. Dadurch wird in der »neuen, individualisierten Anerkennungsordnung«121 der Moderne der Leistungsaspekt tief in die Selbstbeziehung der Individuen eingelassen. Unter dem Vorzeichen von Konkurrenz verliert Selbstdarstellung ihren kommunikativen Charakter und wird zu einem performativen Akt, der darauf zielt, sich vor anderen auszeichnen zu müssen; sie wird zur existentiellen Notwendigkeit. Das soziale Ansehen der Subjekte bemisst sich insofern also nicht nur an ihren individuellen Leistungen, die sie für die Gesellschaft erbringen, sondern diese sind nun auch an die »besonderen Formen der Selbstverwirklichung« geknüpft, die sie zusammen mit ihren Leistungen zum Ausdruck bringen.122 Für die neue »Anerkennungsordnung« gilt: »als ›wertvoll‹ vermag eine Person sich nur zu empfinden, wenn sie sich in Leistungen anerkannt weiß, die sie gerade nicht mit anderen unterschiedslos teilt.«123 Die Einzelnen müssen sich als Individuen verwirklichen und darstellen. Wenn dies schon implizit auf Konkurrenz basiert, so liegen dennoch die Beurteilungsmaßstäbe nicht durchweg von vornherein fest; das Individuum erhält zumindest ansatzweise die Chance, diese durch die Art seiner Leistung zu verändern bzw. neue Maßstäbe zu setzen. Es ist nun die Gelungenheit der individuellen Leistung, an der sich die soziale Anerkennung orientiert, und darüber hinaus die Gelungenheit der Darstellung dieser Leistung, die nicht nur unterscheidbar von den Leistungen anderer sein soll, sondern Ausdruck der Selbstverwirklichung des Individuums. Allerdings »bemisst sich der Wert, der den verschiedenen Formen der Selbstverwirklichung zuerkannt wird, aber
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Ebd., S. 168. Norbert Elias (2003), Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt a.M., S. 158. Ebd., S. 192. Axel. Honneth (2012), Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Berlin, S. 204. Ebd., S. 207. Ebd., S. 203.
4. Grundbegriffe
auch bereits die Art, wie die entsprechenden Eigenschaften und Fähigkeiten definiert werden«124 , doch nur zum Teil an Maßstäben, die das Individuum setzt. In der Mehrzahl liegen sie nicht in der Verfügung des Individuums; vielmehr ist dies von Machtverhältnissen, nämlich davon abhängig, »welcher sozialen Gruppe es gelingt, die eigenen Leistungen und Lebensformen öffentlich als besonders wertvoll auszulegen«125 – ein »kultureller Dauerkonflikt« zwischen Individuum und Gesellschaft.126 Zu beobachten ist also nicht nur eine zunehmende »Individualisierung der Leistung«, sondern dass diese Leistung nur dann auf gesellschaftliche Anerkennung stößt, wenn sie in irgendeinem Sinne einerseits als Darstellung individueller Selbstverwirklichung erfahrbar wird, aber damit gesellschaftlich anerkannte Werte repräsentiert.127 Die Individuen sehen sich aufgefordert, sich als autonom und authentisch, allseitig in ihren Interessen und ganzheitlich in ihrem Selbstverhältnis hervorzubringen und darin sowohl von anderen als ausreichend gelungen als auch in ihrer Performanz als überzeugend anerkannt zu werden. Zugleich aber wird Formen der Selbstdarstellung in den Gesellschaften der Moderne ein besonderer Wert zuerkannt, wenn sich in ihnen etwas artikuliert, das in Konventionen nicht aufgeht. Es wird gerade aufgrund seiner Unterschiedenheit beachtet, und in der Moderne als ein gesellschaftlicher Wert akzeptiert und gefordert. Denn es antwortet auf ein verstärktes Interesse an Neuem, Ungedachtem, Ungesehenem, und das kommt in erster Linie durch die Individuen in die Welt.128 Vor diesem Hintergrund nimmt die Bedeutung von Selbstentfaltung und Selbstdarstellung in der allmählich sich entwickelnden bürgerlichen Öffentlichkeit zu. Allerdings steht diesem Artikulationsbedürfnis eine noch schwach ausgebildete politische und mediale Öffentlichkeit gegenüber, und dies bedeutet (vor allem in Deutschland, wie die Darstellung von Mme de Stael belegt, s.o., Kap. 3.4) eine weitgehende Isolation der vereinzelten, auf ihre Berufspflichten bezogenen und ansonsten sich vor allem über ihre Privatsphäre definierenden Gesellschaftssubjekte. Es ist eine Isolation, die durch einen regen Briefverkehr, durch Journale und Bücher gemildert wird; vor allem aber ist es ein Auf-sich-Gestelltsein, das reflektierte Distanz gegenüber der politischen Sphäre ermöglicht. Aus dieser Distanz kann eine gewisse Autonomie entstehen: Autonomie der Vorlieben, des Geschmacks, des Urteils. Besonders ausgeprägt ist dies in dem neuen Bürgertum, das als gesellschaftlicher Akteur die Bühne betritt und sich über seine Reflexionsfähigkeit, die Vielfalt seiner Kenntnisse und seine kritische Distanz zu traditionellen Strukturen definiert. Es bildet eine neue Mentalitätsstruktur aus, die zugleich eine Kultur des Individualismus entstehen lässt. Dies ist ein Phänomen, das alle europäischen Länder sowie Nordamerika betrifft, d. h all diejenigen Länder, die sich in der Phase eines langsamen Übergangs zur bürgerlichen Gesellschaft befinden.
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Ebd., S. 205. Ebd. Ebd. In höchstem Maße individuierte Personen wie J. M. R. Lenz oder Chr. D. Grabbe müssen sich mit einem geringen Ansehen in den einschlägigen Kreisen begnügen, weil sie diese geltenden Selbstdarstellungs-Standards nicht erfüllen. Sie verkörpern nicht die schöne Individualität, die W. v. Humboldt vorschwebt, sondern sind Unangepasste oder Exzentriker. In zweiter Linie aber durch Systemimperative.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Es ist das Bürgertum, das immer häufiger darauf verzichtet, von seinen Angehörigen die Befolgung der Konventionen des Lebens traditioneller Gemeinschaften zu erwarten; sie sind aufgerufen, selber ihrem Leben Gestalt zu geben. Dies ist nicht lediglich eine Frage der Auswahl der Lektüren und Liebhabereien. Konkret bedeutet dies, dass die gegeneinander verselbständigten Rollenerwartungen und Wertvorstellungen eine individuierende Kraft entfalten. Es gehört zu den Rollenanforderungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, dass sich vor allem Männer bürgerlicher Herkunft mit der Aufgabe konfrontiert sehen, eine Reihe deutlich voneinander unterschiedener Haltungen in verschiedenen Lebensbereichen (etwa Empfindsamkeit und Durchsetzungsvermögen) für sich zu definieren.129 Allein schon die unterschiedlichen Weisen, in der die Einzelnen diese unterschiedlichen Rollen verbinden, bedeutet einen Individualisierungsschub. Die gesamte Lebensführung – angefangen bei pädagogischen Maximen in der Kindererziehung und der Gestaltung der ehelichen Beziehung, ist mehr als zuvor in die Autonomie der eigenen Entscheidungen gestellt. Welchen der überkommenen Werte und Traditionen noch Gültigkeit zuerkannt werden soll und was als fragwürdig erscheint, beruht auf persönlichen Reflexionsleistungen. Sie ersetzen konventionelle Muster der Lebensführung und führen zu individualisierten Lebensentwürfen. Dies wirft die Frage auf, was dies denn für Quellen sind, denen die Individuen ihre normativen Orientierungen entnehmen, wenn sie so rigoros auf ihren eigenen Reflexions-Haushalt zurückgeworfen sind. Habermas hat dies in dem Befund zusammengefasst, dass »die Moderne […] ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen [kann], sie muss ihre Normativität aus sich selber schöpfen.«130 Gewiss vollziehen sich diese gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse im Horizont von Diskursen, die über persönliche Freundschaften, Briefe, Reisen, ein Netz von Verlagen und Wanderbühnen bis in die Provinz hineinwirken. An die Stelle unmittelbaren Austauschs tritt mit der steigenden Bedeutung von Büchern und Journalen die ideale Kommunikationsgemeinschaft einer vielstimmigen literarischen Öffentlichkeit. Jedoch ist es nicht Aufgabe dieser Diskurse, die traditionellen Formen normativer Gewissheit durch neue Verbindlichkeiten zu ersetzen, vielmehr muss der oder die Einzelne zu ihnen Stellung beziehen, sich selbst positionieren und dazu eigene Leistungen erbringen: die Aussagen anderer gewichten und beurteilen, über ihre Relevanz für das eigene Lebensmodell entscheiden, im Widerstreit der Meinungen die eigene Haltung verdeutlichen. Insofern sind es vor allem die vielfältigen Stimmen einer virtuellen Diskursgemeinschaft, die individuierende Kraft entfalten, denn in der Auseinandersetzung mit diesem Spektrum an Positionen stößt der Einzelne auf sich selbst in seinen individuellen Einstellungen und Wertschätzungen. Die neu entstehende bürgerliche Gesellschaft konfrontiert die Individuen mit der Aufgabe, angesichts einer Vielzahl unterschiedlicher Wertmaßstäbe und widersprüchlicher Verhaltensanforderungen in den verschiedenen Gesellschaftssphären eine eigene
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Männer eher als Frauen, da Frauen noch auf den Bereich des Privaten eingeschränkt werden, und dies selbst dann noch, wenn es sich um die Semi-Privatheit des literarischen Salons handelt. Bei den bewunderten Verhaltensweisen der Damen handelte es sich um virtuose Spielarten privater oder sogar intimer Muster. 130 Jürgen Habermas (1985), Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M., S. 16.
4. Grundbegriffe
Haltung auf der Basis reflektierter Distanz zu entwickeln. So entsteht mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft geradezu eine Art Zwang zur Individuation: Die Gesellschaftssubjekte sehen sich in Situationen gestellt, die sie mit ganz unterschiedlichen Perspektiven, Rollenanforderungen und Verhaltenserwartungen konfrontieren. Wie immer sie zum Ausgleich gebracht werden können, basieren sie auf Akten von »moralischer und existentieller Selbstreflexion«131 , die sich auf kaum anderes als individuelle Einstellungen beziehen, auf Urteilsfähigkeit und eigene Wertvorstellungen sowie geschmackliche Präferenzen. Sie mögen in Teilen übernommen sein, müssen aber anerkannt, zueinander in Beziehung gesetzt, anerkannt oder umgeformt werden, und dies ist eine Leistung, in der sich die Einzelnen als Individuen erfahren. Die Auseinandersetzung mit fremden Positionen wird zum Akt der Individuation, denn vom Einzelnen wird eine Stellungnahme gefordert. Die Notwendigkeit, sich solchen Prozessen der Meinungsbildung gegenüber zu positionieren und Stellung zu beziehen, erfordert zugleich ein Sich-Hineinversetzen in fremde Perspektiven, wenn sie verstanden werden sollen. Insofern ist Individuation auch an die Anerkennung der anderen in ihrer Individualität gebunden. Die Individuen müssen lernen vom alleinigen Geltenlassen der eigenen Perspektive Abstand zu nehmen und übergeordnete Gesichtspunkte gelten zu lassen. Sie müssen die Fähigkeit entwickeln, Standpunkte zu beziehen, die sich nicht nur an den eigenen Bedürfnissen orientieren und die allgemeine Interessen berücksichtigen. An Bildung knüpft sich die Hoffnung, dass sie die Möglichkeiten bereitstellt, das in allen vorhandene Vernunftprinzip in die Sprache gesellschaftlicher Diskurse zu überführen und so das abstrakte Allgemeine der Vernunft in konkrete Fragen gemeinsamen Lebens und des eigenen Beitrags dazu zu überführen. Seit der Aufklärung findet dies seine Zusammenfassung im Begriff der Kritik. Sie ermöglicht in einem ersten Schritt die Überschreitung von bestehenden Ordnungen im Denken und ist der Motor dafür, dass aus einer weitgehend statischen Gesellschaft eine des beschleunigten und permanenten Wandels wird.132 In diesem Prozess ist der Bürger – und zwar nun als Bildungsbürgerin und -bürger – Repräsentant eines gesellschaftlichen Gegenentwurfs, der sich auf Prinzipien einer autonomen Vernunft beruft. Zwar können die Individuen »nicht […] aus Gesellschaft überhaupt heraustreten und sich in einem Raum abstrakter Einsamkeit und Freiheit ansiedeln.«133 Vielmehr wird die Transformation traditioneller
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Jürgen Habermas (1988), Individuierung durch Vergesellschaftung. In: Ders., Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a.M., S. 187-241, hier S. 240. Habermas untersucht in seinem Aufsatz, welche Rolle der Gesellschaft für die Individuation des Einzelnen zukommt. Im Anschluss an G. H. Mead lenkt er dabei den Blick auf die Verschränkung von Identitätsentwicklung und der Interaktion mit anderen und zeigt dabei, wie unter dem Vorzeichen zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung diese Identitätsentwicklung der Einzelnen in eine neue Phase eintritt. R. Koselleck erscheint das gesamte 18. Jahrhundert wie ein einziges Gerichtsverfahren: »Der hohe Gerichtshof der Vernunft, zu dessen natürlichen Beisitzern die aufsteigende Elite selbstbewusst zählte, verwickelte in verschiedenen Etappen alle Bereiche des Lebens in seine Prozessführung. Die Theologie, die Kunst, die Geschichte, das Recht, der Staat und die Politik, schließlich die Vernunft selber, werden früher oder später vor seine Schranken zitiert und haben sich zu verantworten«. (R. Koselleck (1973), Kritik und Krise. Frankfurt a.M., S. 6). J. Habermas (1988), Individuierung, a.a.O., S. 223.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Orientierungen in die Gestalt neuer diskursiver Verkehrsformen und Lebensstile von jedem einzelnen Individuum gefordert. Aber dabei schöpft es seine Wertvorstellungen auch aus kulturellen Traditionen, die weit zurückreichen, d.h. ganz anderen Erfahrungsquellen entstammen. Erst durch den privaten »Innenraum« der Bildungsprozesse, die unterschiedliche Wissensquellen zusammenführen, werden sie der Reflexion zugänglich. Dafür, dass sich jeder über diese Reflexionsprozesse als Individuum begreifen soll, formulieren Bildungstheorien die Programmatik. Bildung als Vervollkommnung individueller Anlagen wird zunächst eher von einem gezielten Aufsuchen von Erfahrungen erwartet, die dem Ich ermöglichen, sich auf neue Weise zu begreifen. Das in diesen Erfahrungen auf seine Ziele, Mittel, Fähigkeiten, Voraussetzungen reflektierende Ich stößt auf seine Individualität und das Bedürfnis, sie auszubilden, darauf, seine individuellen Zwecke besser zu begreifen, die Verfügung über die eigenen Fähigkeiten zu erweitern. In diesem Klima entwickelt sich ein Bildungsbegriff, der die Forderung, sich als Individuum zu begreifen, als Brücke zwischen Selbstbezug und Weltbezug konzipiert. Dieser Weltbezug wird an Wissenserwerb gebunden und ihm ein Zuwachs an Möglichkeiten zugeschrieben, sich selbst zu begreifen. Neu erworbene Kenntnisse verändern den reflexiven Zugang zu sich selbst, so die Erwartung. Dabei verschiebt sich der Bildungsbegriff von einer anfänglichen Betonung von Aspekten der Lebensgestaltung, Diskursfähigkeit und der Selbstentfaltung hin zu kognitivem Wissenserwerb. Stärker als spätere Fassungen betonen aber die Konzeptionen des 18. Jahrhunderts das Eigensinnige von Bildungsprozessen, die weitgehend selbst gewählt werden und zum wenigsten mit Schule in Verbindung gebracht werden. Wenn es im 19. Jahrhundert durch die Institutionalisierung von Bildung als Schulbildung zu einer Verengung auf deklaratives Wissen kommt, ist dies offensichtlich diesen individualistischen Tendenzen des vorangegangenen Jahrhunderts gegenüber als Korrektiv gedacht. Denn der Eigensinn von Bildung zeigt sich als ein Denken in Gestalt von Dafürhalten, Meinen, Urteilen und nicht über den Erwerb von gesicherten Erkenntnissen. Die institutionalisierte Bildung verändert dieses Verhältnis zum Denken. Durch verpflichtende Lehrpläne und die Permanenz von Leistungsnachweisen soll ein Sockel an Qualifikationen die gemeinsame Basis aller sein, die sich zur Schicht der Gebildeten rechnen, und diese Qualifikationen beruhen auf einem entindividualisierten Verständnis von Wissen. Für Hegel wäre der Aufbau eines solchen Wissens ein notwendiger Schritt in den Entwicklungsphasen des Geistes, für Humboldt ein sinnloser, für Novalis bloße und wieder zu verlassende Vorstufe.
In diesen Lektüren einiger zentraler Texte der Zeit um 1800 wird die Entstehung von Bildungskonzeptionen anhand einer Reihe für sie charakteristischer Denkfiguren verfolgt. Diese ersten Bildungstheorien können als Vorarbeiten zu einer erst noch zu schreibenden Theorie der Moderne gelesen werden, da sie drei Elemente dieses Übergangs thematisieren: das Entstehen postkonventioneller Formen des Selbstbezugs, damit das Vertrauen in Reflexionsleistungen und damit die Begründbarkeit eigener Entscheidungen und schließlich Enttraditionalisierungen in der Auffassung von Wissen. Sicher spielen die Orientierungen an der Antike und daraus abgeleitete Harmonievorstellungen noch eine bedeutende Rolle, aber daneben treten modernetypische Fragestellungen wie die nach der Gestaltbarkeit eigener Identität. Die Thematisierung von Bildungsprozessen kreist dabei anfänglich um Vorstellungen der Selbstvervollkommnung, der harmonischen Ausbildung individueller Eigenschaften und dergleichen, daneben aber auch, und zwar zunächst im Dienste dieser Vervollkommnungsideen, um die Möglichkeit der Vermittlung des Eigenen und des Fremden, des Selbst- und Weltbezugs. In der weiteren Entwicklung der Bildungsidee lässt sich ein allmähliches Verblassen solcher Harmonievorstellungen und eine gleichzeitige Ausdifferenzierung des Gedankens der Vermittlung beobachten. Die unterschiedlichen Formen des Selbst- und Weltbezugs, die sich dabei herauskristallisieren, werden in den folgenden drei Lektüren als drei alternative und darin paradigmatische Entwürfe der Aufgaben von Bildung verstanden.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
5.1
Bedeutungsfacetten des Bildungsbegriffs
Seine Intention, eine »philosophische Theorie der Menschenbildung« (II 129) zu entwickeln, hat Wilhelm von Humboldt in immer neuen Ansätzen und unter verschiedenen Perspektiven verfolgt – von der Aussage, »was sich […] nur fortentwickelt und bildet, nähert sich seinem Untergang« (I 569)1 bis hin zur Erklärung von Bildung als dem »wahre[n] Zweck des Menschen« (I 64)2 . Mit Ausnahme der »Schulpläne«, die er in seiner kurzen Amtszeit als Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultur und Unterricht im Preußischen Ministerium des Inneren in den Jahren 1809 und 1810 verfasst, sind seine bildungstheoretischen Texte keine präskriptiven Entwürfe und nur selten eine Auseinandersetzung mit der bestehenden Bildungspraxis. Sein Interesse gilt vielmehr dem »Entwicklungsgang des menschlichen Geistes« (III 411) und dies sowohl als Entwicklung des Individuums als auch der Gattung im Verlaufe der Geschichte. In beiden Fällen sieht er ihn auf »die höchste, bestimmteste und übereinstimmendste Ausbildung aller menschlichen Kräfte« ausgerichtet (I 392); individuelle Bildungsprozesse sind Teil des Entwicklungsprozesses einer gemeinschaftlich handelnden »Menschheit«, aber der ist seiner Auffassung nach nun, am Ende des 18. Jahrhunderts, in eine neue Phase eingetreten: Bildung erlange jetzt, in dieser politischen Situation, die mit der Französischen Revolution eingetreten ist, eine wachsende Bedeutung, da die sich abzeichnende »Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit […] einen gleich hohen Grad der Bildung« erfordere (I 58).
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Zur Schreibweise der Humboldt-Zitate vgl. Kapitel 2, Anm. 3. In Klammern eingefügte Quellenangaben im Text beziehen sich auf: Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Darmstadt 1960-1981. Ich stelle im Folgenden häufig Zitate aus Humboldts Werken unabhängig vom Entstehungszeitpunkt des zitierten Textes nebeneinander. Grund ist die auffällige Kontinuität in den Themenstellungen und Positionen des Autors, die zur Folge haben, dass sich Gedanken über die Jahrzehnte eher ausdifferenzieren, als dass sie revidiert würden. Wo dies doch geschieht, weise ich darauf hin.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Vielfach setzt Wilhelm von Humboldt einen bereits etablierten Sinn von »Bildung« im Sinne von Kultiviertheit und Informiertheit einfach voraus, so wenn er von den »gebildeten Klassen« (III 285) spricht. »Bildung« ist hier kein inhaltlich geklärtes Konzept, etwa einer spezifischen kulturellen Praxis, die von anderen Formen der Selbstentfaltung abgegrenzt werden kann. Humboldts Wortgebrauch führt den Bildungsbegriff sozusagen in statu nascendi dem Leser vor. »Bildung« kann bei ihm Prozess, aber auch dessen Ergebnis bedeuten, eine übergreifende kulturelle Entwicklungsdynamik (vgl. I 574), aber auch den intentionalen Akt eines Individuums (vgl. I 239), sie kann Resultat einer subjektlosen naturgesetzlichen Entfaltung im Sinne einer bestimmten Dynamik sein, die für alles menschliche Leben kennzeichnend ist, oder das Werkzeug der »stufenweisen Erweiterung« eigener Fähigkeiten (I 570). Dabei verschwimmt der Gebrauch des Wortes »Bildung«, überschneidet sich an den Rändern mit »Entwicklung« als quasi naturgesetzlichem Prozess und »Gestaltung« als intentionalem Eingriff. Bildung hat die Aufgabe, »die schwache natürliche Anlage zu stärken, der entschiedenen aber Freiheit zu gewähren« (IV 197); geeignete Mittel, dies zu erreichen, sind »Religion, Verfassung, öffentliches, häusliches und einsames Leben (also zugleich Vergnügungen, Kunst, Philosophie und Wissenschaft)« (I 574). In Humboldts Denkbewegung zeigt sich in der Abfolge seiner Schriften ein zunehmendes Bestreben, sich einen festen theoretischen Boden in Gestalt eines eingegrenzten oder zumindest definierten Forschungsbereichs zu schaffen, der ein Zusammenspiel von empirischen und spekulativen Herangehensweisen ermöglichen soll. Die Themenwahl gleicht einer Suchbewegung, führt von staatstheoretischen Schriften zu Reflexionen über Anthropologie und Weltgeschichte, um sich schließlich auf die Sprachforschung zu konzentrieren. Wenn in all diesen Texten die Reflexionen – häufig implizit – um Bildungsprozesse kreisen, so verschiebt sich doch dabei der Sinn von Bildung und ist nacheinander erst ein anderes Wort für menschheitsgeschichtliche Aufgaben, bezeichnet dann den Prozess der Individuation und wird schließlich zum Begriff für den Prozesscharakter von Denken und Verständigung unter dem Einfluss von Sprache. Um 1797 geht Humboldt von der Annahme aus, das »Menschengeschlecht« sei »ein großes Ganzes […], dessen einzelne Glieder sich durch eine planmäßige Ausbildung ihrer verschiedenen Kräfte Einem gemeinschaftlichen Ziele nähern.« (III 380)3 Dies geschehe durch die »innere Entwicklung der Fähigkeiten und Neigungen« (I 25, 121). Dabei geht es ihm weniger darum, wie diese Entwicklung von außen angeregt und was gesellschaftlich dafür bereitgestellt werden muss: »Denn alle Bildung hat ihren Ursprung allein in dem Innern der Seele, und kann durch äußere Veranstaltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden.« (Ebd.) Diese in jedem Menschen vorhandenen produktiven Impulse werden in den Schriften nach 1800 zu Wirkungen »einer zum Grunde liegenden, sich nach uns unbekannten Bedingungen entwickelnden Kraft« in jedem Individuum (III 388), ein selbsttätiges Prinzip, das auf Steigerung und Vervollkommnung angelegt ist; zugleich nimmt es bei Humboldt die Bedeutung aktiver Selbstvergewisserung an: Die eigene Kraft soll in ihrer individuellen Besonderheit »zum Bewusstsein« (I 573), der Einzelne »zur Klarheit des Bewusstseins« kommen, auf welche besondere Weise sich in ihm aufgrund seiner Individualität die »Idee der Menschheit« verwirkliche (I 3
»Einem« hier zwecks Hervorhebung großgeschrieben.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
575). In einem dritten Sinne von »Bildung« untersucht schließlich der Sprachtheoretiker Humboldt in seinen späten Schriften, wie sich die höheren kognitiven Funktionen, also Bewusstsein, Denken, Verständigung mit Anderen, im Medium der Sprache ausbilden. Für ihn ist Sprache »das Organ des inneren Seins, […] wie es nach und nach zur inneren Erkenntnis und Äußerung gelangt.« (III 385) Die Sprachlichkeit des Menschen könne nicht zureichend über ihre Funktionen (z.B. die »Unterhaltung gemeinschaftlichen Verkehrs« III 390) beschrieben werden, sondern »ist ein inneres Bedürfnis der Menschheit […], ein in ihrer Natur selbst liegendes, zur Entwicklung ihrer geistigen Kräfte und zur Gewinnung einer Weltanschauung […] unentbehrliches.« (Ebd.) Sprache sei es, durch die der Austausch mit anderen möglich werde und durch die jeder so »sein Denken an dem gemeinschaftlichen Denken mit anderen zur Klarheit und Bestimmtheit bringt« (ebd.). Sprache wird hier selbst zum Bildungsprinzip. Insofern versteht Humboldt Bildung, und vor allem in den Schriften vor 1800, als aktive Einflussnahme auf den Entwicklungsprozess der Menschheit, »denn der Charakter der Einzelnen bestimmt, was das Ganze vermag« (I 387). Damit verlagert sich der Fokus auf die individuelle Entwicklungsdynamik, die auf eine diese Entwicklungsschritte einholende Bewusstwerdung angewiesen sei, indem sich das Individuum Rechenschaft über die eigenen, höchst individuellen »Eigentümlichkeiten« gibt. Und schließlich sind in einem dritten Sinne Humboldts Sprachstudien eine Erforschung überindividueller und präreflexiver Bildungsprozesse, nämlich wie Sprache, »vom Geiste ausgehend, auf den Geist zurückwirkt« (III 426). Über den Idealismus hinausgehend fragt er hier, wie die Strukturen von Sprache das Selbst- und Weltverhältnis der Individuen konstituieren.
5.2
Voraussetzungen: Methodologische und theoretische Grundannahmen
In einem Feld, das zweihundert Jahre später Kulturwissenschaft genannt werden wird, sieht Humboldt zunächst einmal seine Aufgabe darin, »zu sammeln, zu sichten, zu ordnen und zu verarbeiten« (I 337). Das Verhältnis von Staat und Bürger, der Charakter des gerade zu Ende gehenden Jahrhunderts, die Grundfragen einer Anthropologie, Kommentare zur zeitgenössischen Belletristik – dies und viele weitere sind die Themenfelder seiner ersten Schriften. Er will »sorgfältig aufsuchen und zusammenstellen« (I 568). Sein Ziel, nämlich »bestimmte und getreue Schilderungen […] mit Hilfe eigener Erfahrung« (I 338), erreicht er, indem er »die Beschaffenheit erforscht, ihren Ursachen nachspürt, ihren Wert beurteilt, die Art sie zu behandeln bestimmt, und den Fortgang ihrer Entwicklung vorhersagt.« (I 337) Aber es reiche nicht, so Humboldt, »nur auffassend und wiedergebend, nicht selbsttätig und schöpferisch« vorzugehen (I 585): »Mit der nackten Absonderung des wirklich Geschehenen ist […] noch kaum das Gerippe der Begebenheit gewonnen« (I 586), um »den inneren ursachlichen Zusammenhang« (I 585) freizulegen. Der »praktische Beobachtungssinn und der philosophische Geist [müssen] gemeinschaftlich tätig sein« (I 338), um das Gefundene »vergleichend [zu] beurteilen« (I 337). Auch in der Rekonstruktion der Begebenheiten geht seine Darstellung über das Sammeln, Sichten und Ordnen hinaus: »Auf verschiedene Weise, aber ebenso wohl, als der Dichter«, müsse auch der Geschichtsschreiber »das zerstreut Gesammelte in
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Transformationen des Bildungsbegriffs
sich zu einem Ganzen verarbeiten«, denn die »Wahrheit alles Geschehenen beruht auf dem Hinzukommen jenes […] unsichtbaren Teils jeder Tatsache« (I 586), der die einzelnen Elemente verknüpft. Insofern spannen sich Humboldts Texte, obwohl sie nur Untersuchung, Darstellung, Betrachtung sein wollen, zwischen empirischer Erfahrung und Spekulation auf.4 Sie sind Reflexionen übergreifender geschichtlicher Bewegungen, aber auch der Praxis individuellen Selbstbezugs, streifen Probleme einer erst noch zu entwickelnden Verfahrensweise, bleiben aber fast immer fragmentarisch. Was Humboldt vorschwebt, ist »eine eigne, philosophisch geordnete Erfahrungstheorie« (II 129) menschlicher Lebensformen zu entwickeln. Dabei rückt deren Prozesscharakter in den Mittelpunkt, ihre Unfestgelegtheit und beständige Transformation. Jede »Charakteristik des Menschen« (ebd.) müsse von beobachtbaren Prozessen des Werdens ausgehen; ihr »Mittelpunkt ist […] die Bildung des Menschen« II 128), verstanden als Resultat dieser Umgestaltungsprozesse. Humboldt beschäftigt sich nicht mit dem auf wenige Qualitäten reduzierten Subjekt der Philosophie, er gebraucht den Begriff des Subjekts äußerst selten und benötigt ihn auch nicht. Der Mensch soll nicht »allgemein und metaphysisch gedacht« werden (III 155), sondern als Individuum. Was Humboldts Herangehensweise mit den gleichzeitig entwickelten Theorien der Subjektphilosophie verbindet, ist dass beide von der Zentralität des Ichs ausgehen. Doch bei ihm ist dieses Ich weder das weltkonstituierende Subjekt der Erkenntnistheorie, noch das sich über seine Vernunftleistungen als autonom erklärende bürgerliche Subjekt der Aufklärungstradition.5 Sein Individuum ist nicht fundierendes Prinzip, sondern immer erst im Werden begriffen; es wird nicht nur seine »Selbsttätigkeit« betont, wie dies in der Subjektphilosophie geschieht, sondern ebenso seine »Empfänglichkeit« für die Welt und darin ist es sich selbst eine unendliche Aufgabe6 . Denn wie es dies beides mitein4
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Dabei spricht er das Betriebsgeheimnis aller Theoriebildung aus: »Der beobachtende Verstand und dichtende Einbildungskraft müssen in harmonischem Bunde stehen.« (I 377) In einem ähnlichen Sinne würde man heute von »Narrativen« sprechen. Vorgebahnt wird diese Berücksichtigung des Individuellen von Fichte, bei der sie jedoch eingebunden bleibt in die Subjektphilosophie und unter diesem Vorzeichen gleichzeitig wieder zurückgenommen wird. »Erst Fichte spitzt die kantischen Begriffe auf das Problem der Individualität zu«, indem bei ihm das Ich zu dem wird, »zu dem ich mich mache«, und zwar in dieser bestimmten Individualität. (J. Habermas 1988, Individuierung durch Vergesellschaftung. In: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a.M., S. 187-241, hier S. 197) In seiner Individualität soll sich der Einzelne bei Fichte über seinen Kontakt mit einer anderen Person begreifen lernen, wobei die Prämissen der Subjektphilosophie vorgeben, dass »Subjekte füreinander nur Objekte sein können […] nach dem Muster privatautonomer Rechtssubjekte (ebd., S. 199). Unter dieser Vorgabe »verliert […] die Individualität der Rechtssubjekte jede Bedeutung« (ebd.), das Ich wird auf diejenigen Merkmale reduziert, die allen zukommen, auf eine allgemeine Vernunft, die der Einzelne zwar repräsentiert, für die aber seine Individualität ohne Belang ist. Humboldt stellt sich in seinem Denken außerhalb dieser philosophischen Tradition. »Selbsttätigkeit« und »Empfänglichkeit« in ihrer »Wechselwirkung« sind Grundbegriffe der humboldtschen Theoriebildung und ziehen sich durch eine Vielzahl von Texten. Jedoch wird diese Empfänglichkeit, eigentlich ja eine Öffnung nach außen, dann doch ausschließlich wieder auf die Entfaltung der eigenen Subjektivität bezogen: »Nur durch diese Wechselwirkung der Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit wird es [dem Individuum] möglich, sich aus sich selbst herauszustellen und sich selbst, abgesondert von allem Zufälligen, zum Objekt seiner Reflexion zu machen.« (I 275)
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
ander vermittelt, wie es zu seiner »Eigentümlichkeit« kommt, ist ihm verborgen und so muss es erst noch »vor sich selbst verständlich« werden (I 235). Dieser Prozess der Selbstverständigung ist eingebunden in den Austausch mit anderen – in Gesprächen und Briefen und in Auseinandersetzung mit schriftlichen Mitteilungen aus zurückliegenden Zeiten. Eine Theorie der Bildung des empirischen Individuums tritt an die Stelle der Subjekttheorie: Humboldt will dem Individuum als »dem wirklich vorhandenen, lebendigen, durch alle die vielfachen örtlichen und geschichtlichen Verhältnisse der Irdischheit eng bedingten« Menschen gerecht werden, der »nicht mit dem einzelnen, nicht mit der Nation allein, zu der er sich rechnet, nicht mit der jedesmaligen Generation, sondern mit allen Völkern und allen gewesenen Geschlechtern, die […] mit ihm in Sprachberührung gestanden haben« (ebd.), verbundenen ist. Diese Erweiterung der Rede vom Menschen hin zu einer universalistischen Perspektive ist neu: Für Humboldt ist »Menschheit« ein unabgeschlossenes Projekt, nämlich »das Bestreben, die Grenzen, welche Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen stellen, aufzuheben, und die gesamte Menschheit, ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe, als einen großen, nahe verbrüderten Stamm zu behandeln.« (III 147/48) Ihre Gemeinsamkeit dokumentiere sich in ihrer gemeinsamen Sprachlichkeit, der ihre Angewiesenheit auf Verständigung zu Grunde liegt und sich in einem »allgemeinen und unbestimmten Trieb nach Erweiterung« (I 387) ausdrückt. Insofern hat Wilhelm von Humboldt nicht die Absicht, neue Forderungen an die Möglichkeiten von Bildung zu konzipieren, sondern die immer schon wirkenden »Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte« freizulegen (I 43). Es geht ihm darum, Zusammenhänge »tiefer und vollständiger einzusehen« (I 54), Gesetzmäßigkeiten und Wechselwirkungen zu erkunden. Von sich sagt er, seinen Darstelllungen liege die Perspektive von jemandem zu Grunde, der »mehr als irgend einer, ein reiner Zuschauer in der Welt« ist (V 3). An kulturellen, anthropologischen, schließlich sprachgeschichtlichen Prozessen sucht Humboldt übergreifende Entwicklungsprozesse der spezifisch menschlichen »Kräfte« zu verdeutlichen: Die »in der Menschheit begriffene Fülle und Mannigfaltigkeit der Kraft« komme in der Geschichte »nach und nach zur Wirklichkeit« (I 570). Aber obwohl diese an anderer Stelle auch »Lebensprinzip« (III 388, 392) genannten Energien bereits lebensphilosophische Erklärungsmuster der Folgezeit vorwegnehmen, sind sie doch gleichzeitig in ein an Platon angelehntes Weltbild eingelassen. Neben der Vielzahl der »schaffenden Kräfte« gibt es für Humboldt »ein noch mächtiger wirkendes, nicht in unmittelbarer Sichtbarkeit auftretendes, aber jenen Kräften selbst den Anstoß und die Richtung verleihendes Prinzip […], nämlich Ideen, die ihrer Natur nach, außer dem Kreise der Endlichkeit liegen, aber die Weltgeschichte in all ihren Teilen durchwalten und beherrschen.« (I 601) Diese Wiederaufnahme der Ideenlehre amalgamiert er mit monotheistischen, wenngleich nicht ausdrücklich christlichen Grundüberzeugungen, dem Glauben an »eine versteckte, von höheren Absichten geleitete« Ordnung« (I 384). Das platonische Reich der Ideen wird einem göttlichen Prinzip unterstellt, das er »Weltregierung« nennt: Der Mensch könne »die Plane der Weltregierung nicht unmittelbar erspähen, sondern sie nur an den Ideen erahnen […], durch die sie sich
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Transformationen des Bildungsbegriffs
offenbaren« (I 604), und so sei auch die »menschliche Individualität […] eine in der Erscheinung wurzelnde Idee« (I 603). Humboldts Gedankengänge gehen insofern von einem Zusammenspiel von (empirischen) Kräften und (metaphysischen) Ideen aus, die als Formprinzipien die Bildungsprozesse der Individuen und ganzer »Nationen« bestimmen7 . Seine Antworten auf die Frage, was diese Dynamik antreibt, sucht er in Erfahrung und Spekulation, impliziten Bezügen zu platonischen und neuplatonischen Gedanken8 und im Laufe der Jahrzehnte einer verstärkten Hinwendung zu einer empirischen Forschung, die den Wissenschaftsauffassungen des 19. Jahrhunderts vorgreift. Aber seine Denkvoraussetzungen speisen sich in erster Linie aus der Lektüre antiker Autoren, und auch wo er neue Kategorien und Fragestellungen aufnimmt, werden sie rückbezogen auf diesen gedanklichen Hintergrund. Mit seiner Ideenlehre geht Wilhelm von Humboldt hinter den subjektiven Idealismus zurück, mit seiner Betonung einer »Physik« (I 578) historischer Entwicklungsprozesse und seinem Kraftbegriff greift er hingegen evolutionsund psychodynamischen Theorien des späten 19. und 20. Jahrhunderts vor. Diese eigenartige Verknüpfung philosophischer Theoriebausteine (neben antiken Autoren vor allem Leibniz, Spinoza, Kant, Schiller, Fichte) mit neuen, gerade erst Gestalt annehmenden empirischen Forschungsansätzen kann in vielen Bereichen nicht auf etablierte Wissenschaftsdiskurse und Theoriesprachen zurückgreifen, da die entsprechenden Einzelwissenschaften (Kulturanthropologie, Ethnologie, Soziologie, Entwicklungspsychologie, Sprachwissenschaft) zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht vorhanden oder allenfalls im Entstehen sind. Andererseits entzieht sich Humboldt auch den rigorosen Ansprüchen der akademischen Fachphilosophie, zum Teil aus kritischer Distanz (vgl. I 595/6), zum Teil aus Desinteresse: »ich habe unglaublich wenig gelesen«, gesteht er im »Bruchstück einer Selbstbiographie« aus dem Jahre 1816. (V 10) Auch durch den zu dieser Zeit noch geringen Entfaltungsgrad einiger Wissenschaftsdisziplinen, auf die er sich ansatzweise bezieht, bleibt also vieles skizzenhaft oder überhaupt in Vorüberlegungen stecken; viele in den Überschriften angesprochenen Themen kommen über die Einleitung dazu nicht hinaus, gleichzeitig nötigt ihn aber das Fehlen einer fertigen theoriesprachlichen Terminologie zu differenzierten Beschreibungen und ausführlichen Erkundungen von Zusammenhängen. Und andererseits macht ihn der Verzicht auf eine philosophische Ausbildung, die im eigentlichen Sinne fachlichen Standards gerecht wird, von der Disziplin unabhängig: »Die Stärke der Humboldtschen Betrachtung liegt in der terminologischen Schwäche Kant und Fichte gegenüber«9 , so Liebrucks, denn dies führe dazu, Fragen neu und auf bisher ungedachte Weise zu formulieren. Der von ihm projektierten Theorie des Individuellen »fehlen auch heute noch sämtliche Kategorien. […] Wo er von der Bahn 7 8
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Das Wort »Nation« bezeichnet bei Humboldt keine politische Entität, sondern wird eher im Sinne der Ethnie gebraucht. An neuplatonische Weltbilder lässt die hierarchische Stufung denken: Über einem Sockel von »Kräften« errichtet sich die Ebene des Individuellen. Durch Bildung erheben sich dann individuelle Merkmale zur Ebene des Ideals. Ihm übergeordnet ist das Reich der Ideen und schließlich die Ebene einer »die Weltbegebenheiten lenkenden Vorsehung« (I 579). Bruno Liebrucks (1965), Sprache: Wilhelm von Humboldt. Sprache und Bewusstsein, Bd. 2. Frankfurt a.M., S. 18.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
der Individualität spricht, wird er dafür eine Philosophie anvisieren, die wir heute noch nicht erreicht haben.«10 Wahrscheinlich gilt dies nach wie vor.
5.3
Vom Wert der Verschiedenheit
Besonders in den frühen Schriften ist es Humboldt wichtig zu zeigen, dass die historische Phase, in der er sich befindet, eine steigende Bedeutung von Bildung mit sich bringt. Unter dem Eindruck der Aufklärung sieht er sich in einer Zeit, in der es um »Geistesfreiheit« gehe (I 31) und das heißt, dass man »Menschen bilden, nicht zu äußeren Zwecken [er]ziehen will« (I 16). Während vergangene Kulturen auf Gehorsam gegenüber Autoritäten beruhten, sei an dessen Stelle jetzt die »Freiheit der eigenen […] Bildung« (I 8) getreten, deren Ausgestaltung dem Individuum überlassen bleibt. Dies bedeutet einerseits die »Erhaltung der grenzenlosesten Freiheit zu denken, zu untersuchen« (I 32), fast noch wichtiger ist Humboldt aber die Forderung, dass »jeder Einzelne der ungebundensten Freiheit genießt, sich aus sich selbst, in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln.« (I 69). Die Entfaltung individueller Fähigkeiten sei die entscheidende Aufgabe seiner Zeit: »Endlich steht […] das Menschengeschlecht jetzt auf einer Stufe der Kultur, von welcher es sich nur durch Ausbildung der Individuen höher emporschwingen kann« (I 105). »Denn offenbar sind wir im Werden« (V 174), lautet für Humboldt das Fazit.11 Schon einmal, so Humboldt, ermöglichten die politischen und sozialen Verhältnisse eine solche, freilich nur wenigen vorbehaltene Bildungskultur. In der griechischen Antike etablierte sich neben dem »öffentlichen und häuslichen [Leben] noch ein drittes«, eine Sphäre, in der man »sich mit Dingen beschäftigte, die nicht unmittelbar auf einen äußeren Zweck gerichtet waren« (II 48/9), sondern ganz der »Sorgfalt für die körperliche und geistige Bildung« gewidmet waren (II 14). Studiere man die Zeugnisse jener Epoche, so erscheine sie als »eine bessere Heimat, zu der man jedes Mal gerne zurückkehrt« (II 25). Aber die europäische Moderne stehe mit der Antike auch »in einem wirklichen und Sachzusammenhange« kultureller Traditionen (II 86). Umstandslos daran anknüpfen lasse sich allerdings nicht, da die Menschen der Gegenwart »wieder auf einer andren, und unstreitig höheren Stufe [stehen], wenigstens auf einer, die uns höher führen kann.« (V 174) Insofern kann die Antike zwar zur Orientierung dienen, ist aber nicht mehr uneingeschränktes Vorbild; »das Altertum und die neuere Zeit [liegen] in zwei verschiedenen Sphären« (II 95). Was sich über alle historischen Phasen erhält, was er in der Antike erkennt und in seiner Gegenwart wieder, ist ein Bedürfnis nach Selbstentfaltung und Erweiterung, das er »Bildungstrieb« nennt (I 288), ein im 18. Jahrhundert von Johann Friedrich Blumenbach eingeführter Begriff, der auf den bei allen Lebewesen beobachtbaren Instinkt der Selbsterhaltung und Gestaltung der eigenen Umwelt zielt. Beim Menschen zeige er sich als ein »auf unbegrenzte Erweiterung der vereinten Energie seiner Empfänglichkeit und 10 11
Ebd., S. 14. W. v. Humboldt (1981), An Chr. G. Körner: Zur philosophischen Geschichte der Menschheit. Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. V. Darmstadt, S. 171-174, hier S. 174.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Selbsttätigkeit« gerichtetes Verlangen (I 68), dem es um die Befriedigung eines »mehr, oder minder lebendigen geistigen Triebes nach Erweiterung« gehe (III 8). Es ziele nicht auf Äußeres, etwa einen Zuwachs an Wohlstand, nicht einmal auf Glück, sondern einzig und allein auf die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten (vgl. I 72). In seiner Abhandlung zu Goethes »Hermann und Dorothea« präzisiert er dies: Unabweisbar sei der »menschliche Geist« mit einem »letzten Ziele seines Strebens« konfrontiert, »dem Ziele nämlich: die ganze Masse des Stoffs, welchen ihm die Welt um ihn her und sein inneres Selbst darbietet, mit allen Werkzeugen seiner Empfänglichkeit in sich aufzunehmen und mit allen Kräften seiner Selbsttätigkeit umzugestalten und sich anzueignen« (II 127).12 Damit richtet sich der Blick auf das Individuum, denn nur als individueller Akt und nicht als Wirken einer allgemein gedachten Vernunft wird diese verändernde Kraft des Aufnehmens, Aneignens und Umgestaltens von Humboldt gedacht. Das Individuum wird zum Zentrum aller geschichtlichen Hoffnungen: »Jede Bemühung für die Fortschritte des Menschengeschlechts, die nicht von der Ausbildung der Individuen ausginge, würde schlechthin fruchtlos und chimärisch sein; wird hingegen für diese gesorgt, so erfolgt jener Einfluss auf das Ganze von selbst und ohne ausdrücklich darauf gerichtete Absicht.« (I 392) Dies gilt insbesondere in einer Welt, in der »alles außer uns wankt« (I 506), wie Humboldt angesichts der Französischen Revolution in seinem Fragment »Über den Geist der Menschheit« 1797 formuliert. Wenn doch, so frage er, »in einem der bedeutendsten und kultiviertesten Teile der Erde eine wirkliche Umkehrung aller Verhältnisse stattgefunden hat, […] wieviel sich in den übrigen davon erhalten wird?« (ebd.) Allgemeinverbindliche normative Regelungen verlieren unter diesen Umständen ihre Gültigkeit, stattdessen wird die Vergewisserung individueller Fähigkeiten bedeutsam. Dies aber, so Humboldt, habe den Charakter einer historischen Notwendigkeit: In dieser Perspektive erscheine jene »Umkehrung […] als das einzig Rechtmäßige, als etwas absolut und moralisch Notwendiges«. (Ebd.) In der fünf Jahre vorher erschienen Abhandlung über die »Grenzen der Wirksamkeit des Staates« hatte er diesen Gedanken einer historischen Notwendigkeit der Individualisierung zuerst entwickelt: Sein Zeitalter verfüge über einen Zuwachs an »Kultur und Aufklärung« (I 58), die eine »höhere Freiheit der Kräfte« voraussetzen, aber zu ihrer Einlösung »einen gleich hohen Grad der Bildung« (ebd.) erfordern. Die wachsende Individualisierung gehe mit einem »geringere[n] Bedürfnis« der Menschen einher, »in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln«, dies aber erfordere »eine größere Stärke und einen mannigfaltigeren Reichtum der handelnden Individuen« (ebd.). Auf »Eigentümlichkeit der Kraft und der Bildung« (I 65) komme es deshalb an, entscheidend sei, wie »die in der Menschheit begriffene Fülle und Mannigfaltigkeit der Kraft nach und nach zur Wirklichkeit kommt« (I 570) und damit die »Entwicklung eines Reichtums großer individueller Formen« (I 576). Denn es seien die Individuen, die »durch die Kraft ihrer Eigentümlichkeit dem menschlichen Geist einen neuen Schwung in der bis dahin unentdeckt gebliebenen Richtung erteilen« können (III 413). Humboldt legt den »Wert der Verschiedenheit« (I 357) allen seinen Reflexionen zugrunde, er ist nicht nur Forderung der von ihm skizzierten Gegenwart, sondern von überzeitlicher Bedeutung: Das, was sich als Individualität zeigt, versteht er als »ein inneres, sich in seiner 12
Vgl. ähnliche Formulierungen in der »Theorie in der Bildung des Menschen« S. 237.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
Fülle frei entfaltendes Lebensprinzip« (III 388), »Wirkung einer zum Grunde liegenden, sich nach unbekannten Bedingungen entwickelnden Kraft« (ebd.).13 Sie fungiert als ein unendliches Reservoir von Veränderung: »Keine Kraft ist mit dem, was sie bis jetzt gewirkt hat, vollendet. […] Es kann und muss ewig fort Neues entstehen.« (II 28) Aber obwohl sie der Ausprägung neuer individueller Gestaltungen zugrunde liegt – Individuen sind »immer neue Versuche der mit Kraft zeugenden Natur« (I 569) – ist sie doch eine Art gemeinschaftliches Substrat aller Menschen. »Die individuelle Kraft des Einen ist dieselbe mit der aller Anderen, und der Natur überhaupt.« (II 28) Dies erst eröffne die Möglichkeit gegenseitiger Verständigung.14 Die Möglichkeit der Individualisierung ist insofern für Humboldt aufs engste damit verbunden, dass »alle gemeinschaftlich zusammenwirken« (I 339). Die individuellen Verschiedenheiten der Einzelnen seien darauf angelegt, »nur mit einander ein vollständiges Ganzes zu bilden« (I 385). In der Tradition des Leibniz’schen Gedankens einer prästabilierten Harmonie der individuellen Monaden sind für ihn Individuum und die Gemeinschaft mit anderen zwei Seiten derselben Sache: »Verschieden in ihren Anlagen und Fähigkeiten, teilen alle Menschen das gleiche Interesse miteinander, und verfolgen dasselbe Ziel« (I 384). Zwischen den Individuen bestehe genauso eine »Einheit des Geistes« (I 387), wie jede Monade die Gesamtheit aller repräsentiert15 . Dadurch entsteht eine Resonanz zwischen den Individuen, und zwar »nicht bloß in einem eng beschränkten Kreise, sondern auf weite Entfernungen und in späte Jahrhunderte« (I 384). Auch dieser Dialog über räumliche und zeitliche Entfernungen hinweg ist für Humboldt ein Bildungsprozess; er ist auf die Erfahrung der Fremdheit und ihre subjektive Verarbeitung angewiesen: »Denn nur über das Entgegenwirken fremder Kräfte kann das Wachstum der eigenen gedeihen« (ebd.). Der Mensch sei »ein Tier der Geselligkeit«16 (I 13
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Alfred Schäfer versteht diese Kraft als die radikale Freiheit individueller Selbstbestimmung, die aber gleichzeitig Motor der Vervollkommnung sein soll und dabei einer allgemeinen Maßgabe, dem Ideal der Menschheit folgt. Damit aber, analysiert Schäfer, verwickelt sich Humboldts Argumentation in einen Widerspruch: Kraft als radikale Freiheit und Vervollkommnung als Realisierung eines vereinheitlichenden Ideals lassen sich nicht aufeinander beziehen. (Alfred Schäfer (1996), Das Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion. Weinheim, S. 67ff) Insofern hat die von Humboldt entwickelte Bestimmung der Bedeutung des Individuellen nichts mit Individualismus zu tun. Individualismus hieße, seine partikularen Interessen in den Mittelpunkt zu stellen und keine für alle geltenden Werte anzuerkennen. Humboldt geht davon aus, dass eine gemeinsame Verständigung über Werte, die für alle Geltung haben, gerade aufgrund der individuellen Sichtweisen auf dieses Thema möglich wird. Individuelle Präferenzen wären dann die Bedingung dafür, in einen solchen Verständigungsprozess eintreten zu wollen. Individualismus aber verweigert sich solchen Diskursen. »Mit jedem lebendigen Wesen sind wir gleichsam verwandt, und erwarten in ihm nichts, als wovon wir wenigstens analoge Empfindungen haben.« (I 49) Etwas nüchterner formuliert: »Jede Monade drückt von ihrem Standpunkt aus repräsentativ die Gesamtheit aller anderen Monaden aus (Yvon Belavel (1974), Artikel »Harmonie, prästabilierte. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3. Darmstadt, Sp. 1001-1003, hier Sp. 1002), da aufgrund der Schöpfungsgedanken Gottes »in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung steht.« (Leibniz, zit. Hans Poser (1984), Artikel »Monade«. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6. Darmstadt, Sp. 117-121, hier Sp. 119). Zu Humboldts Leibniz-Rezeption vergl. Clemens Menze (1980), Leibniz und die neuhumanistische Theorie der Bildung des Menschen, Opladen. So Humboldts Übersetzung des »zoon politikon« des Aristoteles.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
573), der des Anderen bedarf, um sich »zum Bewusstsein des Ichs« erheben zu können (ebd.). Das Ichbewusstsein bildet sich durch das Du. »Daher müssen sich die Menschen untereinander verbinden, nicht um an Eigentümlichkeit, aber an ausschließendem Isoliertsein zu verlieren; die Verbindung muss nicht ein Wesen in das andere verwandeln, aber gleichsam Zugänge von einem zum anderen eröffnen; was jeder für sich besitzt, muss er mit dem, von andren Empfangenen vergleichen, und danach modifizieren, nicht aber unterdrücken lassen.« (I 82) Und schließlich rückt Humboldt dieses Bedürfnis nach Gemeinschaftlichkeit in die Perspektive einer Fortschrittsgeschichte der Gattung, indem er den »erhabenen Gedanken eines allgemeinen Zusammenwirkens aller Wesen und Kräfte« auszubuchstabieren sucht (I 388), basierend auf dem Glauben an die »Verbindung der einzeln mangelhaften Anlagen […] zu einem vollkommenen Ganzen« (I 391). Gerade der gesellige Verkehr soll auf die »innere Bildung« zurückwirken (I 31, 77, 91). Der »freie und alltägliche Umgang in engeren und weiteren Verbindungen – in der Ehe, der Freundschaft, kleineren und größeren gesellschaftlichen Zirkeln« – wird zur »Charakterbildung« (I 343). Die Bedeutung des Dialogischen erlebt der junge Humboldt in Berliner Salons, und doch aus Quellen gespeist, die weit hinter diese gesellschaftliche Sphäre zurückreichen. In den Lesekreisen Berliner Jüdinnen, Gegenveranstaltungen zu den damals entstehenden Literaturgesellschaften des Berliner Großbürgertums, aus denen sie als Frauen ausgeschlossen sind, trifft er auf eine facettenreiche Gesprächskultur. Anders als in der »Mittwochsgesellschaft« der männlichen Honoratioren, deren Programm vor allem aus wissenschaftlichen Vorträgen besteht, steht im Salon von Henriette Herz der gemeinsame Austausch über Gelesenes im Mittelpunkt. Das Vorbild für diese Offenheit der Gespräche findet sich in der Erfahrung gemeinsamer Auslegung von Texten als Element religiöser Praxis: In den jüdischen Talmudschulen steht neben dem Vorlesen der Thora, dem Gebet und der Predigt die freie Diskussion. Es ist ein Gedankenaustausch ohne Anspruch einer verbindlichen oder gar abschließenden Interpretation, es gibt kein Richtig oder Falsch der Auslegung; jede der anwesenden Personen trägt zur »Erneuerung des Wissens« bei.17 Dieses Vertrauen in das Gespräch als gemeinsames Nachdenken und die entscheidende Rolle, die dabei der Unabschließbarkeit der Wahrheitssuche zukommt, wird sich später in Humboldts Konzept universitärer Forschung als gemeinsamer Austausch aller Beteiligten, der Lehrenden und Lernenden, wiederfinden (vgl. IV 256). Aber zunächst spielen Bildungsinstitutionen in Humboldts Gedankengängen noch keine Rolle. Noch ist Bildung identisch mit einer »Mannigfaltigkeit der Situationen« (I 64), in die sich das Individuum hineingestellt sieht, mit der Freiheit, zwischen ihnen zu wählen, und mit der Erfahrung eigener Selbstständigkeit in der Verarbeitung der dabei gemachten Erfahrungen. »Eine solche Mannigfaltigkeit aber gibt ihm der Einfluss vielfältiger Verhältnisse. Je mehr er [der Mensch] sich demselben öffnet, desto mehr neue Seiten werden in ihm angespielt, desto reger muss seine innere Tätigkeit sein, dieselben einzeln auszubilden und zusammen zu einem Ganzen zu verbinden. Das Zweckwidrige
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Ingrid Lohmann (1992), Über die Anfänge bürgerlicher Gesprächskultur – Moses Mendelssohn (1729-1786) und die Berliner Aufklärung. Pädagogische Rundschau (46), Heft 1, S. 35-49, hier S. 44.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
und Verderbliche ist bloß das untätige Hingeben an einen einzelnen.« (I 346)18 . Dies zu verhindern bedürfe es »der Anleitung einer richtigen Bildungstheorie« (ebd.) bzw. eines »Leitfaden[s] bei der freien Selbstbildung jedes Einzelnen« (II 129). Ein solcher Leitfaden findet sich freilich bei Humboldt nicht; am ehesten hat er ihn wohl in der Vita von »ausgezeichneten Menschen, die uns […] zum Vorbilde dienen«, erblickt (I 512), wie er in der Skizze »Über den Geist der Menschheit« ausführlich darlegt (vgl. insbesondere I 514). Zu seiner Selbstbildung blickt demzufolge der Einzelne »um sich her und wählt sich diejenigen Individuen aus, welche ihm den besten und höchsten Begriff vollendeter Menschheit geben.« (I 509) Orientierung an Vorbildern und die eigene Individuation sind für ihn kein Widerspruch.
5.4
Selbstbezug und Weltbezug
Die bildungstheoretisch relevanten Schriften Humboldts sind allesamt in einer Zeit entstanden, als er noch keinen Zusammenhang zwischen individueller Bildung und institutionellen Lehr-Lern-Prozessen sieht. Bildung ist für ihn die frei gewählte Selbstbildung und Schule ein Ort, an dem bestimmte Kulturtechniken vermittelt werden, die möglicherweise zwar gewisse Voraussetzungen für Selbstbildung bereitstellen, andererseits Gewohnheiten aufbauen, die Bildungsintentionen eher schwächen. Bildungsprozesse sind auf die Mannigfaltigkeit von Eindrücken und den »Einfluss vielfältiger Verhältnisse« angewiesen (I 346); deshalb kommen Schulen als Bildungsinstanzen kaum in Frage. Am wenigsten erscheinen ihm staatlich organisierte Schulen dazu geeignet, da sie immer eine gewisse »Einheit der Anordnung« zur Voraussetzung und damit »auch allemal eine gewisse Einförmigkeit der Wirkung« zur Folge haben (I 108). Bevor Humboldt – ungern und fast gegen seinen Willen – preußischer Staatsrat in der Sektion für Kultur und Unterricht wird, erscheint es ihm als undenkbar, das, was Bildung will, mit einem staatlich reglementierten Schulwesen zu vereinbaren: »Anordnungen des Staats […] führen immer, mehr oder minder, Zwang mit sich, und selbst, wenn dies der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken.« (I 73)19 18
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Zu dem, was hier von Humboldt ausschließlich als Gewinn verstanden wird, macht Dietrich Benner (2003) die Gegenrechnung auf. Die von Wilhelm von Humboldts begrüßte Offenheit wird bei ihm zum »Hinweis auf die Einsamkeitserfahrung und Ungeborgenheit des neuzeitlichen Menschen …, der seine Bestimmung keinem vorgegebenen Ordnungszusammenhang mehr zu entlehnen weiß, sondern die Erfahrung macht, dass er als das einzige freigelassene Wesen der Schöpfung (Herder) gar keine Bestimmung in sich selbst hat, sondern bestimmungslos seine Bestimmung finden und suchen muss.« (Dietrich Benner (2003), Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Weinheim, S. 96) Es ist bemerkenswert, dass das von Benner angesprochene Leiden an der Freiheit für Wilhelm von Humboldt an keiner Stelle seiner theoretischen Schriften auch nur angedeutet wird, so als ließe er dieselben Gedanken nicht zu, denn fremd ist er ihm nicht, wie die »Autobiographische Notiz« zeigt. Dennoch wird ausgerechnet Humboldt es sich als Staatsrat zur Aufgabe machen, auf der Notwendigkeit staatlicher Eingriffe in das sich entwickelnde Bildungssystem zu insistieren. So sehr er einerseits den Einfluss des Staates zu begrenzen sucht (vgl. IV 256/57, 260), so ist er es doch, der ein durchgängiges System staatlicher Prüfungen plant, angefangen von Versetzungs- und Ab-
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Transformationen des Bildungsbegriffs
»Freiheit und Selbstüberlassung« (I 91) seien deshalb neben einer Vielfalt von Erfahrungsmöglichkeiten Voraussetzungen der Selbstbildung, vor allem aber sei sie darauf angewiesen, dass der Einzelne »zuerst sich in dem vollsten Sinne des Ausdrucks kennen« muss (I 392). Dies werde dadurch erreicht, dass wir ohne Selbstzensur »uns selbst, und jede innere oder äußere Veränderung, die mit uns vorgeht, unaufhörlich mit prüfendem und richtendem Nachdenken verfolgen, alles in uns wissen und würdigen« (I 417). Reflexion und Selbstreflexion werden für »ein genaues Studium seiner selbst« (I 416) zentral. »Um zu reflektieren, muss der Geist in seiner fortschreitenden Tätigkeit einen Augenblick still stehen, das eben Vorgestellte in eine Einheit fassen, und auf diese Weise, als Gegenstand, sich selbst entgegenstellen« (V 97). In der Reflexion tritt das Individuum einen Schritt von seinen Lernerfahrungen zurücktritt, um sie neu zu bewerten, Zusammenhänge genauer zu sehen, eigene Ziele zu formulieren und darüber sich besser zu begreifen. Sie ist aber auch eine Übung in Selbstdistanzierung, nämlich im »Unterscheiden des Denkenden von dem Gedachten« (ebd.), und darüber wird das Individuum sich selbst zum Thema. Gleichzeitig aber findet es sich mit einer Welt konfrontiert, die in verschiedene »Fächer der menschlichen Erkenntnis« aufgeteilt ist (I 234), in Mathematik, Naturwissenschaft, Kunst, Philosophie, um nur einige zu nennen. Wie können sich Menschen zu diesen vorgefundenen Erkenntnisweisen in ein Verhältnis setzen? Humboldt macht diese Frage zum Ausgangspunkt des kurzen Textbruchstücks »Theorie der Bildung des Menschen«. Es stammt vermutlich aus dem Jahre 1794 oder 179520 und entwickelt einen Gedankengang, der in immer wieder neuen Ansätzen die Ziele von Bildungsprozessen zu umreißen sucht. Durch die Fülle der angesprochenen Themen, nicht durch argumentative Stringenz wird der Text zu einem wichtigen Zeugnis, welche Erwartungen sich Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Bildungsbegriff verknüpfen. Häufig wird dieser Text herangezogen, wenn ein Überblick über die bildungstheoretischen Positionen Humboldts gegeben werden soll, und der Titel
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schlussprüfungen für Schüler bis zu Staatexamina und berufsbegleitenden Qualitätskontrollen für Lehrer. Dies ist keine Rücknahme ursprünglich liberalerer Intentionen. Humboldt geht davon aus, dass eben jener liberale Geist, aus dem sich sein Schulsystem aufbauen soll, auf Qualitätskontrollen angewiesen ist, um in seinem Bildungsanspruch nicht zu verflachen. Dazu fällt ihm als Instrument nur ein System von aufeinander aufbauenden Prüfungen ein. Dass sie, wenn sie eine solche tragende Rolle zugewiesen bekommen, seinen Intentionen völlig entgegengesetzte Wirkungen entfalten, indem nun das neue Phänomen des »Prüfungswissens« Humboldts Bildungsvorstellungen von innen aushöhlen wird, ahnt er nicht, noch weniger, welche Eigendynamik dieser Leistungsgedanke entfalten wird. Zur Datierungsfrage vgl. Flitner/Giel in ihren Anmerkungen Bd. V 321. Der Text ist, wie so viele, Fragment geblieben. Dazu, dass viele seiner Texte Fragment geblieben sind, äußert sich Wilhelm von Humboldt in seinem »Bruchstück einer Selbstbiographie« von 1816: Es sei für ihn immer »eine innere Plage« (V 1) gewesen, die Vielfalt seiner schriftstellerischen Projekte nicht umsetzen zu können, wobei das, was ihn daran hinderte, nicht äußere Umstände gewesen seien: »ich war eine lange Reihe von Jahren hindurch in der freiesten, beneidenswürdigsten Lage« (ebd.); die Hindernisse hätten in ihm selbst gelegen. »Fast zu keiner Zeit, selbst nicht in den geschäftevollsten Lagen, bin ich von solchen Planen frei gewesen; hundertmal habe ich einen neuen gefasst, angefangen zu schreiben, und das Geschriebene zerrissen, Sammlungen zu künftigen Arbeiten gemacht und sie halbvollendet wieder aufgegeben.« (Ebd.)
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
verspricht ja auch einen solchen Überblick. Allerdings wurde er nachträglich von Albert Leitzmann, dem Mitherausgeber der großen Humboldt-Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften von 1903, dem Text gegeben und trifft dessen Gegenstand nicht ganz, vor allem aber nicht die Intentionen des Verfassers, denn hier wird keine in sich schlüssige Theorie entworfen, sondern auf unterschiedlichen, tastend entworfenen und eher assoziativ miteinander verknüpften Ebenen Weltbezug und Selbstbezug zueinander in Beziehung gesetzt. Angesichts der Vielfalt an Wissensdomänen und Erschließungsmethoden entsteht für Humboldt die Frage nach deren Relevanz für die Einzelnen. Kurz lässt er die Varianten Revue passieren, wie Menschen mit diesem Wissen umgehen: Die Wahl sei häufig vom Zufall oder untergeordneten Absichten bestimmt und es komme dann zu Klagen, »dass das Wissen unnütz und die Bearbeitung des Geistes unfruchtbar bleibt«. (I 234) In einer abrupten Kehrtwendung der Blickrichtung lässt Humboldt diese Fragen der Auseinandersetzung mit der kulturellen Überlieferung fallen und fordert, den Menschen und sein Bedürfnis nach Stärkung der eigenen Kräfte und nach Anerkennung in den Mittelpunkt zu stellen. Es dürfe nicht das Ziel der Wissenschaftsfortschritte sein, dass »vieles um uns her zustande gebracht […] wird« (I 234/35), aber dies auf Kosten der Möglichkeiten für den einzelnen Menschen gehe, ohne bestimmte Nützlichkeitserwägungen »die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen« zu können (I 235). So sehr tritt dieses Interesse an der Entfaltung und Steigerung des eigenen Selbst in den Mittelpunkt, dass die Außenwelt zum bloßen »Gegenstand« wird, an dem die eigenen Kräfte geübt werden und der »reine Gedanke« sich »ausprägen« kann: Nur dazu benötige der Mensch einen »Stoff« bzw. eine »Welt außer sich«. (I 235) Bedeutung bekommt die Beschäftigung mit den »Fächern der Erkenntnis« oder ganz allgemein mit der »Welt außer sich« in diesem Gedankengang dadurch, dass dies hilft, »vor sich selbst verständlich […], in sich frei und unabhängig zu werden«. (Ebd.) Dazu müssen, wird er etwas später argumentieren, sowohl der Verstand als auch Einbildungskraft und sinnliche Anschauung aktiviert und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das vom Menschen in der Außenwelt Wahrgenommene »so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden« (ebd.) ist nur möglich durch das Zusammenspiel dieser Vermögen. Es ist die »Mannigfaltigkeit« der Erfahrungen und ebenso die Vielfalt an »Richtungen« wissenschaftlichen Denkens, die ein Bewusstsein der eigenen, spezifischen und viel enger begrenzten Fähigkeiten ermöglichen. Durch dieses Bewusstsein des individuellen Könnens wird darüber hinaus »eine eigene und neue Ansicht der Welt« (I 239) formulierbar, und in diesem Beitrag sieht Humboldt wohl eine der wichtigsten Aufgaben des Individuums. Aber man kann Humboldts Argumentationsgang auch so lesen, dass die Welt angesichts der Aufgabe, »nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Wert und Dauer verschaffen will« (I 235), zu einem bloßen »Etwas« schrumpft, weil Selbstbezug jedweden Sachbezug verdrängt: »Bloß weil beides, sein Denken und sein Handeln nicht anders, als nur vermöge […] des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas möglich ist, […] sucht er, soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.« (Ebd.) Die Qualitäten dieser »Welt außer sich« kommen dabei in ihrer Reduktion darauf, »Nicht-Mensch« zu sein, nicht in Betracht, sie sind bloßer Stoff für die Genese des Selbst. Dies sei der Grund, warum jeder bemüht
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Transformationen des Bildungsbegriffs
sei, »beständig den Kreis seiner Erkenntnis und Wirksamkeit zu erweitern«, wobei dem Menschen, der hier entworfen wird, »nicht eigentlich« an dem liege, was an Erkenntnis erworben und an Handlungen hervorgebracht wird. Interessiert sei er »nur an seiner inneren Verbesserung und Veredlung oder wenigstens an der Befriedigung der inneren Unruhe, die ihn verzehrt.« (Ebd.) Der Wechsel der Stilebene in diesem Satz ist bemerkenswert, denn unter dem Ziel innerer Verbesserung und Veredlung, einer Phrase aus dem idealistischen Wortschatz, lässt sich nichts Genaueres vorstellen, in der zweiten Hälfte des Satzes aber schlägt die Ungenauigkeit des Klischees um in verzehrende Unsicherheit über den eigenen Zustand, denn die Gründe für die eigene »innere Unruhe« liegen offenbar im Dunkeln. Daher steht der Wunsch an erster Stelle, »vor sich selbst verständlich zu werden«, gefolgt in der nun immer persönlicher werdenden Stufenfolge möglicher Bildungsmotivationen vom bloßen Wunsch, »nicht in sich müßig zu bleiben« (ebd.): sich nicht langweilen zu müssen. Offenbar möchte Humboldt aber die Frage nach dem Sinn von Bildung doch nicht auf dieser Ebene privater Bekenntnisse verhandelt wissen. Stattdessen verkehrt sich die Argumentation von der allerbanalsten Begründung zur weitest ausgreifenden: dem Nachruhm in der Zukunft. »Die letzte Aufgabe unseres Daseins« bestehe darin, »dem Begriff der Menschheit in unserer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus […] einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen«. (Ebd.) Sehr allgemein sucht er nun – entgegen der vorangegangenen Beteuerung, die Welt sei bloßer Stoff der Selbsthervorbringung des Ich – diesen Inhalt in der »Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.« (I 235/36) Obwohl dies eine Formulierung ist, die vermutlich auch zu Humboldts Zeiten als wenig gewagt erschien, glaubt er sich für sie entschuldigen zu müssen, da sie als »unverständlicher Ausdruck« und »überspannter Gedanke« erscheinen könne. (I 236) Der Stein des Anstoßes, den er vermutet, liegt wahrscheinlich im Begriff der Wechselwirkung von Ich und Welt, und es wird sich zeigen, dass ihn auch Humboldt selbst nicht zu füllen vermag. So, wie er diesen Begriff hier verwendet, müsste er die vorangegangene Konzentration auf das eigene Ich und die Reduktion der Welt, bloß »Nicht-Mensch« zu sein, revidieren.21 In seinem erneuten Ansatz, die Ziele von Bildung zu bestimmen, fragt sich Humboldt nun, was man von »einer Nation, einem Zeitalter, […] einem ganzen Menschengeschlecht [verlangt], wenn man ihm seine Achtung und Bewunderung schenken soll«. (Ebd.) Dies geschehe, wenn ein solches Kollektivsubjekt sich durch allgemein verbreitete »Bildung, Weisheit und Tugend« auszeichne. (Ebd.) Dadurch steigere sich sein innerer Wert und »der Begriff der Menschheit« erhalte einen »großen und würdigen Gehalt«. Voraussetzung dafür sei, dass der Mensch den von ihm geschaffenen Verfassungen und »selbst der leblosen Natur, die ihn umgibt, das Gepräge seines Wertes sichtbar aufdrücke«, und dies in einem Maß, dass dieser Wert auch noch in seinen Nachkommen
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Fichtes Bestimmung der Stellung des Subjekts als einem Ich, das sich aus seinem Gegensatz zur Welt als einem Nicht-Ich aufbaut, wird bei Wilhelm von Humboldt zur Gegenüberstellung von Mensch und »Nicht-Mensch, d. i. Welt« (ebd.); die Welt wird darauf reduziert, Anlässe für die Ausbildung einer differenzierten Selbstbeziehung zu liefern. Zu Wilhelm von Humboldts FichteRezeption vgl. die Anmerkungen von Flitner/Giel V 318-321.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
sichtbar werde. Unklar bleibt, worin dieser Wert besteht (sofern man nicht »Bildung, Weisheit und Tugend« für eine hinreichende Bestimmung hält) – und die Vorstellung des sichtbaren Prägens und Aufdrückens eigener Bestimmungen hat natürlich wenig mit der zuvor geäußerten Absicht zu tun, in eine rege und freie Wechselwirkung mit der Welt einzutreten. Durch die Vorstellung, dass bleibende Achtung und Bewunderung der Nachwelt nur durch Handlungen erlangt werden können, die der Welt das eigene »Gepräge« aufdrücken, sieht sich Humboldt jedoch genötigt, dieses Verhältnis von Ich und Welt genauer zu bestimmen. Dabei kommen ganz andere Bestimmungen zum Tragen als aufgrund der Rede von Wechselwirkung zwischen Ich und Welt zu erwarten wäre: Der Gegenstandswelt wende sich der Mensch nur zu, weil »seine Natur« ihn dazu dringe. Dabei komme aber alles darauf an, »dass er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere.« (I 237) Handeln wird von Humboldt mit »Licht« und »Wärme« assoziiert, die das Ich durch seine Aktivitäten in der Welt erzeuge, und die Entfremdungsgefahr werde gebannt, wenn es dem Ich gelingt, dieses »erhellende Licht und die wohltätige Wärme« in sein Inneres zurückstrahlen zu lassen, anstatt dass sie nur nach außen abgegeben werden: Das Ich erkennt sich in seinen Handlungen wieder, sieht die Spuren eigenen Handelns und fühlt sich weniger fremd in der Welt. Aber wieder zeigt sich hier der ungeklärte Status des Wechselwirkungs-Konzepts: Wieder greift Humboldt in seinen Aussagen zur Überwindung von Entfremdung auf die Formulierung zurück, dem »Stoff die Gestalt seines Geistes auf[zu]drücken«, aber nun wird auch die Möglichkeit erwähnt, beides, Gegenstandswelt und eigenen Geist »einander ähnlicher [zu] machen«. (Ebd.) Zurückgewiesen wird, dass »die Natur von allen Seiten kennen zu lernen« dazu ein Mittel sein könnte, und wieder wird betont, dass es allein darum gehe, »die eigene innewohnende Kraft zu stärken.« (Ebd.) Aber nun schlägt Humboldt einen anderen Weg ein, um dem Konzept der Wechselwirkung Konturen zu verleihen und beschreibt es als intrapsychisches Zusammenspiel von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit. Empfänglichkeit heißt Fähigkeit zu eigener Öffnung auf Einwirkungen von außen und Selbsttätigkeit heißt Fähigkeit zu aktiver Gestaltung, und in der Möglichkeit, beides zueinander in Beziehung zu setzen sieht Humboldt die Möglichkeit, der Entfremdung zu entgehen. Hervorgebracht wird beides durch Einbildungskraft und »Anschauung der Sinne«, die neben die Tätigkeiten des Verstandes treten. Der »Begriff der Welt« beruhe auf der wechselseitigen Ergänzung dieser Vorstellungsformen (und nicht lediglich auf Verstandesleistungen), doch diese subjektiven Leistungen sind davon abhängig, dass »die äußeren Gegenstände unsere Sinne rühren« und durch das »eigene selbstständige Dasein«, das sie als Gegenstände haben, »auf unsere Empfindung einwirken« (ebd.): eine Rücknahme der weltkonstitutiven Rolle des Ich. Das, was Adorno später den »Vorrang des Objekts« nennen wird, deutet sich hier als Denkmöglichkeit an.22 Jedoch hält sich Humboldt nicht an diese eigenen Bestimmungen. Wieder wird in der Folge allein der Subjektpol für seine Reflexionen bestimmend, während der Gegenstandspol zum beliebigen Anlass für Aktivitäten der Selbsthervorbringung herabsinkt: 22
Vgl. Th.W. Adorno (1973), Negative Dialektik, Gesammelte Schriften Bd. 6. Frankfurt a.M., S. 184193.
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»Was also der Mensch notwendig braucht, ist bloß ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbsttätigkeit möglich mache« (ebd.), und am ehesten sei dies »der Gegenstand schlechthin, die Welt«. (Ebd.) Über diesen Reflexionen zur Auseinandersetzung mit Entfremdungserfahrungen hat Humboldt völlig aus den Augen verloren, dass von ihm als wichtigste Aufgabe die Fähigkeit bezeichnet wurde, solche »Spuren […] zurückzulassen«, die dem »Begriff der Menschheit« eine größtmögliche Würde verleihen (I 236). Erschöpft von seinen weit ausholenden Gedankengängen bleibt für ihn am Ende des ersten Teils nur der Wunsch übrig, »der zerstreuenden und verwirrenden Vielfalt zu entfliehen« und sich »nicht auf eine leere und unfruchtbare Weise ins Unendliche hin zu verlieren.« (I 238) Nur Verbesserungen in überschaubarem Rahmen erscheinen ihm an nun als gangbarer Weg: Die »Vorstellung des letzten Zwecks« könne nicht durch »das zerstreute Wissen und Handeln«, sondern nur durch seinen inneren Zusammenhang, nicht durch »bloße Gelehrsamkeit«, sondern nur durch »gelehrte Bildung«, nicht durch »unruhige[s] Streben«, sondern nur durch »weise Tätigkeit« erreicht werden. (Ebd.) Die Vielfalt der angerissenen Themen, noch mehr die Vielzahl der Ebenen, auf denen argumentiert wurde, machen es schwer, der Argumentation in diesem ersten Teil zu folgen. Beabsichtigt oder nicht ist es Humboldt gelungen, die unterschiedlichen Dimensionen vorzuführen, in denen das Ich sich von seiner Beziehung zu sich selbst Rechenschaft gibt und dabei die Brüche deutlich zu markieren, die zwischen den verschiedenen Ebenen der Selbstthematisierung verlaufen. Nachruhm oder der Wunsch, »vor sich selbst verständlich« zu werden, der Welt den Stempel der eigenen Intentionen aufdrücken oder zu ihr in ein wechselseitiges Verhältnis treten, Bekämpfung der inneren Unruhe angesichts von verwirrender Vielfalt oder »vollkommene Einheit« – diese Pole stehen unvermittelt nebeneinander. Eine höchst persönliche Stimme, die von den eigenen Beunruhigungen spricht, wechselt sich ab mit dem hohen Ton idealistischer Rhetorik. Eine noch ganz unproblematische Identifikation mit einer Kultur grundiert den Text, in der das Individuum von sich erwarten kann, »dem Begriff der Menschheit in unserer Person […] einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen« (I 235); aber es sickert Beunruhigung ein und nimmt die Gestalt der Ahnung an, dass etwas Grundsätzliches nicht begriffen worden ist, nämlich dass dieses Selbst, dessen »Wert und Dauer« im Mittelpunkt steht, unverständlich ist. Humboldt gibt sich Rechenschaft über diese Beunruhigung, zugleich schlägt sie sich in den Brüchen seiner Argumentation nieder. Der erste Teil hat grundsätzlichen Bestandsaufnahmen gedient und dabei auf allgemeine Bestimmungen subjekttheoretischen Denkens zurückgegriffen. Erst der zweite, kürzere Teil stellt den Begriff der Bildung ins Zentrum. Indem er noch einmal auf den Anfang seines Gedankengangs zurückgeht, hebt er an den »Fächer[n] der menschlichen Erkenntnis« (I 234) die unterschiedlichen »Richtungen, die sie dem Geiste geben«, hervor. Für den Laien, der sich mit ihnen beschäftigt, sind dies zugleich »Forderungen, die sie an ihn machen«. (I 238) Konfrontiert mit diesen verschiedenen Arten, sich auf die Welt zu beziehen, begreife das Individuum »den engeren Kreis«, der ihm durch die eigenen Fähigkeiten gezogen ist, und dass diese Fähigkeiten ihm eine eigene Richtung vorgeben. An die Stelle der »Unendlichkeit der Gegenstände« tritt die Betrachtung der individuellen Grundlagen der eigenen Tätigkeit, die durch diese Reflexion »wie in
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
einem zugleich erhellenden und versammelnden Spiegel« sichtbar werden. (Ebd.) Erkennbar wird in diesem Spiegel »unsere innere Bildung« – und hier heißt »Bildung« eher Gestalt und geistige Konstitution, nicht Vorgang. Aber dieser inneren Gestalt wird ein Entwicklungsimpuls durch die Konfrontation mit den »verschiedenen Fächern der menschlichen Erkenntnis« gegeben; sie werfen ein wechselndes Licht auf die eigenen Fähigkeiten und stellen die Forderung, dass das Individuum seine Beziehung zu ihnen klärt. Durch Selbstreflexion wird die »innere Bildung« zum Bildungsprozess. Das eigene Tun, fordert Humboldt, dürfe nicht lediglich funktional »dem Menschen Kenntnisse oder Werkzeuge zum Gebrauch zubereiten«, sondern müsse »dem Geiste eine eigene und neue Ansicht der Welt und dadurch eine eigene und neue Stimmung seiner selbst geben«. (I 238/39) Durch funktionales Handeln konnte das Individuum »nur einen einzelnen Teil seiner Bildung befördern«; indem es aber die Blickrichtung wechselt und sich seine eigene Perspektive und Stimmung bewusstmacht, ist es in der Lage, »seine ganze Bildung [zu] vollenden.« (Ebd.) Noch einen weiteren Aspekt verknüpft Humboldt mit diesem wachsenden Bewusstsein des eigenen Beitrags: Er müsse sich artikulieren, sich »in seinem Werke« ausprägen. (I 239) Subjektive Ausdrucksfähigkeit kommt hier als weiteres Element dessen ins Spiel, was Humboldt mit Bildung meint, und er erläutert dies (wie so oft in dieser Zeit) am Beispiel des Genies: Ihm gehe es kaum um den Gegenstand, den es abbildet, sondern um die Darstellung der »Fülle seiner plastischen Einbildungskraft« und die Darstellung einer Gottheit kommt ihm als Anlass gerade recht, um die eigene Ausdruckskraft zu zeigen. (Ebd.) Darin, zwischen Ausdrucksmitteln wählen und die einem angemessene finden zu können, liege die eigentliche Befriedigung. Wollte man dies als übergreifenden Prozess darstellen, nämlich »wie die Bildung des Menschen durch ein regelmäßiges Fortschreiten Dauer gewinnt«, so müssten allerdings eine Reihe weiterer Aspekte berücksichtigt werden: Nicht nur die Individualität der Einzelnen, sondern ebenso der »Einfluss des Nationalcharakters, des Zeitalters und der äußeren Umstände«. (I 240) Bildung wird in diesem zweiten Teil zu einem Akt der Selbstreflexion, die aber – in einer überraschenden Wendung – Artikulationsfähigkeit begründet. Während sich der erste Teil vor allem mit den unterschiedlichen Motiven, in Bildungsprozesse einzuwilligen, beschäftigte, wird hier thematisiert, welchen Einfluss die Beschäftigung mit unterschiedlichen Erkenntnisweisen – genannt werden Mathematik, Naturforschung, Kunst, Philosophie – auf die Ausbildung der eigenen Individualität haben. Angesichts der Vielfalt dieser »Richtungen«, sich die Welt zu erschließen, gewinnt das, was das Individuum selber kann und will, an Konturen; an die Stelle der »Unendlichkeit der Gegenstände« tritt das Bewusstsein eigener Fähigkeiten »und ihres mannigfaltigen Zusammenwirkens«. (I 238) Lernen im Sinne des Begreifens der jeweiligen Inhalte und der Auseinandersetzung mit ihnen ist dafür allenfalls die Voraussetzung. Das Individuum begreift den Gegenstand und begreift sich am Gegenstand – im Gegensatz zum bloßen Einprägen bereits vorhandenen Wissens. Vorgeführt hat der Text eine entschiedene Parteinahme zugunsten »des Menschen« im Gegensatz zur Dominanz allgemeiner Imperative wie z.B. wissenschaftliche Entwicklungen und deren Rezeption oder funktionsgerechte Erfüllung von Aufgaben. Unter der Hülle eines generalisierten Menschen nimmt dann aber ein Individuum in einer
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Transformationen des Bildungsbegriffs
bestimmten Situation Konturen an. Es ist nicht das sich selbst transparente Subjekt, sondern von vager Unruhe verzehrt und sich selbst nicht verständlich. Es fühlt sich von Entfremdung bedroht und setzt dagegen kleine Inseln von Licht und Wärme durch eigenes Handeln. Alles Übrige, was Humboldt an orientierenden Vorstellungen aufbietet, bleibt hingegen unterbestimmt: Welche Werte es sind, die er seiner Umgebung »sichtbar aufdrücke[n]« soll, erfahren wir nicht, das Konzept einer Wechselwirkung von Ich und Welt bleibt vage, und erst als er dem Begriff der Wechselwirkung gegen Ende des ersten Teils die neue Deutung einer wechselseitigen Beziehung von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit gibt, nimmt seine Argumentation an Überzeugungskraft zu. Die Rückwendung auf »den Menschen« bekommt nun die Bedeutung, ihm nicht eine allgemeine Mittelpunktstellung zuzusichern, sondern ihn mit der Aufgabe zu betrauen, sich ein Bewusstsein seiner Fähigkeiten zu verschaffen, sich darin zu üben, sie in ihrem Zusammenspiel zu entfalten, und »eine eigene und neue Ansicht« der Welt zu entwickeln (I 239) und so die eigene Perspektive auf die Welt zu artikulieren. Es ist im Grunde ein Ermächtigungsprogramm für die einzelnen, verstreuten Individuen, das Humboldt hier formuliert.
5.5
»Leitfaden bei der freien Selbstbildung«
Humboldt nimmt »Bildung« als eine in seiner Gegenwart entstehende neue Praxis, vielleicht sogar Lebensform wahr, die er einerseits von Kultur und andererseits von etablierten Formen gemeinschaftlichen Lebens abgrenzt. An vielen Stellen wird deutlich, dass es ihm in erster Linie bei Bildung um einen veränderten Umgang mit sich selbst mit dem Ziel geht, ein geschärftes Bewusstsein seiner selbst in der eigenen, individuellen Weise des Menschseins zu entwickeln. Aber damit sind keine normativ-ethischen Vorstellungen gemeint. Er erwartet vom Individuum, dass es »nur für die Kraft und ihre Erhöhung arbeitet« (I 239), und zwar für die eigene Kraft im Vertrauen darauf, dass der »Charakter des Einzelnen bestimmt, was das Ganze vermag« (I 387). Grundiert werden diese Aussagen von der Voraussetzung, diese Kraft sei ein »Lebensprinzip« (III 388), wichtiger als Lebensumstände oder Herkunft. Zwar spielten auch sie eine Rolle, aber es bleibe »immer doch Eine unbekannte Größe zurück: die primitive Kraft, das ursprüngliche Ich, die mit dem Leben zugleich gegebene Persönlichkeit. Auf ihr beruht die Freiheit des Menschen, und sie ist daher sein eigentlicher Charakter.« (I 47923 ) Dass eine zentrale Aufgabe von Bildungsprozessen in der »Erhöhung« der eigenen Kräfte liegt, radikalisiert frühere, auf die Renaissance zurückgehende Vorstellungen von einer Aneignung überlieferter kultureller Traditionen als Ressource eigenen Selbstbewusstseins. Aber diese Unterstützung sucht Humboldt nicht so sehr in kulturellen Überlieferungen, sondern in einer »Mannigfaltigkeit der Situationen«. (I 64) Darüber, wie sich jemand in solchen Situationen erfährt, nimmt er oder sie sich in der eigenen Individualität wahr, und um davon ein Bewusstsein zu entwickeln, muss sich das Individuum in verändernden Kontexten kennenlernen. Dies gilt auch für seinen Bezug zu vorhandenem Wissen 23
»Eine« durch Großschreibung hervorgehoben.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
und ist die entscheidende Differenz zur pietistischen Selbsterforschung: Erfahrungen in unterschiedlichen Situationen, Wissen und Selbstreflexion sollen in Bildungsprozessen zur Einheit gebracht werden. An einigen Stellen wird deutlich, dass Humboldt das Konzept der Bildung in nur sehr wenigen historischen Konstellationen – eigentlich nur in der Antike und nun wieder zu seiner Zeit – verwirklicht sieht. Er findet stattdessen in den meisten Phasen nur »Kultur« und »Zivilisation« vor, Formen des gesellschaftlichen Lebens, denen er eher Vorläuferstatus gegenüber der nun eingetretenen Stufe, in der sich der Bildungsgedanke entwickelt, zumisst. Humboldt versteht Bildung als vorläufig letzte Phase einer Bewusstseinsgeschichte, die zu einer »höhere[n] Freiheit der Kräfte« geführt hat (I 58) und deren Ausdruck die neuen sozialrevolutionären Bewegungen sind. Zivilisation und Kultur sind nur Vorformen der jetzt möglichen Bildung: »Die Zivilisation ist die Vermenschlichung der Völker in ihren äußeren Einrichtungen und Gebräuchen und der darauf Bezug habenden inneren Gesinnung. Die Kultur fügt dieser Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst hinzu. Wenn wir aber in unserer Sprache Bildung sagen, so meinen wir damit etwas zugleich Höheres und mehr Innerliches, nämlich die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühl des gesamten geistigen und sittlichen Strebens auf die Empfindung und den Charakter ergießt« (III 401). Alle drei Dimensionen seien »Erscheinung der geistigen Kraft des Menschen in ihrer verschiedenartigen Gestaltung« (III 388): Zivilisation bedeutet die Fähigkeit, gesellschaftliche Institutionen zu erschaffen und sie durch für alle gültige Verhaltensregeln zu flankieren, die in der »Gesinnung« des Einzelnen verankert werden. »Kultur« ist für Humboldt die Entstehung einer davon abgegrenzten Sphäre von Wissenschaft und Kunst, einer Sondersphäre geistiger Erzeugnisse, die eine gewisse Selbstständigkeit haben. Dagegen sei Bildung weder Weitergabe gesellschaftlich wünschenswerter Gesinnungen, noch geht sie für Humboldt in der Aneignung von Kunst und Wissenschaft auf. Sie betrifft vielmehr die Ausbildung individueller Einstellungen und Haltungen, die sich ebenso über die Reflexion des erworbenen Wissens als auch der eigenen Empfindungen und Gefühle konstituiert. In seiner Suche nach einer genaueren Bestimmung des Bildungsbegriffs stößt Humboldt zunächst auf eine Dichotomie zwischen dem »Außen« der Kultur und dem »Innen« der Bildung. »Der Mensch vermag außer sich zu wirken, und sich in sich zu bilden« (I 38), hatte Humboldt schon in einem frühen Aufsatz angemerkt, und diese »Sinnesart« ziele auf »Erhaltung der grenzenlosesten Freiheit, zu denken, zu untersuchen« und dies »anderen mitzuteilen« (I 32). Aber auch wenn dies Errungenschaften der Gegenwart sind, so habe sich dies alles schon einmal in den griechischen Stadtkulturen der Antike gezeigt, und überhaupt gelte, dass »das Höchste […] nicht gerade das Späteste in der Erscheinung« ist (III 388). Überhaupt ist ein kritischer Unterton da, wo Humboldt von der gegenwärtigen Kultur spricht, unüberhörbar. Zu den problematischen Errungenschaften der »Kultur« gehöre eine einseitige Ausbildung des Verstandes, Bildung wird dagegen als innerer Entwicklungsprozess abseits solcher Vereinseitigungen und damit als überlegenes Weltverhältnis begriffen. Um seine Deutung des Bildungsgedankens als historisch neuen Prinzips zu untermauern, greift Humboldt mehrfach auf die Konstruktion geschichtlicher Phasenmodelle zurück. In seinem Aufsatz »Über Goethes Hermann und Dorothea« von 1798 un-
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Transformationen des Bildungsbegriffs
ternimmt er einen weiteren Versuch, eine Abfolge historischer Perioden zu konstruieren: Einer »Periode der bloßen Natur« sei eine »Periode der bloßen Kultur« gefolgt und schließlich von einer »Periode der vollendeten Bildung« abgelöst worden. (II 340) Im Naturzustande stehe der Mensch unter dem Einfluss der Umwelt; seine Empfindungen, Neigungen und Leidenschaften seien Ausdruck dieser Einwirkungen, ohne dass »der bloße Verstand« einen »bedeutenden Einfluss gehabt hat« (ebd.). Alles bleibt auf dieser Stufe im Bereich bloß reaktiven Verhaltens. Demgegenüber wird die Stufe der »Kultur« von Humboldt sowohl als Fortschritt wie auch als Rückschritt bestimmt, denn einerseits kann die »ursprüngliche und lebendige Kraft […] durch die Kultur sich bereichern« (II 339), andererseits ist diese dazu in der Lage, »Selbstständigkeit, Kraft und Leben überall zu töten« (ebd.). Kultur wird mit Kultiviertheit gleichgesetzt; das preußische Verhaltensreglement gibt das Muster für dieses Kulturverständnis ab. Es werde dem Einzelnen eine unspezifische Verwendbarkeit (»Tauglichkeit«) anerzogen, er übernehme einen Korpus von Verhaltenseigenschaften, die nichts Lebendiges an sich haben, »keine Kraft, ein bloßer Besitz« seien, »ein toter Schatz« (ebd.). Der kultivierte ist der durch Erziehung und Verhaltensmaßregeln »bloß bearbeitete« Mensch (II 340), der gelernt hat, seinen Verstand zu entwickeln, die Dinge zu klassifizieren und seine Empfindungen zu kontrollieren. So »verdrehen wir unser gesundes und gerades Gefühl.« (Ebd.) Gleichwohl sei diese Phase der Verstandeskultur und Selbstkultivierung wichtig und könne nicht übersprungen werden. Humboldt geht damit über die Kulturkritik Rousseaus hinaus, denn er fordert, Kultur »mit der Natur in Übereinstimmung« zu bringen (II 339), den Gegensatz zur Natur auszulösen. An die Stelle des Verharrens im Widerspruch von Kultur und Natur soll ein Lernprozess treten, in dem »wir […] uns, besser über uns selbst belehrt, unsre natürliche Freiheit« zurückgeben, aber auf höherer Stufe, denn »wir selbst und die Welt sind uns nun verständlich und klar und dies bessere und vollere Verstehen hat zugleich unserm Gefühl und unsern Neigungen eine andre Gestalt mitgeteilt: sie sind verfeinert worden, ohne eigentlich in ihrem Wesen verändert zu werden. Dies ist die Periode der vollendeten Bildung.« (II 340) Mit anderen Worten wird Bildung die Aufgabe zugewiesen, durch Entfaltung unterschiedlicher menschlicher Vermögen den Widerspruch von Natur und Kultur aufzulösen. Mit dieser Versöhnungsvorstellung drückt Humboldt weit verbreitete Überzeugungen seiner Zeit aus, die Geschichte als fortschrittsgetriebenen Entwicklungsprozess deuten: Einem Zustand der Naturnähe und ursprünglichen Unschuld folgt eine Phase des Verlusts, der Verunsicherung und Entfremdung; sie ist von Leiden an diesem neuen Status geprägt, aber auch von neuen Erfahrungen des Heraustretens aus Naturzwängen und größerer Selbstständigkeit durch Vernunft. Die Aufgabe bestehe nun in der Erschaffung eines neuen Zustands, der die positiven Seiten der beiden vorangegangen in sich aufnimmt und sich als Bildungspraxis der einzelnen Individuen verwirklicht. Zur Verdeutlichung der Rolle, die Humboldt damit dem Bildungsgedanken zuweist, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf ein ähnliches Phasenmodell zu werfen, das Schiller entwickelt hatte. Beide, Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schiller standen zur Zeit der Entstehung dieses Texts in enger Verbindung. Auch Schiller geht in seinen »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1791) von einem ursprünglichen Naturzustand aus; aus dem der Mensch in eine Kultur erwacht, die darauf beruht, an die
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
Stelle der »Herrschaft bloßer Kräfte« die »Herrschaft der Gesetze« treten zu lassen.24 Darin aber gleiche sie »einem kunstreichen Uhrwerke«25 ; der Mensch sehe sich mit einem Zustand konfrontiert, »wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet«.26 Um dieser Gefahr zu begegnen und »die Mannigfaltigkeit der Natur nicht [zu] verletzen«27 sei Freiheit, »Ausbildung des Empfindungsvermögens« und Anerkennung alle jener Eigenschaften, die nicht in Verstandestätigkeiten aufgehen, die Voraussetzung.28 Zwar basieren tragfähige Veränderungen auf Akten der Verstandestätigkeit, aber gleichzeitig seien »Triebe […] die einzigen bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt.«29 Deshalb müsse die Trennung von Vernunft und Trieb »in dem inneren Menschen wieder aufgehoben und seine Natur vollständig genug entwickelt« werden30 . Als »Werkzeug« für diesen Transformationsprozess wird von Schiller die »schöne Kunst« bestimmt31 : Es gebe es »keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als dass man den Selben zuvor ästhetisch macht«, so Schiller.32 Dies nimmt für ihn die Gestalt eines Erziehungsprogramms an. Im Medium der Kunst soll der Mensch das freie Spiel seiner unterschiedlichen Vermögen erfahren und zwar als Aufstiegsgeschichte »von der rohen Materie zur Schönheit.«33 Dabei spart Schiller nicht mit dem Vokabular erzieherischer Eingriffe: Es gehe darum, den Menschen »zu führen«, ihn zu etwas »zu machen«, ihn »in seinem bloß physischen Leben der Form zu unterwerfen«, dabei müsse »dafür gesorgt werden«, dass er sich »übe«.34 Eben diejenige Stelle, die bei Schiller der erzieherischen Intervention zugewiesen wird, nimmt bei Humboldt Selbstbildung als die selbsttätige Ausbildung eigener Individualität ein. Humboldt vertraut auf »etwas Ursprüngliches« im Menschen, das unabhängig von äußeren Einflüssen daran arbeitet, »seiner inneren, eigentümlichen Natur äußeres Dasein zu verschaffen.« (I 603) Es gehe nicht darum, jemandem zu dieser Individualität zu verhelfen; dies geschehe durch den Einzelnen selbst, wobei »die höchste, bestimmteste und übereinstimmenste Ausbildung aller menschlichen Kräfte« (I 392) damit beginne, dass jedes Individuum »zuerst sich in dem vollsten Sinne des Ausdrucks 24 25 26 27 28 29 30 31
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Friedrich Schiller (1967), Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 5. München, S. 570-669, hier S. 576. Ebd., S. 584. Ebd. Ebd., S. 579. Ebd., S. 579, 592. Ebd., S. 591. Ebd., S. 589. Ebd., S. 593. Indem sich Kunst auf den »Spieltrieb« (ebd., 612) stützt, kann es ihr gelingen, zwischen den unterschiedlichen Potentialen des Menschen zu vermitteln. Es sei »unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das Spiel […], was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet« (ebd. 616/17). Dabei bleibt der durch das Spiel ermöglichte »ästhetische Zustand« ein Durchgangsstadium: Es gehe um den »Übergang von dem leidenden [d.h. passiven, R.B.] Zustande des Empfindens zu dem tätigen des Denkens und Wollens« und der wird von der Beschäftigung mit Kunst gebahnt. Ebd., S. 641. Ebd., S. 642/43. Ebd., S. 643.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
kennen« müsse »und […] nicht bloß sich, sondern seine Mitbürger, seine Lage, sein Zeitalter« (ebd.), und darüber hinaus den Zusammenhang, in dem jeder Einzelne »mit der vergangenen und nachfolgenden Zeit« steht.35 Dieses Wissen soll aber bezogen bleiben auf die eigene Lebenspraxis. »Nur an uns selbst dürfen wir arbeiten, nur unsre gegenwärtige Lage kennen, und diese Kenntnis in uns fruchtbar werden lassen« (ebd.). Wie stark Humboldts Bildungsdenken mit einer Abwehr von Erziehungsvorstellungen einhergeht, zeigt sich in seinen Erwägungen zur Organisation von Lehren und Lernen in der Schule nieder. Dem pädagogischen Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler schenkt er nur geringe Beachtung, stattdessen wird im Zusammenhang mit universitärer Bildung mehrfach von der Notwendigkeit einer »Emanzipation vom eigentlichen Lehren« (IV 190, vgl. auch IV 256) gesprochen. Aber auch bezogen auf Schule sympathisiert er mit Reformversuchen, in denen die Person des Lehrers zurücktritt und Lernprozesse anders als üblich organisiert werden: Unter der Leitung von Carl August Zeller war am Königsberger Waisenhaus ein »Normalinstitut« eingerichtet worden, in dem orientiert an Pestalozzis pädagogischen Modellversuchen alternative Formen des Lehrens und Lernens entwickelt wurden. Humboldt hebt hervor, dass ein Teil der sonst von Lehrern wahrgenommenen Aufgaben an die Kooperation unter den Schülern delegiert und ein Wechsel vom hierarchischen Lehrer-Schüler-Verhältnis zur Interaktion unter Gleichen angestrebt wurde: »Die Kinder erziehen sich unter einander selbst und führen gegenseitig die Aufsicht eins über das andere.« (IV 22236 ) Erziehungsfunktionen oder die Rolle des Lehrers und des Lehrens werden dabei kaum angesprochen. Wie wenig solche Vorstellungen auch unter aufgeklärten Philosophen zu dieser Zeit eine Selbstverständlichkeit ist, wird deutlich, wenn man bei Hegel liest, dass eine »den Eigenwillen brechende Zucht« unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung von Willensfreiheit und ein »notwendiges Moment in der Bildung jedes Menschen« sei.37 Mit anderen Worten glaubt Humboldt in diesem Reformmodell die Möglichkeit einer Neuordnung des Lernens zu erkennen, die auf dem freien Austausch unter Gleichaltrigen und nicht der Abhängigkeit von einer Lehrperson basiert. Ähnlich richtet er, wenn er von Bildung spricht, seine Aufmerksamkeit vor allem auf den Aspekt einsamer Arbeit an sich selbst, in temporärem Austausch mit anderen, aber ohne die Anleitung durch eine Person, die die Rolle des Lehrers übernimmt. »Einsamkeit« und »Freiheit« sollen ermöglichen, dass das Individuum konventionelle Einstellungen und Haltungen überprüft und aus ihnen herauszutreten vermag. Stattdessen betont er, dass »die Richtung des Einzelnen gegen die des ganzen Geschlechts doch eine divergierende« sei (III 403); seine eigenen Formen der Verarbeitung von Erfahrungen gehen nicht auf in denen anderer und die Kommunikation mit ihnen verhüllt dies nur unvollständig. Selbstbildung nimmt die Bedeutung von Abgrenzung gegenüber gängigen Formen der Verge35
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Dabei spielt für Humboldt die Orientierung an Vorbildern durchaus eine Rolle, wie der Aufsatz »Über den Geist der Menschheit« zeigt. Jedoch beruht deren Einfluss nicht so sehr auf ihrem Status als Autorität, sondern darauf, dass sie als etwas, das der kulturellen Überlieferung angehört, auf die Gegenwart bezogen und weitergedacht werden sollen. Eine Skizze dieses reformpädagogischen Programms vgl. IV 221-226, dazu Clemens Menze (1975), Die Bildungsreform Wilhelm v. Humboldts. Hannover u.a., S. 176/77. G.W.F. Hegel (1986), Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. § 435, Zusatz, a.a.O., Werke Bd. 10. Frankfurt a.M., S. 225.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
meinschaftung an, Rückzug, Rückwendung auf sich selbst, Flucht vor Vereinnahmung. Das Individuum begreift sich über seine Distanz zu allgemeinen Entwicklungen und betont vor sich selbst seine Loslösung vom Zeitgeist.38 Diese Distanz, so Humboldt, bewirke »eine Innerlichkeit des Gemüts«, und dies kondensiert sich in der Vorstellung, dass man »zur einsamen, sich über das Leben hinaus erstreckenden Selbstentwicklung« bestimmt sei. (III 404) Gerade die »von der Wirklichkeit absondernde Innerlichkeit« (ebd.) ermöglicht die Ausdehnung der Kenntnisse. Der Einzelne solle »einen so weiten Kreis als ihm seine Lage nur immer verstattet, umfassen, und zu durchschauen versuchen« (I 384). Insofern entspricht der Richtung auf Erweiterung des Wissens eine gegenläufige Tendenz der Individualisierung. Individualität, in ihrer Quelle »immer verborgen, unerklärlich und unbegreiflich« (II 27), sei darauf angewiesen, dass sie in ihren Neigungen »eine Menge anderer ausschließt«, sie sei »etwas positiv Werdendes durch Beschränkung.« (Ebd., vgl. auch III 395) In »entschiedener Bestimmtheit« müsse es zur Ausbildung dessen kommen, »was in unsrer Natur ursprünglich angezeigt ist.« (I 415). Auch deshalb die Betonung von Einsamkeit: Der Charakter soll sich »nach und nach immer mehr durch sich selbst reinigen«, indem der Einzelne seine Individualität »in entschiedener Bestimmtheit« ausbildet (I 415). Die »idealische Ausbildung des einzelnen Menschen [soll] einzig und allein auf der reinen und strengen Entwicklung der inneren Eigentümlichkeit« beruhen (I 419). Diese Selbstbeschränkung und einsame Konzentration scheint für Humboldt zum Anker zu werden in einer Welt, in der »alles außer uns wankt« (I 506), denn auf politischer Ebene habe im Nachbarland Frankreich »eine wirkliche Umkehrung aller Verhältnisse stattgefunden«. (Ebd.) Aber die politische Revolution ist hier nur Stichwortgeber: Ausgehend von den Verhältnissen in Frankreich formuliert Humboldt, dass es zur Aufgabe des Menschen geworden sei, »einen neuen Zustand der Dinge« (I 125) herbeizuführen (I 506). Solche Phasen habe es immer wieder gegeben, verstreut über die gesamte Geschichte der Menschheit, und in ihnen spiegele sich immer etwas weitaus Bedeutsameres, nämlich die »periodischen Revolutionen des menschlichen Geistes« (I 214). Der Begriff der Revolution erfährt bei Humboldt so eine Umdeutung; er verweist allenfalls am Rande auf politischen Umsturz, vor allem aber bedeutet er radikale Veränderung der Gedankensysteme, der Einstellungen und Verhaltensweisen. Ihm gehe es um »Revolutionen der menschlichen Kraft« (ebd.), die in der Entstehung eines Neuen münden, und dazu müsse zunächst eine Gesellschaft in eine Phase eingetreten sein, in der die Bedeutung des Individuellen anerkannt werde. »Denn nichts wirkt so lebendig rund um sich her, als die menschliche Individualität« (I 349). Dennoch erscheint ihm dies beides, Kraft und Individualität, noch nicht als ausreichende Bestimmungen dafür, dass Neues entsteht. Beide bedeuten »Schöpfungskraft«, sagt Humboldt, und dies sei eine wichtige Voraussetzung, es muss aber noch ein weiteres
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In der Nachfolge Humboldts wird dieser Nonkonformismus zu einem Attribut werden, das quasi zur Grundausstattung des Intellektuellen gehört. Allerdings wird er nicht nur als Kritikfähigkeit seinen Auftritt machen, sondern auch als Abkehr von politischen Entwicklungen, Vermeidung der Auseinandersetzung mit Mehrheitsmeinungen, »innerer Emigration«, wenn es sein muss, und damit einen Beitrag zur Stabilisierung eben jener Mehrheitsmeinungen während des Faschismus leisten.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
hinzukommen, das sich als veränderte Haltung der Gegenstandswelt gegenüber zeigt. Andeutungsweise, und wohl in Anlehnung an romantische Theorieelemente, entwickelt Humboldt Vorstellungen eines Gegenstandsbezugs, der nicht auf der Verfügungsgewalt des Subjekts über das Objekt beruht. Wiedergefunden werden muss dazu »eine vorgängige, ursprüngliche Übereinstimmung zwischen dem Subjekt und dem Objekt.« (I 596/97) Der »assimilierende Bildungstrieb« (I 349) wird für ihn zur Grundlage dafür, dass Neues und Ungedachtes Gestalt annehmen kann. Denn das Subjekt entwickele sein Begreifen nicht restlos aus Eigenem, aber auch nicht bloß aus der Sache selbst, sondern die Wechselwirkung beider spiele eine Rolle. Humboldt nimmt Gedankenelemente aus dem früheren, »Theorie der Bildung des Menschen« genannten Textfragment wieder auf und führt sie weiter. Nötig sei, dass der »Auffassende […] sich […] dem auf gewisse Weise ähnlich [macht], was er auffassen will« (II 7). Dies sei ein unberechenbarer Prozess, sowohl in seinem Verlauf als auch in seinen Ergebnissen. Mit anderen Worten entwirft Humboldt als Quelle schöpferischer Veränderung einen Gegenstandsbezug, der nicht aufgeht im Herrschaftsverhältnis des Subjekt-Objekt-Schemas. Forderung ist, dass das Individuum nicht stehen bleibe bei Erkenntnisakten, auch nicht dabei, sich das, »was ihn umgibt, gehörig an[zu]eignen«, sondern es soll darin »seinerseits bildend darauf zurückwirken. (I 512). Auf diese Weise lasse die »Schöpfungskraft des menschlichen Charakters« als ein dem »Naturgange Fremdes« (I 582) »das Neue und nie Erfahrene« entstehen (ebd.).39 Was dieser Kreativität »zu Grunde liegt, ist etwas an sich Unerforschbares, Selbstständiges, seine Wirksamkeit selbst Beginnendes, und aus keinem der Einflüsse, welche es erfährt, […] Erklärbares.« (I 583) Diese Fähigkeit entfaltet sich am ungehindertsten in absichtslosen Tätigkeiten, aber »nicht durch eine auf die andere gerichtete Tätigkeit.« (I 512) Sie ist auf die Einsamkeit und Freiheit der Selbstbildungsprozesse angewiesen. Nicht so sehr die Ziele seien wichtig, sondern die Sache selbst, »die Art, wie sie betrieben wird« (I 78). Nur eine solche Zweckfreiheit ermögliche »Achtung und Liebe« (ebd.) dem Gegenstand gegenüber, vor allem aber zeige sie »heilsame Wirkungen […], so lange sie selbst […] die Seele erfüllt, minder wohltätige, oft nachteilige hingegen, wenn man mehr auf das Resultat sieht, zu dem sie führt, und sie selbst nur als Mittel betrachtet.« (Ebd.) Absichtslose Selbsttätigkeit steht insofern nicht nur für die Möglichkeit, seine »Eigentümlichkeit« auszubilden 39
Durch den Begriff der »Schöpfungskraft« wird das »Pathos, das in der Romantik und in der klassischen Philosophie nur dem ästhetischen Schaffen oder dem sich in der Geschichte verwirklichenden Geist zukommen schien, […] auf das Schöpfertum des Menschen übertragen.« (Hans Joas (1992), Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a.M., S. 137) In einem ähnlichen Sinne, in dem Humboldt den Begriff der Schöpfungskraft benutzt, spricht Hans Joas hier von Kreativität, um auf Handlungsformen aufmerksam zu machen, die nicht im kantischen Subjekt-Objekt-Schema der Herrschaft über die Gegenstandswelt aufgehen, aber auch nicht im hegelschen Schema der Selbsthervorbringung durch Arbeit und Selbsterhaltung im Sinne instrumentellen Handelns. Als eine solche »kreative« Handlungsform sieht er im 18. Jahrhundert den von Herder betonten »Ausdruck« als Möglichkeit kreativer Selbstoffenbarung, die »eine Alternative zum Zweck-Mittel-Schema des Handelns darstellt« (ebd., S. 114). Dies gilt auch für W. v. Humboldt: In der Lesart, die er dem Bildungsbegriff gegen die Brauchbarkeits-Vorstellungen der Aufklärung gibt, handelt es sich (von Joas unbemerkt) ebenfalls um einen solchen Akt kreativen Weltbezugs, der sich nicht »den vorherrschenden Handlungsmodellen des rationalen und des normativ orientierten Handelns« zurechnen lässt (ebd., S. 15).
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
und seine eigene Haltung in Distanz zu Autoritäten, gesellschaftlich verbreiteten Meinungen und verwertbaren Resultaten zu entwickeln. Vielmehr traut er dem vertieften Sich-Einlassen auf eine Sache, wie sie in Prozessen der Selbstbildung möglich wird, das Neue und Ungedachte zu. Deshalb steht für Humboldt »bloße Kultur« (ebd.) in äußersten Gegensatz zu Bildung – Kultur verstanden als Ansammlung gesellschaftlich definierter, verwertbarer Tugenden, Bildung verstanden als »innere Entwicklung«, die »durch äußere Veranstaltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden« kann (I 25, 121).
5.6
Zusammenwirken der Individuen und der »Begriff der Menschheit«
Da, wo Humboldt von Einsamkeit als Bedingung für produktive gedankliche Arbeit – und damit als Voraussetzung für den »Selbst-Actus« des Studierens – spricht, weist er im selben Atemzug auf die Notwendigkeit hin, dass dies stets vom Austausch mit anderen, der »Gemeinschaft mit Gleichgesinnten« (IV 191) und dem »Zusammenwirken« mit ihnen begleitet sein müsse (IV 254). Insofern sei Denken »wesentlich an gesellschaftliches Dasein gebunden.« (III 201)40 Wilhelm von Humboldt geht von einer gemeinschaftlichen Verfertigung der Gedanken aus: »Der Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft.« (Ebd.) Indem der Gedanke einem anderen gegenüber geäußert wird, empfindet ihn auch der Sprechende als etwas äußerlich Gewordenem, das sich von ihm »losreißt« (ebd.). So kommt es, dass »der Vorstellende den Gedanken wirklich außer sich erblickt, was nur in einem anderen, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist.« (Ebd.) Das eigene, durch den Anderen weiter entwickelte Denken wird zur Umwelt beider, die sie selbst erschaffen haben und auf die sie wiederum mit neuen Gedanken reagieren. Diese Vorstellung eines Zusammenwirkens führt in Humboldts Studie »Das achtzehnte Jahrhundert« zur Frage, ob die Menschheit als Ganzes »als ein lebendes, sich selbst entwickelndes Wesen« dargestellt werden kann (I 378) und welchen Anteil daran »eine höhere und fortschreitende Ausbildung des Menschen« habe. (I 430). Als Aufgabe von Bildung bestimmt Humboldt in diesem Zusammenhang nicht den Erwerb neuer Kompetenzen in Gestalt von Wissen und Kenntnissen, sondern die allgemeine Ausbildung der Kräfte eines jeden Individuums: Es gehe um die Entwicklung der eigenen Individualität im Sinne einer »reinen und strengen Entwicklung der inneren Eigentümlichkeit« (I 419) und um die Entfaltung individueller Fähigkeiten in ihrer Verschiedenheit und Vielseitigkeit41 , und zwar sowohl auf der Ebene der einzelnen Person als auch einer Gesellschaft. Ziel ist in beiden Fällen das Erreichen von »Vollkommenheit«, aber dies impliziert bei Humboldt »keine bestimmte Regel über die Annahme dieses oder jenes Charakters« (I 415). Dem Individuum werden keine Vorgaben dazu gemacht, was mehr oder weniger wünschenswerte Eigenschaften sind, denn Humboldt geht davon aus, dass auf der Ebe40 41
»Gesellschaftlich« verstanden als In-Gesellschaft-mit-anderen-Sein: Humboldt macht noch keinen Unterschied zwischen Gesellschaft und Geselligkeit. Vgl. I 417, I 387.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
ne des Einzelnen diese Vollkommenheit gar nicht erreichbar ist, dies aber nicht ins Gewicht fällt, wenn man sieht, »wie eng die einzelnen mangelhaften Anlagen sich zu einem vollkommenen Ganzen zu verbinden fähig sind.« (I 391) Die Charakterzüge des Einzelnen mögen mit »unbedeutenden und zufälligen Eigenschaften […] überladen sein […], so gibt es doch gewiss nur sehr wenige, deren Verlust für die Kenntnis und Ausbildung des Menschen völlig unwichtig wären, und die zu dem vollständigen Gemälde der Menschheit auch nicht einen wesentlichen Zug hinzufügen sollten, der ohne ihr Dasein unbekannt geblieben sein würde.« (I 385)42 Auf jeden Einzelnen komme es an, da eine Gesellschaft »nur miteinander ein vollständiges Ganzes zu bilden« vermöge (ebd.). Die quantitative Steigerung der Fähigkeiten der Einzelnen führt durch ihr »Zusammenwirken« zu neuen Qualitäten. Diese Betonung der individuellen Verschiedenheit in ihrer Vielfalt entwickelt Humboldt in Anlehnung an die antike Denktradition, in der Individuelles nur als Zusammenspiel von Teil und Ganzem denkbar ist. Seine Darstellung schwankt zwischen der Konzeption eines Ganzen, das kaum anders als in der Antike als göttlicher Kosmos bzw. »Vorsehung« (I 579) aufgefasst wird, und der säkularen Vorstellung, der Einzelne finde seinen Platz über seine Zuordnung zu einer konkreten Kommunikationsgemeinschaft. Sie ist dem Einzelnen nicht vor- und übergeordnet, sondern Resultat seiner eigenen Handlungen. Letztlich ist für ihn aber doch die Orientierung an der antiken Konzeption leitend, der zufolge jedes Individuum einen sinnvollen Platz in einem übergeordneten Ganzen einnimmt und insofern diese Relevanz nicht selber ausbilden muss: Es bekommt sie über das Ganze zugesichert. Wenn es nur seine Individualität voll entfaltet, wie auch immer sie beschaffen sein mag, wird sie das Ganze bereichern. Das Muster hierfür gab das Verhältnis der einzelnen Bürger zueinander in der antiken Polis ab; es war von der Unterstellung grundsätzlicher Verständigungsfähigkeit getragen und nicht von radikaler Differenz, und auch Humboldt stellt sich Gesellschaft eher als harmonisches Zusammenspiel der Individualitäten vor. Dass die Kooperation der Einzelnen von den individuellen Formen sich einzubringen abhängt und auch daran scheitern kann, wenn diese Formen nicht entwickelt werden – diesen Schritt in eine Konkretisierung der Bedingungen des »Zusammenwirkens« macht Humboldt nicht. Die »Idee eines allgemeinen und planmäßigen Zusammenwirkens der Menschheit, als eines Ganzen« (I 391) wird im weiteren Fortgang zur Leitvorstellung im Nachdenken über die Rolle des Individuums. Denn vielleicht sei es erst seinem Zeitalter möglich, »durch ein regelmäßigeres Zusammenwirken eine sichtbare Ordnung […] neu hervorzubringen. (I 383/84) Wie ernst er diese Vorstellung nimmt, wird deutlich in seinem Entwurf eines strikt egalitären Schulsystems als einer Bildungsmöglichkeit, die niemanden ausschließt, da sie für alle die gleichen, aber an den Einzelnen angepassten Unterrichtsangebote bereithält. Bei der gesellschaftlichen »Vereinigung aller« (I 417) stellt Humboldt nicht das Können, das einer erworben hat und in die Gesellschaft einbringt, an die erste Stelle (wenn auch die »Mannigfaltigkeit vorzüglicher Fähigkeiten« (ebd.) natürlich erwünscht ist), sondern die »Mannigfaltigkeit der Charaktere« sei es, 42
Humboldt formuliert dies so, dass letztlich alle Verhaltensschattierungen eingeschlossen werden, erwünschte und problematische. Normativen Fragen im Umgang mit dissozialem Verhalten weicht er damit aus.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
die vor allem anderen zähle. Sie ist »die erste Forderung, welche an die Menschheit ergeht, wenn wir sie uns als Ganzes zu höherer Vollkommenheit fortschreitend denken.« (Ebd.) Die Ausbildung des Charakters muss auf seine »Bestimmtheit und Vielseitigkeit« gerichtet sein (I 387) und dies kann dadurch erreicht werden, dass die Individuen sich um die »strenge Entwicklung ihrer natürlichen Anlagen« bemühen und zugleich »durch allgemeine Ausbildung des Geistes die Einseitigkeit […] vermindern« (I 385). Bildung soll hier zweierlei leisten: eine Schärfung und Erweiterung eigener Fähigkeiten und zugleich die Ermöglichung des Zusammenwirkens der Individuen, ohne dass ihre »Mannigfaltigkeit« zur Quelle unlösbarer Konflikte würde. Umso mehr »echte Ausbildung« und nicht nur »Verfeinerung der Sitten« zunehme, »desto mehr hören die Kontraste der verschiedenen Individuen auf, miteinander in Streit zu stehen« (I 419), glaubt Humboldt. Diese »Ausbildung des Geistes« wird unabhängig von normativen Festlegungen und qualitativen Bestimmungen gedacht. Vernunft soll in der und durch die Gemeinschaft der miteinander Kommunizierenden entstehen. Geht es auf der Ebene individueller Selbstverwirklichung immer wieder um ein bloßes »Mehr« an Entfaltungsmöglichkeiten, so bedeutet der Übergang zur Ebene gemeinschaftlichen Austauschs eine qualitative Steigerung. Im »Zusammenwirken« entstehen neue Perspektiven aufgrund der Summe »gemeinschaftlicher Wirksamkeit«. (I 386) Dem entspricht die Erwartung, dass auch auf politischer Ebene in der bürgerlichen Gesellschaft eine Vielzahl von Stimmen an die Stelle einer obersten normgebenden Instanz treten müsse. Dies führt bei Humboldt zu einer deutlichen Distanz gegenüber normativen Bestimmungen. Programmatisch fordert er, dass »alle einzelne Glieder des Menschengeschlechts in allen Zeiten und Nationen, in einen großen Bund vereinigt, die unendliche Mannigfaltigkeit menschlicher Züge, deren Verbindung in einem Individuum unmöglich ist, gesellschaftlich darstellten.« (I 386) Aber diese »Vereinigung aller« (I 417) wird dem Individuum nicht übergeordnet; es bleibt letzter Garant des Gelingens: »Der Charakter des Einzelnen bestimmt, was das Ganze vermag« (I 387). Dabei wird das Zusammenwirken der Individuen nicht als Voraussetzung gedacht, um davon unterschiedene Ziele zu erreichen, sondern es ist selbst das Ideal, in dem sich der »Begriff der Menschheit« verwirklicht. Humboldts Reflexionen zur Rolle des Individuellen wirken aktuell, sie erscheinen als unmittelbar anschlussfähig an gegenwärtige Erfahrungen mit Pluralität, Individualisierung und Anerkennungsdiskursen. Und tatsächlich können seine Schriften als Schauplatz des Sich-Herausschälens neuer theoretischer Perspektiven gelesen werden. Auf diesen Aspekt allein sich zu berufen bedeutet jedoch, spezifische Differenzen im Denken Humboldts einzuebnen, und dies zu übergehen würde ihn zum bloßen Stichwortgeber in der Diskussion aktueller Fragen machen ohne seine Begründungshorizonte zu berücksichtigen. Auch wenn Humboldt – vor aller Soziologie – von der gesellschaftlichen Dimension individuellen Handelns spricht (z.B. I 386, 416), so geht es ihm letztlich doch um etwas Anderes: um »Menschheit« als »Idee«. »Menschheit« und nicht »Gesellschaft« ist der Leitbegriff. In Humboldts Aussagen zu Vielfalt, Verschiedenheit und Zusammenwirken lassen sich ohne Schwierigkeit gegenwärtige Fragestellungen wiedererkennen, und es ist seiner Sensibilität für neue gesellschaftliche Phänomene zu verdanken, dass er diese sich in seiner Zeit gerade erst abzeichnenden Neubewertungen mit großer Eindringlichkeit formuliert – für ihn aber stehen diese Themen in einem
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Transformationen des Bildungsbegriffs
ganz anderen Kontext. Sein ganzes Denken stellt sich in den Dienst der Aufgabe, »dem Begriff der Menschheit in unserer Person […] einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen« (I 235). Diesen Begriff konkretisiert er an anderer Stelle dahingehend, dass ein Individuum sich daran messen lassen müsse, ob es »jeder Summe etwas Neues hinzufügt und damit die Grenzen der Menschheit selbst weiter rückt.« (Ebd.) Humboldts Reflexionen der Rolle von Individualität sind eingespannt in eine Fortschritts- und Aufstiegsgeschichte der Gattung Mensch, die dem Aufklärungsdenken verpflichtet bleibt. Insofern trägt er bei der Forderung nach unbedingter Anerkennung von Verschiedenheit zwar einerseits geschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit, d.h. dem Aufstieg des Bürgertums Rechnung. Aber »Bildung der Individualität« ist für ihn zugleich »der letzte Zweck des Weltalls« (II 113).
5.7
Träume von Vollkommenheit
Obwohl Humboldt sowohl das Individuum als auch die Gattung Mensch als ein »sich selbst entwickelndes Wesen« (I 378) ansieht, sind doch die Kräfte, die in beiden Fällen zur Erscheinung gelangen, für ihn die Vollstrecker einer alles umgreifenden überweltlichen Ordnung ewiger Ideen, die »in der Tat die Wirklichkeit wie große und ewige Gesetze beherrschen«. (II 42)43 Der Geschichtsprozess ist die Bühne ihrer Entfaltung. Seine an vielen Stellen entwickelte Ideenlehre fasst Humboldt am kürzesten in den letzten Sätzen seiner »Betrachtungen über die bewegenden Ursachen in der Weltgeschichte« von 1818 zusammen: In solchen Untersuchungen stoße man auf die Naturnotwendigkeiten einerseits und auf Freiheit andererseits; diese Möglichkeit zur Freiheit werde eher vom Individuum als von größeren sozialen Gruppen repräsentiert. Wichtig sei also vor allem, »den Begriff der Individualität [zu] entwickeln« (I 584). Dabei sehe man sich an das Reich der Ideen verwiesen, die dem Individuellen »zum Ursprung dienen« (ebd.), sie sind der »Typus« (an anderer Stelle »Urform«), der hinter den jeweiligen individuellen Ausformungen steht. Die Idee präge den Stoff »nach einem gleichförmigen Typus« und ist dessen »Bildungsursache«, wird aber durch das Individuelle und Partikulare überformt. In der Individualität mischt sich Überzeitliches und Zufall, es sind die Ideen, die dem Individuellen Sinn verleihen, und die sinnlich wahrnehmbare Gestalt wird dadurch zum »Symbol« jener verborgenen, sie bedingenden Idee. So versteht Humboldt auch sein eigenes Leben: Im »Bruchstück einer Selbstbiographie« formuliert er, dass der »Unterschied zwischen dem Symbolischen im Menschen, und dem einzeln, und gleichsam nur als Schlacke der Wirklichkeit in ihm da Stehenden […] mich in meiner Selbstbiographie leiten.« (V 2/3) Einerseits wird Individualität hier zur bloßen Erscheinung, zur »Schlacke« herabgestuft, andererseits gebe es aber in je-
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Möglicherweise ist dies deshalb für Humboldt kein Widerspruch, weil er zwischen »verborgenen Ursachen« (I 603) als Anstoß von Entwicklungen (= Ideen im Sinne Platons) und den diese Entwicklung ins Werk setzenden »bewegenden […] Kräften« (I 578) unterscheidet. Diese Aufspaltung in zwei verschiedene Bewegungsprinzipen erscheint ihm nicht problematisch, dem modernen, naturwissenschaftlich belehrten Denken in höchstem Maße.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
dem »einen anderen Teil, durch den er mit der Idee zusammenhängt, die sich in ihm vorzüglich klar ausspricht, und von der er das Symbol ist.« (V 2) In enger Anlehnung an platonische Auffassungen sind für ihn individuelle Kräfte nur ein Phänomen des Vordergrunds, den Hintergrund bildet »ein noch mächtiger wirkendes, nicht in unmittelbarer Sichtbarkeit auftretendes, aber jenen Kräften selbst den Anstoß und die Richtung verleihendes Prinzip«. (I 600/01) Es ist »dem Kreise der Endlichkeit« vorgelagert (I 601), kann aber »nur in der Naturverbindung auftreten« (I 602). In der Welt der Erscheinungen realisiert sich »die selbständige Natur der Idee«, indem sie einen »Keim […] in dieselbe legt« (I 602), der sich in der Folge wie eine Pflanze entfaltet. Jedes Individuum ist Verwirklichung eines Aspekts der Ideenwelt und repräsentiert jeweils eine von unendlich vielen möglichen Facetten der Idee der Menschheit: »Jede menschliche Individualität ist eine in der Erscheinung wurzelnde Idee« (I 603). Diese platonische Unterscheidung zwischen einem unwandelbaren Seienden und einem Werdenden, stets der Veränderung Unterliegendem grundiert Humboldts Bildungsdenken. Aber zwischen diesen Polen fügt er als Bindeglied das »Ideal« ein, ein Begriff, der selbst nicht platonischen Ursprungs ist, sondern auf Kant und Schiller zurückgeht. Wenn sich die Idee schon nicht innerweltlich verwirklichen lässt, so weist doch das von der Vernunft geschaffene Ideal auf sie hin und ist ihr Statthalter. Das Bedürfnis nach Aufstieg zur Ideenwelt zeige sich, so Humboldt, vor allem im »Trieb« nach Vervollkommnung. (II 108) Diesen »Grundtrieb der Individualität […] nennt der Deutsche […] Sehnsucht« (II 109/110); ein »Streben« (II 111), in dem sich die »Idealität des Charakters« (II 110) zeige. Das Reich der Ideen erhält so den Status einer Gegenwelt, von der das Individuum aber einen Abglanz in seinem Leben durch die Schaffung von Idealen herstellen kann. Ihnen sucht es sich in seinen Bildungsprozessen anzunähern und auch deshalb muss Bildung von Humboldt als Selbstzweck gedacht und vor aller Indienstnahme geschützt werden. In den Bezug auf das »Idealische« dürfen sich Nützlichkeitsdenken und Vereinnahmungen im Sinne bloßer Funktionszuweisungen nicht einmischen, wenn der Zusammenhang mit der Ideenwelt nicht gestört werden soll. Der Weg dahin verläuft über die Selbstvervollkommnung, die das Individuum für sich erstrebt, und diese Vollkommenheit muss in der Welt gesucht werden, aber sie ist nicht für die Welt.44 »Vervollkommnung« heißt bei Humboldt ebenso gut wie bei Schiller Verwirklichung des Ideals und gehört zu den unhinterfragten Voraussetzungen seines Denkens, die er aus der Antike ableitet. Das Ideal ist Brückenschlag zum Reich der Ideen und auch wenn die Ideen sich nie vollständig in der Erscheinung realisieren, treten sie doch vermittels des Ideals in den Horizont des Denkbaren und der Empfindungen. Mit großer Selbstverständlichkeit galt im 18. Jahrhundert »Vervollkommnung« als Ziel jeglicher Entwick44
In der Konsequenz hat dies dazu geführt, dass der sogenannte »Gebildete« in Deutschland jene soziale Sonderstellung für sich beanspruchte, die Hans Weil einmal als das spezifisch deutsche und in der Konsequenz unheilvolle »Neben-Oben« bezeichnet hat – die Intentionen dieses Individuums sind nicht auf die Alltagswelt, sondern stets auf ein »Höheres« gerichtet, neben dem die Alltagsgeschäfte ihren Ort angewiesen bekommen. Auch die Sphäre politischen Engagements wird so zum Nebenschauplatz herabgestuft, was zur politischen Indifferenz großer Teile des Bildungsbürgertums während des Faschismus führte. (Vgl. H. Weil (1967), Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, Bonn, S. IX)
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Transformationen des Bildungsbegriffs
lung. Ein Doppeltes verlieh der Denkfigur der Vollkommenheit eine solche Überzeugungskraft: Da war zum einen die große Zahl von Entdeckungen und Erfindungen, was zu Vorstellungen kontinuierlicher Prozesse des »Werdens« einlud45 und da waren andererseits die Schriften Winkelmanns, die zu einer erneuten Beschäftigung mit der Antike führten. Ihnen war zu entnehmen, dass Vollkommenheit möglich ist und – zumindest in ästhetischer Hinsicht – in der Antike schon einmal erreicht worden war. Die Vorstellung der Aufklärung, »que la perfectibilité de l’homme est réellement indefinie«46 , erhielt so eine historische Grundlage; Vollkommenheit hatte es einmal wirklich gegeben, die gegenwärtige Kultur erschien als bloßer Rückgefall hinter die Verwirklichung dieses Ideals, es war aber möglich, sich zu seiner Höhe wieder emporzuarbeiten: durch Bildung. Während es für die Aufklärung selbstverständlich war, sich unter Vervollkommnung eine Zunahme von Tugend, Wissen, Glück oder Wohlstand vorzustellen, distanzierte sich die deutsche Klassik von solchen »profanen« Zielsetzungen und sah in der griechischen Antike den »Übergang vom Individuellen zum Idealen«. (II 26). Für Humboldt war dieser Übergang nicht auf die Kunst beschränkt, sondern prägte auch andere Lebensäußerungen, da ein »Geist, der sich eine solche Behandlungsart erschafft […] ihr selbst ähnlich sein« muss und somit auch auf andere Bereiche ausstrahlt. (Ebd.) Man könnte mutmaßen, dass diese zeittypischen Vorstellungen einen starken normativen Druck ausübten. Vorstellungen von Vervollkommnung sind orientiert an einem Endzustand der vollen Erfüllung, und in der Konsequenz könnten Denkweisen in Kategorien der Vervollkommnung dazu führen, zwischen mehr oder weniger vollkommenen Verwirklichungen zu unterscheiden, nach Selektionskriterien zu suchen und eine Bevorzugung der Gelungenen vor den weniger Gelungenen zu begründen. Gerade diesen Schluss aber zieht Humboldt nicht, und zwar indem er Verschiedenheit, Vielgestaltigkeit, Vielfalt selbst zum Ideal erhebt. Er entlässt das Individuum damit aus der Verpflichtung, normierenden, von außen gesetzten Verhaltensanforderungen entsprechen zu müssen. Mit dem Rückgriff auf den Nimbus der Ideen verleiht er damit der individuellen Eigenart in all ihren Erscheinungsformen eine quasi unanfechtbare Würde. Gerade in seiner »Eigentümlichkeit« wird das Individuum zum Repräsentanten einer überweltlichen Idee. Dazu muss Humboldt die Forderung der Vollkommenheit von eng gefassten normativen Bestimmungen freihalten. Zielbestimmungen von Bildung, fordert Humboldt, müssen so offen formuliert sein, dass sie »der Verschiedenheit der Individuen keinen Eintrag tun« (I 507), da »das Ideal menschlicher Vollkommenheit keine bestimmte Regel über die Annahme dieses oder jenes Charakters vor[schreibt]« (I 415). Ziel müsse vielmehr sein, dass »sich die natürliche Gestalt des Menschen, ohne etwas aufzuopfern, erhalten kann« (I 106), und das heißt für Humboldt »Lebhaftigkeit der Sinnlichkeit, Feuer der Einbildungskraft, Wärme des moralischen Gefühls, Stärke des Willens, alles geleitet und beherrscht durch die Kraft der prüfenden Vernunft.« (I 15) Für den christlichen Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit ist hier kein Platz. Sogar die »Heftigkeit der sinnlichen Begierde« wird zu einem »Zeichen der Kraft der Seele« aufgewertet. (I 11) 45 46
W. v. Humboldt (1981), Brief an Chr. G. Körner, a.a.O., Bd. V, S. 174. Condorcet, zit. Richard Baum/Sebastian Neumeister (1989), Artikel »Perfektibilität«, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7. Darmstadt, Sp. 238-241, hier Sp. 239.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
Zusammengefasst ist »Mannigfaltigkeit der Charaktere […] daher die erste Forderung, welche an die Menschheit ergeht, wenn wir sie uns als Ganzes zu höherer Vollkommenheit fortschreitend denken.« (Ebd.) Dies befreit das Individuum jedoch nicht von dem Anspruch, in seiner Bildungsgeschichte Einheit, Ganzheit und Harmonie zu verwirklichen. Es gehe darum, in sich »das einzelne Bestreben zu einem Ganzen und gerade zu der Einheit des edelsten Zwecks, der höchsten, proportionierlichsten Ausbildung des Menschen zu vereinen.« (II 7) Gewarnt wird vor Einseitigkeit, der Ausbildung »einzelner Seiten der Kraft« (ebd.), vielmehr bilde sich das Individuum »zu immer höherer Vollkommenheit«, wenn »seine denkende und empfindende Kraft […] sich unzertrennlich vereine« (I 141). Auch gesellschaftlich gehe es darum, »ein vollkommenes Ganzes zu bilden, in welchem eine reiche Mannigfaltigkeit sich zu schöner Einheit zusammenschließt« (I 419). Unterschiedliche gesellschaftliche Interessen, Konflikte und Kämpfe haben in diesem Denken keinen Platz: »Verschieden in ihren Anlagen und Fähigkeiten, teilen alle Menschen das gleiche Interesse miteinander, und verfolgen dasselbe Ziel« (I 384). Allenfalls »Wetteifer« scheint Humboldt denkbar (I 417). Erst Hegel wird Konflikt, Interessengegensatz, Widerspruch zur Grundlage von Entwicklungsprozessen machen. Diese beiden Tendenzen, das Ziel der Vervollkommnung als Erreichen eines Endzustands, in dem Einheit, Ganzheit, Harmonie und Gleichgewicht verwirklicht ist, und andererseits die Betonung des »Werdens« im Sinne eines offenen Entwicklungsprozesses, stehen unausgetragen nebeneinander und manifestieren sich in einer charakteristischen Unentschiedenheit. Wiederholt fragt sich Humboldt, ob die Geschichte »einem Ziele entgegeneilt, oder das Ziel, das erreicht werden soll, mit jedem Menschen von dieser Erde scheidet« (I 45), und in einem Brief an Körner formuliert er dies als die Frage, ob sie sich »in ewig ins sich zurückkehrenden Kreisen, oder einem großen unendlichen Ziele zu« (V 172) vollzieht. Für die Geschlossenheit seines Weltbilds spricht seine Annahme einer »Richtung« in der Entwicklung der Menschheit, »welche zum letzten Ziel hinführt« (I 376), und immer wieder ist in den Schriften Humboldts von dem »letzten Ziele« (II 127), dem »Endzweck« (I 141) und dem »wahre[n] Zweck des Menschen« (I 64) die Rede. Denn es gebe einen in jedem verankerten »Trieb« (II 108) nach allmählicher Vervollkommnung, und dies lege nahe, »dass die Menschheit, auch im Ganzen, sich einem höchsten und letzten Ziele in gleichförmigen Fortschritten nähert.« (I 382) Aber gleichzeitig weist Humboldt teleologische Vorstellungen von Geschichte entschieden zurück: Ziele werden von Menschen für Menschen gesetzt, sie können sich jeder Zeit in der Geschichte verwirklichen. Grund für die Zurückweisung der Teleologie ist letztlich der Vorrang, den Humboldt dem Individuellen einräumt. Teleologische Geschichtskonstruktionen erreichen »auch darum niemals die lebendige Wahrheit der Weltschicksale, weil das Individuum seinen Gipfelpunkt innerhalb der Spanne seines flüchtigen Daseins finden muss« (I 596). Sie sehen dagegen die Geschichte nur als Mittel, einen übergeschichtlichen, objektiven Sinn zu verwirklichen. Teleologisches Denken muss in letzter Konsequenz die Ansprüche des Lebendigen zu Gunsten von »toten Einrichtungen« (ebd.) vernachlässigen, das Individuum gilt ihm nichts. Indem Humboldt gegen solche teleologischen Konzeptionen protestiert, beharrt er auf der Einsicht, dass »Bildung zur Individualität« ein Zweck in sich selber ist und nicht etwas, mit dem ein davon unabhängiger
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Zweck in der Geschichte der Menschheit verwirklicht werden soll. »Solche Zwecke, wie man sie nenne, gibt es nicht; die Schicksale des Menschengeschlechts rollen fort, wie die Ströme vom Berge dem Meer zufließen, wie das Feld Gras und Kräuter sprießt, wie sich Insekten einspinnen und zu Schmetterlingen werden, wie Völker drängen und sich drängen lassen, vernichten und aufgerieben werden. Die Kraft des Universums […] ist ein unaufhaltsames Fortwälzen.« (I 575) Gänzlich aufgegeben erscheint das Ziel der Vervollkommnung schließlich in der Aussage, zu Unrecht werde »die Vollendung des Menschengeschlechts in Erreichung einer allgemeinen, abstrakt gedachten Vollkommenheit, nicht in der Entwicklung eines Reichtums großer individueller Formen [ge]sucht.« (I 576) Die Offenheit individueller Entwicklung behält an dieser Stelle das letzte Wort, aber ein Schwanken bleibt: Denn einerseits teilt Humboldt die neuzeitliche Perspektive auf den Menschen, die Entwicklungsprozesse als in ihrem Ergebnis offene Auseinandersetzung mit einer »Mannigfaltigkeit der Situationen« (I 64) versteht. Ähnlich hatte Kant postuliert, »dass der Mensch alles, was über die mechanische Ausbildung seines Daseins geht, gänzlich aus sich herausbringe«47 . Was er ist, habe »er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft«48 . Andererseits ist für Humboldt das, was dieser Mensch als seine Einzigartigkeit in sich freilegt, Ausdruck einer ihm vorgegebenen Idee, die in ihm »plötzlich und auf einmal« (I 572) zur Erscheinung gelangt und seinen Bildungsprozess zur Entfaltung dieser in ihm angelegten Idee macht. Zu konstatieren bleibt ein Schwanken zwischen diesen Positionen. Greifbar wird dieses Schwanken im unklar bleibenden Begriff der Kraft, der von Humboldt manchmal so verwendet wird, als sei sie bloß das Mittel, mit dem sich die Ideen innerweltlich realisieren; dann wieder erscheint »Kraft« als originärer Vitaltrieb, der sich als Individualität ausprägt. Durch die Aufwertung von Begriffen wie dem des Triebs, der Kraft, der Eigentümlichkeit – bei Humboldt werden sie zu tragenden Begriffen – entsteht jedoch der Eindruck, dass er damit den Vorstellungshorizont des Idealismus bereits verlässt und zum Vorläufer lebensphilosophischer Perspektiven wird. Sein Platonismus fungiert dabei noch eine Weile als Sichtschutz.
5.8
»Ausbildung aller menschlichen Kräfte«
In der späten Schrift »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus« aus den Jahren 1827 bis 1829 kommt Wilhelm von Humboldt – eher am Rande – auf das Phänomen zu sprechen, dass in einigen Nationen »gebildete Klassen« entstanden sind, »die dem Volke entgegenstehen« (III 285) und sich durch einen höheren Bildungsgrad von ihm unterscheiden. Er sieht dieses Phänomen eher kritisch: »Konventioneller Zwang, einseitige Verstandesbeschäftigung und weniger unmittelbare mit der Natur« (ebd.) kennzeichnen die »Verstandesbildung« dieser Schicht, die zudem »immer einigermaßen auf Kosten des unentwickelten Gefühls erworben« werde (III 286). Dem entspreche, 47 48
I. Kant (1975), Idee zu einer allgemeinen. Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Werke in 10 Bänden, hg. von W. Weischedel, Bd. 9. Darmstadt, S. 33-52, hier S. 36. Ebd.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
dass die »sogenannte gebildete Sprache […] eine nach absichtlichem Gebrauch gespaltene, gereinigte, also verarmte, in ihrem Zusammenhang zerrissene« sei (ebd.). Diese Verflachung hat Humboldt an anderer Stelle auch als »bloße Kultur« (II 340) bezeichnet, die Gefahr läuft, »Selbstständigkeit, Kraft und Leben überall zu töten, wo sie es findet.« (II 339) Dies sind die Kosten, aber deren anderer Seite, der Verstandesbildung, misst er gleichzeitig eine Art historischer Notwendigkeit zu, die er als charakteristisch für seine Zeit ansieht: Zunächst einmal gelte, dass »nicht zu verhindern [sei], dass diese Art der Bildung nicht auch auf das Volk übergeht, der Schulunterricht verbreitet sie absichtlich« (III 286). Darüber hinaus würde es aber auch »ein Missgriff sein, dies zu tadeln. Jede Aufhellung der Begriffe, jede Gewöhnung, alles, was der Mensch tut, der ihm vom Verstande vorgeschriebenen Regel zu unterwerfen, ist wohltätig und im Entwicklungsgange der Menschheit geboten.« (Ebd.) Ausbildung des Verstandes wird als eine unabweisbare historische Aufgabe angesehen und insofern müsse man fordern, dass die Zugänge dazu erleichtert werden. (I 392) Ganz allgemein gelte, dass »Bildung […], ihrem allgemeinen Begriffe nach, eine stärkere und mehr abgesonderte Richtung auf das Intellektuelle« hat (III 287). Diese Intellektualisierung, die stärkere Beachtung kognitiver Fähigkeiten, nimmt Humboldt als eine neue, seine Zeit auszeichnende Qualität wahr. Sie zeigt sich in einer neuen, an die Bewegung der Aufklärung anknüpfenden Diskursivität und in den neuen sprachlichen Codes der Gebildeten, die diese Diskurse dominieren. Dabei hat die »Richtung auf das Intellektuelle« für Humboldt eine große Spannweite und reicht von »der bloßen Verfeinerung« (ebd.) bis zur Philosophie und Wissenschaft, schließt aber auch Dichtung und Kunst ein (vgl. III 287/88). Der Schulunterricht müsse dem Rechnung tragen und auf wissenschaftliches Denken vorbereiten. Wissenschaft sei »Stoff der geistigen und sittlichen Bildung« (IV 255), dabei sei es aber Aufgabe, dass »die objektive Wissenschaft mit der subjektiven Bildung« verknüpft werde (ebd.) und zwar indem jedes Individuum die eigenen Studien selbständig gestaltet, wozu schon die Schule anleiten müsse. Dadurch, dass Schülern das »Lernen des Lernens« vermittelt wird, werden sie in den Stand gesetzt, »nun für sich selbst zu lernen«. (IV 170) Solange diese Fähigkeit noch aufgebaut werden muss, ist die Lehrperson wichtig, dann aber wird sie »durch den Schulunterricht entbehrlich«. (Ebd.) Der Unterricht selbst macht den Schüler »nach und nach vom Lehrer frei, bringt ihm aber alles bei, was ein Lehrer beibringen kann.« (IV 191) Möglich soll dies dadurch werden, dass die »Verschiedenheit der Talente und Lagen« berücksichtigt wird. Denn die Gegenstände werden von jedem »verschieden geahnt, begriffen, angeschaut und geübt«, und es sei vor allem nötig, die Freiheit dazu zu gewährleisten. Mit anderen Worten wird Wissenschaftsorientierung von Humboldt mit einer starken Betonung der Selbsttätigkeit der Lernenden verknüpft, eine Vorwegnahme späterer Modelle »Forschenden Lernens«. Wenn aber Bildung mehr sein soll als »bloße Gelehrsamkeit« (I 238) oder »eine bloße unbestimmte Tauglichkeit zu allem Möglichen« (II 339), dann bedarf sie noch einer weiteren Zutat, nämlich »der Begeisterung« (III 287). Auch dass man »für diese Bestrebungen Sinn besitzt« (III 288), anstatt sich den damit verknüpften Forderungen bloß zu unterwerfen, ist nötig. Humboldt sieht die Gefahr, dass jede Vermittlung »bloß gesellschaftlicher Bildung« dem entgegenarbeitet und die »Manier der auf halbem Bildungswege stehen Gebliebenen« (ebd.) auf abschreckende Weise das, was unter Bildung verstanden wird, prägt. Insofern wäre es im Falle einer
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Transformationen des Bildungsbegriffs
von der Schule vermittelten »Verstandesbildung« wichtig, »jene Bildung weniger dürftig und wahrhaft in das Volk eindringender zu machen, den Unterricht von der bloß scheinbar wissenschaftlichen Zurüstung zu befreien, ihn weniger pedantisch puristisch einzurichten« (III 287). Damit deutet sich an, dass auch wenn der Ausbildung des Verstandes ein solches Gewicht gegeben wird, in Humboldts Schriften der Verstand und ebenso das umfassender gedachte Vernunftprinzip immer nur als eine Dimension unter mehreren erscheinen. Wenn Humboldt von der »Bildung der Kräfte zu einem Ganzen spricht (I 64), dann geht es ihm neben Verstand und Vernunft um die »schaffenden Kräfte«, um Einbildungskraft, Empfindungsfähigkeit, Empfänglichkeit und die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuwirken. Wichtiger als der Vernunftbegriff ist für ihn der Begriff der Kraft, genauer: der Kräfte im Plural als vitalistisches Prinzip.49 Deshalb wehrt er sich gegen Vernunftimperative kaum weniger als gegen staatliche Eingriffe, die er als »gewaltsame Übergriffe« wahrnimmt50 , insofern sie das Individuum dem Diktat des Allgemeinen unterwerfen. Unter dessen Herrschaft hieße Bildung dann nur noch die Einsichtsfähigkeit in allgemein formulierte Vernunftgründe und die Erbringung einer geforderten Leistung, nämlich die Vielfalt eigener Kräfte einer vom Vernunftprinzip geforderten Vereinheitlichung zu unterwerfen. Nicht eine einzelne Kraft, die Verstandestätigkeit und ihre Einsichtsfähigkeit in Vernunftgründe, steht im Zentrum, sowie das Besser/Schlechter ihrer Leistungen, sondern das individuelle Zusammenspiel verschiedener Fähigkeiten. »Proportionierlich« soll es sein, also die einzelnen Kräfte in ein gutes Verhältnis zueinander bringen (vgl. I 64). Wie dies umgesetzt werden könnte, konkretisiert er in seinen Denkschriften aus dem Jahre 1809, in denen die Einrichtung von Schulen in Königsberg und Litauen und der Plan einer Universitätsgründung in Berlin konzipiert wird. Schulunterricht solle die »allgemeine Übung der Hauptkräfte des Geistes« und nicht die »Einsammlung der künftig notwendigen Kenntnisse« in einem Beruf zum Gegenstand haben (IV 172). Dies ist es, was Humboldt unter allgemeiner Bildung versteht: weder spezielle noch breit gestreute Kenntnisse, sondern »Ausbildung aller Fähigkeiten« (IV 261), »Bildung des Gemüts« (IV 189), »Übung der Kräfte« (IV 172). Indem sich der Unterricht an »die Denkund Einbildungskraft, und durch beide an das Gemüt« richte, werde er »allgemeine Menschenbildung« vermitteln können (IV 188). »Denk- und Einbildungskraft« werden immer zusammen genannt, die Anregung der Einbildungskraft soll dann aber zur Beschäftigung mit den »Hauptgattungen der Kunst« führen (ebd.). Die Schule müsse auf »harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten in ihren Zöglingen sinnen, nur seine Kraft in einer möglichst geringen Anzahl von Gegenständen an […] allen Seiten üben, und alle Kenntnisse dem Gemüt nur so einpflanzen, dass das Verstehen, Wissen und geistige Schaffen […] durch seine innere Präzision, Harmonie und Schönheit Reiz gewinnt.«
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Damit bezieht er implizit Stellung gegenüber dem Rationalismus Kants: »Humboldt teilt nicht die Kantische Sichtweise, nach der Freiheit und Vernunft als Autonomie zusammengedacht werden sollen. Seine Darstellung eines möglichen Bildungsprozesses zielt nicht darauf, die Möglichkeit eines autonomen Vernunftsubjekts vorzuführen.« (Alfred Schäfer (2011), Das Versprechen der Bildung. Paderborn u.a., S. 57) Ebd.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
(IV 261) Vor allem aber müsse der Unterricht Sorge tragen, »dass dies alles auf eine die Empfindung stark bewegende Weise behandelt wird.« (IV 174) Das absolute Primat des Verstandes wird insofern aufgekündigt zugunsten einer Steigerung der individuellen Kräfte und Fähigkeiten in ihrer Gesamtheit, zu deren integralen Teil auch die Bekanntschaft mit den Prinzipien wissenschaftlicher Rationalität gehört. Voraussetzung wäre ein Bildungssystem, das Selektionshürden vermeidet und jeden Einzelnen in seinen individuellen Stärken fördert, und entsprechend egalitär hatte Humboldt sein Schulsystem, das keine Aufspaltung in unterschiedliche Schulformen vorsieht, ja auch angelegt. Die Schüler, die nur »für sich selbst […] lernen«, werden für Humboldt zum Exempel für die von ihm geforderte »Wechselwirkung« von »Empfänglichkeit« mit »Selbsttätigkeit« (I 237). Sie lieferte in der »Theorie der Bildung des Menschen« das Stichwort dafür, wie sich das Ich im Lichte des bisher Ungedachten und Fremden das eigene Denken bewusstmacht, eigene und fremde Perspektiven vergleicht und in seinen Lektüren begriffliche Differenzierungen zur Verfügung gestellt bekommt, die Eigenes und Fremdes miteinander verbinden.51 Seine Forderung einer »Ausbildung aller menschlichen Kräfte« gerät für Humboldt in seinen Schulplänen zunehmend mit einem anderen Prinzip in Konflikt, »der Möglichkeit künftiger Wissenschaft« (IV 194). Die Berücksichtigung ihrer Erfordernisse führt zur Warnung vor einer Ausrichtung auf das »naheliegende Leben«. (Ebd.) Bereits der Elementarunterricht solle auf »die Klarheit und Bestimmtheit der Begriffe« hinarbeiten (IV 173) und auch der Mathematikunterricht hat deshalb einen zentralen Stellenwert in Humboldts Curriculum. Die Bedeutung der Mathematik sieht Humboldt vor allem in der »Vorübung des Kopfes« (ebd.); in »Übungen des Denkvermögens« und der »Erhebung zu einer allgemeingültigen Anschauung« (IV 188). Dies sei gerade dann von besonderer Wichtigkeit, wenn absehbar ist, dass Schüler eine wissenschaftliche Ausbildung später nicht einschlagen werden. Der Unterricht solle jedem Schüler Zeit zu »seiner allmählichen Entwicklung seiner selbst« lassen (ebd.); individuelle Schwerpunktsetzungen im Unterricht sollen für alle möglich gemacht werden (vgl. IV 174/75). Die individuellen Kräfte sollen »gestärkt, geläutert und geregelt werden« (IV 188), und dies könne nur in einem von allen Rücksichten auf Verwertbarkeit freien Raum geschehen. Der anwendungsbezogene, berufsvorbereitende Unterricht beziehe sich nicht auf die Lernenden, sondern wolle verwertbare Kenntnisse »mechanisch beibringen« (IV 173). Aus diesen Beobachtungen leitet Humboldt eine strikte Trennung von anwendungsbezogenen Fertigkeiten und der Förderung individueller Anlagen ab. »Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige
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All dies ist auf die Muße informeller Bildung angewiesen, auf die Möglichkeit, auf Distanz gegenüber äußeren Anforderungen gehen zu können, auf die Freiheit von Leistungszwängen. In seinen Bestimmungen zu den Regularien formaler Bildung sieht sich Humboldt gezwungen, diese Freiheit durch einen eher unscheinbaren Satz in Frage zu stellen. Er sollte im weiteren Fortgang eine geradezu unabsehbare Wirkung entfalten, denn er führte eine enge Verbindung zwischen formaler Bildung und Leistungsprinzip ein: Es sei für jeden Einzelnen »die Reife in jeder Klasse für jede Disziplin« zu bestimmen, was nach Kriterien für das Erreichen eines bestimmten Niveaus verlangt und Humboldt verknüpfte dies zusätzlich mit der Frage der »Versetzung aus einer Klasse in die andere«. (IV 186)
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Menschen, noch vollständige Bürger einzelner Klassen.« (IV 188) An Berufserfordernissen orientierter Unterricht leide zudem unter beständigem Zeitmangel, beschränke sich deshalb auf »in ihren Gründen unverstandene Resultate« (IV 188) und sei insofern bloße »Abrichtung« (IV 173).52 Bereits in seiner Schrift über die »Grenzen der Wirksamkeit des Staats« von 1792 hatte Humboldt diese Unterscheidung von Mensch und Bürger reflektiert, die sich vermutlich von Rousseau herleitet. Ähnlich wie Rousseau argumentierte er dort, dass der Bürger immer in Gefahr sei, »die natürliche Gestalt des Menschen« zu verlieren und »der Mensch dem Bürger geopfert« werde (I 106). Die Vergesellschaftung als Bürger wird als seine Deformation begriffen; in seiner Natürlichkeit, d.h. als Mensch könne sich das Individuum nur in Freiräumen entfalten. Um sich auf diese Weise als Mensch zu erfahren müsse »die freieste, so wenig als möglich schon auf bürgerliche Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müsste dann in den Staat treten, und die Verfassung des Staats sich gleichsam an ihm prüfen.« (Ebd.) Weit davon entfernt, hier auf irgendeine Weise nach Vermittlungsgliedern zu suchen, steigert er die gegensätzlichen Aspekte zu einer strikten Opposition. In den Schulplänen wird er geradezu vor einem zu sehr »auf das Bedürfnis des Lebens« Rücksicht nehmenden Bildungsverständnis warnen (vgl. IV 190).53 Auch eine Bildung, die eine »bloße unbestimmte Tauglichkeit zu allem Möglichen« zum Gegenstand hat und dafür die Kompetenzen bereitstellt, unterliegt diesem Verdikt (II 339). Diese Dichotomie von »Mensch« und »Bürger« und Humboldts daraus abgeleitete Forderung zweckfreier Bildung wird von Humboldts Zeitgenossen Pestalozzi heftig bestritten. Pointiert formuliert er, dass es ein Irrtum sei anzunehmen, der »Mensch müsse Mensch sein, ehe er Kannengießer werden könne, während er in Wahrheit muss Kannengießer werden, weil eben seine Menschheit unabhängig von seiner Kannengießerarbeit ihn zum Unmenschen in der Gesellschaft machen würde.«54 Pestalozzi hält fest, dass ein Mensch sich erst durch seine Arbeit selbst erfährt, sowohl als Individuum als auch als gesellschaftliches Wesen und dass sich Individuen erst über ihre gesellschaftlich sichtbaren Tätigkeiten in ihren auch für andere wichtigen Fähigkeiten wahrnehmen können. Eine Entlastung von Arbeit und der durch sie ermöglichten Selbst52 53
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Ernst August Evers war 1807 noch einen Schritt weitergegangen und hatte seine Abrechnung mit philanthropischen Bildungsprogrammen »Über die Schulbildung zur Bestialität« genannt. Clemens Menze treibt diese Position in ihrer abstrakten Trennung zwischen »nützlichen Kenntnissen« und einer »reinen Menschenbildung« auf die Spitze, wenn er dies zu der Aussage verdichtet: »Der Beruf des Menschen ist es Mensch zu sein« (C. Menze 1975, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover u.a., S. 242). Nur die »Bildung des Menschen überhaupt« (ebd. 238) müsse Ziel sein, da es »Zweck des Menschen überhaupt« sei, sich »in seiner Menschheit darzustellen und der Idee dieser Menschheit gemäß, also als Mensch, und nicht als Funktionär für dieses oder jenes, zu handeln.« (Ebd., S. 90). Dies, so Menze, sei allgemeine Bildung; ihre Voraussetzung sei, dass »unmittelbare Lebensbedürfnisse« ausgeschlossen werden (ebd., S. 250). So konnte vielleicht noch Humboldt denken; nach der Erfahrung des Faschismus müsste auch Menze bekannt sein, welche unheilvollen Konsequenzen die Trennung von »Mensch« und »Funktionär« hervorgebracht hat: die Abspaltung beruflichen Handelns als unwesentlich für den »Menschen«, dessen Menschsein privat stattfindet. Johann Heinrich Pestalozzi, zit. Herwig Blankertz (1982), Die Geschichte der Pädagogik: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wetzlar, S. 136.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
erfahrung würde für das Individuum ein gesellschaftliches Vakuum und zugleich ein Vakuum an Erfahrungsmöglichkeiten bedeuten. Humboldt sieht diese Gefahr nicht, weil er glaubt, diese auf Arbeit gründende Erfahrung durch eine »Mannigfaltigkeit der Situationen« (I 64) ersetzen zu können; in der Ausbildung zum »Kannengießer« würde er wohl nichts als Beschneidung von Potentialen, Zurechtstutzen von Identitäten sehen, um den eng definierten Ansprüchen der jeweiligen Tätigkeit zu entsprechen. Die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu erproben, schließt er damit allerdings gleich mit aus; eine »Ausbildung aller menschlichen Kräfte« wird auf einen eng umgrenzten Raum zweckfreier Selbsterfahrung begrenzt.55 Dabei unterscheidet Humboldt nicht in seiner Ablehnung zwischen den zwei Varianten von Anwendungsbezug: zwischen den utilitaristischen Interessen der Auftraggeber und dem Bedürfnis der Lernenden selbst, erworbenes Wissen in Praxissituationen und damit zugleich sich selbst auszuprobieren, zwischen der Reduktion von Wissen auf die mechanische Anwendung von Regeln und der Neugier darauf, das erworbene Wissen in realen Situationen zu bewähren. Humboldts Ablehnung aller Differenzierungen beruht vermutlich auf seinem Beharren darauf, dass »der Zweck des Menschen im Menschen liegt«, wie er schon in seiner frühen Schrift »Über Religion« formuliert (I 32).56 Selbstbezug wird in die erweiterte Perspektive des kategorischen Imperativs gerückt, dass ein jeder aufgrund seiner individuellen Einzigartigkeit, »als Zweck an sich selbst«, anerkannt werden muss und insofern Gelegenheit bekommen muss, sich in seiner Individualität auszubilden. Aber was meint Humboldt mit seiner Befürchtung, durch Anwendungsbezug werde Bildung »unrein« (IV 188)? Offenbar ist es ihm wichtig, auf die Phase der Erarbeitung eines Konzeptes hinzuweisen, in der Lernende sich unabhängig von möglichen Verwertungsaspekten mit den verschiedenen Dimensionen eines Gegenstandes vertraut machen und sie zu verstehen suchen. Die Absichtslosigkeit des Wissenserwerbs soll gewährleisten, dass alles Wissen auf die Entfaltung des eigenen Selbst-Innenraums bezogen bleibt. Das Individuum begreift den Gegenstand und begreift sich am Gegenstand 55
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Die strikte Wendung gegen jedweden Anwendungsbezug nimmt zweifellos ihren Ausgang bei der schlechten Praxis vieler Schulen jener Zeit, direkt auf künftige Berufe vorbereiten zu wollen. Noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigt sich dies als eine von den verschiedenen Berufen diktierte »zusammenhangslose Fülle des Stoffs«, der im Unterricht vermittelt wird. Es ist ein sehr konkret auf die jeweiligen Tätigkeitsprofile bezogener Unterricht, der zu dieser Unüberschaubarkeit führt. Als Ernst Christian Trapp, der über Erfahrungen damit zum ersten Lehrplantheoretiker wurde, »einmal bei einer Konferenz im Philanthropin zu Dessau (1778) vor der Aufgabe stand, für nicht weniger als 35 Disziplinen und darüber hinaus auch noch für Reiten, Tanzen, Werken usw. einen Unterrichtsplan zu machen, erklärte er, dass er sich in einem solchen Chaos nicht zurechtzufinden wisse.« (Josef Dolch (1982), Lehrplan des Abendlandes. Zweieinhalb Jahrtausende seiner Geschichte. Darmstadt, S. 313). Dies ist wohl eine Paraphrase der Kantischen Maxime: »der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen« bzw. des Kategorischen Imperativs, dass ein jeder Mensch »jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« behandelt werden dürfe. (I. Kant (1975), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke in zehn Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 6. Darmstadt, S. 11-102, hier S. 59/60 und S. 61).
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Transformationen des Bildungsbegriffs
– im Gegensatz zum bloßen Sich-Einprägen bereits vorhandenen Wissens. In diesem Freiraum sollen Lernende ihre eigenen Entdeckungen machen können; »Hingabe an die Sache« hat dies Max Horkheimer 150 Jahre später in einer Rede an seine Studenten genannt.57 Humboldts Anliegen ist es, einen allen Praxiszwängen vorgelagerten Raum des Wissenserwerbs aufrecht zu erhalten, in dem neue Erfahrungen im Grenzbereich zwischen Eigenem und Fremdem möglich werden. Sein bildungstheoretisches Denken braucht dabei keine Einwände der Lern- oder Motivations- oder Entwicklungspsychologie zu berücksichtigen, denn die gibt es noch nicht. Über altersgerechte Lernformen muss er sich noch wenig Gedanken machen, auch nicht über Probleme trägen Wissens durch Abspaltung von Verwendungskontexten. Aber auch der für sein Denken so viel naheliegendere Begriff der Erfahrung bleibt unentfaltet. Dass das, was er unter der »Reinheit« von Bildung versteht, einer Ausdünnung von Erfahrungsmöglichkeiten gleichkommt, wird von Humboldt viel weniger deutlich gesehen als von Pestalozzi, da er nicht in jenen gesellschaftlichen Kategorien – Arbeit und Beruf inbegriffen – zu denken vermag, die sich bei Pestalozzi bereits abzuzeichnen beginnen.
5.9
Allgemeine Menschenbildung, praktisch gedacht
Während Humboldt in seinen kultur- und bildungstheoretischen Erörterungen oft ausgesprochen vage bleibt (etwa wenn der von einer »Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung« spricht, I 235/36), beziehen seine bildungspraktischen Schlussfolgerungen klar Stellung: gegen den Ständestaat, gegen utilitaristische Verkürzungen von Bildung, gegen Schule als Rekrutierungsanstalt von Untertanen. In seinen Schulplänen, Berichten und Anträgen bündelt er verstreute Überlegungen zu Aussagen, die konsequent aus seinen allgemeiner gehaltenen Reflexionen zur Stellung des Individuums in der Gesellschaft58 hervorgehen und mit denen er sich politisch exponiert. In Humboldts Formulierungen werden die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, die sich um ihn herum ereignen, zu Bildungsaufgaben. In Umrissen gewinnt eine Bildungstheorie an Konturen, in der Individualität in ihrem Verhältnis zu einem Allgemeinen gesetzt wird, das in seinen sozialen, individuellen und lebensweltlichen Dimensionen reflektiert wird und schließlich die Gestalt konkreter Angaben zur Organisation eines neuen Bildungssystems annimmt. Dieses Allgemeine wird insofern auf dreifache Weise zum Thema: Es richtet sich an »den Menschen überhaupt«, denn durch Bildung sollen »die Kräfte, d.h. der Mensch selbst gestärkt« werden (IV 188). Auf der sozialen Ebene sollen die Bildungsmöglichkeiten für alle gleich sein, ohne Bindung an bestimmte Berufe und deren unterschiedliche Erfordernisse. Ziel sind nicht nur »vollständige Menschen«, sondern auch »vollständige Bürger« (ebd.). Dies lasse sich nur erreichen, so Humboldt, wenn jeder mit vergleichbarem, allgemeinem Wissen in einem breiten Fächerspektrum ausgestattet
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Max Horkheimer (1985), Begriff der Bildung. In: Gesammelte Schriften, Bd. 8. Frankfurt a.M., S. 409-419, hier S. 415). »Gesellschaft« ist ein Begriff, der Humboldt in der heutigen Bedeutung noch nicht zur Verfügung steht, er spricht stattdessen von »Welt«, »Nation«, »Gemeinschaft«.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
ist; die unterschiedlichen Wissensformen sollen in verschiedene Arten, die Welt zu begreifen, einführen (IV 189). Dazu seien Kenntnisse in den »linguistischen, historischen und mathematischen« Fächern, daneben auch »gymnastischer« Unterricht und »ästhetische« Gegenstände (IV 170, 174, 189) nötig: sie seien in ihrer Breite Grundlage »einer allgemeinen Bildung des Gemüts«. (IV 189).59 Berufsspezifische Kenntnisse betreffen hingegen nur einen engen Ausschnitt von Sachverhalten, sie gewöhnen das Individuum daran, Unverstandenes gelten zu lassen und nur den eigenen Nutzen zu sehen. Tendenziell hat insofern in Humboldts Augen allein schon die allgemeine Schulpflicht Konsequenzen für die Stellung des Individuums zum Allgemeinen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Schule, die »allgemeine Menschenbildung« vermitteln will, muss sich zum Ziel setzen, die Vielfalt der Fähigkeiten, Neigungen und persönlichen Lagen der Lernenden anzusprechen. Voraussetzung dafür ist, dass jede und jeder die Möglichkeit erhält, ein Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten zu entwickeln; auf Ganzheitlichkeit angelegte Bildungsprozesse sollen ermöglichen, sich auf vielerlei Weise kennenzulernen und eine Wahl zu treffen. Dies wird als Grundlage dafür gedacht, dass jedes einzelne Individuum in die Lage versetzt wird, seine Fähigkeiten auf eine für die Allgemeinheit produktive Weise zu nutzen. Dazu seien aber Kenntnisse in den »linguistischen, historischen und mathematischen« Fächern, daneben auch »gymnastischer« Unterricht und »ästhetische« Gegenstände die Voraussetzung (IV 170, 174): Sie seien in ihrer Breite Grundlage »einer allgemeinen Bildung des Gemüts« (IV 189). Denn um sich seiner eigenen Individualität, so »verborgen, unerklärlich und unbegreiflich« sie auch ist (II 27), bewusst zu werden und sie auf produktive Weise in die Gemeinschaft mit anderen einbringen zu können, wird es wichtig, Erfahrung mit unterschiedlicher Wissensund Artikulationsformen zu sammeln. Dabei betont Humboldt immer wieder, dass es nicht um bloßen Kenntniserwerb gehe, vielmehr soll die Denk- und Einbildungskraft gleichermaßen angesprochen werden. Eigentliches Ziel ist eine Art höherstufigen Wissens, das über bloße Nutzenorientierung hinausgeht, in Humboldts Worten die »Erhebung zu einer allgemeingültigen Anschauung«, für die die mathematische und ästhetische Wahrnehmungsweise das Muster abgibt (vgl. IV 188). Insbesondere wendet sich dieses Bildungsverständnis gegen ein Lernen, das auf der Übernahme fertiger, aber »unverstandene[r] Resultate« (ebd.) beruht. Dies sei ein Erwerb bloßer »Fertigkeiten«, die bestenfalls für die Ausübung einer von ihm abgespaltenen Tätigkeit, nicht aber für den Menschen selbst von Belang sind. Es gehe um »den Menschen überhaupt« (ebd.), um seine Einsichtsfähigkeit in allgemeine, das konkrete Eigeninteresse übersteigende Zusammenhänge. Dazu müssen die Einzelnen in die Lage versetzt werden, an der Ermöglichung solcher von allgemeinen Prinzipien bestimmten Lebenszusammenhänge mitzuwirken. Sie können ihre individuellen Ansprüche nur verwirklichen, wenn sie
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Mit der berühmten Formulierung, dass »Griechisch gelernt zu haben […] dem Tischler ebenso wenig unnütz« sei »als Tische zu machen dem Gelehrten« (IV 189), verdeckt Humboldt allerdings das Problem der asymmetrischen Positionen. »Formal ist Bildung allgemein, inhaltlich elitär«, fasst R. Koselleck dies prägnant zusammen. (Reinhart Koselleck (1990), Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung. In: Ders. (Hg.), Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart, S. 11-46, hier S. 29).
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Transformationen des Bildungsbegriffs
gelernt haben, in Kategorien eines Allgemeinen zu denken, das die Ansprüche des einzelnen Menschen anerkennt und umfasst. Insofern sieht er keinen Widerspruch zwischen Individualismus und Universalismus, sondern die Fähigkeit, in Kategorien des Allgemeinen zu denken, als Voraussetzung dafür an, sich in seiner Individualität zu begreifen.60 Ein erster Schritt in diese Richtung ist, dass man sich »mit dem Lernen selbst, dann mit dem Lernen des Lernens beschäftigt« (IV 170). Ist dieser Schritt getan, werden die Schüler in der Lage sein, »nun für sich selbst zu lernen«. (Ebd.) Ein solches Lernen ist nur möglich, wenn es auf eigener Einsicht anstatt der Übernahme vorhandenen Wissens beruht, auf dem eigenen Begreifen anstatt dem Befolgen von Regeln. Diese Einsichtsfähigkeit soll aber – so Humboldts feste Überzeugung – als Verständnis von Basiskonzepten und grundlegenden Strukturen des theoretischen Wissens entwickelt werden. Zwar spricht Humboldt in den Schulschriften noch von »der Möglichkeit der allgemeinen Bildung des Gemüts« (IV 189), aber deutlich wird eine zunehmende Wissenschaftsorientierung in Form einer propädeutischen Hinführung zu theoretischem (Humboldt: »reinem«) Denken. Es kommt ihm dabei kaum auf inhaltliches Wissen an, sondern auf eine allgemeine Übung im Auffassen des »Formellen« (IV 194): auf ein Verständnis der Ordnungen konzeptionellen Denkens oder der Strukturen komplexer Sachverhalte, der Bedeutung von logischen Schlüssen, Unterscheidungen und Zusammenhängen. Auf diese Weise soll eine weitgehend inhaltsneutrale allgemeine Fähigkeit zur Bearbeitung neuer Themen, Fragestellungen und Problembeschreibungen entwickelt werden, fast könnte man sagen: eine Metainstanz des Umgangs mit einer neuen Vervielfältigung der »Sprachspiele«, wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft um 1800 abzeichnet.61 Und dazu gibt es vielfältigen Anlass durch den immensen Schub an neuen Technologien, die im Zuge der Industrialisierung zu universitären Forschungsfeldern werden und die Entwicklungen in der Physik, Chemie, Bergbau, Landwirtschaft, damit aber auch das Wissenschaftsverständnis verändern62 . Von diesen Umbrüchen ist Wilhelm von Humboldt durch die Aktivitäten seines Bruders Alexander an der Berliner Akademie der Wissenschaften bestens unterrichtet und er weiß, dass nur der Zugang zu generalisiertem Wissen solche Veränderungen bewältigbar macht.
60 61
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Vgl. Heinz-Elmar Tenorth (1994), »Alle alles zu lehren« – Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung. Darmstadt, S. 44, 46. Dies stützt die These von H.-E. Tenorth, Humboldts Intentionen hätten sich auf »die staatsfunktional notwendige Konstruktion von Eliten« zusammen mit der »Sicherung einer allgemeinen Grundbildung« gerichtet. (Heinz-Elmar Tenorth (2020), Die Rede von Bildung, Berlin, S. 91) Nach allen Begründungen, die Humboldt für sein Konzept allgemeiner Bildung anführt, scheint ihm diese Intention zumindest nicht bewusst gewesen zu sein. Darüber, welche Sicherungen eingebaut werden müssen, um dieses Allgemeinwerden tatsächlich zu gewährleisten, ist zu seiner Zeit noch wenig Wissen vorhanden, zumal bei einem Kulturwissenschaftler wir Humboldt. Seine Vorstellung vom Griechisch lernenden Tischler und vom Tische machenden Gelehrten ist reines Wunschdenken. Vgl. Ursula Klein (2015), Humboldts Preußen. Wissenschaft und Technik im Aufbruch. Darmstadt. Vgl. insbesondere Teil V, Reformstrategien. Der Name Humboldt steht hier für Wilhelms Bruder Alexander.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
Aber noch in einem dritten Sinn wird das Allgemeine für die Bildungsprozesse des Individuums konstitutiv. Häufig weist Humboldt auf den Beitrag der Individuen zum gesellschaftlichen Allgemeinen durch das Einbringen ihrer eigenen Fähigkeiten und die Darstellung ihrer individuellen Perspektiven hin; auch in diesem Sinne, nämlich als Erweiterung der eigenen Möglichkeiten, ist dies Teil ihrer Bildungsprozesse. Zugleich kommt damit die Interaktion mit anderen Menschen in den Blick und ihr Medium, die Sprache.63 Das Individuum, das Humboldt entwirft, ist angewiesen auf seine Beziehungen zu anderen Menschen, auf Gespräche, Lektüren, kulturelle Zeugnisse, das Vorbild fremden Lebens. Der Dialog und damit die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache, aber auch die Angewiesenheit auf sie bei der Suche nach Austausch und einer Erweiterung von Erfahrungsmöglichkeiten formen den Einzelnen. Eigenes Denken ist nur möglich im Medium der vorgefundenen Sprache, aber »[d]er Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft.« (III 201) Ebenso wird die Wahrnehmung der eigenen Individualität von Humboldt von Anfang an als intersubjektiv vermittelt gedacht: Durch das Anderssein der Anderen bildet sich ein Bewusstsein der eigenen Eigenart heraus. Diese Angewiesenheit auf den Dialog findet sich ebenso ausgeprägt im Bezug des Individuums auf den allgemeinen kulturellen Zusammenhang, in dem es sich vorfindet und der die Überlieferungen der Literatur, der Kunst und der Geschichtsschreibung umfasst. Aber wodurch wird Interaktion zum Bildungsprozess? Welche Bedingungen müssen dafür erfüllt sein? Die Begriffe Bildung, Entfaltung, Entwicklung werden von Humboldt nicht deutlich unterschieden; das Individuum erfährt eine Erweiterung der eigenen Möglichkeiten, es gewinnt Erfahrungen und Wissen, entdeckt sich in seiner individuellen und gleichzeitig auf ein Allgemeines bezogenen Besonderheit, und um diese Individualität zu entfalten muss es Möglichkeiten haben, frei zu wählen angesichts der Vielfalt möglicher Kontakte und Situationen. Vielleicht liegt in dieser Wahlfreiheit und damit der Möglichkeit, sich als Individuum zu erfahren, für Humboldt der eigentliche Bildungsprozess. Für ihn gibt es dabei keinen Konflikt zwischen dem eigenen Ich und dem Anderen seiner selbst, denn das Individuum formt das ihm Fremde um. Jeder »muss […] den Reichtum des anderen sich [zu] eigen machen« (I 64/65) und alles trägt bei zur »Ausbildung aller Fähigkeiten« (IV 261). Ganzheitlichkeit und nicht lediglich »Verstandesbildung« ist das Ziel. Sie entsteht als Syntheseleistung des Individuums, das diese Erfahrungen in all ihrer Vielfalt in sich zur Übereinstimmung und Einheit bringt – so Humboldts der Klassik verpflichtete Auffassung. Durch die Freiheit zu wählen entsteht ein Bewusstsein der eigenen Individualität; dieses Bewusstsein aber ist auf die Selbstreflexion des Ich in seiner Stellung zur »Welt« angewiesen. Diese Versicherung der eigenen Individualität ist nur möglich im Medium eines weiteren Allgemeinen: der Sprache. Sie ist Voraussetzung intimster Reflexionsleistungen, und gleichzeitig gehört sie dem Individuum weniger zu, als es denkt: »Die Sprache […] gehört immer der ganzen Nation an; auch in dieser empfangen die späteren Generationen dieselbe von früher dagewesenen Geschlechtern.« (III 18) Auch die 63
Theoriegeschichtlich verlässt Humboldt mit diesem Schritt hin zu Dialog und Interaktion die Stufe, in der ein isoliertes Selbst alles aus dem eigenen Vermögen schöpft. Seine gesamte Sprachphilosophie dokumentiert diese Wende.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
»Verschiedenheit der Weltansichten« (III 20) nimmt die Gestalt von grammatischen Formationen an, die vor allen individuellen Ausprägungen bereits existieren und den Blick auf die Welt bestimmen, und der Sprechende vergisst, dass dieses Ensemble der ihm selbstverständlich gewordenen grammatischen und lexikalischen Elemente »ihn doch, ihm selbst unbewusst, beschränkt und beherrscht.« (III 153) Sein Denken ist nur möglich im Medium der Sprache, und sie »modifiziert es nach ihren Gesetzen.« (III 400) Humboldt nimmt dies nicht als eine Depotenzierung des Anspruchs der Individuen auf Singularität wahr. So wenig es bei ihm zwischen dem Ich und dem Anderen Interessengegensätze gibt, sondern sie von ihm stets nur als eine Bereicherung für einander gedacht werden, so wenig ist auch das Verhältnis des Individuums zu diesem Allgemeinen der Sprache von einem Gefühl der Beschränkung begleitet. Eher sieht sich das Individuum eingebettet in übergreifende Zusammenhänge, die es in gewisser Weise entlasten, da es sich versichert fühlt, »dass das Menschengeschlecht, trotz aller Trennung, aller Verschiedenheit, dennoch in seinem Urwesen und seiner letzten Bestimmung unzertrennlich und eins ist.« (III 160) Die Bearbeitung von Konflikten hat in Humboldts Denken keinen systematischen Stellenwert. Dies ist wohl weniger einer Naivität geschuldet als vielmehr Humboldts Entscheidung, einer dualistischen Sichtweise keinen Platz einzuräumen, wie sie etwa die Gegenüberstellung von Eigenem und Fremdem oder die christliche Polarisierung von Geist und Körper kennzeichnet. Statt Gegensätzen sieht Humboldt immer ein Ergänzungsverhältnis. Dieser Wille zur Einheit, Ganzheit, Harmonie ist, wie bereits erwähnt, dem zeitgenössischen Verständnis der Antike geschuldet und lässt ein Denken in Kategorien von Konflikt und Zwiespalt nicht zu.64 Aber nun, angesichts der Aufgabe, das Individuum in seinen vielfältigen Bezügen zu seiner Umwelt zu begreifen, gerät diese Sichtweise an eine Grenze. Humboldts Denken in Kategorien unhintergehbarer Verschiedenheit der Individuen und der »Richtungen, die sie dem Geiste geben« (I 238), errichtet er mit der Sprache eine Instanz des Allgemeinen, in dessen vorgegebener Ordnung sich das Individuum aufgehoben weiß und die es auf unvordenkliche Weise bestimmt. Gleichzeitig schälen sich in den einzelnen Studien Humboldts bereits die Fragestellungen nachmetaphysischen Denkens heraus, die sich auf das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Umwelt beziehen: welche Bedeutung ein Denken des Partikularen in Gestalt des Individuums zukommt, welche Rolle Andere für die Genese des eigenen Selbst spielen, wie Welt- und Selbstverhältnis ineinandergreifen. All dies bleibt bei Humboldt eingebunden in die Vorstellung einer ewigen Ordnung, deren Exponent der Einzelne ist. Teilweise stehen übergangslos beide Perspektiven nebeneinander. Was dem Leser dabei als Widerspruch oder Inkonsequenz erscheint – nämlich wie Humboldt Prozesse der »Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit«, in denen sich Individualität entwickelt, mit deren Rückbindung an ewige Urbilder amalgamiert – bereitet ihm keine Probleme. Denn das Individuum ist für ihn Teil eines transzendenten Ganzen, seine Entwicklung
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Zu Humboldts verklärendem Blick auf die Antike als Inbegriff »vollendeter Reinheit, Totalität und Harmonie« vgl. III 406/07.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
ist aufgehoben in einer umfassenden Einheit und zugleich ihre Vervollkommnung.65 Verschiedenheit kann von ihm nur auf Einheit hin gedacht werden, in der sie an ihr Ziel gelangt. Humboldt macht den Schritt, Veränderung als offene, Verschiedenheit produzierende Entwicklungsbewegung zu denken, aber dann versucht er diese Bewegung anzuhalten, indem er ihr ein Ziel gibt, umschrieben mit Harmonie, Ganzheit, Vollkommenheit. In der erreichten »Proportionierlichkeit« soll die Bewegung zur Ruhe kommen. Humboldt – und mit ihm die Weimarer Klassik – glaubt noch die Kontingenz der Welt loswerden zu können, und dies soll über die Leistungen des Individuums geschehen, das in seinem Bildungsprozess den Zufall in seinem Leben aufhebt. Solange dieses Einheitsdenken nicht in Frage gestellt wird, tritt auch der Widerspruch nicht zu Tage und damit auch nicht eine Dimension von Bildungsprozessen, die in seinem Denken so gut wie ausgeklammert bleibt: die Dimension von Interessengegensätzen, von Konflikt und Konfliktbewältigung in den Interaktionen mit denen, auf die sie in ihren Bildungserfahrungen stoßen. Ein untilgbarer Gegensatz zu anderen und die Selbstentzweiung in der Reflexion – dies ist vielleicht für ihn undenkbar oder wird zumindest in seinem systematischen Stellenwert von ihm nicht erkannt. Dies wird erst von Hegel thematisiert werden.
5.10
Anknüpfungspunkte
Es gibt Denker, die zu früh eine Perspektive formulieren, für die ihre Zeit noch nicht aufnahmebereit ist, und es gibt solche, die zu spät kommen; die Entwicklungen sind bereits hinweggegangen über ihr Denken. Für Humboldt gilt beides; er ist seiner Zeit voraus sowohl in seinen Einsichten in die Bedeutung des Individuellen und Partikularen als auch die Rolle des Gesprächs und Formen der Responsivität. Gleichzeitig bietet er Denkmodelle zur Interpretation seiner Aussagen an, die schon zu seiner Zeit in Zuge der Aufklärung ihre Erklärungskraft verloren haben; Kant setzt hier den Standard, wenn er formuliert, »dass der Mensch alles, was über die mechanische Ausbildung seines Daseins geht, gänzlich aus sich herausbringe«66 . Was er ist, habe »er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft«67 . Humboldt stellt dem die Sichtweise der Antike entgegen, dass in diesem Beitrag eine das Individuum prägende transzendente Idee zum Ausdruck kommt, die in seiner Individualität »plötzlich und auf einmal« (I 572) zur Erscheinung gelangt. Sein Bildungsprozess ist die Entfaltung dieser in ihm angelegten Idee.
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66 67
Gerade der steile Idealismus Humboldts machte seine humanistische Vorstellungswelt für ein Bürgertum attraktiv, das für seine ungeklärten metaphysischen Bedürfnisse eine Heimat suchte. Dieser Suche errichtet Musil im »Mann ohne Eigenschaften« ein Denkmal, indem er eine Gesellschaft porträtiert, die vom »Streben nach dem Ideal« redet, ohne sich darunter etwas Bestimmtes vorzustellen, »ein großes Menschheitssymbol« aufrichten möchte, tatsächlich dabei aber alle Spielarten präfaschistischen Denkens und Fühlens durchdekliniert (vgl. Robert Musil (1978), Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek, S. 331, 206). I. Kant (1975), Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a.a.O., S. 36. Ebd.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Was anfangen mit dieser »humanistischen Illusion«68 , die den Einzelnen als Teil eines harmonischen und überzeitlichen Ganzen versteht, eine Position, die auszufüllen er über seinen Bildungsprozess in Stand gesetzt werden soll? Es ist deutlich geworden, wie heterogen und häufig auch in sich widersprüchlich Humboldts Denkvoraussetzungen sind – aber lassen sie sich einfach beiseitelassen, einzelne Theorieelemente herausschälen und nur sie zum Ausgangspunkt einer »zeitgemäßen Reformulierung des klassischen Bildungsbegriffs« machen?69 Oder ist dieses Konzept von Bildung, das an die Denkvoraussetzungen des Idealismus gebunden ist, damit auf Hintergrundannahmen verpflichtet, die diese Bildungstheorie selbst problematisch werden lassen? Eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem Denken Humboldts könnte darin bestehen, es historisch einzuordnen, zu zeigen, wo es an Vorstellungskomplexe seiner Zeit anschließt, vielleicht über sie hinausgeht, hinter sie zurückfällt oder aber auf Quellen zurückgreift, die weit zurückreichen und die es erneut fruchtbar zu machen sucht. Dabei ergab die Analyse, dass die bildungstheoretischen Konzeptionen, die Humboldt so nachdrücklich und differenziert entwickelt, sich ablösen von seinem übergreifenden, dem Idealismus verpflichteten Weltbild70 und dazu in Widerspruch geraten. »Der Idealismus Humboldts steht seinen tieferen Einsichten im Weg«, fasst Liebrucks dies zusammen.71 Diese historische Einordnung ist im Vorangegangenen nur in Ansätzen geschehen, der eigentliche Fokus lag auf der Aufgabe, diejenigen Aspekte herauszuarbeiten, die in der Folge für eine Konkretisierung des Bildungsbegriffs eine Rolle gespielt haben und weiterhin spielen. Humboldts bedeutendste Leistung besteht neben seinen sprachtheoretischen Studien in seiner Konzentration auf die Bedeutung des Individuums, die in einer auf diese Instanz bezogenen Bildungstheorie ihre Entsprechung findet. Wollte man sich an Humboldts Begründungen dafür halten, so würden die präformierenden Ideen zur richtungsgebenden Macht und das Individuum in seiner Vernunftentwicklung zum bloßen Vollstrecker dieses Logos. Der aber kann nicht gleichgesetzt werden mit der innerweltlichen Vernunft. »Was als Idee gelten kann, muss sich nicht vor ihr ausweisen, sondern ist gegeben als ewiger und unveränderlicher Sachverhalt«, fasst A. Schäfer dieses Dilemma zusammen.72 Der Rückgriff auf platonisierende Denkfiguren muss insofern als »Rückfall hinter eine selbstreflexive Aufklärung«73 gelesen wer68
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Vgl. Alfred Schäfer (1996), Das Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion. Weinheim. Schäfer erblickt in der Erwartung, die »Differenz von individueller Freiheit und subjektiver Rationalität« (ebd., S. 277) ließe sich aufheben, das Hauptmerkmal dieser Illusion. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob Humboldt sich dem Ideal »radikal-individueller Freiheit« (ebd., S. 279) verschreiben würde – zu sehr ist dazu sein Individuum dialogisch eingebunden und zu konsequent denkt er aus der Perspektive des Individuums, nicht des Subjekts. Hans-Christoph Koller (2009), Der klassische Bildungsbegriff und seine Bedeutung für die Bildungsforschung. In: Lothar Wigger (Hg.), Wie ist Bildung möglich? Bad Heilbrunn, S. 44. Dies gilt etwa bezogen auf seinen Glauben an eine »versteckte, von höheren Absichten geleitete« überweltliche Ordnung (I 384). Sie steht in Widerspruch zur Vorstellung eines Individuums, das sich in einem offenen Entwicklungsprozess befindet; die Unterstellung einer geistigen Einheit aller Menschen steht quer zu seinem Anliegen, eine Pluralität der Selbstentwürfe zu begründen. B. Liebrucks, a.a.O., S. 186. A. Schäfer (1996), a.a.O., S. 72/3. Ebd., S. 104/5.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
den. Humboldt vollzieht diesen Rückgriff, um das Individuum mit der Würde transzendenter Bezüge auszustatten, die dessen Partikularität eine überzeitliche Bedeutung verleihen: In seiner Partikularität wirkt es mit an der Vervollständigung der Idee der »Menschheit«, der es in seiner Person eine weitere individuelle Facette zufügt. Über eine solche Bestimmung des theoriegeschichtlichen Stellenwerts hinaus liegt es im Umgang mit diesen historischen Texten aber auch nahe, die Fragen herauszuarbeiten, die sich anknüpfend an Humboldts Entwürfe weiterhin stellen und aufs Neue der Bearbeitung bedürfen. Dies ist vor allem die Frage, welche Aufgaben sich aus Humboldts Theorien ableiten – und zwar auch dann, wenn seine Prämissen nicht mehr gelten. In den Anknüpfungen an Humboldts bildungstheoretische Entwürfe geht es in der Regel darum, jene Elemente herauszuarbeiten, die seither für die Geschichte von Bildung, sei es ihrer Theorie oder ihrer Praxis, folgenreich geworden sind. Beispiele dafür wären etwa Humboldts Überlegungen zum schulischen Curriculum oder Formulierungen, die das Selbstverständnis universitärer Lehre als Forschungsgemeinschaft von Lehrenden und Lernenden betreffen. Ein anderer Anknüpfungspunkt kann darin bestehen, gerade diejenigen Aspekte aufzugreifen, die weniger diskutiert wurden, aber geeignet sein könnten gegenwärtige Fragestellungen genauer zu formulieren bzw. die an den Rand gedrängten Themen eine Sprache geben. Dieser letztere Zugang soll abschließend kurz skizziert werden, und zwar im Hinblick auf Humboldts Theorie des Individuums. Dabei geht es um Aspekte, die auch in den folgenden Kapiteln wiederholt eine Rolle spielen werden. Es ist sinnvoll sich dazu noch einmal zu vergegenwärtigen, dass die Betonung individueller Eigenschaften voraussetzt, dass Einzelnes nicht als bloßes Exemplar eines Allgemeinen fungiert. Würde es diesem Allgemeinen als Teil von dessen Hierarchiestufen und oder als Element seiner Klassifizierungen zugeordnet, so wäre es entweder Anschauungsmaterial für etwas Übergeordnetes oder Funktionsträger zum Erhalt seiner Ordnungsmuster. Um die Frage, wie es in seiner Singularität, in seinen nicht auf anderes zurückführbaren Eigenschaften anerkannt werden kann, hatte die Philosophie lange einen Bogen gemacht. Individuelles hatte für die Philosophie kaum eine Rolle gespielt, da sie sich nur für das interessierte, was verallgemeinerungsfähig ist, aber auch weil sie methodologisch an Phänomenen scheitern musste, die sich über allgemeine Kategorien nicht erschließen lassen.74 Humboldt durchbricht diesen Bann, indem er es sich gar nicht erst zum Ziel setzt, über das Individuelle in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen zu sprechen, sondern sich auf die Genese des Bewusstseins eigener Individualität konzentriert: auf die förderlichen Bedingungen für seine Entfaltung und darauf, wie das Individuum versucht, »vor sich selbst verständlich« zu werden,
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Eine Ausnahme macht Leibniz in seiner »Ansicht von der absoluten Individualität alles Seienden« (C. Menze 1965, Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen, Ratingen, S. 62) Menze geht davon aus, dass Humboldt sein theoretisches Rüstzeug in besonderem Maße »der traditionellen Metaphysik Leibniz-Wolffischer Prägung« verdankt (ebd., S. 99) und von ihm eine Auffassung als Monade übernimmt, »die ihm völlig unproblematisch erscheint« (ebd.). Zweifellos hat Leibniz den Boden dafür bereitet, in Kategorien des Individuellen zu denken, aber Humboldt entfernt sich insofern von diesem Denken, als sein Individuum kein vollkommener Spiegel des Ganzen ist, sondern nur einen unvollständigen Teil repräsentiert.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
kurz: auf seine Bildung. Diese neue Aufmerksamkeit für den Status des Einzelnen findet ihren deutlichsten Ausdruck im kategorischen Imperativ Kants, demzufolge jeder Mensch »sein eigener letzter Zweck« ist75 und insofern »niemals bloß als Mittel« zur Erreichung der Zwecke anderer behandelt werden darf.76 Gleichzeitig gewinnt dies politisch Gestalt in der Formulierung allgemeiner Menschenrechte in der amerikanischen und französischen Revolution. Bei Humboldt kommt es nun aber zu einer Verschiebung von einem allgemein gedachten Subjekt als Träger dieser Rechte hin zur einzelnen Person, deren Individualität »immer verborgen, unerklärlich und unbegreiflich bleibt. (II 27) Etwas, das sich entzieht, soll dennoch Grundlage gesellschaftlichen Handelns sein; Bildungsprozesse sollen dieser Individualität zur Entfaltung dienen, anstatt sie dieser gesellschaftlichen Ebene anzugleichen. Diese Verschiebung hin zur Anerkennung der Ansprüche des Einzelnen zeichnet Hans Joas in »Die Sakralität der Person«77 anhand von Veränderungen des Strafrechts, der Humanisierung der Strafpraxis und der Kämpfe um die Aufhebung der Sklaverei nach. All diesen Ansprüchen auf die Anerkennung der Würde des Individuums liegt eine im 18. Jahrhundert neue Vorstellung von der Gleichwertigkeit aller Menschen zugrunde und daraus folgt die Notwendigkeit, allen gleiche Entfaltungsmöglichkeiten in Entsprechung zu ihren – auch potentiellen – Fähigkeiten einzuräumen. Dass H. Joas hier von Sakralität der Person spricht, trägt der Tatsache Rechnung, dass dieser Aufklärungsdiskurs in all seiner Säkularität Gegenstück zu Vorstellungen ist, die in anderen Gesellschaften einen absoluten religiösen Wert zum Ausdruck bringen. Wie religiöse Überzeugungen bedürfen sie keiner weiteren Begründung und sind nicht auf anderes rückführbar. Etwas, das einem »heilig« ist, bedarf keiner Beweisführung und wird intensiv als bedeutungsvoll erlebt. Bezogen auf die Menschenrechte führt dies zu der »Annahme eines heiligen, nicht durch eigene Leistungen erworbenen, aber auch nicht verlierbaren und zerstörbaren Kerns jedes menschlichen Wesens«78 , und zwar jeden konkreten Individuums. Diese im 18. Jahrhundert Gestalt gewinnenden Überzeugungen bilden den Hintergrund für Humboldts Betonung der absoluten Würde individueller Verschiedenheit und der Konsequenzen, die er daraus in den schulpraktischen Entwürfen zieht: Er 75 76 77
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I. Kant (1975), Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Werke in zehn Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 10. Darmstadt, S. 399-690, hier S. 399. I. Kant (1975), Grundlegung der Metaphysik der Sitten, a.a.O., Bd., S. 64. Hans Joas (2015), Die Sakralität der Person. Eine Genealogie der Menschenrechte. Berlin. Joas betont, dass er deshalb nicht von der Sakralität des Individuums spricht, weil dies möglicherweise verwechselt werden könnte mit einer »Selbstsakralisierung des Individuums«. Um diesem Missverständnis vorzubeugen, zieht er den Begriff der Person vor. »Ich selbst spreche von der Sakralität der Person und nicht des Individuums, um ganz sicherzugehen, daß der damit umschriebene Glaube an die irreduzible Würde jedes Menschen nicht sofort verwechselt wird mit einer gewissenlos egozentrischen Selbstcharakterisierung des Individuums und damit einer narzistischen Unfähigkeit, sich aus der Selbstbezüglichkeit zu lösen.« (Ebd., S. 85/6) Ebd., S. 224. G. Jellinek schreibt in seiner Grundlagenschrift aus dem Jahre 1895 »Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte«: »Die Idee, unveräußerliche, angeborene, geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs« (G. Jellinek, zit. H. Joas, ebd., S. 49). Dies, so Joas, begründe den Gedanken der Würde des Einzelnen.
5. Wilhelm von Humboldt: »Sich selbst verständlich werden«
konzipiert ein Schulsystem, das allen gleiche Entfaltungsmöglichkeiten einräumt und ihrer Individualität dadurch gerecht wird, dass alle auf ein identisches Angebot stoßen, das nicht nach Fähigkeitsniveaus differenziert ist. Diese auf den ersten Blick paradoxe Entscheidung sichert den Individuen zu, dass die Einzelnen nicht in leistungsgleiche Gruppen zusammengefasst werden und unter diesem Aspekt einer Schein-Homogenisierung unterliegen. Die Anerkennung des Partikularen und Singulären ist »Ausdruck einer tiefreichenden kulturellen Verschiebung«79 , die dem Individuum eine Bedeutung zuerkennt, die sich nicht aus den spezifischen Funktionen für die Gesellschaft ableitet und besondere Aufmerksamkeit auf die Sicherstellung seiner Individuation, verstanden als sein Bildungsprozess, richtet. Es ist Humboldt, der als erster die bildungstheoretischen Konsequenzen aus dieser Fragestellung in großer Breite entfaltet. In dieser kulturellen Verschiebung ist implizit eine zweite, vielleicht noch weiterreichende enthalten, eine Verschiebung der Perspektive vom Subjekt als Repräsentant einer ordnenden, klassifizierenden, über die Dinge verfügenden Vernunft hin zum Individuum, das sich auch über sein Verhältnis zu anderen Individualitäten in ihrer Vielfalt wahrzunehmen lernt. Der Subjektstatus ist allein schon sprachlogisch eng daran gebunden, allem übrigen Objektstatus zuzuweisen. Dagegen kann sich das Individuum in seiner »Eigentümlichkeit« nur wahrnehmen, wenn es sich über seine Differenz und Übereinstimmung mit anderen Individuen begreift: Die Anderen sind konstitutiv für seine Selbstwahrnehmung, aber sie sind nicht sein Objekt.80 Deshalb kommt Humboldt immer wieder auf den Zusammenhang von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit zurück. Selbsttätigkeit heißt als Individuum der Ausgangspunkt von Handlungen und Selbstdarstellung sein, Empfänglichkeit bedeutet die Wahrnehmung, wie sich der eigene Raum durch die Handlungen und Selbstdarstellungen der anderen Individuen verändert, eine Reziprozität, die sich im Gespräch ausdrücken kann, aber auch als Wahrnehmung der sich verändernden Atmosphäre im Zwischenraum zwischen den Beteiligten, abhängig von den Individualitäten, die aufeinandertreffen.81 Bildungstheorien, die sich am Subjektbegriff orientieren, folgen insofern einer anderen Logik als Bildungstheorien, die sich auf das Individuum beziehen. Was dies heißt, kann an der subjektphilosophisch argumentierenden Bildungstheorie Hegels und an den auf die Bedeutung von Responsivität und Reziprozität konzentrierten bildungstheoretischen Elementen in den Schriften von Novalis verdeutlicht werden.
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81
H. Joas, ebd., S. 81. Tatsächlich stellt sich Individuation und Bezug auf andere Individuen oft eher als Konkurrenz und nicht als wechselseitiges Sich-aneinander-Begreifen dar – das Eindringen des Leistungsprinzips in Beziehungsstrukturen ist dabei offensichtlich. Dies löscht aber nicht aus, dass die Möglichkeit, der eigenen Individualität durch Wahrnehmung von Anderen inne zu werden und die ersten Erfahrungen mit der eigenen Unterschiedenheit noch nicht konkurrenzbetont sind. Humboldt beschreibt auch Sprachen als Individualitäten und die verschiedenen Konstellationen, die durch das Zusammenwirken klanglicher, grammatischer und lexikalischer Elemente entstehen, als dichte, auf den Hörer zurückwirkende Atmosphären.
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6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
6.1
»Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung«
Wenn sich das Bildungsverständnis des späten achtzehnten Jahrhunderts darin zusammenfassen lässt, es gehe darum, »seine natürlichen Anlagen und Vermögen auszubilden«1 , so vertritt Hegel die exakte Gegenposition, wenn er sagt, Bildung sei »harte Arbeit« daran, »das Natürliche ab[zu]schütteln« (7.3452 ): »Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung«.3 Auch Wilhelm v. Humboldts Bildungsbegriff lässt sich in gewisser Weise der ersteren Position zuordnen, wenngleich die Individualität der »Anlagen und Vermögen« bei ihm nicht umstandslos in Natur aufgeht. Beide Autoren, Humboldt und Hegel, teilen in gewisser Hinsicht ähnliche metaphysische Prämissen, und wenn Hegel formuliert, dass der menschliche Geist »Abbild der ewigen Idee« ist (10.9), so könnte dieser Satz auch von Humboldt stammen. Aber während diese Prämissen bei Humboldt ein eher unbestimmter Hintergrund bleiben, macht es sich Hegel zur Aufgabe, »die bestimmte Weise« anzugeben, wie sich in Dingen und Menschen »die ihr gemeinsames Prinzip bildende Idee […] darstellt.« (10.22) Aufs Schärfste richtet er sich
1
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So fasst Hans-Georg Gadamer die ersten Bedeutungszuweisungen im 18. Jahrhundert und insbesondere im Anschluss an Herder zusammen, vgl. H.-G. Gadamer (1960), Wahrheit und Methode, Tübingen, S. 8. Seitenangaben im Text beziehen sich auf: Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1986), Werke in zwanzig Bänden, Red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. Die erste Zahl bezeichnet den Band, die zweite die Seite. Für die Darstellung der bildungstheoretisch einschlägigen Theorie-Elemente im Hegelschen Werk bin ich in hohem Maße den Hinweisen in JürgenEckardt Pleines (1983), Hegels Theorie der Bildung I, Materialien zu ihrer Interpretation, Hildesheim u.a., verpflichtet. Die Orthographie der Hegel-Zitate wird von mir der gegenwärtig gültigen Rechtschreibung angepasst, da die Rechtschreibung der zwanzigbändigen Werkausgabe des Suhrkamp-Verlages ihrerseits eine Anpassung an die zur Zeit ihrer Drucklegung gültigen Rechtschreibregeln ist und nicht die Orthographie repräsentiert, die Hegel benutzte. So kann ein Wechsel von Rechtschreibregeln innerhalb eines Satzes, sofern er ein Zitat enthält, vermieden werden. G.W.F. Hegel (1955), Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. I: Die Vernunft in der Geschichte, hg. von J. Hoffmeister, Hamburg, S. 58. Die von Hoffmeister herausgegebene Werkausgabe wird im Folgenden in den Anmerkungen als Hegel (1955) zitiert.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
dabei gegen Vorstellungen von Harmonie und Vollkommenheit, wie sie Humboldt vertritt, unbestimmte Schlagwörter, wie er sagt, »eine sich in nichtssagenden Redensarten breitmachende leere Vorstellung« (10.13). Ihr stellt er »die strenge Form des sich selbst mit Notwendigkeit entwickelnden Inhalts als die allein wissenschaftliche Methode« gegenüber (10.14). Die Kategorien, die in der »Phänomenologie des Geistes« eine Rolle spielen, sprechen eine gänzlich andere Sprache, als was bisher vom Idealismus zu hören war: Vom Negativen als Motor der Geschichte, dem »unglücklichen Bewusstsein« als notwendigem Durchgangsstadium ist die Rede, der »verkehrten Welt«, von Entzweiung und Zerrissenheit des Selbst als Bedingung von Bildung, dem Sich-Anders-Werden. Dennoch begegnen einem viele Leitbegriffe der humboldtschen Bildungstheorie – wie im Folgenden deutlich werden wird – auch bei Hegel als tragende Elemente wieder, sie liegen als Themen in den Jahren um 1800 sozusagen in der Luft oder sind als Fragestellungen von der Aufklärung den nachfolgenden Generationen überschrieben worden. Neben den schon bei Humboldt beobachteten Bedeutungsschwankungen des um 1800 noch nicht definitorisch festgelegten Begriffs – Bildung kann Produkt oder Prozess sein, sie kann ebenso gut etwas sein, das sich in einem längeren Prozess absichtslos herausgebildet hat, wie das Resultat einer entschiedenen individuellen Anstrengung – lassen sich bei Hegel drei deutlich gegeneinander abgesetzte Verwendungen des Bildungsbegriffs unterscheiden: Zum einen kann die Suche nach Bildungserfahrungen als eine anthropologische Grundtatsache angesehen werden – »Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung« – genauer gesagt als Merkmal, das über sich hinaus auf eine eigenständige Realitätssphäre des »Geistes«4 verweist. Aber Geist manifestiert sich in der Geschichte und kann insgesamt als Bildungsprozess des Bewusstseins verstanden werden, so Hegel. Deutlich davon abgesetzt sieht er, dass sich mit der Neuzeit eine »Welt der Bildung« etabliert hat, die darauf antwortet, dass konventionelle Normen ihre orientierende Kraft verloren haben, aber eine autonome Moral noch nicht von den einzelnen ausgebildet worden ist. Überbrückt wird diese Kluft durch »Bildung« als eher scheiternder Versuch, verloren gegangene Sicherheiten zurück zu gewinnen. »Der sich entfremdete Geist« und »Die Bildung« (3.362) sind unter dieser Perspektive dasselbe. Und drittens macht Hegel vor allem als Gymnasialdirektor5 , aber auf dieser Erfahrungsbasis auch in anderen Zusammenhängen, genaue Angaben zur Funktion von Bildungsanstrengungen im Prozess des Heranwachsens und damit zu deren pädagogischer Seite. Diese strikte Trennung der Ebenen und insbesondere die Historisierung der zweiten Lesart von Bildung soll im Folgenden nicht übernommen werden. Hegels Argumen4
5
Wenn im Folgenden auf Hegels Begriff des Geistes rekurriert wird, so in der Regel ohne Spezifizierung, ob damit der absolute, objektive oder subjektive Geist gemeint ist. Grund für diese Vernachlässigung ist Hegels Vorstellung, dass der absolute, das Ganze der Welt als sein Verwirklichungsmedium brauchende Geist diese Realisierung über die beiden anderen Stufen herstellt. Allenfalls in der Version des subjektiven Geists ist dieser Begriff heute in der Regel denkbar. Im Rahmen des ideengeschichtlichen Zugangs dieser Arbeit kann es nicht um eine kritische Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie in ihren Prämissen gehen – diese Voraussetzungen können hier nur referiert werden. Geist heißt hier immer, soweit nicht anders spezifiziert: subjektiver Geist im Horizont des absoluten. Hegel leitete von 1808 bis 1816 das Humanistische Gymnasium in Nürnberg.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
tation speist sich aus theologischen, bewusstseinsphilosophischen, kulturgeschichtlichen und pädagogischen Überlegungen, die alle gleichermaßen Aspekte der Selbsthervorbringung des Geistes auf historischer Ebene zum Gegenstand haben. Zentrum seiner Untersuchungen ist die Darstellung, wie ein überindividuell gedachter Geist im Verlaufe der Geschichte »zum Bewusstsein seiner selbst komme«, d.h. »zum Wissen dessen gelange, was er wahrhaft ist, und dies Wissen […] zu einer vorhandenen Welt verwirkliche.«6 Die Bewusstseinsprozesse der Individuen sind Teil dieser unabgeschlossenen Entstehungsgeschichte der Welt. Dies alles ist bei Hegel von einem unerschütterlichen Vertrauen in das »Fortschreiten« der Gattung grundiert, das ihm ermöglicht, diese unterschiedlichen Aspekte als ein System zu denken, dessen Teile durchweg aufeinander verweisen; sie bilden sozusagen eine Art Allianz im Dienste des Fortschritts. Wenn aber diese Entscheidung nach dem Ende des Idealismus nicht mehr nachvollziehbar ist – worum kann es dann 200 Jahre später im Nachvollzug seiner Bildungstheorie gehen? Sicher nicht lediglich um die Kartierung fast vergessener philosophischer Bedeutungsinseln, die an den Rändern eines gut erforschten Ozeans der humanwissenschaftlichen Einzeldisziplinen liegen, Bedeutungsinseln, die vielleicht schon längst verlassen sind. Vielmehr geht diese Darstellung im Folgenden davon aus, dass viele dieser Bedeutungsfacetten auch weiterhin Diskurse über Bildung grundieren, Erwartungen motivieren, Forderungen artikulieren, dabei aber oft nicht in explizite Argumentation überführt werden, da die sie tragenden Denkvoraussetzungen erodiert sind. Ein neuerlicher Besuch dieser Bedeutungsinseln könnte ergeben, dass ihr Zentralmassiv längst implodiert ist, auf seinem fruchtbaren Boden sich jedoch eine reiche Vegetation erhält.
6.2
»Rückkehr aus dem Anderssein«
»Der Geist ist dies, dass er sich hervorbringt, sich zu dem macht, was er ist.«7 Dazu muss er unterschiedliche »Stufen der Bildung« durchlaufen8 , die Stufen der kulturellen Bewusstseinsentwicklung sind. Als Stufen sind sie jeweils Durchgangsstadien, vorläufige Ausprägungen. Zwei solcher Konkretisierungsformen beschreibt Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« und zwar im Kapitel über das Selbstbewusstsein (Kap. IV) und im Kapitel VI B, das »Der sich entfremdete Geist. Die Bildung« heißt.9 Das Bewusstsein hat bei Hegel einen weiten Weg zurückzulegen, bevor es sich Bildungsaufgaben im eigentlichen Sinne stellen kann – also der Aufgabe, unmittelbaren Regungen gegenüber Distanz zu gewinnen, ein Denken auszubilden, das sich auf übergreifende Ziele richtet und das in der Lage ist, das Gemeinsame »verschiedener für sich seiender Selbstbewusstsein[e]« zu erkennen und zu verwirklichen: »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.« (3.145) Anders als bei Wilhelm v. Humboldt, wo das Ich von Anfang
6 7 8 9
Hegel (1955), S. 74. Hegel (1955), ebd. Ebd. Hegel thematisiert sein Bildungsverständnis vor allem in den unterschiedlichen Varianten der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte und Passagen der »Phänomenologie des Geistes«, außerdem in den »Gymnasialreden«.
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an vom Interesse am Austausch mit anderen geleitet wird, ist der oder das »Andere« bei Hegel eine Instanz, die das eigene Bewusstsein mit Selbstverlust und Abhängigkeit bedroht. Diese Gefahr kann das Ich nur überwinden, indem es zu Selbstbewusstsein als »Gewissheit seiner selbst« (3.137) gelangt. Dazu muss es sich auf dieses Andere beziehen, sich über seine Differenz dazu begreifen, sich über die Auseinandersetzung damit bestimmen. Die Geschichte des Bewusstseins beginnt bei Hegel damit, dass es zunächst vollständig in der Wahrnehmung der Gegenstandswelt aufgeht und das Subjekt sich insofern gar nicht zum Thema wird.10 Es sucht die Wahrheit außerhalb von sich selbst und geht dabei davon aus, dass »das Wahre etwas anderes als es selbst« sei (3.137). Erst allmählich begreift es, dass es das »einfache selbständige Bestehen« der Dinge um sich herum nur vermittels der Leistungen seines eigenen Bewusstseins erfassen kann (3.138). Diesen Prozess, ein Bewusstsein von sich selbst zu entwickeln, bezeichnet Hegel als »Rückkehr aus dem Anderssein« (ebd.). Eine »neue Gestalt des Wissens, das Wissen von sich selbst«, ist entstanden (ebd). Das Drama der Bewusstseinsentwicklung, wie sie Hegel beschreibt, hat seinen Ausgangspunkt darin, dass dieses neue Selbstbewusstsein nicht einfach neben das bereits vorhandene Gegenstandsbewusstsein tritt. Es möchte sich zwar als einfache Einheit mit sich selbst begreifen und sich mit sich selbst beschäftigen, aber wenn es sich dabei wie ein Objekt behandelt, wenn »es nur sich selbst als sich selbst von sich unterscheidet« (ebd.), so ist dies eine zu schwache Basis. Es braucht zu seiner Selbstbeziehung die Instanz des Anderen; über diese Differenz gewinnt es erst seine Realität. Die Gefahr dabei ist, dass es so sehr mit sich selbst und seiner vermeintlichen Mittelpunktstellung beschäftigt ist, dass sein Bezug auf das Andere zu bloßer »Begierde« regrediert und nur noch Hunger und Bemächtigungstrieb ist. Das Andere ist dann nur noch »ein Lebendiges« (3.139), dessen Lebendigkeit es sich einverleiben will. Mit dieser Einführung der Kategorie der Begierde macht Hegel einen Schritt über die Perspektiven einer bloßen Subjekttheorie hinaus, denn damit wird anerkannt, dass dem Bewusstsein triebgesteuerte Schubkräfte zugrunde liegen, die seinen Autonomieanspruch zur Illusion werden lassen: Begierde bedeutet Abhängigkeit. Zunächst hatte sich das Ich ganz in seine Wahrnehmungen der Gegenstandswelt aufgelöst, nun sieht es vor allem den Unterschied zwischen dem Außen und sich selbst. Es begreift sich über diese Entgegensetzung und gewinnt daraus sein Selbstbewusstsein. Das Andere wird Objekt seiner Begierde, sowohl um sich dessen Substanz anzueignen als auch um sich in seinem absoluten Verfügungsanspruch zu bestätigen: Es
10
Günther Buck (1984) erläutert diese Bewusstseinsform als »die eigentümliche Leistung, … nicht primär sich selbst, das Subjekt der Beziehung, sondern das Andere als Anderes, den Gegenstand, präsent zu machen. Die Leistung des Bewusstseins ist es zunächst, sich in sein Gemeintes gleichsam zu verlieren und ihm so Eigengesetzlichkeit und Selbständigkeit zu sichern. […] [I]nsofern unterliegt alles Bewusstsein einem Zwang, in der Anerkennung eines Fremden, das es sich gegenüber setzt, sich zugleich an dieses Andere seiner selbst zu verlieren: Bewusstsein ist wesensmäßig Außer-sich-Sein; es ist, in der Anerkennung des Fremden als Fremden, Selbstvergessenheit und Selbstentfremdung.« (G. Buck (1984), Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie. Paderborn, S. 181/2).
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
»vernichtet den selbstständigen Gegenstand« (3.143) – genauer: Dies ist sein Ziel. Dabei macht es freilich die Erfahrung der Widerständigkeit dieser Gegenstände, die sich seinen Wünschen nicht ohne weiteres fügen. Darüber hinaus muss es gerade in dem Moment, wo es sich sein größtes Selbstbewusstsein glaubt verschaffen zu können, das des Beherrschers der Dinge, einsehen, dass es abhängig ist von seinen Objekten: In seiner Begierde, das Andere haben zu wollen und vernichten zu können, bleibt es auf es angewiesen. Eine »negative Beziehung« (ebd.) ist entstanden, denn nicht nur negiert das Ich die Selbstständigkeit des Anderen, das sich ihm widersetzt, sondern es projiziert überdies in dieses Andere, »an sich das Negative« zu sein (ebd.). Dieses Negative bedroht das Ich und muss deshalb unterworfen werden: Das andere Ich wird zum Feind. Bisher hatte »das Andere« unterschiedslos Ding- und Menschenwelt umfasst, jetzt verengt Hegel diese Auseinandersetzung auf die Beziehung zwischen zwei Trägern von Bewusstsein. »Es ist ein Selbstbewusstsein für ein Selbstbewusstsein.« (3.144) Selbstbewusstsein bedeutet hier, dass das eigene Ich eine absolute Suprematie in seinem Verhältnis zu diesem Anderen, d.h. »absolut für sich« zu sein beansprucht (3.143), und dies heißt, dass für alle anderen allenfalls am Rande Platz ist. Dieser Anspruch, einzig zu sein, ist unverhandelbar. Deshalb kann das Selbstbewusstsein »seiner selbst nur gewiss [sein] durch das Aufheben dieses anderen, das sich ihm als selbstständiges Leben darstellt« (ebd.). Aber die Bedrohung ist wechselseitig: Das andere Ich will ebenfalls das erstere Ich zum Objekt seiner eigenen Bemächtigungswünsche machen – eine Situation, die auf Kampf hinausläuft. Hier mündet Hegels Darstellung der Beziehung zwischen Ich und Anderem in die Parabel von Herr und Knecht bzw. in die Rekonstruktion, wie es zur Verteilung der beiden Rollen kommt und welche Bewusstseinsformationen aus diesem Kampf hervorgehen. Dabei erweisen sich das Bewusstsein des Siegers und des Besiegten bei näherem Hinsehen als gleichermaßen prekär, wenn auch auf höchst unterschiedliche Weise: Der eine lebt in einer Scheinwelt, der andere in beständiger Furcht. Hegel stellt (und zwar im darauffolgenden Abschnitt »Skeptizismus und das unglückliche Bewusstsein«) jedoch klar, dass seine Darstellung der Bewusstseinsformen von Herr und Knecht für ihn die Funktion hat, eine Art inneres Drama zu illustrieren, das sich als Wegarbeiten innerer Abhängigkeit in jeder Bewusstseinsgenese vollzieht. Bewusstseinsentwicklung beginnt bei Hegel damit, »einzelnes, zufälliges und in der Tat tierisches Leben und verlornes Selbstbewusstsein« zu sein, womit Hegel die Fremdbestimmtheit seiner empirischen Existenz meint. (3.161/62) Wo es sich als autonom gebärdet, ist dies nur »bewusstlose Faselei, von dem einen Extreme des sichselbstgleichen Selbstbewusstseins zum andern des zufälligen, verworrenen, und verwirrenden Bewusstseins hinüber und herüber zu gehen.« (3.162) Denn zunächst versucht es sich zwar »zum allgemeinen, sichselbstgleichen« Bewusstsein zu machen (ebd.) und eine »unwandelbare und wahrhafte Gewissheit seiner selbst« zu entwickeln (3.161), in Wirklichkeit bleibt es aber in die »Unruhe« des Hinüber und Herüber verstrickt (ebd.). Es komme zu einer »Verdoppelung des Selbstbewusstseins in sich selbst […], und das unglückliche Bewusstsein ist das Bewusstsein seiner als des gedoppelten nur widersprechenden Wesens« (3.163), aber »an zwei einzelne, an den Herrn und den Knecht« verteilt (ebd.).
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Man kann die Parabel von Herr und Knecht auch als Reflex des gesellschaftlichen Widerspruchs zwischen der freien Entfaltung des bürgerlichen Individuums und des Kampfs aller gegen alle lesen, aber Hegel möchte diesen Konflikt als mentale Grundstruktur verstanden wissen. Er konstituiere seiner Auffassung nach jede Bewusstseinsentwicklung und biete insofern durch einen Zuwachs an Bewusstseinsfähigkeit die Chance, aufgelöst zu werden. Auf der Bewusstseinsstufe, die das Herr-Knecht-Verhältnis zum Zeitpunkt repräsentiert, zu dem die Gegner in den Kampf einwilligen, oszilliert die Wahrnehmung des Gegenübers beständig zwischen zwei Polen: dem Pol, ihn als ebenbürtiges Ich anzuerkennen und dem Pol, ihn als bloßes Objekt wahrzunehmen, über welches das Ich verfügen kann. Hegel lässt dabei nicht einfach nur Konkurrenten gegeneinander antreten, wie sie für die bürgerliche Gesellschaft typisch wären, sondern entwickelt ein Kampfszenario mit eher feudalistischen Zügen, die Französischen Revolution ist noch nicht lange vorbei. Auch wenn sie den Kampf überleben, gibt es für die beiden Kontrahenten keine Versöhnung. Da sie sich in die »Extreme entgegengesetzter Bestimmtheiten« auseinanderentwickelt haben, gibt es für sie nicht einmal Interaktion, »und die beiden geben und empfangen sich nicht gegenseitig voneinander durch das Bewusstsein zurück, sondern lassen einander nur gleichgültig, als Dinge, frei.« (3.150) Der eine ist Sieger, der andere Besiegter, der eine wird Herr, der andere Knecht.11 Aber beide gehen aus diesem Kampf beschädigt hervor bzw. richten sich in einem Herrschaftsverhältnis ein, das beide gleichermaßen reduziert. Der Herr, der als Sieger alle Arbeit an den Knecht delegieren kann, steht mit der Welt der Dinge kaum noch, nämlich nur über seinen Diener in Kontakt. Er muss sich zwar nicht mit der Widerständigkeit des Dinges abplagen, das bearbeitet wird, denn er hat »den Knecht zwischen es und sich eingeschoben« (3.151). Insofern behält er nur den Genuss und die befriedigte Begierde übrig, aber das bedeutet für ihn letztlich Abhängigkeit und Unselbstständigkeit; »die Seite der Selbstständigkeit aber überlässt er dem Knechte, der es bearbeitet« (ebd.), denn der Knecht ist selbstständig in der Art, wie er seine Arbeit organisiert. Insofern wächst im Zuge der Bearbeitung der Dinge die Selbstständigkeit des Knechts, der Mittel finden muss, ihren Widerstand zu brechen, wenn auch im fremden Auftrag. Der Herr täuscht sich über dieses Verhältnis, weil er glaubt, dass »das Ding nichts ist« (3.152); tatsächlich verliert er aber damit den Kontakt zur Realität, sowohl zur Realität der Materie als auch zu sich selbst: Er hat nicht verstanden, dass er in Wirklichkeit längst Abhängiger ist. Dass aus »ihm vielmehr ganz etwas anderes
11
Diese Rollenverteilung wird von Hegel damit begründet, dass der eine mehr zu riskieren bereit ist als der andere, da er sich »an die allgemeine Einheit des Daseins überhaupt nicht, nicht an das Leben geknüpft« fühlt (3.148); seine Autonomie, nämlich die Freiheit des Selbst von ichfremden Bezügen, ist ihm wichtiger. Sein »Selbstbewusstsein« – Hegel setzt »Selbst« ausdrücklich kursiv – beruht darauf, »alles unmittelbare Sein zu vertilgen« (ebd.) und sich nur auf die Vermittlungsleistungen des eigenen Bewusstseins zu beziehen. Das andere Individuum, der Unterlegene, »welches das Leben nicht gewagt hat, hat die Wahrheit dieses Anerkanntseins als eines selbständigen Bewusstseins nicht erreicht.« (3.149)
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
geworden [ist] als ein selbstständiges Bewusstsein« (ebd.) und dass das »Wesen« seiner Herrschaft »das Verkehrte dessen ist, was sie sein will« (ebd.) ist ihm nicht klar12 . »Die Wahrheit des selbstständigen Bewusstseins ist demnach das knechtische Bewusstsein« (ebd.), denn es gestaltet die Dinge um und muss dazu erst einmal seine Begierde, die Dinge zu besitzen, zurückstellen. Der Knecht muss sich disziplinieren, und insofern gilt: »Die Arbeit […] ist gehemmte Begierde […], oder sie bildet« (3.153), wobei »Bilden« hier im Sinne des Gestaltens, des Formveränderns der Dinge, d.h. als »formierende[s] Tun« (3.154) verwendet wird. Auch wenn dies nicht »Bildung« im engeren Sinne ist, so kommt doch der Knecht in Betrachtung der Produkte seiner Arbeit »zur Anschauung des selbstständigen Seins, als seiner selbst« (ebd.): Er ist es, der dies geschaffen hat. Aber da er über die Materialien, die er bearbeitet, nicht verfügt, sind sie ihm schließlich doch in erster Linie Repräsentanten der Macht des Herrn. Dass er die Resultate seiner Arbeit nicht direkt verzehren darf bedeutet, dass er Distanz zur Unmittelbarkeit seiner Bedürfnisse herstellen muss und dies ist für Hegel eine Vorstufe von Bildung. Aber es bedeutet gleichzeitig auch das Gegenteil: Unmündigkeit, denn da er für einen anderen arbeitet, lebt er in beständiger Furcht vor ihm. Das Ding ist immer nur Ausdruck von dessen Macht, dies ist für ihn sein Wesen, und insofern sieht er sich selbst als »das Unwesentliche«, als bloßen Ausführenden, der selbst keine Anerkennung verdient, sondern nur zur Anerkennung dem gegenüber verpflichtet ist, von dem er abhängig ist. Er erarbeitet sich Selbstständigkeit des Bewusstseins in Auseinandersetzung mit der Dingwelt, aber sie steht im Zeichen der Furcht vor seinem Herrn, und dies hat mit »Bildung« allenfalls insofern etwas zu tun, als »die Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit« ist, wie Hegel unter Bezug auf Psalm 111.10 ganz unironisch formuliert (3.153). In Hegels Darstellung ist es dennoch der Knecht und nicht der Herr, der Protagonist einer neuen Bewusstseinsform ist. Die Autonomie des Herrn, eine »reine Abstraktion« (3.148), der er sogar bereit ist, sein Leben zu opfern, ist das, was seine Entwicklung verhindert. Dies ist im Rahmen des Idealismus ein überraschender Gedanke, der allerdings innerhalb der »Phänomenologie des Geistes« nur ein Zwischenergebnis festhält. Zwar wird von Seiten des Herrn auch in den folgenden Kapiteln wenig zu erwarten sein. Seine Herrschaft ist am Ende des Kapitels, das »Der sich entfremdete Geist. Die Bildung« überschrieben ist, vollends zerfallen. Aber für den Knecht gilt, dass die erreichte, im Medium der »Furcht des Herrn« noch sehr relative Selbstständigkeit erst der Beginn einer Entwicklung ist, die als »unglückliches Bewusstsein« und dann »in der absoluten Zerrissenheit« und »Empörung« ihre Fortsetzung findet (3.385, 384). In der Empörung gelangt die Furcht zwar an ihr Ende; aber sie bleibt dennoch eine »Sprache der Zerris-
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Herrschaft wird so zur »existentielle[n] Sackgasse« (A. Kojeve (1973), Zusammenfassender Kommentar zu den ersten sechs Kapiteln der »Phänomenologie des Geistes«. In: H.F. Fulda/D. Henrich (Hg.), Materialien zu Hegels »Phänomenologie des Geistes«. Frankfurt a.M., S. 133-189, hier S. 154.) Es war Kojeve, der zuerst, nämlich in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, in seinen Vorlesungen an der Sorbonne die Implikationen des Texts für eine materialistische Geschichtsphilosophie herausgearbeitet hat.
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senheit«: Erst die »Sprache der Zerrissenheit […] ist die vollkommene Sprache und der wahre Geist dieser ganzen Welt der Bildung.« (Ebd.)
6.3
Lektionen des Abschieds
Die Erschütterungen, die durch die Auflösung traditioneller »Sittlichkeit« entstanden sind, werden für Hegel zum Anlass für Erfahrungen, die in Bildungsprozesse münden. Diese Auflösung stellt für ihn eine notwendige Stufe der geschichtlichen Entwicklung dar: Zunächst habe es einen Zustand gegeben, in dem »das bekannte Gesetz und die vorhandene Sitte« unbefragte Gültigkeit hatten (3.329), sowohl als menschliches als auch göttliches Gesetz. Dann aber zerfiel diese Einheit; nun bleibt einerseits eine Vielzahl individueller Einzelinteressen übrig, die das Zusammenleben aufsprengen und andererseits ein Gemeinwesen, »dessen einfache Allgemeinheit geistlos und tot […] ist.« (3.354) Zwar sichert der »Rechtszustand« ihnen formale Gleichheit zu (3.355). Dieser »Formalismus des Rechts« wurde inzwischen zur Wahrung der Eigentumsansprüche Einzelner etabliert13 , aber er ist eine »Flucht aus der Wirklichkeit«, da »das Prinzip des Rechtszustandes […] sein Wesen allein in die Einheit des reinen Denkens setzt« (3.356). Ein solcher Formalismus kann insofern diese Wirklichkeit, das konkrete Leben der Einzelnen, nicht adäquat wiedergeben. In der »abstrakten Wirklichkeit« des Rechts gilt nur »das reine leere Eins der Person«, während sich die konkrete Realität der Individuen in ihrer Fülle der Erscheinungen in »allgemeine Verwirrung und gegenseitige Auflösung« transformiert (3.356). Der »wirkliche Inhalt« (3.357) hat aufgehört eine Rolle zu spielen. Die orientierungslosen Individuen sind konfrontiert mit einer Herrschaftsform, in der ihnen ein mächtiger Einzelner als »einsame Person« mit dem Anspruch gegenübertritt, die »allgemeine Macht und absolute Wirklichkeit« zu repräsentieren (3.357/58). In »der zerstörenden Gewalt, die er gegen das ihm gegenüberstehende Selbst seiner Untertanen ausübt«, weiß er sich »als den wirklichen Gott« (3.358), so Hegel in Anspielung auf die römische Cäsarenherrschaft. So erscheint dem Individuum seine gesellschaftliche Realität als »eine unmittelbar vorhandene, ihm fremde Wirklichkeit, welche eigentümliches Sein hat und worin es sich nicht erkennt.« (3.360) Hegel beschreibt hier die Geschichte des Bewusstseins als Abfolge von zwei einschneidenden Verlusterfahrungen: Zunächst erlebt das Bewusstsein den Verfall der einfachen und selbstverständlichen Sittlichkeit und dann das Abstraktwerden der an ihre Stelle getretenen normativen Vorgaben im »Rechtszustand«; es kann in ihnen die Probleme der konkreten Lebensführung nicht wiedererkennen. So bleibt ihm nichts als sich abzukapseln; es ist das »ausschließende Selbst«, und die Welt hat »die Bedeutung eines aus ihm ausgeschlossenen Daseins« angenommen, mit dem es sich »nur durch
13
Als Modell intakter Sittlichkeit hat Hegel das antike Griechenland im Sinn. Ähnlich steht das antike Rom für die Darstellung des »Rechtzustands« Pate, denn hier kam es das erste Mal zu einer ausgearbeiteten Gesetzgebung. Aber gleichzeitig mit diesem entwickelten Rechtssystem etabliert sich das Unrechtssystem spätrömischer Imperatoren, deren »Selbstgenuss« und »Ausschweifung« Hegel zum integralen Merkmal und zur anderen Seite des Rechtszustands erhebt (3.358).
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
die Entfremdung seiner selbst« in Beziehung setzen kann. (3.359) Es muss sich nun selber hervorbringen, ist für die Entwicklung seiner Haltungen und Einstellungen selbst verantwortlich; sein Leben wird ihm zur Bildungsaufgabe. Was dieser Bewohner der »Welt der Bildung« freilich nicht erkennt, ist, dass diese feindliche Welt eine menschengemachte ist; »sie ist seine, aber nicht [seine] positive Arbeit.« (3.360) Sie beruht darauf, dass das Individuum »seine Welt hervorbringt und gegen sie als eine fremde so verhält, dass es sich ihrer nunmehr zu bemächtigen hat.« (3.363) Aber es bleibt bei dieser »Erzeugung der Wirklichkeit« (3.363) nicht stehen, sondern stellt ihr eine zweite gegenüber. So wird es zum Bewohner von »zweierlei Welten« (3.263): »die erste ist die Welt der Wirklichkeit oder seiner Entfremdung selbst; die andere aber die, welche er, über die erste sich erhebend, im Äther des reinen Bewusstseins sich erbaut.« (3.362/63) Dies ist in erster Linie die Welt des Glaubens. Bildung, so wie sie Hegel in diesem Kapitel versteht, gehört zur »Welt des sich entfremdeten Geistes« (3.362), wobei er Entfremdung als notwendiges Stadium der Ausdifferenzierung der Bewusstseinsfunktionen versteht. Bei Hegel mutiert die Diagnose der Entfremdung von der Anklage, dass die gesellschaftlichen Zustände lebensfeindlich geworden sind (wie sie sich bei Rousseau oder Schiller findet), zur Bedingung von Bildung. In einem abrupten Sprung verortet er die Ausdifferenzierungsprozesse, die auf den Zerfall traditioneller Sittlichkeit folgen, in der Neuzeit, genauer: in der Renaissance. Sie sei der Ausgangspunkt und mit der französischen Revolution neigten sie sich dem Ende zu. Was mit dem Verlust der Selbstverständlichkeit sittlicher Orientierungen begann und im Rechtszustand manifest wurde, zeigt sich als die Gegenüberstellung einer sich gegenüber der Realität von Macht und Herrschaft verselbstständigenden geistigen Sphäre einerseits und andererseits einer davon abgekoppelten Herrschaftssphäre unmittelbarer Gewaltausübung. Im Bewusstsein der Individuen verfestigt sich dies zu einem »Jenseits« des »Denken[s] und Gedachtsein[s]« sowie einem »Diesseits, das seine ihm entfremdete Wirklichkeit ist.« (3.361) Aber damit nicht genug: Jene gedankliche Sphäre gebe sich den Status einer »eigenständigen Welt der Bildung« (3.384), die nicht nur die Zweiteilung in ein Diesseits und Jenseits betreibe, sondern diesen Widerspruch, anstatt ihn aufzulösen, zur Wahrheit verkläre: Sie biete einerseits die Möglichkeit, »sich zu ewigen Ideen, zu einem Reiche des Gedankens und der Freiheit« zu erheben (13.81), und andererseits bemächtige sich das Individuum der Natur und der gesellschaftlichen Wirklichkeit: »es erlangt diese Macht über sie durch die Bildung.« (3.365) Von Anfang an sieht Hegel Bildung unter Machtaspekten: In der neuen »Welt der Bildung« gibt es keine Gratis-Anerkennung, »nicht jenes unmittelbare Anerkanntsein und Gelten des Selbstbewusstseins« einfach nur aufgrund der Tatsache, »weil es ist« (3.363). »Wodurch […] das Individuum hier Gelten und Wirklichkeit hat, ist die Bildung« (3.364); sie ist Sozialkapital (um in den Kategorien der Bildungssoziologie des 20. und 21. Jahrhunderts zu sprechen). Es ist in die Verfügung jedes einzelnen Individuums gestellt, etwas aus sich zu machen; Bildung ist dazu da, an sich zwar vorhandene, aber noch unentfaltete Fähigkeiten zu aktualisieren: »Diese Individualität bildet sich zu dem, was sie an sich ist […]; soviel sie Bildung hat, soviel Wirklichkeit und Macht.« (3.364) Dazu muss das Individuum in Vorleistung gehen, und zwar durch den Nachweis, »sich dem Allgemeinen gemäß gemacht zu haben.« (3.364) Dieses Allgemeine kann sowohl überindividueller Verhaltensstandard sein, als auch die Fähigkeit, in allgemeinen
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Transformationen des Bildungsbegriffs
und verallgemeinerbaren Kategorien zu denken. Auf jeden Fall ist dies etwas, was vom Individuum erworben, von ihm selbst hervorgebracht worden ist; Hegel betont, dass »die Allgemeinheit, die hier gilt, […] die gewordene ist«, persönliche Leistung, Produkt und Ausweis von Bildung (3.364). Mit der Arbeit am Allgemeinen als einer menschengemachten gedanklichen Sphäre wird aber allein schon deshalb der »Geist der Entfremdung« herrschend, weil dies mit dem »Aufheben des natürlichen Selbsts« einhergeht (3.364), die »Besonderheit seiner Natur« zählt nicht. Nunmehr ist seine »wahre ursprüngliche Natur« die Entfremdung (3.364). Insofern stellt Hegel hier mehrere Arten von Entfremdung nebeneinander. Betont wird erstens die »Entfremdung des natürlichen Seins« (3.364), die das Individuum in mehrfacher Hinsicht erfährt – zunächst in Gestalt der abstrakten Allgemeinheit des Rechtszustandes, in der es sich nicht wiederzuerkennen vermag, dann aber in einer (bürgerlichen) Welt, in der seine individuellen Vorlieben wenig zählen, weil in ihr »nur das sich selbst Entäußernde und darum nur das Allgemeine Wirklichkeit erhält« (3.364) – sowohl im Denken als auch im Handeln. Im »Rechtszustand« ist es mit einem abstrakten Allgemeinen konfrontiert, in der »Welt der Bildung« mit der Forderung, in Kategorien einer allgemeinen Vernunft zu denken. Zweitens spaltet es selbst seine Welt in ein entfremdetes Diesseits und ein erfülltes Jenseits auf, wobei dieses Jenseits als bloßer Gegensatz das Diesseits auf seinen Charakter der »Entäußerung und Entwesung« festlegt und darin erhält (3.350). In einem dritten Sinne schließlich tritt diese gegenständliche Realität dem Individuum als eine zwar »unmittelbar vorhandene«, aber »ihm fremde Wirklichkeit« gegenüber, sodass der Einzelne nicht erkennt, dass sie sein Werk ist, zumindest eines, an dem er mitgearbeitet hat: Bildung ist auch Einübung in diesen Schein, das Vermögen, in allgemeinen Kategorien zu denken und dabei persönliche Aspekte hintan zu stellen. Auf dieser Basis erzeugt das Individuum die Wirklichkeit: »das Dasein dieser Welt sowie seine Wirklichkeit des Selbstbewusstseins beruht auf der Bewegung, dass dieses seiner Persönlichkeit sich entäußert, hierdurch seine Welt hervorbringt und sich gegen sie als eine Fremde so verhält, dass es sich ihrer nunmehr zu bemächtigen hat.« (3.363)14 In einer weitausholenden Denkbewegung führt Hegel im Rest des Kapitels (der ca. ein Dreiviertel des Seitenumfangs einnimmt) eine vierte Bedeutung von Entfremdung ein. Er wird dies das »zerrissene Bewusstsein« nennen (3.386) und dies als die »absolute und allgemeine Verkehrung und Entfremdung der Wirklichkeit und des Gedankens; die reine Bildung« bezeichnen (3.385). Den historischen Rahmen liefert dieses Mal der Absolutismus. Hegels Interesse gilt dem Verhältnis von Vasall bzw. Höfling und der Herrschaftssphäre, in der er lebt, sowie dem Nachweis, dass in dieser nun schon dicht an Hegels Gegenwart herangerückten Welt sich eine einschneidende Bewusstseinstransformation im Umgang mit der Macht ereignet. Diese Macht konkretisiert sich einerseits als »Staat«, andererseits als »Reichtum«, und beiden steht das Untertanen-Individuum in gewisser Weise wehrlos gegenüber: Es hat nichts als sein Gut-oder-Schlecht-Finden und das wiederum basiert auf dem bloßen Gefühl, hier etwas vorzufinden, das einem
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Ähnlich unterscheidet Siep vier Entfremdungsformen, aber mit etwas anderen Schwerpunktsetzungen: vgl. L. Siep (2000), Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M., S. 189-192.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
gleich bzw. ungleich sei.15 Entsprechend schwankend sind seine Bewertungen. »Das wirkliche Bewusstsein hat beide Prinzipien an ihm.« (3.372) Ihm ist »derjenige Gegenstand gut […], worin es sich selbst, derjenige aber schlecht, worin es das Gegenteil seiner findet« (3.369). Das kann je nach Interesse wechseln: Mal erscheint die Staatsmacht als Existenzgarantie, mal als »das unterdrückende Wesen«, das »zum Gehorsam unterjocht« (3.370). Und mal erscheint Reichtum als »Resultat der Arbeit und des Tuns Aller«, das sich »in den Genuss aller auflöst« (3.368), mal bedeutet er Ungleichheit und Zufall. Die Konsequenzen dieser unsicheren Wirklichkeitsdeutung spielt Hegel am Exempel eines Untertanen-Subjekts durch, das sich in besonders herausgehobener Position zur Machtsphäre befindet: Es ist »der stolze Vasall, der für die Staatsmacht tätig ist« (3.374). Zunächst wird er vorgestellt als jemand, der sich in seiner Tätigkeit aufopfert; er ist getrieben vom »Heroismus des Dienstes« (3.373). Dann aber – und hier steht das prärevolutionäre Frankreich Modell – wird diese Loyalität zunehmend brüchig, und zwar vor allem durch einen Funktionswandel des Reichtums. Er ist nicht mehr der »tausendhändige Geber« (3.370), sondern findet sich konzentriert in der Hand des Monarchen, der ihn ausschließlich für seine Zwecke nutzt. Das dienende Subjekt hat den Eindruck, dass diese Macht zunehmende Fassade ist, ja sogar, dass neuerdings und de facto »die Macht des Staats […] auf es übergegangen« ist (3.380), es aber davon nichts hat, denn es befindet sich dennoch »in der Gewalt eines fremden Willens [ist], von dem es abhängt« (3.382). Hatte Hegel zu Beginn Bildung in erster Linie als Arbeit an der Fähigkeit, in Kategorien des Allgemeinen zu denken beschrieben – Bildung hieß hier, »sich dem Allgemeinen gemäß« zu machen (3.364), damit aber zugleich dieser Sphäre des Denkens einen machtvollen Platz in der Realität zu geben16 – so hat sich in diesem langen Exkurs über Staatsmacht und Reichtum unter der Hand der zugrunde gelegte Bildungsbegriff gewandelt, aber auch das, was Hegel mit seiner Hilfe zeigen will. Ähnlich wie im HerrKnecht-Kapitel ist es nun die Arbeit selbst, die eine neue Bewusstseinsform generiert; jedoch Arbeit in einem ganz anderen Sinne: Der Staatsdiener übt vermutlich intellektuell eher anspruchsvolle administrative Tätigkeiten aus. In diesem Sinne spricht Hegel bezüglich des Vasallen explizit von einer »Bildung des Dienstes« (3.384), d.h. einer Veränderung, die dieser als »Läuterung« seines Selbst im Dienst erfahre. Was dies heißen könnte, hat Hegel zehn Seiten vorher zumindest angedeutet: Die Staatsmacht als Herrschaft allgemeiner Forderungen und Ansprüche wird erst durch die Aufopferung des Vasallen durchsetzbar; er steht im Dienste allgemeiner Prinzipien, die aber von dieser Herrschaft definiert werden. Dabei lernt er, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und von sich selbst abzusehen. Früher hatte er (ähnlich wie der Knecht) ein distanzlos 15
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In seinen »Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte« veranschaulicht Hegel diesen Aspekt anhand der Konfessionsstreitigkeiten der Reformationszeit, in der alle Wertmaßstäbe schwankend wurden. In diesen Auseinandersetzungen wurde »das Böse in Gutes und das Gute in Böses verkehrt« und es »blieb am Ende für das Bewusstsein nichts übrig, als […] die reine Tätigkeit der Innerlichkeit selbst, das Abstrakte des Geistes, – das Denken.« (Hegel (1955), S. 913/14) Dies machte sich als »Tätigkeit der Privatbildung bemerkbar […] Bildung ist zu allen Zeiten vorhanden gewesen; hier aber hat sie eine Bedeutung von eigentümlichen Wert.« (Ebd., S. 910) Vermöge seines Denkens verschafft das Individuum Aspekten des Allgemeinen den Status eines Elements gesellschaftlicher Realität, z.B. als Rechtsprechung.
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»in das Dasein versenktes Bewusstsein« (3.373), jetzt, als Vasall der Macht, hat er sich »im Dienste« von dieser Unmittelbarkeit entfremdet, in diesen Vermittlungsleistungen besteht seine Bildung. Und durch diese Bildung bekommt er »Achtung vor sich selbst und bei den anderen.« (3.374) Nun, zehn Seiten später, hat sich allerdings das Blatt gewendet. Nachdem er erfahren hat, dass die »Begriffe von Gut und Schlecht … den entgegengesetzten Inhalt gegen den vorherigen« annehmen können (3.371), hört er auf, »gegen den Wohltäter dankbar« zu sein (3.381), der nun zum Repräsentanten der »tiefsten Verworfenheit« geworden ist. Er selbst aber, der Vasall, muss begreifen, dass er sich »abhängig von der zufälligen Persönlichkeit eines Anderen, von dem Zufall eines Augenblicks, einer Willkür oder sonst des gleichgültigsten Umstandes« gemacht hat (3.382) und entwickelt ein Gefühl der »tiefsten Empörung«. Aber er war ja noch vor kurzem aufopferungsvoller Diener; die im Dienst erworbenen Denkweisen kann er nicht einfach ablegen, und so ist dies zugleich ein Gefühl der Zerrissenheit: »Indem das reine Ich selbst sich außer sich und zerrissen anschaut, ist in dieser Zerrissenheit zugleich alles, was Kontinuität und Allgemeinheit hat, was Gesetz, gut und recht heißt, auseinander und zugrunde gegangen; […] das reine Ich ist absolut zersetzt.« (3.382) Wenn nun aber Hegel daraus schlussfolgert: »Die Sprache der Zerrissenheit […] ist die vollkommene Sprache und der wahre existierende Geist dieser ganzen Welt der Bildung« (3.384), dann erhebt er den Status der »Zerrissenheit«, der inneren Entzweiung und Aufspaltung zum systematischen Kern der Bildungserfahrungen und lässt das zuvor skizzierte Verständnis einer einfachen und loyalen »Bildung des Dienstes« als Zwischenzustand zurück. Dies überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass die Vorrede zur »Phänomenologie« in Bezug auf den Geist postuliert hatte, dass er »seine Wahrheit nur [gewinne], indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.« (3.36) Im Gegensatz zum Altertum, wo es darum ging, »das Individuum aus der unmittelbaren sinnlichen Weise zu reinigen«, sei es jetzt die Aufgabe, »durch das Aufheben der festen bestimmten Gedanken das Allgemeine zu verwirklichen […]. Es ist aber weit schwerer, die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen, als das sinnliche Dasein.« (3.37) Nur so lässt sich der Wechsel, die Bewegung, der die Dinge unterliegen, adäquat begreifen, aber auch ihre eigene innere Differenz. Das Bewusstsein muss lernen, »dass weder die wirklichen Wesen der Macht und des Reichtums noch ihre bestimmten Begriffe, Gut und Schlecht, oder das Bewusstsein des Guten und Schlechten […] Wahrheit haben; sondern alle diese Momente verkehren sich vielmehr eins im andern und jedes ist das Gegenteil seiner selbst.« (3.385) Die Fähigkeit, diese Relativität einzusehen und zu ertragen ist der Grund, warum Hegel »diese absolute und allgemeine Verkehrung und Entfremdung der Wirklichkeit und des Gedankens« als »die reine Bildung« bezeichnet. Diese Instabilität sowohl auf der Ebene der Phänomene als auch der Perspektiven auf sie ist eine Lektion, die für das »einfache Bewusstsein« (vgl. 3.387), Hegel nennt es auch das »ehrliche Bewusstsein« (3.386), kaum zu akzeptieren ist. »Das ehrliche Bewusstsein nimmt jedes Moment als eine bleibende Wesenheit« (3.386) und will damit Vertreter des »Wahren und Guten« sein (3.387). Hegel bezeichnet dies – gemessen an der von ihm dargestellten Komplexitätsstufe des Bewusstseins – als eine »ungebildete Gedankenlosigkeit« (3.386). Aber auch »dieser ganzen Welt der Bildung« steht er ausgesprochen zwiespältig gegenüber. Mit Anteilnahme und vielleicht auch Sympathie
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
hat er den Prozess dargestellt, der aus dem Bewusstsein des Vasallen ein »Bewusstsein der Verkehrung, und zwar der absoluten Verkehrung« in seinem Verhältnis zur Macht werden ließ (3.386). Ihm geht es im Entfremdungs-Kapitel darum, dass sich eine neue Perspektive herauszuschälen beginnt, die nicht mehr Eindeutigkeit in Gestalt einfacher Gegenüberstellungen, die Einseitigkeiten des Gut-Schlecht- und des FreundFeind-Denkens oder den Dogmatismus des ein für alle Mal für wahr Befundenen erlaubt. Hier ist die Bewusstseinsstufe der Reflexion erreicht, aber auch bloß der Reflexion. Über welche Stufen sich das Bewusstsein aus dieser Sphäre bloßer Trennungen, unendlicher, aber folgenloser Ausdifferenzierungen, dieser am Ende doch eher ironisierten »ganzen Welt der Bildung«, herausarbeitet, dieser Darstellung gilt im Folgenden die ganze weitere »Phänomenologie des Geistes«. So wird auch das erste Auftreten eines »Gebildeten«, der offenbar den Repräsentanten dieser neuen Bewusstseinsformation und damit ein Zwischenstadium in der Entwicklung des Geistes darstellen soll, in seiner Eitelkeit und Rechthaberei von Hegel geradezu höhnisch kolportiert.17 Dies ist jemand, der zu allem eine Meinung und für alles eine Erklärung hat. Ein »Selbst« betritt die Bühne, »das alles nicht nur zu beurteilen und zu beschwatzen, sondern geistreich die festen Wesen der Wirklichkeit wie die festen Bestimmungen, die das Urteil setzt, in ihrem Widerspruche zu sagen weiß […] Es weiß also jedes Moment gegen das andere, überhaupt die Verkehrung aller, richtig auszusprechen« (3.389/90), allerdings bleibe es bei dieser Beredsamkeit, die nicht wirklich etwas begreift und insofern gegenüber den realen Problemen versagt. Dies ist das Defizit, das in Hegels Augen »dieser ganzen Welt der Bildung« anhaftet: Sie bleibt an der Oberfläche geistreicher Urteile, und gleichzeitig ist sie unabdingbare Voraussetzung für ein sich vertiefendes Wissen. Schon gar nicht besteht die Möglichkeit eines Weges zurück: nämlich »dass die Vernunft das geistige, gebildete Bewusstsein, zu dem sie gekommen ist, wieder aufgebe, den ausgebreiteten Reichtum ihrer Momente in die Einfachheit des natürlichen Herzens zurückversenke und in die Wildnis und Nähe des tierischen Bewusstseins, welche Natur auch Unschuld genannt wird, zurückfalle; sondern die Forderung dieser Auflösung kann nur an den Geist der Bildung selbst gehen, dass er aus seiner Verwirrung als Geist zu sich zurückkehre und ein noch höheres Bewusstsein gewinne.« (3.389)
6.4
Neue Wissensformen
Was Hegel am Beispiel des Höflings, der Bildung als »zerrissenes Bewusstsein« erfährt, im VI. Kapitel der »Phänomenologie des Geistes« beschreibt, ist nur eine Station eines 17
Mehrfach zitiert Hegel im Entfremdungskapitel die Satire Diderots »Rameaus Neffe«, die diesem neuen Sozialtypus ein Denkmal setzt. In ihr versammeln sich die Identitätsprobleme des aufgeklärten Bürgers um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Dies beginnt schon damit, dass Rameau sich seinen Namen mit seinem berühmten Komponisten-Onkel teilen muss, und überhaupt gilt von Rameau Junior: »Nichts gleicht ihm weniger als er selbst.« (D. Diderot 1970, Rameaus Neffe. Das erzählerische Gesamtwerk, hg. v. H. Hinterhäuser, Bd. 4. Frankfurt a.M. u.a., S. 7). Im Schatten des großen Verwandten, aber ohne dessen Genie, bezieht er die Position des Kritikers einer Gesellschaft, von der er sich parasitär ernährt.
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langfristigen Entwicklungsprozesses, dessen Ziel es ist, »dass der Geist zum Bewusstsein seiner selbst komme«18 . Dargestellt werden soll mithin am Beispiel des Vasallen und seiner »Bildung des Dienstes« nur eine der »Bildungsstufen des allgemeinen Geistes« (3.32), die Hegel als historische lokalisierbare Phase der Bewusstseinsentwicklung darstellt. Dabei erhebt er das, was diese Bewegung antreibt, zum zentralen Merkmal allen Geistes: die Fähigkeit zur Negation. Während Humboldt Bildung als Prozess stetigen Zuwachses an Möglichkeiten begreift, bei dem auch das Wohlergehen des Individuums zunimmt, verlaufen Bildungsprozesse bei Hegel im Medium von Fremdheits- und Auflösungserfahrungen, die für das Individuum eher bedrohlich sind. Die Bildungsthematik taucht bei ihm auf, als das Individuum in der Rolle des Vasallen bereits so viel Selbstständigkeit des Urteils (und wohl auch der Entscheidungsbefugnisse) erworben hat, dass es in Loyalitätskonflikte gegenüber dem Machtsystem gerät, dem es zugleich dient. Seine Bindungen sind bereits vom Zerfall bedroht, seine »Empörung« schafft ein Klima der Differenz und der Differenzierung – daher die »Sprache der Zerrissenheit«, der Negation. Die »negative Kraft« des Denkens richtet sich gegen »die Wahrheit des natürlichen Bewusstseins, und die unmittelbaren Gesetze und Grundsätze; und was der Vorstellung fest ist, löst sich in ihm auf« (18.409). Damit wird Denken bei Hegel zum Kronzeugen im Streit zwischen Naturalismus und Idealismus, denn er vertritt damit die idealistische These, dass menschliche Fähigkeiten nicht restlos in naturalistischen Beschreibungen (z.B. in Kategorien neuronaler Prozesse) aufgehen.19 Für den Idealismus ist dies freilich eine Selbstverständlichkeit, geht er doch ohnehin von einer Sonderstellung des Menschen im Kosmos aus. Für Hegel kommt der Fähigkeit zur Negation aus anderen Gründen besondere Bedeutung zu, denn aus ihr leitet sich seinem Verständnis nach die allein dem Menschen vorbehaltene Fähigkeit ab, ein explizites Bewusstsein seiner selbst zu haben, das durch die bewusste Entgegensetzung zur umgebenden Welt ermöglicht wird. Dies Bewusstsein von sich grundiert und beeinflusst das Gegenstandsbewusstsein; es entsteht eine Distanz, die Unterscheidungen und auf dieser Grundlage Entscheidungen möglich macht. Aufgrund dieser Wahlmöglichkeit zwischen Alternativen ist für Hegel von vornherein Denken verbunden mit Freiheit. Aber all dies ist nicht von vornherein gegeben, allenfalls angelegt – Geschichte ist für Hegel Bewusstseinsgeschichte.20
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Hegel (1955), S. 116. Negation ist Leistung des Denkens, kommt in der Natur nicht vor. Tiere verfügen über keine Möglichkeit, Negation auszudrücken. »Für ein Tier besteht keine einfache Möglichkeit zu sagen, ›Ich werde dich nicht beißen‹.« (G. Bateson 1983, Ökologie des Geistes. Frankfurt a.M., S. 546) Nur durch ein alternatives positives Verhalten kann dieses Nicht-Tun ausgedrückt werden. »Dabei handelt es sich aber um mühsame und schwerfällige Methoden, das Negativum zu erreichen.« (Ebd., S. 547) G. Buck stellt einen engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung eines Bewusstseins seiner selbst und dessen Umwendung vom Gegenstandsbewusstsein hin zur Reflexion von dessen Konstitutionsbedingungen her und weist darauf hin, dass dies eng mit der Fähigkeit zur Negation verbunden ist: »Hegel macht in der ›Phänomenologie des Geistes‹ sehr bestimmt darauf aufmerksam, dass diese Umkehrung des Bewusstseins, dieses Sich-seiner-Bewusstwerden vorzüglich das Ergebnis negativer Instanzen ist. Die negative Erfahrung, dass es sich anders verhält, als wir erwartet haben, diese Enttäuschung unserer naiven Antizipation, diese Entfremdung von unserem
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
Die enge Beziehung zwischen Denken und Negation findet er bei Spinoza formuliert, und zwar in dem »großen Satz: Alle Bestimmung ist eine Negation« (20.164).21 Denkbestimmungen beruhen auf Unterscheidungen und das Unterscheiden auf dem Ausschluss bestimmter Aspekte, d.h. ihrer Negation. Insofern gelte, so Hegel, für das Denken: »sein Wesentliches beruht auf Negation.« (Ebd.) Aber auch wenn deren Funktion vor allem auf dem Ausschließen alternativer Möglichkeiten beruht, so liegt deren entscheidende Funktion für Hegel doch darin, dass sie das »Produzierende, Tätige« ist (19.472). Sie schafft Differenzierungen, stellt die Einfachheit und Unmittelbarkeit sinnlicher Gewissheit in Frage, ist die Unruhe, die auf ein »Sichanderswerden« des Subjekts hinarbeitet (3.23). Deshalb kann Hegel davon sprechen, dass der Geist »in Wahrheit sein eigenes Resultat« ist (10.24), hervorgebracht durch die beständige »Arbeit des Negativen« (3.24). Allein schon aufgrund dieser immer weitergehenden Ausdifferenzierungen ist die Menschheitsgeschichte für Hegel gleichbedeutend mit einer Aufstiegsgeschichte22 ; sie ist die »Geschichte der Bildung des Bewusstseins zur Wissenschaft.« (3.73) Dies vollziehe sich gerade in seiner Gegenwart als »qualitativer Sprung« (3.18) des Denkens. Denn man sei eingetreten in »eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode« (3.18), die Zeit einer »weitläufigen Umwälzung« (3.19) und der »erste[n] Erscheinung einer neuen Welt« (ebd.). Dies gehe mit einer »fortschreitende[n] Entwicklung der Wahrheit« (3.12) im Sinne einer Verwissenschaftlichung des Denkens einher23 . »Die Wissenschaft, die erst beginnt« (3.20), verlange ein neues Verständnis des denkenden Geists, der sich in diesen Entwicklungen äußert. In der Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes« stellt Hegel die Bewusstseinsformationen dar, die Voraussetzung dafür sind. Die gesamte Menschheitsgeschichte ist Bildungsprozess des Geistes, wobei »Geist« hier als ein überindividuelles objektives Phänomen verstanden wird, das aber der konkreten Individuen bedarf, um sich zu realisieren. Dadurch wird dieser Entwicklungsprozess zur Bildungsaufgabe, d.h. zu einer Angelegenheit planmäßiger Übung und Arbeit, die Selbst-Überwindung fordert. Sie ist in seinen Augen mehr als alles andere »ein harter, unendlicher Kampf gegen sich selbst.«24 Dennoch sei Geist als latent vorhandenes Potential in jedem Menschen angelegt und dessen Aufgabe sei es, diese Möglichkeit in Gestalt der Vernunft Wirklichkeit werden zu lassen. In den Stadien der Ausbildung des Bewusstseins, die Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« beschreibt, wird dies gleichgesetzt mit einer Zunahme von Wissen, die in methodisch kontrolliertem wissenschaftlichem Denken ihren Kulminationspunkt erreicht. Als die Voraussetzung von
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ursprünglichen Wähnen, sie ist es, die uns mit uns selbst konfrontiert und uns in eins mit einer Belehrung über die Dinge über uns selbst belehrt.« (G. Buck, a.a.O., S. 189) »Bestimmung« hier im Sinne von Definition. Spinoza formuliert: »determinatio negatio est«. (vgl. Baruch Spinoza, Brief an J. Jelles, 2.6.1674. In: B. Spinoza (2017), Briefwechsel, hg. v. W. Bartuschat, Hamburg, S. 193/94) »Unter der Sonne geschieht nichts Neues. Aber mit der Sonne des Geistes ist es anders. Deren Gang […] ist wesentlich Fortschreiten.« (Hegel (1955), S. 70) Hegels Wissenschaftsverständnis soll hier nicht näher ausgeführt werden; wichtig ist vielmehr die Rolle, die er wissenschaftlichem Denken überhaupt als Erkenntnishaltung zuweist. Hegel (1955), S. 152.
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Wissen, wie es sich insbesondere in Wissenschaft manifestiert, bestimmt Hegel die Fähigkeit, sich dem »Anderssein« einer Sache zu öffnen, sie in ihrer Fremdheit unverkürzt aufzufassen und damit einen Schritt über das bereits Bekannte hinaus zu machen. Darin ist es aber zugleich »Selbsterkennen« (3.29), denn indem ein Ich diese Sache wahrnimmt, erfährt es zugleich etwas über sich selbst: Es bemerkt, wie und auf welche Weise es wahrnimmt. (Vgl. 3.77/78) In der »Enzyklopädie« erläutert Hegel diesen Gedanken: Der »Anfang der Bildung« (10.249) sei damit gemacht, dass das Individuum den Gegenstand auf zweifache Weise wahrnimmt, nämlich »sowohl objektiv wie subjektiv zu sein, oder mit anderen Worten, nicht nur für mich zu sein [als mir nützlich oder begehrenswert, R.B.], sondern auch selbstständiges Sein zu haben.« (10.249) Beide Wahrnehmungen seien gleichermaßen wichtig; in einem Fall werde ein Sich-in-sichReflektieren des freien Geistes (10.249) möglich, indem ich Eigenes in dem fremden Gegenstand wiedererkenne oder mir dieses Eigene allererst bewusstmache, im anderen Fall bedeutet »sich in die Sache [zu] vertiefen«, ein »Sichhingeben an die Sache« (10.250). Obwohl seine Zeit bereits von einer Bedeutungszunahme wissenschaftlicher Forschung geprägt ist, nimmt Hegel dieses Wissenschaftsverständnis als völlig unzureichend wahr. »Der eine Teil pocht auf den Reichtum des Materials und die Verständlichkeit, der andere verschmäht wenigstens diese und pocht auf die unmittelbare Vernünftigkeit und Göttlichkeit.« (3.20) Den einen gehe es um das Sichten und Klassifizieren, den anderen, ob nun Pietisten oder Romantiker, um »Erbauung« statt »Einsicht« (3.18). Hegel hält beides für im Wesentlichen bereits zurückgelassene geschichtliche Bewusstseinsformationen. Dieses »begriffslose substantielle Wissen« (3.18) mache sich entweder als »leere Tiefe« und »gehaltlose Intensität« (3.17) bemerkbar oder als Sammlung von »Sonderbarkeiten und Kuriositäten« (3.21), einer »Menge Material« mit dem »langweiligen Schein der Verschiedenheit« (ebd.). Damit wendet er sich gegen das von ihm vorgefundene Wissenschaftsverständnis, das sich in erster Linie auf die Klassifikation dieses Materials richtet und dabei eine »gestaltlose Wiederholung des einen und desselben [ist], das nur an das verschiedene Material äußerlich angewendet ist« und sich auf die »Wiederholung derselben Formel« beschränkt (3.21). Hegels Anspruch ist, der »Wissenschaft, die erst beginnt« (3.20), eine neue Grundlage zu geben, indem er ein Bewusstsein ihrer eigenen Verfahrensweisen zum zentralen Kriterium wissenschaftlicher Methode erhebt. Sie bedarf der Selbstaufklärung über ihre eigenen Prinzipien und Methoden, und dazu ist sie auf ein »Denken des Denkens«25 angewiesen. Diese Aufgabe weist er der Philosophie als einer Art umfassender Meta-Theorie zu. Aber auch außerhalb der Entwicklungen wissenschaftlichen Denkens ist Wissen zentral für die Entwicklung des Bewusstseins, ist aber darin nicht gleichzusetzen mit Kenntniserwerb. Vielmehr bekommt Wissen bei Hegel die Bedeutung, sich gegen den Schein des bereits Bekannten zu richten. Etwas als bekannt vorauszusetzen ist in der Regel eine Täuschung, beruht auf der bloßen Übernahme von Denkkonventionen, zu Etiketten verdinglichten Vorstellungen. Konventionelles Denken bewegt sich zwischen diesen starren Einheiten in einem bloßen Hin und Her und bleibt »somit nur auf ihrer Oberfläche« (3.35). Auseinandersetzungen beschränken sich dann darauf, den Grad 25
Ebd., S. 173.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
der Übereinstimmung der Vorstellungen herauszufinden, aber im Grunde machen sie kaum etwas anderes als deren Bekanntheit zu bestätigen. Einen Schritt darüber hinaus leistet das Analysieren einer solchen Vorstellung, denn indem die sie konstituierenden Elemente offengelegt werden, verliert sie ihre Selbstverständlichkeit. Damit wird zumindest »die Form der vorgefundenen Vorstellung« (ebd.) aufgelöst und an ihre Stelle treten die eigenen Schwerpunktsetzungen und Unterscheidungen, die »Eigentum des Selbsts« sind (ebd.). Das wichtigste Kriterium für die Tätigkeit des Geistes, nämlich »das sich Bewegende« zu sein tritt dabei in Erscheinung (3.36). Hegel versteht unter Erfahrung eben dies: dass sie das Unmittelbare, abstrakt Dinghafte der Gegenstände aus ihrem »nur gedachten Einfachen« (3.39) zu lösen vermag und ihre Selbstverständlichkeit abstreift. Die eigentliche Aufgabe bestehe darin, »die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen« (3.37).26 Was allein zählt, ist der »Prozess, der sich seine Momente erzeugt und durchläuft« (3.46) und nicht ein Wissen, das den Gegenstand auf ein »äußerliches Bestimmen und Handhaben« reduziert. (3.48) Der Gegensatz dazu wäre ein Erkennen als Einsicht in »das lebendige Wesen der Sache« (3.51), aber die Wissenschaft seiner Zeit reduziert sich in den Augen Hegels stattdessen auf Tätigkeiten des Identifizierens, Ordnens, Klassifizierens; Hegel selbst spricht von Schematisieren und Rangieren (vgl. 3.52) Der Gegenstand verliere seine Selbstständigkeit und werde zum Objekt des Denkens. Zu den Verfahrensweisen dieser Art von Wissen gehöre es, dass es »den Inhalt als ein Fremdes handhabt« (3.53) und vor allem an seiner eigenen »Übersicht« (3.52) interessiert ist. Die »lebendige Bewegung der Sache« (ebd.) spricht sich hingegen in einer Wissenschaft aus, die bereit ist, »sich dem Leben des Gegenstandes zu übergeben« (ebd.) und dessen »immanentes Leben« (ebd.) zu artikulieren. Hegel fordert, dass Erkenntnis »bei der Sache ist und sich ihr hingibt.« (3.13)27 Hier ist der Begriff nicht Instrument der Verstandestätigkeit, sondern selbst der Geist der Sache. Die Fähigkeit, sich in diese gedankliche Wirklichkeit zu vertiefen, bei ihr zu verweilen, wird von Hegel als eigenständige »Macht« begriffen, sogar – in plötzlicher Nähe zur sonst abgelehnten Romantik – als »Zauberkraft« (ebd.)28 , weil in 26
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Aufgabe der Logik wäre es, dies darzustellen, vor allem die »Methode dieser Bewegung« (3.47). Aber auch damit wäre nicht viel gewonnen, denn dies speist sich aus eher überwundenen Vorstellungen, die eine Erkenntnisform zum Gegenstand haben, die »dem Stoffe äußerlich ist.« (Ebd.) »Veraltet« sei »die Manier, einen Satz aufzustellen, Gründe für ihn anzuführen und den entgegengesetzten durch Gründe ebenso zu widerlegen« – dies sei »nicht die Form […], in der die Wahrheit auftreten kann.« (Ebd.) Eine Formulierung, die Horkheimer aufgreift, um den »Begriff der Bildung« zu bestimmen. Als Rektor der Frankfurter Universität empfiehlt er den Studierenden in einer Eröffnungsrede zu Semesteranfang geradezu die »Hingabe an die Sache« als Grundlage wissenschaftlicher Bildung (M. Horkheimer, Begriff der Bildung. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8. Frankfurt a.M. 1985, S. 415, s.o., Kap. 5.8). Hegels Forderung lässt sowohl auf der Ebene der Wortwahl als auch der Sache nach an Novalis denken – trotz aller sonst üblichen Abgrenzung Hegels gegen romantisches Denken und Empfinden. Und bei näherem Hinsehen erweist sich diese von Hegel empfohlene Versenkung als ganz in den Dienst des absoluten Geists des Idealismus gestellt: Nämlich als ein Zurückdrängen des subjektiven Faktors als Einfallstor für individuell- partikulare Regungen, die er als Störfaktor einer Annäherung an den absoluten Geist ansieht. In gewisser Weise bereitet sich hier der spätere Positivismus vor. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, für die Hegels »Verweilen« bei der Sa-
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diesem »Verweilen« ein Gedanke oder eine Vorstellung ein eigenes Dasein gewinnt, aber gleichzeitig der Gegenstand in all seinen Relationen erkennbar wird. Hegel nennt dies in der »Enzyklopädie« (§ 283, Zusatz) »konkretes Denken«: Es ist multiperspektivisch, berücksichtigt Herkunft und Kontext. Nicht nur gehe es darum, den »immanenten Inhalt der Sache« (3.52) aufzufassen, sondern »in die Materie versenkt« ihre Bewegung nachzuvollziehen. Bildung bekommt die Aufgabe, diese Form der Aufmerksamkeit als neuen Zugang zur Gegenstandswelt zu entwickeln. Dieses veränderte Verständnis von Wissen bedeutet einen veränderten Bezug auf dessen Gegenstände: Sie verlieren den Charakter von Objekten, über die das Ich verfügt; dieses Ich muss vielmehr mit der Bewegung des Gedankens auf die Dynamik des Gegenstandes antworten. Über diese Fähigkeit zur Responsivität verfügt es aber nicht von Anfang an; sie ist Gegenstand von Bildungsprozessen, insofern sie auf einen Zuwachs von Wissen ausgerichtet sind. So bedeutend der Stellenwert dieses Gedankengangs für Hegel in der Einleitung zur Phänomenologie ist, so nimmt er ihn doch im weiteren Argumentationsgang nicht wieder auf und führt ihn insbesondere auf der Ebene seiner bildungstheoretischen Reflexionen nicht weiter. Der Begriff der Entfremdung und die Forderung, in sie einzuwilligen, überlagert diesen Gedanken auch noch in den schulpraktischen Schriften. Was Ergänzungsverhältnis sein könnte, bleibt ungedacht, die dafür nötige Öffnung auf das Andere in seinem Anderssein bleibt allenfalls eine kurze Episode des Erleidens auf dem Weg der Rückkehr des Subjekts zu sich selbst.29
6.5
»Denken als besondere Wirklichkeit«
Die Verengung des Bildungsbegriffs auf kognitive Tätigkeiten prägt stark seinen gegenwärtigen Gebrauch, aber sie findet sich erstmals voll ausgeprägt bei Hegel. Während Humboldt unter Bildung noch Entfaltung der eigenen »Kräfte« in einem sehr umfassenden Sinne verstanden hatte, und darüber hinaus ein Bewusstwerden ihres individuellen Charakters (und ausgehend von einem solchen Bildungsverständnis war auch der Bildungsweg von Figuren wie Anton Reiser und Wilhelm Meister angelegt worden), identifiziert Hegel Wissen, Kenntnisse und Denkfähigkeit mit Bildung. Andere Bedeutungsnuancen werden abgespalten und einem allgemeinen Entwicklungsbegriff zugeordnet. Ziel aller Bildungsanstrengungen ist für Hegel »die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist.« (3.33) Wenn er vom »langen Weg der Bildung« spricht, als dem Weg,
29
che ein wichtiger Anknüpfungspunkt ist, leitet daraus gänzlich andere Konsequenzen ab, nämlich ihren Einspruch gegen »identifizierendes Denken«. Insbesondere Adorno knüpft daran in seinen Überlegungen zu einer Neubestimmung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses an (vgl. Negative Dialektik, Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt a.M. 1973, S. 184 ff zum »Vorrang des Objekts« und »Zu Subjekt und Objekt«, Gesammelte Schriften, Bd. 10.2. Frankfurt a.M. 1977, S. 741-758). Humboldt versucht hingegen, Entfremdungserfahrungen durch ein solches Ergänzungsverhältnis aufzulösen, indem er in ein inneres Wechselverhältnis von »Selbsttätigkeit« und »Empfänglichkeit« postuliert (vgl. I.237).
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
auf dem »der Geist zum Wissen gelangt« (3.63), meint er damit in erster Linie die »Bildungsstufen des allgemeinen Geistes« als einer überindividuellen kulturellen Objektivation im Verlaufe der Geschichte (3.32). Diese Bildungsstufen seien der Weg des allgemeinen Geistes zu sich selbst; er bringt sich hervor über die Bildungsprozesse der einzelnen Individuen in der Abfolge der historischen Phasen. Deshalb ist für ihn Bildung auch nur der »absolute Durchgangspunkt« (7.344) auf diesem Weg zum Wissen, unabdingbare Voraussetzung, aber immer noch Vorhof des wirklichen Wissens, unvollständig und unabgeschlossen. Eher noch als »Bildung« nähert sich »Wissenschaft« diesem Endzustand, wobei sie aber »die Bedingung ihrer Existenz in der Bildung hat.«30 Diese Verwissenschaftlichung ist Symptom einer neuen Rolle des Denkens im Leben der bürgerlichen Gesellschaft. Sie mutet deren Subjekten eine Reihe von Abstraktionen zu, die sich nur denkend vollziehen lassen, insbesondere dann, wenn sie gezwungen werden, auf die unmittelbare Durchsetzung eigener Rechte zu verzichten und stattdessen deren Regelung durch Gesetze zu akzeptieren. Wie bzw. ob dieses Allgemeine rechtlicher Bestimmungen mit den eigenen Interessen vermittelt ist, lässt sich zunächst nur im Denken erschließen. »Sie wissen den allgemeinen Willen […] als ihren besonderen«, aber zugleich müssen sie begreifen, »dass er ihr entäußerter besonderer ist«, einerseits »reine Macht« und darin »gegenständliches Wesen«, aber doch nur als »die Gewalt des Allgemeine[n]«, an der sie partizipieren.31 Ihre Macht äußert sich nicht als »blinde Notwendigkeit, sondern [eine] durch Wissen vermittelte.« (Ebd.) Vor diesem Horizont wird Bildung zur Verfügung über die formalen Voraussetzungen dieses Wissens. Die entscheidenden Bildungserfahrungen werden von Hegel nicht in der Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten verortet, sondern ganz allgemein in der Aneignung begrifflichen Denkens. Das »Denken als besondere Wirklichkeit« eröffnet eine neue Dimension der Bewegungsfreiheit, es ist »Quelle und Geburtsstätte einer neuen Gestalt […] und zwar einer höheren Gestalt« des Welt- und Selbstbezugs32 , aber auch Möglichkeit, eine »Gemeinsamkeit der Bewusstsein[e]« durch »Übereinkunft mit anderen« zustande zu bringen (3.65). Es gehe zunächst darum, einen Inhalt, er »sei, welcher er wolle, in Bestandteile zu zergliedern und dieselben in Denkbestimmungen und Denkgestalten zu fassen«33 . Aber indem sich das Denken in diesen Operationen übt, geht es gleichzeitig darüber hinaus: »Die Bildung scheint zunächst rein formell zu sein, bringt aber auch eine inhaltliche Differenz hervor.«34 Denn sie ermögliche, über die Beschränktheit vorgefundener Meinungen hinauszugehen, über sie hinauszudenken. Hegel illustriert dies am konventionellen und beschränkten »Gerede von der Tugend«35 , dem er die Fähigkeit gegenüberstellt, durch Nachdenken über die Gründe das daran »Unreflektierte, das nur Faktische
30 31 32 33 34 35
Hegel (1955), S. 172. Hegel (1969), Jenaer Realphilosophie, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg, S. 242/43. Hegel (1955), S. 112. Ebd., S. 172. Ebd., S. 179. Ebd., S. 178.
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zur Reflexion über sich zu bringen« (ebd.). Übung im Denken, so die Hoffnung, entfaltet eine Art Eigendynamik, die das Feste und Starre vorgefundener, gedanklicher Konventionen auflöst, »und so erhält das Bewusstsein Gründe, sich von ihren Gesetzen loszusagen.« (Ebd.) Daraus entstehe die Konsequenz, dass »der gebildete Mensch ganz andere Forderungen macht«, dass »ein anderes Interesse, […] andere Bedürfnisse« entstehen.36 Mit anderen Worten erwartet Hegel allein schon von der Übung im Denken, im Weiterdenken und Zu-Ende-Denken eine kulturelle Dynamik, die zwar in die »Isolierung der Individuen« hineinführt (ebd.), schließlich aber in ein »Hervorgehen eines neuen Prinzips« mündet (ebd.). Insofern wird mit der Bildungspraxis ein neues und offenes Gelände betreten: »Bildung ist unbestimmt. Näher was der freie Gedanke gewinnen soll, das muss aus ihm selbst kommen, muss die eigene Überzeugung sein; es wird nicht mehr geglaubt, sondern untersucht.« (18.410) In Kategorien des Verallgemeinerbaren zu denken setzt den Willen zu diesen Verallgemeinerungsleistungen im Subjekt voraus und wird darüber zum Motor gesellschaftlicher Veränderung, da es beim Bestehenden nicht Halt macht; Hegel spricht an anderer Stelle vom »im Willen sich durchsetzende[n] Denken.« (7.72) Ausführlich illustriert Hegel diese Neubewertung des Denkens am Beispiel der antiken Sophisten, denen er zuschreibt, die ersten gewesen zu sein, die lehrten, sich »nicht mehr bloß durch Orakel oder durch Sitte, Leidenschaft, Empfindungen des Augenblicks« auf die Welt zu beziehen, sondern »durch Denken über die Verhältnisse« (18.410). Wo vorher Dichter und Rhapsoden als »allgemeine Lehrer« auftraten, ohne doch im eigentliche Sinne Unterricht zu erteilen, beanspruchten nun die Sophisten das »Amt der Bildung« auf den Marktplätzen (ebd.), denn sie stießen auf ein erwachendes »Bedürfnis der Reflexion«, »das Bedürfnis der Bildung durch Denken« (ebd.). Gegen den schlechten Ruf der Sophisten, »alle Grundsätze und Gesetze umzustoßen« (18.407), betont Hegel, dass sie die Ersten waren, die den Gedanken »auf weltliche Gegenstände angewendet und mit demselben alle menschlichen Verhältnisse durchdrungen haben« (18.409). Dies schloss ein, dass sie »die Wahrheiten des natürlichen Bewusstseins und die unmittelbar geltenden Gesetze und Grundsätze« infrage stellten (ebd.). Wenn sich aber das, »was der Vorstellung fest ist«, auflöst, beginnt die eigene Subjektivität umso wichtiger zu werden, sie tendiert dazu, »sich selbst zum Ersten und Festen zu machen und alles auf sich zu beziehen« (ebd.) – auch dies die Lehre der Sophisten. »Das Prinzip der modernen Zeit beginnt in dieser Periode.« (18.404) Knapp skizziert Hegel die Pragmatik dieses Bildungskanons: »Zur Bildung gehört, dass man mit den allgemeinen Gesichtspunkten bekannt ist, die zu einer Handlung, Begebenheit usf. gehören, dass man diese Gesichtspunkte und damit die Sache auf allgemeine Weise fasse, um ein gegenwärtiges Bewusstsein über das zu haben, worauf es ankommt.« (18.411) Ganz ähnlich charakterisiert er in der »Phänomenologie des Geistes« den »Anfang der Bildung und des Herausarbeitens aus der Unmittelbarkeit des substantiellen Lebens« (3.13), und mit ähnlichem versteckt abschätzigem Unterton, da es sich dabei um Fähigkeiten handelt, die lediglich ihrem Besitzer eine »schickliche Stelle« in der Konversation zusichern (3.14). Ähnlich heißt es in seiner »Vorlesung
36
Ebd., S. 179.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
zur Geschichte der Philosophie«: »Ein gebildeter Mensch weiß etwas über jeden Gegenstand zu sagen« (18.411), er beherrsche »die Kunst, gut zu sprechen.« (18.413) Diese Kunst bestehe vor allem darin, »dass dem Geiste gegenwärtig sind die mannigfaltigen Gesichtspunkte, dass ihm diese sogleich einfallen, dass er einen Reichtum von Kategorien hat, unter denen ein Gegenstand zu betrachten ist.« (Ebd.) Zusammengefasst gehe es um »Sittlichkeit, Geistesgegenwart, Sinn der Ordnung, Anstelligkeit des Geistes« (18.415). »Diese Bildung hat Griechenland den Sophisten zu verdanken.« (18.411) Aber Hegel meint kein zeitlich eingrenzbares, gar auf die Antike beschränktes Phänomen. Und was er hier als Bildung bezeichnet, ist für ihn nichts anderes, als die Vervollkommnung oder besser Verselbständigung einer bestimmten Seite des Denkens, nämlich der Entfaltung der verschiedenen Aspekte einer Sache und einer gewissen Geläufigkeit darin. Ein leicht ironischer Ton in der Darstellung dieses Bildungsprogramms ist bei ihm auch unüberhörbar, wenn er vom »Räsonieren« spricht bzw. darauf hinweist, dass »reflektierendes Räsonnement« in der Zeit der Sophisten vor allem die Aufgabe hatte, auf die Übernahme prestigeträchtiger Funktionen im Staat vorzubereiten (18.423, 424). Indem jemand lernt, »an einer Sache die vielfachen Gesichtspunkte herauszuheben«, lernt er auch, dasjenige besonders hervorzukehren, das dem Betreffenden »als das Nützliche erscheint« (18.412). Und das ist denn auch in Hegels Augen »der Vorwurf, der überhaupt die Bildung trifft« (18.420): Nach wie vor gebe es die Tendenz, »dass die Pflicht, das zu Tuende nicht aus dem an und für sich seienden Begriffe der Sache genommen wird; sondern es sind äußerliche Gründe, wodurch über Recht und Unrecht, Nützlichkeit und Schädlichkeit entschieden wird.« (18.422) Diese »ganze Welt der Bildung«, so sein Vorwurf, statte zwar mit Kompetenzen aus, die sich auf gesellschaftliche Anforderungen beziehen – die Kompetenz differenziert und aspektreich auf eine Sache einzugehen, sicher und urteilsfähig Stellung zu beziehen – aber nicht mit der Fähigkeit, den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen, ethische Entscheidungen zu treffen und für die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien einzutreten. Diese Betonung bestimmter kognitiver Funktionen, einer gewissen Wendigkeit im Herstellen von Zusammenhängen, Herausarbeiten von Hintergründen etc. auf Kosten prinzipiengeleiteter Urteile setzt Hegel einerseits – und in der Regel polemisch – mit Bildung gleich und verfolgt dieses eingeschränkte Bildungsverständnis bis zu den Sophisten zurück, andererseits konzediert er dieser Praxis, dass ihre Ziele dennoch weitergesteckt waren: Ihr Sinn lag in erster Linie in der »Durchbildung des natürlichen Bewusstseins« (3.37), d.h. in der Trennung geistiger Funktionen von einem Zustand, »worin der Mensch durch die Natur bestimmt ist und vom Äußeren abhängt.« (4.220/21) Denn das Ich wird von Hegel als Instanz gedacht, »die als solche keine Beschränkung, noch einen durch die Natur unmittelbar vorhandenen Inhalt hat« (4.296). Von vornherein bestand die Aufgabe darin, »das Individuum aus der unmittelbaren sinnlichen Weise zu reinigen und es zur gedachten und denkenden Substanz zu machen« (3.37). Voraussetzung dafür sei die kritische Durchmusterung der Bestände vorgefundener Vorstellungen. Nicht mehr solle gelten, dass »Subjekt und Objekt usf., Gott, Natur, der Verstand, die Sinnlichkeit usf. […] unbesehen als bekannt und als etwas Gültiges zugrunde gelegt« werden und dazu eigne sich am besten das »Analysieren einer Vorstellung […] als das Aufheben der Form ihres Bekanntseins.« (3.35) Denn das Bekanntsein
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von Vorstellungen ist das Gegenteil von Wissen. »Das Bekannte […] ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.« (3.35) Konventionelles Denken beschränke sich hingegen lediglich darauf »zu sehen, ob jeder das […] Gesagte auch in seiner Vorstellung findet, ob es ihm so scheint und bekannt ist oder nicht.« (3.35) Diese Loslösung von der bekannten Welt verlässlicher Tatsachen wird von Hegel als inneres Drama von erheblicher Tragweite dargestellt. Das, was Kant als eine überfällige und selbstverständliche Denkleistung einforderte: »Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«37 , wird von Hegel als Schritt in die Erfahrung einer »absoluten Zerrissenheit« wahrgenommen, gleichzeitig aber auch als Bedingung dafür, dass das Subjekt »sich selbst findet« (3.36). Denn in diesem neuen Verhältnis zu den Dingen entwickelt dieses Subjekt ein von Denkkonventionen abgesondertes »eigenes Dasein und abgesonderte Freiheit« (3.36). Diese Fähigkeit zur Distanz, die das »Denken als besondere Wirklichkeit«38 herstellt, bedeutet aber nicht nur einen Zuwachs an Autonomie, sondern zunächst eine Erschütterung, die Hegel mit dem Tod gleichsetzt, denn in beiden ist »die ungeheure Macht des Negativen« am Werk (3.36), eine Entwurzelung. »Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.« (3.36) Weniger aufgeladen, aber immer noch brisant genug lässt sich der von Hegel dargestellte Bruch als ein Riskieren oder sogar Aufkündigen bisheriger Identitätsmuster deuten, bewirkt dadurch, dass dem Ungedachten – Hegel sagt: dem Negativen – »ins Angesicht« geschaut, »bei ihm verweilt« werde (3.36). Dies allerdings sei »nur die eine Seite, noch nicht die vollendete Bildung.« (3.36) Die Gegenwart konfrontiere das Denken mit völlig neuen Anforderungen. Wenn es seit der Antike darum gegangen sei, »das Individuum aus der unmittelbaren sinnlichen Weise zu reinigen« (3.37), indem an die Stelle der Sicherheit unmittelbarer Gewissheiten das analytische Denken und die Reflexion gesetzt wurde, so genüge dies inzwischen nicht mehr. Zudem sei die »abstrakte Form« inzwischen selbstverständlich geworden, das Individuum finde dies als Forderung an sein Denken bereits vor und mache sie sich recht und schlecht zu eigen, mit dem Ergebnis, dass es dabei immer wieder nur zu Gedanken gelange, »welche selbst bekannte, feste und ruhende Bestimmungen sind.« (3.35) Dies mache zunächst ein »Aufheben der festen, bestimmten Gedanken« (3.37) nötig, was aber viel schwerer sei, als lediglich »das sinnliche Dasein« als letzten Ankerpunkt aller Gewissheiten in Frage zu stellen. Aufgabe von Bildung sei es nunmehr, »die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen.« (3.37) Was dies heißt zu entwickeln ist in gewisser Weise Aufgabe des gesamten folgenden Texts der »Phänomenologie«. Als Hinweis auf zumindest einen Aspekt des Gemeinten kann Hegels Verwendung des Worts »Begriff« gelten. Er ist für ihn keine jeweils vorgefundene, definitorisch festgelegte oder wissenschaftlich verabredete Bezeichnung, sondern identisch mit den stets aufs Neue wieder aufgenommenen Akten des Begreifens, die zugleich Arbeit des Auflösens verfestigter Denkmuster ist. Er ist das Resultat von Denkanstrengungen, die im Fluss sind, sich verändern und deshalb nicht Produkt, 37 38
I. Kant (1975), Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Werke in zehn Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 9.. Darmstadt, S. 53-61, hier S. 53. Hegel (1955), S. 113.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
sondern Prozess sind. Durch die Arbeit des Begreifens »gibt es […] nichts Niet- und Nagelfestes« (18.406) »Dies Feste – sei es nun eine Festigkeit des Seins oder Festigkeit von bestimmten Begriffen, Grundsätzen, Sitten, Gesetzen – gerät in Schwanken und verliert seinen Halt.« (Ebd.) Die subjektive Denkleistung wird auf dieser Stufe in der Geschichte des Bewusstseins »die absolute Macht« (ebd.).
6.6
Funktionen der Erinnerung
Hegel begreift seine Gegenwart als »Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode«. (3.18) Der Geist sei inmitten der »Arbeit seiner Umgestaltung«, bisherige Formen des Vorstellens hätten ihre Gültigkeit verloren. Bisher habe es bereits eine Ahnung gegeben, dass etwas sich verändere, ein »allmähliche[s] Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte« (ebd.), nun aber sei die Gegenwart geprägt vom »Aufgang« von etwas gänzlich Neuen. Bisher sei dafür erst »sein Grund gelegt« (3.19) und was dieses Neue ausmacht, muss sich erst noch entfalten. »Der Anfang des neuen Geistes ist das Produkt einer weitläufigen Umwälzung von mannigfaltigen Bildungsformen, der Preis eines vielfach verschlungenen Weges und ebenso vielfacher Anstrengung und Bemühung.« (Ebd.) Dazu gehört auch, dass die Stationen des bisher zurückgelegten »verschlungenen Weges« erinnert werden: Sie sind »Momente« in der Entwicklung zur jetzigen Form des Bewusstseins, und müssen »sich […] von neuem, aber in ihrem neuen Elemente« entfalten (ebd.). Denn der neue Geist kann nicht alles aus sich selber schöpfen; er ist angewiesen auf die bereits entwickelten Sinngebungen und das Neue ist insofern ein geschichtlich Gewordenes. Die Funktion der Erinnerung liegt insofern in einer Vergewisserung »der Erfahrung der früheren Geister« (3.591). Dabei hebt Hegel den Zusammenhang von »Erinnerung« und dem »Inneren«, dem »Insichgehen« hervor (3.590/91), dieser Akt des Herstellens einer inneren Beziehung zu vergangenen Begebenheiten führe dazu, »dass die Er-Innerung […] sie aufbewahrt« hat (3.591).39 Jedoch handele es sich bei den vorangegangenen historischen Entwicklungsphasen »als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen eines Wegs, der ausgearbeitet und geebnet ist« (3.32). Was einmal mühsame Errungenschaften waren (man denke an die Erfindung der Schrift oder der Grundrechenarten), erscheine jetzt wie eine Selbstverständlichkeit, »was in früheren Zeitaltern den reifen Geiste der Männer beschäftigte, [ist] zu Kenntnissen, Übungen und selbst Spielen des Knabenalters herabgesunken« (ebd.). In ihnen, so Hegel, werden »auch dem Inhalte nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes durchlaufen« und der Einzelne könne darin »die wie im Schattenrisse nachgezeichnete Geschichte der Bildung der Welt erkennen.« (Ebd.) Er begegnet darin den Überlieferungen seiner Kultur, die ihm zwar zunächst äußerlich erscheinen, aber in Wirklichkeit seine eigene »Substanz« bzw. seine »unorganische Natur« sind (Ebd.). Ein innerer Bezug zu diesen »schon abgelegte[n] Gestalten« entsteht, wenn es den Individuen gelingt, sich selbst dieser vergangenen Welt »einzuverleiben«40 – wohlgemerkt nicht etwa diese Welt sich einzuverlei39 40
Hegel schreibt Erinnerung hier tatsächlich mit großem Binnen-I nach einem Bindestrich. Hegel (1955), S. 109.
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ben, sondern sich ihr zuzueignen, sich ihr »anzubilden, […] gemäß zu machen.«41 In den »Gymnasialreden« findet Hegel dafür die Formulierungen »einheimisch werden«, »sich einhausen«, sich ihr »in Kost und Wohnung geben« (4.318). Dies, und nicht etwa »eigene Einfälle und Gedanken« im Umgang mit der Geschichte zu kultivieren sei vom Individuum zu fordern (4.332). In diesem Zusammenhang weist er auf Pythagoras hin, dessen Schüler während der ersten vier Lehrjahre zu schweigen hatten.42 Dies heiße jedoch nicht, so Hegel, dass »das Lernen sich auf ein bloßes Empfangen« zu reduzieren habe, vielmehr fördere der Verzicht auf ein vorschnelles »Räsonieren« einen Bildungsprozess, der auf die Fähigkeit, sich in ein Fremdes und Vergangenes hineindenken zu können, abzielt. Dennoch bindet Hegel die skizzierte Form des Erinnerns zugleich an die Entwicklung von Wissen. Zunächst ist Erinnerung vor allem die Vergewisserung, selbst Teil eines übergreifenden historischen Prozesses zu sein. In Betrachtung dieser unterschiedlichen Phasen in der Abfolge der Kulturen soll der Geist zunehmend ein Bewusstsein von sich selbst erlangen. Die Betrachtung der geschichtlichen Abläufe wird zur »Bewegung, die Form seines Wissens von sich hervorzutreiben« (3.586). Historische Fakten sind dabei nur die materiale Seite einer tiefer liegenden, eigentlichen Geschichte des Geistes, der eine »bestimmte Entwicklung seines Bewusstseins und seiner Wirklichkeit zu durchlaufen« hatte (10.347) und sich dieser Stufen erneut vergewissert. Hegel begreift diese Entwicklungsgeschichte als übergreifende Befreiungsgeschichte, die sich vermittels der Bewusstseinsprozesse der einzelnen Individuen, über ihre Bildungsgeschichte, vollzieht. Aber dies sei »eine träge Bewegung«, denn die Individuen müssen das historisch Geschehene in Wissen verwandeln, wobei »das Selbst diesen ganzen Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat.« (3.590) Möglich wird ein solches »Verdauen« vor allem durch Erinnern, d.h. durch ein Sich-Vertiefen in etwas, das wert ist erinnert zu werden, weil es von Relevanz für das eigene Selbstverständnis und das Verständnis der Gegenwart ist.43 Entscheidend sei, dass das Individuum »dieses Vorhandene erwerbe, seine unorganische Natur in sich zehre und für sich in Besitz nehme« (3.33). Diese »unorganische Natur« ist der Geist, und er ist nur in Gestalt seiner geschichtlichen Entwicklung und der Hinterlassenschaften, in denen er sich manifestiert hat, Waffen, Instrumente, Kunstwerke, präsent. »Der Geist ist die Natur der Individuen«, so Hegel in der »Jenaer Realphilosophie«44 , seine konkrete Gestalt gewinnt er über die Erinnerung an den bereits zurück gelegten Weg. Die »Bildungsstufen des allgemeinen Geistes« werden als objektiver, historischer Prozess vorgestellt, den »jedes Individuum in seiner Bildung […] 41 42
43
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Ebd. Für Hegel steht außer Frage, dass Bildungsprozesse auf Anleitung von außen, auf einen Lehrer angewiesen sind, der dann auch diesen Ablauf reguliert und dominiert. Diese Rolle der Führung verrät schon die Formulierung, mit der er seine bildungstheoretischen Ausführungen in der »Phänomenologie des Geistes« eröffnet: Es sei »das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte aus zum Wissen zu führen« (3.31). Ähnlich formuliert Jan Assmann: »Das Gedächtnis rekonstruiert nicht nur die Vergangenheit, es organisiert auch die Erfahrung der Gegenwart und Zukunft.« (J. Assmann (1992), Das kulturelle Gedächtnis. München, S. 42). Hegel (1969), Jenaer Realphilosophie, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg, S. 242.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
durchlaufen muss«45 , und zwar in der Rückschau. Es gibt den Gesichtspunkt der kulturellen Kontinuität, den Hegel vor allem in den »Gymnasialreden« unterstreicht: Die Vergangenheit sei »ein Schatz der Bildung, der Kenntnisse und Wahrheiten, an welchem alle verflossenen Zeitalter gearbeitet haben« und der »zu erhalten und der Nachw (elt zu überliefern« sei (4.307). Aber daneben steht eine andere Bedeutung, die Hegel dem Erinnern gibt: »Das Ziel ist die Einsicht des Geistes in das, was Wissen ist.« (3.33) Das Vergangene ist nicht lediglich eine Stufenfolge, die in die Gegenwart führt, sondern muss im Wissen präsent gehalten werden. »Das Objektive in dem Werk ist also nur dies, dass es gewusst wird […]; ohne den Gedanken hat es keine Objektivität«, formuliert Hegel an anderer Stelle46 . Dazu muss der Gegenstand die Gestalt von etwas »Fremdartigen« haben, denn nur dies erfordert »Anstrengung der Vorstellung«, die Bereitschaft, »sich mit einem Nicht-Unmittelbaren, […] mit etwas in der Erinnerung, dem Gedächtnisse und dem Denken Angehörigen zu beschäftigen.« (4.321)47 Über die Vergewisserung der »vom Geiste schon abgelegten […] Stufen« (3.32) konstituiert sich in der Gegenwart eine eigenständige Sphäre des Denkens und des Gedachten und sie ist eine Realitätsdimension eigenen Rechts, sogar eine gesellschaftliche Macht, wenn sie zur Wissenschaft wird. In ihr manifestiert sich eben jene »Natur der Individuen« (s.o.), die sich als Sphäre des Denkbaren und Gedachten zeigt. Sie ist jedoch nicht selbstverständlich den Individuen gegeben, sondern nur in ihnen angelegt, Produkt von Bildungsprozessen, die im Verlaufe der Geschichte eine immer noch weiter zunehmende Bedeutung erhalten haben. Geradezu in den Mittelpunkt solcher Bildungsgänge stellt Hegel die Erfahrung des Fremdartigen und damit das »Selbsterkennen im Anderssein« (3.29), das er zur Voraussetzung von jedem Wissen erhebt. Da Hegel die gesamte Geistesgeschichte als Aufstiegsgeschichte zu einem immer differenzierteren und objektiveren Wissen versteht, von dem er glaubt, dass es zu seiner Zeit in eine neue Form der Wissenschaftlichkeit mündet, erscheint es ihm sinnvoll, dass in jeder individuellen Bildungsgeschichte diese Abfolge der in der Geschichte entwickelten Wissensformen aufs Neue durchlaufen und angeeignet wird. Eine ausformulierte Begründung dafür findet sich abermals in den »Gymnasialreden«: »Bildung muss einen früheren Stoff und Gegenstand haben, über den sie arbeitet, den sie verändert und neu formiert.« (4.320) Diesen Stoff finde sie vorzugsweise in den Werken der »Alten«, da nirgendwo sonst »soviel Vortreffliches, Bewunderungswürdiges, Originelles, Vielseitiges und Lehrreiches vereinigt« ist (4.319). Hatte er zuvor die Wichtigkeit des Sich-Hineindenkens in das Fremde betont, so unterstreicht er nun das aktive, selbsttätige Weiterdenken: Wichtiger als die Bewunderung sei ein Umgang mit der Vergangen45 46 47
Hegel (1955), S. 143. Hegel (1955), S. 137. Hegel versucht das Unverständliche und Unzugängliche, das ja auch zum »Fremdartigen« gehört, in den »Gymnasialreden« Schülern dadurch schmackhaft zu machen, dass er das »Begehrenswerte« des Fremden im Sinne des Exotischen herausstellt und es mit der »ferne[n[, fremde[n] Welt« gleichsetzt (4.321). Aber so schön und wohl auch richtig seine Rede von einem »Zentrifugaltrieb der Seele« ist (ebd.), der dieses Begehren antreibe, so unterschlägt er dabei, dass sich die Begegnung mit dem Fremdartigen möglicherweise darin erschöpfen kann, dass es sich einem nicht erschließt und es beim bloßen und erfolglosen Sich-Abmühen bleibt. Nicht immer steht am Ende von »Entfremdung« ein um neue Erfahrungen bereicherter »Rückweg« in die Sicherungen des Selbst.
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heit, der »verändert und neu formiert«. Wissen soll so wenig auf »Erbaulichkeit« wie »bloße Nützlichkeit« zielen, denn dann wäre es auf »das Geistige nur als Mittel« gerichtet (ebd). Sondern es soll das Vorgefundene umgestalten und neu denken, anstatt es zu reproduzieren, nachzuahmen, zu verehren und lediglich zu bewahren. Hegel geht sogar so weit zu sagen, dass die »weitere Arbeit gegen die erstere gerichtet« sein müsse, dass es zwar zunächst um bloße Aufnahme und Wiedergabe gehe, dies dann aber selbstständig weitergedacht werden müsse (4.320)48 . Dabei geht es um die Erfahrung von Differenz und nicht lediglich die Rekonstruktion geschichtlicher Stufen aus dem Wissen der Gegenwart. Geradezu verhindern möchte Hegel die Identifikation mit Aspekten des Anderen, die dadurch, dass sich das Individuum in ihnen wiederzuerkennen sucht, in ihrer Fremdheit überbaut und gemildert werden würden. Sondern kraft seines Denkens soll das Individuum sein Verhältnis zum Anderen vor allem über den Unterschied, über Getrenntsein, das Inkommensurable bestimmen. Selbstbezug und Selbsterkennen entsteht dadurch, dass die eigene Unterschiedenheit denkend erfasst wird und das Individuum über sie sich begreift.49
6.7
»Umgestalten der Seele«
Zur Urgeschichte der Selbstthematisierung gehört in christlich-europäischen Kulturen der Gegensatz zwischen Vernunft und Sinnlichkeit oder Geist und Fleisch, wie die Lutherbibel sagt. Hegel geht davon aus, dass dieser Widerstreit »am schärfsten durch die neuere Bildung […] ausgeführt und auf die Spitze des härtesten Widerspruchs hinaufgetrieben« wurde (13.80), denn »die moderne moralische Ansicht« habe einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen dem, »was man zusammengefasst Gemüt und Herz nennt«, und der Notwendigkeit hergestellt, sich von der Einsicht in die eigenen Pflichten leiten zu lassen (13.79/80). Hegel geht davon aus, dass sich der Mensch seiner Zeit in diesem als unlösbar angesehenen Gegensatz zwischen »Naturtrieben« und »ewigen Ideen« eingerichtet habe, der ihn »zur Amphibie macht, in dem er nun in zwei Welten zu leben hat, die sich widersprechen.« (13.80/81) In Hegels Terminologie wird dieser Gegensatz zum Widerspruch zwischen individuellen Einzelinteressen und dem Allgemeinen der Vernunft, zwischen dem sich im Menschen verwirklichenden Geist und bloßer menschlicher »Natur«. Aber dieser Konflikt gehöre nicht zur unabänderlichen Grundausstattung des Menschen, sondern sei nur deshalb ein immer wiederkehrendes Dilemma, weil dies nicht als Aufgabe verstanden worden ist, die jeder Einzelne für sich lösen muss: Denn er »ist nicht von Natur, was
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Ähnlich spricht Aleida Assmann vom Erinnern als »Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufung.« (A. Assmann (1999), Erinnerungsräume. Formen und Funktionen des kulturellen Gedächtnisses. München, S. 29). »Das Beisichsein des Geistes, dies Zusichselbstkommen desselben kann als sein höchstes, absolutes Ziel ausgesprochen werden. Nur das will er und nichts anderes. Alles, was im Himmel und auf Erden geschieht […], strebt nur danach, dass der Geist sich erkenne, sich sich selbst gegenständlich mache, sich finde, für sich wird, sich mit sich zusammenschließe. Er ist Verdoppelung, Entfremdung, aber um sich selbst finden zu können, um zu sich selbst kommen zu können.« (18.41/42).
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
er sein soll.« (4.258) In einer Randnotiz seines Vorlesungsmanuskripts der »Jenaer Realphilosophie« vermerkt Hegel: »Dies [ist] die Bildung überhaupt: Entäußerung seines unmittelbaren Selbsts.«50 Anders gesagt: »Bildung ist, das Allgemeine im Individuum zu realisieren.« (11.535)51 Die Auflösung des vormals der conditio humana zugeschlagenen Widerspruchs wird mithin der Bildung zugewiesen. Gefordert sei ein »Umgestalten der Seele« (10.71). Als Ergebnis dieses Transformationsprozesses soll ein Mensch Gestalt annehmen, »der all seinem Tun den Stempel der Allgemeinheit aufzudrücken weiß, der seine Partikularität aufgegeben hat, der nach allgemeinen Grundsätzen handelt. Die Bildung ist Form des Denkens; näher liegt hierin, dass der Mensch sich zu hemmen weiß, nicht bloß nach seinen Neigungen, Begierden handelt, sondern sich sammelt.«52 Hegels Darstellung der Lösung des damit heraufbeschworenen inneren Konflikts schwankt dabei zwischen Konzessionen an die Wahlfreiheit des Individuums, welchen Weg es dabei einschlagen will53 , strikten normativen Vorgaben54 und der Konzeption eines Vermittlungsprozesses, der sich unter der Leitung der in der Geschichte verwirklichenden Geistinstanz an den und durch die Individuen vollstreckt, »und diese Vermittlung sei keine bloße Forderung, sondern das […] stets sich Vollbringende.« (13.81/82) Denn es gebe ein übergeordnetes »Interesse« des geistigen Prinzips, das dem Einzelnen nicht zu Bewusstsein komme, aber am Geschichtsziel der verwirklichten Vernunft arbeite (vgl. 7.343). Dabei fällt auf, dass normative Anweisungen, die auf die Unterwerfung, wenn nicht gar Vernichtung der Unmittelbarkeit zielen, breiten Raum einnehmen. Dies beruht auf einer scharfen Frontstellung gegenüber dem Menschenbild, das mit der Rezeption Rousseaus auch im deutschen Bildungsbürgertum an Boden gewonnen hat und das zu der »verbreitete[n] Ansicht« geführt habe, dass der »Wille des Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür die substantielle Grundlage und das Erste sein soll. Nach diesem […] Prinzip kann das Vernünftige freilich nur als beschränkend für diese Freiheit […] herauskommen«, eine »Ansicht […], deren Fürchterlichkeit nur an der Seichtigkeit der Gedanken, auf die sie sich gründeten, eine Parallele hat.« (7.80/81) Es ist für Hegel selbstverständlich, dass Bildungsprozesse nur über ein »Aufheben des natürlichen Selbsts« (3.364) führen können; der Mensch »muss aus dem Natürlichen heraus« (4.261),
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Hegel (1969), Jenaer Realphilosophie, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg, S. 243, Anm. 3. Für Hegel ist das Individuelle das Partikulare, Zufällige, Unvollständige. Wie kontrovers jedoch die Bewertung des Einzelnen zu seiner Zeit ist, ist bereits anhand der Schriften Humboldts deutlich geworden, zeigt sich aber auch an Novalis’ fast zeitgleicher Forderung, dass die Sinne lernen müssen, immer noch genauer das Individuelle auffassen zu können: »Je mehr sich unsere Sinne verfeinern, desto fähiger werden sie zur Unterscheidung der Individuen. Der höchste Sinn wäre die höchste Empfänglichkeit für eigentümliche Natur.« (Novalis (1960), Blütenstaub, Fragment 73, Schriften, Bd. 2, hg. v. R. Samuel, Stuttgart, S. 441). Hegel (1955), S. 65. »Welcher Zweck ihm gelten soll, hat er zu bestimmen; er kann das ganz Allgemeine selbst zu seinem Zweck setzen. Was ihn dabei determiniert, sind die Vorstellungen von dem, was er sei und was er wolle. Hierin liegt die Selbstständigkeit des Menschen.« (Hegel (1955), S. 57). Bildung ist dann »Unterwerfung des Individuums unter sein allgemeines geistiges Wesen« (4.62).
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»das Natürliche abschütteln«55 , seine vernünftige Seite »zur Herrschenden machen« (4.258)56 . Diese Haltung ist nicht nur polemisch gegen alle Rousseauisten gerichtet, sondern auch gegen aktuelle Strömungen, wie sie sich in der Romantik zeigen. Aber Hegels Begründung macht weder Anleihen beim zu seiner Zeit verbreiteten Utilitarismus, noch ist für ihn »Natur« aufgrund ihrer Bedrohlichkeit zu unterwerfen57 , sondern er soll sich von ihr befreien, indem er sich verwandelt. Einflüsse des Pietismus mögen eine Rolle spielen, obwohl Hegels Denken sich scharf von dessen Gefühlskult abgrenzt. In einem Aspekt ist er ihm gleichwohl nah – dem der pietistischen Selbstauslöschung als Ziel der Selbsterforschung. Auch im Pietismus steht die eigene »Natur«, ja sogar Individualität der Erhebung des Geistes im Wege. Andererseits erscheint Hegel auch Naturerkenntnis gegenüber der Erkenntnis des Geistes schlichtweg irrelevant, und so polemisiert er denn auch gegen die sich zunehmend auf empirische Forschung stützende Wissenschaftsauffassung seiner Zeit, sie gehe »nur auf Kenntnisse und [das], was ist und was gewesen ist – eine Masse empirischen Stoffs, wo die Entdeckung einer neuen Gestalt, eines neuen Wurms oder sonstigen Ungeziefers und Geschmeißes für ein großes Glück gehalten wird.« (18.406/07) Aber welche Erwartungen verknüpft Hegel mit dieser »Erhebung zur Allgemeinheit« des Geistes (3.36)? An unterschiedlichen Phänomenen das ihnen Gemeinsame herauszuarbeiten und so zu einem Allgemeinen vorzustoßen ist Für Hegel eine zentrale Leistung des Denkens, das damit eine Realität eigenen Rechts, nämlich der allgemeingültigen Prinzipien, der Gesetzesaussagen, der Denkbestimmungen konstituiert. Das »Denken als besondere Wirklichkeit« soll so Gestalt annehmen.58 Dazu ist zunächst eine »Objektivierung des Empfundenen« die Voraussetzung (10.250). Das Partikulare, so Hegel, verstelle den Blick auf das Wesentliche, und das Wesentliche sei das Notwendige und geschichtlich Wirkmächtige. Es lasse sich nicht an den Oberflächen der Dinge ablesen. Zunächst werde die Gegenstandswelt »als Gegebenes, Unmittelbares, Autorität« wahrgenommen, als »Schranke für das denkende Subjekt«.59 Sie zu überwinden erfordere, sich von der Unmittelbarkeit dieser Eindrücke zu distanzieren (und damit zugleich von sich selbst als Ich, das in der Gewissheit der Empfindung lebt): Dies ist für Hegel die zentrale Aufgabe alles Bildungsprozesse. »Auflösung durch den Gedanken«, nennt Hegel diese Distanzierungsleistung (ebd.). »Der Gedanke als Allgemeines ist auflösend; […] was vorher nur in konkreter Einzelheit bestand, wird in Form der Allgemeinheit
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Hegel (1955), S. 58. Ähnlich die Formulierung »aus der Natürlichkeit heraustreten« (17.252), die Forderung, dass der Mensch »seine Unmittelbarkeit und Natürlichkeit bricht« (Hegel (1955), S. 57), »seiner Natur […] gegenübertritt, in diese Trennung tritt« (17.252). Durchaus doppeldeutig, auf jeden Fall pointiert formuliert Hegel, man sehe zwar »den Menschen […] von der Natur bedrängt, in die Materie, sinnlichen Zwecke und deren Genuss verstrickt […], andererseits erhebt er sich zu ewigen Ideen, entkleidet die Welt von ihrer belebten, blühenden Wirklichkeit und löst sie zu Abstraktionen auf, indem der Geist sein Recht und seine Würde nun allein in der Rechtlosigkeit und Misshandlung der Natur behauptet, der er die Not und Gewalt heimgibt [im Sinne von: zurückgibt, RB], welche er von ihr erfahren hat.« (13.81). Hegel (1955), S. 113. Ebd., S. 179.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
verarbeitet.« (Ebd.) Diese Arbeit an der Gegenstandswahrnehmung legt anders als bei Kant wesentliche Merkmale frei, die den Dingen selbst zukommen; es gibt für Hegel nicht die Schranke, die das Subjekt von einem unerkennbaren Ding-an-Sich trennt, da beide Emanationen desselben Logos sind. Jedoch ist die Verallgemeinerung für Hegel nicht nur Erkenntnisform, sondern soll in Praxis münden. »Diese Auflösung durch den Gedanken ist nun notwendig zugleich das Hervorgehen eines neuen Prinzips.«60 In der Leistung der Verallgemeinerung werden nämlich einerseits Eigenschaften der Gegenstandswelt aufgenommen, andererseits zeigt sich darin »auch ein Neues, eine weitere Bestimmung […] Der Geist, wie er jetzt bestimmt ist, hat weitere Interessen und Zwecke, […] und dadurch […] sind andere Bedürfnisse entstanden.« (Ebd.) Denken des Allgemeinen soll ein verändertes Verhältnis zur Welt und einen veränderten Selbstbezug ermöglichen. Veränderte Interessen und Bedürfnisse führen zu »ganz andere[n] Forderungen« (ebd.). Hegel illustriert dies – freilich recht verklausuliert – am Beispiel von Eigentumsverhältnissen aus der Perspektive der Leibeigenschaft (ebd.). Sowie der Leibeigene gelernt hat auf seine Denkfähigkeit zu vertrauen, ermöglicht ihm dies veränderte Sichtweisen. Sein Denken zeigt ihm, dass sein Eigentum am Land nicht gleichzeitig Eigentum eines anderen sein kann, nur weil dieser übergeordnete Besitzansprüche auf Grund seiner Macht anmeldet. Es ist sein Begreifen, was Eigentum ist, das ihn über den gegenwärtigen Stand hinaustreibt, es ist Produzent neuer Einstellungen, führt zu einem geschärften Bewusstsein seiner Lage.61 In Kategorien des Allgemeinen denken zu lernen hat insofern nicht nur eine logische Seite, sondern auch eine soziale. Vernünftig ist, nicht nur das gelten zu lassen, was dem eigenen Interesse entspricht, sondern das, was sich als Allgemeines und allen Gemeinsames zeigt. In einer zentralen Passage seiner »Rechtsphilosophie« erhebt Hegel Bildung zum entscheidenden Medium einer Vermittlung zwischen dem Recht des Einzelnen, seine »Besonderheit frei zu lassen« (7.343), und der Verwirklichung von »Gemeinsamkeit« (7.339). Hegels Gedankengang setzt an bei einer Charakteristik der bürgerlichen Gesellschaft: Sie basiere zwar auf der Gemeinsamkeit der Interessen, aber dies sei jeweils das Interesse an der Durchsetzung eigener, höchst individueller Bedürfnisse. Diesen Individualismus höchst privater Ziele und Zwecke sieht Hegel als eher problematisches Prinzip der bürgerlichen postfeudalen Gesellschaft an – aber es sei gleichzeitig eingebettet in einen sozialen Zusammenhang mit anderen Individuen. Diese Anderen sind die ebenfalls ihre privaten Interessen verfolgenden Mitbürger. »Aber ohne Beziehung auf Andere, kann er [der Bürger, RB] den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese Anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen.« (7.339/40) Dies etabliere – fast wie ein Automatismus – ein »System allseitiger Abhängigkeit« (7.340): Der Einzelne befriedige seine Wünsche, »indem er zugleich das Wohl der anderen mit
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Ebd. Vgl. Hegel (1969), S. 179. So schlagkräftig dieses Beispiel zugunsten eines Denkens als »Erhebung zur Allgemeinheit« ist, so muss doch danach gefragt werden, worüber es sich eigentlich erhebt. Denn was hier zum Partikularen erklärt wird, zum bloß Individuellen, wird zugleich aus dem Denken ausgeschlossen.
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befriedigt« (ebd.), und durch diese Beziehung auf andere, durch die, wiewohl konflikthafte, Ähnlichkeit der (bürgerlichen) Interessen und die gegenseitige Beschränkung bei deren Verwirklichung entstehe Allgemeinheit, so Hegel. Jeder hat das andere Gesellschaftsmitglied zur Bedingung seiner eigenen gesellschaftlichen Existenz, obwohl er meint, »sich das andere vom Leibe« zu halten (7.341). Unter dieser Perspektive ist das gesellschaftlich Allgemeine nicht auf die Bildungsprozesse der Einzelnen angewiesen, es setzt sich von alleine durch. Und entstünde auf diese Weise nicht ein Allgemeines, so würden die Einzelinteressen in ihrer Maßlosigkeit sich selbst und gegenseitig zerstören. Wo diese Balance kippt, bietet die »bürgerliche Gesellschaft […] das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar.« (7.341) Aber die individuelle Besonderheit dürfe dennoch nicht – wie dies im Platonischen Staat geschieht – unterdrückt werden. Hegel spricht vom »unendlichen Rechte der Idee […], das Besondere frei zu lassen«, das als »Recht der Subjektivität« auch Bestandteil der christlichen Religion sei (7.343). Selbst auf der Basis dieses »Prinzip[s] der Besonderheit« sei es den Vereinzelten möglich, zu so etwas wie formaler Allgemeinheit der Interessen zu finden, jedoch nicht aus freien Stücken, sondern aus Notwendigkeit. Das Allgemeine wird zumindest als Mittel, seine privaten Zwecke zu erreichen, für diese bürgerlichen Subjekte erstrebenswert. Es bringt sie dazu, »ihr Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise [zu] bestimmen und sich zu einem Gliede der Kette dieses Zusammenhangs [zu] machen.« (Ebd.) Sie lernen in Kategorien des Allgemeinen und Verallgemeinerbaren zu denken und sehen sich in einen Prozess verwickelt, der darauf abzielt, sie »durch die Willkür der Bedürfnisse zur formellen Freiheit und zur formellen Allgemeinheit des Wissens und Wollens zu erheben, die Subjektivität in ihrer Besonderheit zu bilden« (ebd.), und zwar dazu zu bilden, in Kategorien des Allgemeinen zu denken. Dazu müsse zunächst »die Unmittelbarkeit und Einzelheit, in die der Geist versenkt ist, weggearbeitet« werden« (7.344). Dies sei die Aufgabe der Bildung: Sie sei nicht bloßes Mittel zum Zweck, um auf der sozialen Stufenleiter voranzukommen, ihr Sinn sei nicht, »etwas nur Äußerliches« zu erreichen (ebd.). Sondern jenes übergeordnete Vernunftprinzip, von dem Hegel ausgeht, dass es sich in der Geschichte verwirklicht, verschafft sich Realität durch die beschränkten Interessen der Gesellschaftssubjekte hindurch, die nur auf »Äußerlichkeit« gerichtet seien. Diese Äußerlichkeit der Interessen ist in Hegels Konzeption geradezu das Vehikel, über das das viel weitere reichende Vernunftprinzip Realität erlangt, da nun die Unmittelbarkeit des Einzelnen »die Vernünftigkeit, der sie fähig ist, erhalte« (ebd.), nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht lässt sich Bildung an dieser Stelle der Hegelschen Argumentation als Bereitschaft verstehen, eine Reflexionsschleife einzubauen zwischen der Unmittelbarkeit eigener Bedürfnisse und den Handlungen anderer, eine Reflexion, die übergreifende Gesichtspunkte miteinbezieht. Mit der Erweiterung seines Horizonts beim Versuch, seine Interessen zu verwirklichen, erwirbt sich dieses Subjekt neue Fähigkeiten, sich denkend auf die Welt zu beziehen, und insofern dies vor allem die Fähigkeit ist, in Kategorien verallgemeinerbarer Interessen zu denken, überschreitet es seine bisherige eingeschränkte Perspektive. Das Vernunftprinzip ist, so Hegel und mit ihm alles Denken im Zuge der Aufklärung, auf Freiheit angelegt. Und in der Durchsetzung seiner partikularen Interessen, »diesem seiner Bestimmung zur Freiheit an sich fremden Elemente« trifft es auf ein Denken,
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
dem es »sein Siegel aufgedrückt und [das] von ihm produziert ist.« (Ebd.) Das Vernunftprinzip treibt das eingeschränkte Denken über seine bisherigen Grenzen hinaus und produziert seine viel weitergehende Perspektive aber in diesem Medium. Ort dieses Produktionsprozesses ist Bildung. »Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt des Allgemeinen erhobenen […] Sittlichkeit. Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde, sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens.« (7.344/45) Ziel dieser Bildungsprozesse ist »Verständigkeit«, ein Begriff, den Hegel hier gleich zweimal benutzt, noch nicht im eigentlichen Sinne Vernunft, aber auf dem Wege dorthin, nämlich unterwegs dazu, dass man durch die »Arbeit der Bildung […] in sich die Objektivität gewinnt«, die das Vernunftprinzip repräsentiere (7.345). Allgemeinheit – in gegenwärtiger Terminologie würde man vielleicht von universalistischen Perspektiven sprechen – ist damit keine abstrakte Forderung mehr, da sie sich in den Inhalten, den konkreten Problemen der Individuen, materialisiert. Gleichzeitig gebe sie sich, wie Hegel hofft, damit auch »ihre unendliche Selbstbestimmung«, weil sie darin »unendlich fürsichseiende, freie Subjektivität ist.« (Ebd.) Vernunft, ein absolutes Prinzip, steigt vom Ideenhimmel herab und transformiert sich in verständiges und verständigungsorientiertes Handeln.62 »Dies ist der Standpunkt, der die Bildung als immanentes Moment des Absoluten und ihren unendlichen Wert erweist«, beschließt Hegel diesen Passus (ebd.) und wendet damit doch wieder den Blick ab von den Bedingungen dieser Transformation und hin zur Beschwörung eines Absoluten als einziger Instanz, die menschlichem Handeln Wert verleiht. Geist ist seine Erscheinungsform, sie manifestiert sich im menschlichen Denken, aber letztlich ist für Hegel dieser Mensch nur dessen Statthalter, durch ihn werde dem Geist auf Erden zur Realisierung verholfen. Was für den Einzelnen gilt, ist auch das Ziel des absoluten Geists, nämlich dass er »sich erkennt, sich fasst, sich Gegenstand ist, wie er an sich selbst ist, zur vollkommenen Erkenntnis seiner selbst kommt, dies Ziel ist erst sein wahrhaftes Sein.« (17.79) Darin erst, so nicht nur Hegels Überzeugung, sondern die der gesamten Philosophie des Idealismus, verwirkliche sich Freiheit, da dieses Selbstbewusstsein alle Abhängigkeit von etwas außer sich abgelegt habe – aber was ist dies für eine Freiheit, wird nach dem Ende des Idealismus gefragt werden, wenn doch alles, was den Menschen in seiner Besonderheit ausmacht, diesem zum Absoluten verselbständigten Geistprinzip untergeordnet wird?
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»Verständigung« ist eine Kategorie, die in Hegels Gedankengängen kaum eine Rolle spielt. Nicht zufällig ist die einzige Interaktionsform, die er genauer durchdenkt, der Kampf und seine Folge, die Furcht. Rückblickend darauf lässt aus der kommunikationstheoretischen Perspektive der Gegenwart »Verständigkeit« aber kaum ablösen von Verständigung und dies wurde zumindest vom frühen Hegel mitbedacht (vgl. J. Habermas (1985), Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M., S. 54).
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»Unterwerfen« und »richten«: Institutionalisierte Bildung
In welchem Verhältnis pädagogisches Handeln zu dem Bildungsverständnis steht, das Hegels philosophischen Schriften zugrunde liegt, wird von ihm durchaus thematisiert, nämlich in seiner Rolle als Rektor des Egidien-Gymnasiums in Nürnberg. »Die fünf Gymnasialreden, die Hegel als Rektor des Nürnberger Gymnasiums von 1809-1815 gehalten hat, geben in Kürze und Einfachheit eine vollständige Vorstellung seiner Bildungsidee«, so Löwith.63 Dabei wird deutlich, dass hier »Bildung« nicht etwa Gegenspieler zu Konzepten von »Erziehung« ist, charakterisierbar durch Selbstbestimmung im Gegensatz zu äußerer Einwirkung. Sondern mit dem Beginn jener Moderne, die, »ein Blitz, auf einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt« (3.19), und die Hegel vor allem als Verwissenschaftlichung des Weltbezugs begreift, braucht Bildung eine neue Aggregatform planmäßiger, institutionalisierter Gestaltung, die den systematischen und für alle zugänglichen Aufbau von Wissen ermöglicht und in der sich Bildungs- mit Erziehungswirkungen verbinden. Anders als sein zeitweiliger Kollege an der Berliner Universität Schleiermacher hält Hegel jedoch zu keinem Zeitpunkt Vorlesungen über Pädagogik und seine Vorlesungen zur Rechtsphilosophie finden keine Entsprechung in Reflexionen zur Rolle des Staats für die Organisation von Bildungsprozessen, obwohl dies Anfang des 19. Jahrhunderts ein Thema ist, das auf Lösung drängt. Dies wurde bereits anhand der Darstellung der Schul- und Universitätsreformen Humboldts deutlich: Ein durchstrukturiertes Schulsystem verbunden mit Schulpflicht wird als Agentur zur Durchsetzung von Modernisierungsprozessen zumindest in Teilen von Preußen angesehen. Dies hängt zum einen mit der beginnenden Verwissenschaftlichung und Technologisierung der Produktionssphäre zusammen; ausschlaggebend ist dann aber der verlorene Krieg gegen Napoleon, da die Gründe der Niederlage in lange verschleppten Reformen gesucht werden. All dies führt um 1800 zu einem neuen Interesse des Staats an einer verbindlichen Grundbildung seiner Untertanen und damit nicht nur zum Aufbau eines flächendeckenden durchstrukturierten Schulsystems, sondern, noch wichtiger, zur Durchsetzung von Schulpflicht. Hegels Interesse an Schule beruht auf der Einsicht, dass die neuen Anforderungen, die die beginnende Moderne stellt, vor allem auf eine systematische Entwicklung der Bewusstseinsfunktionen der Individuen hinauslaufen müssen und dass dies für die Einzelnen eine Zäsur in Bezug auf die Unmittelbarkeiten des natürlichen Bewusstseins bedeutet. Mit Nachdruck verweist Hegel deshalb auf den Sonderstatus der Schulbildung, nämlich dass sich Bildung, wie er sie versteht, auf die Ausbildung kognitiver Vermögen und den Abschied von der Unmittelbarkeit des Selbstbezugs konzentrieren muss. Ihre Aufgabe besteht darin, die Heranwachsenden aus den Selbstverständlichkeiten des Lebens in der Familie herauszulösen und sie einem Regime planmäßiger, institutionell organisierter Schulung zu unterstellen. Auch dies gehört zum »Umgestalten der Seele« (10.71). Die Schule wird dazu ausersehen, das Individuum mit Erfahrungen zu konfrontieren, die es in der Familie und in traditionellen, familiär geprägten Ausbildungsver63
Karl Löwith (1978), Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Hamburg, S. 312.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
hältnissen nicht machen kann. Familie nämlich ist durch ein »persönliches Verhältnis« geprägt, durch ein »Verhältnis der Empfindung, der Liebe, des natürlichen Zutrauens«, das »ohne Verdienst« gewährt wird (4.349). In der »Welt« hingegen gilt ein Individuum »durch das, was es leistet«, »hier gilt die Sache, nicht die Empfindung und die besondere Person.« (Ebd.) In der Gesellschaft gilt »der Mensch […] nach den Geschicklichkeiten und der Brauchbarkeit für eine ihrer Sphären« (ebd.). Als Aufgabe der Schule definiert Hegel, dass sie Unterrichtsgegenstände zu offerieren habe, »wodurch der Geist des Kindes immer mehr über das Sinnliche, Einzelne zum Allgemeinen, zum Denken erhoben wird. Dies Befähigtwerden zum Denken ist der größte Nutzen des ersten Unterrichts. […] Dies geschieht durch die Schule in weit höherem Grade als in der Familie. In der letzteren gilt das Kind in seiner unmittelbaren Einzelheit, wird geliebt, sein Betragen mag gut oder schlecht sein. In der Schule dagegen verliert die Unmittelbarkeit des Kindes ihre Geltung; hier wird dasselbe nur insofern gesehen, als es Wert hat, als es etwas leistet; hier wird es nicht mehr bloß geliebt, sondern nach allgemeinen Bestimmungen kritisiert und gerichtet, nach festen Regeln durch Unterrichtsgegenstände gebildet, überhaupt einer allgemeinen Ordnung unterworfen, welche vieles an sich Unschuldige verbietet, weil nicht gestattet werden kann, dass alle dies tun. So bildet die Schule den Übergang aus der Familie in die bürgerliche Gesellschaft.« (10.82/83) Sie ist »die Mittelsphäre, welche den Menschen aus dem Familienkreise in die Welt herüberführt« (4.349). Hegel macht deutlich, dass die in dieser Form neue bürgerliche Gesellschaft mit neuartigen Identitätszumutungen einhergeht – Identitätsmodelle der Familie gelten nicht umstandslos in der Schule und umgekehrt. Wenn sich das Individuum mit keiner dieser Sphären restlos identifiziert, wird es mit deren divergierenden Verhaltensanforderungen am besten zurechtkommen. Früh lernt das zukünftige Gesellschaftssubjekt so zwischen verschiedenen Verhaltensmodellen zu unterscheiden, es lernt in keinem von beiden seine Identität ganz aufgehen zu lassen, sondern ein Verhältnis mehr oder weniger großer Distanz zu beiden Sphären aufzubauen.64 Klarsichtig bezeichnet Hegel dies als »die zweifache Existenz« des Schülers, »in welche sein Leben überhaupt zerfällt und zwischen deren in Zukunft härteren Extremen er es zusammenzuhalten hat.« (4.350) Hegels weitgehende Verengung des Bildungsbegriffs auf Leistungen des Denkens erhebt die Fähigkeit, sich »in Abstraktionen bewegen [zu] lernen« und die »anhaltende und unausgesetzte Vernunfttätigkeit« zu zentralen Bildungszielen. Ebenso soll der Schüler »ein beständiges Subsumieren des Besonderen unter das Allgemeine und Besonderung des Allgemeinen« (4.323), d.h. seine Verknüpfung mit konkreter Anschauung üben. Dies soll vor allem durch »formelle Bildung« (4.348) geleistet werden, nämlich durch die Fähigkeit zum sachgerechten Auffassen des Neuen und Fremden, durch Unterscheidungsvermögen und durch Anwendung des Gelernten auf Neues, also Fähigkeit zum Transfer. Solche Lernprozesse können nur für eine möglichst große Zahl von Heranwachsenden bereitgestellt werden, wenn Schule eine neue gesellschaftliche Rolle zugewiesen 64
Auch das Kloster konfrontierte seine Novizen mit Verhaltenszumutungen, die anderen Spielregeln folgten als in der Familie, aber hier war ein beständiger Wechsel zwischen beiden Sphären nicht vorgesehen.
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bekommt. Die von Hegel dargestellten Verhaltens- und Wissensanforderungen können weder die Familie und eine in sie eingebettete Privaterziehung (die »Hauslehrerei«, wie Schleiermacher sarkastisch formuliert65 ) noch eine Meister-Lehre, die sich auf die Weitergabe von Traditionen beschränkt, zufriedenstellend erfüllen. Durch diese Anforderungen erhalte die Schule »eine besondere Gestalt, und die Schule wird gerade durch diese Trennung zu einer eigentümlichen Sphäre«, so Hegel. (4.345) Dabei hat er einen sehr genauen Blick für die Sozialisationswirkungen von Schule: Er sieht, dass sie selbst, als Institution, und unabhängig vom Lehrplan, erzieht. Sie habe eine »mittelbare Wirkung« unabhängig von »direkte[r] Absicht«, denn was sie an »Grundsätzen und Handlungsweisen« vermittelt, werde »nicht sowohl in bewusster Reflexion an den Geist gebracht«, sondern durch die schulischen Abläufe selbst (4.345). Sie entfalten ihre Wirksamkeit, insofern sie institutionell abgesichert und so »ein substantielles Element sind, in welchem der Mensch lebt und wonach er seine geistige Organisation bequemt und richtet.« (4.346) Dieser Erfahrungsprozess müsse früh beginnen (vgl.4.347). Hegels Vorstellungen von Schule als einer gesellschaftlichen Sondersphäre stehen in Einklang mit der allgemeinen Überzeugung um 1800, dass Bildung angesichts neuer Anforderungen sowohl eine umfassendere Verbreitung als auch eine neue Qualität erfordert, die auf Planmäßigkeit des Aufbaus und Distanz zum Alltagsleben beruhen soll. Für Hegel ist die Schule »ein besonderer sittlicher Zustand, in welchem der Mensch verweilt und worin er durch Gewöhnung an wirkliche Verhältnisse [nämlich den schulischen Lebensraum, RB] praktisch gebildet wird. Sie ist eine Sphäre, die ihren eigenen Stoff und Gegenstand, ihr eigenes Recht und Gesetz, ihre Strafen und Belohnungen hat, und zwar eine Sphäre, welche eine wesentliche Stufe in der Ausbildung des ganzen sittlichen Charakters ausmacht. Die Schule steht nämlich zwischen der Familie und der wirklichen Welt und macht das verbindende Mittelglied des Übergangs von jener zu dieser aus.« (4.348) Dabei kommt es in Hegels Darstellung zu einer vielfachen Überlagerung von Erziehungs- und Bildungserfahrungen für das Individuum, ein Amalgam, das Bildung zur »Schulbildung« macht. Gegenüber den bisherigen Berichten über zentrale Bildungserfahrungen – auf Reisen, in Gesprächen und Lektüren – entsteht hier ein neues Bedeutungsspektrum von Bildung; in zahlreichen literarischen Zeugnissen ist dabei von eher belastenden als befreienden Erfahrungen die Rede. Die bisher übliche deutliche Unterscheidung von Erziehung und Bildung wird aufgekündigt, wo es um »Schulbildung« geht.66 Der Leistungsaspekt dominiert; ohne Beschönigung, aber kaum in kritischer Absicht spricht Hegel davon, dass das Individuum nach dessen Kriterien »unterworfen« und »gerichtet« werde (s.o., 10.82/83). Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit sind zwar das Bildungsziel, aber dem vorgelagert ist die »Schulzucht« 65 66
Friedrich Schleiermacher (1957), Pädagogische Schriften, 1. Band: Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826, hg. von E. Weniger. Düsseldorf, München, S. 7. Zur Erinnerung: »Bildung« war seit Herder immer als Selbstformung verstanden worden, der die Vorstellung einer eigenständig ihren Ausdruck suchenden individuellen Kraft zugrunde lag. Scharf davon abgegrenzt wurde und wird Erziehung als »Einwirkung« (Schleiermacher) begriffen, um bestehende normative Konzepte dem Individuum aufzuprägen und es, dergestalt vorbereitet, an die Gesellschaft »abzuliefern«, wie Schleiermacher gerne formuliert (ebd., z.B. S. 28, 56, 72, 94, 105, 137).
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
(4.350): Anders als in der Familie bedeutet Erziehung, dass der Alltag nicht nur von Regelungen, sondern vor allem von Geboten und Verboten bestimmt wird, die von Strafandrohungen flankiert werden.67 »Schulzucht« bedeutet tiefgreifende Verhaltensmodifikationen in Form von Einschränkungen der Bewegungs- und Redefreiheit, sie bedeutet Totalisierung der Lenkung und Steuerung, denn die Schüler und Schülerinnen erfahren sich als Objekte im Voraus definierter pädagogischer und didaktischer Maßnahmen, die auf sie nur angewendet werden. Der Lehrplan, der ihnen auferlegt wird, berücksichtigt keine Interessen der Individuen und lässt Schwerpunktsetzungen nicht zu, wobei die Unterwerfungsforderung hier nicht durch familiäre Vertrautheit, Anteilnahme oder Liebe gemildert ist.68 Diesem unverhüllt repressiven Verständnis von Erziehung mit seiner Betonung von Gehorsam steht jedoch bei Hegel ein freieres Verständnis von Bildungsanforderungen und -erfahrungen gegenüber. Aber auch hier steht die Forderung im Mittelpunkt, ein Denken zu entwickeln, das nicht unmittelbaren Interessen und Bedürfnissen folgt, sondern zur Einsicht in das dem Gemeinsamen Dienliche führt. Abstraktionsfähigkeit und die Fähigkeit zur Konkretisierung des Unanschaulichen verlangen, in Kategorien des Allgemeinen denken zu lernen und ihm in Gestalt von überzeitlichen, regelförmigen, universell gültigen Sachverhalten Vorrang einzuräumen69 . Die Objekte der »Schulzucht« sollen mit zunehmendem Alter die Perspektive erweitern und genuine Bildungserfahrungen machen: Im Umgang mit dem vorgefundenen Wissen sollen sie durch die
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Unbeabsichtigt oder nicht hat »gerichtet« hier durchaus den Doppelsinn von Beurteilung und Ausoder Abrichtung. Hegels Kollege Schleiermacher wendet mit einer ungleich größeren Sensibilität für ethische Aspekte kritisch ein, dass Schüler, würden sie lediglich als »untergeordnete Organe« betrachtet, »gar nicht mit eigenem Leben ausgerüstet« seien (Schleiermacher, ebd., S. 101). Zwar verwahrt sich Hegel dagegen, »leeren Gehorsam um des Gehorsams willen zu fordern« (4.350), allerdings müssten bspw. die Schüler daran gewöhnt werden, dass die Abgabe ihrer Hausaufgaben »etwas so Unausbleibliches werden muss als das Wiederaufgehen der Sonne.« (4.332) Die Formulierung einer eigenen Meinung oder »erfindendes Hervorbringen« (4.333) habe dabei zu unterbleiben, es gehe um die »Anwendung des Gelernten« (ebd.), »denn dies ist der Hauptzweck der Erziehung, dass diese eigenen Einfälle, Gedanken, Reflexionen, welche die Jugend haben und machen kann, und die Art, wie sie solche aus sich haben kann, ausgereutet [d.h. ausgerodet] werden; wie der Wille, so muss auch der Gedanke beim Gehorsam anfangen.« (Ebd.) Für die eher liberalen Auffassungen des Bürgertums um 1800 sind diese autoritären Vorstellungen Hegels durchaus nicht symptomatisch, und halbherzig konzediert er an anderer Stelle deren Berechtigung (vgl. 4.350). Dass diese Gehorsamsforderung Anfang des 19. Jahrhunderts keinesfalls pädagogischer Konsens ist, illustriert abermals Schleiermacher, wenn er die geforderte »Subsumption eines Willensaktes unter eine gegebene Regel« als einen Lernprozess analysiert, bei dem »die Gesinnung leer ausgehen, endlich Null werden würde, sodass die ursprüngliche Produktion verloren ginge« (ebd., S. 103), »Produktion« hier im Sinne von Produktivität. Vielmehr bestehe dabei die Gefahr, dass »die Form die Hauptsache [werde], der Mechanismus herrscht vor« (ebd., S. 104). Diesen Aspekt stellt R. Dreeben (1968) ausführlich in seiner Studie »Was wir in der Schule lernen« dar: Allein schon aufgrund ihrer spezifischen Organisationsformen lehrt die Schule ein Denken, das sonst im Leben des Kindes nur gelegentlich und verstreut bedeutsam werden würde: generalisierende Denkformen in universalistischen Kategorien, die Unabhängigkeit von gerade wichtigen situativen Erfordernissen, die Spezifizität einer Aufgabenstellung unabhängig vom gegebenen Kontext. In der Schule lernt das Subjekt das erste Mal, sich allein über diese Leistung zu definieren.
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Erweiterung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Kulturtechniken eine neue Souveränität entwickeln, (wobei sie sich gleichwohl in einem durchorganisierten Mikrokosmos vorfinden, der Erfahrungsmöglichkeiten im Sinne einer »Mannigfaltigkeit der Situationen«, wie sie Humboldt vorsah70 , eher beschneidet). Das Schulleben ist von Segmentierungen in Jahrgangsklassen, Stundenpläne, Klassenräume, Fächer, fachspezifische inhaltliche Abfolgen, Schuljahre, Prüfungen in festgelegten Intervallen bestimmt, Prüfungen markieren und zertifizieren im Voraus definierte Entwicklungsstufen unabhängig vom individuellen Bildungsgang. Dies sind einflussreiche, weichenstellende Aufladungen dessen, was die Gesellschaft fortan unter »Bildung« verstehen wird. Ermöglicht wird dieses Bildungsverständnis als nahtloses Zusammenspiel von Fähigkeitszuwachs und Repression durch Hegels Entfremdungsbegriff: Er hat in seinem Denken eine so zentrale Bedeutung, weil er Entfremdungserfahrungen als Voraussetzung für den Aufbau von Selbstbestimmung ansieht. Dass Schule im Gegensatz zur familiären Erziehung eine Reihe solcher Erfahrungen intensiven Sich-selber-fremdWerdens heraufbeschwört, ist in Hegels Augen kein notwendiges Übel, sondern selbst – zumindest mittelbar – ein Bildungsziel, es wird gewollt und systematisch erzeugt. Dabei steigen Fremdheitserfahrungen zum eigentlichen Kern der Bildung auf und werden einer Umwertung unterzogen: Sie werden nun als etwas Unerlässliches und Produktives verstanden. So muss der Gegenstand, um Bedeutung zu erlangen, zuvor »die Gestalt von etwas Fremdartigen erhalten haben.« (4.321) Und ebenso muss gelernt werden, auch dann die Gedanken der anderen aufzunehmen, wenn sie zunächst fremd erscheinen. Und dieser Perspektivwechsel wird auch dann nötig, wenn nicht die vertrauten Gegenstände der Alltagswelt den Lehrplan dominierten. Explizit spielt Hegel dies durch am Beispiel des altsprachlichen Unterrichts, der zu seiner Zeit bereits seit einer Weile in der Gesellschaft kritisch mit dem Hinweis diskutiert wird, dass er in der Regel nicht beruflichen Ausbildungserfordernissen entspreche. Im Gegensatz dazu konzentriert sich für Hegel in diesem Unterricht das Beste, was Schule leisten kann, denn der Umgang mit Fremdheit wird hier in gleich dreifacher Gestalt erlernt: anhand einer fremden, da weit zurückliegenden Kultur, einer fremden, sogar toten Sprache und anhand der Notwendigkeit, sich mit grammatischen Konstruktionen auseinanderzusetzen, die einem fremden Bauplan folgen. Etwas beschönigend glaubt Hegel den Kritikern diese Abarbeitung am Fremdartigen den Wind aus den Segeln nehmen zu können, indem er auf die Vorliebe Heranwachsender für das Exotische, möglichst weit vom familiär Gewohnten Wegführenden hinweist (vgl. 4.321), wobei er verschweigt, dass grammatische Formenlehren nicht gerade das »Glück« des Aufbruchs repräsentieren, die Möglichkeit, »aus dem Einheimischen wegzukommen« (ebd.). Entscheidend sei die »Forderung der Trennung« von vertrauten Perspektiven, die etwas, das nicht-unmittelbar zugänglich ist, mit sich bringt (ebd.)71 Sie ist für ihn von so großer Bedeutung, weil eine solche 70 71
W. v. Humboldt (1960), Ideen zu einem Versuch, Werke Bd. I. Darmstadt, S. 64. Für Hegel ist die weit zurückliegende Kultur Inbegriff des Fremden, während er offenbar von naturwissenschaftlichen Studien nicht glaubt, dass sie eine solche Erfahrung in dieser Deutlichkeit vermitteln können. Er scheint dabei davon auszugehen, dass man in der Natur nur auf bereits Vertrautes stoße; die Erfahrung des viel radikaler Fremden, die entsteht, wenn der schmale Ausschnitt der alltagsweltlichen Wahrnehmung unter naturwissenschaftlicher Perspektive verlassen werden muss, geht in seine Überlegungen nicht ein. Im Grunde geht es ihm gar nicht so sehr um
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
Fremdheit des Gegenstands nur mit Hilfe der eigenen Bearbeitung auflösbar ist, nur durch etwas, das der eigenen »Erinnerung, dem Gedächtnisse und dem Denken« angehört (ebd.). So stößt das Individuum auf sich selbst, seine eigenen, nur ihm zugehörenden Fähigkeiten. Die »Substanz der Natur und des Geistes« (ebd.), die in Wirklichkeit dieselbe sei, müsse in der Maske des Fremden erscheinen, um Gegenstand der Vertiefung und Bearbeitung zu werden. Im Akt, es »verändern, neu formieren« zu müssen (4.320), sei man ganz auf eigene Fähigkeiten konzentriert, auf eigene Möglichkeiten, die »Scheidewand« des vermeintlich Fremden zu durchdringen. (4.321) Da dies nur als Anstrengung des Geistes zu leisten ist, bedeute es eine Befreiung: Möglich werde die Loslösung vom »unmittelbaren natürlichen Dasein«, von der »unfreien Sphäre des Gefühls und des Triebs«, die der »instinktartigen Rückwirkung auf äußere Eindrücke« eigen sei. (4.348) Dies sind die Voraussetzungen dafür, dass Hegel glaubt von Bildung als einer »Rückkehr zu uns selbst« (4.322) sprechen zu können, die nur auf der Basis vorangegangener Entfremdungserfahrungen und der Auseinandersetzung damit möglich werde: »die Welt und Sprache der Alten […] enthält zugleich alle Anfangspunkte und Fäden der Rückkehr zu uns selbst, aber unserer nach dem wahrhaften allgemeinen Wesen des Geistes« (4.321/22). Da dies jedoch einen mühseligen Lernweg voraussetzt und damit eine Erfahrung ist, die nicht vom Individuum spontan gesucht wird, geht Hegel davon aus, dass dies alles ohne die Disziplinierungsmaßnahmen der Schule in der Regel nicht zustande käme (was im Umkehrschluss die Unterstellung bedeutet, dass solche Erfahrungen durch Schule systematisch erzeugt werden können). Dabei fällt an Hegels Argumentation jedoch auf, dass er seine Forderung von Schulzucht und Gehorsam und damit seine Überlegungen zu den Sozialisationswirkungen von Schule getrennt halt von seinen Überlegungen zu den inhaltlichen Erfahrungen, die Schüler mit den Unterrichtsgegenständen machen sollen. Nur im Zusammenhang mit inhaltlichen Bildungserfahrungen verwendet er den Begriff der Entfremdung, was ihm erlaubt, Entfremdung auf die dargestellte Weise so positiv und produktiv zu verstehen. Die von eigenen Regeln bestimmte, unvertraute Welt klassischer Texte soll dem Individuum zur Erfahrung eigener gedanklicher Bewältigung und so zu einer »Rückkehr aus dem Anderssein« (3.138) verhelfen. Dabei trete Entfremdung hier nur in gemilderter Form auf: »Unglücklich der, dem seine unmittelbare Welt der Gefühle entfremdet wird […] Für die Entfremdung, welche Bedingung der theoretischen Bildung ist, fordert diese nicht diesen sittlichen Schmerz, nicht das Leiden des Herzens, sondern den leichteren Schmerz und Anstrengung der Vorstellung« (4.321). Was Hegel ausspart: Das Individuum macht gleichzeitig im Kontext der »Schulzucht« die Erfahrung von ihm fremd und äußerlich bleibenden Regelungen der Schuldisziplin, die sich dem Hegelschen Unterrichtsverständnis zufolge sogar dahingehend steigern sollten, dass eigenes »erfindendes Hervorbringen« (4.333) »ausgereutet [d.h. ausgerodet] werden« müsse (4.332). Diese Entwertung eigener Produktivität liegt aber auf einer Ebene mit jenen Erfahrungen, die Hegel als »Leiden des Herzens« ausgeschlossen wissen wollte,
das gänzlich Fremde, sondern um das beispielhaft »Vortreffliche« in seiner Normativität, das sich aber nur im Altertum finden lasse. (Vgl. 4. 319)
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Erfahrungen, deren Destruktivität oft im Nachhinein lange nachwirken und Zugänge zu Bildung verstellen. Gerade die für Hegel so zentrale Bewegung der »Befreiung« und der »Rückkehr« zu sich selbst wird durch die Schule, wie er sie als Institution entwirft, tendenziell unmöglich gemacht, sodass nur das Leiden an ihr bleibt. Dies zu sehen fehlt Hegel die psychologische und pädagogische Sensibilität.72 So kommt es zur In-eins-Setzung zweier ganz verschiedener Entfremdungserfahrungen: Einerseits dem Selbstverlust, den jemand in einer Umgebung von Unterwerfung fordernden Regelungen, Geboten und Verboten empfindet, und andererseits der Fremdartigkeit eines unbekannten Stoffs, der im Lernenden durchaus ein »anziehende[s] Interesse« zu wecken vermag (4.321). Schärfer formuliert: Die eine Fremdheitserfahrung im Medium institutioneller Gewalt wird umgedeutet in die andere, produktive Fremdheit, die angesichts einer schwierigen und neuen Aufgabe empfunden wird. Erfahrungen, wie sie in institutionellen Kontexten gemacht werden, wirken prägend; sie sind in vielen Fällen keine Vorbereitung für eine »Rückkehr« zu sich selbst, denn das Individuum ist unter ihrem Einfluss ein anderes geworden. Gleichzeitig wirken Hegels Äußerungen wie eine vorauslaufende Legitimation des Schulbetriebs, wie er dann im Verlaufe des 19. Jahrhundert als staatliches Schulsystem zum Regelfall werden wird: eines Schulsystems, das durch die Vernachlässigung von Förderung, die Geringschätzung individueller Interessen, die Missachtung förderlicher Lernbedingungen der sozialen Selektion in die Hände arbeitet. Nur wer über das Sozialkapital privater Unterstützung verfügt oder über die rare Kombination von Leistungswillen mit der Fähigkeit, sich nicht entmutigen zu lassen und dem Willen sich anzupassen, kommt durch. Dies ist die Negativbilanz der Hegelschen Vorstellungen von Schule. Deutlich geworden ist aber in der vorangegangenen Entfaltung der Facetten seines Bildungsbegriffs auch, dass er auf die Entfaltung eines Denkens zielt, das dem Individuum Phasen des Suchens, der eignen Unfestgelegtheit gegenüber dem Neuen, der Auseinandersetzung mit etwas Fremden zusichert und sogar systematisch einbezieht. Schule wird von Hegel als Moratorium angesehen, innerhalb dessen das lernende Individuum zu einer eigenen Haltung finden kann, aber dies führt durch eine Phase des »Sichanderswerdens«. (3.23)
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Bildungsgänge und Bewusstseinsgeschichte
In Texten, die um 1800 geschrieben werden, muss man mit einem noch weitgehend unfestgelegten Gebrauch des Wortes »Bildung« rechnen. So spricht Hegels Freund der Studienjahre am Tübinger Stift, Friedrich Hölderlin, in einem kurzen theoretischen Fragment73 von einem »Bildungstrieb« des Menschen und meint damit dessen künst-
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Die von Hegel skizzierten Lernerfahrungen unbeschadet zu überstehen, braucht es Resilienz und/oder soziales Kapital in Gestalt familiärer Unterstützung; da über diese Ressourcen nicht alle verfügen, ist dieses stark auf Repression setzende Schulethos ein Ausgangspunkt von sozialer Ungleichheit. Friedrich Hölderlin (1962), Der Gesichtspunkt, aus dem wir das Altertum anzusehen haben. In: Ders., Sämtliche Werke (Kleine Stuttgarter Ausgabe), Bd. 4, Stuttgart, S. 231-232.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
lerische Produktivität. Mit solchen Bedeutungsschwankungen muss man auch bei Hegel rechnen; Hölderlins Wortgebrauch ähnelt Hegels Rede im Herr-Knecht-Kapitel von der bildenden Arbeit des Knechts, der die Gegenstände umgestaltet. Wie häufig Hegel andererseits auf das Konzept von Bildung in der engeren und neueren programmatischen Bedeutung des Begriffs zurückgreift, ist in den vorangegangenen Abschnitten deutlich geworden. Bei aller Aspektvielfalt, so sollte gezeigt werden, hat »Bildung« bei Hegel einen präzisen und angebbaren Sinn, auch wenn sich der Begriff auf unterschiedliche Dimensionen bezieht: Hegel gebraucht ihn in der Regel sowohl zur Bezeichnung eines gattungsgeschichtlichen Prozesses der Bewusstseinsentwicklung insgesamt, als auch für eine bestimmte kulturelle Stufe dieser Entwicklung und schließlich für den Vorgang und das Ergebnis individueller Lernprozesse, wobei natürlich alle drei Bedeutungen ineinander verschränkt sind: Der Ausweis individueller Bildungserfahrungen wird zunehmend zum kulturellen Standard erhoben (18.411 ff), gleichzeitig sind diese Bildungsgänge Rekapitulationen der übergreifenden Bewusstseinsgeschichte (3.32/33) und darin zugleich Vorgriff auf eine noch zu leistende Arbeit der weiteren Bewusstseinsentfaltung (7.344/45). Die Bildung des Einzelnen ist an die Stelle tradierter Gewissheiten, auferlegter Normen getreten; sie soll ihm das Wegarbeiten der auf fremdgesetzte Normen bezogenen eigenen Abhängigkeit ermöglichen. Dazu braucht das Individuum Wissen, Einsicht in Zusammenhänge, unabhängiges Denken, Distanz gegenüber der Unmittelbarkeit des ersten Eindrucks. Aber diese Unmittelbarkeit aufzukündigen erfordert darüber hinaus auch eine innere »Trennung«, »Entzweiung«, ein »Sichanderswerden« (3.23) und ein »Umgestalten der Seele« (10.71). Bildung ist bei Hegel ein formales, inhaltlich offenes Prinzip, das auf der »Durchbildung des natürlichen Bewusstseins« beruht (3.37). Ein Überblick über diese Bedeutungsvielfalt wird jedoch dadurch erschwert, dass Bildung bei Hegel einerseits zum tragenden Prinzip wird – »Der Mensch ist, was er sein soll, nur durch Bildung«.74 Aber andererseits wurde bereits deutlich, dass Hegel dem Bildungsprinzip zugleich auch mit einer gewissen Reserve gegenübersteht. Auch wenn er der gesellschaftlichen Rolle der sogenannten »Gebildeten« seine Anerkennung nicht versagt – ihr Auftauchen sei aufgrund ihrer Artikulations- und Verhaltensfähigkeit, ihrer Informiertheit und ihrer Urteilfähigkeit ein durchaus zu begrüßendes Phänomen75 – ist für ihn Bildung letztlich doch nur eine kulturelle Errungenschaft von begrenzter Reichweite, da sie noch nicht zu wirklicher Erkenntnis befähigt und nicht mit der Fähigkeit ausstattet, den Phänomen wahrhaft auf den Grund zu gehen. Dies erwartet er eher von einer Verwissenschaftlichung des Denkens. Bildung mache die Menschen urteilsfähig, aber ihren Urteilen misstraut er eher. Zwar solle nicht »die Vernunft das geistige, gebildete Bewusstsein, zu dem sie im Verlaufe der Geschichte gekommen ist, wieder aufgebe[n]«, und es sei unmöglich, den im Denken »ausgebreiteten Reichtum ihrer Momente« durch die verlorene »Unschuld« naiven Glaubens wieder zu ersetzen. Aber stehenbleiben könne man dabei ebenso wenig und »die Forderung dieser Auflösung kann nur an den Geist der Bildung selbst gehen, dass er aus seiner Verwirrung
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Hegel (1955), S. 58. Vgl. z.B. 3.14, 7.345, 18.411.
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als Geist zu sich zurückkehre und ein noch höheres Bewusstsein gewinne.« (3.389) Verwirrung, Zerrissenheit, ein Ausgeliefertsein an die Vielfalt der Denkmöglichkeiten sind für Hegel unaufhebbar an diese Bildung gebunden, die er aber als bloße Vorstufe jener »Flüssigkeit« des Denkens (3.37) ansieht, durch die aller Dogmatismus überwunden wird. Insofern stehen bei ihm die individuellen Bildungsprozesse im Dienste eines überindividuellen und umfassenden Geistprinzips, das über die Einzelnen zur Wirklichkeit gelangen soll. In ihnen soll der überindividuelle Geist »zur vollkommenen Erkenntnis seiner selbst« kommen. (16.79) Dabei sind die Individuen nur in der Rolle des Mittels zum Erreichen dieses übergeordneten Ziels, und es ist insofern nicht verwunderlich, dass pädagogisches Denken Hegel letztlich fernliegt und seine Bildungsvorstellungen so deutlich repressive Züge aufweisen (s.o., Abschnitt 6.8). Aber auch die Vielfalt der Lesarten und der Kommentare zu den Hegelschen Schriften tragen zu der Vielfalt von Bedeutungsnuancen, die der Bildungsbegriff bei Hegel annimmt, bei. Als Deutungen verlassen sie in der Regel den von Hegel gesteckten Rahmen und zwar meistens ohne dies explizit kenntlich zu machen. Auffällig ist, dass für die bildungstheoretische Perspektive häufig gerade jene Passagen herangezogen werden, in denen Hegel die Bedingungen für die Entstehung von Selbstbewusstsein entwickelt, obwohl in solchen Textpassagen von Hegel das Wort »Bildung« nicht benutzt wird. Dennoch wurden mit großem Nachdruck gerade Hegels Aussagen zur Entstehung des Selbstbewusstseins als Bildungstheorie interpretiert und dabei dem Bildungsbegriff Bedeutungsfacetten zugewiesen, die über Hegels Bildungsverständnis hinausgehen bzw. ihm einen neuen Sinn geben. Während bei Hegel die Theorie des Selbstbewusstseins der eigentlichen Bildungsthematik sozusagen vorgeordnet sind, da sie in der Bewusstseinsgeschichte vorher Bedeutung erlangen, wird in diesen Interpretationen die Entwicklung eines Bewusstseins des eigenen Selbst zur Aufgabe von Bildungsprozessen erklärt.76 So geht Alexandre Kojeve in seinen in den dreißiger Jahren gehaltenen Vorlesungen ausführlich auf das Herr-Knecht-Kapitel im Abschnitt über das Selbstbewusstsein ein und interpretiert den Erfahrungsprozess des Knechts umstandslos als Bildungsprozess: »Die Arbeit ist Bildung im doppelten Sinne des Wortes: einerseits bildet sie die Welt, bildet sie um, vermenschlicht sie, indem sie dieselbe dem Menschen stärker anpaßt; andererseits bildet sie den Menschen um, bildet, erzieht, vermenschlicht ihn, indem sie ihn der Idee konformer macht, die er sich von sich selbst macht und die zunächst nur eine abstrakte Idee, ein Ideal war.«77 Dieses Textverständnis hat in den folgenden Jahrzehnten starken Einfluss auf Hegel-Interpretationen, etwa die von Sartre, ausgeübt, und auf dem Wege der Sartre-Rezeption dann auch auf die deutsche
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Die Entstehung von Selbstbewusstsein als Bildungsprozess zu bezeichnen hätte Hegel vermutlich abgelehnt, da es sich dabei weder um eine intentionale kulturelle Leistung handelt – ich kann dazu nicht gezielt Orte aufsuchen, die dies fördern, sondern dies ist ein lebensgeschichtlicher Prozess. Noch ist die Entwicklung von Selbstbewusstsein – in einem sehr weiten Verständnis von Bildung – etwas, das sich ohne Zutun des Subjekts einfach so heranbildet – wie man etwa von Wolkenbildung sprechen würde. A. Kojeve, a.a.O., S. 161.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
Diskussion. Unter dezidiert bildungstheoretischer Perspektive nimmt Heinz Joachim Heydorn diesen Interpretationsansatz in den 1960er Jahren auf und deutet Hegels Parabel als Text, der »alle realen Komponenten des Befreiungsvorgangs in sich enthält«78 , und zwar Befreiung durch Erlangung von Selbstbewusstsein und dies verstanden als Bildungsprozess. Und Günther Buck fasst zusammen: »Hegels Neuinterpretation der Bildung vom Wesen der Arbeit her ist […] ein unerhörter Vorgang, der mehr als zweitausend Jahre philosophischer Tradition dementiert. Antike und Mittelalter haben Bildung ausdrücklich aus der Entgegensetzung zur Arbeit begriffen.«79 In allen drei Interpretationen wird der Bewusstseinsprozess des Knechts, den er in Auseinandersetzung mit Objekten, an denen er sich abarbeitet, durchläuft, als Bildungsprozess verstanden, eine Interpretation, die weit über die Intentionen Hegels hinausgeht. Was dabei übersehen wird, ist das Vorzeichen, unter dem die Arbeit des Knechts bei Hegel stattfindet, nämlich die »Furcht des Herrn« (3.153, s.o. Abschnitt 6.2). Solange das Bewusstsein – so wie das des Knechts – noch in vollkommener Abhängigkeit steht, gebunden an die Autorität des Herrn und in beständiger Furcht vor ihm, geschieht noch alles in dessen Auftrag; der Knecht ist lediglich Ausführender. In Stadien der Identitätsentwicklung übersetzt, könnte man sagen, dass die Bindung des Knechts an den Herrn noch viel zu stark ist, als dass er eigene Bildungserfahrungen machen könnte80 , wohl aber Erfahrungen, die deren Voraussetzung sind: Aus der Bearbeitung der Gegenstände und der Überwindung ihrer Widerständigkeit bezieht er jenes Selbstbewusstsein, das er in einer späteren Phase der Bewusstseinsentwicklung als Vasall den zerfallenden Machtstrukturen entgegensetzen wird. Erst diesem Vasallen werden von Hegel Bildungserfahrungen, wie bereits dargestellt (s.o. Abschnitt 6.3), zugeschrieben. Er steht zwar immer noch in einem Abhängigkeitsverhältnis, aber genießt darin weitaus größere Entscheidungsautonomie; formell noch gebunden ist er Verwalter mit eigenen Befugnissen und eigenem Herrschaftswissen. Anders als der Knecht hat er Überblick und intime Kenntnisse der Macht, in deren Rahmen und als deren Agent er sich bewegt; er ist sowohl ihr Repräsentant als auch ihr kritisches Bewusstsein, denn seine Kenntnisse sind viel zu genau, als dass er all das, was er im Namen der Macht auszuführen hat, gutheißen kann. Hegel platziert nun jedoch diesen Vasallen ausgerechnet in Zeitumstände, in denen der absolutistische Machtapparat, dem er angehört, bereits zerfällt. Daher die »Zerrissenheit« des Vasallen, der sich hin- und hergeworfen fühlt zwischen alter Ordnung und neuen Strukturen, bereits alle Kompetenzen für selbstständiges Handeln erworben hat und nun nur noch lernen müsste, diese auf eigene Rechnung einzusetzen (stattdessen stellt ihn Hegel in der Folge als geistreichen Schwätzer dar, der seinen Ruin bemäntelt und sich in der Logik des Zerfalls einrichtet). Die
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H.J. Heydorn (1980), Bildungstheorie Hegels. In: Ders. Bildungstheoretische Schriften, Bd. 3: Ungleichheit für alle. Frankfurt a.M., S. 231-281, hier S. 235. G. Buck, a.a.O., S. 192. Entwicklungspsychologisch und mit Kohlberg gesprochen müsste man das Bewusstseinsstadium des Knechts als der Phase der Orientierung an Autoritäten, Regeln, Konventionen zugehörig interpretieren – eine Phase, in denen eine so starke persönliche Bindung vorliegt, dass sie die Suche nach eigenständigen Bildungsprozessen einschränkt.
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»Furcht des Herrn« ist vergangen und die bis vor kurzem noch bestehenden Loyalitätspflichten beginnen sich ebenfalls aufzulösen. Unter diesen Bedingungen wird das Ich selbst zum Konfliktfeld. Dies ist das Klima, in dem Hegel die Bildungsthematik verortet und dies sind die Umstände, unter denen für den Vasallen die Notwenigkeit entsteht, ein neues Bewusstsein zu entwickeln. Aber die Anfänge seiner Bildung hat er noch im Rahmen der traditionellen Machtstrukturen erworben, daher seine »Zerrissenheit«. Hegel führt den Bildungsbegriff nicht als – vielleicht sogar rettende – Antwort auf diesen Zustand der Orientierungslosigkeit ein, sondern als eine Bewusstseinsformation, die bloß deren Ausdruck ist. Feste Maßstäbe für »Gut« und »Schlecht« sind zusammengebrochen, was gestern als gut erschien, kann heute in einem anderen Licht erscheinen, Empörung tritt an die Stelle der Furcht. Alles, was in dieser Umbruchsituation zählt, ist die Fähigkeit zu raschem Urteil, überzeugendem Auftreten, Selbstbehauptung, Kompetenz. Der Vasall muss sich nach dem Ende traditioneller Herrschaftsverhältnisse selbst erfinden, ein langer und mühevoller Weg, und seine gesamte Strecke will Hegel als die Arbeit der Bildung verstanden wissen. Aber neben dieser Darstellung einer quasi-historischen Genese der Bildungsthematik, der Hegel durch Hinweise auf antike, feudale und absolutistische Machtstrukturen Tiefenschärfe zu geben sucht, findet sich auch ein Verständnis von Bildung als gattungsgeschichtlicher Bewusstseinsentwicklung, die sich im einzelnen Individuum wiederholt, sodass ein jeder »auch dem Inhalte nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes« wiederholen muss (3.32). Bewusstseinsgeschichte ist für ihn gleichbedeutend mit der »Geschichte der Bildung des Bewusstseins […] zur Wissenschaft« (3.73), und dies wird von ihm zugleich als die »Geschichte der Bildung der Welt« (3.32) aufgefasst. Dennoch ist auch hier das eigentliche Zentrum dieser Bewusstseinsgeschichte nicht in erster Linie die Vermehrung von Wissen über die Dingwelt, sondern die Entstehung von Selbstbewusstsein als Rückwendung des Gegenstandsbewusstseins auf seine eigenen Bedingungen, als Wissen von sich selbst. Sicher ist dies eine »Umkehrung des Bewusstseins«81 , wie dies Buck formuliert, aber es bleibt nicht bei dieser Umkehrung, sondern Hegel lässt ihr gleich noch einen zweiten Richtungswechsel folgen in Gestalt der »Begierde«. Damit verlässt Hegel die erkenntnistheoretische Konstruktion und erst damit wird Bewusstseinsgeschichte zur Bildungsgeschichte. Zunächst fällt auf, dass die »Gewissheit seiner selbst«, die das Ich nach seiner »Rückkehr aus dem Anderssein« entwickelt, eigentümlich leer bleibt. Offenbar kann dieses Ich zu Beginn des Selbstbewusstseins-Kapitels doch nicht mehr von sich sagen als das bloße »Ich bin Ich« (3.138), kaum anders als bei Fichte, Kant und Descartes; es ist hier bloßes Erkenntnissubjekt, dem um seiner Wahrheitsfähigkeit willen ein voller inhaltlicher Selbstbezug verweigert wird. Denn sein Status als Erkenntnissubjekt verlangt, dass es in seinem Selbstbezug nicht auf seine Wünsche, Bedürfnisse, Ängste stößt: Damit würde die ganze Welt empirischer Tatsachen auf diese Selbstkonstruktion Einfluss nehmen, das Ich müsste in seiner Abhängigkeit von ihnen gedacht werden. Seine Funktion ist aber, bloße Instanz zu sein, die dem Denken Einheit garantiert, unauflösbar in äußere Wechselfälle. Ein solches Ich hat keine Bildungsgeschichte. 81
G. Buck (1984), a.a.O. (s.o., Anm. 10), S. 189.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
Hegel geht jedoch einen Schritt über diese traditionelle erkenntnistheoretische Konstruktion hinaus, indem er dieses Ich mit »Begierde« ausstattet82 . Zwar ist diese Begierde nur darauf gerichtet, seine eigene Autonomie zu schützen, seine Mittelpunktstellung, die jedem Subjekt als Autor seiner Welt zukommt. Dazu muss es sie vor dem Andringen konkurrierender Subjektivitäten schützen. Aber der Schritt ist gemacht, es dringt nun so etwas wie eine Beziehungsthematik in diese Ichkonstruktion ein, auch wenn sie zunächst nur als Machtverhältnis denkbar wird, als Frage von Herrschaft und Unterwerfung. Indem Hegel sich darauf einlässt, der Beziehung zwischen Ich und Anderem eine komplexe Dynamik zuzuerkennen, »wird sich dieser abstrakte Gegenstand bereichern« (3.143). Das Ich unterstellt dem Anderen, dass es ähnliche Beweggründe hat wie es selbst; das ist zwar nur eine rudimentäre Bewusstseinsleistung, aber immerhin entfaltet sich hier so etwas wie eine psychische Dynamik, die Begierden, Projektionen eigener Wünsche auf andere, Willensäußerungen und Ängste zum Gegenstand hat. Fast könnte man erwarten, dass Hegel, da es ihm doch um das Verhältnis von Gegenstands- und Selbstbezug, zumal in Gestalt der »Rückkehr aus dem Anderssein« geht, bereits auf die Bedeutung solcher Bewusstseinsfunktionen stößt und ihm im Verhältnis von Ich und Anderem das Phänomen der Zuschreibungen, der Projektionen und der »Rücknahme der Projektion«, wie Freud dies hundert Jahre später nennen wird, zum Thema wird. Aber unter dem Vorzeichen des traditionellen Subjektbegriffs (den er doch gleichzeitig dabei ist zu verlassen) ist Beziehung nur als Kampf denkbar, nämlich als Kampf um den Absolutheitsanspruch des Ich. Damit erübrigt sich das Nachdenken über differenziertere Konstellationen im Verhältnis von Ich und Anderem. Dennoch lässt sich Hegel auf die Konsequenzen ein, die sich aus dieser Kampfsituation ergeben, und stattet seine Protagonisten mit Stadien der Bewusstseinsentwicklung aus, die weit über das bloße Kampfszenario hinausgeht und schließlich, nachdem aus dem Knecht der Vasall geworden ist, sich zur Bildungsgeschichte erweitern. »Bildung« wird zu einem anderen Wort für die Erweiterung des vormalig punktförmigen Subjektbegriffs zu einem Innenraum, der Schauplatz von Gewissenskonflikten, Trennungen, innerer Entzweiung und Ausdifferenzierung ist. Das »empörte Bewusstsein« ist mit Erfahrungen konfrontiert, die mit bisherigen Verarbeitungsformen nicht mehr bewältigbar sind, und es ist diese Empörung über die noch gar nicht ganz zurückgelassenen, als illegitim verstandenen Machtverhältnisse, die den Prozess des Selbstständigwerdens vollendet oder zumindest vorantreibt, die mit der Arbeit des Knechts begonnen wurde. Humboldt hatte Bildung als Entelechie einer ursprünglich im Individuum angelegten »Eigentümlichkeit« aufgefasst; dessen Bildungsgeschichte wirkte wie eine Variation über Pindars »Werde, der du bist«. Daran gemessen verlaufen die Bildungsprozesse, die Hegel konzipiert, in der Unfestgelegtheit eines »Sichanderswerdens«, das Individuum ist durch die Betonung seines Denkens in eine prinzipiell unabschließbare Vielfalt der Konzeptionen, Entwürfe, Denkmöglichkeiten hineingestellt. Seine Bildung ist die vorerst letzte Stufe der »Bildungsstufen des allgemeinen Geistes« (3.32), die nun nur noch
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Dies nötigt ihn, sich gleich im Anschluss Gedanken über den Begriff des Lebens zu machen (vgl. 3.139), und damit ist bereits der Weg gebahnt, den Status »reiner« Subjektivität zu verlassen.
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von der sich ankündigenden Verwissenschaftlichung des Denkens überholt werden sollen.83 Hegels Betonung des Denkens eröffnet einen kognitiven Raum, der einerseits durch Wissen, Denken, Gedächtnis bestimmt wird, andererseits durch die mit Denken eng verbundene Fähigkeit zur Negation geprägt ist. Negation, d.h. die Fähigkeit, die Herrschaft des Gegebenen und Selbstverständlichen außer Kraft zu setzen, ist Garant der Öffnung des Denkens auf das Ungedachte. Mit »Bildung« etabliert sich eine kulturelle Sondersphäre, ein mentaler Innenraum, aber auch ein öffentlicher Raum gesellschaftlicher Diskurse, des kulturellen Gedächtnisses, der Auseinandersetzung mit tradierten Bildern und Modellen. Bei Hegel ist dies nur in abgeschwächtem Sinne ein Raum der Entfaltung, denn er ist von starken inneren Konflikten, »Entzweiungen«, »Trennungen«, den vielfältigen Leiden der »Zerrissenheit« geprägt. Entscheidender als der Imperativ individueller Entfaltung ist bei Hegel ein Sollen, dem das Individuum unterstellt wird. Der Mensch ist »von Natur nicht, was er sein soll« (4.258), er »ist, was er sein soll, nur durch Bildung«.84 Der »Widerspruch mit sich selbst« (16.77) wird zur Grunderfahrung dieser Bewusstseinsstufe der »Welt der Bildung« erhoben; er wird als eine Art Treibsatz weiterer Entwicklung verstanden. Einer der zentralen Glaubenssätze Hegels lautet, dass als »Schranke, Mangel […] etwas gewusst, ja empfunden [wird], indem man zugleich darüber hinaus ist« (8.144), da sich Denken darüber erhebt. Dass die Funktion des Denkens im Wesentlichen darin besteht, zu rekombinieren, was es als Wirklichkeit bereits erfahren hat, wird in Hegels Vorstellungen auf dem Wege der Negation zur Möglichkeit, das Gegebene zu übersteigen. So wird er selbst zum kreativen Akt. Bildung entsteht in einem Raum der Entzweiungen, will aus ihm heraus, aber das vermag sie nur über das Denken, so Hegels Hoffnung.
6.10
Feuerbachs Zweifel
Hegels Schüler Feuerbach promoviert bei ihm im Jahre 1828 und als kurz nach Hegels Tod ein Buch erscheint, das eine scharfe Auseinandersetzung mit dessen Lehre zum Gegenstand hat – Bachmanns »Antihegel« – verfasst Feuerbach 1835 eine ebenso scharf formulierte Verteidigung der Hegelschen Philosophie. Nach lediglich vier weiteren Jahren erscheint von ihm 1839 eine zweite Schrift, nun mit dem Titel »Zur Kritik der Hegelschen Philosophie«, in der er die meisten der zuvor zurückgewiesenen Argumente aufnimmt, sich zu eigen macht und weiterentwickelt. Was sich in diesen vier Jahren in seinem Denken ereignet, läuft auf eine völlige Umstellung und Neuordnung der Hegelschen Prämissen hinaus. 83 84
Vermutlich lassen sich alle Bildungstheorien der einen oder der anderen Variante zuordnen, der entelechialen Variante Humboldts oder der auf Zukünftiges ausgerichteten Hegels. S.o., Anm. 3. Um ein solches Sollen stark zu machen, muss Geschichte von ihrem Ende her gedacht werden und der Philosoph die Rolle dessen zugeschrieben bekommen, der den Weg dahin kennt. Hundert Jahre nach Hegels Tod räumt der Herausgeber seiner Schriften, H. Glockner ein: »Von Hegels System steht kein Stein mehr auf dem andern.« (H. Glockner (1984), Beiträge zum Verständnis und zur Kritik Hegels, Bonn, S. 33) Wohlgemerkt betrifft diese Aussage Hegels Systemanspruch, seine einzelnen Aussagen zu den Elementen von Bildungsprozessen gehen darin nicht auf.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
Feuerbachs Kritik knüpft nicht so sehr an die zu seiner Zeit bereits bestehenden vernunftkritischen Diskurse an, wie sie in Anschluss an Hamann und Herder und dann vor allem durch die Frühromantiker vereinzelt geführt wurden, vielmehr entwickelt er seine Gesichtspunkte aus einer erneuten genauen Hegel-Lektüre. Im Zentrum seiner Auseinandersetzung mit Hegel steht Feuerbachs Einsicht, dass Hegels Philosophie, zu Ende gedacht, auf einen völligen Erfahrungsverzicht, ja auf Erfahrungslosigkeit zielt: »sie abstrahiert von allen unmittelbar, d.i. sinnlich gegebenen, vom Denken unterschiedenen Objekten«85 und dieses Denken ist nicht darauf gerichtet, den Dingen gerecht zu werden, sondern wird geleitet von einem überlegenen Geistprinzip, das sie ordnet. Die Immaterialität des Geistes hat zur Konsequenz, dass alles Materielle, Natur, Gegenstandswelt, Leiblichkeit, die Rolle des Unwesentlichen oder sogar Störenden zugewiesen bekommen. Gegen diese Ausdünnung und Verflüchtigung setzt Feuerbach die Entwicklung eines »unmittelbaren, ursprünglichen, materiellen Denkens«86 : »Der Philosoph muss das im Menschen, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Philosophie ist, dem abstrakten Denken opponiert, das also, was bei Hegel nur zur Anmerkung herabgesetzt ist, in den Text der Philosophie aufnehmen.«87 Sie hat sich mit der sinnlichen und »vorphilosophischen« Seite des Weltbezugs zu befassen. Bildungstheoretisch gewendet ließe sich dies auch so formulieren, dass auf die Fähigkeiten besonderer Nachdruck gelegt wird, die es dem Individuum ermöglichen, seine vielfältigen Wahrnehmungen zu Erfahrungen zu organisieren, Reflexionsleistungen, über die es sich besser verstehen lernt. Der merkwürdig tastende Einstieg Feuerbachs in dieses Thema bereitet den Leser seiner Hegel-Kritik aus dem Jahre 1839 nicht darauf vor, von welch grundsätzlicher Bedeutung das Nachfolgende ist. Möglicherweise konkretisiert sich für ihn selbst sein Gedankengang erst im Verlaufe des Schreibens; dafür spricht die kreisende, bestimmte Themen immer wieder aufnehmende und neu durchdenkende Argumentation. Feuerbachs Kritik bezieht sich ebenso auf Verfahrensweisen, die dem Hegelschen Denken zugrunde liegen als auch auf Prämissen, die undiskutiert bleiben, aber das gesamte System begründen. Dies beginnt bei Hegels linearer Geschichtsauffassung, seiner Reduktion von Geschichte auf einen »aufsteigenden Stufengang«88 : Da Hegel ausschließlich in Kategorien der Zeit, d.h. in Abfolgen, aber nichts in Kategorien des Raums und damit der Möglichkeit von »Koordination und Koexistenz« denkt89 , habe er keinen Blick für das »Gemeinschaftliche« und Verbindende von Phänomenen90 . Er beurteile sie lediglich bezogen auf ihre jeweilige historische Berechtigung, die aber zugleich die Berechtigung ist, nach einiger Zeit unterzugehen und durch entwickeltere Stufen ersetzt zu werden. Dies habe zwei Konsequenzen: zum einen die Annahme, dass eine Entwicklungsstufe vor allem durch jeweils hervorgehobene Phänomene, d.h. 85 86 87 88 89 90
Ludwig Feuerbach (1966), Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843). In: Ders., Kleine Schriften. Frankfurt a.M., S. 145-219, hier S. 160. L. Feuerbach (1966), Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839), a.a.O., S. 78-123, hier S. 93. L. Feuerbach (1966), Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie (1842), a.a.O., S. 124-144, hier S. 135. L. Feuerbach (1966), Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839), a.a.O., S. 79. Ebd. Ebd., S. 80.
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herausragende Persönlichkeiten, besondere kulturelle Erscheinungen, historisch relevante religiöse Bewegungen u. ä. repräsentiert werde, anstatt davon auszugehen, dass sie sich in der Vielfalt der Realisierungen individueller Vielfalt darstellt. Und zweitens wird damit ein Selektionsprinzip eingeführt – es wird nun unterscheidbar, wer in ausgezeichneterem Maße zu den Repräsentanten einer Entwicklungsstufe gehört und wer hinter diese zurückfällt (eine Denkfigur, die eine Blutspur durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts, und zwar nicht nur im Stalinismus, ziehen sollte). Welche bildungstheoretischen Implikationen diese Kritik hat, liegt auf der Hand: Sich eher am Raum als an zeitlichen Stufenfolgen zu orientieren fordert eine größere Hinwendung zum Nebeneinander widersprechender Positionen und die Entwicklung der Fähigkeit, diese Widersprüchlichkeit anzuerkennen. In eine ähnliche Richtung zielen auch Feuerbachs Zweifel am Systemanspruch der Hegelschen Philosophie. System bedeutet im Kontext des Idealismus der Anspruch, den Zusammenhang all dessen, was existiert, im Denken vollständig rekonstruieren und als notwendig ableiten zu können. Von Vollständigkeit kann allerdings nur aufgrund der Prämisse ausgegangen werden, dass das, was sich dem Denken erschließt, zugleich das ist, was den Dingen wesentlich zukommt. Dieses Wesen konzentriert sich im Begriff als einer Art von gesteigerter Realität, »da das Geistige oder Vernünftige die eigene Natur des Gegenstands ausmacht«, wie Hegel sagt (10.252). Das Allgemeine bzw. Verallgemeinerbare wird zum Wesen und soll zugleich als Denkbestimmung Schnittpunkt von Subjekt und Objekt sein. Das System hört damit auf, ein bloßes Mittel der Darstellung zu sein; es soll stattdessen, wie Feuerbach dies zusammenfasst, »gleichsam die Vernunft selbst sein«91 . Dies ist ein Schritt, den Feuerbach für geradezu verderblich hält, denn dieser Anspruch öffne dem Dogmatismus Tür und Tor und »tötet den Erfindungsgeist«92 . Hegel ermögliche sich diese Haltung durch die Verleugnung der Genese seiner eigenen Gedanken sowie die Ablehnung des Gedankens, dass Begriffe auf sinnliche Vorstellungen rückführbar sind und insofern deren Perspektivismus nicht entgehen. Anstatt wie Hegel den Begriff mit einer eigenen Realität auszustatten, hält Feuerbach daran fest, dass dies eine Abstraktion sei, »der gar nichts Reelles entspricht, wirklich ist nur das konkrete Sein«93 . Aufgabe des Denkens müsse es sein, den Dingen in ihrer Verschiedenheit gerecht zu werden, sie aus der Reduktion zu entlassen, die bei Hegel darin besteht, »nur die Bedeutung des Objekts, des vom Geiste Gesetzten« zu haben94 . Hegel verpflichte die Philosophie darauf, »Sein« in seiner allgemeinen, reinen Form zu denken und damit zugleich auf den Trugschluss, eine Denkbestimmung könne Organ der Realität sein. Das Allgemeine ist nichts, das den Dingen selbst als Merkmal zukommt, so Feuerbach95 . Hegels Denken, gerade auch sein Systemanspruch, vereinheitliche die Dinge und negiere so ihren Anspruch, »eine Bedeutung für sich selbst« zu
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Ebd., S. 94. Ebd., S. 93. Ebd., S. 97. Dies ist der alte »Streit der Nominalisten und Realisten« (ebd., S. 98). Ebd., S. 108. Wie sehr für Hegel »das Allgemeine« Zentrum des Lebendigen in all seiner Verschiedenheit ist, wird deutlich, wenn er sagt, dass »die lebendigen Dinge« darin, in dieser Allgemeinheit, »über das Einzelne hinaus« sind (8.144), als sei dies Allgemeine ihr Wesensmerkmal.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
haben96 . In dieser Bereitschaft, der Welt eine einheitliche, hierarchisch gestaffelte Ordnung zu unterlegen, erkennt Feuerbach die Tendenz begrifflichen Denkens, nur demjenigen Realität zuzuerkennen, das sich theoretisch fassen lässt. Ausgeblendet bleiben »die unphilosophischen Anfänge oder Prinzipien der Philosophie«97 , die Angewiesenheit auf Verständigung mit Anderen, die leiblichen Grundlagen des Bewusstseins. Diese Unterschiede der Stellung des Denkens zur gegenständlichen Welt sind bildungstheoretisch folgenreich, denn Feuerbachs Perspektive zielt auf eine veränderte Wahrnehmung des einzelnen Gegenstands in seiner Individualität und damit auf eine veränderte Praxis im Umgang mit diesem Gegenüber, während sich aus Hegels Auffassung eine Hierarchie ergibt, deren Spitze von der absoluten Idee und – eine Stufe tiefer – von der Fähigkeit diese zu denken, gebildet wird. Alles Weitere, das zum Menschen gehört, wird auf tiefere Stufen bzw. in den Sockel verbannt. Nur insofern sich der Mensch darüber erhebt, hat er Zugang zu den darüber liegenden Hierarchiestufen. Feuerbach zeichnet wie Hegel das Denken aus, aber er fordert von ihm eine andere Ordnung der Dinge, die diese Nichtachtung der »spezifische[n] Selbstständigkeit der Natur und des Menschen«98 rückgängig macht. Feuerbach fügt dem aber noch einen weiteren Kritikpunkt hinzu. Nicht nur führe dies zum Ausschluss des empirischen, wirklichen Ichs aus der Philosophie, sondern die Begründung dafür, und damit die Begründung für eine solche hierarchische Konstruktion, bleibe Hegel schuldig. Der gesamte weltgeschichtliche Prozess ist für Hegel die Ausfaltung der absoluten Idee, er denkt diese Geschichte unter ihrer Voraussetzung; sie verwirklicht sich im Denken, und so ist alles Pro und Contra des Denkens nur Moment ihrer Realisierung. Es gibt mit anderen Worten kein Außerhalb, von dem aus sich diese Voraussetzung eines Absoluten kritisieren ließe: Jedes Gegenargument – überhaupt jedes »Anderssein des Gedankens« – wird in seiner Stoßrichtung depotenziert und zum bloßen Moment einer übergreifenden Bewegung des Geistes herabgestuft, der Verwirklichung der absoluten Idee. Das »Anderssein des Gedankens« ist damit immer schon von dem Gedanken überholt worden, der diesen Gedanken denkt und einordnet, sozusagen einem Gedanken zweiter Ordnung99 . Das Prinzip der Philosophie, sich selbst zu bezweifeln, ist damit außer Kraft gesetzt. Wo die leibliche Erfahrung der Individuen den Ausgangspunkt bildet, ist eine solche Vereinheitlichung nicht möglich. Leiblichkeit erscheint geradezu als Antipode der Hegelschen »Idee«, denn wo sie der Ausgangspunkt ist, da kommt notwendig auch eine Vielzahl der leiblich verankerten Perspektiven ins Spiel. Sich über diese Vervielfältigung der Perspektiven hinweg aufeinander zu beziehen wird er allmählich, lange nach Feuerbach, als Bildungsaufgabe erkannt. Feuerbach betont, dass die »absolute, d.h. die nicht mehr bezweifelbare, die über alle Kritik und Skepsis erhabene Idee«100 als Voraussetzung, die dem gesamten Hegel96 97 98 99
Ebd., S. 109. K. Löwith, a.a.O., S. 89. Ebd. Hegels Philosophie beginne, so Feuerbach, »nicht mit dem Anderssein des Gedankens, sondern mit dem Gedanken von dem Anderssein des Gedankens, worin natürlich der Gedanke im Voraus des Sieges über seinen Gegenpart gewiss ist« (L. Feuerbach (1966), Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, a.a.O., S. 107). 100 Ebd., S. 107.
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schen Theoriegebäude zugrunde liegt, nicht in Auseinandersetzung mit anderen Positionen gewonnen wird, sondern eine bloße Setzung bleibt. Er bezeichnet dies als »eine Gewalttat«, die auf dem »unmittelbaren Bruch mit der wirklichen Anschauung« beruht101 . Indem sich die Philosophie von dieser Ebene löst (er beobachtet dies ebenso bei Descartes und Spinoza), setzt sie sprachliche Ausdrücke an die Stelle der »Realität der einzelnen Dinge.«102 Diese Abstraktion sei Hegel nur möglich, weil er sich »nicht wirklich in das sinnliche Bewusstsein hineingestellt und hineingedacht hat, weil das sinnliche Bewusstsein nur so Gegenstand ist, wie es Gegenstand des Selbstbewusstseins des Gedankens […] ist«103 . Hegel beschäftigt sich mit dem Bewusstseinsakt als solchen und verliert damit dessen Eigenschaft, etwas Gegenständliches zu repräsentieren, aus dem Blick. Anstöße zu seiner Hegelkritik bietet Feuerbach die Naturphilosophie Schellings bei gleichzeitiger grundsätzlicher Kritik an ihr. Aber sie leitet Feuerbach dabei an, Natur »eine Bedeutung für sich selbst« zurückzuerstatten, sie als »ein Erstes, Selbständiges« zu betrachten104 und damit an der »Wiederherstellung der Natur« zu arbeiten105 . Die Auflösung subjektphilosophischen Denkens löst auch die Natur aus dem Status des Objekts. Deshalb definiert Feuerbach den Begriff des Seins neu, dessen philosophische Verwendung bisher von der Missachtung der »natürlichen Gründe und Ursachen« gewesen sei, weil man »in der Natur nicht die Vernunft erkannte.«106 Der Natur sei absolute Selbstständigkeit und damit ein Eigenrecht zuzuerkennen. Dies war ihr von Hegel allein schon aufgrund der Vorstellung eines übergreifenden Logos vorenthalten worden, der sowohl die Eigenschaften sprachlicher Darstellungslogik präge, als auch der Sache selbst zugrunde liege. Feuerbach insistiert demgegenüber auf der Eigenständigkeit des Gegenstands in seiner Individualität, die eine Logik »vor der Darstellung ist«107 , d.h. bevor das Subjekt sie in seine Kategorien übersetzt. Seine Kritik daran, dass das Absolute eine undiskutierte Prämisse bleibt, dehnt Feuerbach auch auf den Status der Vernunft bei Hegel aus. Sie verselbständige sich bei ihm zu einer von den Menschen »abgesonderten und unterschiedenen« Instanz108 , die sich in der Geschichte verwirkliche. Der Vernunftbegriff, den Feuerbach entwickelt, geht in völlig andere Richtung und ist von einiger bildungstheoretischer Tragweite: Er beruhe auf dem »Trieb der Wahrheit«, der mit dem »Trieb der Mitteilung« identisch ist, d.h. auf Artikulationsfähigkeit und wechselseitige Verständigungsbereitschaft angelegt ist.109 »Wir werden nur durch den Andern – freilich nicht diesen oder jenen zufälligen Andern – der Wahrheit unsrer eignen Sache bewusst und gewiss.«110 Dadurch ist Vernunft für Feuerbach »ein gemeinschaftliches Prinzip, ein gemeinschaftliches Maß«, 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110
Ebd., S. 103. Ebd., S. 105. Ebd., S. 106/07. L. Feuerbach (1966), Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, a.a.O., S. 109. Ebd., S. 112. Ebd., S. 122. Ebd., S. 87. L. Feuerbach (1966), Grundsätze der Philosophie der Zukunft, a.a.O., S. 172. L. Feuerbach (1966), Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, a.a.O., S. 91. Ebd.
6. Hegel: »Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen«
das auf der »Vermittlung des Ich und Du« beruht.111 Vernunft entstehe im Prozess der Verständigung; »Mitteilungsformen« sind »Grundformen der Vernunft«112 . Feuerbach entwickelt dies zur Vorstellung einer prozedural sich im Austausch der Argumente sich herausbildenden Vernunft. Dabei gilt nicht nur die Stimme des einen Vernunftsubjekts, sondern es gibt ein Ich und Du und zusätzlich dazu die Instanz gemeinschaftlicher Interessen. Zur Teilnahme an diesen Diskursen ist nicht mehr nur ein Ich berechtigt, das dem Modell des Erkenntnissubjekts nachgebildet ist. Das Ich, von dem Feuerbach spricht, ist Träger individueller Bedürfnisse, Wünsche, Ansprüche, ist Sachwalter materieller Erfordernisse und situativer Gegebenheiten, Interessenvertreter eines Lebensprinzips, das die Natur in ihrer konkreten Materialität einschließt. Es wird im weiteren Verlauf dieser Untersuchungen deutlich werden, wie diese Überlegungen Feuerbachs in der Folge und vor allem im 20. Jahrhundert immer deutlichere Gestalt annehmen und bildungstheoretisch relevant werden. Es ist offensichtlich, dass mit diesem Wechsel der Prämissen eine völlige Neuverteilung der Gewichtungen einhergeht. Als »eine geistige Wetterscheide« bezeichnet H. Glockner Feuerbachs Denken113 . W. v. Humboldt hatte viele der Sichtweisen Feuerbachs vorweggenommen – nicht nur in seiner Betonung individueller Eigenart, sondern auch seiner Aufmerksamkeit für den intersubjektiven Rahmen, auf den sie zu ihrer Verwirklichung angewiesen ist. Aber Feuerbachs Neubestimmungen sind radikaler, sie sind die abrupte Aufkündigung der Dominanz formaler Prinzipien über die Lebenswelt der Individuen. Diese werden zusammen mit allen anderen Lebewesen »zu selbständigem Dasein entlassen«114 . Eine Sensibilisierung gegenüber den Ansprüchen aller Teilnehmer einer Lebenswelt wird hier theoriefähig und zeigt sich als Senkung der Aufmerksamkeitsschwelle gegenüber latenten Gewaltverhältnissen, wie Feuerbach sie selbst noch im Herrschaftsgestus des einen, absolutistischen Vernunftprinzips erkennt. Tendenziell eröffnet er damit einen Revisionsprozess, der sich in der Lebensphilosophie eine erste Artikulation verschaffen und von Nietzsche als »Umwertung aller Werte« auf Dauer gestellt werden wird. Was dies bildungstheoretisch gewendet heißt, dafür gibt Feuerbach nur einen ersten Hinweis: Ihm geht es nicht mehr um ein Bild des Menschen als einer Person, der es obliegt, sich in Übereinstimmung mit einem Allgemeinen hervorzubringen, sei es als Individuum in der vollen Entfaltung eines Aspekts dieses Allgemeinen, sei es als Instanz, in der sich ein allgemeines Vernunftprinzip verwirklicht. Feuerbachs Ziel ist, »sein eignes unbestimmtes, aber unendlicher Bestimmungen fähiges Wesen« zu entdecken115 , und dies bedeutet in einem ersten Schritt, eine Sprache für das zu finden, was zuvor als partikular, vernachlässigbar, unwesentlich exkommuniziert worden war. Es bedeutet, dem, was sich begrifflichem Denken nicht subsumieren lässt, zum Ausdruck zu verhelfen und zielt auf eine Arbeit an der eigenen Erfahrungsfähigkeit. Dies sind Zielsetzungen, die auf eine Organisation von Bildungsprozessen verweisen,
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Ebd., S. 90. Ebd., S. 92. H. Glockner (1984), Beiträge zum Verständnis und zur Kritik Hegels. Bonn, S. 222. L. Feuerbach (1966), Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, a.a.O., S. 108. L. Feuerbach (1966), Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie (1842), a.a.O., S. 141.
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wie sie eher in informellen Bildungsgängen möglich werden, während es eine unübersehbare Entsprechung zwischen dem Bildungsdenken Hegels und der formalen Bildungspraxis seiner Zeit gibt. Für diese Praxis, längst etabliert und dann für lange Zeit weiterbestehend, formuliert Hegel die Begründung. Sie wird aus den Erfordernissen der Institution als höherstufigem Subjekt abgeleitet. Indem er von den Konsequenzen für die Lebewesen her denkt, stellen die Reflexionen Feuerbachs diese Begründungen infrage.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
7.1
Experimentelles Denken
Die komplexe Denkbewegung, mit der Novalis seine Leser konfrontiert, drängt sich auf wenige Jahre zusammen – auf die Zeit zwischen der Aufnahme seiner Fichte-Studien 1795 und der Arbeit an zwei Roman-Fragmenten, die gemeinhin als Bildungsromane bezeichnet werden, bevor Novalis 1801 neunundzwanzig jährig stirbt. Der Name ist das Pseudonym, das Friedrich von Hardenberg – wohl aus familiären Rücksichten – für seine Veröffentlichungen wählt, und in einem Brief vom 24.2.1798 an A.W. Schlegel erläutert er, dies sei »ein alter Geschlechtsname von mir […] und nicht ganz unpassend«, denn seine Vorfahren hätten sich diesen Namen als Besiedler und Kultivierer neuen Landes gegeben. Der Herausgeber der Schriften von Novalis kommentiert, zweifellos habe sich Novalis selbst »als ein Neuland Rodender und Saaten Streuender« empfunden1 . In den Texten, die Novalis hinterlässt, geht es um eine Erkundung der Quellen, aus denen sich Identität aufbaut und Handeln seine Energie bezieht, um ein Begreifen der Relation, in der das Ich zu Anderen, Menschen und Dingen, steht. Nicht so sehr objektivierbare Sachverhalte und Entwicklungslinien sind sein Thema, sondern welche Haltung und Bewegungsrichtung der Einzelne wählen, welche Sinne er entwickeln müsse, um seine Welt in ihren verschiedenen Dimensionen zu erfassen. Oft wird in diesem Zusammenhang auf das Fragment aus der Textsammlung »Blütenstaub« hingewiesen, in dem es heißt: »Wir träumen von Reisen durch das Weltall – ist denn das Weltall nicht in uns? […] – nach innen geht der geheimnisvolle Weg.« (326:17)2 Aber ihre volle Aussage1
2
Paul Kluckhohn (1960), F. v. Hardenbergs Entwicklung und Dichtung. Einleitung zu: Novalis, Schriften, Bd. I: Das dichterische Werk, hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Stuttgart 1960ff., S. 1-67, hier S. 2. Zitate aus Novalis-Texten beziehen sich auf Novalis (2013), Werke, hg. u. kommentiert von Gerhard Schulz. München, 5. Aufl., sowie auf die sechsbändige historisch-kritische Ausgabe der »Schriften« (a.a.O.). Die von Schulz herausgegebene einbändige Werkausgabe wird soweit möglich wegen ihrer besseren Zugänglichkeit verwendet, wobei die erste (arabische) Zahl die Seite angibt, die zweite die Nummer des Fragments. Wo auf die Bände der »Schriften« zurückgegriffen wird, steht die (römische) Zahl für die Bandnummer, gefolgt von Seitenzahl und Nummer des Fragments. Jede
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kraft gewinnt diese Formulierung erst, wenn man sie durch ein weiteres Fragment zwei Seiten später ergänzt, in dem es heißt: »Der erste Schritt wird Blick nach innen – absondernde Beschauung unsres Selbst – wer hier stehen bleibt, gerät nur halb. Der zweite Schritt muss wirksamer Blick nach außen – selbsttätige, gehaltene Betrachtung der Außenwelt sein.« (328:26) Insofern verbindet Novalis mit seinen Zeitgenossen, dass seine Texte von »Selbstbearbeitung« (334:53) und »Selbstmodifikation« (347:101), von »Selbstveränderung« (490:115) und »Selbstfremdmachung« (ebd.) handeln, jedoch führt diese Selbstthematisierung bei ihm zur Entdeckung, welche entscheidende Bedeutung der Verbindung mit anderen zukommt, des konkreten Zusammenhangs, in dem jeder Einzelne mit anderen Lebewesen und der Welt der Dinge steht. Seine Texte müssen als immer wieder neu aufgenommener Versuch verstanden werden, eine Spaltung rückgängig zu machen, die Waldenfels die »Spaltung der Welt in eine geistige Innenwelt und eine physische Außenwelt« genannt hat.3 »Was außer mir ist, ist gerade in mir, ist mein – und umgekehrt.« (476:89), so Novalis. Seine theoretischen Auffassungen entwickeln sich anfangs vor allem in Auseinandersetzung mit Fichtes Philosophie des produktiven Ich,4 nehmen deren Gedanken auf, loten deren Begrifflichkeit und logischen Voraussetzungen aus, um sie aber sogleich in Richtungen weiterzudenken, die mit diesen Vorgaben unvereinbar sind. Er versucht dieses Denken hinter sich zu lassen, kehrt dann aber wieder auf neuer Basis zu ihm zurück. Immer wieder geht es ihm darum, die Unhaltbarkeit des fichteschen Denkens offenzulegen, um dann doch wieder auf dessen Denkmuster zurückzukommen, oft auch dabei hinter die geleistete Kritik zurückfallend. Die Auseinandersetzung geht um Fichtes Auffassung der Gegenstände nicht nur als Objekte, sondern sogar als »Setzung« des Ich, und um Novalis’ Grundüberzeugung, dass sie stattdessen als selbstständige Wesen in ihrer »Eigenschaftlichkeit« wahrgenommen werden müssen. Es gelte, in »den Bezirk des Dinges – des Verhältnisses« zu kommen (II 246:453). Nebeneinander stehen »überraschende, weit vorausgreifende Vorblicke und auch merkwürdige ›Rückfälle‹ in zuvor schon abgewiesene Gedanken.«5 Kurzzeitig sucht Novalis die fichtesche Erbschaft in
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Novalis-Ausgabe verwendet eine andere Orthographie. Die sechsbändige Schriften-Ausgabe übernimmt teilweise die Schreibweise von Novalis, teilweise, wo Manuskripte nicht mehr vorliegen, die stark wechselnden Schreibweisen der Erstausgaben. Schulz nimmt als Herausgeber »gewisse Normalisierungen« und Modernisierungen vor, die aber wiederum dem Orthographiestandard der 1960er Jahre entsprechen (vgl. G. Schulz (2013), Gebrauchsanweisung für eine Novalisausgabe. In: Novalis, Werke, hg. v. G. Schulz. München, S. 571-580, hier S. 578). In einem Text wie dem vorliegenden kann dies dazu führen, dass im selben Satz ein Zitat in Originalschreibweise oder in der Orthographie seiner Herausgeber-Freunde, eine Formulierung in angeglichener, aber nach der Rechtschreibreform von 2006 veralteter und ein Kommentar in neuer Schreibweise neben einander stehen würden. Um dies zu vermeiden und da es im vorliegenden Text nicht um eine im engeren Sinne philologische Arbeit geht, werden die Schreibweisen angeglichen und in allen Zitaten die Orthographie und Interpunktion der Rechtschreibreform von 2006 verwendet. Bernhard Waldenfels (2004), Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt a.M., S. 24. »Was in der Novalis-Forschung als Fichte-Studien bezeichnet wird, umfasst Konvolute und Hefte von nahezu 500 handschriftlich beschriebenen Seiten.« (G. Schulz (2013), Kommentar zum theoretischen Werk. In: Novalis, Werke, a.a.O., S. 733-740, hier S. 734). Manfred Dick (1967), Die Entwicklung des Gedankens der Poesie in den Fragmenten des Novalis. Bonn, S. 133. Vor allem als Anleitung, durch das Labyrinth der Auseinandersetzungen mit Fichte
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
seinen Fragmenten noch zu übertreffen, indem er in geradezu delirierenden Formulierungen Phantasien von der »Modifikation der Welt« bis hin zu der des eigenen Körpers durch das produktive Ich entwickelt (400:62), um dann in einer abrupten Kehrtwendung in eine entgegengesetzte Richtung aufzubrechen, die sich aber zuvor schon angedeutet hatte: In den Schriften ab Sommer 17986 gewinnt in vielen einzelnen Fassetten eine Theorie der Interdependenz und Responsivität Gestalt, die das Phänomen des SichWiedererkennens im Anderen in den Mittelpunkt stellt.7 Für eine solche Theorie der »Berührung« müssen aber von Novalis die Denkmittel erst noch herangebildet werden. Zwar zeigen sich seiner Meinung nach »die Spuren einer neuen Welt« (512) bisher am deutlichsten in der Philosophie, dies habe aber bisher nur Vorläuferstatus. Die »Poesie, die da kommen soll« (380:14), hat die Aufgabe, diese Vorarbeiten aufzugreifen und über den in der Philosophie erreichten Stand hinauszuführen. In poetischen Verfahrensweisen kann der Singularität konkreten AufeinanderBezogenseins am ehesten Ausdruck verliehen werden und insofern erscheinen sie Novalis als der Wissenschaft überlegen. »Der Sinn für Poesie […] ist der Sinn für das Eigentümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnisvolle, zu Offenbarende, das Notwendigzufällige. Er stellt das Undarstellbare dar.« (561:187) So verstanden müsse auch die »vollendete Form der Wissenschaften […] poetisch sein.« (377:4) Novalis nimmt die Zustände seiner Zeit unter dem Vorzeichen eines großen »NochNicht«, aber auch eines hoffnungsvollen »Schon« und »Dereinst« wahr, das sich gleichermaßen auf die Wissenschaften wie auf ästhetische Ausdrucksformen und religiöse Praktiken bezieht. »Die Kunst Bücher zu schreiben ist noch nicht erfunden« (347:104), »das Innere des Menschen bisher nur […] dürftig betrachtet und […] geistlos behandelt worden« (535:97). »In der Physik hat man seither die Phänomene stets aus dem Zusammenhang gerissen« (535:98), man brauche eine neue Medizin, die Seele und Körper in ihrem »Wechselverhältnis« berücksichtigt (386:40), eine neue Religion (316:70), ein neues Verhältnis zu den Dingen. Dies alles ist von einem Optimismus grundiert, der ihn mit der von ihm sonst so entschieden abgelehnten Aufklärung verbindet8 und der ihm Vertrauen in die Geschichte als unabgeschlossenes Projekt der »Menschwerdung« einflößt: »Die Welt ist noch nicht fertig.« (466:65) Diese Wahrnehmung des Prozesshaften, im Entstehen Begriffenen ist wohl Resultat seiner Einsicht in die Schwierigkeiten einer Philosophie, die alles einem System unterordnen will, das auf letzte, vorab definierte Prinzipen gegründet ist. Daher sein Sinn
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hindurch zu finden, ist die Dissertation von M. Dick von nach wie vor unschätzbarem Wert und eindrucksvoll in der Genauigkeit der Auseinandersetzung. D.h. nach Aufnahme seines Bergbau-Studiums. Novalis hatte 1794 sein juristisches Examen abgelegt und seither in der Verwaltung, zunächst in einem Kreisamt, dann in einer Salinendirektion gearbeitet. Im Dezember 1797 begann er sein Studium an der Bergakademie in Freiberg. Aspekte der Interdependenz, Responsivität und Resonanz sind erneut von Hartmut Rosa ins Spiel gebracht und in ihren Koordinaten ausgeleuchtet worden: Hartmut Rosa (2016), Resonanz – Eine Theorie der Weltbeziehung. Frankfurt a.M. Zur bildungstheoretischen Auseinandersetzung mit diesem Konzept vgl. Heinz-Elmar Tenorth (2020), Die Rede von Bildung, a.a.O., S. 595-614. Sie habe »die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle« gemacht, so sein vor allem auf den Atheismus der Aufklärung bezogener Vorwurf in »Die Christenheit oder Europa«. (Novalis (2013), a.a.O., S. 508)
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für die Leistung von Unschärfen, für den »Geheimniszustand« scheinbar übersichtlicher Tatbestände. »Das Äußere ist ein in den Geheimniszustand erhobenes Innere« (458:43); ausgegangen werden müsse von Zonen der »Unbegreiflichkeit«, der unauflösbaren »Ferne«. (461:51) Darin ist denn auch Lessing für Novalis ein typischer Vertreter einer als problematisch empfundenen Aufklärung: »Lessing sah zu scharf und verlor darüber das Gefühl des undeutlichen Ganzen, die magische Anschauung der Gegenstände zusammen in mannigfacher Erleuchtung und Verdunkelung.« (281:22) Man kann diese Kritik wie ein kurz gefasstes Programm lesen, das Novalis ex negativo für sich selbst formuliert; es zielt aber nicht auf eine Apotheose der Dunkelheit, wie sie vielleicht später für Romantiker kennzeichnend war, sondern auf die Einsicht in die Komplexität der Zwischentöne. Für sie einen Sinn zu entwickeln ist nicht gleichzusetzen mit Verzicht auf analytische Schärfe9 , im Gegenteil kritisiert Novalis an der Philosophie seiner Zeitgenossen, dass sie nicht über einen angemessenen Entfaltungsgrad ihrer Wahrnehmungsfähigkeit verfügen. So sei auch Kants »Ding an sich« nichts anderes als eine Leerstelle des Begreifens, die dadurch zustande komme, dass es keine »Berührung« mit den Dingen gebe10 : Für das in seiner Beobachterposition verschanzte kantische Subjekt gibt es diese Möglichkeit nicht. Um eine solche antisystematische Theoriebildung voranzutreiben, greifen sowohl Novalis als auch sein Freund Friedrich Schlegel die Textform des Fragments auf. Aber während F. Schlegel seine Fragmente mit einem »Igel« vergleicht, einer in sich geschlossenen eigenständigen Gestalt, deren Stacheln in alle Richtungen weisen, betont Novalis deren absichtsvolle Offenheit. Sie sollen nur die »Anfänge interessanter Gedankenfolgen« sein, »Texte zum Denken«11 . Bei der Lektüre der Notate von Novalis ist allerdings zu bedenken, dass zwar alle in den Werkausgaben zusammengestellten Textsammlungen dieses Kriterium erfüllen, nicht alle diese Notizen aber auch in ihrer fertigen Gestalt als Fragment geplant waren; häufig handelt es sich um Materialsammlungen, um Notizen mit (dennoch von den Herausgebern abgedruckten) Streichungen, um unabgeschlossene Studien, vieles von Novalis eingeklammert, nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Sie sind Gedankenexperimente, und den Charakter des Experiments macht Novalis auch mehrfach – vor allem im »Allgemeinen Brouillon« – deutlich: »Am Ende scheint alles Nachdenken auf echtes Experimentieren zu führen«, da es nicht ausreiche, angesichts der Komplexität von »Leben« den Ansprüchen der Logik Genüge zu tun. (III 402:702)
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Wie dies Georg Lukacs den Romantikern in seinem Buch »Die Zerstörung der Vernunft« (1954) zum Vorwurf gemacht hat. In seinen Kantstudien exzerpiert sich Novalis den Satz »Die Vernunft sieht nur ein, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« und kommentiert, dass daraus notwendig die Konzeption eines Ding-an-Sich hervorgehen müsse: denn hier gehe es um ein Ding »in keiner Berührung mit mir«. (II 386/87:44) Brief an Just, 26.12.1798, zit. Schulz, Gebrauchsanweisung, a.a.O., S. 575. Die Bedeutung des Fragmentarischen erläutert Novalis, anknüpfend an Hemsterhuis, auch so: Es komme darauf an, dem Leser eine bestimmte Richtung auf die Wahrheit zu geben. Er gelangt dann von selbst, wenn er […] tätig ist, begierig, zur Wahrheit zu gelangen, an Ort und Stelle.« (319:74) Hinter diesem Konzept steht die implizite Kritik am Systemanspruch der idealistischen Philosophie, die behauptete, zu einer vollkommenen Darstellung des Seins gelangen zu können.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
Aber der fragmentarische Charakter der Mehrzahl von Novalis’ Texten beruht auch darauf, dass Novalis nicht mehr dazu kam, sie zu redigieren oder zu Ende zu führen. Nur in diesem Sinne wird im Folgenden sehr summarisch von sämtlichen theoretischen Texten mit Ausnahme der »Christenheit oder Europa« als Fragmenten gesprochen. Das Kriterium »Anfänge« zu sein erfüllen sie jedoch alle, oft allerdings auch in dem Sinne, dass sich Novalis in einer Kette von Assoziationen immer weiter vom Ausgangspunkt dieser Gedankenfolge entfernt, während der Leser, die Leserin immer noch hofft, dazu Erläuterungen zu erhalten. Vielleicht darf man sich deshalb berechtigt fühlen, bestimmte dieser gedanklichen Elemente aus ihrem Zusammenhang zu lösen, sie freizulegen und an sie anzuknüpfen, Andeutungen auszubuchstabieren und mit anderen Textstellen in Zusammenhang zu bringen. »Texte zum Denken« und das heißt zum Weiterdenken schließen natürlich nicht aus, dass es zu gelegentlichen Missverständnissen kommt – vielleicht sind ja auch produktive Missverständnisse dabei. Das rasche Abheben vom gedanklichen Ausgangspunkt, das immer wieder in den Fragmenten von Novalis zu beobachten ist, bedeutet oft, dass eine Ausführung mit einer plausiblen Idee begonnen wird und dann in einer Folge von Schlüssen Konsequenzen formuliert werden, die nicht einfach nachzuvollziehen sind12 . So, wie es Probebohrungen und Probehandeln gibt, hat man oft bei Novalis den Eindruck des Probedenkens, von Zuspitzungen, um einer neuen, gerade erst Kontur gewinnenden Denkmöglichkeit zum Ausdruck zu verhelfen. Novalis’ Denken wechselt beständig zwischen subjekttheoretischen, ethischen, theologischen, wissenschaftstheoretischen und ästhetischen Fragestellungen, ergänzt durch naturwissenschaftlichen Spekulationen und Reflexionen zur Lebenskunst. Dabei steht er vor der Aufgabe, für seine Reflexionen eine Sprache zu finden, die nicht schon durch die Vertrautheit der Formulierungen die Wahrnehmung verhindert, dass es hier um etwas bisher Ungedachtes geht. Das erst noch zu Entwickelnde ist nicht in konventionellen Denkmustern und Kategorien formulierbar; deshalb bewegt sich Novalis gelegentlich an den Grenzen des Nachvollziehbaren. Er bewegt sich entlang der Grenzen, an denen sich Subjekt und Objekt vormals deutlich geschieden haben und die für ihn nun zu Kontaktflächen eines Austauschs werden. Dabei steht auch sein Denken unter dem zeittypischen Vorzeichen von Einheit, Ganzheit und Harmonie, worin er der deutschen Klassik verwandt ist. Auch bei Novalis ist die Wahrnehmungsfähigkeit für Widersprüche zu unausgebildet, als dass er Konflikte, Differenz und Ambivalenz ausdrücklich zum Thema machen könnte. Dies wird erst von Hegel systematisch ausgelotet. Unter bildungstheoretischem Aspekt sind diese Gedankengänge von Belang, da sie einerseits explizit auf Bildung, verstanden als »Menschwerdung« und »Selbstveränderung«, verweisen, andererseits laden sie dazu ein, die Art, wie sich Novalis von der Subjektphilosophie ablöst und wie er dadurch zu einer Betonung der Reziprozität der Lebewesen, von Verbindung, Verhältnis, Zusammenhang gelangt, bezüglich ihrer bildungstheoretischen Konsequenzen weiterzudenken. Nach einer kurzen Erörterung, in
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Diese Verschiebungen, aber auch die nicht-lineare Geflechtstruktur der Fragmente haben dazu geführt, dass von den philosophischen Texten von Novalis gesagt wurde, sie gehörten »zu den schwierigsten der deutschen Philosophie.« (Christian Iber (1999), Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik. Frankfurt a.M., S. 101)
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Transformationen des Bildungsbegriffs
welchem Sinne von bildungstheoretisch relevanten Elementen im Denken von Novalis gesprochen werden kann (7.2), widmen sich die Abschnitte 7.3 bis 7.5 den Grundlagen dieses Denkens: der Entwicklung, die es vollzieht, den Begriffen, die in der Ausbildung dieser Denkbewegung wichtig werden und den Quellen, aus denen es sich speist. Die Abschnitte 7.6 bis 7.9 versuchen herauszuarbeiten, in welche Richtungen Novalis das unabgeschlossene Projekt der »Selbstveränderung« konkretisiert, nämlich in Gestalt von drei Dimensionen: die der sich erforschenden »Selbstbeziehung«, der Aufgabe umgestaltenden Handelns, und schließlich der Entwicklung neuer »Organe« moralischer Wahrnehmungsfähigkeit. Abschnitt 7.10 skizziert, in welchem Sinne diese bildungstheoretischen Aspekte im Romanfragment »Die Lehrlinge zu Sais« Gestalt annehmen. Andeutungsweise werden in diesen Abschnitten die Umrisse einer Bildungstheorie deutlich, für die das autonome Subjekt des Idealismus aufhört, Orientierung zu bieten und für die stattdessen die Erforschung von Zusammenhang und Responsivität zum Mittelpunkt wird.
7.2
Romantische Bildungstheorie: Eine Skizze
Wie andere seiner Zeitgenossen hat auch Novalis den Eindruck, am Ende des 18. Jahrhunderts an einer Zeitenwende zu stehen. So, wie Hegel seine Gegenwart Anfang des 19. Jahrhunderts als eine »Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode« bezeichnet13 , spricht Novalis wenige Jahre zuvor von den überall sichtbaren »Spuren einer neuen Welt«, die in »Wissenschaften und Künsten […] eine gewaltige Gärung« erzeugen. (512) Dahinter steht bei ihm und vielen anderen die Auffassung, dass dies nicht nur eine Zeit politischer Umbrüche und Resultat eines neuen Freiheitsstrebens sei, sondern auch von der zunehmenden Bedeutung von Wissen und Wissenschaft angetrieben wird. Ihre Aufgaben werden mit einer neuen Phase der Menschheitsgeschichte gleichgesetzt: Die »Menschwerdung der Menschen« sei ein unabgeschlossenes Projekt; der Mensch müsse sich als der, der er eigentlich ist, erst noch selbst hervorbringen. Dass die Verwirklichung der in der menschlichen Gattung angelegten produktiven Potentiale eine Aufgabe ist, die nun von ihr aktiv in Angriff zu nehmen sei, ist seit der Aufklärung eine Art Grundkonsens und liefert den Nährboden für Bildungstheorien. Bei Novalis erhält diese Grundüberzeugung insofern eine charakteristische Wendung, als er die Spekulation über solche Entwicklungsaufgaben in den Kontext seiner naturwissenschaftlichen Studien und seiner naturphilosophischen Reflexionen versetzt. Sein geologisches Wissen aufgrund seiner Tätigkeit als Bergbau-Ingenieur in den Salinen und Bergwerken von Thüringen statten ihn mit einem geschärften Bewusstsein für die Naturgeschichte in Gestalt der Erdzeitalter aus (oder besser Phasen, denn das Konzept der Erdzeitalter gibt es noch nicht). Gerade erst beginnen Fossilienfunde Aufsehen zu erregen und führen bei Novalis zu Spekulationen, ob die Evolution der Pflanzen und Tiere nicht bereits zum Abschluss gekommen ist, die Entwicklung der menschlichen Gattung im Gegensatz dazu aber vielleicht gerade erst Fahrt aufnehme 13
G.W.F. Hegel (1986), Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3. Frankfurt a.M., S. 18.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
(die Theorie der Evolution der Arten gibt es zu diesem Zeitpunkt noch nicht). Denn wir »sind zugleich in und außer der Natur« (III 252:75) und insofern sei die menschliche Geschichte auch ein Sonderweg: »der Mensch ist das eigentliche Chaos.« (540:114) Damit stehe er im Gegensatz zur Natur und sei in seiner Gesamtheit etwas noch völlig Unabgeschlossenes.14 Wichtiger als die Vergangenheit ist es, die Zeichen der Zukunft richtig zu deuten. Sie finden sich vor allem in der Kunst: »Die Galerien sind Schlafkammern der zukünftigen Welt.« (484:102) Dies sind die Voraussetzungen, unter denen sich Novalis an eine Art Bilanzierung der Aufgaben macht, die daraus seiner Auffassung zufolge erwachsen. Dabei lassen sich drei Ebenen unterscheiden, auf denen bildungsthematische Aspekte Relevanz bekommen. In seinen Fichte-Studien beschäftigt sich Novalis zunächst mit der Frage, ob die von der Philosophie seiner Zeit entwickelten Zugänge eine ausreichende Grundlage dafür bieten, die Stellung des Menschen zur Welt angemessen zu begreifen. Seine Antwort wird lauten, dass dazu ihr Zusammenhang mit anderen Lebewesen neu und anders begriffen werden muss und dass es dazu einer Veränderung der Wahrnehmungsfähigkeit bedürfe. »Vermehrung der Sinne und Ausbildung der Sinne gehört mit zu der Hauptaufgabe der Verbesserung des Menschengeschlechts, der Graderhöhung der Menschheit.« (467:66) Mit dieser Forderung einer »Vermehrung der Sinne« greift er einen Gedanken des niederländischen Philosophen F. Hemsterhuis auf, der von der Notwendigkeit spricht, neue Wahrnehmungsorgane auszubilden, genauer gesagt, Organe, die keimhaft bereits vorhanden sind, aber vernachlässigt wurden. Sie müssen erst noch zur Entfaltung gebracht werden. Es sind Organe der Seele, die der Entwicklung bedürftig sind und insbesondere gelte dies für das »moralische Organ«. Novalis greift diesen Gedanken auf und ebenso auch die Verwendung des Moralbegriffs in einem sehr weiten Sinne, nämlich als Fähigkeit des Individuums, seinen Zusammenhang mit anderen, die Beziehungen, in denen er zu ihnen steht, wahrzunehmen. Bei Hemsterhuis hat die Interdependenz aller belebten und unbelebten Elemente den Rang eines grundlegenden Naturprinzips: »Die moralische Seite des Weltalls ist noch unbekannter und unermesslicher als der Himmelsraum«, notiert sich Novalis in sein Exzerptheft zu Hemsterhuis. (II 369:29) Daraus folgt für Novalis die Forderung, ein Sensorium für das »Wechselverhältnis« der Teile auszubilden. Deren »Wechselseitigkeit«, die »Wechselwirkung« der »Wechselglieder«, ihre »wechselseitige Bestimmung beider durch einander« (400/01:65) genauer zu bestimmen wird einerseits seine naturwissenschaftlichen Forschungen leiten und andererseits eine ethische Wende ihrer Fragestellungen bedeuten. Formen der Responsivität als Grundprinzip darzustellen wird Gegenstand seiner Fragmente auf allen Ebenen, sowohl bezogen auf die Natur wie auf Kunst und Alltagswelt. Diese Neuvermessung erfordert Arbeit an den Instrumenten wissenschaftlicher Forschung, ergänzt durch Vorstellungskraft und Imaginationsfähigkeit, experimentelles Denken, Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit. Gegen Fichte und Kant formuliert er die Aufgabe, in »den Bezirk des Dinges – des Verhältnisses« zu kommen. (II 246:453) Über die Unzugänglichkeit der Dinge in ihrem An-Sich hofft er hinwegzukommen, wenn es gelingt, ihre Eigenschaften als Unterschiede wahrzunehmen, denn mit den 14
Zur Zitierpraxis s.o., Anm. 2.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Eigenschaften, die sie unterscheiden, habe das erkennende Ich etwas gefunden, das ihre Realität ist, das ihnen selbst zukommt. Das Ich entwickelt ein geschärftes Bewusstsein der Gegenstandswelt: Zunehmend ist das Verhältnis, in dem Ich und Welt zueinanderstehen, bei Novalis nicht mehr wie bei Fichte »Setzung« des Subjekts (überhaupt vermeidet Novalis von Subjekt und Objekt zu sprechen), sondern er fordert stattdessen: »Wir sollen alles in ein Du – in ein zweites Ich verwandeln« (465:62). Ein zweites Ich stellt von sich aus Ansprüche. Auf diese Weise finden bei ihm Begriffe wie »Aufmerksamkeit«, »Vernehmen« und »Empfänglichkeit« Eingang in die Theoriebildung (vgl. II 243 ff) und konkretisieren die bereits angesprochene ethische Wende.15 Dies aber – und das wäre eine zweite Ebene – verlangt die gleichzeitige Rückwendung auf das eigene Ich. »Wir verstehen natürlich alles Fremde nur durch Selbstfremdmachung – Selbstveränderung – Selbstbeobachtung.« (490:115) Zur Ebene der »moralischen Bildungslehre« (III 253:76) muss die Reflexion darauf hinzutreten, welche Voraussetzungen, die das eigene Ich begründen, in die Relation zu anderen eingegangen sind. »Ich ist kein Naturprodukt« (III 253:76) – es ist etwas Gewordenes und um sich selbst zu verstehen steht es vor der Aufgabe einer reflexiven »Selbstdurchdringung«. In ähnliche Richtung weisen Begriffe wie »Selbstbearbeitung« (334:53), »Selbstmodifikation« (347:101) und »Sich-Selbst-Findung« (324:23). Dies ist die Arbeit der Selbstreflexion als Aufgabe, »sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen« als »höchste Aufgabe der Bildung« (329:28). Novalis ebenso wie Schlegel betonen an der Reflexion deren Fähigkeit zur Selbstaufklärung über das eigene Denken: Reflexion ist dessen Selbsterkenntnis und Metainstanz, Denken des Denkens16 , nicht lediglich nachträgliche Bearbeitung im Sinne der Integration neuer Erfahrungen in ein bestehendes Selbstverständnis. Im Gegenteil zielt sie auf dessen Infragestellung durch Erweiterung der Perspektiven. Denken ist zielgerichtet und lösungsorientiert, Reflexion dagegen eher eine Vertiefung in die verschiedenen Seiten eines Problemzusammenhangs und der eigenen Stellung dazu. Die schwebende Aufmerksamkeit der Reflexivität wehrt sich gegen jede »Fixierung eines Objekts« (315:69) und hält Möglichkeiten seiner Bewertung offen. Es gehört zu den Verfahrensweisen der Reflexion, sich im Medium der Ambiguitäten zu bewegen und dadurch der inneren Heterogenität eines Gegenstandes Rechnung zu tragen. Novalis nennt dies »Wechselkraft« (301:19), sie ist die Fähigkeit, sich zwischen verschiedenen Perspektiven zu bewegen und damit einfache Dichotomien auszuschließen. Zwar gehöre zum Wesen der Reflexion, dass sie alles »in seine Bestandteile auflöst« (311:59), dass sie trennt und unterscheidet, gleichzeitig aber kann sie auch den »Zusammenhang der
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Bestärkt wird Novalis in diesem Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus vom erzeugenden zum empfänglichen Ich durch die Reiz-Theorie des einflussreichen schottischen Mediziners John Brown, der zufolge der Gesundheitsstatus in erster Linie von der Art abhängt, auf die der Körper eines Menschen auf von außen wirkende Einflüsse reagiert. Ein größerer Abstand zum »setzenden« Ich Fichtes ist kaum vorstellbar. Vgl. Walter Benjamin (1973), Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Frankfurt a.M., S. 23.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
Entgegengesetzten« bemerken. (317:71)17 Dafür verwendet Novalis den Ausdruck des Schwebens: eine kreisende, nicht eigentlich zielgerichtete, die Elemente des fraglichen Zusammenhangs alle gleichzeitig in den Blick nehmende Bewegung, einerseits distanziert, andererseits empfänglich für deren Singularität. Darin ist sie »lebendige Reflexion« (376:3) – die allerdings, wie er hinzufügt, »sorgfältiger Pflege« bedarf, um sich zu entfalten; sie ist das Ergebnis von Bildungsprozessen. Damit artikuliert sich eine dritte Bedeutungsdimension von Bildung, wenn Novalis in dem Fragment des »Blütenstaub« formuliert, dass das reflexive Selbstverhältnis, der Weg, der »nach innen« führt, nur der erste Schritt sein kann, denn »wer hier stehen bleibt, gerät nur halb. Der zweite Schritt muss wirksamer Blick nach außen […] sein.« (328:25). Dieser Befund wird wenig später radikalisiert: »Zur Bildung der Erde sind wir berufen« (330:32) und dem entspreche von Seiten des Ichs eine »bildende Kraft«. (314:67) Bildung wird hier im Sinne von »Gestaltung« gebraucht. Und Novalis knüpft damit an die im 18. Jahrhundert sehr präsente Bedeutung von Bildung im Sinne eines »nisus formativus« an, eines Bildungstriebs zur Gestaltung der umgebenden Welt.18 Während kurz zuvor als »höchste Aufgabe der Bildung« bestimmt wurde, »sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen« (239:28), bedeutet Bildung nun, eine Sache umzugestalten. Aber damit stellt sich die Frage, ob es sich bei diesem Wortgebrauch um eine Doppelbesetzung des einen Begriffs mit zwei auseinanderweisenden Bedeutungen handelt oder ob der Begriff der Bildung hier nicht eher durch den Handlungsaspekt erweitert werden soll. Selbstbildung und Gestaltung der Welt gehen in einander über, Bildungstheorie wird zur Handlungstheorie, wenn Novalis formuliert: »Nur durch Handeln kann etwas für mich entstehen – denn es kommt etwas in meine Sphäre – es entsteht etwas zwischen mir und mir. […] Ich rücke gleichsam meine Grenze vorwärts – ich gewinne etwas.« (II 293/4:654) Die Auseinandersetzung mit etwas Fremden führt zu einem veränderten Selbstbezug. Mit der Betonung, dass dies durch Handeln geschieht, nimmt Novalis Fichtes Weiterentwicklung der erkenntnistheoretischen Fragestellung zu einer Theorie des produktiven Ich auf: Bei Fichte rückt die »Tathandlung«, die Tätigkeit des Ich in den Mittelpunkt, und Novalis übernimmt diese Entscheidung, das handelnde Ich, ja sogar die Handlung selbst ins Zentrum zu stellen. Er spitzt dies weiter zu, indem er die Handlung selbst als Bildung bezeichnet. Der Begriff bedeutet nun beides, Bildungstrieb, »nisus formativus«, gegenständliche Gestaltungsfähigkeit und eigener Bildungsprozess, beides bildet eine untrennbare Einheit. Offenbar reicht ein ausschließlich subjekttheoretisch motivierter Bildungsbegriff Novalis nicht mehr aus, er bricht mit dessen enger rückbezüglicher Bedeutung, und so ist das Fragment ein Spiel mit den zu eng gezogenen Grenzen der Subjekttheorie. Denn säuberlich scheiden
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»Die Unendlichkeit der Reflexion ist für Schlegel und Novalis in erster Linie nicht eine Unendlichkeit des Fortgangs, sondern eine Unendlichkeit des Zusammenhangs«, schreibt W. Benjamin unter Hinweis auf Hölderlin, der zeitgleich mit den Romantikern in seinen Pindar-Fragmenten davon spricht, dass verstanden werden muss, wie Dinge »unendlich (genau) zusammenhängen« (W. Benjamin, ebd., S. 22; gemeint ist das Pindar-Fragment »Das Unendliche«). Der Ausdruck »Bildungstrieb« geht auf den Anthropologen und Naturforscher Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) zurück, der einen solchen Trieb zum Unterscheidungsmerkmal zwischen belebten und unbelebten Körpern erklärte.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
lassen sich Innen und Außen, Gegenstandsbezug und Selbstbezug nicht, alle Bildung ist »Zueignung und Mitteilung zugleich« (330:32).19 Was aber ist an diesen Bruchstücken einer romantischen Bildungstheorie das »Romantische«? Alltagssprachlich hat das Adjektiv »romantisch« einen problematischen Beigeschmack angenommen; zwar wird mit ihm die Erwartung geweckt, dass hier die Seele und ihre Sehnsucht nach Harmonie, Schönheit und großen Gefühlen auf ihre Kosten komme, andererseits geschieht dies im Wissen, dass damit einer realitätsgerechteren Wahrnehmung der Verhältnisse nur eine kleine Pause verschafft wird. Es ist bereits deutlich geworden, dass Hegel die konstitutive Rolle von Konflikten und des Erlebens von Widersprüchen betont und dies als Konfrontation mit einem Fremdartigen darstellt, das von ihm mit dem Einbruch von Leiden und Entfremdung gleichgesetzt wird. Während dies bei Hegel zum Ausgangspunkt von Bildungserfahrungen wird, ist ein Grundzug der Romantik die Sehnsucht nach einer Fremde, die vor allem bereichernde, durchweg als verlockend geschilderte Eindrücke verheißt. Nach ihnen verlange die Seele wie nach einem verlorengegangenen oder unausgebildeten Teil ihrer selbst. Das Fremde steht bei den Romantikern immer in enger Verbindung mit einem rätselhaft bleibenden Schönen, und das Ich antwortet darauf mit unbedingter Liebe, ein Muster, das der Mehrzahl der Romanliteratur bis hin zu Eichendorffs Erzählungen zugrunde liegt. Auch Novalis führt »Romantik« auf das Romanhafte zurück (vgl. 451:16, 491:117). Auffällig ist, dass die Ambivalenzen dieses anziehend Fremden nicht ausgelotet werden. Dadurch erhalten Empfindung und Gefühl von Anfang an einen besonderen Stellenwert, aber immer geht es dabei um Gefühle wechselseitiger Attraktion, um Sympathie, Zuneigung, um eine offenbar immer als bereichernd empfundene »Kommunikation der äußeren Gegenstände mit der Seele« (II 272:568). Dies scheint sogar die Bedingung zu sein, dass auf der Bedeutung von Affekten insistiert werden kann. Sie sind bei Novalis mehr als eine bloße Vorstufe der Erkenntnis, sondern ein Erkenntnismittel eigenen Rechts.20 »Fühlen verhält sich zum Denken, wie Sein zum Darstellen« lautet, gegen Fichte gerichtet, eine frühe Notiz (303:26). Denken hat demnach eine bloß repräsentierende Funktion, unmittelbarer Ausdruck des Seins ist dagegen das Fühlen. 19
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In diesem Sinne spricht Leopold Klepacki (2016) davon, dass dieses Ineinander von »Selbst- und Welttransformation« »in doppelter Hinsicht eine Bildungsidee« sei. Es gehe zugleich um die »paradigmatische Ausbildung menschlicher Wirksamkeit« und um die »Bildung der subjektiven Imaginationsfähigkeit bzw. der schaffenden Einbildungskraft.« (Ders., Das approximative Erfassen des Ganzen als ästhetisches Versuchsprogramm. In: J. Zirfas/D. Lohwasser u.a. (Hg.), Geschichte der ästhetischen Bildung, Bd. 3.2, Paderborn, S. 157-173, hier S. 170, 157, 167) Dass die Thematisierung von Empfindung und Gefühl fast nur unter dem Vorzeichen positiver Gefühle stattfindet, lässt die Belletristik der Romantik (z.B. bei Novalis und Tieck, schon nicht mehr bei E.T.A. Hoffmann) zuweilen so eigentümlich flach erscheinen – Liebe allenthalben. Dies hat aber noch einen anderen Aspekt. Denn Novalis verfolgt mit der Hervorhebung der Rolle gegenseitiger »Zuneigung« selbst noch auf physikalischer Ebene (vgl. 446:2) eine Fährte, die die Alchemie gelegt hat und deren Synonyme Analogie, Entsprechung, Reihe und Variation sind. »Ist nicht alles voll Bedeutung, Symmetrie und seltsamem Zusammenhang?« (556:167) Die »Selbstähnlichkeit« moderner Chaostheorien weist solche wechselseitigen Zusammenhänge als Konstruktionsprinzipien auf. Offenbar ist Novalis in den zahllosen Fragmenten, die Phänomenen der Analogie und Sympathie gewidmet sind, einem Naturprinzip auf der Spur, das Zusammenhang bewirkt, aber nicht in Gestalt von Kausalität, sondern Symmetrie.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
Während das Denken zu trügerischen Eindeutigkeiten neigt (wie bereits anhand von Novalis’ Urteil über Lessing deutlich wurde – »Lessing sah zu scharf und verlor darüber das Gefühl des undeutlichen Ganzen« (281:22)), gelingt es dem Gefühl, etwas »in mannigfacher Erleuchtung und Verdunkelung« (ebd.) wahrzunehmen und darin ist es keine bloße Defizit- oder Vorform des Genauen, sondern erfordert die Fähigkeit, Aufmerksamkeit für Mischungen, Unabgeschlossenes, Ambiguitäten zu entwickeln. Dies hat der Romantik den Vorwurf des Irrationalismus eingetragen. Tatsächlich geht es Novalis jedoch nicht um ein Ersetzen der Mittel des Verstandes durch Empfindungen, sondern um ein Ergänzungsverhältnis. »Ausbildung der Sinne« (467:66) soll eine Erweiterung der Erkenntnistätigkeit um die Fähigkeit, sich im Medium der Unschärfe und des Uneindeutigen zu bewegen, bewirken. Dies bewusst zu tun bedarf es der Reflexion; ihre Aufgabe ist es, die »Deutlichkeitsstufen« (Benjamin) der Wahrnehmung zu benennen und in ihrer Aussagekraft zu untersuchen.21 Dazu bedarf es der Fähigkeit zur Imagination als Verbindung von Anschauung und Vorstellungskraft, denn nur durch die Entwicklung konkreter Vorstellungen kann eine implizite Bedeutung expliziert werden. Für die Romantik bedeutet dies eine Vervielfachung der Perspektiven, den Einbezug von Märchen und Traum, die Aufwertung der Poesie zum Erkenntnismedium. Romantisch an dieser romantischen Bildungstheorie ist damit die Aufgabe, sich selbst umzubilden in ein vielfältiges Wahrnehmungsorgan: Nur so können die Beziehungen, in denen das Ich steht, bewusstgemacht werden, kann es gelingen, in der Reflexion »das Eigene fremd zu machen« und »das Fremde sich zuzueignen« (III 405:716). Aufzulösen ist dieses Fremde dadurch nicht – »Wir sind immer nur ein Teil unserer selbst«, so Schlegel22 , und entsprechend formuliert Novalis: »Die Tiefe unseres Geists kennen wir nicht« (326:17). Hier nimmt Novalis’ Denken eine mystische Wendung: Was bei Kant transzendentale Voraussetzung der Erkenntnis ist, wird bei den Frühromantikern zu einer Art Durchgangsraum des Bewusstseins: Er ist das Medium zwischen der in den Fragmenten ständig präsenten »unsichtbaren Welt« und dem sinnlich Erfahrbaren. »Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren – Das Hörbare am Unhörbaren – Das Fühlbare am Unfühlbaren. Vielleicht das Denkbare am Undenkbaren – .« (II 650:481)
7.3
Umstellung der Prämissen
Novalis wird später von der Philosophie Fichtes als einem »furchtbaren Gewinde von Abstraktion«23 sprechen und sich über die »Armseligkeit« einer Philosophie wundern, die aus der »Annahme eines allgemeingeltenden Gedankens«, noch dazu »einem trivialen Gedanken«, glaubt alles ableiten zu können, was sich über die Welt sagen lässt (522/23:25). Dabei bringe sie es zu nicht mehr als angewandter Logik. Diesem Fazit vorausgegangen sind aber seine »Fichte-Studien«, in denen er sich auf ca. 500 Seiten in qualvoll kleinen Schritten an dieser Philosophie ab- und allmählich aus ihr herausarbeitet. Auch für den Leser ist der Nachvollzug eine mühselige Angelegenheit, da diese 21 22 23
W. Benjamin, a.a.O., S. 27. F. Schlegel, zit. W. Benjamin, ebd. Brief an F. Schlegel vom 14. Juni 1797.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Notizen »weit vorausgreifende Vorblicke« enthalten, aber ebenso »merkwürdige ›Rückfälle‹ in zuvor schon abgewiesene Gedanken«24 , ganz als habe es die vorausgegangene Kritik nicht gegeben. Indem Novalis’ theoretische Gedankengänge ihren Ausgang bei Fichte nehmen, übernehmen sie die von ihm entwickelte äußerste Zuspitzung subjekttheoretischen Denkens, nämlich die Prämisse, das Ich sei die einzige Realität, da es die Realität selbst produziert. Novalis’ Denkbewegung führt schrittweise immer tiefer in das vorgefundene Dickicht begrifflicher Differenzierungen hinein und oft nicht wieder heraus. Gleichzeitig jedoch macht er sich rasch von einigen der Denkvoraussetzungen Fichtes frei, allerdings oft ohne dies zu diskutieren.25 Andere Prämissen werden regelrecht durch immer erneute Wiederaufnahmen zerdacht. Novalis übernimmt Fichtes Reflexionen zum Verhältnis von Ich und Nicht-Ich, aber nicht dessen Prämisse, dieses Verhältnis sei eine nachgeordnete Ebene in einer hierarchischen Struktur, deren Spitze von einem absoluten, völlig autonomen Ich gebildet wird. Zunehmend macht er sich frei von der Fichteschen Terminologie: Aus »Tathandlung«, Aktion des Ich, wird »Tatsache«, eine Sphäre subjektunabhängiger Realität, aus dem Nicht-Ich wird Gegenstand, und der ist kein Objekt, sondern ein Selbständiges, das seinerseits Einfluss auf das Ich nimmt.26 Dieser Gedanke ist Fichte nicht fremd, taucht bei ihm aber nur als Durchgangsstadium, als Denkfigur im Prozess der fortschreitenden Selbstentfaltung des Ich auf. Bei Novalis wird er zum Ausgangspunkt einer Neubestimmung der Position des Ich. Für die Denkbewegung, die in den »Fichte-Studien« dokumentiert wird, wäre tatsächlich »Dekonstruktion« die geeignete Bezeichnung, da Novalis mehr Energie darin investiert, aus den vorgefundenen Elementen die Möglichkeiten einer veränderten Rolle des Ich zu entwickeln als sich auf eine direkte Kritik Fichtes zu konzentrieren. Statt Einwänden werden Zweifel formuliert: »Was verstehen wir unter Ich? Hat Fichte nicht zu willkürlich alles ins Ich hineingelegt? Mit welchem Befugnis? Kann ein Ich sich als Ich setzen ohne ein anderes Ich«? (296:5/II 107:5) Diese Suchbewegung – »die Wissenschaft, die ich suche« (II 228:346) – mündet schließlich in einer immer radikaleren Zurückweisung des vorgefundenen philosophischen Inventars; es erscheint ihm als unbrauchbar. Dies fängt an beim Terminus »Begriff«: »Begriffe […] sind nichts Reales – sie haben nur idealen Gebrauch« (II 256:479). »Einem Begriff fehlt das Original des Begriffenen« (II 261:514). Ebenso fragwürdig erscheint ihm die Verselbstständigung des Ich: »Ich – ist vielleicht wie alle Vernunftideen bloß regulativen, klassifizierenden Gebrauchs. Gar nicht in Beziehung zur Realität« (II 258:502). Und schließlich nehmen die Zweifel am Sinn einer der Empirie vorgeordneten Ebene logischer Relationen zu, vor allem an der Verwendung des Wortes »rein«, das zunehmend als »leerer Begriff« wahrgenommen wird. (II 179:234, vgl. ebd., S. 214/5) Diese Einwände bündeln sich zu ei-
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M. Dick a.a.O., S. 133. Manfred Dick, der akribisch die Akzentverschiebungen nachvollzieht, die Novalis in Bezug auf dieses Denkgebäude Fichtes vornimmt, weist darauf hin, dass Novalis zentrale Positionen Fichtes zwar bald schon »ablehnt und fallen lässt«, aber dies anfangs doch »noch nicht bewusst und ausdrücklich« (M. Dick, a.a.O., S. 27). Vgl. II 225:327, II 237:437.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
ner fundamentalen Vernunftkritik. »Die Vernunft ist das Vereinfachende« (II 253:472). Wenn aber »Vernunft selbst […] nur eine ordnende Idee [ist:] Wo bleibt der Nutzen, der praktische Einfluss der Philosophie?« (II 256:480) »Welche Realität hat die Lehre der Vernunft?« (II 256:481) Und schließlich: »Was ist an der Wissenschaft eigentlich Wissenschaft« (II 264:544), wenn sie Kategorien als absolut setzt, die bei näherem Hinsehen Teil eines Beziehungsgefüges sind? So im Fall des Subjektbegriffs, der von der Philosophie als Begründung von Bewusstsein gedacht wird. Das Subjekt »ist aber nicht vor dem Bewusstsein, sondern es ist mit dem Bewusstsein« – sozusagen als dessen »gemeinschaftliche Außensphäre – […] allgemeine Szene – […] Raum. Es ist sowenig also ein absolutes Subjekt, als ein absoluter Raum« (II 253:471). Damit gelangt Novalis schließlich zu einem »freiwillige[n] Entsagen des Absoluten« (312:62/II 270:566) als begründender Denkfigur. Deutlich wird, dass Novalis zunächst versucht, die vorgefundenen Begrifflichkeiten und Paradigmen bezüglich ihrer internen Struktur auszuloten, dann aber dabei auf Denkprobleme stößt, die diese Vorgaben selbst in Frage stellen. Seine Zweifel erfassen in der Folge immer mehr Basisannahmen der Erkenntnistheorie und führen zu einer radikalen Umstellung der Prämissen. Vor allem verändert sich die Auffassung des Verhältnisses von Ich und Gegenstand und dies führt schließlich da, wo er den Bildungsbegriff aufgreift, zu einem Bruch mit einer subjekttheoretischen Begründung von Bildung. Den Bedeutungsaspekt der Gestaltung der Außenwelt, ihrer Formung und Gestaltung streift Bildung bei Novalis niemals ab, sie bezeichnet nie nur die Selbstgestaltung des Ich; eines ist Voraussetzung des anderen; Ich und Welt »müssen in sich selbst mit dem anderen und mit sich selbst im anderen zusammentreffen.« (460:14) Von Fichte übernimmt Novalis den zentralen Gedanken des Tuns und Tätigseins. Das Ich steht nicht mehr, wie bei Kant, der Welt bloß in der Rolle des Beobachters gegenüber. Wo aber Handeln ist, da ist auch Entgegensetzung, Gegensatz, Widerstreit. Bei Fichte ist dies der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der sich aus der Vorrangstellung des Subjekts ableitet, denn das Ich ist das allein Reale.27 Wie um festen Boden zurückzugewinnen greift Novalis im Fortgang seiner Fichte-Studien immer wieder auf den Gedanken des alle Realität konstituierenden Ich zurück, um ihn dann aber gleich darauf wieder hinter sich zu lassen. So formuliert er einerseits: »Wenn ich frage, was eine Sache ist, so frage ich nach ihrer Vorstellung und Anschauung – ich frage mich nur nach mir selbst« (II 232:373), um dann aber fünf Seiten später zu bedenken zu geben, dass diese Sache ebenso gut wie das Ich ein »Wesen« hat, das an seinen »Eigenschaften« sichtbar werde. Sie sind, so erläutert er gegen alle Bewusstseinsphilosophie gewandt, kein Produkt subjektiver Wahrnehmungen, sondern durch die Tätigkeit des Gegenstandes selbst zustande gekommen. Das Ding »ist nur wahrnehmbar, insofern es tätig ist« und darin selbstständig (II 237:437), und aus dieser Tätigkeit entsteht seine
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Man könnte sich fragen, warum das fichtesche Ich ein ihm widerstreitendes Objekt braucht, wenn letzteres doch allein auf der Setzung des Ich beruht. Wäre ohne dessen Widerständigkeit nicht alles viel einfacher? Aber offenbar erscheint diese Entgegensetzung nötig, damit sich das Ich »beschränkt und determiniert« – es muss sich durch den Gegensatz begrenzen, um nicht an eine »an sich ins Unendliche gehende Tätigkeit des Setzens« ausgeliefert zu sein und so völlig gestaltlos zu werden. (W. Benjamin (1973), a.a.O., S. 19)
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Transformationen des Bildungsbegriffs
»Eigenschaftlichkeit« (II 241). »Eigenschaft bedeutet das Gesetz einer ursprünglichen Tatsache – eine Weise der Selbsttätigkeit – Eine Erscheinung, Offenbarung des Wesens.« (SII 237:436) Eigenschaften lassen sich nicht erkennen, aber wahrnehmen, empfinden, fühlen (vgl. II 239:438); sie sind das »Veränderliche, Zufällige, Werdende.« (II 241:441) Unabweisbar wird so die »Notwendigkeit, […] ein objektives Dasein anzunehmen« (II 241:444), eine subjektunabhängige »Sphäre der Realität, oder der Wirklichkeit im strengen Sinn.« (II 225:327) Sie entsteht aus dem Zusammenspiel der Entgegengesetzten. Diese Realität der »Wechselbeziehungen« ist in erster Linie durch »ein Wirkendes und ein Entgegenwirkendes« erfahrbar (II 253:470). »Beide zusammen machen eins aus – Sie bestimmen sich durch Selbstbestimmung wechselseitig.« (II 263:538) Gegensatz wird nicht, wie bei Hegel, als Entzweiung gedacht, die aufgehoben werden muss, sondern er ist das Medium, in dem sich die Erfahrung des Ich unabschließbar bewegt. »Hier steht das Ich immer schon in einem Bezug, und das Verhältnis selbst ist eigentlich das Ursprüngliche, Bedingende.«28 Bei Fichte (und ebenso später bei Hegel) wird »Entgegensetzung« von der Vorstellung grundiert, dass das Subjekt auf diesem Wege einen Prozess sich steigernder Entfaltung des Bewusstseins durchläuft. Sein Verhältnis zu den Objekten ist das einer Konturierung der Bestimmungen des eigenen Ich durch diese Entgegensetzung und dies ist die »Selbstwerdung« des Ich. Novalis kennt eine solche Teleologie der Selbstentfaltung und Selbstergreifung nicht, nur die zeitlose Gegenwart des »Schwebens, zwischen Entgegengesetztem« (310:58). An die Stelle des Subjekt-Objekt-Bezugs treten Ich und Gegenstand als »Momente eines übergreifenden Zusammenhangs«29 und an die Stelle der Bemächtigung des Objekts tritt die Gleichrangigkeit der aufeinander Bezogenen, eine Beziehung zwischen zwei sich zueinander Verhaltenden. Es ist dieser Zusammenhang, die Beziehung als Ganzes, die das eigentlich Reale ist. Novalis nennt sie »Wechselbestimmung und Wechselsein«, »Wechselverhältnis«, »gemeinschaftliche Sphäre«, »Zusammenhang«: »Nur das Ganze ist real.« (II 242:445, vgl. auch 249, Z.11) Fortan »wird überhaupt keine einseitige reine Tätigkeit des Subjekts möglich sein.«30 Denn während das Ich im »transzendentalphilosophischen Denken eigentlich in keinem Verhältnis« stehen kann31 , da es ja apriorische Voraussetzung jeder Auffassung von Relationalität ist, kann Gegenstandswahrnehmung bei Novalis nun nicht mehr aus den subjektiven Gegebenheiten der Erkenntnis abgeleitet werden. Das Ich steht immer schon im Verhältnis zu den Dingen und »Verhältnis ist das Affiziertsein von einer Sphäre.« (II 250:466) Damit verlieren die Dinge den Charakter des Objekts.32 28 29 30 31 32
M. Dick, a.a.O., S. 29. M. Dick, a.a.O., S. 23. M. Dick, a.a.O., S. 42. M.Dick, a.a.O., S. 108. »Subjekt und Objekt sind nur idealische Differenzen, wie links und rechts« (II 278:594). Aber auch mit »Gegenstand« und »Ding« – Begriffe, die Novalis eher statt »Objekt« benutzt –, ist nicht die greifbare Sache gemeint. »Wichtig ist, dass Novalis den Gegenstand nicht als ein Etwas, als ein bestimmtes Gegebenes versteht, das zufällig und nebenbei auch noch die Eigenschaft haben kann, gegen uns zu stehen, das also auch da wäre, wenn es nicht gegenstehen würde. […] Er ist die […] sich einem andern zuneigende Tätigkeit selbst [, …] das Hinausgehen zu einem anderen Selbst.«
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
Erkenntnis formt den Gegenstand ebenso wie dieser Gegenstand selbst die Erkenntnis, denn das Ich bewegt sich in der Sphäre der Dinge. »Ich bin – heißt ich befinde mich in einer allgemeinen Relation.« (II 247: 455) Dabei wird schon bei Novalis die Materialität der Dinge zu einer unhintergehbaren Kategorie: »Alles Selbstständige, materiale Ganze muss aus zwei, bloß in der Reflexion zu unterscheidenden Gliedern bestehen, die zusammen eins und etwas sind.« (II 283:636)33 Nachdem einmal der Status des übergeordneten Ichs als Instanz, aus der die Bestimmungen des Objekts abgeleitet werden, aufgegeben ist, scheint nur noch möglich, von einem »geheimnisvollen Sein der Dinge« zu sprechen (311:59/II 268:556). Ihr »unaussprechlicher Zusammenhang« (II 216) ist jedoch zugänglich über »Empfänglichkeit« und »Aufmerksamkeit« (II 237:437 ff), und deren Organ ist der Körper: »Der Körper […] dient […] vermittelst der Sinne zu einer Kommunikation der äußeren Gegenstände mit der Seele.« (II 273:568) Unter »Empfänglichkeit« will Novalis nicht Passivität, sondern eine »andere Art der Tätigkeit« verstanden wissen, wobei die Fähigkeit zu Empfänglichkeit und Aufmerksamkeit allen Wesen zukomme. (II 238:437) Für Kant war die gegenständliche Welt nur denkbar »als ein fremdes, das Ich bestimmendes Faktum«34 , das dieses Ich begrenzt und über das sich nicht mehr sagen lässt, als dass es ein »AnSich« ist. Bei Fichte ist zwar denkbar, dass dieses Faktum durch sich selbst bestimmt ist, aber auch dies ist eine Aussage, die der Reflexion des Ich entstammt. In seiner Auseinandersetzung mit Fichte versucht Novalis diese Position hinter sich zu lassen und in »den Bezirk des Dinges« vorzustoßen. (II 246:453) Er geht nicht nur den (nicht wirklich großen) Schritt über Fichte hinaus, den Dingen ein eigenständiges Sein zuzuschreiben (ein nicht wirklich großer Schritt, da dies eine Zuschreibung ist), sondern vor allem die Konsequenzen dieses Schrittes zu bedenken. Über ein eigenständiges Sein lässt sich zunächst nur sagen, dass es Leben ist, und dies ist eine Realität, die aus dem Ich nicht ableitbar ist. Allerdings lässt sich in philosophischer Terminologie darüber nicht viel mehr sagen; es bleibt »ein Unaussprechliches […] denn darin besteht gerade das Leben, dass es nicht begriffen werden kann.« (295:4) Was lässt sich über dieses fremde Leben wissen, ohne in den Empirismus vorkritischer Erkenntnistheorien zurückzufallen? Eine der Antworten, die Novalis findet, ist, dass »man es bestimmt von Allem unterscheiden kann« (II 243:445), und zwar aufgrund der Eigengesetzlichkeit jedweden Dinges, die sich in seinen Eigenschaften kundtut. Dass diese Eigenschaften keine bloße Zuschreibung sind, macht Novalis daran fest, dass sie ihrerseits etwas im Subjekt bewirken: Es entsteht durch sie eine Veränderung im Subjekt, denn der bisherige Wahrnehmungsrahmen erweitert sich durch sie. In der Aufmerksamkeit für die Eigengesetzlichkeit eines fremden Lebens »vergrößere ich mein Bewusstsein, denn ich verbinde etwas Neues damit.« (Ebd.) Es wird dem Ich von außen etwas gegeben, das es sich als ein neues Element anzueignen vermag. Novalis verabschiedet sich von der Philosophie Fichtes und vom Idealismus insgesamt mit dem Satz:
33 34
(M. Dick a.a.O., S. 18/19) In objektiven Kategorien, also definitorisch, ist ein solcher Gegenstand nicht erfassbar. Aufschluss, was Novalis mit dieser Zweiheit meint, gibt Fragment II 279:602, wo er von zwei Sphären schreibt: Der Sphäre der »Form (Gestalt)« und der Sphäre der »Materie (Gehalt, Wesen)«. M. Dick a.a.O., S. 118.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
»Was dem Ich nicht gegeben ist, das kann es nicht aus sich deduzieren […] in diesem Aneignen besteht das Wesen seines Seins.« (II 274:568) Als Konsequenz erlangt die Kategorie der Berührung, das wechselseitige Berührtwerden eine zunehmende Bedeutung in den theoretischen Reflexionen von Novalis. Einerseits also wird das Ich als Teil eines Zusammenhangs von aufeinander Wirkenden und Entgegenwirkenden begriffen, andererseits kommt ihm in diesem »Wechselverhältnis« auch eine Sonderstellung zu. Es ist nicht lediglich Leben inmitten anderer Leben, sondern aufgrund seines Bewusstseins des Zusammenhangs, in dem es steht, zugleich in- und außerhalb dieser Relation. Zum Ich wird es nur aufgrund seiner Fähigkeit zur Reflexion seines Status. Und das wichtigste Denkmittel der Reflexion ist die Unterscheidung und Trennung, kurz: die Negation35 . Insofern ist das Ich Instanz und Metainstanz zugleich: eines von mehreren aufeinander Bezogenen, »Moment in einem übergreifenden Zusammenhang«36 , und gleichzeitig dessen Reflexionsorgan, das dieses Bezogensein aufeinander untersucht. »Für uns nur gibt es eine Negation, ein Unbestimmtes, ein Unbedingtes«, fasst Novalis diese Sonderstellung zusammen. (II 198:280) Damit ist das Ich eine Art Beobachter einer Beziehung, in der es zugleich Teilnehmer ist; es leistet die Vermittlung zwischen Realem und Denkbarem, der Wahrnehmung konkreter Mannigfaltigkeit und der Vorstellung ihres Zusammenhangs. Dabei hat dieses Ich aber zunächst doch nur die Funktion des Begreifens eines Geschehens, das unabhängig von ihm existiert, es ist nur das Medium für dessen Artikulation (ein zweiter Schritt ist sein Handeln). Der transzendentalphilosophische Rahmen ist aber damit verlassen. Genötigt wird Novalis zu diesem Schritt, weil er sich vor die Aufgabe gestellt sieht, das Einzelne, Konkrete, Partielle in seiner Nicht-Subsumierbarkeit zu denken: »Die Kraft das Allgemeine zu denken, ist die philosophische Kraft. Die Kraft, das Besondere zu denken die dichterische.« (302:21) Instanz zu sein, in der das Verhältnis dieser »Besonderen« zur Sprache kommt, Artikulations- und Reflexionsmedium dieser Beziehung zu sein, bedeutet bei Novalis aber insofern auch wieder keine Sonderstellung des Ich, als beide, Subjekt und Objekt, Ich und Gegenstand beide gleichermaßen in einer höheren Einheit aufgehoben sind. Demzufolge gibt es ein Sein, das dem Ich vorgelagert ist. Es ist nicht letzte Instanz in der Suche nach Letztbegründungen, sondern diese findet sich in einer Dimension, die Novalis »höhere Sphäre«, »obere Welt«, »Himmel«, »Universum« oder »Absolutes« nennt. In dieser Sphäre findet, so Novalis, eine »höhere Synthesis der Einheit und Mannigfaltigkeit« statt, »durch die Eins in Allem und Alles in Einem ist.« (401:65) Diese Sphäre ist eine niemals von Novalis bezweifelte Voraussetzung seines Denkens.37 35
36 37
Wie bereits Spinoza klargestellt hat: »determinatio negatio est«. (vgl. Baruch Spinoza, Brief an J. Jelles, 2.6.1674. In: B. Spinoza (2017), Briefwechsel, hg. v. W. Bartuschat, Hamburg, S. 193/94, s.o., Kap. 6., Anm. 21) M. Dick, a.a.O., S. 42. Selbstverständlich ist sie für Novalis durch den Pietismus, der ihn so stark prägt, dass er bei Schlegel Befremden auslöst. Schlegel besuchte Novalis im Sommer 1796, d.h. zur Zeit der schweren Erkrankung der Verlobten von Novalis, Sophie von Kühn, in dessen elterlichem Haus in Weißenfels. Dort habe ihn, berichtet Schlegel an seine Cousine Caroline, die »Herrenhuterei« von Novalis, »in die er nun rettungslos versunken ist«, zunächst so gestört, dass er sofort wieder abreisen wollte.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
Das Ich ist unter dieser Perspektive nicht nur Teil einer »Wechselbeziehung« mit der umgebenden Welt, sondern ebenso Teil eines »ewige[n] Universum[s] […], worin wir leben, weben und sind« (II 267:556). »Es ist alles, es ist überall, in ihm leben, weben und werden wir sein.« (II 249:462)38 Allerdings sei das Bewusstsein dafür verlorengegangen. Die Botschaften aus dieser Sphäre erreichen uns eben so wenig wie den Wartenden in Kafkas »Eine kaiserliche Botschaft«. Novalis fasst diese Einsicht so zusammen: »Alles, was wir erfahren ist eine Mitteilung. So ist die Welt in der Tat eine Mitteilung – Offenbarung des Geistes. Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist Gottes verständlich war. Der Sinn der Welt ist verloren gegangen. Wir sind beim Buchstaben stehen geblieben. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung verloren. Formularwesen.« (401:71)
7.4
Responsivität, Berührung
Ein Ich, das sich nicht mehr darüber begreift, dass es eine Subjektposition errichtet und damit alles, was es erblickt, zu seinem Objekt und Gegenstand seines Verfügungswillens macht, sondern das in »den Bezirk des Dinges – des Verhältnisses und des Wechsels kommen« will, muss sich berühren lassen. (II 246:453) Dies in seine Theoriebildung einzubeziehen, stellt Novalis vor die Aufgabe, »die Modifikationen des Gemüts – die Eigenschaften der Seele« zu erforschen (ebd.). »Wechselverhältnis«, »Berührung«, »Mitteilung« werden zu zentralen Begriffen.39 In seinen Fragmenten entsteht ein Vokabular, das unterschiedliche Aspekte des In-Beziehung-Stehens, vor allem aber der Wechselseitigkeit zum Ausdruck bringt, das Verhältnis von Relationalität und Responsivität: »Verhältnis«, »Wechselverhältnis« und »Zusammenhang«, »Sympathie und Koaktivität«, »Übereinstimmung« und »Gemeinschaftlichkeit«, »gegenseitige Zuneigung« auch auf der Ebene der Dinge, »Identität der Natur und des Gemüts«. Zusammenhang der Lebewesen heißt: »Sie müssen in sich selbst mit dem anderen und mit sich selbst im anderen zusammentreffen« (450:14). Ein anderes Erfahrungsspektrum gerät unter dieser Perspektive in den Blick. Dazu müssen sie Wahrnehmungsformen ausgebildet haben, von denen sich die Subjektphilosophie keine Rechenschaft zu geben wusste: »Vermehrung der Sinne und Ausbildung der Sinne gehört mit zu den Hauptaufgaben der Verbesserung des Menschengeschlechts, der Graderhöhung der Menschheit« (467:66). Eine Sensibilität für diese Dimension fand Novalis bereits in den Schriften von Hemsterhuis und in Eschenmayers »Sätzen aus der NaturMetaphysik« (Tübingen 1797), mit denen er sich ausführlich beschäftigte. Er sucht nach einer Theorie der Erfahrungsfähigkeit und findet sie in den Schriften eines Mediziners:
38 39
(Brief an Caroline Schlegel vom 2. August 1786) Ein wenig rezipierter Teil der Werke von Novalis sind seine späten »Geistlichen Lieder«. »Einige davon haben sich bis auf den heutigen Tag in Gesangbüchern erhalten«. (G. Schulz (2013), Kommentar, a.a.O., S. 644) Den Ausdruck »leben und weben« übernimmt Novalis aus der Bibel, Apostelgeschichte, Kap. 16, Vers 28. Vgl. M. Dick, a.a.O., S. 106, Anm. 58. Ich verenge hier und im Folgenden die Dimension der Relationalität bei Novalis auf die Sphäre der Intersubjektivität, während sie bei ihm – vermittels eines »höheren Selbst« – sich immer zugleich auf die religiöse Sphäre bezieht. Nur mittelbar – und am offensichtlichsten in den »Geistlichen Liedern« – ist dies allerdings die des Christentums.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
des Schotten John Brown. Es ist wohl die ständige intensive Nähe von Krankheit und Tod, die ihm aufs Engste verbundene Personen bedrohen, aber auch seine beginnende eigene Krankheit, die seine Aufmerksamkeit auf medizinische Theorien lenkt, und sie haben zweifellos Anteil an der Umstellung theoretischer Prämissen, die Novalis im Zusammenhang mit seinen Fichte-Studien vollzog. John Browns Lehre bezog sich auf die »Erregbarkeit« des Organismus und deren Einfluss auf die physische und psychische Konstitution. Im Mittelpunkt stehen die Formen, wie der Organismus auf die von außen einwirkenden Reize reagiert, und Brown entwickelt eine Theorie des Gleichgewichts von einflussnehmenden Reizen und individueller Reizbarkeit sowie der Störungen dieser Balance. Diese Auffassung des menschlichen Organismus als Reize verarbeitenden Sensoriums steht in denkbar größtem Gegensatz zur Ich-Philosophie Fichtes und überhaupt zur Subjektphilosophie des Idealismus, die sich ausschließlich auf die aktive, gestaltende, autonome Rolle des Ichs beziehen. Eine Theorie der von außen einwirkenden Reize und der auf sie antwortenden Erregbarkeit lenkt den Blick auf die Kontextabhängigkeit von Subjektivität und die Formen der Rezeptivität, die diese Kontexte spürbar macht. Sie wirken »auf die Seele […] und das geheimnisvolle Band zwischen ihr und dem Körper« (412:100), wobei Novalis deren Sensibilität von der Reizbarkeit des Körpers unterscheidet. Empfindungsfähigkeit verwandelt sich in Gefühle, und die erst bringen den Reiz zu Bewusstsein. Berührung ist aber mehr als das, was Brown abstrakt als Theorie von Reiz und Empfänglichkeit entwickelt, nämlich »Trennung und Verbindung zugleich.« (III 458:43) Diese Erfahrung bringt Novalis nicht in den theoretischen Reflexionen seiner Fragmente, sondern in einer Passage seines Gedichts »Letzte Liebe« zum Ausdruck: Statt um die allgemeine Bedeutung von Außenweltreizen und deren Verarbeitung durch den Organismus geht es hier um frühe Bindungserfahrungen des Kindes und die Herausbildung des eigenen Ichs in deren Schutz. Auch hier erscheint das »Wechselverhältnis« als konstitutiv. Mit wenigen Worten skizziert Novalis diesen Zusammenhang im Bild der Mutter-Kind-Dyade: »Wie aus dem Schlummer die Mutter den Liebling weckt mit dem Kusse,/Wie er zuerst sie sieht und sich verständigt an ihr:/Also die Liebe mit mir« (34). Das Ich kommt zu einem Verständnis seiner selbst in der Berührung mit der anderen Person. Novalis’ Bewusstsein der fundierenden Bedeutung dieser Erfahrungsdimension führt zu einer geschärften Aufmerksamkeit bezogen auf die Verfahrensweisen der Philosophie. Einerseits ist Philosophie die Metainstanz der Wahrnehmungen und Empfindungen, von Glaube und Meinung, sie macht sich das Wissen zur Aufgabe und ist dessen Metainstanz, »Wissenschaft der Wissenschaften« (557:169). Aber indem Novalis ihre Verfahrensweisen genauer untersucht, entdeckt er etwas Vor-Reflexives: Alle Philosophie basiere ursprünglich auf einem Gefühl, und zwar dem »Gefühl von inneren, notwendig freien Verhältnissen« (II 113:15). Dieses Gefühl liege allem Philosophieren »notwendig« zugrunde. »Die Grenzen des Gefühls sind die Grenzen der Philosophie.« (II, 114:15). Allerdings lasse es »sich nur in der Reflexion betrachten – der Geist des Gefühls ist da heraus« (ebd.); das Denken wird ihm nie ganz gerecht. Da ein Gefühl etwas Vorbegriffliches ist, entzieht es sich begrifflichen Bestimmungen. Insofern ist es hier wie mit dem »Begriff von Leben« (295:4): »Hier bleibt die Philosophie stehen und muss stehen bleiben – denn darin besteht gerade das Leben, dass es nicht
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
begriffen werden kann.« (Ebd.) Deshalb lässt sich Novalis’ Frage »Was ist denn ein Gefühl?« nicht beantworten (II 113:15). Im Falle der Philosophie ist es »ein Selbstgefühl vielleicht.« (Ebd.) Allenfalls kann man sich ihm annähern, indem man untersucht, wie es zum Wissen steht und ihm einen Platz in der philosophischen Grundlagendiskussion anweisen. Das unbegriffliche »Gefühl scheint das Erste – Reflexion das Zweite zu sein« (II 114:16), beide »bewirken zusammen die Anschauung.« (Ebd.) Insofern macht Novalis das Fühlen zur Basis aller Erkenntnis: »Die reine Form des Gefühls ist darzustellen nicht möglich.« (Ebd.) Aber sie liefert der Reflexion »den Stoff der intellektualen Anschauung« (II 116:19). Diese »wird nun der Stoff der Philosophie in der Reflexion« (ebd.) und über diese Vermittlung zum Wissen. Damit – so die Hoffnung – eröffne sich die Möglichkeit eines »gedachten systematischen […] Zusammenhang[s] zwischen Denken und Fühlen« (ebd.). Dies seien die beiden Quellen, von denen alle Bewusstseinsleistungen gespeist werden: »Der Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen muss immer sein – wir müssen ihn im Bewusstsein überall finden können.« (II 117:19) Fühlen ist hier keine verminderte Form oder bloße Vorform von »Geist« (wie dies die Auffassung Hegels sein wird). Es ist nicht nur die Basis, sondern die eigentliche Substanz des Denkens. »Fühlen verhält sich zum Denken, wie Sein zum Darstellen.« (303:26) Es ist das Lebendigsein selbst, eigentliche, substantielle Existenzform. Im Zusammenhang mit seinen Hemsterhuis-Studien wird Novalis neue Organe für neue Formen der Erfahrung fordern, aber das Fühlen hat immer schon eine leibliche Entsprechung: Sein Organ ist für Novalis das Herz; nicht alles geschieht im Kopf. Es ist der »Schlüssel« (404:81). Allerdings sei dies in Vergessenheit geraten, beklagen sich die Dinge im Romanfragment »Die Lehrlinge zu Sais«. Sie unterhalten sich über den Menschen, der nicht weiß, »dass wir zusammengehören, und keins ohne das andere bestehen kann.« (113) Tyrannisch reiße er sie auseinander und stülpe ihnen eine fremde Ordnung über. Zwar habe es eine »goldene Zeit« gegeben, wo er sie ebenso verstand, wie sie ihn verstanden. Aber nun, nach vollzogener Trennung, sei er blind geworden, machtbesessen. »Lernt er nur einmal fühlen? Diesen himmlischen, diesen natürlichsten aller Sinne kennt er noch wenig: durch das Gefühl würde die alte, ersehnte Zeit zurückkommen; das Element des Gefühls ist ein inneres Licht, was sich in schöneren, kräftigeren Farben bricht. Dann gingen die Gestirne ihm auf, er lernte die ganze Welt fühlen, klarer und mannigfaltiger, als ihm das Auge jetzt Grenzen und Flächen zeigt. […] Das Denken ist nur ein Traum des Fühlens, ein erstorbenes Fühlen, ein blassgraues, schwaches Leben.« (Ebd.) Dennoch wird »Gefühl« in den Fragmenten von Novalis keine Leitkategorie und ebenso wenig wird es gegen das Denken ausgespielt. Vielleicht beruht diese Distanz, wie erwähnt, darauf, dass es sich kaum in begriffliche Sprache umsetzen lässt – eine Sprache dafür findet eher die Poesie. Deshalb sollen Philosophie und Poesie einander angenähert werden – »Je poetischer, je wahrer« (413:103) – oder sogar verschmelzen: »Jede Wissenschaft wird Poesie […] nachdem sie Philosophie geworden ist.« (482:100) Eher als Empfindung und Gefühle sind es die Sinne, die Novalis zum Gegenstand seiner Reflexionen macht, der Austausch zwischen dem Körper, der seine Sinne öffnet, und der Welt. Aber wie lässt sich dies als wirkliches »Wechselverhältnis« denken? Voraussetzung dafür wäre, dass die Gegenstandswelt ihren bloßen Objektstatus verlöre.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Naheliegend wäre dann die Denkfigur, dass das Ich sich selbst anschaut, indem es das Andere anschaut, sich in ihm wiedererkennt, darin sich selbst fühlt. Aber dies wäre noch nicht Austausch, immer noch ginge es am Ende nur um die Instanz des Subjekts. »Jede Aufmerksamkeit auf ein Objekt, oder jede bestimmte Richtung, welches eins ist – bringt ein reales Verhältnis hervor – denn mit dieser Unterscheidung empfinden wir zugleich die nun zu präponderieren beginnende Anziehungskraft jenes Objekts, oder die individuelle Strebekraft« (320:74). Nicht die Wahrnehmung des Subjekts steht im Zentrum von Novalis’ Überlegungen, sondern das »reale Verhältnis«, das im Wechselspiel der aufeinander Bezogenen entsteht. »Ein bloßes Erkanntwerden eines Dinges gibt es also nicht«, kommentiert Walter Benjamin diese Entdeckung40 – immer hat der Gegenstand schon zurückgewirkt auf den Erkennenden. Was aber heißt Gegenstandsbezug, wenn Gegenständlichkeit auf Entgegensetzung beruht und diese sich im Satz zusammenfassen lässt: »Aus zwei Entgegengesetzten – entsteht das eigentlich Reale« (II 227:333)? Novalis verteilt hier die Rollen neu – was vorher Subjekt und Objekt hieß, sind nun zwei Glieder einer Relation, »Wirkendes« und »Entgegenwirkendes« (II 253:470). Dies heißt für das Ich, dass es sich immer schon »in einer allgemeinen Relation« vorfindet (II 247:455), einer »gemeinschaftlichen Sphäre« (II 279:604), und aus ihr die Bedingungen seiner Existenz empfängt, denn als Glied einer Relation ist seine Existenz nur innerhalb von ihr möglich. Novalis wird später diesen Gedanken in seiner Absolutheit nicht aufrechterhalten, da er dem Ich dann eine Eigendynamik zuerkennen wird, die sich nicht völlig in Gemeinschaftliches auflösen lässt. Dennoch gilt auch dann für alle Tätigkeit des Ich, dass »man sie nur in Verbindung, nicht allein wahrnehmen kann.« (II 215:303) Diese Verbindung ist ein »unaussprechlicher Zusammenhang« (II 216:304), denn sie ist so fein verästelt und ereignet sich auf so vielen Ebenen gleichzeitig, dass vieles davon unterhalb der Schwelle der Wahrnehmung bleibt. Im Verhältnis zu einem Anderen stehen bedeutet für beide Veränderung. »Verhältnis ist Affiziertsein von einer Sphäre« (II 250:446), und dem Bewusstsein wird insofern etwas von außen gegeben: »Was dem Ich nicht gegeben ist, das kann es nicht aus sich deduzieren […] in diesem Aneignen besteht das Wesen seines Seins.« (II 274:568) Das »empfängliche Bewusstsein« (II 243:445) nimmt das ihm Gegebene in Besitz – und hier tritt ein zweites Prinzip neben das der Responsivität, dessen sich Novalis aber erst in späteren Aufzeichnungen Rechenschaft gibt. Es ist das der Aneignung und Verwandlung des Fremden in Eigenes. In einem langen, unübersichtlichen und nicht durchweg schlüssigen Gedankengang kommt Novalis in dem Text »Von der unsinnlichen, oder unmittelbaren Erkenntnis« schließlich zu dem Ergebnis, das der Bezug auf die Welt immer beides ist, ein »Vernehmen« und eine eigene Leistung der Erkenntnis. »Wir sind zugleich in und außer der Natur«, wird er dies später im »Allgemeinen Brouillon« lapidar zusammenfassen. (III 252:75) Neben die »Berührung« und das »Affiziertsein« tritt die eigenständige Produktion des Ich: Die Selbstwahrnehmung entdeckt sich selbst als Teil des Ganzen und gleichzeitig auch als durch sich selbst bestimmt. Nebeneinander stehen Affiziertsein der Sinne durch das Fremde und deren Unabhängigkeit, insofern
40
W. Benjamin, a.a.O., S. 52.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
sie zu Ideen gelangen, die den gegebenen Kontext übersteigen. Gleichzeitig findet »Zueignung oder Verwandlung einer anderen Substanz in die meinige« statt, und darin entfremdet sich das Ich sich selbst, aber es tut auch eigenes hinzu: »das neue Produkt ist von den beiden Faktoren verschieden, es ist aus beiden gemischt. […] Hier entstehen eben die sonderbaren Widersprüche in uns über uns selbst.« (388:42) Novalis nennt den unableitbaren Anteil des Ich daran »unsinnliche Erkenntnis«, denn sie beruhe auf einer Art Eigendynamik, die sich zumindest nicht unmittelbar aus der der Responsivität der Sinne ableiten lasse. Neben die »Berührung« tritt »Aneignung«, selektive Auswahl, geleitet vom »Willen«. Und dieser behält am Ende der Studie das letzte Wort. »In mir ist also Wissen und Willen vollkommen vereinigt.« (Ebd.) Aber »zugleich in und außer der Natur«, nicht abwechselnd, sondern gleichzeitig Teilnehmer und Beobachter zu sein, nicht einfach nur Teil einer Relation, sondern auch Instanz ihrer Reflexion: Diese Doppelrolle findet ihre Entsprechung in einer Theorie des Im-Verhältnis-Stehen zum Anderen. Wo es um Haltungen, Wertvorstellungen, Orientierungen geht, die dieses Verhältnis bestimmen und bestimmen sollten, werden moralische Kategorien und ihre Begründung bestimmend. »Moralisierung« wird bei Novalis zu einem weiteren Schlüsselbegriff seiner Fragmente.41
7.5
Produktive Imagination
Zum impliziten Bildungskanon von Novalis gehört die Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten durch die Einbildungskraft, aber diese Imaginationsfähigkeit hat nichts mit bloßen Phantasien zu tun. Es waren literarische Texte der Spätromantik wie die von E.T.A. Hoffmann, die zur Gleichsetzung von Romantik und einem Spiel mit dem Phantastischen führten. Angelegt ist dieser Zug bereits in Novalis’ Roman »Heinrich von Ofterdingen«, an dessen Anfang ein Traum steht und der dann zunehmend von Märchenmotiven bestimmt wird. »Der Roman soll allmählich in Märchen übergehen«, erläutert Novalis bezüglich der geplanten, aber unvollendet gebliebenen zweiten Hälfte.42 Auch in den theoretischen Reflexionen bekommt die Imagination bzw. Einbildungskraft von Novalis eine entscheidende Rolle zugewiesen, aber hier wird sie mit großem Nachdruck vom Phantastischen abgegrenzt. Hier zeigt er sich eher ganz der naturwissenschaftlichen Forschungshaltung verpflichtet: Der Mensch dürfe nicht, »wie ein Phantast, etwas Unbestimmtes […] – ein Ideal suchen – Er gehe nur von bestimmter Aufgabe zu bestimmter Aufgabe fort« (538/39:111), »Schritt vor Schritt in die Unermesslichkeit hinein mit sorgfältiger Verknüpfung und Aneinanderreihung der einzelnen Tatsachen.« (540:113)43 Aber auch der abstrakteste Sachverhalt kann nur durch41 42 43
Siehe unten, Kap. 7.6. Zum Begriff der Moralisierung vgl. insbesondere die Fragmente 446:2-451:15 und 539:111, 555:165 in der einbändigen Werkausgabe. Brief an Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel am 5. April 1800, zit. G. Schulz, Kommentar zu »Heinrich v. Ofterdingen«. In: Novalis, Werke, a.a.O., S. 690. »Die Phantasie an die Macht«, jene Forderung, die der Pariser Mai 1968 angeblich aus den Lehren der Romantiker abgeleitet hat, ist insofern nicht die Position des Novalis der theoretischen Texte, wohl aber seiner literarischen. Richard Faber überschreibt seinen Essay »Novalis: Die Phantasie an die Macht« von 1970, räumt aber ein, dass dies keine Formulierung ist, die Novalis benutzt:
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dacht werden, wenn das Ich ihn sich zumindest phasenweise anschaulich macht, in seinen Eigenschaften, Zusammenhängen und Konsequenzen sich vor Augen führt, und dies geht nur über das Imaginieren von Bildern aus dem Vorrat der Erfahrungen. Den Begriff der produktiven Einbildungskraft übernimmt Novalis aus der philosophischen Terminologie, vor allem von Kant und Fichte, und übernimmt auch deren Definition als ein aus »Vernunft, Urteilskraft und Sinnenkraft« zusammengesetztes Vermögen (III 418:775). Gegen das Phantastische gewendet unterstreicht Novalis an der Imagination, dass sie zwischen Realitätsbezug und subjektivem Bedeutungshorizont vermittelt, zwischen der auf den Gegenstand bezogenen Anschauung und den eigenen Vorstellungen, zwischen Realitätsprinzip und »Ahndung« als einem aus eigenen Wünschen und Befürchtungen gespeistem Entwurf. Ganz allgemein sei »gegenwärtig machen – des Nicht-Gegenwärtigen« ihre Aufgabe. (III 421:782) Diese Bilder sind keine bloßen Phantasien; vermittels der Anschauung bleiben sie an das Realitätsprinzip gebunden, aber hinzu tritt die Vorstellungskraft, die diesen Realitätswahrnehmungen ihre Erfahrungen und Wertungen einschreibt. Sie muss in ihren Leistungen zum Gegenstand von Bildungsprozessen werden (s.u., Kap. 7.7). Ohne ein Zusammenspiel von Anschauung, Vorstellung und Erfahrung ist Erkenntnis nicht möglich, so Novalis, denn es sind die inneren Bilder, an denen entlang sich Wahrnehmungen ordnen: Sie liefern der Erkenntnis die bedeutungsgebenden Linien. Aus dem Vorrat an Vorstellungen bezieht Imagination die Fähigkeit, über die Gegebenheiten hinauszugehen, denn sie entfaltet das in ihnen angelegte Mögliche zu konkreten Bildern, die ihre Energie aus Erwartungen und Erinnerungen beziehen.44 Anschauung liefert das Material, um die Bilder der Einbildungskraft zu konkretisieren, Vorstellung artikuliert die Bedeutung, die das Angeschaute für das Subjekt hat. Daher auch der Begriff der Einbildung – er unterstreicht die Bedeutung der inneren Bilder, die sich aus Anschauung und Vorstellung zusammensetzen. Einbildungskraft ist »Wechselkraft« zwischen den Ebenen des Wirklichen und Möglichen (301:19), sie ist »Einfallskraft« (II 186:247) und »Schöpfungskraft« (II 188:248), »Dichtungskraft« (II 190:262) und »Bildungskraft« (SII 170:222), vor allem aber ist sie »Unterbrechungskraft« (II 189:257), denn sie kann zeitweilig die Vereinnahmung durch die Handlungszwänge des Wirklichen außer Kraft setzen. Ihre Energie bezieht sie aus dem »Trieb nach Freiheit« (310:58): »Wir schaffen eine Welt aus uns heraus«, dabei nähern wir uns »dem durchaus reinen, einfachen We-
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»Die Hauptparole der Studentenrevolution wird im Titel dieses Essays sogar ausdrücklich Novalis selbst in den Mund gelegt […]: ›L’imagination prend le pouvoir.‹« (Richard Faber (1970), Novalis: Die Phantasie an die Macht, Stuttgart, S. 12) Dies sei eine Zusammenfassung von Novalis’ Aussage im »Allgemeinen Brouillon«: »Aus der produktiven Einbildungskraft müssen alle inneren Vermögen und Kräfte – und alle äußeren Vermögen und Kräfte deduziert werden.« (Novalis, III 413:746) Jedoch gibt es bei Novalis nicht die Gleichsetzung von »Kräften« und »Macht« und schon gar nicht im Sinne einer Ermächtigung des Subjekts. Allenfalls im Wechselspiel der verschiedenen Kräfte könnte Macht entstehen. Ludwig Tieck, Freund von Novalis, lässt in seinem Roman »Franz Sternbalds Wanderungen« eine Person sagen: »Was uns erfunden scheint, ist gewöhnlich nur aus älteren schon vorhandenen Dingen zusammengesetzt, und dadurch wird es gewissermaßen neu«. (L. Tieck (1964), Franz Sternbalds Wanderungen. München, S. 76)
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
sen unseres Ich« und so werde im Begreifen des Eigenen »unsere Freiheit immer mehr erweitert« (315:69). Dies ist anfangs noch ganz subjekttheoretisch gedacht: Die Freiheit soll aus dem Gegensatz des Ich zur Welt erwachsen und sich nicht länger durch sie »bestimmen« lassen. Zunächst erlangt denn auch das Konzept der produktiven Einbildungskraft für Novalis in einer Phase Bedeutung, in der der Einfluss sowohl von Schiller als auch von Fichte noch groß ist und Novalis deren Gedanken eher durch ihre Radikalisierung hinter sich zu lassen sucht: Während bei Fichte die produktive Einbildungskraft »nichts, als durch Vernunft – durch Idee und Glauben und Willen erregter Sinn« sei und darin bloße Vorstufe, nämlich der tätigen Produktivität (491:119), legt Novalis ihre Quellen tiefer. Sie ist »allein das Tätige – das Bewegende«, »schaffend und bildend«. (II 167:212) Mehr noch: Sie ist das »Gefühl des absolut schöpferischen Vermögens, der produktiven Freiheit, der unendlichen Personalität, des Makrokosmos, der eigentümlichen Divinität in uns.« (558:172) Insofern speist sie sich nie vollständig aus den Ressourcen des seiner selbst bewussten Ich: »Ganz begreifen werden wir uns nie, aber wir werden und können uns weit mehr als begreifen.« (324:6) Die Fähigkeit zur Imagination wird bei Novalis nicht nur der künstlerischen Produktivität vorbehalten; vielmehr versucht er zu zeigen, dass auch das Alltagsbewusstsein nicht ohne die Orientierungen auskommt, die von der Imagination aus den eigenen Erinnerungen, Wünschen und Befürchtungen generiert werden. Darüber hinaus wird die Fähigkeit zur produktiven Imagination bei Novalis aber auch zur Voraussetzung, zwischen Widersprüchen, und zwar insbesondere auch zwischen den eigenen widersprüchlichen Tendenzen zu vermitteln, denn erst mit Hilfe der Einbildungskraft bekommen solche Einstellungen die nötige Plastizität, sodass ihre Gemeinsamkeiten und Unvereinbarkeiten, ihre Entstehungsbedingungen und ihre Konsequenzen konkret werden können. Diesen Bewusstseinsakt bezeichnet Novalis als die Fähigkeit des »Übergehens von einem Gliede zu anderen [, sowie darin sich] schwebend zu erhalten und anzuschauen.« (376:3) Auf diese Weise entstehe »lebendige Reflexion« (ebd.), eine Erweiterung der Perspektive und die Fähigkeit zur Zusammenschau der getrennten Elemente in ihren Beziehungen zueinander. Reflexion und Einbildungskraft sind nicht Gegensätze, sondern bauen aufeinander auf, wobei die Reflexionsfähigkeit wohl die entwicklungsgeschichtlich später erworbene ist. Sie legt den Ursprung der Wünsche frei, in ihrer Fähigkeit zum »Denken des Denkens« (Schlegel) macht sie die aus Erinnerungen, Wünschen, Sehnsüchten und Sorgen gespeisten Bilder der Imagination zum Material eines Denkens zweiter Ordnung. An einer zentralen Stelle seiner Fichte-Studien (310/11: 58, 59 bzw. II 266-268:555, 556) vollzieht Novalis mit der Betonung der produktiven Imagination den entscheidenden Schritt, an die Stelle der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt die Perspektive des »Schwebens« treten zu lassen.45 »Nur das Ganze ist real« (II 242:445), aber um es zu erfassen braucht es die Wahrnehmungsfähigkeit des darüber hinausgehobenen
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Novalis übernimmt zunächst den Begriff der Einbildungskraft von Kant und Fichte, ersetzt ihn dann aber im entscheidenden Fragment, in dem es um die »Natur« des »Schwebens« geht (310:58) durch Imagination, vermutlich in Zusammenhang mit seiner Paracelsus-Lektüre. Bei Paracelsus hat Imagination in eben jenem Sinne objektiven Charakter, in dem Novalis von »Notwendigkeit«
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Schwebens. Produktive Einbildungskraft bedeutet ein Kreisen über den Gegensätzen, Verweilen, Zurückkehren und wiederholtes Betrachten. Imagination hat sich über die Entgegengesetzten erhoben und kreist über deren Dichotomien, ohne sich auf eine ihrer Seiten zu schlagen und sich mit einer von ihnen zu identifizieren. Deshalb erlangen Kategorien wie »Aufmerksamkeit« und »Empfänglichkeit« für Novalis solche Bedeutung: Es geht nicht um die Transformation des Fremden in Eigenes, sondern um eine gleichschwebende Aufmerksamkeit für das Trennende und Verbindende, und damit um Reflexion. Auch das Ich ist dabei zugleich »frei und nicht frei« (309:58). Es ist nicht frei, insofern es in dieses Verhältnis als Teilnehmer eingespannt ist, der eine bestimmte Perspektive vertritt, und es ist frei in seiner Fähigkeit, die Positionen dieses Verhältnisses aus der Beobachterperspektive des Schwebens zu untersuchen. »Es muss das erstere tun, um das andere zu können.« (310:58) Diese Doppelstellung wird ihm möglich durch seine reflexive Ungebundenheit an eine der beiden Gegensatzpositionen. Reflexion ist insofern ein »Schweben zwischen Extremen, die notwendig zu vereinigen und notwendig zu trennen sind.« (310:58) Novalis bezeichnet diese Haltung als »Lichtpunkt«; aus ihm »strömt alle Realität aus« (ebd.), denn da eine Vereinseitigung nicht stattfindet, ist die ganze Fülle der Realitätsaspekte vorhanden. Freilich um den Preis, dass sie sich auch entziehen: Die »Verhältnisse des Bewusstseins zu diesem geheimnisvollen Sein der Dinge« (311:59) zu formulieren bleibt insofern eine nie ganz zu erfüllende Aufgabe, aber die Fähigkeit zu dieser »schwebenden« Aufmerksamkeit lässt sich in einem langfristigen Annäherungsprozess immer besser ausbilden. Zum eigentlich Realen wird so, was sich auf Entgegensetzung nicht mehr festlegen lässt, was von der schwebenden Reflexion mal in seiner Subjekt-, mal in seiner Objektposition, aufgefasst wird, ein »Wechselverhältnis« von Verbindung und Differenz. »Ichheit oder produktive Imaginationskraft, das Schweben – bestimmt, produziert die Extreme, […] ist der Quell, die Mater aller Realität, die Realität selbst.« (310:58) Aber das Ich hat hier nicht mehr die Position des Erkenntnissubjekts, das den Dingen eine feste Position zuweist und die so Festgelegten zu handhabbaren Objekten macht. Indem es aus der erhöhten Position des Schwebens die Beteiligten in ihrem Auf-einanderBezogensein wahrnimmt, sind sie nicht mehr klassifizierbare einzelne Objekte, sondern »unendliche Realisierung des Seins« (310:59). Damit ist auch der Bereich bloßer Gegenstandserkenntnis verlassen, vielmehr müssen die wechselseitigen Verhältnisse der Beteiligten mitbedacht werden. Dazu muss erst noch eine Sprache gefunden werden.46
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spricht, und ist Ausdruck der »inneren Sterne« der Person (vgl. Paracelsus (1991), Auswahl aus seinem Werk, hg. v. J. Jacobi, Olten, S. 85). Daher Novalis’ Kritik an dem mit ihm befreundeten Schiller: Er gehe »von einem festen Punkt bei seinen Untersuchungen aus und freilich kann er nachher nie andere Verhältnisse finden, als die Verhältnisse des Maßes, von dem er […] ausging.« (302/03:25)
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
7.6
»Moralische Bildungslehre«
Mit der Ausarbeitung einer Theorie der »Wechselverhältnisse« der Lebewesen untereinander gewinnt für Novalis ein sehr weit gefasster Moralbegriff an Bedeutung. »Neue Behandlung der Moral« – dies ist das Ziel (525:37), und dafür liefern seine HemsterhuisStudien die Stichworte. Bei Hemsterhuis wird »Moral« zu einem Grundbegriff, der nicht nur alles Aufeinander-Bezogensein der Lebewesen bezeichnet, sondern auch der Materie selbst, und so bei ihm zum Leitbegriff für die die »Entdeckung der Gesetze des Weltalls« avanciert (Hemsterhuis, zit. Novalis, II 367:27). »Wissen wir denn«, fragt Hemsterhuis, und Novalis notiert sich diese Sätze, »welche Entdeckungen uns auf dieser Seite noch vorbehalten sind – ? Die moralische Seite des Weltalls ist noch unbekannter und unermesslicher als der Himmelsraum –.« (Hemsterhuis, zit. Novalis, II 369:29) Gerade in der Phase seiner naturwissenschaftlichen Studien gewinnen diese Aussagen für Novalis an Bedeutung, denn sie sind für ihn Gegengewichte zur Analyse funktionaler Zusammenhänge. Für den Menschen nimmt das moralische Universum als Gewissen Gestalt an. Es sei, so formuliert Novalis in einem späten Fragment, »eine bloße Richterin«, aber sie urteile »ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer einzeln. Sie ist durchaus Entschlossenheit.« (561:186) Die paradoxe Formulierung »Richterin ohne Gesetz« besagt, dass die Urteile der Gewissensinstanz nicht aus übergreifenden, ein für alle Mal feststehenden Normen bezogen werden; sie sind in ihrer Unmittelbarkeit immer auf den Einzelfall bezogen. Und insoweit Moral und das intuitive Gewissen identisch sind, ist auch Moral kein Katalog von Normen und Vorschriften, keine »Tugendlehre«47 ; »Gesetze sind der Moral durchaus entgegen.« (Ebd.) Den Richterspruch dieses inneren Gewissens findet das Ich im eigenen Selbst, ganz ähnlich der inneren Stimme, von der Sokrates spricht und die er als »etwas Göttliches und Daimonisches« bezeichnet.48 Wie in dieser Charakterisierung ist auch bei Novalis das Urteil des Gewissens nicht Ergebnis längeren Nachdenkens, sondern das unmittelbar Gewisse, ist Eingebung, Einmischung einer Instanz, die auf Wegen zu ihrem Ergebnis gekommen ist, die dem Ich unbekannt bleiben.49 Dabei sind die Interessen der Gewissensinstanz möglicherweise gar nicht unmittelbar identisch mit den Interessen des Ich: Dem geht es zunächst immer um seine Selbsterhaltung, das aber, wozu das Gewissen rät, kann bedeuten, dass jemand
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Im Gegenteil hebe »alle lebendige Moralität damit an, dass ich aus Tugend gegen die Tugend handle« (389:43) – eine kurzgefasste Definition dessen, was später von Kohlberg »postkonventionelle Moral« genannt werden wird. Das Ich, von dem Sokrates spricht, stellt dieses moralische Urteil nicht her, sondern es »widerfährt« ihm: »Mir aber ist dieses von meiner Kindheit an geschehen, eine Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören lässt, mir von etwas abredet, was ich tun will, zugeredet aber hat sie mir noch nie.« (Platon (1973), Des Sokrates Apologie. Werke in acht Bänden, Bd. 2. Darmstadt, S. 41 (= 31d)) Dass der Rat der Gewissensinstanz hier immer nur negativ ist, findet seine Entsprechung in Novalis Formulierung, sie sei »bloße Richterin«, d.h. urteilend, aber keine Handlungen vorschlagend. Charles Taylor macht in seiner umfangreichen Arbeit über den historischen Wandel der Rolle moralischer Urteile diese Erfahrung zum Ausgangspunkt und Leitfaden der »Quellen des Selbst«. (Vgl. Ch. Taylor (1996), Quellen des Selbst. Die Entstehung neuzeitlicher Identität. Frankfurt a.M.)
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Transformationen des Bildungsbegriffs
seine eingespielten und Sicherheit gebenden Lebensweisen aufgibt oder sogar sein Leben riskiert. Deshalb hat die Gewissensinstanz für Novalis transzendenten Charakter. Sie zeuge von einer »Übergangsmöglichkeit« einer »anderen Welt« ins menschliche Bewusstsein; darin sei sie »eine innere unabhängige Macht«, nicht anders als die Vernunft. Auf den letzten Seiten seines Romanfragments »Heinrich von Ofterdingen« greift Novalis diese Reflexionen auf und lässt seinen Helden und Sylvester, einen alten Mann, der als Arzt und Gärtner vorgestellt wird, gemeinsam nach möglichen Bestimmungen, was das Gewissen sei, suchen. Es wird als »Kraft« den Naturkräften zur Seite gestellt. Wo es wenig ausgeprägt ist, sei dies nicht nur »Schwäche«, sondern eine »geringe sittliche Empfänglichkeit, und Mangel an Reiz der Freiheit« (273). Mehr noch sei das Gewissen »der eingeborene Mittler jedes Menschen. Es vertritt die Stelle Gottes auf Erden« (275), so Sylvester. In der Rückwendung auf sich selbst stößt das Ich insofern auf eine Instanz mit absolutem Anspruch: »Es ist nicht dieses und jenes, es gebietet nicht in allgemeinen Sprüchen, es besteht nicht aus einzelnen Tugenden.« (Ebd.) Sein wichtigstes Charakteristikum ist seine Unmittelbarkeit. Novalis spricht vom »Willen, der im Augenblick der Entscheidung unmittelbar sich entschließt und wählt.« (Ebd.) Aber dieses Gewissen ist bei Novalis lediglich Artikulationsorgan, während der Moralbegriff selbst in einem sehr viel weiteren Verständnis das Im-Verhältnis-Stehen der Lebewesen bezeichnet. Es ist ein tief verankerter »Sinn«: »der moralische Sinn ist der Sinn für Dasein, […] der Sinn für Bund – der Sinn für das Höchste – der Sinn für Harmonie – der Sinn für freigewähltes, und erfundenes und dennoch gemeinschaftliches Leben – und Sein – der Sinn für Ding an sich – der echte Divinationssinn. Divinieren, etwas ohne Veranlassung, Berührung, vernehmen.« (448/49:8) Er ist die dem Gewissen zugrundeliegende natürliche Einstellung und »das eigentliche Lebenselement des Menschen« (560:182), darin aber zugleich »Trieb nach Freiheit« (310:58) – der eigenen und der des Anderen. Insofern bedeutet der »moralische Weg« zugleich Achtung gegenüber allem Einzelnen und Individuellen: Es gehe nicht darum, »das Einzelne […] zu universalisieren«, gegen diese Suche nach Allgemeinheit müsse man »das Universum zu individualisieren streben« (429:1), wendet er gegen die idealistischen Denkfiguren seiner Zeit ein. Moral ist für Novalis ein anderer Ausdruck für das Bewusstsein des eigenen Verhältnisses zu anderen Lebewesen. »Wir sollen alles in ein Du – in ein zweites Ich verwandeln« (465:52), uns in diesem zweiten Ich wiedererkennen und so in ein »Wechselverhältnis« eintreten, getragen von der Vorstellung einer Verwandtschaft der Lebewesen. Wie gesagt bezieht Novalis diese »neue Behandlung der Moral« aus seinen Hemsterhuis-Studien (525:37), die ihn davon überzeugt haben, dass eine Haltung wechselseitiger Berührung und Mitteilung allem zugrunde liegt, dem Mikrokosmos wie dem Makrokosmos. Moral steigt auf zur prima philosophia: »Das System der Moral hat große Anwartschaft auch das einzigmöglicher System der Philosophie zu sein.« (557:169) Dies mündet bei Novalis in der Vorstellung einer »moralischen Bildungslehre«, denn im Falle des Menschen ist dies zwar eine immer schon vorhandene Haltung, doch ist sie darüber hinaus auf ein sie vertiefendes Verstehen angewiesen. Seine Entwicklung verläuft über die Ergründung der eigenen Bewusstseinsformen und ihre Reflexion. All dies müsse erlernt werden, denn das »Ich ist kein Naturprodukt«, sondern »Kunstwerk« (III 253:76), Resultat langfristiger Prozesse der »Selbstbearbeitung«. Eine »moralische Bil-
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
dungslehre« hätte die Aufgaben, beide Seiten, die »Naturgeschichte des Menschen« und sein kulturelles »Ich-Werden« auf einander zu beziehen. Insofern sind die Geschichte der Natur und die Geschichte des Menschen zwei Seiten desselben Prozesses, und der Prozess der Natur war immer schon, so Novalis, »fortgehend zur Moralität« (539:111). Gleich mehrmals taucht im »Allgemeinen Brouillon« diese Vorstellung einer »Moralisierung der Natur« (446:2) auf und wird von Novalis einerseits im starken, transitiven Sinne einer »Bildungslehre der Natur« gemeint: »Die Natur soll moralisch werden. Wir sind ihre Erzieher – ihre moralischen Tangenten – ihre moralischen Reize« (450:13)50 , andererseits hat dies die Bedeutung einer in der Natur selbst angelegten, ihr immanenten Tendenz, die nur auf ihre Artikulation wartet. Was Novalis hier tastend umkreist, ist eine Neubestimmung des Verhältnisses von Kultur und Natur51 : Auch in ihren ästhetischen Produktionen sei es Menschen gar nicht anders möglich, als »Naturgedanken« zu denken und »in ihrem Geiste zu handeln« (443:19), da Natur »substantielles Prinzip« beider sei (448:6). Insofern gehen beide denselben Weg. Novalis glaubt an eine grundlegende Einheit von »Natur und Seele«, da beide nur in Berührung mit anderen sich am Leben erhalten. Aber dabei hat die Natur eine Geschichte durchlaufen, nämlich die allmähliche »Verwandlung des Chaos in harmonischen Himmel und Erde« (446:2), und der Mensch, so Novalis, setzt diese Geschichte fort. Ihren Antrieb nehmen diese Harmonie-Unterstellungen in erster Linie aus Novalis’ Ablehnung dichotomer Gegensatzpaare. Zeittypische Gegenüberstellungen wie Geist/Materie, Subjekt/Objekt, Innen/Außen setzt er zueinander in Beziehung, jedes »kann Symbol des andern sein« (483:101), alle sind durch Analogien, Entsprechungen, keimhafte Anlagen untereinander verbunden, denn die Natur ist »übereinstimmend harmonisch mit dem Geiste« (446:2). Dieses gemeinsame, Natur und Kultur überwölbende Prinzip der Selbstähnlichkeit findet Novalis in Zahlenverhältnissen und Schwingungen als »Grundverhältnisse[n] der Natur« (528:65), die für Menschen als Rhythmus und Musik fassbar werden. Die »sonderbaren Schwingungen«, die als Musik bezeichnet werden, seien Entsprechungen zur »akustische[n] Natur der Seele« (462:54) und insofern spricht Novalis mit der ihm eigenen Lust an der Zuspitzung von einem »Kunstinstinkt« der Natur (548:142) bzw. einer »Liebe zwischen Natur und Geist oder Kunst«
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Für den gegenwärtigen Leser wäre der Gedanke näherliegend, dass es die menschliche Kultur in ihrem Verhältnis zur Natur ist, die eine »Moralisierung« braucht. Den Ausdruck »Moralisierung der Natur« kann man sich dadurch verständlich machen, dass man ihn in Parallele zum Ausdruck »Ökonomisierung der Natur« setzt. Hier wird dasjenige an der Natur in den Mittelpunkt gestellt, was Steigerungs- und Verwertungsinteressen entspricht (also ihre Formbarkeit, Züchtbarkeit, Regenerationsfähigkeit), aber in ihr angelegt sind. Dann ließe sich unter »Moralisierung« eine Perspektive verstehen, die moral-affine Aspekte der Natur betont, die Bereitschaft, solche Tendenzen als in der Natur angelegt zu erkennen (also bspw. ihre Fähigkeit zu Ausgleich, Gemeinschaft, Symbiose). Es geht weder um eine Art großer Erzählung vom »Sieg über die Natur«, wobei »Moralisierung« dann hieße, dass die gebändigte Natur immer stärker in den Lebensprozess des Menschen eingebunden wird, noch vom endlich offenbar gewordenen Subjektcharakter der Natur. Eher werden wir in aller Ausführlichkeit mit den Schwierigkeiten konfrontiert, die der Ausstieg aus dem Denken in Kategorien des Subjekt-Objekt-Schemas und die Formulierung einer beide umfassenden Relation bereitet.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
(451:15). Sie sind die ästhetische Seite jener »Wechselbeziehung«, die Novalis »Moralität« nennt.
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»Selbstfremdmachung – Selbstveränderung – Selbstbeobachtung«
In einem der vielleicht bekanntesten Fragmente von Novalis, in dem sich der gerne zitierte Satz »nach innen geht der geheimnisvolle Weg« findet, stellt er den Traum, in große Fernen zu reisen, der Erkundung des eigenen Selbst gegenüber. »Wir träumen von Reisen durch das Weltall – ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht« (326:17). Diese »Unbekanntschaft mit uns selbst« (325:12) liege, so Novalis an anderer Stelle, zum einen an einem Wissensdefizit: »Menschen zu beschreiben ist deswegen bis jetzt unmöglich gewesen, weil man nicht gewusst hat, was ein Mensch ist« (350:119). Zum anderen aber gibt es bei der Reise ins Weltall und in die eigene Innenwelt eine wirkliche Parallele, was das Wagnis des Unternehmens anbelangt: Man müsse, sagt er, »notwendig erschrecken, wenn man einen Blick in die Tiefe des Geistes wirft. […] Es ist damit wie mit dem Himmel.« (477:92) Die Introspektion stößt auf Regionen zunehmender Fremdheit des eigenen Selbst, aber nicht auf Grenzen – außer auf die Grenze des Sich-Begreifens, der Begriffe. An mehreren Stellen entwickelt Novalis Ansätze zu einer Art von tiefenhermeneutischem Rückgang hinter die Oberfläche des Selbst. Dabei stellen Gegenstandserkenntnis und Selbstbezug unterschiedliche Anforderungen. In kleinen Schritten nähert sich Novalis am Beispiel des Lernenden einem genaueren Verständnis dessen an, was beide unterscheidet. Immer bedeutet Wissenserwerb, der sich objektivierend auf äußere Gegenstände bezieht, dass dieser Gegenstand »verschieden sein [muss] von dem Lernenden.« (II 113:15) Diese objektivierende Haltung kann für die Erkenntnis des eigenen Selbst nur bedingt übernommen werden, denn »der Lernende [ist] kein Gegenstand.« (Ebd.) Wir können uns nicht wie einen »Gegenstand anschauen und ihn mit seinen Merkmalen uns einprägen« (ebd.) – die affektive Ebene des Selbstbezugs in Gestalt von Erinnerungen und Wünschen steht dem im Wege. Da sie konstitutiv ist für den Selbstbezug, lässt sie sich nicht ausschalten. Deshalb gilt: Wenn unter »Selbstbetrachtung« objektivierender Kenntniserwerb verstanden werden soll, dann ist »sie nicht das Verlangte« (Ebd.); eher lasse sich die Besonderheit des Selbstverhältnisses als Gefühl beschreiben: »Es ist ein Selbstgefühl vielleicht.« (Ebd.) Herausgefunden werden muss, »wie […] es der Lernende an[fängt,] sich selbst in dieser Operation zu belauschen.« (Ebd.) Die fichtesche Voraussetzung einer von vornherein gegebenen Selbsttransparenz wird somit verworfen, stattdessen führt Novalis die Voraussetzung eines Hinter- und Untergrundes ein, aus dem das Ich hervorgeht und in dem es begründet ist, der sich aber der begrifflichen Bestimmung entzieht.52 52
Friedrich Schlegel, mit dem Novalis diese Ideen in engem Austausch entwickelt, formuliert dies in einer Vorlesung so: »Anschauen können wir uns nicht, das Ich verschwindet uns dabei immer. Denken können wir uns aber freilich. Wir erscheinen uns dann zu unserem Erstaunen unendlich, da wir uns doch im gewöhnlichen Leben so durchaus endlich fühlen.« (F. Schlegel, zit. W. Benjamin, a.a.O., S. 28) Einerseits »will uns keineswegs einleuchten, dass wir […] unendlich sein sollen«, andererseits stoßen wir auf eine Vielfalt von Entwicklungsmöglichkeiten und müssen uns »geste-
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
In Fragment 28 des »Blütenstaub« wird die Auseinandersetzung mit diesen unbekannten Seiten des eigenen Selbst zur Bildungsaufgabe erklärt, sogar zur »höchste[n] Aufgabe der Bildung«: »Die höchste Aufgabe der Bildung ist – sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen – das Ich ihres Ichs zugleich zu sein.« (329:28) Wohlgemerkt gelte, »das Ich ihres Ichs zugleich zu sein«: Das Ich der Bildung, das Subjekt der Bildungsprozesse soll eine Metainstanz beigesellt bekommen, die dessen Intentionen reflektiert. Bei dieser Selbstbemächtigung geht es, ähnlich wie bei Humboldt, darum, dass »wir uns selbst verstehen« (386:41), aber nun bezogen auf den besonderen Ausschnitt des »transzendentalen Selbst«. Anknüpfend an Kant ist dieses Selbst Quelle der Produktivität, Motor der nach außen gerichteten Aktivität, Ort der Präformation allen Gegenstandsbezugs. Was Novalis unter Bildung als einer Selbstbemächtigung verstanden wissen will, wird zumindest mit der Vorstellung eines zweistufigen Ichs angedeutet: Aus dem transzendentalen Ich der Handlungsvollzüge und deren Dynamik soll ein reflektiertes Ich werden, das den Sinn dieser Abläufe überprüft.53 Das Denken, dessen Ausbildung Novalis hier einfordert, ist ein Denken zweiter Ordnung, Denken des Denkens, Reflexion. »Reflexion ist nicht alles Denken, sondern behandeltes, bedachtes Denken.« (II 270:566) Auch Schlegel verwendet bei der Bestimmung des Reflexionsbegriffs eine ähnliche Formulierung, wie sie Novalis bezüglich der »höchsten Aufgabe der Bildung« verwendet hat: In der Reflexion gehe es darum, »das Ich des Ichs zu sein«: »Das Vermögen der in sich zurückgehenden Tätigkeit, die Fähigkeit, das Ich des Ichs zu sein ist das Denken. Dies Denken hat keinen anderen Gegenstand als uns selbst«54 , und diese Richtungsumkehr des Denkens ist die Reflexion. Neben das Gegenstandsbewusstsein soll ein sich auf die eigenen Voraussetzungen zurückwendendes Bewusstsein treten55 , ein Bewusstsein, das sich wie in einem Spiegel selbst anschaut.56 Sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen heißt, sich Rechenschaft darüber zu geben, wie das Gegenstandsbewusstsein verfährt und so eine Instanz der Legitimation bzw. kritischen Beurteilung von dessen Intentionen zu errichten.57 Reflexion bedeutet nicht nur eine Sache zu erwägen, sondern auch die Gründe der eigenen Einstellung zu ihr zu erforschen, und dies unter explizitem Einbezug
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hen, dass das Ich als der Behälter von allem durchaus nicht anders als unendlich sein könne […] Wenn wir uns beim Nachdenken nicht leugnen können, dass alles in uns ist, so können wir uns das Gefühl der Beschränktheit […] nicht anders erklären, als indem wir annehmen, dass wir nur ein Stück von uns selbst sind.« (F. Schlegel, zit. W. Benjamin, a.a.O., S. 30) Beispielsweise in dem Sinne, in dem Novalis später ein Erlernen von »Selbstbegrenzung« fordern wird, die Fähigkeit, sich »transitorische Grenzen« zu setzen im Umgang mit Erkenntnisfortschritten und im Umgang mit der Natur (488:110). F. Schlegel, zit. W. Benjamin, a.a.O., S. 15. R. Kroner (1921) bezeichnet dies als »sich auf sich beziehendes, in sich reflektiertes Bewusstsein«. (Von Kant bis Hegel, Bd. I, Tübingen, S. 367) »Als Verstand ist die Vernunft nicht mit sich selbst beschäftigt, sondern mit dem verstandesfremden ›Inhalte‹, der dem Verstande ›gegeben‹ wird. Als bloß theoretisches Vermögen (im Sinne des nicht reflektierenden, sondern nach außen gewandten […]) ist der Verstand daher unfähig, das An-sich der Dinge zu erfassen, – eben weil er sich selbst nicht erfasst.« (Kroner, a.a.O., S. 370) Kroner spricht deshalb von einem Bewusstsein zweiter Ordnung. Es ist die Ordnung der »sich begreifenden, sich begrifflich erfassenden« Selbstwahrnehmung (Kroner, a.a.O., S. 368).
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eigener Empfindungen.58 Aber die Dimensionen dieses Innenraum sind in ihrer Ausdehnung nicht abschätzbar, der Selbstbezug ist eine Erfahrung, »die uns unaufhaltsam nach allen Richtungen hineintreibt« – in ein »Innen« von unbekannter Ausdehnung.59 Diese Reflexion leistet mehr als die bloße Repräsentanz des eigenen Ich im Bewusstsein. Die Erkundung der eigenen Denkvoraussetzungen wird als neue Bewusstseinsform angesehen; in ihr erst gewinnt das eigene Ich deutliche Konturen. Kant hatte davon gesprochen, dass das Gegenstandsbewusstsein das begleitende Bewusstsein des eigenen Ich benötigt, um über ein einheitsstiftendes Prinzip angesichts der Vielfalt der Wahrnehmungen zu verfügen. Bei den Frühromantikern bedeutet Reflexion, von eben diesem präreflexiven Ichbewusstsein wiederum ein Bewusstsein zu entwickeln, es in seinen Fähigkeiten zu überprüfen und zu steigern und so eine Metaebene zu entwickeln, die dem objektbezogenen Denken beigegeben wird. Die Hoffnung von Novalis ist, damit eine »Stelle außer der Welt« gefunden zu haben (345:93), die eine »ganz neue Epoche der Menschheit« ermöglichen könnte (ebd.). Sie wäre das Resultat jener »Selbstdurchdringung«, als die er die Bemächtigung des eigenen transzendentalen Selbst ansieht. (344:93, 376:3) Phasenweise steigert er diese Vorstellung zur Erwartung, dass damit »der Mensch erst wahrhaft unabhängig von der Natur« werden könne (398:59), rückt von dieser Auffassung dann aber nach der Aufnahme seiner naturwissenschaftlichen Studien wieder ab und leitet eine Denkbewegung ein, die in die entgegengesetzte Richtung führt: der Reziprozität zwischen Ich und Anderem. Zunächst dominiert auch bei Novalis die Vorstellung, dass sich das Ich in der Selbstreflexion als nach außen abgegrenzte, von den eigenen Intentionen bestimmte Instanz konstituiert. Aber die Erkundung des eigenen Selbst fördert für Novalis eine innere Unabgeschlossenheit zu Tage, die diese Autonomie und Autarkie perforiert. Die Vorstellung innerer Einheitlichkeit muss deshalb aufgegeben werden, und dies hat weitreichende Folgen für die Vorstellung vom Ich.60 Novalis beschreibt dies anhand von zwei sehr unterschiedlichen Erfahrungen. Zum einen erlebt er dies bezogen auf die eigene literarische Arbeit als die Einmischung einer ich-fremden Stimme im eigenen Inneren, und erläutert: »Es gibt gewisse Dichtungen in uns, die einen ganz anderen Charakter, als die übrigen zu haben scheinen, denn sie sind vom Gefühle der Notwendigkeit begleitet, und doch ist schlechterdings kein äußerer Grund zu ihnen vorhanden. Es dünkt dem Menschen als sei er in einem Gespräch begriffen, und irgendein unbekanntes, geistiges Wesen veranlasse ihn auf eine wunderbare Weise zur Entwicklung der evidentesten Gedanken. Dieses Wesen muss ein höheres Wesen sein, weil es sich mit ihm auf eine Art in Beziehung setzt, die keinem an Erscheinungen gebundenen Wesen möglich ist – es muss ein homogenes [= ihm gleiches, RB] Wesen sein, weil es ihn wie ein geistiges Wesen behandelt und ihn nur zur seltensten Selbsttätigkeit auffordert.« (377:5) Landläufig wird diese Erfahrung als Inspiration oder Intuition, als
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Ch. Taylor sieht dies als eine Phase des Selbstbezugs des Subjekts an, die sich erst im späten 18. Jahrhundert vollzieht: Hier erst etabliere sich der »Gedanke, dass wir die Wahrheit in unserem Inneren, besonders in unseren Gefühlen finden.« (Ch. Taylor (1996), Quellen des Selbst. Zur Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt a.M., S. 640) Novalis, zit. W. Benjamin, a.a.O., S. 41. Sie deuten voraus auf die Formulierung »Ich ist ein anderer« von Rimbaud.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
Einfall oder Eingebung bezeichnet, Begriffe, die den Eindruck formulieren, hier finde das Ich etwas in seiner Introspektion vor, das es nicht selbst hergestellt hat. Novalis verknüpft diese Darstellung am Ende des Textes mit der Forderung einer »Selbsterziehung« und »Selbstbildung« des Ich, »um jener Mitteilung fähig zu werden«, bzw. sie »in sich zu veranlassen.« (Ebd.) Auch hier wird das Ich nicht wie bei Fichte als allein durch sich selbst bestimmt wahrgenommen, sondern als Teil eines »Wechselverhältnisses«, da das Ich in sich auf ein »unbekanntes, geistiges Wesen« stößt (ebd.). Statt der frei verfügenden Setzung durch das Ich werden »Vernehmen« und »Empfänglichkeit« zu Leitvorstellungen, all dies Begriffe, die den Abschied vom fichteschen Denksystem markieren. Genauer: Beides, die Fähigkeit zur autonomen Tätigkeit der produktiven Imagination und Eingebungen an den Grenzen des Ich bestimmen den Weltbezug und ergänzen sich wechselseitig. Dieses »Vernehmen« als Teil einer »Wechselbeziehung« mit ich-fremden Instanzen im eigenen Selbst ist die eine Erfahrung, die andere formuliert er im Fragment 26 des »Blütenstaub«: »Der erste Schritt wird Blick nach innen – absondernde Beschauung unseres Selbst – wer hier stehen bleibt, gerät nur halb. Der zweite Schritt muss wirksamer Blick nach außen – selbsttätige, gehaltene Beobachtung der Außenwelt sein.« (328:26) Es gibt also nicht nur den »geheimnisvollen« Weg nach innen, sondern auch die Aufgabe, seine sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit als zentrale Bedingung aller Beziehungen zur Außenwelt auszubilden. Sinneswahrnehmung wird bei Novalis sogar zur Grundlage »unsere[r] Menschwerdung« erhoben (451:15) und verliert so den Charakter einer bloßen Vorstufe von Erkenntnis. Diese »höchste Aufgabe der Bildung« erhält nun den Zusatz (329:28), den »Sinn und Verstand für andere« auszubilden (329:28). Selbstreflexion wird Voraussetzung dafür, diese Hinwendung zu vollziehen: »Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man nie andere wahrhaft verstehen lernen.« (Ebd.) So wird das »transzendentale Selbst« nun zum Vermittler zwischen Innen und Außen. Wie sich diese Fähigkeit ausbilden lässt, ist Gegenstand eines Fragments des »Allgemeinen Brouillon«, in dem Novalis zunächst auf den »Kritizism« Kants als »die fruchtbarste« Methode eingeht, um dann in einer steilen Kurve dessen Denkvoraussetzungen zu verlassen und »die Natur, oder Außenwelt, als ein menschliches Wesen« zu bezeichnen, insofern sie ihm gleichgestellt sei (489:115). Denn »beim Studium der Natur« stoßen wir auf uns selbst und »beim Studium unserer selbst auf die Außenwelt« (ebd.); wir »sehen, dass es auch eine Außenwelt in uns gibt.« (490:115) Damit aber können wir diesem Außen nicht mehr neutral oder distanziert gegenüberstehen, denn es zeigt sich, »dass wir alles nur so verstehen können und sollen, wie wir uns selbst und unsere Geliebten, uns und euch verstehen.« (489:115) Mit dieser Liebe und Nähe kommt etwas im Verhältnis zur Außenwelt ins Spiel, das auf absolute Solidarität mit dem anderen in seiner Lebendigkeit zielt; das klassifizierende, objektivierende Denken ist verlassen, es geht um Verstehen und nicht um Zuordnen. »Statt NichtIch – Du.« (490:115) Aber dieses Verstehen ist an Voraussetzungen gebunden, es wird nicht, wie die transzendentalen Erkenntnisfunktionen, in der angeborenem kognitiven Ausstattung fertig vorgefunden, sondern muss herausgebildet werden: »Wir verstehen natürlich alles Fremde nur durch Selbstfremdmachung – Selbstveränderung –Selbstbeobachtung.« (490:115)
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Während »Selbstveränderung« durch »Selbstbeobachtung« durchaus dem von Novalis aufgestellten Programm, sich »seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen«, entspricht, geht »Selbstfremdmachung« einen Schritt weiter. Durch sie das Fremde verstehen zu wollen setzt die Fähigkeit zum Perspektivwechsel voraus, zur Fähigkeit, die vertraute Perspektive zu verlassen und sich sowohl in die Sichtweisen anderer hineinzudenken als auch konventionelle, übernommene Perspektiven zumindest zeitweilig außer Kraft zu setzen. Es verlangt ein Sich-Öffnen gegenüber Bedeutungen, die eigene und eingespielte Bewertungsmuster möglicherweise verändern. Diese Dezentrierung des Ich kann nicht anders als in Prozesse der »Selbstveränderung« münden. »Selbstbeobachtung«, von Novalis an letzter Stelle genannt, muss im Zusammenhang des Fragments in erster Linie als Aufmerksamkeit darauf verstanden werden, wie sich das Selbst verändert, wenn es in Bezug zu einem Du tritt, und, da das Ich immer zu einem Du in affektiven Beziehungen steht, auch diese Ebene zu verstehen. Zur Maxime aller Gegenstandserkenntnis wird erhoben, dass »wir alles nur so verstehen können und sollen, wie wir uns selbst und unsere Geliebten […] verstehen« (489:115), und diese neu in den Blick geratene Beziehungsebene bedarf ganz besonders der Selbstreflexion Hier entwickelt sich ein neuer Bildungskanon der Selbsttransformation, der erst allmählich und andeutungsweise in den Programmen sozialen Lernens Ende des 20. Jahrhunderts Gestalt annehmen wird. Er plädiert nicht für die Selbstoptimierung des Subjekts, sondern für ein verändertes Verhältnis zur umgebenden Welt. Dies ist das Ziel, das Novalis vor Augen hat, wenn er davon spricht, sich zum »Selbstwerkzeug« zu machen (vgl. III 297:321). Das Verhaltensrepertoire von Rollenwechsel, Perspektivwechsel, Ambiguitätstoleranz wäre dann nichts anderes als das Feinbesteck dieses Werkzeugkastens. »Sollte dieses vielleicht mit mehreren und vielleicht allen Seelenkräften der Fall sein – dass sie durch unsere Bemühungen äußerliche Werkzeuge werden sollen? – Alles soll aus uns heraus und sichtbar werden« (450:12). Veränderter Selbstbezug soll selbstverständlicher, nämlich genau gekannter und reflektierter Bestandteil des Verhaltensinventars werden.
7.8
»Bildung der Erde«
Das Fragment 32 des »Blütenstaub« scheint die Aufmerksamkeit in die diametral entgegengesetzte Richtung zu lenken. Mit »Bildung« ist nun ausschließlich die Gestaltung der gegenständlichen Welt gemeint. Wie ein Fanfarenstoß wirkt der Beginn des Texts: »Wir sind auf einer Mission. Zur Bildung der Erde sind wir berufen.« (330:32) Das klingt nach Kolonialismus, Eroberung und Missionarstätigkeit; was hier »Bildung« genannt wird, lässt eher an den Satz: »Macht Euch die Erde untertan« denken als an ein Verhältnis der Wechselseitigkeit. Statt diese Vorstellungen von Berufung und Mission auszuschmücken, setzt Novalis im Anschluss einen deutlichen Bruch. Weiter geht es im Konjunktiv und dies ist der Konjunktiv eines Vorstellungsraums, in dem alles möglich ist, selbst Geistererscheinungen: »Wenn uns ein Geist erschiene, so würden wir uns sogleich unserer eigenen Geistigkeit bemächtigen«. (Ebd.) Immer wurde dem Menschen Geist zugesprochen und der Erde, formbare Materie zu sein. Würde auch die umgebende Natur, die Erde, als etwas, das Geist hat, wahrgenommen, so wäre die Reaktion auf sie eine andere, dann
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
könnte sie so wahrgenommen werden, als ob »uns ein Geist erschiene«. Wenn die Erde nicht ausschließlich als Ressource betrachtet würde, könnten andere Eigenschaften an ihr wahrnehmbar werden, und dies würde zugleich das Selbstverhältnis der Wahrnehmenden verändern: »wir würden inspiriert sein«. (Ebd.) Inspiration, so Novalis, sei immer durch beide motiviert, »durch uns und den Geist zugleich« (ebd.). Von der Geistererscheinung zur Inspiration: Das Ich fühlt sich inspiriert durch das, was am fremden Geist dem eigenen entspricht, was das Gegenüber im eigenen Selbst wachruft. Ein solches Verhältnis würde dann auf »Zueignung und Mitteilung zugleich« beruhen. (Ebd.) Die abrupten Perspektivwechsel in diesem nicht einmal sechs Zeilen umfassenden Fragment machen es schwer verständlich. Und es waren wohl diese Leerstellen und Gedankensprünge«, die F. Schlegel und F. Schleiermacher als die ersten Herausgeber des »Blütenstaub« dazu bewegten, das Fragment radikal zu kürzen und alles, was auf die ersten beiden Sätze folgte, wegzulassen. Man muss ihnen insofern Recht geben, als der Bruch, der sich im Wechsel vom Indikativ zum Konjunktiv zunächst unverständlich wirkt. Im Indikativ ist von einem »Wir« die Rede, das sich auf einer Mission befindet, eine Berufung hat, aber der Gedanke läuft ins Leere, und übrig bleibt nur der Konjunktiv: Würde ich der Gegenseite Stimme und Geist geben, dann entstünde ein Austausch. Es fände dann – und zwar auf beiden Seiten – eine Art Annäherung und Anverwandlung statt. An Stelle der missionarischen Verkündigung entsteht innerhalb weniger Zeilen – freilich im Konjunktiv – ein veränderter Aufmerksamkeitsfokus, der sich auf »Zueignung und Mitteilung« richtet und auf »Inspiration« gründet. Deren Quelle ist nicht genau zuzuweisen, denn sie beruht einerseits auf Eigenem und nimmt andererseits Elemente des Fremden auf. Aus der Mission könnte so Austausch werden: »Zueignung« des Fremden und »Mitteilung« des Eigenen. Der hier ursprünglich mit einer Mission angetreten ist, fände sich in eine Interaktion eingebunden. Seltsamerweise findet sich zu der Kehrtwende, die Novalis in diesem Fragment vollzieht, in Schellings annähernd gleichzeitig verfassten Schrift »Ideen zu einer Philosophie der Natur« eine Parallele: Auch Schelling vollzieht auf den letzten Seiten seiner Einleitung einen Bruch seiner Argumentation, der aus dem Vorangegangenen nicht herzuleiten ist. Auf den Seiten vorher war der Text über alle hergezogen, die glauben, das Subjekt-Objekt-Verhältnis durchbrechen und zu den Dingen selbst gelangen zu können. Schelling erklärt seine Einleitung zum »Ort, den Grundsatz, dass Dinge von außen auf uns einwirken, völlig zu vernichten.«61 Dann aber entwickelt er am Ende der Einleitung in einer abrupten Kehrtwendung eine damit und mit seiner Prämisse einer Polarität von Geist und Natur unvereinbare Sichtweise: Es gebe nicht nur ein »geheime[s] Band, das unsern Geist mit der Natur verknüpft«, sondern es müsse von einer »absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns« ausgegangen werden.62 Damit würde der menschliche Geist zum Bewusstsein und Artikulationsme-
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Friedrich Schelling (1967), Ideen zu einer Philosophie der Natur, Ausgewählte Werke. Schriften 1794-1798. Darmstadt, S. 356. F. Schelling, a.a.O., S. 379, 380.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
dium der Natur: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein.«63 Novalis hat zu diesem Zeitpunkt angefangen, sich selbst mit diesem Problemzusammenhang einer veränderten Naturauffassung zu beschäftigen; er kommt damit aber nicht recht weiter. Wenn er sich von Schelling Hinweise und Anregungen erhofft hat, so muss ihn die Argumentation in beiden Teilen enttäuschen und ebenso die sentenziöse Form, in der Schelling am Ende zu seiner Neubewertung kommt. Novalis’ eigene Auffassungen beginnen in dieser Zeit selbst einen tiefgreifenden Wandel durchzumachen, aber eigentlich beginnt das Thema der Natur im engeren Sinne erst in diesem Winter 1797/98 das Gewicht zu bekommen, das schließlich zu einer eigenen Naturphilosophie bei ihm führt. Dies muss in Zusammenhang mit der Aufnahme seines Studiums an der Bergakademie in Freiberg gesehen werden und seinem – bald auch privaten – Kontakt zu seinem Lehrer Abraham Gottlieb Werner, Professor an der Bergakademie. Zur Zeit der Aufnahme seines Studiums werden seine Fragmente noch von der Idee geleitet, der Mensch sei auf dem Wege, »wahrhaft unabhängig von der Natur« zu werden (398:59), sie aber dabei »mannigfaltig bearbeiten und benutzen« zu können (399:60). Geradezu frankensteinsche Phantasien64 knüpfen sich daran: Die »Kunst die Natur zu modifizieren – Naturen nach Belieben hervorzubringen« (446:2) werde künftig zur Aufgabe der Physik. Der Mensch soll fähig werden, »einen Stoff zu beseelen – er wird seine Sinne zwingen ihm die Gestalt zu produzieren, die er verlangt – und im eigentlichsten Sinn in seiner Welt leben zu können« (398:59, »seiner« nicht nur im Original großgeschrieben, sondern auch kursiv). Wenn bereits hier Novalis’ Einsicht gilt: »Natur und Lebendiges ist eins« (ebd.), so nur als Anlass für Herrschaftsphantasien. Sie richten sich zunächst auf den eigenen Körper: Mit erlangter »Herrschaft über die Sinne« werde es möglich werden, »uns einen Körper zu geben, welchen wir wollen« (399:60). Dies sei die »Kunst allmächtig zu werden – Kunst unseren Willen total zu realisieren. Wir müssen den Körper, wie die Seele in unsere Gewalt bekommen.« (400:62)65 Vom »Sieg über die rohe Natur« in den Fichte-Studien zur »rauen und geistlosen Natur« Anfang 1798 führt eine gerade Linie. (303:42, 393:56) Im selben Brief an Schlegel vom 26.12.1797 berichtet Novalis aber auch, dass es in seinen Aufzeichnungen der letzten Monate »viel Theosophie und Alchemie« zu finden gebe. Dazu gehören auch die Schriften von Paracelsus. Dieser sieht es als Aufgabe des Menschen an, das von Gott begonnene Schöpfungswerk zu vollenden. Der Mensch finde
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Ebd., S. 380. Novalis berichtet F. Schlegel in einem Brief vom 26.12.1797, er habe Schelling auf seiner Reise nach Freiberg, seinem künftigen Studienort, kennengelernt und ihn auf diese Schrift angesprochen. Dabei habe er das »Missfallen«, das er und Schlegel bei der Lektüre empfunden hätten, deutlich gemacht. Schelling habe dafür Verständnis gezeigt und Besserung gelobt – in einem bereits begonnenen zweiten Teil habe er, was das Verhältnis von Geist und Natur betrifft, »einen höheren Flug begonnen«. Mary Shelley wird ihren »Frankenstein oder Der moderne Prometheus« erst 1818 publizieren und hier vor einer Entwicklung warnen, die für Novalis 1798 noch eine verlockende Vorstellung ist. Diese Fragmente fallen nicht nur in die Zeit seines ersten Studiensemesters an der Bergbauakademie, sondern gehen auch unmittelbar dem Zeitpunkt voraus, an dem im Sommer 1798 erstmals seine beginnende Tuberkulose diagnostiert wurde.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
dieses Werk – die Natur – als bloßen Anfang vor, »ein Samen, aus dem er etwas Größeres zu gestalten hat.«66 Die Welt ist bei Paracelsus reine Potentialität, die zu ihrer Aktualisierung des Menschen bedarf; seine Aufgabe ist es, das Verborgene »zu seiner höchsten Entwicklung« zu führen67 . Dies wird als eine Art Reinigungsarbeit vorgestellt: als »Alchemie«, als Arbeit der Transformation und Läuterung68 . Diese Vorstellung vom Menschen als Mittler zwischen göttlicher und natürlicher Welt findet bei Novalis eine starke Resonanz. »Alles hat der Mensch zu vollenden«, so Paracelsus69 . »Die Welt ist noch nicht fertig«, folgert Novalis. (466:65) Vor dem Hintergrund dieser alchemistisch-theosophischen Lektüre-Erfahrungen ist mit »Bildung der Erde« zwar wohl der umgestaltende Eingriff in die Natur gemeint, aber nicht im Sinne der Naturausbeutung, sondern einer Humanisierung der Natur.70 Ausgehend vom Postulat des Paracelsus, die Natur sei unentfaltete Vorstufe, die durch den Menschen erst zu ihrer vollen Entfaltung gebracht werde, bekommt »Bildung der Erde« die Bedeutung einer »Entwilderung der Natur«, wie Novalis dies später in den »Lehrlingen zu Sais« formulieren wird. Es ist die Arbeit an einem für beide Seiten gedeihlichen Verhältnis, einem Verhältnis, in dem beide, Natur und Menschen, zur vollen Entfaltung ihrer Potentialität auf den anderen angewiesen sind, für das aber doch der Eingriff des Menschen entscheidend ist: Seine Aufgabe ist die »Bildung der Erde«. Dann aber, während der Pause einer Kur in Teplitz im Juli 1798 und nach Aufnahme seines naturwissenschaftlichen Studiums, tauchen andere Vorstellungen auf, die er »Noten an den Rand des Lebens« nennt (II 596:323): Vom »Genius der Natur« ist nun die Rede (408:97), und an die Stelle sowohl der Herrschaftsphantasien totaler Verfügungsgewalt als auch einer »entwildernden« Transformation der Natur treten Gedanken über die »Fähigkeit, den Sinn der Natur zu treffen – und in ihrem Geiste zu handeln« (443:19). Dies sei durch die eigene Zugehörigkeit zur Natur möglich, sodass der Sinn der Natur durch Introspektion erschlossen werden könne. Flankiert werden diese Reflexionen von
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Paracelsus, a.a.O., S. 158. Entsprechend schickt Novalis dem »Blütenstaub« das Motto voran: »Freunde, der Boden ist arm, wir müssen reichlich Samen ausstreuen, dass uns doch nur mäßige Ernten gedeihen.« A.a.O., S. 158. So wie aus dem Willen Gottes »Bäume wachsen […] will Er, dass in derselben Art auch alle Künste, Musik, Handwerke, Wissenschaften und Glaubenslehren wirklich werden, die, von Ihm geschaffen, im ›Firmamente‹ ruhen«. (A.a.O., S. 161) Bestes Beispiel dafür sei die Heilkraft von Pflanzen, die nicht von selbst zu ihrer Wirksamkeit gelangt, vielmehr »muss [dies] durch den Menschen geschehen, so wie auch die Birnen durch den Baum zum Reifen gebracht werden; das ›Firmament‹ braucht nämlich einen Mittler, durch den es wirkt, und dieser ist allein der Mensch.« (A.a.O., S. 161/62) A.a.O., S 143. In der »gegenwärtigen Natur« zeigten sich »große, aber verwilderte Anlagen«, so Novalis in den »Lehrlingen zu Sais«, denn die Naturgeschichte habe einen anderen Verlauf genommen als die Geschichte des Menschen. Eine »alte goldene Zeit« sei abgelöst worden von einer Geschichte des Niedergangs. Nun gehe es darum, wieder »die verstummten und verlorenen Töne in Luft und Wäldern zu erwecken« (S. 102), Wildwuchs zu kultivieren und daraus Gärten entstehen zu lassen. Natur sei früher einmal »Freundin, Trösterin, Priesterin und Wundertäterin« gewesen (S. 103), diesen Charakter müsse man versuchen erneut in ihr zu erwecken.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Entwürfen einer »Lebenskunstlehre« (402:73), die das »gewöhnliche Leben« zum Thema erklärt (405:81) – ein um 1800 nicht selbstverständlicher Schritt71 . Die Rede ist von Geschlechtsunterschieden, alltäglichen Geschäften, geselligem Verkehr, der täglichen Nahrungsaufnahme als »Mittel […] eines belebenden Umgangs mit dem absolut Lebendigen«. (Ebd.) An die Stelle der Natur-Geist-Dichotomie (»Sieg über die rohe Natur«) tritt das Bedürfnis, sich in ihr wiederzuerkennen: »Wir werden die Welt verstehen, wenn wir uns selbst verstehen«. (386:41) Genauer besehen stehen aber bei Novalis zur Zeit der Aufnahme der naturwissenschaftlichen Studien in Freiberg mehrere Arten von Naturverständnis nebeneinander, zwischen denen sich zunächst keine Vermittlung andeutet. »Wir sind zugleich in und außer der Natur« (III 252:75), fasst er dies zusammen, die Teilnehmer- und die Beobachter-Perspektiven stehen unauflösbar nebeneinander. Teil der Natur zu sein, heißt die »Synthesis von Seele und Körper« am eigenen Leib zu studieren (467:66), denn »Natur und Seele« sind »eins«. (448:6). Die Natur erhält wie der Mensch Subjektcharakter; sie ist »Geist des Ganzen«. Das Studium der eigenen inneren Natur lässt auch die äußere »als ein menschliches Wesen ahnen« (489:115), nämlich eines, das wir »nur so verstehen können und sollen, wie wir uns selbst und unsere Geliebten, uns und euch verstehen.« (Ebd.) Kein Teil ist völlig eigenständig, kann ganz aus sich selbst verstanden werden: »In der Physik hat man zeither die Phänomene stets aus dem Zusammenhange gerissen und sie nicht in ihre geselligen Verhältnisse verfolgt. Jedes Phänomen ist Glied einer unermesslichen Kette – die alle Phänomene als Glieder begreift. Die Naturlehre muss nicht mehr kapitelweise – fachweise behandelt werden« (535:93), da »jeder Teil an sich nie ganz verstanden werden kann« (539:119).72 Die »Teile« der Natur sind so sinnvoll aufeinander abgestimmt, dass man »von ihr Ökonomie lernen« kann (541:121). Dies ist die eine Seite. Aber wenn wir »in und außer der Natur« sind, so bedeutet dies sowohl, dass wir »das Innere und die Seele der Natur vernehmen können« (490:115), als auch eine unauflösbare Differenz bestehen bleibt. »Die Natur ist unbegreiflich per se« (461:51) – auch die eigene, da man sich selbst nie ganz begreifen wird (vgl. 324:6). Zwar könne man sie sich in Teilen verständlich machen, aber auch dann gilt, wie für alle Erkenntnis: »Das Unbekannte, Geheimnisvolle ist das Resultat, und der Anfang von allem.« (460:51) Begriffliche Klassifikationen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass jenseits aller Ordnungsschemata die Natur eine Vielfalt individueller Lebensformen ist: »Genialische, edle, divinatorische, wundertätige, kluge, dumme etc. Pflanzen, Tiere, Steine, Elemente etc. Unendliche Individualität dieser Wesen […] Die Natur ist eine
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Noch in den 1830er Jahren wird von Eckermann in seinen »Gesprächen mit Goethe« jeder Hinweis auf dessen alltäglichen Lebensumstände peinlich vermieden, um den Nimbus des Geistesheroen nicht zu stören. Folgt man Ch. Taylor, so ist die »Bejahung des gewöhnlichen Lebens« ein eher spätes Merkmal der Moderne (Ch. Taylor (1996), Quellen des Selbst. Frankfurt a.M., S. 33). Dieser Gedanke hatte sich bereits in den Fichte-Studien vorbereitet, wo Novalis mehr und mehr die Gültigkeit einer Perspektive auf die Realität allein als »Tathandlung« des Ich in Zweifel zieht (s.o. Abschnitt III). Die »Notwendigkeit, […] ein objektives Dasein anzunehmen« (II 241:444) stellt ihn vor die Aufgabe, in die »Sphäre der Realität, oder der Wirklichkeit im strengen Sinn« vorzudringen (II 225:327) und dies erfordere, die »Eigenschaftlichkeit« der Dinge ernst zu nehmen (ebd.) und in ihren »Bezirk […] des Verhältnisses und des Wechsels [zu] kommen.« (II 246:453)
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
versteinerte Zauberstadt« (528/29:65). Betrachtet man sie unter dem Blickwinkel individueller Erscheinungsformen und nicht dem der Klassifikation, so wird sie zu »eine[r] Kirche unendlicher Naturen.« (538:111) Begriffliche Erkenntnis versagt gegenüber diesem Individuellen. Deshalb führt sie ihre eigenen Bestimmungen ein und insofern hat Fichte mit seiner Vorstellung einer Setzung aller Gegenständlichen durch das erkennende Ich wiederum Recht. Novalis vergleicht die Erkenntnistätigkeit des Subjekts mit der Brechung des Lichts durch ein Prisma: »Der Mensch ist diejenige Substanz – die die ganze Natur unendlich bricht – i.e. polarisiert. Des Menschen Welt ist so mannigfach, als er mannigfach ist. Die Welt der Tiere ist schon viel ärmer« (435:10). Dies bedeutet nicht unbedingt eine Überlegenheit des Menschen gegenüber der Natur, vielmehr gilt, dass »der Mensch […] das eigentliche Chaos« ist – anders als »Steine und Stoffe«. (III 604:307) Dies heißt aber auch, dass Menschen in Novalis’ Darstellung zwar »Vernehmende« sind, aber ihre besondere Fähigkeit in der Produktion von Neuem liegt. Und dessen Medium ist die Imagination. Schon das bloße Sehen modelliert seinen Gegenstand, z.B. indem es – abhängig von den Vorstellungen des Subjekts – voneinander abgegrenzten Entitäten erzeugt (vgl. II 280:613, ähnlich II 273:568). Es ist »Bildungskraft« durch Einbildungskraft. Auffassungen wie diese stehen im Hintergrund, wenn Novalis im Fragment 32 des »Blütenstaub« von der Aufgabe einer »Bildung der Erde« spricht. Die an Paracelsus anknüpfende Vorstellungswelt wird kurz evoziert und dann gleich darauf verlassen, das Ganze liest sich eher wie ein – höchst fragmentarisches – Protokoll einer neuen Erfahrung. Über deren Ergebnis lässt sich nichts sagen, als dass es den ursprünglichen Bedeutungsrahmen sprengen wird. Beide Interaktionspartner werden die Gewichte der Dinge neu bestimmen, selbstverständliche Trennungen und Unterscheidungen überwinden müssen. »Sie müssen in sich selbst mit dem anderen und mit sich selbst im anderen zusammentreffen«, wie Novalis im »Allgemeinen Brouillon« formulieren wird. (450:14) Es gibt nicht mehr die Antithese des Eigenen und Fremden, denn was Novalis »Inspiration« nennt, ist ein Drittes, hervorgegangen aus der wechselseitigen Einflussnahme zweier »Geister«, die einander fremd sind, aber in »Zueignung und Mitteilung« sich einander zuwenden. Vom Ende dieser Denkbewegung aus betrachtet taucht hinter der Fassade einer »Bildung der Erde« als »Mission« eine neue Sichtweise auf und die ersten beiden Sätze des Fragments wirken nun wie die harte Schale einer Denkform, die einen Riss bekommt und eine neue Denkweise aus sich entlässt: einer wechselseitigen »Inspiration« als gemeinsamer Bildungsprozess von Natur und Mensch, auf die die Verwandtschaft von innerer und äußerer Natur einen ersten Hinweis liefert.73 Der Vorgang der Bildung ist nicht mehr eine ausschließlich in den Grenzen des eigenen Ichs sich vollziehende Tätigkeit.
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Vorbereitet wird diese Denkbewegung wie gesagt bereits in den Fichte-Studien II 237ff. Hier vollzieht sich ein Wechsel der Begriffe von der Selbsttätigkeit und Wahrnehmungsfähigkeit des Subjekts hin zu »Empfänglichkeit« und »Aufmerksamkeit« als Eigenschaften von allem Lebendigen, die unterstreichen, dass es in Relation zu anderen steht – »wie die spielenden Personen, die sich ohne Stuhl, bloß eine auf der anderen Knie kreisförmig hinsetzen.« (II 242:445)
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7.9
»Keime künftiger Organe«
»Die Welt ist noch nicht fertig« (466:65): Vielerorts glaubt Novalis Hinweise darauf zu entdecken, dass die ihn umgebende Welt nur ein Stadium in einem langfristigen und unabgeschlossenen Entwicklungsprozess der Erde ist. Darwins »Entstehung der Arten« ist noch nicht geschrieben, aber zunehmend werden versteinerte Fossilien entdeckt und Novalis überlegt, ob die Natur, wie sie sich jetzt zeigt, nicht aus einem welthistorischen »Erstarrungsprozess« resultiert. (452:20)74 Unter dem Eindruck der Versteinerungen früherer Lebewesen wird für ihn die Natur zu einem Lebensraum, dessen Entwicklung abgeschlossen ist. Aber diesen Prozess zunehmender Konsolidierung kontrastiert er mit einer entgegengesetzten Geschichte, der Geschichte des bisher unfertigen Menschen. In seiner Entwicklung sei er noch ganz unfestgelegt, seine »Menschwerdung« noch unabgeschlossen; nicht Menschwerdung Gottes, sondern die »Menschwerdung des Menschen« sei in Wahrheit das Thema der christlichen Morallehre. (526:48) Die Entwicklungsgeschichte der Gattung Mensch muss damit aber unter der doppelten Perspektive ihrer Naturgeschichte und der Geschichte ihrer Selbsthervorbringung als bewusstseinsfähige Wesen betrachtet werden – und diese beiden Perspektiven aufeinander zu beziehen sei Aufgabe einer noch zu entwickelnden »moralischen Bildungslehre«: »Ich ist kein Naturprodukt – keine Natur – kein historisches Wesen – sondern […] eine Kunst – ein Kunstwerk. Die Naturgeschichte des Menschen ist die andere Hälfte. Die Ichlehre und die Menschengeschichte […] werden in einer höheren Wissenschaft – (der moralischen Bildungslehre) vereinigt und wechselseitig vollendet.« (II 253:76) Diese neue Wissenschaft ist allerdings Novalis zufolge noch nicht einmal in Umrissen sichtbar. »Sonderbar, dass das Innere des Menschen bisher nur so dürftig betrachtet und geistlos behandelt worden ist. […] Verstand, Phantasie – Vernunft – das sind die dürftigen Fachwerke des Universums in uns. Von ihren wunderbaren Vermischungen, Gestaltungen, Übergängen kein Wort. Keinem fiel es ein – noch neue, ungenannte Kräfte aufzusuchen« (535:97). Völlig unbemerkt entstehen vielleicht bereits »neue Sinne« und »über ihre mögliche Einrichtung« gelte es sich im Rahmen einer »Bildungslehre« Gedanken zu machen. In dieser spekulativen Naturgeschichte falle der Gattung Mensch eine besondere Aufgabe zu, denn sie kann zur Natur in Beziehung treten, sie kann den Zusammenhang zwischen den Dingen, zwischen Dingen und Menschen benennen, vielleicht sogar »die Sympathie und Identität der Natur und des Gemüts« neu beleben. (560:181) Gerade dass es eine Naturwissenschaft im modernen Sinne noch nicht gibt bzw. ihre Entstehung sich gerade erst abzeichnet, ermöglicht es der romantischen Naturbeobachtung, Aspekte zu benennen, die dann lange Zeit aus dem Fokus geraten werden, weil sie sich der Objektivierung entziehen. Es gibt noch nicht den Begriff der Biologie, stattdessen wird von »Leben« gesprochen und damit etwas bezeichnet, das zwischen Geist und Natur angesiedelt ist oder genauer beide umfasst. »Alles geht nach Gesetzen und nichts
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Einen ähnlichen Gedanken verfolgt Schelling, wenn er die Natur als eine »mit allen ihren Empfindungen und Anschauungen gleichsam erstarrte Intelligenz« auffasst. (F. Schelling, zit. P. Kluckhohn (1960), Friedrich von Hardenbergs Entwicklung und Dichtung, a.a.O., S. 29)
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
geht nach Gesetzen« (539:111); dies werde vom neuen Wissenschaftsverständnis unterschlagen, bisher gelinge es ihm nicht zu berücksichtigen, was sich auf der Ebene individueller Erscheinungen und Entscheidungen ereignet, diese Ebene müsse aber genauso Berücksichtigung finden wie die der Gesetze. Insofern ist auch die Physik in Novalis’ Augen »noch sehr dürftig« (538:111), und »noch nicht auf dem rechten Wege, so lange sie nicht phantastisch – willkürlich – und streng und gebunden zugleich zu Werke geht«. (538:109) Die untergründige Einheit von Natur und Geist manifestiert sich in Ähnlichkeiten: Novalis nimmt an Naturphänomenen Eigenschaften wahr, die sich auch in menschlichem Verhalten als leitende Orientierung finden, allen voran Intentionalität: »Jedes beabsichtigt sich indirekt« (446:2), will sich hervorbringen und stabilisieren, aber insofern nur indirekt, als es dies in Verbindung mit Anderen und über »gegenseitige Zuneigung« (ebd.) hervorzubringen sucht. In Beziehung zu treten sei eine der Natur innewohnende Tendenz, die verhaltensleitende Orientierung aller Lebewesen und eine Art Grundprinzip, das am ehesten in ethischen Kategorien fassbar ist. Die Wahrnehmungsfähigkeit für diese Dimension nennt Novalis »Moral«. Sie ist ein besonderer Sinn, »Sinn für Harmonie«, für »gemeinschaftliches Leben«, »Divinationssinn«, d.h. die Fähigkeit, »etwas ohne Veranlassung, Berührung, vernehmen« zu können. (448/49:8) Dieser Sinn, so Novalis im Anschluss an den niederländischen Philosophen Hemsterhuis, sei nie vollständig entwickelt worden; die Anlage dazu warte auf ihre Ausbildung. Aus dem Studium der Schriften von Hemsterhuis leitet Novalis eine Variante von Bildungsvorstellungen ab, die sich einer biologischen Metaphorik bedient, aber eingekleidet in die Rede von der Ausbildung eines »moralischen Organs« auf ethische Aspekte des Bildungsgedankens zielt. Diese ethische Dimension wird von Hemsterhuis in nichts Geringerem als der Entsprechung von Makro- und Mikrokosmos gesucht: Die beim Menschen zumindest ansatzweise vorhandene Fähigkeit zur Wahrnehmungen ethischer Aspekte finde ihre Entsprechung in einer moralischen Seite des Universums, einem universellen Prinzip, das aber auf Grund der Unentwickeltheit menschlicher Sinne noch nicht entdeckt worden sei. »Die moralische Seite des Weltalls ist noch unbekannter und unermesslicher als der Himmelsraum«, fasst Novalis diese Aussagen von Hemsterhuis zusammen. (II 369:29) Hemsterhuis stattet in einer mythologischen Erzählung75 den Menschen mit einer unendlichen Zahl von Seelenorganen aus, die der Fülle von Aspekten des Universums entspreche. Davon blieben in seiner weiteren Geschichte nur wenige erhalten, da die anderen nicht entfaltet wurden, übrig blieben z.B. als Sinnesorgane das Auge und Ohr. Auch das Denken sei ein solches »Organ«, aber noch unentfalteter als dies sei das »moralische Organ«. Da es sich nicht um Organe des Körpers, sondern der Seele handelt (vgl. II 361:19), vermutet Hemsterhuis, dass andere Wahrnehmungsorgane und Fähigkeiten noch gar nicht bewusstgeworden sind, sondern als bloße Anlage darauf warten, aktualisiert zu werden. Entsprechend fragt sich Novalis, ob die Begrenztheit
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Gemeint ist der Dialog »Simon«.
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sinnlicher Erkenntnis, von der Kant ausgeht, vielleicht Resultat eines Verfallsprozesses oder Zeichen einer unvollkommen gebliebenen Entwicklung ist.76 Wenn diese Organe bisher nur als Anlage im Menschen vorhanden sind und auf ihre aktive Ausbildung warten, könnten im Menschen »Keime künftiger Organe« in großer Vielzahl angelegt sein, und Novalis fragt: »Wie lässt sich etwas zu einem Organ machen?« (II 368:27) Ein Organ sei ja »eine höhere Einheit von Stoffen und Bewegungen« und das heiße, dass es vor allem »veränderlich« sei. (III 258:94) Von neuen Organen und nicht lediglich neuen Fähigkeiten zu sprechen bedeutet, dass hier von einer Umgestaltung die Rede ist, die im Leib verankert und, einmal entwickelt, auch nicht mehr leicht rückgängig zu machen ist.77 »Wissen wir denn – welche Entdeckungen uns auf dieser Seite noch vorbehalten sind – ?«, kommentiert Novalis (II 369:29). Dennoch bleibt die Frage: »Keime künftiger Organe – Perfektibilität der Organe. Wie lässt sich etwas zu einem Organ machen?« (II 368:27) Hemsterhuis fasst dies als historischen Prozess auf, der dem direkten Eingriff des Menschen weitgehend entzogen ist und jede Zeit stelle andere Entwicklungsaufgaben. Als Beispiel weist Hemsterhuis auf Sokrates hin: Dieser – so die Anklage – habe die Jugend zum Selber-Denken verführt und damit die Autorität religiöser Verhaltensvorschriften untergraben. Es ist nicht in erster Linie seine Ansicht der Dinge, seine Weltanschauung, sondern die Art, wie er mit neuen Fragen umgeht, die ihm ein solches Ansehen unter der Jugend verschafft. Es ist seine Methode, ein Verhaltens- oder Erkenntnisproblem in eine Reihe von Denkschritten zu transformieren und so zu lehren, dass man sich selbst befragen muss, wie sich dieses Problem lösen lässt. Hemsterhuis glaubt, dass sich solche Befreiungserfahrungen verdichten und so »am Ende vollkommenes Organ« werden. (II 377:38) Novalis folgert daraus, dass durch »die ausschweifende Ausdehnung und Ausbildung der niederen Vermögen … zwar die Künste entstanden« sind, aber nun kündige sich etwas an, dessen Ausbildung »einer künftigen Existenz« vorbehalten sei: Dies werden »moralische Künste« sein. (II 369:29) Eine Verschiebung der Aufmerksamkeit, des Wahrnehmungsfokus könne bewirken, dass neue Sensibilitäten entstehen. Mit der Entwicklung eines neuen Organs wird immer zugleich eine neue Seite der Welt wahrnehmbar. Wichtigste Aufgabe des »moralischen Organs« wäre es, das eigene Selbst in seiner wechselseitigen »Berührung« mit anderen wahrnehmbar zu machen78 . Das, was wir als Liebe bezeichnen, sieht Hemsterhuis als bisher noch unentfaltet gebliebene Vorstufe eines erst noch in Entstehung begriffenen neuen Vermögens an. Sie trete erst spät in der Naturgeschichte auf, ein Geschenk der Aphrodite, so Hemsterhuis in einer mythologischen Erzählung. Aber das Geschenk bestehe nur in der Anlage zu dieser Fähigkeit. Seine vollständige Ausbildung wurde von den Beschenkten versäumt, da
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Auch das eigene Ich wäre eigentlich auf spezielle Organe angewiesen, um sich selbst genauer wahrnehmen zu können. »Gibt es keine Ferngläser für dasselbe?« fragt Novalis in plötzlicher Bereitschaft, sich über Hemsterhuis lustig zu machen. (II 367:27) Allenfalls kann das Organ durch Nicht-Gebrauch allmählich verkümmern. Moral könnte dann zu so etwas wie dem Blinddarm werden. Diese Forderung kehrte Mitte des 20. Jahrhunderts in der Vorstellung eines »listening with the third ear« (Theodor Reik) wieder.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
»der zu schnell entwickelte Mensch [ihr] noch nicht gewachsen« war (Hemsterhuis, zit. Novalis II 368:27). Auch das »transzendentale Selbst«, so Novalis, würde seine Vermittlungsarbeit zwischen der Innen- und Außenwelt des Menschen besser leisten, wenn dieses Organ bereits zu seiner vollen Entfaltung gekommen wäre. Dann würde man »alles nur so verstehen können und verstehen sollen, wie wir uns selbst und unsere Geliebten […] verstehen« (489:115); nicht die losgelöste Objektivität einer entpersonalisierten Erkenntnis würde dann angestrebt, sondern eine Erkenntnis, die auf der Solidarität mit den Interessen des Erkenntnisgegenstandes beruht, unabhängig davon, ob er das eigene Selbst, die andere Person oder ein andeeres Lebewesen ist. Das »moralische Organ« ist Beziehungsorgan, einerseits bestimmt durch »unendliche Anziehung« und Verlangen nach Vereinigung, andererseits aber über das bloße Affiziertsein hinaus mit Bewusstsein und Willen ausgestattet, und dieser Wille erschöpft sich nicht in Verlangen und Begehren. Da das »moralische Organ« nicht »mit den übrigen Sinnen vermischt« ist (II 375/76:38), ermöglicht ihm dies Distanz gegenüber Willkür ebenso wie Urteilsfähigkeit gegenüber Recht und Unrecht, sogar Freiheit. »Die durchaus freie Seele wird am Ende vollkommenes Organ«, lautet der Schluss, den Novalis aus den Ausführungen von Hemsterhuis zieht. (II 377:38) Aber so sehr seine Tätigkeit im Aufspüren von Zusammenhang und Entsprechung besteht, so zielt es doch nicht nur auf eine Verbindung zwischen den Individuen: Für Hemsterhuis, und mit ihm Novalis, ist noch bedeutsamer, dass auf diese Weise eine Entsprechung zwischen den Gesetzmäßigkeiten des »Universums« und den Verhaltensweisen von Menschen, zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos entstehe.79 Entsprechung heißt: »Jede Hineinsteigung – Blick ins Innere – ist zugleich Aufsteigung, Himmelfahrt«, sodass der Mensch zum »Bewohner […] des inneren Himmels« wird. (III 434:851) Kronzeuge der Unermesslichkeit dieses geistigen Innenraums ist die Mathematik. Zwar sei der »innere Himmel« ein Nicht-Ort, dennoch sei er kein imaginärer, sondern Schauplatz der »Realität der Logik – ihrer Zusammenstimmung mit der übrigen Natur und völlig der Mathematik« (523:25). Denn einerseits sei Mathematik »nichts als die exoterisierte, zu einem äußeren Objekt und Organ gemachte Seelenkraft des Verstandes« (450:12), andererseits sind ihre »Verhältnisse […] Weltverhältnisse. Die reine Mathematik ist die Anschauung des Verstandes als Universum.« (543:123)80 Über mathematische Relationen werde ein unmittelbarer Zugang zu »Bedeutung, Symmetrie, Anspielung und seltsamem Zusammenhang« der Welt möglich. Was Novalis an Hemsterhuis entdeckt, ist die Entstehung eines neuen Wahrnehmungsvermögens, einer Empfindlichkeit angesichts vorenthaltener Freiheit des SelberDenkens. Diese Beschränkung wurde vielleicht noch vor kurzem nicht als Unfreiheit, sondern als Sicherheit gebende tradierte Überzeugungen empfunden. »Der moralische Sinn ist […] der Sinn für freigewähltes […] Leben«, fasst Novalis dies zusammen (449:8), aber es handelt sich um einen Sinn, der eine Entstehungsgeschichte hat. Diese Geschichte ist kein naturwüchsiger Prozess, sondern beruht auf einem »Keim«, der aktive Ausbildung benötigt. Der Lehrplan dieses Bildungsprozesses und die Aufgabe eines 79 80
»Dieses [ist] Abbreviatur, jenes Elongatur derselben Substanz.« (413:104) »Wer ein mathematisches Buch nicht mit Andacht ergreift und es wie Gottes Wort liest, der versteht es nicht.« (543:123)
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Lehrers wäre hier vor allem ein Umlernen: nämlich »das Mögliche unmöglich […] – das Bekannte unbekannt« zu machen (440:17). Hemsterhuis sucht nach einer spezifischen Klasse von Vorläuferfähigkeiten, aus denen sich das moralische Organ aufbauen soll – in den Blick geraten Imagination, Urteilskraft, Willen, Selbstreflexion, Empathie (vgl. II 371:31). Sie haben Vorläuferstatus, wenn sich in ihnen ein Trieb manifestiert, der eigenständig ist und sich nicht »mit den übrigen Sinnen vermischt«, so die Erläuterung von Novalis (II 375/76:38). Moralgesetze hingegen würden diese Entwicklung eher schwächen, da sie lediglich ihre Befolgung einfordern. Letztlich bleiben Wille, Wunsch, Begehren die treibenden Kräfte, aber sie verändern ihren Status. »Wünsche und Begehrungen sind Flügel – Es gibt Wünsche, und Begehrungen – die so wenig dem Zustande unseres irdischen Lebens angemessen sind, dass wir sicher auf einen Zustand schließen können, wo sie zu mächtigen Schwingen werden, auf ein Element, das sie heben wird, und Inseln, wo sie sich niederlassen können« (II 373:35). Das »moralische Organ« ist dafür der Kompass.
7.10
Die Lehrlinge zu Sais
In Auseinandersetzung mit Goethes Bildungsroman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« weicht bei Novalis die anfängliche Begeisterung einer zunehmend kritischen Beurteilung, und er konzipiert seinen Roman »Die Lehrlinge zu Sais« quasi als Gegenentwurf. Ihm ist es wichtig, die Lehrjahre einer einzelnen Hauptperson durch die Bildungsgeschichte einer Gruppe von Personen, den Lehrlingen, zu ersetzen. Hat man bei Goethes Roman den Eindruck, dass die Erlebnisse, die auf den nicht besonders heldenhaften Helden einströmen, einen eher zufälligen Charakter haben, so ersetzt Novalis dies in seinem Romanentwurf durch die Konzentration auf ein thematisches Zentrum, dem sich alle Textelemente zuordnen lassen: einem neuen Verständnis von Natur. Der eigentliche thematische Kern ist das Ausloten von Varianten, Ebenen und Bedeutungen des Verhältnisses zur Natur und dabei vor allem des Wissens und Sprechens über sie. An die Stelle einer Folge von Begebenheiten und den Spuren, die sie in Wilhelm Meisters Bildungsgeschichte zurücklassen, tritt bei Novalis die gezielte Exploration einer Fragestellung, der sich in Selbstreflexionen, Reden, Gesprächen angenähert wird. Sogar die Dinge selbst ergreifen dabei das Wort und teilen ihre Ansicht über ihr Verhältnis zum Menschen mit. Als Schauplatz der beiden fertiggestellten Kapitel81 wählt Novalis Sais, die mythische Tempelstätte in Altägypten, ansonsten bleiben der Raum weitgehend und die Zeit vollends unbestimmt. Dabei bezieht sich Novalis auf einen Motivkomplex, der in verschiedenen Variationen in Texten seiner Zeit auftaucht. Immer geht es um das verschleierte Standbild der Göttin Isis, es bildet den Mittelpunkt der Tempelanlage, im-
81
Novalis brach den Text nach dem zweiten Kapitel ab, um die Arbeit am »Heinrich von Ofterdingen« dazwischenzuschieben und sie später wieder aufzunehmen, aber dazu kam es nicht; er starb, bevor der »Heinrich von Ofterdingen« beendet war. Nach einer intensiven Beschäftigung mit den Schriften Jakob Böhmes plante er für die Wiederaufnahme eine Umarbeitung der ersten beiden Kapitel.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
mer repräsentiert es ein Wissen, das durch seine Verschleierung den Menschen unzugänglich gemacht werden soll. Auslegungen dieser Allegorie sind zahlreich: Rousseau entwickelt beispielsweise die Phantasie, dass in der Finsternis des Tempels und angesichts der von einem undurchdringlichen Schleier verhüllten Göttin der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen werde und der Tempel so zum Schauplatz von Prostitution und Mord werde.82 Bei Schiller sind Tempel und Göttin Mittelpunkt eines Initiationsrituals, dessen Ziel die Einwilligung in das eigene Nichtwissen ist und den Verstoß des Wissenswollens hart bestraft83 : Wer durch Entschleierung der Wahrheit zum Wissen vordringen wolle, den zerstöre sie, so die Botschaft. Auch in Hegels »Phänomenologie des Geistes« spielt die Allegorie kurz eine Rolle, doch erfährt sie hier eine diametral entgegengesetzte Deutung: Hinter den angeblich eine Göttin verbergenden Vorhang zu treten ist ein Akt der Befreiung, das Ich wird niemand anderen als sich selbst dort vorfinden. Wissen bedeutet, dass der Verstand »in der Tat nur sich selbst erfährt.«84 Novalis’ Deutung geht in dieselbe Richtung, wenn er in einem Distichon formuliert: »Einem gelang es – er hob den Schleier der Göttin zu Sais –/Aber was sah er? Er sah – Wunder des Wunders – Sich selbst.« (34)85 Entsprechend lässt er den Lehrer den Lehrlingen gegenüber fordern, dass jeder in seiner Ausbildung »den eigenen Weg verfolgen« solle (98), ohne dabei an Gebote oder Verbote gebunden zu sein. Für den Lehrling ist die Beseitigung des Schleiers eine so selbstverständliche Voraussetzung, zu Wissen zu gelangen, dass er sagt: »wer ihn nicht heben will, ist kein echter Lehrling zu Sais.« (98) Das später im Roman erzählte Märchen nimmt dieses Motiv auf, und auch hier erfährt der Suchende durch die Entschleierung nichts über die objektive Wahrheit, sondern entdeckt im Traum einen verleugneten Teil seiner eigenen Seele in Gestalt der von ihm fast vergessenen und nun wieder mit ihm vereinigten Braut. In Märchengestalt wird hier das Thema einer Rückwendung auf das eigene »transzendentale« Selbst aufgenommen (s.o., Kap. 7.7) und als Voraussetzung dafür, sich der äußeren Welt zuzuwenden, dargestellt. Es geht in diesen Kapiteln um eine Neubestimmung des Verhältnisses zur äußeren und inneren Natur und um die Frage, welche Form des Wissens ihr gerecht werden kann. In Abgrenzung gegen die Wahrnehmung der Natur als feindlichem Prinzip, aber auch in Distanz zu einer wissenschaftlichen Rationalität, die Natur nur über Wenndann-Relationen begreift, macht sich der Text auf die Suche nach einem Naturverständnis, das die Verwandtschaft von Mensch und Natur thematisiert und dies in einer Folge von Reden und Gesprächen und aus einer Vielzahl von Perspektiven erörtert. Was in den »Lehrlingen zu Sais« auf der Handlungsebene geschieht, ist rasch zusammengefasst. Im kurzen ersten Kapitel berichtet der jugendliche Ich-Erzähler von den Erfahrungen, 82 83 84
85
Jean Jacques Rousseau, Morceau allegorique, zit. J. Starobinski (1971), J. J. Rousseau – La transparence et l’obstacle. Paris, p. 85. Friedrich Schiller (1981), Das verschleierte Bild zu Sais, Werke in drei Bänden, Bd. II. München, S. 710-712. »Es zeigt sich, dass hinter dem sogenannten Vorhange, welcher das Innere verdecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahintergehen, ebensosehr damit gesehen werde, als dass etwas sei, das gesehen werden kann.« (Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., Bd. 3., S. 135/6) Die folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich weiterhin auf Novalis (2013), Werke, hg. u. kommentiert von G. Schulz. München, 5. Aufl.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
die er unter Anleitung seines Lehrers und im Zusammensein mit den anderen Lehrlingen macht. Gegenstand der Ausbildung ist offenbar eine Art mystischer Naturlehre, in deren Rahmen die Adepten im Erkennen der verborgenen Beziehungen zwischen den Dingen unterwiesen werden. Nach dieser kurzen Exposition, die im Wesentlichen einen Eindruck von der Pädagogik des Lehrers und der von Selbstzweifeln bestimmten Selbstwahrnehmung des Lehrlings vermittelt, wechselt mit dem zweiten Kapitel die Erzählerperspektive. Es wird nun über den Lehrling berichtet, aber der eigentliche Gegenstand dieses Kapitels, das mit »Die Natur« überschrieben ist, ist die Darstellung unterschiedlicher Formen des Umgangs mit Wissen: als Reflexion eigener Erfahrung, als dogmatische Lehrmeinung, als Märchen und als ein Gespräch von Reisenden über Formen der Naturwahrnehmung, das deren unterschiedliche Perspektiven nebeneinanderstellt. Der Bericht des Lehrlings über die praktizierten Formen der Unterweisung und eine Rede seines Lehrers über die Prinzipien, die ihr zugrunde liegen, bilden Anfang und Ende des Textfragments. Der Erzähler, der später weitgehend in die Rolle eines Protokollanten der vorgetragenen Gedankengänge schlüpft, beginnt zunächst seinen Bericht mit eigenen Gedanken zur Naturerkenntnis seit den Zeiten der »Altväter« (99) und geht auf die Unterschiede der dabei entwickelten Repräsentationen der Natur durch Naturforscher und Dichter ein – mit deutlicher Kritik an den ersteren: »Unter ihren Händen starb die freundliche Natur, und ließ nur tote, zuckende Reste zurück« (101). Anhand von vier exemplarischen Positionen berichtet er von Auffassungen der Natur als feindliche und zu unterwerfende oder durch Kultur und Zivilisation bereits besiegte, die immer auf dasselbe Fazit hinauslaufen »Der Sinn der Welt ist die Vernunft« (107). Der Lehrling reagiert auf diese Auffassungen mit »Bangigkeit« und »Verwirrung« (108) und nur mit Hilfe eines »Märchens«, das ihm einer aus seiner Gruppe erzählt, gelingt es ihm eine eigene Perspektive zu entwickeln: Man muss heraustreten aus dem Vertrauten, sich der Fremdheit ausliefern, dann zeigt sich im Unbekannten das eigene Selbst. Die Lehrlinge gehen fort und die menschenleer gewordenen »weiten hallenden Säle« werden in ihrer Abwesenheit von den Klagen der Dinge erfüllt, die dort als Demonstrationsobjekte aufgestellt wurden. Sie leiden unter der ihnen nicht entsprechenden Ordnung, in die sie hier festgebannt sind, und ganz allgemein unter der willkürlichen Herrschaft, die der Mensch in seiner »Begierde Gott zu werden« über sie ausübt. (113) Aber die Sonne strahlt durch die Fenster und die Atmosphäre wendet sich ins Freundliche, Gesang ertönt, und es erscheinen Reisende, die sich auf den Stufen des Gebäudes, die zum Garten führen, niedersetzen. Sie sind auf der Suche nach den Spuren eines Urvolks und dessen Sprache, die sich in Resten hier erhalten haben könnte, und suchen dazu die Tempelanlage auf. Hilfe erhoffen sie sich vom Leiter des Tempelarchivs, einem Studium der Sammlungen und möchten auch an Unterrichtsstunden des Lehrers teilnehmen. Auf den Stufen sitzend, noch in Abwesenheit des Lehrers und der Lehrlinge, erläutern sie ihre Ansichten über das Mensch-Natur-Verhältnis. Dann aber kehren die Lehrlinge und ihr Lehrer zurück, der seine pädagogische Mission zu erläutern beginnt: seine Aufgabe sei es, »den […] Natursinn in jungen Gemütern zu erwecken, zu üben, zu schärfen, und ihn mit den anderen Anlagen […] zu verknüpfen.« (125) Was es bedeutet, ein »Lehrer der Natur« zu sein, wird von ihm kurz angedeutet, dann bricht der Text ab.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
Zwei Möglichkeiten, die Welt und die Natur zu interpretieren, werden gleich anfangs vorgestellt: Alle Erscheinungen seien Elemente einer großen »Chiffernschrift«, für die aber der Schlüssel fehle; alles sei voller Bedeutung, aber in einer unverständlichen Sprache. Ordnungsprinzipien, die eine Identifikation und Unterscheidung von Sachverhalten ermöglichen, würden ein Verständnis der verborgenen Zusammenhänge zugleich verstellen. Die Muster, die ebenso die Schneekristalle wie die Wolkenbildungen prägen, Gesteinsformationen ebenso wie die »Konjunkturen des Zufalls« (95) folgen einer unbekannten »Sprachlehre«. So beginnt der Roman; all dies sind Überlegungen des Lehrlings, und er geht noch einen Schritt weiter, indem er sich fragt, ob das Rätselhafte dieser Zeichensprache nicht ein bloßes Missverständnis sei: Es gehe hier vielleicht gar nicht um Zeichen, die etwas anderes repräsentieren, sondern in ihnen sei das, worum es geht, bereits vollständig enthalten, geheimnislos, reine Präsenz, so wie ein Akkord nicht auf etwas Anderes außer sich verweise. Diese Ansicht habe er, der Lehrling, jedoch nur »von weitem« gehört. (95)86 Sein Lehrmeister unterweist seine Schüler stattdessen in einer Auslegungskunst, die es ihnen – wie einer der Reisenden formulieren wird – ermöglichen soll, »Naturgedanken hervorzubringen«. (116) Dazu ist vor allem Übung der Aufmerksamkeit nötig, gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit und Ausbildung aller Sinne. Ziel des Lehrers ist, bei seinen Schülern »das wahre Naturverständnis« hervorzubringen (126), das sie in die Lage versetzt, zum »Verkünder der Natur« zu werden (ebd.), d.h. eine immer schon vorhandene Anlage zum Naturverständnis in anderen zu wecken. Indem die Lehrlinge befähigt werden, verborgene Beziehungen zwischen den Elementen der Natur zu entdecken, werden sie »gleichsam ein empfindliches Werkzeug ihres geheimen Tuns« (126). Betont wird, dass dies mit dem Anschein von Ungeschicklichkeit und Unwissen einhergehen kann; der befähigtste unter den Lehrlingen ist noch ein Kind. Geschult werden soll vor allem die Aufmerksamkeit »auf die Verbindungen in allem, auf Begegnungen, Zusammentreffungen« (96), und als didaktisches Mittel dazu dient das Legen der auf Exkursionen gefundenen Naturgegenstände in »Reihen«, die ihre heimliche Verbindung veranschaulichen sollen (offenbar mit zweifelhaftem Erfolg, hört man die Klagen der Dinge, die »in ihre Freiheit, in ihre alten Verhältnisse zurück« wollen, 112). Lehrling zu Sais zu sein bedeutet in der Lesart des Romanfragments keine Initiation, in deren Verlauf der Adept in vorhandenes Wissen eingeführt wird, sondern es wird ein Raum und eine Anleitung für eigene »Versuche, Zergliederung und Vergleichung« zur Verfügung gestellt. (127) Dass der Lehrling »den Schleier hebt« mag das Ziel sein, aber um dahin zu gelangen, schlägt jeder einen anderen Weg ein; dazu wird er mitunter sogar vom Lehrer aus der Gruppe entfernt und auf Reisen geschickt. »Der Lehrer muss Wissenheit und Unwissenheit hervorzubringen vermögen«, formuliert Novalis an anderer Stelle (III 375/6:612), und zur Bewältigung dieser Erfahrung eigenen Unwissens muss jeder »den eigenen Weg verfolgen« (98): Es sind Bildungsprozesse und nicht Einweihungswege, von denen hier die Rede ist.
86
Im etwa zum selben Zeitpunkt verfassten Text »Monolog« stellt Novalis Sprache als verwandt mit mathematischen Formeln dar: »sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus«, und sind darin direkter Ausdruck für »das seltsame Verhältnisspiel der Dinge.« (426)
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Die wichtigste Lektion des Lehrers besteht darin, von den Dingen den Anschein des Bekannten abzustreifen, sein Verfahren ist das Fremdmachen des Vertrauten. Jede Erscheinung, lehrt er, ist Element eines unbekannten Zusammenhangs, die Dimensionen seiner Bedeutung seien kaum überschaubar. Als er selbst begonnen hatte, so sagt er von sich, »auf die Verbindungen in allem, auf Begegnungen, Zusammentreffungen« zu achten, »sah er bald nichts mehr allein. […] Bald waren ihm die Sterne Menschen, bald die Menschen Sterne, die Steine Tiere, die Wolken Pflanzen, er spielte mit den Kräften und Erscheinungen« (96). Deshalb das Legen von Fundstücken aus der Natur in Reihen als Grundübung für seine Schüler: ein Experimentieren mit Ordnungen, Ausprobieren nicht nur einer neuen Zusammenstellung, sondern Suche nach einer »neuen Ordnung« (98). Es ist die Forderung, vom Vertrauten Abstand zu nehmen und unterschiedliche Perspektiven durchzuspielen, und Novalis variiert damit seinen Satz, »das Mögliche unmöglich […] – das Bekannte unbekannt« zu machen. (440:17) Mit der Ankunft der Reisenden wird in gewisser Weise die theoretische Begründung dieses Ausbildungsprogramms entfaltet, denn in immer wieder neu aufgenommenen Denkbewegungen umkreisen die Sprecher Möglichkeiten einer veränderten Auffassung der Natur. Die Fremden sind in ihren Reden eine vielstimmige Demonstration dessen, was an die Stelle der einen großen Erzählung von der siegreichen Vernunft tritt, wenn der alles seinen Prinzipien unterwerfende, klassifizierende Blick nicht mehr gilt. Sie sehen sich damit einer weitgehend unbekannten und noch ganz unverstandenen Welt gegenüber, und die einzelnen Sprecher führen verschiedene Umgangsweisen mit dieser Fremdheitserfahrung vor. Durch die Vielfalt von Stimmen werden keine in sich geschlossenen Sichtweisen neben einander gestellt, stattdessen wird durch den Austausch mit den Ansichten der anderen deutlich, dass sie sich im Fluss befinden, indem Argumente der anderen aufgenommen und weitergeführt werden. Was diese Äußerungen verbindet, ist die Überzeugung eines tiefreichenden Entsprechungsverhältnisses von Mensch und Natur, da in beiden dieselben Kräfte wirken, in der Sprache des Menschen ebenso wie in Gestaltungsformen der Natur. Wenn der erste Sprecher dies zunächst als Abhängigkeit des Denkens von der Natur charakterisiert, einer Abhängigkeit, die selbst noch die eigenen Denkbewegungen bestimmt, so wandelt sich diese Ansicht im Verlaufe des Gesprächs zu Vorstellungen von Entsprechung und Verwandtschaft. Die Lebendigkeit der Natur und die eigene sind dieselbe, tief unterhalb der Bewusstseinsschwelle gibt es ein Gemeinsames, einen gemeinsamen Rhythmus, so Novalis an anderer Stelle, oder, wie er es hier formuliert, »ein neues Band des Du und Ich.« (119) In den Reden der Reisenden wird deutlich, dass sich Natur dennoch in ihrer Bedeutung und ihrer Eigenart dem Denken und darin auch dem Verständnis weitgehend entzieht. Dies gilt auch und gerade für das Verhältnis zur eigenen inneren Natur, zu Trieben und Bedürfnissen, sodass es vielleicht unzulässig ist, überhaupt all dies in dem einen Wort »Natur« zusammenzufassen. Wahrscheinlich sei sie eher »der Vereinigungsund Berührungspunkt unzähliger Welten« (116), gibt einer der Fremden zu bedenken. Außerhalb von berechenbaren Wenn-Dann-Beziehungen bleibt die Natur fremd und dies bedeutet Fremdheit den eigenen Lebensbedingungen gegenüber, sogar Fremdheit gegenüber sich selbst. Wie ein Subtext liegt dem Romanfragment die Aufforderung zugrunde, dieses Fremdheitsgefühl zum Ausgangspunkt zu machen, Gewissheiten aufzugeben und in die Erfahrung der temporären Unwissenheit einzuwilligen.
7. Novalis: »Die Welt ist noch nicht fertig«
Und so sind es denn auch Reisende, die in Novalis’ Romanfragment die Forderung eines Heraustretens aus dem selbstverständlichen, tradierten und konventionellen Naturbezug erheben. Als Reisende sind sie Personen, die sich aus der Verankerung in ihrer gewohnten Lebenswelt gelöst haben; sie leben im Medium des Fremdseins und entsprechend ist es der fremde Blick auf das Vertraute, den sie zum Programm erheben.87 Vor diesem Hintergrund fordern sie, die eigene Naturwahrnehmung auf eine neue Basis zu stellen, das eigene Verhältnis zur Natur zu transformieren und damit auch das Verhältnis zu sich selbst. Worum es in allen Reden der Reisenden an erster Stelle geht, ist die Frage, wie ein Bewusstsein des eigenen Zusammenhangs mit Natur, auch der eigenen, geschaffen werden kann. Nur unter dem Aspekt ihrer Nutzbarmachung sei bisher die Natur erkundet worden, aber nicht in ihren eigenen Bedeutungen. Zwar ist Natur als Umwelt und als eigener Körper äußerst nah, dennoch ist dies eine unverstandene Präsenz, da ihre eigenen Bedeutungen überlagert werden von Verwertungskategorien. Dadurch – und zwar auf Grund ihrer »zarte[n] Nachgiebigkeit« (115) – sei Natur letztlich unverstanden geblieben. Auf neue Weise soll Natur sichtbar und bewusstseinsfähig werden, und so umkreisen die Reden auch die Frage, welche eigenen Einstellungen dazu nötig wären. Als Alternative dazu, sie zur »einförmigen Maschine« zu machen, solle man sich ganz auf die eigene Empfindung beziehen: Keiner wird »die Natur begreifen […] der nicht […] durch das Medium der Empfindung, sich mit allen Naturwesen vermischt, sich gleichsam in sie hineinfühlt.« (123) Als andere Möglichkeit wird eine Versenkung in die Eigenschaften des Gegenstands in »ungeteilte[r] Aufmerksamkeit« (114) vorgestellt, ein Denken als Verknüpfung von Beobachtungen und schlussfolgerndes Weitertreiben eigener Beobachtungen. Dies vollzieht sich »im Lernen, nicht im Lehren, im Erfahren, nicht im Machen, im Empfangen, nicht im Geben« (120), in einem Raum für die Reflexion der Zusammenhänge zwischen den wahrgenommenen Phänomenen und die Art der Beziehungen, in denen das eigene Ich zu ihnen steht. Besonderen Wert legt Novalis auf eine dritte Dimension, in der sich das Verhältnis zur Natur vollzieht. Nie geht der Bezug auf ein Äußeres vollständig in der Gegenstandswahrnehmung auf, er ist immer ein Amalgam von »Hervorbringen und Wissen« (119), das heißt ein Werk der produktiven Imagination. Beobachtung und »Gedankenspiel« sind nicht voneinander zu trennen, setze aber voraus, sich »mannigfach im Denken […] geübt [zu] haben« und dazu in der Lage zu sein, »alle möglichen Bewegungen des Denkens hervorzubringen«. Das Zusammenspiel von Wissen und Imagination soll sich zur »schaffenden Betrachtung« ergänzen (119), der Denkende zum Künstler werden, der »die Natur tanzt« (120). Produktive Imagination überbrücke die Kluft zwischen Mensch und Natur, und zwar auf Grund der Korrespondenz alles Lebendigen und der »Selbstfremdmachung« des Betrachters, einem Loslassen der bisherigen Perspektive. Diese »Selbstfremdmachung« ist keine Auslieferung an ein besitzergreifendes Fremdes, sondern Eröffnung eines neuen Raums zwischen mehr oder weniger fest umrissenen Positionen. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit zur Öffnung: »Unser Geist ist ein Verbindungsglied des völlig Ungleichen.« (III 463:1048) 87
Wie weit gespannt der Bedeutungshorizont von Fremdheit für Novalis ist, deutet sich an, wenn er sich quasi als Merkzettel »Die Religion des unbekannten Gottes in Athen« notiert (III 557:11).
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Was in den vorangegangenen Abschnitten an bildungsthematischen Aspekten in den Texten von Novalis herausgearbeitet wurde, findet sich auch in diesem Romanfragment wieder, aber nun fokussiert auf einen einzigen Gegenstandsbereich von grundlegender Wichtigkeit: auf das Verhältnis zur Natur, zur umgebenden Welt, zur materiellen Basis von Leben. Zweifellos ist der Roman auch eine Verarbeitung des naturkundlichen Studiums, das Novalis, zu diesem Zeitpunkt bereits examinierter Jurist und Verwaltungsbeamter, an der Bergakademie in Freiberg aufgenommen hatte und das ihn in die wissenschaftlich noch wenig erforschten Gebiete der Erdentstehung, in Datierungsfragen und geologischen Beschaffenheiten, ihre Physik und Chemie einführte. Die Unbekanntheit dessen, was buchstäblich der Boden unter den Füßen ist, macht Novalis auf eine Weise zum Thema, die diese Zusammenhänge vor vorschnellen Einordnungen bewahren sollen. Gegen Goethes »Wilhelm Meister« gewendet, dessen Titelheld sich nahezu vollständig auf die Klärung seiner persönlichen Relationen zu den Personen seiner unmittelbaren Umgebung konzentriert, geht es hier um etwas, das viel abstrakter und zugleich viel konkreter ist: um die verborgenen Beziehungen dessen, was Menschen rings umgibt, Beziehungen innerhalb dieser Sphäre, Beziehungen der Menschen dazu, Beziehungen der Menschen zu sich selbst als Grundlage ihres Gegenstandsbezugs. Bildung bekommt hier die Bedeutung, sich in einen Prozess hineingestellt zu sehen, der einerseits planmäßig auf Selbstveränderung zielt und sich andererseits dabei auf die Klärung des eigenen Verhältnisses zur Dingwelt konzentriert. Die Lehrlinge sehen sich in eine Situation gestellt, der mit der Anwendung bereits erworbener Verstehensroutinen nicht beizukommen ist. Es geht nicht um die Aneignung vorgegebenen Wissens, Wissen hat hier nur Entwurfcharakter, wie in den Reden der Reisenden deutlich wird, in der Vielstimmigkeit und Offenheit ihrer Positionen. Dem entsprechen die Aufgaben, die der Lehrer stellt: Ziel ist seine Aufmerksamkeit zu schulen, unterschiedliche Perspektiven zu entwickeln, das Neue und Fremde als ein solches Fremdes und Neues aufzufassen und auszuhalten. Der Lehrer eröffnet einen Raum für die Erfahrung, dass neue Wahrnehmungen im Zwischenraum von Eigenem und Fremdem entstehen. Es ist ein Sinn, der nicht überliefert, sondern selbst hervorgebracht wird. Dazu muss in Selbstfremdmachung, Selbstveränderung und Selbstbeobachtung eingewilligt werden, die im Zentrum der Bildungserfahrungen bei Novalis stehen.
Gegenstand dieses dritten Teils sind konzeptionelle Verschiebungen des Bildungsbegriffs, wie sie sich im Anschluss an dessen erste Formulierungen Ende des 18. Jahrhunderts vollzogen haben. Bildungskonzepte entstanden zu Beginn der Moderne als Antwort auf Prozesse der Enttraditionalisierung und eine Ausdifferenzierung der Rationalitätssphären, aber auch als Bedürfnis nach einer reflexiven Metaebene diesen Entwicklungen gegenüber.1 Dabei reagierten Bildungstheorien zunächst auf diese Veränderungen mit Ethiken individueller Selbstentfaltung und dem »Sichanderswerden« (Hegel) des Subjekts im Zeichen einer neu zu entwerfenden Vernunft. Dies wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch institutionelle Lernarrangements ergänzt, um den Anschluss an eben jene Ausdifferenzierungsprozesse des Wissens herzustellen, der durch Sozialisation oder Erziehung in der Familie nicht mehr zustande zu bringen war. Aber auch das Verständnis von Bildung außerhalb von Institutionen, nämlich als biographischer Prozess der Selbstveränderung, erweiterte sich, und im Rückblick lässt sich von einer langfristigen Entwicklung von einer Ethik der Selbstentfaltung hin zu Ethiken der Intersubjektivität und Reziprozität sprechen: Dem Verhältnis zum Anderen galt zwar von Anfang an die Aufmerksamkeit von Bildungstheorien, jedoch zunächst vor allem unter dem Aspekt seiner Aneignung. Nachgezeichnet wird eine theoriegeschichtliche Entwicklung, in deren Verlauf es zur anderen Stimme, zur Frage danach, was zwischen den Individuen durch die wechselseitige Ergänzung der Perspektiven entsteht. Zunächst implizit, dann immer artikulierter reflektieren Bildungstheorien ihre ethische Dimension: Als Ethik der Selbstsorge, als Entwurf gelingender intersubjektiver Verhältnisse oder als Rekonstruktion der Gründe für ihr Scheitern.2 Diese allmählichen Verlagerungen in der Auffassung von Bildung sind Thema der folgenden drei Kapitel.
1
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Vgl. Jürgen Habermas (1985), Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a.M., bes. Kap. I, S. 9-33. Dieser Reflexionsbedarf entstand insbesondere durch die Entscheidung, nicht auf außerhalb dieses neuen Selbstverständnisses liegende Begründungen, etwa durch Tradition oder Religion, zurückzugreifen. Dadurch muss die Moderne »ihre Normativität aus sich selber schöpfen.« (Ebd., S. 16) Folgt man Heinz-Elmar Tenorths Darstellung (2020), so ist der rekonstruktive bildungstheoretische Ansatz die einzig tragfähige Methode. Tenorth geht davon aus, dass sich sinnvoll nur über Funktionen und Resultate sprechen lässt, nicht aber über Leitvorstellungen und deren Wandel, da in ihnen das »erwünschte gute Leben […] als Bild der gesellschaftlich erwünschten Wirklichkeit« dominiere. (H.-E. Tenorth (2020), Die Rede von Bildung. Berlin, S. 255) Dabei stuft er den Charakter des Entwurfs zu »Utopien« und realitätsverleugnendem Wunschdenken herab (ebd., S. 27, 363 ff) und fasst dies als problematische »Normativierung und Moralisierung« von Bildung auf. Dies erscheint ihm insofern als vermeidbar, als für ihn Bildungsprozesse von einem »Mechanismus« geprägt sind, der »sich durch moralische Indifferenz auszeichnet«. (Ebd., S. 255/56) Die Legitimität orientierender Entwürfe und die Notwendigkeit des Austauschs über sie wird von ihm nicht gesehen.
8. Abbrüche, Neubestimmungen
8.1
Zum Funktionswandel von Bildung
Nach Art historischer Handbücher formuliert, könnte man rückblickend, aus der Distanz von 200 Jahren, sagen, dass zugleich mit dem Ende des Deutschen Idealismus auch der Bildungsbegriff, den er hervorgebracht hatte, zerfiel. Aber dieses summarische Fazit wäre zugleich richtig und falsch. Richtig an diesem Satz wäre, dass sich in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts ein Umbau der Bildungspraxis und das heißt der gesellschaftlichen und individuellen Erwartungen an Bildung vollzog, und im Rahmen dieses Umbaus verloren Intentionen ihren Stellenwert, die vorher zentral waren. Es war wie beim Umbau eines Hauses, wenn der Mittelpunkt der vormaligen ›Bel Etage‹ mit vorgelagertem repräsentativen Balkon zu einem Raum unter vielen in einer Reihe neugeschaffener Appartements wird. Er ist noch da, hat aber seine Funktion verloren. Richtig wäre insofern, dass sich zentrale Intentionen des klassischen Bildungsdenkens nicht ohne Einbußen aufrechterhalten ließen, obwohl sie nicht gegenstandslos geworden waren: Sie verloren nicht ihre Bedeutung, sondern ihren Stellenwert, weil anderes wichtiger wurde. Und falsch an diesem Satz wäre, dass etwas, das nach wie vor bedeutungsvoll ist, nicht einfach verschwindet, weil es in Konflikt mit anderen Interessen gerät. In diesem Falle sind dies die grundlegenden Postulate klassischen Bildungsdenkens: Das Recht auf die eigenständige Entfaltung individueller Fähigkeiten, die Bereitschaft, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung durch andere zu bedienen, die Arbeit, in langen Reflexionsbögen Eigenes und Fremdes zueinander in Beziehung zu setzen. Wir sind nicht von Natur, was wir sein sollen, so hatte Hegel dies als Schulleiter seinen Schülern gegenüber zusammengefasst1 . Konkretisiert werden soll das Ende des klassischen Bildungsdenkens zunächst an einem merkwürdigen Exempel, das an der humboldtschen Bildungsidee statuiert wurde, und zwar von ihm selbst und offenbar ohne dass er dies in seiner Tragweite bemerkt hätte. Denn der Untergang seiner Bildungsreformen wurde ihm nicht nur von reaktionären Kräften im preußischen Staat beschert (das auch), sondern von seinem eigenen sorgfältigen Nachdenken über die Modalitäten der praktischen Verwirklichung 1
Vgl. Hegel (1986), Texte zur Philosophischen Propädeutik, § 41, a.a.O., Bd. 4, S. 258.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
seiner Bildungsidee, was dazu führte, dass er zunehmend auch einem Leistungsgedanken Platz einzuräumen begann. Damit war ein Prinzip etabliert, das quer zur gesamten übrigen Bildungsprogrammatik stand und eine ungeahnte Eigendynamik entfalten sollte.2 Davon soll im ersten Teil dieses Kapitels die Rede sein und im zweiten, was sich aus dieser Situation ergab. Humboldts ursprüngliche Vorstellung von Bildung als einer privaten Praxis der Selbstentfaltung durch eine Vielfalt von Erfahrungen wies Schulen nur die Rolle zu, Grundkenntnisse und Kulturtechniken zu vermitteln, die als Voraussetzung für solche persönlichen Bildungsprozesse galten. Nun aber wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch bezogen auf das Lernen in der Schule immer häufiger von Bildung gesprochen, die Einrichtung eines übergreifenden Bildungswesens in staatlicher Verantwortung ins Auge gefasst, und ausgerechnet Humboldt, der dieser Ausweitung des Bildungsbegriffs von Anfang an skeptisch gegenübergestanden hatte3 , fiel die Rolle zu, dafür das Programm zu schreiben. Inzwischen hatte er sich offensichtlich mehr und mehr davon überzeugt, dass eine Zeit angebrochen sei, in der gesellschaftliche Veränderungen auch eine Veränderung des Wissens erforderten, und dass dies auf breiter Ebene wirksam werden müsse. Man lebe in einer Zeit, in der gesellschaftliche Reformen »auf höhere Freiheit der Kräfte« zielen müssten, dies aber erfordere »einen gleich hohen Grad der Bildung«, hatte er schon 1792 geschrieben und zog nun in seinen Schulplänen von 1809 daraus die Konsequenzen. So wurde ausgerechnet Humboldt, zurückgerufen aus seinem Leben als Privatgelehrter inmitten der Antikensammlungen Roms, vom Bildungstheoretiker zum Bildungsplaner. Er entwarf ein Bildungssystem, in dem nicht »dieses oder jenes gelernt, sondern in dem […] das Gedächtnis geübt, der Verstand geschärft, das Urteil berichtigt, das sittliche Gefühl verfeinert werde.«4 Davon überzeugt, dass die politischen Fragen, die auf eine Lösung drängten, auf dem politischen Feld allein nicht lösbar sind, zielten seine Konzeptionen eines neuen Bildungssystems auf eine weitreichende Veränderung der Mentalität in der Bevölkerung. Dieser Mentalitätswandel durch eine neue Betonung selbsttätigen Wissenserwerbs wurde von ihm nicht so sehr als Folge von gesellschaftlichen Entwicklungen gedacht, sondern sollte ihr Ursprung sein, so lautete die idealistische Prämisse.
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Vermutlich ging Humboldt davon aus, dass freie Entfaltung und Leistungsprinzip nebeneinanderstehen können und der neuen Institutionalisierung von Bildung sogar ein besonders solides Fundament verschaffen. Dies ist aber nur der Fall, wenn noch ein Drittes hinzukommt, das soziale und kulturelle Kapital der Herkunftsfamilie, das es erlaubt, mit solchen Widersprüchen umzugehen. De facto fusionierte diese Leistungsmessung mit der Behördenstruktur des absolutistischen Staates, die auf die Schule übertragen wurde. Dies bedeutet, dass das Schulsystem hierarchisch geordnet wurde und jede Hierarchieebene in einer Art Einbahnstraßensystem Vorgaben der jeweils höheren nach unten weitergibt, nicht aber (oder kaum) die Interessen und Erfordernisse der jeweils niederen an die höhere. Die Folge davon ist die Vernachlässigung der individuellen Bezugsnormorientierung bei der Leistungsmessung: Sie erfolgt quasi ohne Ansehen der Person. Vgl. W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, a.a.O., Bd. I, S. 73, 105. W. v. Humboldt, Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König, Dezember 1809, a.a.O., Bd. IV, S. 210-238, hier S. 217.
8. Abbrüche, Neubestimmungen
Aus seinen allgemeinen kulturtheoretisch-philosophischen Erwägungen der vorausgegangenen Jahre übernahm Humboldt für seine schultheoretischen Zielsetzungen vor allem den Begriff der menschlichen Kräfte, aber in seinen Bildungsplänen verlor der Begriff seine unspezifische Färbung. War zuvor sehr allgemein von einer Anregung aller Kräfte des Menschen zwecks Aneignung der »Welt« die Rede gewesen, so wurden sie nun verengt auf »die Übung der Fähigkeiten und die Erwerbung der Kenntnisse, ohne welche wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich ist«5 . Im Mittelpunkt stand nun die Entwicklung von »klaren und bestimmten Begriffen«6 und ein einheitlicher Wissensaufbau durch eine klare Fächerstruktur. Verstehen sollte an die Stelle des Auswendiglernens treten, Verfügung über Begriffe sollte die präzise Formulierung eigener Vorstellungen ermöglichen. Dazu sei vor allem das Erlernen von Methoden des Wissenserwerbs wichtig, also »Sammeln, Vergleichen, Ordnen, Prüfen u.s.f.«7 , ferner eine zunehmende Eigenständigkeit des Vorgehens, so Humboldt. Dazu sei ein veränderter Unterricht nötig; er müsse so organisiert werden, dass eine zunehmende Unabhängigkeit des Schülers möglich werde: »Der Schulunterricht macht ihn nach und nach vom Lehrer frei.«8 Voraussetzung dafür sei neben dem »Lernen selbst« das »Lernen des Lernens«, und Reife heiße, dass jemand »so viel bei anderen gelernt hat, dass er nun für sich selbst zu lernen im Stande ist.«9 Eigenständiger Wissenserwerb sollte im Mittelpunkt stehen und nicht mehr Unterweisung. Wie weitreichend diese Schwerpunktverlagerung war, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Freiherr v. Zedlitz, einer von Humboldts Vorgängern, noch Ende der 1770er Jahre die Aufgabe der Lehrer dahingehend definiert hatte, dass sie »ihre Mitbürger von dem ganzen Umfang ihrer Pflichten belehren sollten«10 , d.h. über ihr Verhalten als Untertanen. Anderes Wissen hatte nur sekundäre Bedeutung und schon gar nicht die Methoden seines eigenständigen Erwerbs. Der »Mensch selbst«, an den sich Humboldts Bildungskonzept richtet, ist der Mensch ohne Ansehen seiner sozialen Herkunft, und Humboldt verwendete einen großen Teil seiner konzeptionellen Überlegungen darauf, wie in dem neu einzurichtenden Schulsystem eine für alle gleiche Bildung vermittelt werden könne. Vor allem die Vermeidung eines mehrgliedrigen Schulsystems sollte dies erreichen; eine in aufeinander aufbauende Stufen gegliederte Einheitsschule sollte gewährleisten, dass alle denselben Zugang zu Unterricht erhalten. Dabei sollte es keine Abstufung des Anspruchsniveaus geben, aber individuelle Schwerpunktsetzungen und auch eine unterschiedlich lange Schulzeit möglich sein. Zentral dafür, dass Lernen in der Schule tatsächlich zu einem Bildungsprozess führt, war für Humboldt die Abwehr der Forderung, die Schule solle für künftige Berufe ausbilden, denn dies würde unterschiedliche Einschränkungen
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W. v. Humboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan, a.a.O., Bd. IV, S. 168-195, hier S. 169. W. v. Humboldt, Bericht vom Dezember 1809, a.a.O., S. 212. W. v. Humboldt, Königsberger und Litauischer Schulplan, a.a.O., S. 170. Ebd., S. 191. Ebd., S. 170. Carl A. v. Zedlitz, zit. Ludwig v. Friedeburg (1992), Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt a.M., S. 140.
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des Wissenserwerbs je nach Sparte bedeuten, vor allem aber die ungeprüfte Übernahme tradierten berufsspezifischen Wissens; »Abrichtung« wäre dies, und nicht Verständnis11 . Die frühe Festlegung sollte auch dadurch vermieden werden, dass Kenntnisse von Geschichte, Mathematik und alten Sprachen als gleichrangig behandelt wurden12 ; wobei Humboldt die Bedeutung von Altsprachlichkeit nicht etwa mit der weiterhin bestehenden Relevanz der Antike begründete, sondern damit, dass es durch die Fremdheit des weit Zurückliegenden möglich werde, sich in die Funktionsweisen von Sprache überhaupt hineinzudenken.13 Humboldts Vorstellung eines anspruchsvollen Bildungsprogramms für alle nahm zwar Gedanken der Aufklärung auf, aber die Forderung nach Bildung als Menschenrecht stand bei ihm weniger im Vordergrund als der Gedanke, durch Bildungsreformen eine gesellschaftliche Erneuerung bewirken zu können. Auf sie setzte er seine Hoffnung, da im Nachbarland Frankreich »eine wirkliche Umkehrung aller Verhältnisse stattgefunden« habe und man sich klarmachen müsse, dass dieser gewaltsame Umsturz durchaus »etwas absolut- und moralisch Notwendiges« gewesen sei, wenn auch mit problematischen Konsequenzen14 . Deshalb erhoffte er sich für Preußen, dass Veränderung eher die Gestalt eines Mentalitätswandels in den Köpfen annehmen werde und dazu sich der Staat zu weitreichenden Reformen bereitfinden werde. Die Gleichheit aller, so Humboldts Plan, sollte durch Beförderung derjenigen Kräfte in jedem Individuum erreicht werden, »die allen Ständen gleich notwendig« sind15 . Jedem solle ein allgemeines Weltwissen zugänglich sein, und obwohl die Schule es »mit fertigen und abgemachten Kenntnissen« zu tun habe, solle Eigenständigkeit im Umgang mit diesem Wissen und damit Entdeckung der eignen, individuellen Interessen möglich werden. Dazu aber sei die »Reinheit« der Unterrichtsinhalte von allen beschränkenden »realistischen« Ausbildungsinhalten nötig und Schule ein Freiraum zuzusichern, um »vollständige Menschenbildung« zu ermöglichen. Bekanntlich wurde Humboldts Konzept weder in seiner Fassung von 1809 noch in den Fortführungen durch Süvern, der diesen Ansatz vor Reduktionen zu bewahren suchte, jemals umgesetzt. Was daran zunächst überlebte, war lediglich der Schwerpunkt auf den alten Sprachen. Ironischer Weise und entgegen den Intentionen von Humboldt entwickelte gerade dieser Aspekt eine Eigendynamik. Denn nun »erhielten die alten Sprachen […] einen neuen Rang, der es ermöglichte, die Schul- mit der Allgemeinbildung zu identifizieren und, ganz gegen die Absicht der Reformer, den Trennungsstrich zwischen den Gebildeten und den Ungebildeten weit schärfer zu ziehen, als realistische Bildungsinhalte es je vermocht hätten.«16 Für kurze Zeit beherrschte eine neue Auffassung von Bildung die Diskurse: Sie sollte sich an breite Schichten der Bevölkerung richten, sie mit erweiterten Kenntnissen
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W. v. Humboldt, Königsberger und Litauischer Schulplan, a.a.O., S. 173. wobei »der Schüler, wie ihn seine Individualität treibt, sich des einen hauptsächlich, des anderen minder befleissige« (ebd., S. 174). Vgl. ebd., S. 176. W. v. Humboldt, Über den Geist der Menschheit, a.a.O., Bd. I, S. 506. W. v. Humboldt, Bericht vom Dezember 1809, a.a.O., Bd. IV, S. 217. L v. Friedeburg (1992), a.a.O., S. 66.
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und den Methoden eigenständigen Wissenserwerbs ausstatten und zwar als Antwort auf die militärische Niederlage 1806. »Die Mobilisierung des Volkes gegen die französische Besatzungsmacht war mit Aussicht auf Erfolg nur zu betreiben, wenn ermunternde und motivierende Versprechungen nach der Befreiung vom äußeren Zwang freiere Entfaltungs- und Beteiligungschancen auch im Innern des reformierten Staatswesens in Aussicht stellten.«17 Einerseits sollte die Ausbildung von Verwaltungsbeamten, Lehrerschaft und des Offizierskorps auf eine veränderte Grundlage gestellt werden, andererseits die Auswahl für gehobene Laufbahnen nicht mehr an das Adelsprivileg gebunden werden. Eine funktionsfähige Verwaltung war in vielen Bereichen überhaupt erst aufzubauen und dafür fehlte bislang ein qualifiziertes Personal. Dazu hatte er im »Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König« vom Dezember 1809 empfohlen, »dass niemand von einer niedrigeren Schule zu einer höheren und in dieser von einer Klasse zur anderen übergehe, ehe seine Fähigkeit zu diesem Übergange gehörig geprüft ist«18 . Dieser Empfehlung folgten bald weitere Bestimmungen zur Einrichtung von Examina, die immer weitere Bereiche erfassten: Die Einrichtung von Eignungsprüfungen für die Universität bzw. Abschlussprüfungen beim Verlassen einer Schule führten zur Einsicht, dass diese Prüfungen nur Aussagekraft hatten, wenn ihnen ein vergleichbarer Unterricht vorausging und dass dafür ihrerseits examinierte Lehrer nötig waren. Allmählich »zeichnete sich der systematische Zusammenhang einer den Hochschulzugang regelnden Abschlussprüfung des Gymnasiums mit dessen Lehrplänen und Lehrerausbildung ab ebenso wie die Erfordernisse staatlicher Prüfungs- und Schulaufsicht bis in die Provinzen und Städte.«19 Diese Schulaufsicht wurde sogar im »Allgemeinen Landrecht« verankert. Die Bedeutung des Individuellen und seiner Entfaltung hatte Humboldt philosophisch begründet, mit Ideen, die bis Leibniz und Platon zurückreichten, aber übertragen auf die Logik institutionalisierter Bildung transformierte sich dies in die Notwendigkeit, die individuelle Leistung in den Mittelpunkt zu stellen. Erst die Erhebung des Leistungsstands von jedem Einzelnen konnte in die Lage versetzen, ihm aufgrund seiner individuellen Kenntnisse und Fertigkeiten Zugang zu gehobenen Positionen zu gewähren und nicht wie bisher aufgrund seiner sozialen Herkunft. »Deshalb hat man später etwas despektierlich von einem ›Prüfungsfanatismus‹ Humboldts gesprochen und dabei allerdings übersehen, dass mit den Examina Gleichrangigkeit durch Leistung erreicht werden soll«20 . Zugleich mit der Orientierung an der individuellen Leistung wurde so auch das Kriterium des Erfolgs bedeutsam. Sich auf seinen Erfolg in
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Hans-Georg Herrlitz/Wulf Hopf/HartmutTitze (1993), Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Weinheim, S. 30. W. v. Humboldt, Königsberger und Litauischer Schulplan, a.a.O., Bd. IV, S. 220. L. v. Friedeburg, a.a.O., S. 143. A.a.O., S. 181. Humboldt führte sowohl das Abitur als auch Staatsexamensprüfungen für Lehramtskandidaten ein. »Im ›Edikt über die Lehramtsprüfung‹ (1810) wird das alte Ideal der ›Gelehrsamkeit vom neuen Ideal der Bildung‹ abgelöst. Es verlangt, im Geiste der Reflexion auf das Ganze der Welt und des Lebens, vom Kandidaten Kenntnisse in den philologischen, historischen und mathematischen Fächern […] Das Staatsexamen, ein Modell-Lehrplan und eine erste Abitursregelung (1812) […] normieren die erhöhten Anforderungen« (a.a.O., S. 179/80).
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Leistungssituationen zu konzentrieren setzt sich an die Stelle von inhaltlichen Orientierungen. Wahrscheinlich stand für Humboldt die Entwicklung individueller Fähigkeiten so sehr im Vordergrund, dass er nicht bemerkte, vielleicht auch noch gar nicht bemerken konnte, dass Leistungserfassung das Potential hatte, seine Bildungsidee außer Kraft zu setzen und die Idee schulischer Bildung überhaupt zu verändern. Denn Leistungsbewertung braucht objektiv überprüfbare Kriterien für Erfolg, die sich nicht an individuellen Interessen orientieren, sondern an verallgemeinerbaren Bewertungsnormen. Dies ist der Ausgangspunkt für einen Prozess des zunehmenden Sichtbarwerdens und Vergleichens des Erfolgs der Schüler – untereinander, durch die Lehrpersonen und durch alle anderen Beteiligten. Eine neue Qualität war entstanden, denn mit der Einführung eines Prüfungssystems »unterstehen Tun und Lassen, Fähigkeiten und Fehler eines jeden der öffentlichen Kontrolle, kontrolliert sich gewissermaßen die Gesellschaft fortwährend selbst«21 , und dies rückte immer mehr zur zentralen Funktion schulischer Bildung auf. Was von Humboldt noch als Komplement zur Individualisierung gedacht worden war, verselbständigte sich in der Folge zunehmend – und zwar aufgrund der Funktionslogik der Institution. Die Institutionalisierung von Bildung war ein Schritt, der aus der Erkenntnis folgte, dass die eigenen Fähigkeiten nicht nur die Angelegenheit eines privaten Interesses an Selbstentfaltung bleiben dürfen, sondern eine gesellschaftliche Funktion haben. Bildung änderte damit auf die Weise ihren Sinn, dass die »vollkommene Menschenbildung«, von der Humboldt sprach, nun auch in der transitiven Bedeutung der Formulierung verstanden werden musste: Der Staat bildet seine Bürger heran, er hat ein Interesse an der »Übung der Kräfte«22 seiner Subjekte, an deren Nutzung und Lenkung. Damit entstand zunehmend das Interesse am Aufbau eines Geflechts institutionalisierter Bildungswege, an Standards für berufliche Anschlüsse und Laufbahnen und damit an Normierungen und übergreifenden Bestimmungen, deren Ineinandergreifen durch Prüfungen gesteuert wird. Das von Humboldt Intendierte, die Erkundung und Entfaltung der eigenen Kräfte im Rahmen einer reichhaltigen kulturellen Erfahrungswelt, entfaltete überall da eine so nicht vorhergesehene Dynamik, wo dies mit den institutionellen Erfordernissen geregelter Ausbildungswege zusammentraf. Geregelt mussten sie sein, da Bildung nun die Bedeutung einer Entscheidung über Lebenschancen zugewiesen bekam und dies an die Dokumentation von Leistungen gebunden werden sollte. Institutionell eingebunden mussten sie sein, um gleiche Kriterien als Maßstab dieser Zuteilung von Chancen gewährleisten zu können. Gerade weil Humboldt seinem Gedanken individueller Entfaltung in Bildungsinstitutionen Realität verschaffen wollte, die institutionelle Logik aber das Setzen von Standards erfordert, um Bildungsgänge zertifizieren zu können, trat neben die Individualisierung das Leistungsprinzip. Humboldt stand ihm nicht kritisch gegenüber. In Gang gesetzt wurde diese Dynamik von der Orientierung an Prinzipien der Gleichbehandlung und Gerechtigkeit, aber dies löste, wie bereits dargestellt, eine Abfolge von Standardisierungsmaßnahmen aus, die immer größere Bereiche erfasste. Relativ rasch wurde deutlich: Wenn die für den Hochschulzugang nachzuweisen21 22
Herbert Schnädelbach (1983), Philosophie in Deutschland 1831-1933. Frankfurt a.M., S. 92. W. v. Humboldt, Königsberger und Litauischer Schulplan, a.a.O., Bd. IV, S. 172.
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den Qualifikationen vergleichbar sein sollten, musste auch der vorangegangene Unterricht dieses Kriterium erfüllen, dazu mussten aber die Lehrkräfte ihrerseits Qualitätskontrollen unterworfen werden, verbindliche Lehrpläne mussten geschrieben werden und das Personal für deren gleichförmige Umsetzung vorbereitet werden, flankiert von Staatsprüfungen, die die Einhaltung dieser Maßnahmen absicherten23 . Was für Humboldt noch nicht absehbar war, der sich ja durchaus als Befürworter von Prüfungen zeigte, war der lernpsychologische Effekt, dass am Ende stehende Examina die Ausrichtung der gesamten vorangegangenen Bemühungen daran zur Folge habe wird und Erfolgsmotivation die inhaltlichen Motivationen überlagern werden. Die objektivierbaren Kriterien für Erfolg haben nicht lediglich die Bedeutung äußerlicher Regelungen, die nur hinzukommen und in deren Grenzen sich individuelle Begabungen frei entfalten können. Die Probleme, die sich aus Humboldts Neukonzeption der Universität ergaben, waren anderer Art. Auch hier sollte »allgemeine Menschenbildung« das Selbstverständnis der neuen Universität leiten.24 Das Studium sollte einer Weiterentwicklung von »Charakter und Handeln« und nicht einer bloßen Vermehrung des Wissens dienen25 . Die Entwicklung von »Freiheit und Selbsttätigkeit« müsse im Mittelpunkt stehen26 . Universitäten waren für Humboldt in erster Linie Institutionen, in denen »alles, was unmittelbar für die moralische Kultur einer Nation geschieht, zusammenkommt«27 ; insofern sah er ihre Bestimmung nicht in erster Linie in wissenschaftlichem Fortschritt, sondern in einem mentalen Wandel. Wie die Schulen sollten sie der »geistigen und sittlichen Bildung« dienen, für die die Wissenschaft lediglich den »Stoff« liefere.28 Dazu müsse die Universität vor allem die Studenten in Prozesse der Forschung einführen, die nun an die Stelle von Lehrbuchwissen treten sollten: Nicht überlieferte Wahrheiten sollten ex cathedra verkündet, sondern zu eigenständiger Forschung angeleitet werden; »nur das Forschen selbst hat sie [die Universität, RB] als das Lehrbare zu begreifen, nicht ›die‹ Wahrheit; darin besteht die Einheit von Forschung und Lehre.«29 Jeder sollte selbst und
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Vielleicht lässt sich die pädagogische Reformbewegung um 1900 in all ihrer Heterogenität als Versuch verstehen, diese Dynamik außer Kraft zu setzen und ihr eine andere Logik entgegenzustellen – die einer strikten Orientierung an Individualisierung durch Selbsttätigkeit. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Universitäten in Deutschland in einem solchen Niedergang, dass man überlegte, sie ganz abzuschaffen. Als Humboldt den Auftrag zu einem Planungskonzept für eine neu einzurichtende Universität in Berlin bekam, war die Zahl der Immatrikulierten in Deutschland immer weiter gesunken, »bis sie während der napoleonischen Besatzung einen Tiefstand erreichte, der jenem während des Dreißigjährigen Krieges glich.« (v. Friedeburg, a.a.O., S. 140) W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, a.a.O., Bd. IV, S. 255-266, hier S. 258. Ebd., S. 261. Ebd., S. 255. Ebd. Forschung fand im 18. Jahrhundert oft nicht an Universitäten statt, sondern wurde privat von gelehrten Einzelpersonen betrieben. »Die Universität als instrumentum dominationis, als Beamtenmanufaktur, als Rekrutierungsfabrik – das war in den Augen der Zeitgenossen […] der einzig vernünftige Sinn, den man mit dieser verstaubten Einrichtung noch verbinden konnte.« (H. Schnädelbach, a.a.O., S. 37) H. Schnädelbach a.a.O., S. 41.
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alle zusammen zu Produzenten von Wahrheit werden. Aufgabe der Studenten sei es, so Humboldt, die Objektivität der wissenschaftlichen Forschung zu der eigenen »subjektiven Bildung« in Beziehung zu setzen, und dafür seien »Einsamkeit und Freiheit«30 , aber auch die »enge Gemeinschaft mit Gleichgestimmten und Gleichaltrigen« und ihr »Zusammenwirken« die Voraussetzung31 . Der regulierende und kontrollierende Staat könne hier nur »hinderlich« sein, »sobald er sich hineinmischt«32 . Wenn gemeinsame Forschung an die Stelle der Weitergabe von Lehrsätzen treten soll und Wissenschaft stets »etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes« bleibt33 , verändert dies das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden, die sich nun sozusagen Seite an Seite bemühen. Nicht Sammeln und Klassifizieren, sondern das theoretische Erfassen eines Problems steht im Mittelpunkt, und dies sei nur »aus der Tiefe des Geistes heraus« zu leisten34 . Die objektivierende Arbeit des Forschens sei in Beziehung zu setzen zur eigenen Reflexion der ethischen Konsequenzen.35 Werde die Notwendigkeit dieser Vermittlungsleistung missachtet, so sei »alles unwiederbringlich und auf ewig verloren«, selbst die Sprache werde dann »eine leere Hülse«36 . Grund für diese entschiedene Warnung war offensichtlich nicht die Rücksicht auf wissenschaftliche Standards, sondern Humboldts Prämisse, Wissenschaft habe die Aufgabe, »die moralische Kultur der Nation« zu fördern37 : »Denn nur die Wissenschaft, die aus dem Inneren stammt und ins Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um«, dies aber sei das eigentliche Ziel38 . Deshalb müsse auch der Staat ein gesteigertes Interesse an Universitäten haben, die auf einem solchen Selbstverständnis gründen. Weitgehend ist die Geschichte von Humboldts Reformprogrammen eine Geschichte des Scheiterns, aber die Gründe für das Scheitern sind im Falle der Schulpläne andere als für die wenig erfolgreichen Universitätskonzepte. Humboldt reichte nach sechzehn Monaten Tätigkeit sein Entlassungsgesuch ein, als ihm und allen anderen Staatsekretären das Stimmrecht entzogen wurde. Für ihn bedeutete das die Herabstufung seiner Programme zu bloßen Vorschlägen. Seine Reformpläne für die Schule konnten in der Mehrzahl auch von seinen Nachfolgern nicht durchgesetzt werden; sie scheiterten daran, dass sie gegen herrschende Machtinteressen, vor allem des Landadels, verstießen, der die Alphabetisierung der Landbevölkerung scheute: zum einen die Kosten, zum anderen die sozialen Verwerfungen, die eine Grundbildung für alle nach sich ziehen wür-
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W. v. Humboldt, Über die innere und äußere Organisation, a.a.O., Bd. IV, S. 255. W. v. Humboldt, Königsberger und Litauischer Schulplan, a.a.O., S. 191, Über die innere und äußere Organisation, a.a.O., S. 256. Ebd. Ebd., S. 257. Ebd., S. 257/58. Die Arbeit des Forschers bestehe darin, unterschiedliche Erscheinungen »aus einem ursprünglichen Prinzip abzuleiten«, d.h. den wissenschaftlichen Fortschritt auf die Erkenntnis letzter Ursachen zu gründen, weiterhin »alles einem Ideal zuzubilden«, d.h. ethische Folgerungen aus dieser Erkenntnis zu ziehen und schließlich beides, Prinzip und Ideal miteinander »in eine Idee zu verknüpfen«, d.h. Erkenntnis und ethische Dimension zusammen zu denken. (Ebd., S. 258) Ebd. Ebd., S. 255. Ebd., S. 258.
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de. Denn Humboldts Reformen wurde vorgeworfen, dass sie durch gleiche Bildungsangebote für alle Stände der »natürlichen Ungleichheit der Menschen« nicht genügend Rechnung trügen39 . Tatsächlich wurden sie wohl eher wegen der Folgekosten dieser Reformen abgelehnt: Der Mentalitätswandel, den Humboldt einzuleiten versuchte, basierte auf der Stärkung des einzelnen Bewusstseins gegenüber der Tradierung einer bisher gültigen, festgefügten Ordnung der Vernunftprinzipien und Glaubensinhalte. Bildung wurde bei ihm zur Stärkung des individuellen Ich, nicht eines allgemeinen Subjekts, sondern des konkreten Individuums. Er ging davon aus, dass dies auch im Interesse des Staates liegen müsse, aber die ostpreußischen Junker sahen dies anders: Eine gebildete oder auch nur alphabetisierte Landarbeiterschaft hatte für sie nichts Verlockendes.40 Und so wurde in der Folge das Schulsystem so organisiert, als sei seine vorrangige Aufgabe die Eindämmung individueller Lernmotivationen. Das Schicksal der Universitätsreformen wich insofern von diesem Muster grundsätzlicher Ablehnung aus Standesinteressen ab, als Humboldts Verständnis von Wissenschaft auch innerhalb der Universität zunehmend auf Ablehnung stieß. Sowohl seine Erklärung der Philosophie zur Leitdisziplin, die den anderen Wissenschaften die Kategorien und Verfahren zur Verfügung zu stellen habe, als auch seine Vorstellung, jede Form von Studium den Kriterien allgemeiner Bildung zu unterstellen, fand kaum noch Resonanz. Zwar erwies sich Humboldts Betonung von Forschungsleistungen als richtungsweisend, seine Konsequenz daraus, der Einbezug der Studierenden in die Forschung und die Verabschiedung von Lehrbuchwissen, wurde jedoch allenfalls halbherzig bis gar nicht umgesetzt (bis heute mit Unterschieden von Universität zu Universität, Fakultät zu Fakultät und Lehrveranstaltung zu Lehrveranstaltung). Diese Gemengelage aus Einwänden völlig verschiedenen Ursprungs war der Grund, dass Humboldts Bildungsidee vor allem für die bildungspolitische »Festtagssemantik« (Bollenbeck) aufgespart wurde. Tatsächlich entstand im Verlaufe des 19. Jahrhunderts eine völlig veränderte Auffassung von Wissenschaft, in der Vorstellungen einer allgemeinen Bildung keinen Platz mehr hatten. Diese Funktionsveränderung der Wissenschaft stand in Zusammenhang mit der ersten industriellen Revolution und führte zu einer vehementen Zurückweisung aller Relikte des Idealismus und insbesondere der Dominanz der Philosophie. Das neue anwendungsbezogene Verständnis von Wissenschaft führte im Verlaufe des 19. Jahrhunderts die Deutschen »aus einer rückständigen und partikularistischen Agrargesellschaft in den stärksten Industriestaat des Kontinents«. Seine technologischen Auswirkungen begannen den Alltag von Grund auf zu verändern41 und diese ersten Industrialisierungsschübe verfestigten auch das Auseinandertreten von (Natur-)Wissenschaft und Philosophie. Aber die neuen postmetaphysischen Wissenschaftskonzepte ließen auch ein neues »Sinn- und Orientierungsvakuum« entstehen42 . Das jetzt sich entwickelnde
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So z.B. Ludolph von Beckedorf, ehemaliger Prinzenerzieher, im Kommentar zu Johann W. Süverns »Unterrichtsentwurf« von 1819, vgl. G. Bollenbeck (1996), Bildung und Kultur, a.a.O., S 192. Herrlitz/Hopf/Titze (1993), a.a.O., S. 31, 43. H. Schnädelbach, a.a.O., S. 89. Ebd., S. 45.
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Verständnis von Wissenschaft koppelte sich zunehmend nicht nur vom Alltagsbewusstsein der Bevölkerung, sondern auch von den Fragestellungen der gebildeten Eliten ab. Neu war die Erfahrung, dass Wissenschaft selbst da, wo sie eine schwer nachvollziehbare Grundlagenforschung betreibt, in ihren technologischen Resultaten äußerst folgenreich in das praktische Leben eines jeden eingreift. Zunehmend führte dies zur Entwertung philosophischer Vorstellungen einer sich in den Individuen verwirklichenden Idee der Menschheit (Humboldt) oder einer sich in der Geschichte verwirklichenden Vernunft (Hegel). Aber während der neue Realismus einerseits als Fortschritt begriffen wurde, wurde doch andererseits als Mangel begriffen, dass den Konzepten der Wissenschaft so etwas wie eine Sinn- und Handlungsorientierung nicht zu entnehmen war. Dies führte zu einer Aufspaltung von Wissenschaft und Alltagsbewusstsein, z.B. in dem Sinne, dass die Geschichtswissenschaft zwar jegliche »deutende, wertende oder systematisierende Stellungnahme« ablehnte, außerhalb der Wissenschaft aber ein ganz anderes Geschichtsverständnis tradiert wurde, das Geschichte als »werthafte, sinnvolle und normativ verbindliche Faktizität« präsentierte43 . Seinen Ausdruck fand diese Auseinanderentwicklung in einer zunehmenden Empfänglichkeit des Alltagsbewusstseins einerseits für Weltanschauungen und Leitbilder, die sich in großer Zahl und außerhalb der Paradigmen des geltenden Wissenschaftsverständnisses entwickelten. Andererseits wurde an die Sphäre der Kultur die Erwartung gerichtet, die entstandenen Sinn-Defizite auszufüllen. Kultur fiel die Aufgabe zu, den Eindruck der Kontinuität zu vermitteln und nationale Identität durch Rückgriff auf die Vergangenheit zu stabilisieren; weder konnte noch wollte man in der Mehrzahl der Fälle in der Kunst mit der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit, ihren Klassen- und Interessengegensätzen konfrontiert werden44 . In bewusstem, von einem popularisierten Historismus unterstützen Rückgang auf tradierte Vorstellungsmuster versuchte man die neue gesellschaftliche Realität abzuwehren. Diese Überforderung fand in vielen Texten der Zeit als unerfülltes Bedürfnis nach Führung, Leitung, Orientierung durch approbierte Autoritäten Ausdruck. Die Wissenschaften hatten darauf keine Antwort; und so suchte man stattdessen in der Vergegenwärtigung des heroischen Lebens großer historischer Persönlichkeiten nach Halt.45 Zuvor hatte das weitgehend von allen Machtpositionen ausgeschlossene Bürgertum seine Identität vor allem in seiner Bildung gesucht, nun fand es eine neue Identität und ein neues Selbstbewusstsein in der ökonomischen Sphäre. Unter diesem Vorzeichen kam es im 19. Jahrhundert zu einer Umdeutung von Bildung; sie wurde nun weitgehend als etwas verstanden, das den Zugang zu »Kulturgütern« eröffnete, und diese wurden ihrerseits zum »Bildungsbesitz«. Dieser Besitz ermöglichte es, sich von der »Masse« abzuheben. Kultur wurde dabei als eine Welt der Artefakte verstanden, denen vage der Glanz von etwas Aristokratischem, Erlesenem, Außeralltäglichem anhaftet, ein unpolitischer Freiraum ohne Konsequenzen für die eigene Lebensführung, aber ein schöner Hinweis auf den zunehmenden (oder zumindest prätendierten) eigenen Wohlstand. In
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Ebd., S. 67/68. Ein illustratives Beispiel dafür liefert Nietzsches Argumentation in seiner Frühschrift »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten«. Auch dies gehört zur Vorgeschichte des Faschismus.
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dieser Hinsicht beschränkte sich Bildung jetzt auf die rezeptive Teilhabe an der Hochkultur und auf die Darstellung des eigenen Sich-Auskennens im etablierten Kanon. Das im 18. Jahrhundert vorhandene Verständnis von Bildung als Praxis der eigenen Lebensführung und des Umgangs mit sich selbst spielte inzwischen kaum noch eine Rolle dabei. Nur durch diese Bindung von Bildungsvorstellungen an eine dem Alltag enthobene Kultursphäre konnte es zur Rede von Bildung und Kultur als »Besitz« kommen; sie setzte die Verdinglichung kultureller Produktivität zu einem Warenlager von »Kulturgütern« voraus.46 Sie galten nun »als Besitz, als sozialreputative Aktivposten, mit denen man sich schmückt«47 , aber dazu müssten sie staatstragend sein oder zumindest eine Sphäre außeralltäglicher Werte repräsentieren. Zwar wollte das Bildungsbürgertum nicht auf Vorstellungen wie die der Selbstentfaltung, Selbstbestimmung und Selbstvervollkommnung verzichten, aber solchen Ideen doch eher in den dafür reservierten Räumen der Kunst begegnen als im alltäglichen Lebensvollzug, am Arbeitsplatz oder in der Familie. Ermöglicht wurde dies durch »eine Trennung zwischen ›falscher‹ und ›wahrer‹ ›Bildung‹ und ›Kultur‹«48 und schließlich durch die Tendenz, »gesellschaftliche Probleme zu vergeistigen, indem [man] moralische Fragen und kulturelle Werte da anführt, wo ein Blick auf gesellschaftliche Interessen und politische Zusammenhänge angebracht wäre«49 . Es war dieser Realitätsverlust, der zusammen mit brachliegenden, vom Wissenschaftssystem nicht zu erfüllenden Sinnerwartungen zu den Ermöglichungsbedingungen des NS-Staats gehört. Die kulturelle Sphäre als Sammlung von Requisiten für die Abgrenzung nach »unten« führte zugleich zu dem erstaunlichen Phänomen, dass klassische, an der Antike orientierte Bildung eine neuerliche Wertschätzung erfuhr, und dies zu einer Zeit, die besonders stolz auf ihre neuartigen Industriezweige und naturwissenschaftliche Forschung war. Von dieser Seite kam es zu einem unerwarteten Wiederaufleben der humboldtschen Bildungsidee. Gerade beim gehobenen Bürgertum fand Humboldts Ablehnung jeglichen Berufsbezugs des Unterrichts Unterstützung, sogar um den Preis, den sogenannten Realien den Eingang in den Unterricht zu verwehren und somit – zumindest auf den ersten Blick – gegen die eigenen Interessen zu verstoßen. Für dieses neue Bürgertum, die Gewinner der Industrialisierung, galt, dass es »die in den vorangegangenen Jahrzehnten überall entstandenen und vom Staat geförderten Ansätze realistischer Bildung nicht nur nicht aufgriff und ausbaute, sondern ganz im Gegenteil ablehnte und abbrach« und dabei in Humboldts Kritik an Nützlichkeitserwägungen scheinbar einstimmte.50 Bei der Wahl des altsprachlichen Gymnasiums für die Bildung der eigenen Söhne ging es aber nicht in erster Linie um eine Entscheidung zugunsten der Selbstvervollkommnungsideale Humboldts und deren Innerlichkeit, sondern um den Aufstieg zu einer gesellschaftlichen Elite, den das altsprachliche Gymnasium eröffnete. Gegen die Nützlichkeitserwägungen »realistischer« Bildung verhieß es einen
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Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass die Naturwissenschaften weniger mit Bildung assoziiert werden als Kenntnisse in Literatur, Kunst und Philosophie. G. Bollenbeck, a.a.O., S. 27. Ebd. A.a.O., S. 27/28. L. v. Friedeburg, a.a.O., S. 148.
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Nutzen anderer Art, den der Abgrenzung, denn die so verstandene Bildung erlaubte einen scharfen Trennungsstrich zwischen dem oberen und unteren Segment der Gesellschaft und die Idee einer allgemeinen Bildung durch alte Sprachen eine Aufspaltung der Gesellschaft in »Gebildete« und »Ungebildete«51 . Zum Funktionswandel von Bildung gehörte mit anderen Worten ihre Reduktion auf ein seinerseits reduziertes Verständnis von Kultur. Dies war keine Kultur der Selbstverständigungs- und Selbsttransformationsprozesse, sondern der Distinktionsgewinne. Bildungstheoretische Denkansätze verloren im 19. Jahrhundert und auch später auf lange Zeit an Bedeutung, polemisch formuliert wurde Bildung weitgehend mit Klassikerrezeption gleichgesetzt. Der Einengung des Bildungsbegriffs entsprach eine Ausweitung pädagogischer Fragestellungen und in der Folge die Begründung einer Erziehungswissenschaft. Der Tod Hegels 1830 markiert einen Bruch: Theoriebildung stand nun unter dem Vorzeichen der zu Leitdisziplinen aufgestiegenen Geschichtswissenschaft, Psychologie und Biologie, später auch Soziologie, die einem erfahrungswissenschaftlichen Paradigma folgten. Demgegenüber erschienen die im 18. Jahrhundert entwickelten Konzeptionen nach dem Ende des Idealismus von geringer Relevanz. Humanistische Rahmungen verloren im 19. Jahrhundert in dem Maße an Interesse, wie dem geschichtlichen Rückgriff keine Neuorientierungen entsprachen; er legitimierte nur noch eine zum Bildungsprivileg erstarrte Bestandswahrung. Aber der Bedeutungsverlust, der die klassischen Bildungstheorien im 19. Jahrhundert ereilte, stieß ihnen nicht einfach nur durch eine Verschiebung gesellschaftlicher Interessen oder ein verändertes Verhältnis zum Wissen zu, sondern ereignete sich sozusagen auf ihrem eigenen Terrain, und es wäre wichtig, die damals sich vollziehende Entleerung des Bildungsbegriffs bis in ihre eigenen Prämissen zurückzuverfolgen. Vieles spricht dafür, dass sie auf einen in den fundierenden Theorien selbst angelegten Mangel reagierte, der sich im ungeklärten Status des »Menschen«, von dem in Bildungstheorien die Rede war, äußerte. Die Bildungstheorien des späten 18. Jahrhunderts stehen in einem engen Entsprechungsverhältnis zum gleichzeitigen Perspektivwechsel in der Philosophie, die das Subjekt in den Mittelpunkt stellt und es zum Ausgangspunkt von allem, was sich über die Welt sagen lässt, macht. Aber diese Wende hin zum Subjekt ist mehr als nur eine Ergänzung unter dem Vorzeichen empirischer Subjektivität, sie ist auch Korrektiv. Beide Male spannt sich die Denkbewegung zwischen den Polen des Wissens über die Welt und dem Bewusstsein des eigenen Selbst als Produzent dieses Wissens aus, doch werden die Schwerpunkte in den Reflexionsformen der Bildungstheorie und der Subjektphilosophie entgegengesetzt verteilt. Den subjektphilosophischen Erkenntnistheorien geht es um die Rekonstruktion dessen, was das Subjekt nicht von sich weiß: dass es selbst herstellt, was ihm als Objektivität entgegentritt, wobei zu viel Bewusstsein der
51
In Anspielung auf das berühmte Zitat aus Humboldts Königsberger Schulplan kommentiert v. Friedeburg: »Das Griechische mochte dem Tischler ebenso wenig unnütz sein wie dem Gelehrten, Tische zu machen, aber in der Schulwirklichkeit erschwerte es den späteren Handwerkern den Besuch höherer Schulen erheblich und führte keinen Gelehrten zur Tischlerkunst. Indem sich Humboldt um der allgemeinen Menschenbildung willen gegen die Realschule wandte, leistete er der Trennung von Hand- und Kopfarbeit erst recht Vorschub.« (A.a.O., S. 155/56)
8. Abbrüche, Neubestimmungen
eigenen Rolle den nach außen gerichteten Erkenntnisprozess nur stören würde. Kant betont, dass zwar »Ich denke […] alle meine Vorstellungen begleiten können« muss52 . Aber das Bewusstsein soll dabei stehen bleiben, nur die Erkenntnisbedingungen sollen gelten, die »in einem allgemeinen Selbstbewusstsein zusammenstehen können« und unbedingt soll vermieden werden, dass »ein so vielfärbiges verschiedenes Selbst […], als ich Vorstellungen habe«, die Regie übernimmt.53 Das Selbst soll ohne Eigenschaften sein. Diametral entgegengesetzt verteilen die Bildungstheorien die Gewichte: Hier wird die Gegenstandswelt zum Anlass und Stichwortgeber, sich über die individuellen Eigenschaften des eigenen Selbst Klarheit zu verschaffen. An die Stelle des »reinen«, allgemeinen Ich als Träger einer »reinen« Vernunft tritt ein wirklicher Mensch in einer wirklichen Welt54 . Er ist Individuum mit eigenen Erfahrungen, Wünschen und Zielen, und seine Aufgabe besteht darin, sich in dieser Individualität zu begreifen. Und doch gelingt der Schritt in die konkrete Subjektivität den Bildungstheorien nicht wirklich. Das von ihnen entworfene Ich gleicht eher dem Helden der Mythologien und teilt mit ihnen die Prämisse einer heroischen Einsamkeit: Es ist allein und wo bei Humboldt oder Hegel ein Anderer seinen Auftritt macht, da nur als Aufgabe, um an ihr zu wachsen. Sowohl philosophisch als auch bildungstheoretisch ist von einem Ich die Rede, das außerhalb konkreter gesellschaftlicher Bezüge steht und schon gar nicht sich mit Bindungserfahrungen auseinandersetzt, leidet, sich bedroht fühlt oder Täuschungen erliegt. Auch das Subjekt der Bildungstheorien bleibt bloßes Exemplar einer sehr allgemein gedachten »Menschheit« auf dem Weg zu »Einheit«, »Ganzheit« und »Vollkommenheit«55 und darin dem Subjekt der Philosophie nachgebildet. Aber es gibt einen sehr folgenreichen Unterschied: Während das reine Ich der Philosophie eine bloß logische Geltung hat und allgemein geltende Bedingungen des Denkens vor aller Empirie begreiflich machen soll, erhält das Ich der idealistischen Bildungstheorien den Auftrag, eben diese Reinheit und Allgemeinheit nun in einem tatsächlichen biographischen Bildungsprozess zu erreichen. Logische Konstruktionsnotwendigkeit schlägt um in Normativität: Das Ich der Bildungstheorien soll den Aufstieg zur Ganzheit und Vollkommenheit der reinen Vernunft verwirklichen, Bildung unendlicher Annäherungsprozess sein. Letztlich stehen bei Humboldt nicht die ihrer Individualität bewusst gewordenen Einzelnen im Mittelpunkt, auch bei ihm ist ein überindividuelles Allgemeines das Zentrum, zu dessen Vervollkommnung die Individuen dadurch beitragen, dass sich jede und jeder in ihrer »Eigentümlichkeit« ausbilden. »Denn nur gesellschaftlich kann die Menschheit 52 53 54
55
I. Kant (1975), Kritik der reinen Vernunft, Werke in zehn Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 3. Darmstadt, S. 136. Ebd., S. 136, 137. Möglicherweise markiert Kants Einführung des Selbstbezugs als Voraussetzung gegenstandsbezogener Erkenntnisleistungen des Ich eine Grenze, an der Kants Konstruktion des transzendentalen Ichs in Fiktionalität umkippt. Denn ein inhaltsleeres Selbst als Voraussetzung der Gegenstandserkenntnis scheint selbst im Rahmen der Kantischen Prämissen als nicht durchhaltbar: Es gibt kein leeres Selbst. Zumindest Humboldt bleibt bei diesen Bestimmungen stehen. Bei Hegel konkretisiert sich das Weltverhältnis dann wenigstens so weit, dass es die Attribute des Konflikts und der unaufgelösten Widersprüche aufnimmt.
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ihren höchsten Gipfel erreichen […] Das Ideal der Menschheit […] kann nie anders, als in der Totalität der Individuen erscheinen.«56 Der Weg zur Vollkommenheit – daran, dass sie letztes Ziel aller Bildung sei, hält Humboldt fest57 – muss von den Individuen aus eigenen Mitteln bestritten werden und insofern ist dieses Individuum tatsächlich Subjekt im vollen Doppelsinn des Begriffs: sich entwerfend und sich unterwerfend. Es entwirft sich als autonomer Gestalter des eigenen Selbstbilds und ist andererseits der Ausführende des Imperativs, sich durch neues Wissen und neue Fertigkeiten einem beständigen Transformationsprozess unterziehen zu müssen. Aber die Kategorie des Werdens ist so positiv besetzt, dass die Überforderung dadurch, die Lücke zwischen theoretischen Bestimmungen und realen Dispositionen, nicht deutlich wird. Welche Forderungen ergehen an das konkrete Ich der Bildungstheorien, wenn es so wenig die Schalen des allgemeinen Ich der Subjektphilosophie abgestreift hat? Worin kann unter dieser Voraussetzung sein Bildungsweg bestehen? Es hat die Aufgabe, das, was es eigentlich ist, nämlich »ein freies und selbstständiges Wesen«, Wirklichkeit werden zu lassen58 . Dass es dazu an der Entfaltung seiner individuellen Fähigkeiten arbeiten, sein Wissen erweitern, seine Einbildungskraft entfalten, seine Denkfähigkeit schärfen muss, verordnet ihnen Humboldt nicht als Aufgabe, denn er geht davon aus, dass dies einfach nur die Beschreibung dessen ist, worauf »der moderne Charakter« ohnehin angelegt ist59 . Es gebe kaum noch »das […] Bedürfnis, gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln«, da jeder für sich selbst eine »höhere Freiheit der Kräfte und größere Mannigfaltigkeit der Situationen« wünsche60 . Individualität erscheint wie ein starkes Bollwerk gegen normative Inanspruchnahmen von Bildung; dies aber entwickelt eine Logik, die ihrerseits normative Wirkungen entfaltet: Individualismus, wie ihn Humboldt versteht, bezieht seine Energien aus der Kultur und zeigt sich desinteressiert an gesellschaftlichen Fragen. »Die emanzipatorische und egalisierende Vorstellung einer sich bildenden Individualität führt nicht zu Vorstellungen über die politische Verfassung der sich bildenden Individualitäten. Das Bildungsideal […] geht davon aus, dass in jedem Menschen die Anlage zum idealen Menschen zu finden ist, doch überspringt es dabei sozusagen den Citoyen wie den Wirtschaftsbürger.«61 Humboldts Betonung individueller Einzigartigkeit und die Aufgabe, eigene Freiheitsspielräume auszuloten, sollte vor gesellschaftlichen Normalisierungsstrategien
56 57
58 59 60 61
W. v. Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, a.a.O., Bd. I, S. 337-375, hier S. 339/40. Hans Jonas macht auf den vormodernen Bezugsrahmen des Vollkommenheitsideals aufmerksam: »Solange es, im aristotelischen oder sogar kartesianischen Sinne, so etwas wie das definitive Muster einer gegebenen Gattung gab, konnte man von mehr oder weniger vollkommener Verwirklichungen des Wesens in der Konstitution und den Lebensläufen von Individuen sprechen. Man konnte mit Grund dafürhalten, dass ein Individuum in höherem oder minderem Grade ist, was es zu sein bestimmt ist, nämlich ein Repräsentant seiner Gattung.« (Hans Jonas (1977), Das Prinzip Leben. Frankfurt a.M., S. 90/91, Anm.) Humboldts nachdrückliche Betonung der Einzigartigkeit verkehrt sich so in das Ziel, auf möglichst vollkommene Weise ein übergeordnetes Ideal zu repräsentieren, und es gibt keinen Hinweis darauf, dass er diesen Widerspruch bemerkt. W. v. Humboldt, Anthropologie, a.a.O., Bd. I, S. 360. W. v. Humboldt, Über Goethes Herrmann und Dorothea, a.a.O., Bd. II, S. 125-356, hier S. 232. W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, a.a.O., Bd. I, S. 58. G. Bollenbeck, a.a.O., S. 17.
8. Abbrüche, Neubestimmungen
schützen. Das Subjekt seiner Bildungstheorie konnte es sich leisten, zu gesellschaftlichen Forderungen und den eigenen Selbsterhaltungsinteressen Distanz zu wahren. Dadurch war es in geringerem Maße Machtzentrum als das Subjekt der Erkenntnistheorien, das die Dinge nach dem Subjekt-Objekt-Schema seiner eigenen Logik unterwirft. Die Arbeit des Bildungssubjekts besteht in der Formung des eigenen Selbst: Selbsterforschung, Selbstbefragung, Selbstbezweiflung, Selbstbewusstsein in all seinen Varianten. Diese vor allem pietistische Erbschaft betonter Innerlichkeit macht es jedoch schwer, dem Ich der Bildungstheorien einen sozialen Ort zuzuweisen. Und auch historisch zeigte sich in der Folge, dass es schwierig war anzugeben, welche Praxisformen diesen theoretischen Bestimmungen entsprechen sollten. Es hat sich bereits gezeigt, welche paradoxen Probleme entstanden, sobald es um das praktische Ausbuchstabieren des Allgemeinheitspostulats ging: Im Handumdrehen wurden gleiche Leistungsstände der nun zu Schülern gewordenen Bildungssubjekte und ihr Erreichen oder Verfehlen bestimmendes Thema, dokumentiert durch Prüfungen. Deshalb mussten sich klassische Bildungstheorien auf das zurückziehen, was der Soziologe Hans Freyer 1931 rückblickend als Illusion des klassischen Bildungsbegriffs formulierte: Seine Hoffnung in den Aufbau einer »autonomen Welt des Geistes« zu setzen62 . So kommt es, dass sich kaum jemand unter den Postulaten des Neuhumanismus noch etwas Genaueres vorstellen kann. Hinweise zur Ausbildung gesellschaftlicher Identität sind ihnen nicht zu entnehmen, wenn man vom unmittelbaren Distinktionsgewinn durch den Besuch eines altsprachlichen Gymnasiums einmal absieht. Aber auch die Suchbewegung der frühen Texte der Bildungstheorie, ihr Problemgehalt, werden nicht aufgenommen, schon gar nicht weitergedacht oder vom Kopf auf die Füße gestellt. Die Entleerung des Bildungsbegriffs ist einerseits auf den zu allgemeinen Charakter der Postulate und ihre geringe Aussagekraft gegenüber den Ausbildungsnotwendigkeiten einer sich im Übergang befindlichen Gesellschaft zurückzuführen. Ihr Beharren auf dem Selbstzweck von Bildung wird von einigen als Korrektiv der neuen Verwertungsimperative geschätzt, den meisten aber sind sie unverständlich geworden. Dahinter verbirgt sich ein zweites Problem, das des Wegbrechens der theoretischen Fundierung. Der Bildungsbegriff bezieht sie aus den Subjektphilosophien des Idealismus und mit der Schwächung dieses Paradigmas verliert auch er an Glaubwürdigkeit. Die neu entstehenden Einzelwissenschaften kommen ohne Subjektorientierung aus. Erstaunlich ist, dass sich keine neuen Ansätze zur Formulierung eines den neuen Weltbildern entsprechenden und den bereits entwickelten Konzepten adäquaten Bildungsbegriffs während des 19. Jahrhunderts finden lassen; ein bestürzendes, nämlich allen neuen Ansprüchen sich verweigerndes Zeugnis legt hier Nietzsches »Zur Zukunft unserer Bildungsanstalten« ab. Ansätze zu einer Reformulierung des Bildungsbegriffs verstecken sich in Theorien der Intersubjektivität und Reziprozität, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehen, ebenso in den Programmen der Reformpädagogik um 1900, die aber nicht mehr als Bildungstheorien auftreten.
62
Hans Freyer (1931), Zur Bildungskrise der Gegenwart. In: Die Erziehung, 6. Jahrgang, S. 597-626, hier S. 603, 608.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
8.2
Begräbnis der humanistischen Bildungsidee: Hans Freyer, »Zur Bildungskrise der Gegenwart« (1931)
Anfang des 20. Jahrhunderts speist sich der Bildungsbegriff noch immer aus den tradierten Konzepten der deutschen Klassik, jedoch werden die Zugänge dazu als knappes Gut gehandhabt, das nicht jedem offenstehen darf. Dagegen richtet sich die Volksbildungsbewegung, orientiert sich aber inhaltlich dennoch weitgehend an diesen Traditionen und verweist insbesondere auf die dort formulierte Forderung allgemeiner Menschenbildung. Der Soziologe Hans Freyer hält 1931 auf den Hochschultagen von Davos einen Vortrag, den er »Zur Bildungskrise der Gegenwart« betitelt. Zunächst ist dieser Text eine erbitterte Abrechnung mit der Vorstellung, die Bildungsidee könne irgendeine Relevanz für die Bearbeitung der Probleme der Gegenwart beanspruchen. »Das Problem der Bildung ist nicht aktuell. Nicht aktuell in dem Sinne, dass sich zu bilden die eigentliche Sorge des gegenwärtigen Menschen wäre.«63 So beginnt er seinen Vortrag und es wird deutlich, dass Bildung in diesen ersten Sätzen für ihn ein überliefertes, in sich geschlossenes Konzept darstellt, das in seiner Abwendung von Fragen der Alltagswelt der Vergangenheit angehört. Mit den geschichtlichen Bedingungen, auf die der Bildungsbegriff reagierte, sei er untergegangen und keiner könne inzwischen mehr »Bildung irgendeine zentrale Funktion im Aufbau der geistigen Welt« zusprechen.64 Jedoch sei eine Ungleichzeitigkeit entstanden: Sinnformationen, die der Vergangenheit entstammen, wirken noch nach und die meisten sprechen auf sie »bewusst oder unbewusst« an – so sehr, dass sich die Frage stellt, »ob nicht ein Teil der modernen Bildungskrisis daher rührt, dass die Gegenwart noch von der großen Norm jener Idee überlagert ist«,65 wenn sie auch inzwischen zu einem bloßen »Kulturschmuck, den niemand ganz ernst nimmt«, herabgesunken sei.66 An die klassische Bildungsidee anzuknüpfen sei zur »Fiktion und Selbsttäuschung« geworden und wo jetzt Bildungsarbeit stattfinde, habe dies mit früheren Vorstellungen »nur noch den Namen gemeinsam.«67 Insbesondere habe die Idee, am eigenen Selbst anzusetzen, um auf diesem Wege mittelbar zu einer Gestaltung äußerer Verhältnisse zu gelangen, ihre Plausibilität verloren, eine Vorstellung »wie aus einer anderen Welt«.68 Jedoch möchte sich Freyer im Rahmen eines »Gedankenexperiments« Klarheit darüber verschaffen, ob es Aspekte gibt, denen doch noch »Gegenwartsbedeutung« zukommt oder ob »die Bildungsidee selbst ungültig geworden ist.«69 Drei ideengeschichtliche Vorstellungskomplexe arbeitet Freyer als Quellen des Bildungsgedankens heraus: den der organischen Entfaltungsprozesse eines individuellen Kerns, den der autonomen und harmonischen Gestaltung dieser Anlagen und schließlich den der »Realität einer autonomen Welt des Geistes«, die sich durch die Indivi-
63 64 65 66 67 68 69
H. Freyer (1931), a.a.O., S. 597 (vgl. Anm. 62). Ebd. Ebd., S. 600. Ebd., S. 611. Ebd., S. 598. Ebd., S. 599. Ebd., S. 600.
8. Abbrüche, Neubestimmungen
duen verwirklicht70 und auf der die Einheit von allgemeinem und individuellem Geist beruht. Soziologisch führt Freyer diese Vorstellungen auf das Selbstverständnis bürgerlicher Schichten in ihrem Ausschluss aus dem politischen Geschehen Ende des 18. Jahrhunderts zurück, wobei sie »einen Anteil an den staatlichen oder sozialen Machtmitteln auch nicht erstrebten«.71 Denn der spätfeudale Staat ist zu diesem Zeitpunkt noch so stark, »dass er sogar seine Reformen durch seine eigenen Kräfte besorgt«.72 Auf der Seite des Bürgertums gibt es keine einheitliche, sich gegen diesen Staat formierende Interessenlage: »der Individualismus, den das Bildungsprinzip zu seiner gedanklichen Grundlage hat, […] ist beinahe gesellschaftliche Realität.«73 Anstatt sich zur politischen Gegenkraft zu entwickeln habe das entstehende Bürgertum sich eher mit »einem neuen, unpolitischen, sogar ungesellschaftlichen, rein geistigen Prinzip« identifizieren können74 und dies zum »Glauben an eine eigengesetzliche Welt des Geistes« gesteigert.75 Dass seitdem »die geistige Grundlage, auf der die klassische Bildungsidee ruht, zerbrochen ist«, führt Freyer auf die inzwischen völlig andere Struktur der Gesellschaft und insbesondere die veränderte Rolle des Individuums zurück. In der industriellen Gesellschaft, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden ist, stehen sich eine Reihe unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen mit unterschiedlichen Interessen gegenüber: nicht Individuen, sondern Klassen. »Der Mensch gehört seiner Klasse existentiell an.«76 Dies erfordere, dass Bildung »ein sehr anderer Inhalt und […] eine sehr andere Stellung im Lebensganzen gegeben« werde.77 Unter der Hand hat Freyer damit seine Auffassung von Bildung verschoben: Hatte er sie zunächst mit der klassischen Bildungsidee identifiziert und für obsolet erklärt, so geht er nun doch von der Berechtigung von Bildungsprozessen aus, deren Charakter aber verändert werden müsse. Der »Ort der Bildung im Leben«78 müsse vor allem für »das Volk« geklärt werden, und zwar von seinen realen Lebensbedingungen her, »seiner Gruppe, seiner Schicht, seiner Klasse«.79 Dies sei auch die Intention der zeitgenössischen Volksbildungs-Bewegung, mit deren Bestrebungen sich Freyer im Folgenden ausführlich auseinandersetzt, weil er hier einen exemplarischen Denkfehler im Umgang mit Traditionen vermutet. Berechtigter Weise nehme sie im Gegensatz zu vorangegangenen Konzeptionen »die konkrete soziale Existenz des Menschen« zum Ausgangspunkt. Bildungsaufgabe sei es, den Menschen in dieser Existenz zu »bestätigen, befestigen, verwurzeln«80 , jedoch orientiere sie sich dabei an Zielen, die dem Ideenvorrat des Neuhumanismus
70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80
Ebd., S. 603. Ebd., S. 604. Ebd., S. 605. Ebd., S. 606. Ebd. Ebd., S. 607. Ebd., S. 612. Ebd., S. 613. Ebd., S. 614. Ebd. Ebd.
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entnommen sind: Es gehe um »Totalität, die sie dem Menschen verleihen will«81 und um die »lebendige Ganzheit des Menschen«.82 Indem sie so an Forderungen des traditionellen Bildungsbegriffs anknüpft, legt sie eine Voraussetzung zugrunde, die Freyer aufmerksam, aber skeptisch registriert: Bildung bekomme in dieser Bewegung die Aufgabe, über die realen, äußerst einschränkenden Lebensbedingungen hinauszuführen: Dass »die Arbeit vielfach entleert, die Sitte ausgehöhlt, die Tradition brüchig« ist, soll durch Bildung kompensiert werden und um dies zu erreichen wird an einen »immanenten Sinn« appelliert, den die Individuen in ihrem Leben zu finden aufgerufen sind.83 Aber wenn Humboldt Lebensumstände empfahl, die eine Vielfalt von Anregungen enthalten, so ist in diesem Fall eine solche Wahlmöglichkeit gar nicht gegeben. Nur unter der Voraussetzung einer solchen vergangenen Freiheit lasse sich an jene Bildungstradition anknüpfen, nur damit wäre die Basis »für eine ›Humanität‹, für eine menschliche Universalität« gegeben.84 Wer an Humboldts Bildungsvorstellungen anknüpfen wolle, benötige auch entsprechend privilegierte Lebensumstände. Noch eine zweite Voraussetzung für die Umsetzung dieser Bildungsidee sei nicht mehr gegeben: Humboldt sei noch davon ausgegangen, dass sich die Individualitäten in einer Gesellschaft auf produktive Weise ergänzen und so das Ganze von deren Ausbildung profitiere, dies aber gelte nur für geschlossene gesellschaftliche Formationen wie die Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts. Die Harmonie, die Humboldt als Ziel anvisiere, sei in Wirklichkeit Prämisse, und zwar die der eigenen privilegierten sozialen Stellung Humboldts, in der Konflikte keinen Platz haben. Dies stellt die Möglichkeit, auf Humboldts Ideen zurückzugreifen, in Frage; seine Formulierungen werden wiederholt, indem man versucht an ihn anzuknüpfen, ohne dass dem noch eine gesellschaftliche Realität entspricht. Jedoch will Freyer in dieser Phase seiner Argumentation die Bildungsidee nicht insgesamt aufgeben: Er fordert eine »eigene Bildungsethik«, die eine »Umstellung in eine charakteristisch andere Form« ermöglichen und so dem »Charakter der Gegenwart« gerecht werden solle.85 Dazu reiche es nicht aus, einfach nur das Material zu verändern, etwa eine »Gegenwartskunde« oder ähnliches zum Gegenstand zu machen, obwohl im Zentrum eine »realistische Wendung« zur Gegenwart die wichtigste Aufgabe sei.86 Freyer nimmt seine Gegenwart als Zeit des Übergangs wahr, als Auflösung der bisherigen Ordnung und bestimmt von unklaren Tendenzen, Kräften und Bewegungsgesetzen, »aus denen sich eine neue Ordnung gestalten kann.«87 Diese Tendenzen durch eine »nüchterne Analyse der Gegenwart« zu erfassen, sei die Aufgabe; sie bedeute für den Geist »eine neue Stellung zur Wirklichkeit«88 und zugleich »einen neuen Ort im Lebensganzen«.89 Die von ihm proklamierte neue »Bildungsethik« erfordere vor allem ei81 82 83 84 85 86 87 88 89
Ebd. Ebd., S. 615. Ebd. Ebd., S. 616. Ebd., S. 617. Ebd., S. 618. Ebd. Ebd. Ebd., S. 619.
8. Abbrüche, Neubestimmungen
ne Verwissenschaftlichung des Weltbezugs, Aufnahme von Forschungsresultaten, »empirische Erkenntnis dessen, was ist«.90 Das neue Bildungsideal sei das »des durch und durch gegenwärtigen, gegenwartsgerechten Menschen«91 und schließe »eine spontane Bejahung der Lebensformen, die die Gegenwart ausgebildet hat«, ein – gemeint ist das Leben in der Großstadt, die Rolle von Arbeitsteilung und Technik, »Sachlichkeit« und »Rationalität«.92 Es gehe nicht um Vielwisserei, sondern darum, »die realen Mächte und Faktoren dieses Zeitalters wirklich und ohne Illusionen« einschätzen zu lernen.93 Dennoch erscheint es Freyer als unzureichend, bei solchen neuen inhaltlichen Aufgabenzuweisungen an Bildung stehenzubleiben, »zu sagen: Gegenwart statt klassischer Antike, soziale Wirklichkeit statt Dichtung und Philosophie.«94 Das, was er unter einer veränderten »Bildungsethik« versteht, dürfe nicht haltmachen bei der Ersetzung alter Inhalte durch neue, sondern müsse sich in erster Linie auf »die Funktion, die die Bildung im Lebensganzen hat, […] die Form, die sie dem Leben gibt«, konzentrieren.95 Und hier sieht er die entscheidende Differenz zur klassischen Bestimmung des Bildungsbegriffs. Sie liegt in der veränderten Bewertung des Individuellen, das bei ihm zur bloßen »Privatangelegenheit« herabsinkt.96 Für Freyer ist das Individuum Tropfen in einem großen Strom, in der »Masse«. Es hat keinen Beobachterposten außerhalb, sondern ist Teil einer historischen Bewegung, Bildung aber soll ermöglichen, dass dies »mit Bewusstsein und mit Verantwortung« geschehe.97 In einer Folge von Negationen umreißt Freyer sein neues Verständnis von Bildung: Nicht mehr möglich solle es sein, um sich selbst zu kreisen, seinen »Schwerpunkt« aus dem Bewusstsein der eigenen Individualität und einer »eigene[n] Welt« abzuleiten, »zentrische Figur« sein zu wollen.98 An die Stelle einer in sich ruhenden »Gestalt« tritt für Freyer der »Wille« und seine »Entscheidungen«, die auf »einer bewussten geistigen Stellung« beruhen sollen.99 Die Entwicklung dieser »Stellung«, dieses »Standorts«, das Beziehen einer eigenen Position wird zum Ziel von Bildung. Dies setze »Übersicht« voraus, und so statisch Freyers Formulierung wirkt, hier gehe es um »ein Stehen in der Bewegung der Zeit«, so deutlich macht die von ihm verwendete Metapher des Scheinwerfers, dass er etwas Anderes meint: Der Scheinwerfer schwenkt gezielt auf die aufzuklärenden Sachverhalte, leuchtet sie aus, aber von einem definierten Standort aus. Die »freischwebende Intelligenz« sei historisch überholt100 und ebenso wenig gebe es noch eine »überwölbende geistige Welt«, der sich die Individuen zuordnen könnten. Allerdings bedeute dies, so Freyer, dass sich auf dieser Grundlage bestehende Interessenkämpfe eher verstärken werden: »gewiss, so ist es«, in diese Konsequenz müsse man einwilligen, und zwar 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100
Ebd. Ebd., S. 620. Ebd. Ebd., S. 621. Ebd. Ebd. Ebd., S. 622. Ebd., S. 623. Ebd. Ebd. Ebd., S. 624.
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»selbstverständlich und gern«101 , da es um soziale Entscheidungen geht, die gefällt werden müssen. Bildung habe weder die Macht noch den Auftrag, hier einen Mittelweg zu suchen; »der Zwang zur Entscheidung« sei »wirklich einzubauen in ein geistiges Gebiet, das bisher friedlich fern lag: in die Frage der Bildung.«102 Denn nun sei Bildung die »Gewinnung eines geschichtlichen Situationsbewusstseins […] auf der Grundlage eines bestimmten Standortes, also einer Entscheidung.«103 Dies ist das Fazit, aber dann möchte Freyer doch noch einen weiteren Aspekt nachtragen, der in dem Gesagten nicht aufgeht und auch weit darüber hinausweist: Auch einem Gegner gegenüber müsse die eigene Position in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen »dialogisierbar« sein. Und damit kommt ein weiteres Merkmal von Bildung ins Spiel, das bisher ausgespart geblieben ist: Nämlich »dass Bildung Verstehensmöglichkeit schafft«.104 Darauf geht Freyer jedoch nicht weiter ein.
8.3
Nach dem Endspiel: Adornos »Theorie der Halbbildung« (1959)
Zwischen dem Vortrag von Hans Freyer und dem Essay von Theodor W. Adorno, den er »Theorie der Halbbildung« überschreibt, liegen Faschismus, Deportation und Vernichtung der deutschen Juden, II. Weltkrieg und die Vorstellung der deutschen Bevölkerung, man könne bei einer »Stunde Null« neu beginnen. Für Adorno kommen die Erfahrungen der Emigration und der Rückkehr in das Deutschland der Nachkriegszeit hinzu. Implizit ist dies der Ausgangspunkt für Adornos knapp dreißigseitigen Text, explizit wir eher an amerikanische Erfahrungen angeknüpft. Sie führen für ihn zu der Diagnose, dass die mit Bildung verknüpften Vorstellungen nicht nur temporär an Bedeutung verloren haben, »sondern an sich, ihrem Wahrheitsgehalt nach.«105 Vor allem aber knüpft der Text an den Niedergang der Bildungsidee im 19. Jahrhundert an. Diese Erfahrung – die Verkürzung von Bildung auf sogenannten Kulturbesitz eines Bürgertums, das sich über seinen Erwerb von geistigen Werten definiert – schiebt sich zwischen die Bildungsidee des 18. Jahrhunderts und das, was in der Gesellschaft der Nachkriegszeit als Bildung auftritt. Adorno versteht seine Darstellung als Analyse der »objektiv zerfallenen Bildung«106 , der Gründe und der Erscheinungsweisen dieses unwiderruflichen Zerfalls. Für kurze Zeit hatte sie einmal als das Versprechen gegolten, eine »Menschheit ohne Status und Übervorteilung« könne Realität werden; jedes Individuum könne auf dieser Basis im anderen die Freiheit und Autonomie achten, die es selber in Bildungsprozessen errungen hatte. Solche Hoffnungen gab es im 18. Jahrhundert; historisch gesehen war Bildung aus ihren eng umschriebenen Funktionen als Gelehrtheit des Theologen und der Kultiviertheit des Höflings herausgetreten, auf die sie im Feudalismus festgelegt war. »Sie 101 102 103 104 105
Ebd. Ebd., S. 625. Ebd. Ebd. Th.W. Adorno (1972), Theorie der Halbbildung. Gesammelte Schriften, Bd. 8. Frankfurt a.M., S. 93121 (zuerst 1959), S. 109. 106 Ebd., S. 103.
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wurde reflektiert, ihrer selbst bewusst und auf den Menschen schlechthin übertragen. Ihre Verwirklichung sollte der einer bürgerlichen Gesellschaft von Freien und Gleichen entsprechen.«107 Sie gründete auf Selbstreflexivität, auf der Bereitschaft zur Reflexion eigener Emotionen und Triebimpulse. Damals galt die Überzeugung: »je heller die Einzelnen, desto erhellter das Ganze.«108 Nicht nur in diesem Essay, sondern in vielen anderen seiner Schriften entwickelt Adorno die Vorstellung, dass die Gründe für das Scheitern dieses Projekts bereits in seinen ersten Anfängen zu suchen sind und nicht erst nachträglich hinzugekommene Umstände es in Frage gestellt haben. Dies gilt für die ersten programmatischen Bildungsentwürfe genauso wie für das Scheitern der sie begründenden philosophischen Programme und das Scheitern der bürgerlichen Emanzipationsbewegungen insgesamt. Die Unfähigkeit, aus den philosophischen Entwürfen eine neue Praxis abzuleiten, habe nicht dazu geführt, theoretische Entwürfe zu überprüfen, zu verbessern und weiterzuentwickeln, sondern zu bloßen formelhaften Wiederholungen ohne Relevanz für die Gegenwart: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.«109 Im Zusammenhang mit dem Bildungsbegriff sieht Adorno den gleichen Prozess: Hier zeige sich mit besonderer Deutlichkeit der Webfehler, der den Theorien einer Befreiung der Gesellschaft durch den Geist zugrunde liege. Auch hier, wie in der Philosophie, lösten sich die Ziele von ihren gesellschaftlichen Bestimmungen ab und »verselbständigten sich gegenüber den Lebenszusammenhängen, in die sie zuvor eingebettet waren.«110 Bildung »sagte […] von den Zwecken, von ihrer realen Funktion sich los« (ebd.), und diese behauptete Autonomie, verstanden als ihre »Reinheit« gegenüber Verwertungsaspekten, schlug um in Verselbständigung: Bildung sollte nun »von sich aus den Menschen geben, was die Realität ihnen versagt.«111 Das Reich des Geistes sollte Zuflucht vor der vernunftlosen Wirklichkeit bieten. Für Adorno bleibt hundertfünfzig Jahre nach diesen Entwürfen nur das Fazit, dass die Ideen von einst ihre Relevanz verloren haben und mit ihnen Bildungskonzeptionen, die sich daraus ableiteten. Sie bieten weder Orientierung für Erkenntnis noch für Handeln. »Freiheit und Humanität etwa haben innerhalb des zum Zwangssystem zusammengeschlossenen Ganzen ihre Strahlkraft verloren, weil sich ihnen gar nicht mehr nachleben lässt; auch ihre ästhetische Verbindlichkeit dauert nicht: die geistigen Gebilde, die sie verkörpern, sind weithin als fadenscheinig, phrasenhaft, ideologisch durchschaut. Nicht bloß für die nicht mehr Gebildeten sind die Bildungsgüter zerbröckelt sondern an sich, ihrem Wahrheitsgehalt nach. Dieser ist nicht, wie der Idealismus es wollte, zeitlos invariant, sondern hat sein Leben in der geschichtlichgesellschaftlichen Dynamik wie die Menschen und kann vergehen.«112 Aber Adornos Argumentation zielt nicht auf die Kritik einer kurzen Phase der Selbstillusionierung ab, die nun zu einem Ende gekommen sei. Nicht: »Der unwi-
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Ebd., S. 97. Ebd. Th.W. Adorno (1966), Negative Dialektik, Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt a.M., S. 15. Th.W. Adorno, Halbbildung, S. 97. Ebd., S. 98. Ebd., S. 109.
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derrufliche Sturz der Geistesmetaphysik hat die Bildung unter sich begraben« ist das Fazit.113 Sondern er versucht im Gegenteil nachzuweisen, dass die Elemente dieser offenbar längst schon obsolet gewordenen Kultur, »als Verwesende« (94), sich erhalten und das Bewusstsein bis in die Gegenwart vergiften. Zum Ausdruck komme dies in der Haltung, die Adorno als »Halbbildung« bezeichnet. Der Begriff bezieht sich nicht auf eine nur halb zu Ende gebrachte Abarbeitung des Bildungskanons, sondern darauf, dass es zu keinem vertieften Verständnis kultureller Traditionen mehr komme. Niemand sei davon ausgenommen. Halbbildung zeige sich als Interesse an den »Bildungsgütern«, die die Kulturindustrie liefert, d.h. daran, auf einfache Weise statusdienliches, für das eigene Ansehen taugliches Wissen zu erwerben und dadurch über zusätzliche Distinktionsmerkmale zu verfügen, außerdem an einem gemeinsamen Vorrat an Zuschreibungen, Skandalisierungen und Personalisierungen zu partizipieren, sich mit Vorbildern identifizieren zu können und sich davon unterhalten oder ablenken zu lassen. All dies münde, so Adorno, in einer Haltung, die sich nicht wirklich auf die Gegenstände einlässt, sondern sie nur als Mittel oder als Reiz behandelt. Resultat sei eine »Attitüde […] des Verfügens, Mitredens, als Fachmann sich Gebärdens, Dazu-Gehörens«, des »Konformismus« und der Betrachtung von Bildung als »Mittel des Vorwärtskommens«114 . Die Ahnung, dass die Kulturindustrie nur eine »trügende Ersatzerfahrung« bereitstelle,115 mache dieses »Bescheidwissen« und »Besserwissen-Wollen« »gereizt und böse«;116 es schlage um in Ressentiment jedem gegenüber, bei dem noch Reste traditioneller Allgemeinbildung vermutet werden oder der den Habitus des Intellektuellen zeigt. Ihre Durchschlagskraft beziehe diese Spielart von Kultur aus dem Umstand, dass sie sich in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft gleichzeitig vollziehe, die aber alle dieselbe destruktive Tendenz aufweisen. Folgt man Adornos Argumentation, so lassen sich verschiedene Schichten dieser kulturellen Entwicklung unterscheiden. Auf einer obersten, offen zutage liegenden Ebene diagnostiziert Adorno einen Bewusstseinswandel, den er zunächst in der amerikanischen, dann aber vor allem der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit dem fremden Blick des Emigranten und Rückkehrers aus der Emigration wahrnimmt, und der für ihn nichts anderes als Bewusstseinszerfall ist. In beiden Gesellschaften sieht er eine um sich greifende Bereitschaft, sich auf kultureller Ebene mit Surrogaten und verkitschten Pseudo-Empfindungen zu begnügen. An die Stelle von Erfahrungsfähigkeit trete Informiertheit. Gäbe es noch die Fähigkeit zur Erfahrung, so wäre für die Individuen eine »Kontinuität des Bewusstseins« möglich, die auch das »Nichtgegenwärtige« einschließt. Diese Fähigkeit, sich zu erinnern und sich durch Assoziationen einen eigenen Raum bedeutungsvoller Wahrnehmungen zu schaffen, in denen »das Nichtgegenwärtige dauert«,117 sei verloren gegangen (wobei er nicht darauf eingeht, welche Funktion dieses Vergessen unmittelbar nach dem deutschen Faschismus hat). Tritt an deren Stelle »punktuelle, unverbundene, auswechselbare und
113 114 115 116 117
Ebd., S. 106. Ebd., S. 115. Ebd., S. 118. Ebd., S. 116. Ebd., S. 115.
8. Abbrüche, Neubestimmungen
ephemere Informiertheit, der schon anzumerken ist, dass sie im nächsten Augenblick durch andere Informationen weggewischt wird«,118 so kommt es zu keiner »Synthesis des Erfahrenen im Bewusstsein«;119 und wem dies fehlt, dem bleibt nur »zu schlucken, was in ihn hineingestopft wird.«120 Diese Beobachtungen haben bei Adorno nicht den Status bloßer Kulturkritik, die ja stets – und zwar meistens aufgrund einer selbstverschuldeten Blindheit gegenüber den produktiven Elementen neuer Entwicklungen– von einem immerwährenden Niedergang kultureller Standards ausgeht. Sondern er ordnet diese Regressionen des Bewusstseins einer politischen Tendenz hin zum Totalitarismus zu, die mit dem Sieg über den Faschismus keineswegs abgeschlossen ist, da dieses politische System nur eine seiner Erscheinungsformen war. Die Wurzeln totalitärer Systeme liegen tiefer; Adorno verortet sie in der Klassenspaltung, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt und sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer noch weiter vertieft. Totalitäre Strukturen suchen nach Vereinheitlichungen, die vorhandene Interessengegensätze verdecken. Für sie ist ein Zuwachs an administrativen Regelungen, die in das Leben der Subjekte eingreifen, das wichtigste Instrument, daneben aber auch die Kulturindustrie als Lieferant präformierter Bewusstseinsinhalte. Während am Anfang des 20. Jahrhunderts Klassenkonflikte zwischen Bürgertum und Proletariat noch deutlich wahrnehmbar waren, macht Politik es sich nun zur Aufgabe, die systemsprengenden Tendenzen dieser Widersprüche zu neutralisieren. »Während aber am ökonomischen Grund der Verhältnisse, dem Antagonismus wirtschaftlicher Macht und Ohnmacht, und damit an der objektiv gesetzten Grenze von Bildung nichts Entscheidendes sich änderte, wandelte die Ideologie sich um so gründlicher. Sie verschleiert die Spaltung weithin auch denen, welche die Last zu tragen haben. Sie sind während der letzten hundert Jahre vom Netz des Systems übersponnen worden. Der soziologische Terminus dafür lautet: Integration.«121 Dieses Netz wird in erster Linie von kulturindustriell erzeugten Wahrnehmungsformen bereitgestellt, d.h. im letzten Schritt durch die Subjekte selbst, die diese Strukturen als ihr eigenes Bewusstsein reproduzieren. Bildung spielt dabei nur noch die Rolle, die bereitgestellten Angebote aufnehmen zu können; von den traditionellen, hochkulturellen Bildungsgütern, die »als neutralisierte, versteinerte« weitergegeben werden, geht ebenso wenig ein Impuls zu Einsichten oder Fragen aus wie von den neuen, industriell erzeugten. Kultur hat die Aufgabe übernommen, Interessengegensätze zu verschleiern, im Medium der »objektiv zerfallenen Bildung« lässt aber die Warenform kultureller Produkte das Bewusstsein so unterversorgt, dass »der Einzelne von der Gesellschaft nichts an Formen und Strukturen empfängt, womit er […] überhaupt sich identifizieren, woran er im wörtlichsten Verstand sich bilden könnte«.122 Die Entstehung einer umfassenden Bewusstseinsindustrie ist aber in Adornos Darstellung nur die Oberfläche einer noch allgemeineren Entwicklung. Darunter liegt, in einer zweiten, tieferen Schicht, ein viel grundlegenderes Missglücken von Kultur, da
118 119 120 121 122
Ebd. Ebd., S. 116. Ebd., S. 106. Ebd., S. 100. Ebd., S. 103/04.
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auch Kultur als Praxis der eigenen Lebensgestaltung hinter ihren eigenen Möglichkeiten zurückgeblieben sei. Adorno attestiert Kultur einen »Doppelcharakter«: Sie ist einerseits die Reflexionsebene der Gesellschaft, die sich in ästhetischen Hervorbringungen, philosophischen Diskursen, kurz in »Geisteskultur« manifestiert, und andererseits zeigt sie sich in der »Gestaltung des realen Lebens«123 auf der Ebene des Umgangs mit sich und anderen. Nicht nur haben diese beiden Formen von Kultur sich gegen einander verselbständigt, sondern sich dabei jede von den Potentialen der anderen abgeschnitten. Die sich von der lebensweltlichen Praxis ablösende Produktion von »Kulturgütern« schafft eine Sphäre der sogenannten höheren Werte, die aber so verselbständigt ist, dass sie »das reale Leben der Menschen blind bestehenden, blind sich bewegenden Verhältnissen überantwortet.«124 Im Extremfall konnte dies im Alltag des Faschismus bedeuten, »dass Menschen, die zuweilen mit Passion und Verständnis an den sogenannten Kulturgütern partizipierten, unangefochten der Mordpraxis des Nationalsozialismus sich verschreiben konnten«.125 Ihre Bildung hatte keinen Einfluss auf ihre Lebenspraxis, beide gehörten zwei verschiedenen Sphären an. Aber auch wenn Adorno hier der Bedeutung von Kultur als »Gestaltung des realen Lebens« kurz seine Aufmerksamkeit schenkt,126 wird dieser Aspekt in der Folge von ihm eingeengt auf einen einzigen Aspekt, den von Kultur als sozialer Anpassungsleistung. Ohne die möglichen Spielarten kultureller Praxis des Umgangs mit sich und anderen zu entfalten, hebt Adorno fast ausschließlich den Aspekt der Anpassung als Kulturleistung hervor. Dabei reicht Anpassung hier von der Angleichung an die Standards des sozialen Miteinanders und dem Zurückdrängen zerstörerischer Triebimpulse bis hin zu repressiver Gleichmacherei durch kulturelle Normsetzungen. Kultur habe vor allem die Aufgabe der Kontrolle zu erfüllen und die Menschen zur Angleichung aneinander zu bewegen. Dies gelinge ihr vermöge »des Drucks, den sie auf die Menschen ausübt«, und der dem »Schema fortschreitender Herrschaft« folgt.127 Dieses Schema entspringt bei Adorno der Selbsterhaltung gegenüber einer als Gewaltverhältnis interpretierten Natur und sei in der Geschichte auf das Leben in der menschlichen Gemeinschaft übertragen worden. Kultur steht diesem Verständnis zufolge nicht im Gegensatz zur Natur, sondern hat sich deren Logik des »survival of the fittest« angeglichen.128 Denn die Menschen haben den Naturzusammenhang nicht verlassen, sondern sich ihm angepasst; von der Natur haben sie gelernt, dass allein der Stärkere siege, und übertragen dies nun auf das menschliche Zusammenleben. Dies äußere sich vor allem in der Bereitschaft, mit Zwang und Druck auf das Individuum einzuwirken. In unendlichen Schleifen werde dieser Zwang wiederholt; sowohl als Herrschaftsverhältnis der äußeren Natur gegenüber, als auch in der Einrichtung der Gesellschaft und schließlich im kontrollierenden, gewaltförmigen Verhältnis eines jeden Individuums zu sich selbst. Wenn Kultur auch einmal die Bedeutung hatte, achtsam den Gegenstand zu formen und zu gestalten, so
123 124 125 126 127 128
Ebd., S. 94, 95. Ebd., S. 94. Ebd. Ebd., S. 95. Ebd., S. 96. Ebd.
8. Abbrüche, Neubestimmungen
sei diese Bedeutung angesichts der Notwendigkeit, Kontrolle auszuüben, längst in Vergessenheit geraten, sowohl Kontrolle über die äußere, umgebende Natur als auch über die innere unterliegen demselben Zwang. Aber Repression erzeugt das Gegenteil des Intendierten, so Adorno: Zwar glaubt sie durch das Ausüben von Anpassungsdruck die Individuen zu formen, aber das, was dabei unterdrückt wird, bleibt ungestaltet und schlägt um in Aggression. Jedoch entdeckt Adorno in der Geschichte auch das Gegenmodell einer Kultur als Konzeption des gelingenden praktischen Verhältnisses zur Natur. Er findet es in eben jener Phase am Ende des 18. Jahrhunderts, die auch die Bildungsidee hervorbringt; seitdem habe es allerdings durch die Steigerung von Naturausbeutung und das lückenlos gewordene instrumentelle Denken seine Kraft eingebüßt. Hier sei für kurze Zeit möglich gewesen, das Verhältnis zur Natur anders denn als bloße Herrschaft zu denken. Sie nicht unterwerfen, sondern »natürliches Dasein bewahrend formen« heißt, sie ohne verstümmelnde Eingriffe zu kultivieren.129 Die Vorstellung gewann damals an Konturen, dass Natur vor dem Druck der »vom Menschen gemachten Ordnung« bewahrt werden müsse und dass eine »Rettung des Natürlichen« nötig sei.130 Wichtig ist für Adorno, dass es damals gelang, zwischen beiden Momenten, dem instrumentalen Verhältnis, das Natur zum Objekt macht, und ihrer Anerkennung als Subjekt, das seiner eigenen Ordnung folgt, eine Spannung aufrechtzuerhalten und nach Wegen zu suchen, wie zwischen den Polen so vermittelt werden kann, dass keine Seite völlig der anderen aufgeopfert wird. Aber schon bei Goethe und Hegel nimmt Adorno Rückschritte in dieser Hinsicht wahr, schon ihnen sei es nicht mehr gelungen, diese Spannung aufrechtzuerhalten; schon hier gebe es die Tendenz zur repressiven Anpassung an die geltende Norm. Ein anderes Wort für das Vermögen, sich in solchen Spannungsfeldern zu bewegen, ohne sie nach einer Seite hin zu vereinseitigen, ist für Adorno Erfahrungsfähigkeit. Inzwischen seien jedoch die objektiven Bedingungen, sich auf etwas so einzulassen, dass diese Erfahrung auch Folgen für das eigene Welt- und Selbstverhältnis entwickeln könne, kaum noch gegeben, denn »die Bedingungen der materiellen Produktion selber dulden schwerlich jenen Typus von Erfahrung, auf den die traditionellen Bildungsinhalte abgestimmt waren«.131 Den in Reisen, Lektüren, Gesprächen sich vollziehenden Bildungsprozessen wurde ein relativer Freiraum zugeordnet, in dem aus dem Nachdenken über das Erlebte Erfahrung entstehen konnte. Wo dieser Freiraum fehlt, »geht es der Bildung selbst, trotz aller Förderung, an den Lebensnerv.«132 Erfahrung würde heißen, eine Wahrnehmung, einen Gedanken wirklich an sich heranzulassen und es eine Weile damit auszuhalten. In einem Radiogespräch mit Hellmut Becker führt Adorno 1966 die von ihm beobachtete »Nicht-Erfahrungsfähigkeit«133 darauf zurück, dass ver129
Ebd., S. 95. Als Modell dafür wäre an die zu jener Zeit entstehenden englischen Parklandschaften im Gegensatz zum französischen Park zu denken, der Schönheit als Ordnung feierte, die sich der Natur entgegensetzt, als deren endlich vollzogene Unterwerfung. 130 Ebd. 131 Ebd., S. 100/01. 132 Ebd., S. 101. 133 Th.W. Adorno (1975), Erziehung – wozu? In: Ders., Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a.M., S. 105119, hier S. 114.
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tiefte Erfahrung, zumal Kunsterfahrung, zu etwas wird, das man sich gar nicht mehr leisten könne. Sie trage nicht nur die Spuren einstiger sozialer Privilegien, sondern verlange eine Art von Aufmerksamkeit, die es in der neuen gesellschaftlichen Realität »nur schwerer macht, sich zurechtzufinden«134 und insofern stört. Dies führe bei vielen zu Bildungsfeindschaft und einem Ressentiment gegen all das, »was ihnen versagt ist.«135 In den letzten Absätzen seines Texts deutet sich an, dass dennoch Adornos einzig verbliebene Hoffnung einer Kunst gilt, die in Distanz zu gesellschaftlichen Tendenzen und allein »vermöge der Integrität der eigenen geistigen Gestalt« Einspruch zu erheben in der Lage ist.136 Zugleich führt er die eingetretene Entleerung und Verflachung der Kultur, die er glaubt in seiner Zeit beobachten zu müssen, auf Prozesse ihrer Verselbständigung gegenüber der Gesellschaft zurück: Zu ihrem Niedergang komme es, »wofern sie nichts sind als Kulturgüter.«137 Sie haben damit Teil an jenem zutiefst in die europäische Kultur eingelassenen Vorgang, dass »der Geist von den realen Lebensverhältnissen sich trennte und ihnen gegenüber sich verselbständigte«138 und sind darin zutiefst ambivalent. Dies ist die »Unwahrheit« von Kunstwerken und doch zugleich die einzige Möglichkeit, gegenüber den Lebensverhältnissen einen exterritorialen Standpunkt zu gewinnen, der Analyse und Kritik ermöglicht. Und hier kommt nun die Bildung ins Spiel: Sie allein könne diese Dimension im Bewusstsein präsent halten. Dass es für Adorno einzig die Kunsterfahrung ist, die ein Gegenmodell zum von ihm diagnostierten Bewusstseinszerfall bereitstellen könnte, hat zur Folge, dass Differenziertheit der Wahrnehmung und Komplexität der Verarbeitung dieses Wahrgenommenen, wie sie den Umgang mit Kunst kennzeichnen, zum Inbegriff gelingender Bildung werden. Darüber gerät der zweite von ihm genannte Aspekt von Kultur, die »Gestaltung des realen Lebens«, ins Hintertreffen,139 und wo Adorno einmal darauf näher eingeht, ist er doch schnell wieder bei Schiller, Goethe und Hegel.140 Adornos Bildungsbegriff bleibt eng bezogen auf Kultur als Erfahrung von Kunst; und das Scheitern der Kultur, die keine adäquate Kunsterfahrung mehr ermöglicht, wird zum Scheitern der Bildung. Jedoch drängt sich der Verdacht auf, dass Adorno sich dabei einer analogen Verkürzung des Kulturbegriffs, die er an anderen moniert, selber schuldig macht: Bildung erhält bei ihm nur die Bedeutung, nachgängiger Prozess einer »subjektiven Zueignung« von Kultur zu sein,141 das Verhältnis zu ihr ist passiv und rezeptiv, und dadurch von Anfang an davon bedroht, schließlich zu bloßem Konsum zu werden. Ansätze traditioneller Bildungstheorien, die über dieses Verständnis hinausgehen und die Abarbeitung an einer alltagsweltlichen »Mannigfaltigkeit der Situationen« (Humboldt) unter Einschluss des Fremden, Unverständlichen, Widerständigen zum Ausgangspunkt von Bildung zu machen, werden von ihm ignoriert, obwohl auch sie sehr wohl Aspekte von Erfahrungsfähigkeit sein könnten. Ebenso wenig wird der Aspekt berücksichtigt, dass solche Er134 135 136 137 138 139 140 141
Ebd. Ebd., S. 115. Adorno, Halbbildung, a.a.O., S. 121. Ebd., S. 95. Ebd., S. 121. Ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 95/96. Ebd., S. 94.
8. Abbrüche, Neubestimmungen
fahrungen traditionell das Ziel hatten, in ein verändertes Selbstverhältnis zu münden, das aus der »Rückkehr aus dem Anderssein« hervorgeht (Hegel). Gewiss ließe sich argumentieren, dass Adornos Hinweise auf die Bedeutung von Erfahrungsfähigkeit implizit auf eine solche Dimension der Selbstbeziehung verweisen, in der Argumentation seines Aufsatzes spielt dies jedoch keine Rolle. Letztlich war der Kulturbegriff der frühen Bildungstheorien sehr viel weiter gefasst als dies bei Adorno deutlich wird; auch konnte dies eine Vielzahl von Erfahrungsdimensionen einbeziehen, während Adorno nur eine Form der Erfahrung, die der Kunst, privilegiert. Welche Erfahrungen in der »Gestaltung des realen Lebens« gewonnen werden können, diskutiert er nicht. Zugespitzt könnte man behaupten, dass das Scheitern von Kultur, das Adorno anklagt, das Scheitern eben jener Haltung ist, die er selber vorführt, indem er sich auf die ästhetische Sphäre beschränkt und dabei wiederum auf eine bloß rezeptive »Zueignung« einer unabhängig vom Individuum bestehenden Kultur. Den Hintergrund dafür bildet, dass sich Adorno gegen Erweiterungen des Kulturbegriffs sperrt. Dadurch ist Kultur, die er als relevant empfindet, für ihn gesellschaftlich nur noch in ihrem Niedergang präsent. Dies erzeugt eine Art Endzeitstimmung. Gegenentwürfe, die mit dem Bildungsbegriff auch die Bedeutung von Wissen und Urteilskompetenz oder die Arbeit am Verhältnis zu sich selbst und zu anderen verknüpfen, würden seinem Verdikt anheimfallen, denn was würde im ersten Fall davor schützen, sich in jener kritiklosen Informiertheit und »Bescheidwisserei« zu verlieren und im zweiten Fall Bildung in Selbstoptimierungsprogramme umschlagen zu lassen? Wenn Kultur nur noch »als Verwesende« präsent ist, wird unter diesem Vorzeichen alles zu falschem Bewusstsein. Diese Verfallsgeschichte nimmt ihren Ausgang bei dem, was die frühen Programmatiken im 18. Jahrhundert als ihr Verständnis von Bildung formulierten und hinter das die Praxis nur zurückfallen konnte. Selbsthervorbringung galt nun als Aufgabe für das aus den traditionellen Lebensformen herausgefallene Subjekt der Moderne, ihm war aufgegeben, in ständiger Selbstthematisierung an seiner Vervollkommnung zu arbeiten Dies konnte nur zu Gefühlen der Überforderung und zur Suche nach überschaubareren Auslegungen des Bildungsbegriffs führen: etwa als Erwerb von Wissen oder Besitz von Bildungsgütern mit erkennbarem Nutzen in Form von Statusgewinn. Die großen Leitvorstellungen des Idealismus taugten nicht einmal mehr als regulative Idee, da nicht ersichtlich war, welche Praxis aus ihnen abgeleitet werden könne. Offensichtlich ließ sich die angestrebte Freiheit nicht durch eine Steigerung der Selbstkultur gewinnen, immer greifbarer wurde die Erosion dieser Ideen, die aber uneingestanden blieb. Der heimlichen und immer von ihr selbst in Abrede gestellten Normativität der Bildungsidee wurde eine solche Autorität zugeschrieben, dass es nicht sinnvoll erschien, sie zu kritisieren; sie wurde theoretisch aufrechterhalten, aber praktisch unterlaufen, in offiziellen Reden als identitätsstiftend beschworen, praktisch aber ihre Entwertung schulterzuckend akzeptiert. Adorno beschreibt dies als eine Spaltung des Bewusstseins, die nun erst, nach Faschismus und zwei Weltkriegen, in ihrem ganzen Umfang deutlich wird. Als Begründung von Freiheit und Mündigkeit habe sich die Bildungsidee entworfen, wo sie aber praktisch wurde, richtete sie sich gegen sich selbst und wurde schließ-
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Transformationen des Bildungsbegriffs
lich zum destruktiven Potential. Diese Spaltung steigert sich in seinen Augen in der Nachkriegsgesellschaft bis hin zur »Paranoia«.142 Unausgesprochen steht hinter der Diagnose des Scheiterns von Kultur, gar ihrer »Verwesung«, die Frage, warum gerade in einer Gesellschaft, in der gegen die verbreitete Vorstellung von autoritärer Formung als formatio, die Idee der Bildung entworfen wurde, der Massenmord an einem Teil der Bevölkerung unter Billigung oder Duldung durch andere Teile der Gesellschaft möglich wurde. Bildung und das ihr zugrundeliegende Verständnis von Kultur wird bei Adorno zum Symptom eines tief reichenden Zersetzungsprozesses des Bewusstseins, das angesichts des eigenen Herrschaftscharakters dessen Gewaltaspekt zugleich verleugnet und immer umfassender entfaltet. Nicht eine nachträglich eingetretene Verfälschung der Bildungsidee erzeugte eine Disposition, in der Liebe zur Hochkultur und Affinität zur Gewalt sich gut vertragen, sondern dies sei sogar »aus dem Begriff von Bildung abzuleiten«.143 Dies ist die These, an deren Leitfaden Adorno seine Argumentation entwickelt. Dabei stößt er auf einen Bildungsbegriff, der reale Gewalt verdeckt. Seine Verselbständigung, die den realen Bedingungen keine Rechnung trägt, ist von vornherein in ihm angelegt. Was Adorno unter dem Begriff der Halbbildung als Entleerung und Verdinglichung von Bildungsvorstellungen beschreibt, skizziert einen Verfallsprozess, in den nach und nach alles hineingerissen wurde, weil keine sinnvollen Vorstellungen mehr mit der anfänglichen Idee verknüpft werden konnten. »Der unwiderrufliche Sturz der Geistesmetaphysik hat die Bildung unter sich begraben«;144 die realen Individuen sind dem ausgeliefert und sind seine Vollstrecker.
8.4
Bildungssubjekt und soziales Subjekt
Bildungstheorien treten im 20. Jahrhundert zunehmend als Bildungskritik auf. Dabei unterscheidet diese Kritik nicht immer zwischen »klassischen« Bildungstheorien, deren Programmatik dem 18. Jahrhunderts entstammt, und deren verkürzender Rezeption im 19. Jahrhundert; oft werden die älteren Texte nur durch die Denkschablonen einer späteren Rezeption hindurch zur Kenntnis genommen.145 Ebenso wenig wird zwischen den informellen Bildungsprozessen, um die es den frühen Theorien geht, und der späteren, weitgehend im institutionellen Rahmen stattfindenden formalen Bildung unter-
142 143 144 145
Ebd., S. 116. Ebd., S. 93. Ebd., S. 106. Dies gilt für H. Freyers Zusammenfassung der klassischen Bildungsidee als Aufbau einer »autonomen Welt des Geistes« (H. Freyer, a.a.O, S. 608) oder seine Darstellung von Humboldts Intentionen als »Wille, in der eigenen Individualität das Ganze zu repräsentieren« (ebd., S. 622). Tatsächlich weist Humboldt beharrlich darauf hin, dass die Individuen »gemeinschaftlich zusammenwirken« müssen, da sie »nur miteinander ein vollständiges Ganzes […] bilden« können (W. v. Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, a.a.O., Bd. I, S. 339, ders., Das achtzehnte Jahrhundert, a.a.O, Bd. I, S. 385). Aber auch durch viele andere Äußerungen zu Humboldt zieht sich als roter Faden, seine Bildungsvorstellungen auf das Streben nach Vervollkommnung zu reduzieren und darüber die meisten anderen Elemente seines Bildungsdenkens in Vergessenheit geraten zu lassen.
8. Abbrüche, Neubestimmungen
schieden. Dies hatte im 20. Jahrhundert zur Folge, dass zunehmend unklar wurde, was mit »Bildung« überhaupt gemeint ist. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein fristet dann der Bildungsbegriff »ein gleichsam rudimentäres Dasein«, fasst Otto Hansmann diese Rezeptionsgeschichte zusammen.146 »Ab etwa Mitte der 70er Jahre taucht der Bildungsbegriff im engeren Sinn wieder in der pädagogischen und bildungspolitischen Diskussion auf«, aber nur selten in Anknüpfung »an die vielschichtigen Dimensionen seiner Überlieferungsgeschichte«.147 Erst die wiederaufgenommenen bildungstheoretischen Reflexionen gegen Ende des 20. Jahrhunderts wenden sich den Bildungstheorien der Zeit um 1800 wieder zu und betonen an ihnen die Suche nach Denkformen, die eine Vermittlung von Welt- und Selbstbezug ermöglichen. Anders als ein Standardtopos der Bildungskritik meint, der nur den eskapistischen Rückzug auf das eigene Selbst sieht, wurde in den frühen Theorieansätzen dieses Selbst als eine Energiequelle erkannt, die Kritik und Gegenentwürfe möglich macht. Hinter all den Beschwörungen von Einheit, Ganzheit und Harmonie standen Bewältigungsversuche der Erfahrung von Trennung, Fremdheit und Selbstverlust; die Notwendigkeit, diese Beunruhigung zu bewältigen und einen Schritt über sie hinaus zu machen war es, die die Bildungsthematik hervorbrachte. Ausgangspunkt war immer wieder die Erfahrung eines Risses: Er lässt sich nicht durch Bildung heilen, aber der Bildungsgedanke entwirft eine Form des Umgangs damit. Im Versuch, »vor sich selbst verständlich« zu werden (Humboldt), stößt das Ich auf die Erfahrung, dass ihm nichts einfach nur gegeben ist, weder das Verhältnis zu sich selbst noch zur umgebenden Wirklichkeit, beide müssen ständig erneut überprüft und weitergedacht werden. Dieser Bedeutungshorizont ist nicht präsent, wenn Bildung mit Lernen und Wissenserwerb gleichgesetzt wird. Weitgehend bestimmt den Bildungsbegriff der Sprachgebrauch der Bildungspolitik, der »Bildung« als Passepartout-Begriff für ein Geflecht von Institutionen und Unterrichtsangeboten zur Verstetigung von Lernen, Einübung von Kulturtechniken und Vermittlung von Orientierungswissen verwendet. Vorausgegangen waren diesem Wandel des Sprachgebrauchs Abrechnungen mit einer Bildungsidee, deren Sinn sich nicht mehr erschloss oder die durch ihre Verwendung zur Bemäntelung schlechter Praxis diskreditiert war. Auf diese Bildungskritik nochmals einzugehen lohnt jedoch nur, wenn an dem Kritisierten etwas freizulegen ist, das von der Kritik zwar als überholt betrachtet wird, aber eine erneute Betrachtung verdient. Weitgehend gilt für die Texte von Freyer und Adorno, dass in ihnen die bildungstheoretischen Entwürfe der Zeit um 1800 auf eine Weise verabschiedet werden, die keine Spielräume für mögliche Anknüpfungen vorsieht. Unwiderruflich seien »die Bildungsgüter zerbröckelt, und zwar »ihrem Wahrheitsgehalt nach«, so Adorno148 , und Freyer hält fest, dass Bildung weder »die eigentliche Sorge des gegenwärtigen Menschen« noch etwas sei, das sie »entbehrten oder suchten.«149 Der Bildungsgedanke wird
146 Otto Hansmann (1988), Kritik der sogenannten »theoretischen Äquivalente« von »Bildung«. In: O. Hansmann/Winfried Marotzki (Hg.), Diskurs Bildungstheorie I: Systematische Markierungen. Weinheim, S. 21-54, hier S. 21, Anm. 1. 147 Ebd. 148 Th.W. Adorno, Halbbildung, a.a.O., S. 109. 149 H. Freyer, a.a.O., S. 597.
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mit seiner neuhumanistischen Ausprägung identifiziert, jedoch in der den ursprünglichen Problemgehalt verkürzenden Wiedergabe des 19. Jahrhunderts, wie sie sich vor allem bei Dilthey findet.150 Auf diese Verwendungsgeschichte bezieht sich Adorno, wenn vom »antiquierten und arroganten Klang«, den der Bildungsbegriff angenommen habe, spricht151 ; oder wenn Freyer in Bildung nur noch »Kulturschmuck«152 erkennen kann. Aber sie ist in den Augen beider Autoren nicht erst dazu geworden, sondern von Anfang an eine problematische, sogar ideologische Kopfgeburt, mit deren Hilfe das aufstrebende Bürgertum seine Situation umzudeuten versuchte. Freyer erläutert dies mit dem Hinweis, dass dessen ökonomische Bedeutung zwar ständig zunahm, jedoch ohne »verantwortlichen Anteil am politischen Geschehen«, und es sei offensichtlich, dass die Angehörigen dieses Bürgertums »einen Anteil an den staatlichen oder sozialen Machtmitteln auch nicht erstrebten oder gar revolutionär zu erkämpfen im Begriff waren.«153 Stattdessen verlagerten sie den Schauplatz ihrer Aspirationen: Durch Bildung sollte etwas Höheres, »die Realität einer autonomen Welt des Geistes« Gestalt annehmen.154 Adorno unterstreicht diese Lesart mit seinem Hinweis auf das Kriterium der Zweckfreiheit: Eine Beziehung auf Praxis sei in jener Zeit »als Herabwürdigung zu einem Heteronomen, […] Mittel der Wahrnehmung von Vorteilen«155 erschienen. Wie Freyer bezieht er die Entstehung der Bildungsidee auf die politische Situation des Bürgertums im 18. Jahrhundert, betont aber weniger die kompensatorische Funktion von Bildung als deren Schwundstufencharakter: Politisch war einmal das Ziel gewesen, eine »Gesellschaft von Freien und Gleichen« einzurichten; Bildung sollte dazu verhelfen, dass eine »Menschheit ohne Status und Übervorteilung« möglich werde.156 Der Schritt dies umzusetzen sei dann jedoch missglückt: »Das Scheitern der revolutionären Bewegungen, die in den westlichen Ländern den Kulturbegriff als Freiheit verwirklichen wollten, hat die Ideen jener Bewegungen gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen«; übrig blieb bloße, gegenüber der Praxis verselbständigte »Geisteskultur«157 , und Bildung wurde zur Initiation in diese Selbstbeschränkung. An der Bildungskritik beider Autoren fällt auf, dass sie dabei jedoch einen stillgestellten Bildungsbegriff, der seinen Prozesscharakter verloren hat, zugrunde legen und davon auszugehen scheinen, dass dies unabdingbar zum Begriff der Bildung gehört. Er eröffnet bei ihnen einen lediglich rezeptiven Zugang zu »Philosophie und Kunst« beziehungsweise einer »autonomen Welt des Geistes«,158 erschöpft sich aber im Nachvollzug der großen Werke der Hochkultur. Die Praxis der Selbsterforschung und Selbstverständigung, auf die frühe Bildungstheorien zielen, findet in beiden Fällen keine Erwähnung. Von Herder über Moritz und Goethe zu Humboldt, Novalis und Hegel zeigt sich jedoch, dass die Arbeit eines Individuums an der eigenen Stellung zur Wirklichkeit im Zentrum 150 151 152 153 154 155 156 157 158
Vgl. ebd., S. 602, Adorno, a.a.O., S. 95. Ebd., S. 102. H. Freyer, a.a.O., S. 611. Ebd., S. 604. Ebd., S. 603. Th.W. Adorno, a.a.O., S. 97. Ebd. Ebd., S. 94. Ebd., S. 120, H. Freyer, a.a.O., S. 608.
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der Texte steht und die Auseinandersetzung mit den zu Bildungsgütern geronnenen kulturellen Traditionen dafür nur das Mittel ist. Die Verkürzungen der Bildungskritik werden auf geradezu bestürzende Weise deutlich, wo Adorno vor einer »Demokratisierung von Bildung« warnt.159 Ausgehend von seiner Gleichsetzung von Bildung und rezeptiver Einstellung geht er davon aus, dass jemand, der nicht zum Bildungsbürgertum gehört, Erzeugnisse der Hochkultur nur missverstehen könne, weil ihm die nötigen Voraussetzungen für deren Erschließung fehlen. Zwangsläufig werde dadurch deren Sinn verfälscht, aber auch der Rezipient überfordert, für den sich jene Gehalte »in böse Giftstoffe« verwandeln würden160 : Halbverstanden werden sie etwas »dogmatisch Undurchsichtiges« und erzeugen »Obskurantismus«, »Ressentiment« oder »kollektiven Narzissmus«.161 Die Möglichkeit produktiver Missverständnisse wird von Adorno nicht vorgesehen, z.B. ein unmittelbarer, vielleicht auch naiver Zugang, der aber erlaubt, aus approbierten Rezeptionsgewohnheiten auszuscheren und so zu neuen Sichtweisen zu gelangen.162 Die klassischen Bildungstheorien hatten hier weiter gedacht: Für sie erschöpfte sich Bildung nicht in der Verfügung über kulturelle Ressourcen – und auch nicht im »voll adäquaten« Verständnis von Kunst,163 der Nachdruck lag vielmehr auf dem, was dabei als Veränderung des Selbstbezugs entsteht: In der Abarbeitung am Fremden, Ungedachten sollte sich das Individuum anders und neu wahrnehmen und dafür sollte eine »Mannigfaltigkeit der Situationen« den Ausgangspunkt bilden.164 Der »Sturz der Geistesmetaphysik«, der Adorno zufolge »die Bildung unter sich begraben« hat165 , könnte so gesehen auch eine Befreiung der Subjekte sein, die unterhalb der großen normativen Ansprüche ihre Bildungserfahrungen machen. Auch Freyer geht auf ein prozedurales Bildungsverständnis nicht ein, bei ihm wird der traditionelle Bildungsbegriff darauf eingeengt, an einem »Kosmos geistiger Werte« zu partizipieren, »der in sich abgestimmt ist wie eine logische Ordnung oder wie eine dialektische Stufenfolge«.166 Gegen diese vermeintlich statischen Auffassungen
159 160 161 162
Th.W. Adorno, a.a.O., S. 111. Ebd., S. 112. Ebd., S. 112, 116, 114. Solche Einladungen zum kreativen Unterlaufen des einmal gesetzten hohen Anspruchs, die sich Ende der 1960er Jahre mehrten, mussten auf Adorno zwangsläufig wie eine Einladung zur Barbarei wirken. Er hatte erlebt, dass eine unangemessene, der Komplexität des ursprünglichen Gedankens nicht gerecht werdende Rezeption von Theorien zu Simplifikationen führte, die sich schließlich zu Parolen, mit denen andere niedergebrüllt werden, wandeln. Einer der Wegbereiter des Faschismus war der Zerfall theoretischer Analyse in »Weltanschauungen«, wie sie die Lebensphilosophie hervorbrachte. Für Adorno waren diese Weltanschauungen nicht nur Denkschablonen, sondern ihre Suche nach letzten Prinzipien, basalen Triebkräften, »großen, einfachen Alternativen« machte sie gefährlich (H. Schnädelbach, a.a.O., S. 185, 184): Als »universelles Denkmuster« (ebd.) setzten sie sich über das Einzelne und schließlich die Einzelnen als Individuen hinweg, ebneten Widersprüche ein, ließen Kritik nicht zu. Solche Regressionen des Bewusstseins glaubte Adorno teilweise in der Studentenbewegung wiederzuerkennen und dies bestimmte die erbitterten Diskussionen im Institut für Sozialforschung 1968. 163 Th.W. Adorno, a.a.O., S. 111. 164 W.v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, a.a.O., Bd I, S. 64. 165 Th.W. Adorno, a.a.O., S. 106. 166 H. Freyer, a.a.O., S. 608.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
plädiert er für eine »realistische Hinwendung zur Gegenwart« als »spezifisch gegenwärtiger Inhalt« von Bildung, für »Sachlichkeit und Rationalität«.167 Individuelles wird demgegenüber auf eine »Privatangelegenheit« reduziert: »Die bildungsmäßige Intention auf die eigene Individualität ist innerlich unmöglich geworden.«168 Der Einzelne ist Teil der »Masse«, durch die das »geschichtliche Geschehen« Gestalt annimmt, wobei dies dennoch von den Einzelnen »mit Bewusstsein und mit Verantwortung vollzogen werden« müsse.169 Dieser Aufgabe soll jeder auf der Basis von »geschichtlichem Situationsbewusstsein« gerecht werden, nicht aber weil »die einzelne Person […] ihren Schwerpunkt in sich selbst« habe170 – diese humanistische Denkfigur lehnt Freyer ab, da sie dazu verleite, nur um »die eigene Welt« zu kreisen. Scharf grenzt sich Freyer von Selbstbezug ab, das er als Streben nach einer »zentrische[n] Figur« versteht. In Abgrenzung zu dieser zurückgelassenen Periode der Innerlichkeit sei nun ein Bewusstsein gefordert, das sich nach außen richtet, indem es »gleichsam wie ein Scheinwerfer arbeitet«.171 Wenn für ihn im Versuch, dem Bildungsbegriff einen neuen Inhalt zu geben, der »Standort« des Einzelnen zur zentralen Kategorie wird, so nicht als Ergebnis eines reflektierten Selbstverhältnisses; er soll vielmehr dem »Willen« und dem »Zwang zur Entscheidung«172 entspringen, die keiner Begründung bedürfen. Es fällt auf, dass Freyer hier in der Nachfolge der Lebensphilosophie argumentiert; Ausdrücke wie »Willensentscheidung« oder »Standort« werden einem übergeordneten vitalen Imperativ zugeordnet, der ohne auf ein subjektives Bewusstsein angewiesen zu sein solche Akte einfordert. Diese Abwendung von subjektiven Voraussetzungen ist bei Freyer durchgängig, obwohl für ihn doch klar sein muss, dass spätestens dann, wenn die Person, die er als Bildungssubjekt entwirft, ihren Standort erläutern muss, sie über ihre Selbstverortung sprechen muss, um ihre Vorstellungen zu erläutern. Darauf geht er nicht ein. Für Freyer ist dieses Selbst eine Illusion, während es bei Adorno an der Verabreichung kulturindustriell hergestellter Fertigprodukte bereits zugrunde gegangen ist. Insofern unterscheidet sich die Bildungskritik Freyers und Adornos am stärksten hinsichtlich ihrer Einstellung zu den Subjektkonzeptionen klassischer Bildungstheorien. In deren Zentrum stand als unausgesprochene Prämisse die Voraussetzung, dass zwischen Bildungssubjekt und sozialem Subjekt eine Differenz besteht, die nicht nur bewahrt, sondern sogar vertieft werden sollte. Diese Differenz wird von beiden Autoren in Vorstellungen von einer »Geistesmetaphysik« bzw. einer »autonomen Welt des Geistes« lokalisiert.173 In einer Zeit intensiver Rousseau-Lektüre war im 18. Jahrhundert der Gedanke selbstverständlich, dass Autonomie und das heißt Wahl- und Entscheidungsfreiheit aus der bewusst hergestellten Distanz des Individuums gegenüber gesellschaftlichen Prozessen, und zwar durch Selbstreflexion erwachsen könnte. »Alles,
167 168 169 170 171 172 173
Ebd., S. 619, 620. Ebd., S. 622. Ebd., S. 623. Ebd. Ebd. Ebd., S. 624, 625. Th.W. Adorno, a.a.O., S. 106, H. Freyer, a.a.O., S. 608.
8. Abbrüche, Neubestimmungen
was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen«, beginnt Rousseau seinen »Emile« und zählt auf: »Vorurteile, Autorität, Vorschriften, Beispiel – alle die Einrichtungen der Gesellschaft, in denen wir ertrinken«: Zu all dem gelte es Distanz herzustellen.174 Seine Position als Bildungssubjekt begründete das Individuum darin, dass es zu seinem Status als soziales Subjekt auf Distanz ging oder zumindest betonte, nicht darin aufzugehen. Vor diesem Schicksal suchte es sich zu bewahren, indem es eine Subjektposition für sich ausarbeitete, die das eigene, transzendentale, allem Empirischen vorausliegende Ich zum Schauplatz der Wahrheitssuche erhob. Aus dieser statischen Vorstellung der Erkenntnistheorie wurde bildungstheoretisch die Konsequenz gezogen, dieses Selbst langfristigen Bildungsprozessen zu überantworten, in denen es sich – vor allem mit Hilfe großer Vorbilder aus der literarischen Überlieferung – zum Projekt seiner selbst machen konnte, und dies mit allen Konsequenzen der Selbstaufblähung und Selbstüberhöhung. Adorno knüpft in seinem Text an das kulturelle Selbstverständnis an, demzufolge sich das Subjekt mit seiner sozialen Existenz nur partiell identifiziert, wesentliche Identitätsquellen aber außerhalb davon suchte: in der Kunst und Philosophie seit der Antike, in den Identifikationsangeboten der Bühne, in der Suche nach neuen Ausdrucksformen in der Literatur, in der Komplexität der bildenden Kunst. Aber dies sind Bezugspunkte, die alle Aktivität des Subjekts in sein Inneres zurückdrängen. Das Bildungssubjekt hält sich in Räumen der Unverfügbarkeit, Unantastbarkeit, absoluten Autorität tradierter Geistigkeit auf, und Adorno weist darauf hin, dass bei allem Eskapismus dies auch Ausgangspunkte des Einspruchs, der Verweigerung von Anpassung sein können. Jedoch gehört für Adorno wie für Freyer die damit verbundene Trennung zwischen dem (inneren) Werdegang des sich bildenden Selbst und seiner (äußeren) sozialen Identität bereits der Vergangenheit an. Freyer begrüßt dies, während Adorno dies als Rückschritt hinter zuvor bereits erreichte Ausdifferenzierungen von Selbstverhältnissen wahrnimmt. Für ihn ist er das Resultat einer Vereinheitlichung des Bewusstseins mit den Mitteln der Kulturindustrie, während für Freyer sich die Menschen endlich von den Illusionen einer autonomen Gegenwelt des Geistes befreit haben. Das Bildungssubjekt, das er skizziert, nimmt Stellung in sozialen Auseinandersetzungen, sein Standort wird von Willensentscheidungen definiert, die Bildung nicht brauchen, da der Wille von ihm als etwas Ursprüngliches aufgefasst wird. Bei ihm gibt es nicht ein Nacheinander: zunächst die Selbstvergewisserung im privaten Raum der einsamen Selbstbefragung, dann die daraus erwachsende Fähigkeit, in der öffentlichen Sphäre Stellung zu beziehen. Für ihn ist der »Standort« selbst Ort der Bildung: Hier soll sich das »geschichtliche Situationsbewusstsein« schärfen, das ein »Stehen in der Bewegung der Zeit« erlauben soll.175 Traditionell waren Bildungsprozesse als Wegarbeiten all dessen gedacht worden, was das Ich von sich selber trennt: der aufoktroyierten Herrschaftskultur, der statischen Ständegesellschaft, der ihr dienstbaren reglementierenden Sittlichkeit. Das eigene Selbst sollte sich entwickeln in der Auseinandersetzung mit diesen Grenzen und
174 175
Jean-Jacques Rousseau (1963), Emile oder Über die Erziehung, hg. v. Martin Rang, Stuttgart, S. 107. H. Freyer, a.a.O., S. 623.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
in diesen Prozessen die Wahrnehmung von etwas Eigenem, einer individuellen Substanz entfalten. Dies geschah in der Orientierung an großen kulturellen Vorbildern, Erkundungen der eigenen individuellen Ressourcen, in der Wahrnehmung der eigenen Singularität in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Der reflexive Rückgang auf diese Erfahrungen sollte ein Selbst entstehen lassen, das dem Anderen entgegenund zu ihm in Beziehung tritt. Freyer bestreitet, dass es hier ein Nacheinander geben kann: Erst das Selbstverhältnis, dann Beziehen eines Standorts im sozialen Raum. An die Stelle eines solchen Nacheinanders tritt bei Freyer das Hier und Jetzt der gesellschaftlichen Erfahrung. Das Subjekt gewinnt bei ihm seinen Standort im Aufeinandertreffen mit der anderen Person, Klasse, Lebensform, politischen Orientierung. Das Selbst entsteht in diesen Auseinandersetzungen. Die soziale Existenz der Individuen wird zum primären Ort der Selbsterfahrung, außerhalb des eigenen Status als soziales Subjekt gibt es keinen Ort, der diesen Auseinandersetzungen vorgelagert wäre. Der Standort entsteht im Bewusstwerden der Stellung zum Anderen. Dies ist das Neue, das spätere Thematisierungen einer kommunikativen Ethik vorwegnimmt (s.u., Kap. 10). Die Rechnung, die beide Autoren, jeder auf seine Weise, dem Bildungsbegriff aufmachen, beruht in beiden Fällen auf dem Argument, dass Bildungskonzepte Prozesse der Verselbständigung gegenüber der sozialen Sphäre durchlaufen hätten. Für Adorno zeigt sich dies als die »trügende Hoffnung«, Bildung »könne von sich aus den Menschen geben, was die Realität ihnen versagt,176 bei Freyer als die Flucht in »eine eigengesetzliche Welt von objektiven Werten«.177 Während Freyer es jedoch eher als Fortschritt ansieht, »wenn die Sorge um die Bildung aus dem Zentrum unseres Lebens herausgerückt ist«178 , hat bei Adorno – knapp dreißig Jahre und mehrere weltgeschichtliche Katastrophen später – schließlich doch »die Sorge um Bildung in der gegenwärtigen geschichtlichen Stunde ihr Recht«179 : Für ihn ist die Verselbständigung des Bildungsbegriffs, indem er »von den realen Lebensverhältnissen sich trennte und ihnen gegenüber sich verselbständigte, […] nicht nur seine Unwahrheit, sondern auch seine Wahrheit«.180 Denn diese Verselbständigung bedeutet für Adorno auch die Möglichkeit, dass sich Enklaven in der Gesellschaft herausbilden, für die der von ihm wahrgenommene allgemeine »Rückschritt des Bewusstseins« nicht im vollen Maße gilt.181 Sie werden vielleicht, so die schwache Hoffnung, von den totalitären Vereinheitlichungstendenzen weniger erreicht, die Adorno im Faschismus erlebt hat und die er nun wieder in den Nachkriegsgesellschaften Deutschlands, aber auch der USA sich andeuten sieht. Anders als Freyer erkennt Adorno dem traditionellen Bildungsdenken zu, dass es einen Raum offenhielt, in dem das Subjekt sich von normativen Ansprüchen der Gesellschaft distanzieren konnte. Aus dieser Möglichkeit zur Distanz hatte die Bildungsidee in wesentlichen Teilen ihr Selbstverständnisses abgeleitet. A. Schäfer (2011) weist
176 177 178 179 180 181
Th.W. Adorno, a.a.O., S. 98. H. Freyer, a.a.O., S. 602. Ebd., S. 597. Th.W. Adorno, a.a.O., S. 121. Ebd. Ebd., S. 110.
8. Abbrüche, Neubestimmungen
darauf hin, dass der Bildungsgedanke nach wie vor auf die Annahme einer solchen Differenz angewiesen ist. Für das Individuum zeige sich diese »Differenz zur Ordnung des Sozialen« darin, dass es sich zu seinen gesellschaftlichen Erfahrungen in ein Verhältnis setzen kann.182 »Menschen lernen nicht nur Ordnungsmuster, sondern zugleich, sich darin als jemanden zu verstehen, der sich zu einer Realität in Beziehung setzt«.183 Sie nehmen in ihren Beobachtungen Unterscheidungen vor, die zu Urteilen werden, und diese Urteile sind nicht völlig determiniert durch das Wahrgenommene, ihre »konkrete Ausprägung ist nicht vorherbestimmt.«184 Die Fähigkeit, sich »in ein Verhältnis setzen« zu können wird für Schäfer sogar zum Bestimmungsgrund von Bildung: »Bildung erscheint […] immer schon als ein Verhältnis zu […] Wissensbeständen, zu dem sozial Geforderten, zu sich selbst. Ihre Möglichkeit aber scheint sich den Erfahrungen sozialer Kontakte zu verdanken.«185 Diese soziale Dimension erübrigt aber nicht die Frage, »von wo aus« eine solche Haltung eingenommen wird, welchen Boden unter den Füßen ein Ich haben kann, das sich »unabhängig und jenseits des Sozialen« zu ihm in Beziehung setzt.186 Wenn solche Verhaltensmöglichkeiten lediglich »Effekte des Hineinwachsens in soziale Ordnungszusammenhänge« wären187 , dann könnte es nicht zu moralischen Entscheidung gegen die bestehende Ordnung und zu radikaler Kritik an ihr kommen. Schäfer versteht das, was Individuen einen solchen Schritt aus der Immanenz einer Ordnung hinaus ermöglicht, als Orientierung an »imaginären Bezugspunkten« und meint damit Ideen wie die der Freiheit, Autonomie, Selbstverwirklichung. Er geht von der »Unbegründbarkeit solcher Perspektiven« aus, hebt aber hervor, dass sie zweifellose Gültigkeit als Orientierung für moralisches Handeln haben.188 Offenbar muss die von Schäfer hervorgehobene Fähigkeit zur Differenz, die Fähigkeit, sich zu etwas zu verhalten, als ein anderer Aspekt davon gesehen werden, dass Menschen ein Bewusstsein von sich selber haben, denn auch dies setzt Trennung und Distanznahme voraus. Dieses Bewusstsein ist auf die Instanz des Anderen angewiesen.
182 183 184 185 186 187 188
Alfred Schäfer (2011), Das Versprechen der Bildung. Paderborn u. a., S. 13. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd. Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 17. Es fällt mir schwer, Vorstellungen von Freiheit als »imaginären Bezugspunkt« zu verstehen und dies gilt auch für Begriffe wie den der Autonomie oder Selbstbestimmung: In die Risiken, die Menschen auf sich nehmen, um für sich z.B. politische Freiheitsrechte verwirklichen zu können, willigen sie ein, weil es ihnen um sehr Konkretes und anderswo bereits Verwirklichtes geht. Offenbar lässt sich ein solcher Bezugspunkt sehr unterschiedlich und auf sehr unterschiedlichen Ebenen denken. Aber er wird nicht dadurch imaginär, dass sich die Idee in ihrer Reinheit nicht verwirklichen lässt; auch als bloße Maxime ist sie erfahrungsgesättigt.
295
9. Umstellungsprozesse des Bewusstseins
9.1
Der freigesetzte Vasall
Die Reaktualisierung des Bildungsbegriffs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht unter dem Vorzeichen von Krisendiagnosen und der Skizzierung der Aufgaben, die Bildung in dieser Situation übernehmen soll. Dabei entstehen Aufgabenkataloge, die das jeweils als gesellschaftliches Problem Erkannte in Programmatiken umformulieren, die sich zumeist auf inhaltliche Bestimmungen beziehen. Während in diesen Darstellungen die Aufgaben in der Regel inhaltlich bestimmt werden, werden in einem zweiten Argumentationsstrang Vorstellungen der Notwendigkeit von Bildung selbst auf Krisenwahrnehmungen zurückgeführt, Bildungstheorie wird zur Theorie der Krisenbewältigung. Gefragt wird nach den Voraussetzungen, unter denen Bildungsprozesse zum Bedürfnis und zur subjektiv erlebten Notwendigkeit werden, um eine Transformation des eigenen Welt- und Selbstbezugs einzuleiten. Bildung ist dieser Auffassung zufolge nicht eine bereitliegende gesellschaftliche Ressource, auf die ohne weiteres zurückgegriffen werden kann, sondern wird als jeweils neu von den Individuen zu entwickelnder »Prozess der Be- oder Verarbeitung widerständiger Erfahrung«1 verstanden, wenn bisherige Orientierungen sich als nicht mehr tragfähig erweisen. Sie soll Möglichkeiten schaffen, im Rahmen höherstufiger Lernprozesse zu einem neuen Verhältnis zur Welt und zum eigenen Selbst zu gelangen. Die Urszene dieser Ableitung des Bildungsprinzips aus dem Einbruch tradierter Orientierungen entwickelt Hegel, wie bereits dargestellt, im Kapitel VI »Der sich entfremdete Geist. Die Bildung« der »Phänomenologie des Geistes«. Er beschreibt die »Welt der Bildung« als Reaktion auf einen plötzlich über die Subjekte hereingebrochenen Einsturz bisher gültiger Wertmaßstäbe. Fast übergangslos verlieren die überlieferten Meinungen und Sinn-Garantien ihren Wert, die Individuen sind auf sich allein
1
Rainer Kokemohr (2007), Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie. In: H.-Chr. Koller., W. Marotzki, O. Sanders (Hg.), Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld, S. 13-68, hier S. 25.
298
Transformationen des Bildungsbegriffs
gestellt. Durchgespielt wird dies am Fall eines Vasallen und der Frage, was aus ihm wird, wenn das Herrschaftssystem, dem er diente, aufgehört hat zu existieren. An der Schwelle zur Moderne, dieser »Ahnung eines Unbekannten«,2 bekommt für ihn die politische Autorität, mit der er sich identifiziert hatte, und damit auch seine Lebensform, zunächst Risse und bricht dann vollends ein. In einem langwierigen Prozess zunehmender politischer Schwierigkeiten und Enttäuschungen muss sich der Vasall eingestehen, dass seine Orientierung an den bestehenden Autoritäten nicht mehr aufrecht zu erhalten sind. In tiefer Treue zu seinem Herrn hatte er an der Befestigung von dessen Macht mitgewirkt, war von der Richtigkeit all dessen überzeugt, in dessen Dienst er sich gestellt hatte, und muss in einem langen Leidensprozess erkennen, dass diese Macht längst korrumpiert und ihr Herrschaftsanspruch hohl geworden ist. Sie hat buchstäblich abgewirtschaftet und löst sich schließlich auf. Für den Vasallen bedeutet dies nicht nur den Zusammenbruch seiner bisherigen Welt, sondern sogar seiner eigenen Identität; er findet sich durch die Selbstzerstörung der bisherigen Machtverhältnisse freigesetzt, bevor er sich aus eigener Kraft von ihnen lossagen kann, und fällt ins Nichts. In einer Ruinenlandschaft, in der »alles, […] was Gesetz, gut und recht heißt, auseinander und zugrunde gegangen« ist,3 sieht er sich gänzlich verwiesen auf sich selbst; alles bisher Geglaubte muss auf den Prüfstand, auch das eigene Selbst in seinen nun problematisch gewordenen Loyalitäten. Die »Sprache der Zerrissenheit« ist der Ausdruck dieses Zwischenzustands, in dem Altes nicht mehr gilt und Neues noch nicht Gestalt annimmt, sie ist aber auch das einzige Medium, um die eigene Situation begreifen zu können. Der Vasall hatte sich in den Dienst der Macht gestellt, war ihr Sprachrohr und ausführendes Organ, und ist nun in jeder Beziehung zur Entwicklung von Eigenständigkeit gezwungen. Diesem Prozess gibt Hegel den Namen »Bildung«.4 Zwei Sachverhalte lassen sich durch diese Vignette in ein deutlicheres Licht tauchen: Zum einen, dass die reflexive Wende, die den Eintritt in die Moderne markiert, nicht aus einer überschießenden Neigung zu Selbstthematisierung und Selbstproblematisierung entspringt, sondern aus einem Wegbrechen von Sicherheit gebenden äußeren Strukturen resultiert. Der Selbstbezug ist Ausdruck einer Situation, die neue Verhaltensformen erfordert. Der »Vasall« Hegels wird durch das Wegbrechen haltgebender Konventionen in die Notwendigkeit hineingestoßen, postkonventionelle Einstellungen zu entwickeln, und zwar unter Schmerzen. Das zweite Moment, auf das Hegel aufmerksam macht, ist die völlige Neuartigkeit und Unvertrautheit der Situation, in der sich der ehemalige Vasall wiederfindet und die ihn weitgehend überfordert. Er muss die Kräfte erst heranbilden, die es ihm erlauben, mit dieser Situation fertig zu werden; die Mittel dazu liegen nicht bereit. »Die Sprache der Zerrissenheit aber ist die vollkommene Sprache und der wahre existierende Geist dieser ganzen Welt der Bildung.«5 Sie ist keine Sprache der Situationsanalyse und der Formulierung von Handlungsplänen, sie muss alle Möglichkeiten für eine Einsicht in die eigene Situation erst noch entwickeln. Vielleicht wird dies den in die Freiheit einer Umwertung aller Werte entlassenen
2 3 4 5
G.W.F. Hegel (1986), Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3. Frankfurt a.M., S. 18. Ebd., S. 382. Ebd., S. 384. Ebd.
9. Umstellungsprozesse des Bewusstseins
ehemaligen Vasallen nicht davor schützen, von einem Wiederaufleben alter Machtverhältnisse auf veränderter und verbesserter Grundlage zu träumen und sich selber als Garanten dafür auszuersehen. Aber dies soll ja ein Bildungsprozess sein; etwas Neues bildet sich aus, mit einem Wiederaufleben alter Strukturen, nur mit verändertem Personal, ist es nicht getan. Vielleicht ist dies auch gar nicht möglich, da auch die alten Wertvorstellungen bezüglich Gut und Böse, Richtig und Falsch den Zusammenbruch der alten Ordnung nicht unbeschadet überstanden haben. All dies muss neu überdacht werden und dies findet im Dialog mit anderen statt.6 Auch Humboldts Reflexionen liegt eine Beunruhigung zugrunde, die Wahrnehmung, mit einer Welt konfrontiert zu sein, die als entfremdend, als verwirrend und beunruhigend empfunden wird. Angesichts der Vervielfachung der Wissensgebiete bestehe das Bedürfnis, so Humboldt, »der zerstreuenden und verwirrenden Vielheit zu entfliehen«. Es gibt nur einen Fixpunkt, der sich in allen Umbrüchen durchhält: das eigene Selbst.7 Die Notwendigkeit, sich selbst verständlich zu werden wird zur vorrangigen Aufgabe von Bildung. Damit es »in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere«, arbeitet es daran, »die Masse der Gegenstände sich selbst näher[zu]bringen« und »diesem Stoff die Gestalt seines Geistes auf[zu]drücken«.8 Während sich jedoch bei Humboldt ein Gefühl der Bedrohung eher latent in der Angst vor Selbstverlust ausspricht und auf der manifesten Ebene Vorstellungen von Selbststeigerung und Selbstverstärkung durch »Lebhaftigkeit der Sinnlichkeit, Feuer der Einbildungskraft, Wärme des moralischen Gefühls, Stärke des Willens, alle geleitet und beherrscht durch die Kraft der prüfenden Vernunft« dominieren,9 hat sich für Hegels »Vasall« das Bedrohliche bereits zu einer Krise ausgewachsen, in der nichts bleibt, wie es war. Der Sonderfall des Zusammenbruchs ist hier zur Grunderfahrung geworden, und es sei dieses Klima, so Hegel, in dem das Bedürfnis nach neuem Welt- und Selbstbezug, einem anderen Wissen und einer neuen Ordnung des Denkens entstehe. Bildung ist in der Erzählung vom Vasallen nicht mehr ein Prozess kontinuierlicher Entwicklung, Entfaltung und Erweiterung der eigenen Fähigkeiten (wie dies Herder und Humboldt gesehen hatten), sondern die Suche nach Möglichkeiten, sich in einer existentiellen Situation neu zu orientieren. Reflexionsfähigkeit soll die Mittel bereitstellen, das Verständnis der eigenen Situation neu zu ordnen und zu begreifen, was unvorbereitet als Verhaltensanforderung in das eigene Leben einbricht. Dies verändert das bisherige Verständnis von Bildung als graduelle Anreicherung der bisherigen Möglichkeiten durch die bloße Aneignung bereits vorhandener kultureller Ressourcen und Wissensvorräte; in den Vordergrund tritt im Krisenmodus die Arbeit an den Begriffen und Strukturen, die ein neues Verständnis von Welt und Selbst möglich machen.
6 7 8 9
Vgl. ebd., S. 385. W. v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, a.a.O., Bd. I, S. 238. Ebd., S. 237. W. v. Humboldt, Über Religion, a.a.O., Bd. I, S. 1-32, hier S. 15.
299
300
Transformationen des Bildungsbegriffs
9.2
Wissenwollen und die Stufen des Lernens
Dass Krisenerfahrungen bei Hegel zur Einführung des Bildungsbegriffs führen, findet eine Fortsetzung bei Neubestimmungen von Bildung im 20. Jahrhundert. Wenn HansChristoph Koller (2010) als Ausgang von Bildungsprozessen Situationen bestimmt, für deren »Bewältigung die Figuren des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr ausreichen«,10 könnte dies als Beschreibung der Situation des Hegelschen Vasallen gelten, der sich genötigt sieht, eine Welt konventioneller Loyalitäten zu verlassen und in eine neue »Welt der Bildung« einzuwilligen. Der – inzwischen herrenlose – Vasall nimmt von hergebrachten Denkmustern Abstand (z.B. Freund-Feind-Schemata oder Verschwörungstheorien), um sich seine neue Situation, die eine der Entwurzelung ist, verständlich zu machen, und dazu wechselt er die Ebene seiner Versuche, die eigene Situation zu begreifen. An die Stelle von kontinuierlichen Entfaltungsprozessen tritt die Bewältigung von Brüchen, die ein Umlernen und sogar ein Aufgeben der bereits vorhandenen Denk- und Verhaltensmuster erfordern. Damit treten Strukturen der Organisation und Reorganisation von Erfahrung in das Zentrum bildungstheoretischer Reflexion. Es war insbesondere W. Marotzki (1990), der auf die Bedeutung dieser strukturtheoretischen Perspektive auf Bildungsprozesse aufmerksam gemacht hat. Sie impliziert eine neue Aufmerksamkeit für formale Eigenschaften des Welt- und Selbstbezugs für kognitive Operationen von unterschiedlicher Komplexität, von einfachen Lernprozessen, die mit dem Schema des Wenn-Dann auskommen, bis hin zu Bildungsprozessen als fortlaufender Überprüfung des eigenen Verständnisses der Welt und der Konsequenzen, die dies für das Selbstverhältnis hat. Seine strukturtheoretische Deutung von Bildungsprozessen als höherstufigen Lernprozessen entwickelt Marotzki, indem er einen Gedankengang von G. Bateson aufnimmt, der in seinem Aufsatz »Die logischen Kategorien von Lernen und Kommunikation« aus dem Jahre 1964 eine Stufenfolge von Problembearbeitungen darstellt, die zugleich eine Transformation eigener Haltungen und Einstellungen bedeutet. Wenn Marotzki hier den Begriff der Transformation aufgreift, knüpft er an eine Konjunktur dieses Begriffs in Bildungstheorien seit den 1980er Jahren an, und dabei gibt er diesem Begriff eine Wendung, die von einiger Tragweite ist. Es handelt sich um eine Bedeutungsverschiebung, die im Rückgang auf einen Aufsatz von Helmut Peukert aus dem Jahre 1988 kurz skizziert werden soll. Dort spricht Peukert in einer klarsichtigen Bestandsaufnahme der destruktiven Tendenzen gegenwärtiger Lebensformen von der Notwendigkeit einer »Transformation des Bewusstseins und des Handelns.«11 Bildungssysteme hätten bisher zur Teilnahme an den »Mechanismen der Machtsteigerung« ausgerüstet, anstatt »historisch sedimentierte Verhaltensweisen von einzelnen und von Gruppen zu transformieren« mit dem Ziel eines friedlichen gemeinsamen Le-
10
11
Hans-Christoph Koller (2010), Grundzüge einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. In: Andrea Liesner/Ingrid Lohmann (Hg.), Gesellschaftliche Bedingungen von Bildung und Erziehung, Stuttgart, S. 288-300, hier S. 289. Helmut Peukert (1988), Bildung – Reflexionen zu einem uneingelösten Versprechen. In: Bildung – Die Menschen stärken, die Sachen klären. Friedrich Jahresheft VI, S. 12-17, hier S. 15.
9. Umstellungsprozesse des Bewusstseins
bens.12 Peukert steht mit einer solchen Diagnose nicht allein, deren Problem jedoch ist, dass sie in der Regel in je nach Perspektive leicht divergierenden Aufgabenkatalogen mündet, um deren Erfüllung sich Bildungsangebote kümmern sollen. Diese transitiv gedachte Bildung soll eingreifen, herstellen, verändern, zum Guten wenden, und zwar durch Einflussnahme auf das Bewusstsein. Sie folgt damit derselben Logik instrumentellen Denkens, das zuvor als Verursacher der destruktiven Wendung der Zivilisation identifiziert wurde. Die Kraft dazu soll ihr dadurch zuwachsen, dass sie Teil eines umfassenden »Entwurf[s] einer humanen Kultur auf einer neuen Stufe« sein soll.13 Peukert erinnert daran, dass es Aufgabe von Pädagogik sei »zu befähigen«,14 sie soll bewirken, transformieren, auf die »Genese von Subjekten« zielen durch »normatives pädagogisches Handeln«.15 Kurze Zeit später, z.B. bei Marotzki (1990), macht jedoch der Begriff der Transformation selbst eine Transformation durch. Die Rede ist nun nicht mehr davon, Bewusstseinsformen oder Verhaltensweisen anderer pädagogisch zu transformieren, sondern es wird nun von einer Transformation ausgegangen, die das Individuum selbst an sich vollzieht. In Antwort auf neue Problemlagen sieht es sich zu Lernprozessen motiviert, die auf neue »Welthaltungen« zielen.16 Diese Lernprozesse lassen sich als Abläufe von zunehmender Komplexität beschreiben und werden von Marotzki ab einem bestimmten Punkt, nämlich dann, wenn dieses Lernen sich auf die eigenen Prämissen richtet und sie der Reflexion, vielleicht sogar Revision unterzieht, als Bildungsprozess verstanden. Dabei greift er auf Überlegungen zurück, die von Gregory Bateson 1964 in dem erwähnten Aufsatz entwickelt wurden.17 Bateson entwirft eine mehrstufige Folge von Lernprozessen, in denen ein lernendes Subjekt aus den Inhalten und dem Verlauf eines Lernschrittes auf einer jeweils höheren logischen Ebene Schlüsse zieht, d.h. diesen Vorgang zum Gegenstand eines erneuten und weitergehenden Lernens macht. Die einfachste Art des Lernens, Bateson bezeichnet sie als Stufe Null, wäre ein bloßes Erlernen von Reaktionen in Gestalt von Wenn-dann-Schemata, aber bereits wenn solche Abläufe zum Gegenstand von Fragen werden wie z.B. »Habe ich hier einen Fehler gemacht? Wie lässt er sich vermeiden?« werden, wenn es mit anderen Worten um die Optimierung solcher Abläufe geht, ist die Ebene von Lernen I beschritten. Auf der nächsthöheren Ebene, Lernen II, werden diese Erfahrungen ihrerseits zum Gegenstand der Überprüfung, z.B. hinsichtlich der Frage, ob daraus allgemeine Regeln, die das Lernen erleichtern, ableitbar sind, oder ob das erworbene Wissen übertragbar ist auf neue Situationen; Interpunktionen im Sinne
12 13 14 15
16 17
Ebd., 12. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd. Dadurch findet sich freilich Pädagogik in einer Reihe mit anderen Interessenten wieder, die alle etwas durch Einflussnahme auf das Bewusstsein der Individuen bewirken wollen. Bei diesem Wettbewerb gerät Pädagogik leicht ins Hintertreffen, da die Mitbewerber in der Regel einfachere, leichter zu erfüllende Zielsetzungen haben. W. Marotzki (1990), Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Weinheim, S. 32. Gregory Bateson (1983), Die logischen Kategorien von Lernen und Kommunikation. In: Ders. Ökologie des Geistes. Frankfurt a.M., S. 362-399.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
der Unterscheidung einzelner Phasen, die Bündelung konkreter Erscheinungen in Gestalt von Klassifikationen und deren Subsumption unter eine einzige Kategorie werden so möglich. Erwartungshaltungen entstehen in Erinnerung an vorangegangene Lernprozesse, und die Bedeutung anderer Personen und ihr Einfluss auf die Lernsituation werden zum Thema. Lernen III ist wiederum vor allem ein Bewusstmachen der Erfahrungen auf der Ebene II. In gewisser Weise stellt diese Ebene einen Sprung gegenüber den vorangegangenen Ebenen des Lernens dar, denn hier werden nun besonders die Rahmenbedingungen von Lernen II zum Gegenstand, z.B. die Prämissen, die dem in Lernen II erworbenen Wissen zugrunde liegen, z.B. in ihm zum Ausdruck kommende Wertungen oder Machtansprüche. Vor allem dann wird die Entwicklung dieser Ebene nötig, wenn es auf der Ebene von Lernen II zu Konflikten oder Widersprüchen gekommen ist, die das lernende Subjekt zu analysieren versucht. »Das Lernen III wird … diese ungeprüften Prämissen in Frage stellen und der Veränderung aussetzen.«18 Nicht mehr die Übertragbarkeit des erworbenen Wissens ist nun von Interesse, sondern die Beurteilung seiner Konsequenzen und das Durchspielen unterschiedlicher Perspektiven. Dabei entsteht in der Regel auch »ein mehr oder weniger einheitliches Bild der Welt«.19 Prämissen dritter Ordnung enthalten Aussagen über den Sinn, den man seinen Erfahrungen zumisst. Insofern dies auf den Entwurf alternativer Verhaltensmöglichkeiten zielt, bedeutet es auch eine »Transformation des Selbstbezugs«.20 Obwohl in dieser Stufenfolge einfache Handlungskorrekturen zunehmend durch weitausgreifende Reflexionsprozesse ersetzt werden, die sich vor allem auf Fragen der Wertung und eigenen Haltung beziehen, bleibt dieses Lernen nicht bei der Ebene des Situationsverständnisses stehen. Bateson entwirft eine Stufenfolge vom einfachen Ausführen von Anweisungen und der Übernahme von Verhaltensregeln über die selbständige Korrektur dieser Abläufe bis hin zum Entwurf von Handlungsalternativen oder zur Distanzierung von den in den Aufgabenstellungen implizierten Handlungszwängen überhaupt. Zustande kommt dieser letzte Schritt durch einen Prozess mehrfacher Überprüfungen der gemachten Erfahrungen, jedoch stets mit Blick auf eigene Handlungskonsequenzen, wie auch alle anderen Lernschleifen bezogen sind auf praktische Konsequenzen, von der bloßen Optimierung bis hin zum Ausloten von alternativen Einstellungen und Verhaltensmöglichkeiten. Wie diese Abfolge konkret vorstellbar sein könnte, möchte ich anhand des Lernprozesses eines fiktiven Kindes zu illustrieren versuchen. In einem ersten Schritt lernt es vielleicht im Haushalt eine bestimmte wiederkehrende Aufgabe zu übernehmen, z.B. das Ausräumen der Spülmaschine. Dies wäre die Lernebene Null. Auf Lernebene I wird es im weiteren Verlauf vermutlich lernen, dass 18 19
20
G. Bateson, ebd., S. 392. Paul Watzlawick u.a. (1969), Menschliche Kommunikation – Formen, Störungen, Paradoxien. Stuttgart, Wien, S. 243. Anknüpfend an Batesons Lernstufen-Theorie legt Watzlawick vor allem Nachdruck darauf, dass mit der Ebene III ein Nachdenken über die Welt, wie sie sein sollte und damit Fragen der Sinngebung entstehen. Damit wird aber zugleich auch Kritik und der Entwurf anderer Lebensmöglichkeiten zum Thema. Für Watzlawick sind Lernprozesse mit dem Erreichen der Stufe III noch längst nicht abgeschlossen, da Konflikte und Dilemmata auf der jeweiligen Stufe jeweils eine übergeordnete erfordern, von der aus sie erst lösbar werden (ebd., S. 248). W. Marotzki, a.a.O., S. 48.
9. Umstellungsprozesse des Bewusstseins
man dies gut und schlecht machen kann und dass gut/schlecht davon abhängt, ob man bestimmte Dinge beachtet: Die Dinge an ihren richtigen Platz stellen etc. Es lernt: Eine Sache tun hat einen Kontext von Regelungen, die die Erwachsenen erfunden haben, dass man aber auch eigene Erfindungen zur Verbesserung machen kann, z.B. dass man Dinge, die häufig gebraucht werden, umstellen kann, damit sie besser erreichbar sind. Es hat gelernt sich nach diesen Vorgaben zu richten, aber auch sie zu optimieren, und zwar so, dass alle zufrieden sind. Auf Lernebene II wird es die schmerzliche Erfahrung machen, dass diese Zufriedenheit der anderen nicht immer nur von der eigenen Leistung abhängt. Manchmal wird es für etwas gelobt, das vorher viele Male unbemerkt geblieben ist, manchmal kann es niemandem etwas recht machen, obwohl es sich Mühe gibt. Es lernt: Die Regeln, die es gelernt hat, und die Strukturen, die es selbst erfunden hat, sind ihrerseits in einen Kontext eingebettet, der auf das Arbeitsergebnis Einfluss hat. Dieser Kontext wird durch die Beziehungen gebildet, die alle in der Familie zueinander haben, aber auch durch externe Faktoren, die Stimmung, die diese Menschen von der Arbeit mit nach Hause bringen, die jeweilige Tagesform. Das Kind lernt, dass man auf solche Kontexte achten muss, wenn man nach Erklärungen dafür sucht, warum es in ganz ähnlichen Situationen manchmal Lob und manchmal Tadel gibt. Es lernt darüber nachzudenken, wie es zu den Stimmungsschwankungen der Erwachsenen kommt, macht sich Gedanken über deren Beziehungen zueinander und beurteilt ihre Verhaltensweisen. Vielleicht denkt es auch über den Kontext nach, in dem seine eigenen Wahrnehmungen auf der Lernebene II stattgefunden haben und entdeckt, dass sein Gefühl der eigenen Abhängigkeit ebenfalls eine Rolle spielt. Dies sind Lernprozesse auf der Ebene III: Vielleicht fragt es sich, warum das Lob der Anderen ihm so wichtig ist. Es lernt, dass es nicht einfach ist, sich davon unabhängig zu machen und dass es einige der eigenen Verhaltensweisen selbst nicht versteht. Es lernt: Der eigene Handlungserfolg hängt einerseits auch vom Kontext ab, den das Beziehungsgefüge bildet, aber dies hat wiederum einen Kontext, den es sich nur mit Mühe klarmachen kann. Dieser Kontext wird von Arbeitsbedingungen, Lebensbedingungen, politischen Bedingungen bestimmt. Es kann versuchen, sich auf den Standpunkt der verschiedenen Beteiligten zu stellen. Es begreift: Zu diesem Beziehungsgefüge gehört es selbst und steht doch zugleich außerhalb, indem es darüber nachzudenken beginnt, ob es Alternativen in der Einstellung zum Erlebten oder im eigenen Verhalten geben könnte. Es kann in Frage stellen, ob bestimmte Konventionen, Gewohnheiten, Rituale, die das gemeinsame Leben bestimmen, sinnvoll sind, es kann Ideen entwickeln, was verändert werden müsste. Diese Stufenfolge beschreibt zweifellos einen Transformationsprozess, der nicht nur die Wahrnehmung der Außenwelt betrifft, sondern auch das eigene Selbstverständnis. Eine Abfolge von Lernerfahrungen hat stattgefunden, die vom Ausführen von Anweisungen über die Optimierung dieser Prozesse hin zur Aufmerksamkeit auf die Bedingungen, unter denen die Abläufe stehen, und schließlich zur Klärung der eigenen Position in diesem Beziehungsgefüge führt. Dieser idealtypische Lernprozess – Bateson betont, dass es ihm selbst vor allem um die Unterscheidung logischer Typen in
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Prozessen des Lernens geht – führt zu einer Vergrößerung von Freiheitsspielräumen,21 denn am Ende können eigene Gewohnheiten zur Disposition gestellt, der Schein des Selbstverständlichen im Verhalten anderer aufgelöst und damit Alternativen denkbar werden. Zwischen Lernen und Bildungsprozessen wird ein Kontinuum hergestellt: In einer beständigen Erweiterung des Radius der Lernerfahrungen findet nicht nur ein beträchtlicher Komplexitätszuwachs der Lernaufgaben statt, was ebenfalls auffällt ist, dass es beim Lernen auf Stufe III in erster Linie darum zu gehen scheint, Licht in den eigenen Selbst- und Weltbezug zu bringen. Insofern weist diese Lernebene eine gewisse Ähnlichkeit mit den klassischen Bestimmungen von Bildung im 18. Jahrhundert auf: Hier wie dort steht eine Erweiterung der Perspektive durch die wachsende Aufmerksamkeit für den Zusammenhang zwischen Eigenem und Fremdem im Mittelpunkt. Bateson stellt dies als einen Klärungsprozess dar, der ganz ohne Blick auf Ausbildung und Nützlichkeitserwägungen stattfindet, da er seine Dynamik allein aus der Notwendigkeit bezieht, die eigene Position in einem Geflecht sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Widersprüche zu durchschauen. Diese Versuche Erklärungen zu finden richten sich auf determinierende Kontextfaktoren und können, wenn die Diskrepanzerlebnisse nicht aufhören, immer komplexer werden. Sie entspringen offenbar einer spontanen Produktivität und Kreativität der eigenen Suche nach Antworten.22 Der Erwerb von Kenntnissen, ein Aspekt, der ja bekanntlich ab dem 19. Jahrhundert zunehmend mit Bildung gleichgesetzt wird, spielt hier kaum eine Rolle, Wissenserwerb jedoch durchaus. Dieses Wissenwollen geht von der Diskrepanz zwischen den eigenen Erwartungen und der tatsächlichen konflikthaften Realität aus und ist ein Versuch, solche Konflikte oder einfach nur das Zurückbleiben einer Situation hinter den eigenen Vorstellungen zu verstehen, und es richtet sich auf mögliche Erklärungen, die nicht offensichtlich sind, wägt ab, betrachtet den eigenen Anteil an einer Situation bzw. ihre Entstehungsbedingungen und ist insofern eine Form der Erfahrungsverarbeitung, die als Reflexivität bezeichnet werden kann. Schlüssel zu diesen Prozessen ist der Begriff der Problemverarbeitung, die auf verschiedenen Ebenen stattfinden kann. Ab einer bestimmten Stufe schlagen diese Formen der Problembewältigung, so Marotzki, in Bildungsprozesse um. »Bildungsprozesse stellen Lernprozesse auf höherstufigen Niveaus dar. Sie sind aufgrund der erreichten gesellschaftlichen Komplexität immer stärker vonnöten.«23 Worauf es Marotzki bei diesem Hinweis ankommt, ist dass diese Prozesse zwar auf gesellschaftliche Problemlagen und die damit verbundene »Veränderung des Komplexitätsniveaus« reagieren, davon aber nicht determiniert sind.24 Vielmehr geht er von einer zunehmenden, gesellschaftlich begründeten, aber in ihren Erscheinungsweisen nicht vorgegebenen Aktivierung von Produktivität und Kreativität aus. »Denn das war Batesons Einsicht, dass von Lernebene zu Lernebene die Flexibilität und damit Freiheit des Subjekts steigt, mit
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G. Bateson, a.a.O., S. 393. Darin ähneln sie der bereits von F. Schlegel entworfenen Theorie der Reflexionsstufen; vgl. W. Benjamin (1973), Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Frankfurt a.M., S. 23ff. W. Marotzki, a.a.O., S. 52. Ebd., 53.
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den eigenen Lernbedingungen umzugehen.«25 Es seien die höherstufigen Lern- und Bildungsprozesse, die ein »kreatives, durch Freiheit bestimmtes Umgehen mit Welt« ermöglichen würden.26 Damit grenzt sich Marotzki gegen Interpretationen des Batesonschen Stufenschemas in Kategorien einer subjektlosen Adaptation an neue Kontexte ab. Gegen Lernen in seiner systemischen Deutung als bloßer Selbstreproduktion von Strukturen betont Marotzki insofern die Bedeutung von Kreativität, von der die individuellen Herangehensweisen an die Problembearbeitung geprägt ist. »Mit steigender Stufe wird der Freiheitsgrad in der Gestaltung der Umweltbeziehungen größer«.27 Es ist die Freiheit, Stellung nehmen zu können zu einer Situation, theoretisch wie praktisch.
9.3
Transformatorische Bildungsprozesse
Von Anfang an, d.h. seit den ersten programmatischen Entwürfen des 18. Jahrhunderts, treten Bildungstheorien an, den statischen Subjektbegriff der Philosophie durch Vorstellungen von Entfaltung und langfristigen Veränderungsprozessen zu ersetzen. In den Mittelpunkt treten nicht nur Prozesse der Erweiterung eigener Perspektiven und der Entfaltung individueller Fähigkeiten, sondern vor allem auch Vorstellungen von der prinzipiellen Offenheit dieser Prozesse. Dabei wird dies traditionell als Aktualisierung von Fähigkeiten angesehen, die im Individuum angelegt sind, während sich bei der Wiederaufnahme bildungstheoretischer Diskussionen im 20. Jahrhundert die Aufmerksamkeit auf »neue Dispositionen der Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von Problemen« richtet.28 Bildungsprozesse können nun also die Gestalt radikaler Veränderung oder sogar eines Bruchs mit den bisherigen Grundlagen von Denken und Handeln bedeuten, sie werden zur Transformation und sind nicht lediglich Erweiterung von Fähigkeiten. Am explizitesten wird dieser Schritt in der »Theorie transformatorischer Bildungsprozesse«, die die von Rainer Kokemohr, Hans-Christoph Koller und anderen seit den 1990er Jahren ausgearbeitet worden ist. Sie verstehen Bildung als »Veränderung der grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses von Menschen« in Antwort auf gesellschaftliche Situationen, die erlernte Bewältigungsstrategien außer Kraft setzen.29 Gemeint sind tiefreichende und in ihrer Dynamik offene Transformationsprozesse als Antwort auf Krisenerfahrungen. Hegel spielte dies durch in seiner Erzählung vom Vasallen und dessen Entdeckung eines »Reichs der Bildung«: Für ihn erwuchsen Bildungsprozesse aus der Unmöglichkeit, sich noch länger im Rahmen überlieferter Loyalitäten oder konventioneller Sittlichkeit auf andere und sich selbst zu beziehen. Die »Theorie transformatorischer Bildungsprozesse« legt eine
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Ebd. Ebd., S. 49. Ebd., S. 53. Hans-Christoph Koller (2018), Bildung anders denken. Stuttgart, S. 16. Ebd., S. 15, vgl. auch R. Kokemohr (2007), Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden, a.a.O., S. 21.
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ähnliche Denkfigur zugrunde, aber sie versteht Wandel noch grundlegender als Infragestellung vorhandener mentaler Ordnungsrahmen und Denkvoraussetzungen sowie deren Überführung in höherstufige Lernprozesse. Es wurde bereits deutlich, dass Marotzki auf den Begriff der Transformation zurückgreift, um Lernprozesse, die auf Veränderungen innerhalb vorgegebener Rahmen zielen, von Prozessen höherstufigen Lernens zu unterscheiden, die solche Rahmen selbst transformieren. Solche Lernprozesse, so Marotzki, »habe ich Bildungsprozesse genannt.«30 Denn es gehe hierbei nicht lediglich um eine quasi technische Erweiterung der Möglichkeiten, eine Lernaufgabe zu bewältigen, sondern um eine »Transformation der Welt- und Selbstreferenz«.31 Kokemohr und Koller greifen diese Ansätze auf, verschieben aber den Fokus von der Veränderung der »Interpunktionsweise« in der Interpretation eigener Erfahrungen, wie sie für Bateson im Vordergrund stand, hin zur Frage, wie Menschen mit Situationen umgehen, die sie mit neuartigen Problemkonstellationen konfrontieren – »mit Problemen […], für deren Bearbeitung ihnen keine angemessenen Mittel zur Verfügung stehen.«32 Dabei ist an Situationen gedacht, die nicht einfach durch zusätzliches Wissen handhabbar werden, sondern zur Infragestellung bisheriger Ordnungsschemata führen und damit zu einer »Transformation des eigenen Welt- und Selbstverhältnisses«. Radikal entfernen sich Kokemohr und Koller damit von Auffassungen, die Bildung auf kulturelle Teilhabe reduzieren oder von Vorstellungen eines persönlichen Wachstums als Aktualisierung individueller Anlagen. Beide Autoren stellen Erfahrungen in den Mittelpunkt, »für deren Bearbeitung keine etablierten Routinen zur Verfügung stehen«,33 und die insofern auch nicht durch die Aktivierung bereits vorhandener Ressourcen und deren Anwendung auf eine neue Situation bearbeitbar sind. Kokemohr führt in diesem Zusammenhang den Begriff der »subsumtionsresistenten Erfahrung« ein und meint damit eine Erfahrung, die sich der Einordnung und Klassifikation entzieht.34 Sie ist vor allem dadurch charakterisiert, dass sie die bisher zur Verfügung stehenden Denk- und Verhaltensmuster übersteigt. Situationen, in denen solche Erfahrungen gehäuft auftreten, werden als Krise wahrgenommen. Vor allem auf die krisenhafte Erfahrung des Fremden, die Routinen außer Kraft setzt und im weitesten Sinne ein Umlernen in Gang setzt, richtet sich dabei die Aufmerksamkeit. Dabei steht es dem Individuum natürlich auch frei, solche Ansprüche zurückzuweisen und mit »Abdunkelung, Abwehr, Negation, Diffamierung oder Umdeutung« auf sie zu antworten.35 Was aber darüber entscheidet, krisenhafte Diskrepanzerlebnisse in der einen oder der anderen Richtung zu verarbeiten, entzieht sich generalisierenden Aussagen, und die Autoren, die an der Formulierung einer »Theorie transformatorischer Bildungsprozesse« beteiligt sind, ziehen daraus die Konsequenz, konkrete Bildungsbiographien zu untersuchen und damit einen bedeutenden Schritt in der Herauslösung des Bildungsbegriffs aus normativen Vorgaben zu machen.
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W. Marotzki (1990), a.a.O., S. 52. Ebd., S. 53. H.-Chr. Koller (2010), Grundzüge. In: Liesner/Lohmann (Hg.), a.a.O., S. 288. Ebd., S. 291. R. Kokemohr (2007), Bildung als Welt- und Selbstentwurf, a.a.O., S. 21. Ebd.
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Einen Ansatz zur Konkretisierung einer »Theorie transformatorischer Bildungsprozesse« leistet Koller (2018), indem er neuere theoretische Ansätze aus dem philosophischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Bereich zusammenstellt, die eben solche Veränderungen der »Dispositionen der Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von Problemen« zum Gegenstand haben.36 Dabei geht es ihm in einem ersten Schritt um nichts Geringeres als um »die Frage nach der Struktur und Genese des Verhältnisses, in dem Subjekte zur Welt, zu anderen und zu sich selbst stehen«,37 um dann in einem zweiten Schritt die Fragestellung einzugrenzen und nach theoretischen Ansätzen zu suchen, die es ermöglichen, Anlässe für transformatorische Bildungsprozesse zu identifizieren. In einem dritten Schritt sucht Koller in den Theorien zur Entstehung des Neuen nach Hinweisen, wie Bildung als »Hervorbringung neuer Figuren des Weltund Selbstverhältnisses« denkbar ist,38 bevor er sich Möglichkeiten der empirischen Überprüfung dieses Konzepts zuwendet. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf Kollers Suche nach einer theoretischen Fundierung transformatorischer Bildungsprozesse. Da es in Kollers Verwendung des Transformationsbegriffs nicht nur um Kognitionen, sondern um die Veränderung grundlegender Verhaltensdispositionen geht, bekommt Bourdieus Kategorie des Habitus und seine Prämisse Bedeutung, dass sich Habitus nicht auf äußere Rollenkonformität beschränkt, sondern tief in die Ebene des Körpers hineinreicht. Habitus wird von Bourdieu als »›Einverleibung‹ äußerer Strukturen« begriffen,39 wodurch sich thematisieren lässt, wie sich gesellschaftlicher Wandel auf die Verhaltensdispositionen der Individuen auswirkt. Der »Zusammenhang der Habitusformen mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen« drückt sich auf individuell höchst unterschiedliche Weise aus; er zeigt sich in kontroversen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata und führt zu »symbolischen Kämpfe[n] um legitime Sichtweisen«.40 Für Koller entsteht hier die Frage, ob dies als »Ort von Bildungsprozessen« verstanden werden kann, in deren Verlauf es nicht nur »um die Erzeugung sozialer Sachverhalte gehe«, sondern auch um die »Veränderung von Welt und Selbstsichten« der Akteure.41 Dieser möglichen Veränderung von Sichtweisen steht jedoch die »Trägheit individueller Welt- und Selbstverhältnisse« entgegen, wie sie für den Habitus charakteristisch ist. Insofern gelangt Koller zu der Einsicht, dass Bourdieus Habitus-Theorie »Erklärungen weniger für die Möglichkeit als vielmehr für die Unwahrscheinlichkeit transformatorischer Bildungsprozesse« liefert,42 jedoch hat Koller mit dem Hinweis auf Bourdieu die Ebene gesellschaftlicher Machtwirkungen und ihren Einfluss auf präreflexive Verhaltensdispositionen eingeführt: Eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse muss problematisieren, ob und wie diese Ebene Bildungsprozessen zugänglich ist.
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H.-Ch. Koller (2018), a.a.O., S. 16. Ebd., S. 55. Ebd., S. 101. Ebd., S. 24. Ebd., S. 29. Ebd., S. 32. Ebd., S. 26.
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In Abgrenzung zu Bourdieu, bei dem der Habitus tendenziell die Oberhand über Veränderungsimpulse behält, zeigt Koller an rezenten Diskussionen, dass gegenwärtig von einer solchen veränderungsresistenten Identität nur noch »als Problem, nicht als Tatsache« ausgegangen werden kann,43 und diese »stets von Brüchigkeit gekennzeichnet ist.«44 Ihrer Kontinuität und Kohärenz kann sich das Individuum allenfalls narrativ vergewissern, und dies ist eine Erzählung, die »nicht auf einen substantiellen ›Kern‹ der Person rekurrieren muss«.45 Die immer erneute narrative Rekonstruktion eigener Identität schließt durchaus »Täuschung und Illusion« ein; ihre Bedeutung liegt in der Fähigkeit, »von gängigen Normalitätserwartungen abweichende Handlungen zu erklären« und diese in das Selbstkonzept zu integrieren.46 »Selbstverhältnisse (und die mit diesen untrennbar verbundenen Weltverhältnisse) wären demnach prinzipiell als transitorische Gebilde aufzufassen, die Gegenstand immer neuer Refigurationen werden können.«47 Insofern verliert die von Bourdieu eingeführte gesellschaftliche Ebene ihren normativen Charakter, ihr Gegenpol, das Subjekt, aber in gleichem Maße sehr seine innere Kohärenz. Diese in Fluss geratenen Repräsentationen der eigenen Stellung zur Welt und zum eigenen Selbst seien, so Koller, Indikator für »die Brüchigkeit und Instabilität« dieses Verhältnisses, also kein Probehandeln, über das sich das Ich konsolidiert, sondern ein beständig erneuerter Versuch, »anderen und sich selbst verständlich« zu werden.48 Eine Zuspitzung dieser Auffassung findet Koller bei Lacan, bei dem alle Wahrnehmung eigener Identität vollends zur Täuschung wird, eine Täuschung, die tief in die ersten Formen der Selbstwahrnehmung eingelassen ist und »das Subjekt […] ein Leben lang begleiten« wird.49 Denn das kleine Kind, das sich zum ersten Mal im Spiegel erblickt, sieht dort – folgt man Lacan – eine klar umrissene Gestalt, während es sich gleichzeitig als unvollständig, auf andere existentiell angewiesen, in seinen Begierden und Wünschen zerrissen erlebt. Es erzeugt sich im Spiegelbild als Ganzes, wird aber von der Außenwelt darin immer wieder in Frage gestellt. Dies führt zu einer »grundlegenden Aggressivität« oder zumindest zu Schwierigkeiten, anderen Personen seinerseits gerecht zu werden. Überschreiten kann das Subjekt diese unheilvolle Konstellation nur über sein Begehren, das aber belastet bleibt von den unerfüllt gebliebenen frühen Wünschen nach absoluter Nähe. Die andere Person kann in ihrer Andersheit nicht adäquat wahrgenommen werden. »Verkennung und Täuschung« werden zu dauernden Begleitern, »weil die Angewiesenheit auf andere ebenso verleugnet werden muss wie die Differenz zwischen sich selbst und den anderen«.50 Resultat ist ein gebrochenes Verhältnis zu sich selbst, Bedrohlichkeit der anderen und Rivalität mit ihnen. Damit ist eben jene
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Klaus Mollenhauer (1983), Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung. Weinheim, München, zit. Koller (2018), a.a.O., S. 34. Ebd., S. 42. Ebd., S. 37. Ebd., S. 41. Ebd., S. 43. Ebd., S. 44. Ebd., S. 46. Ebd., S. 53.
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präreflexive Ebene angesprochen, auf der Bourdieu die Entstehung von Habitusformationen angesiedelt hatte. Sie ist hier aber nicht mehr Sicherheit gebendes Fundament des Selbst- und Weltverhältnisses, sondern Ausgangspunkt von Täuschungen und Unsicherheit, Austragungsort von Deutungskonflikten. Für Lacan enthält diese konstitutive Unsicherheit in letzter Konsequenz die Chance »für die Infragestellung und Verschiebung etablierter Bedeutungen sowie für die Entstehung neuer Bedeutungen«,51 was allerdings die Bereitschaft voraussetzt, eine reflexive Einstellung zu diesen Erfahrungen zu entwickeln. Sie erst würde die Möglichkeit einer produktiven Veränderung der eigenen Stellungnahmen zu sich und der Welt und neue Verhaltensspielräume schaffen. Wie sich solche Potentiale der Veränderung denken lassen, wird von Koller konkretisiert, indem er auf machttheoretische Analysen von Judith Butler rekurriert. Sie geht (im Anschluss an die Machttheorie Foucaults) von zwei Erscheinungsformen der Macht aus, derjenigen, die auf das Subjekt ausgeübt wird und derjenigen, die es in sein eigenes Verhaltensrepertoire übernimmt und selbst entwickelt. Dies sind zwei Aspekte ein und desselben Prozesses, beide sind darüber miteinander verknüpft, dass die das Subjekt unterwerfende Macht ihren Adressaten auch zum Mitspieler macht: Er oder sie kennt die Regeln, hat sie am eigenen Leib erfahren und sie werden zur Basis der eigenen Handlungsfähigkeit. »Das Subjekt ist für Butler […] nicht entweder das bloße Resultat einer ihm vorausgehenden Macht oder selbst Instanz der Machtausübung, sondern beides zugleich«.52 Wichtig ist ihr, dass das eigene Handeln nicht lediglich eine Wiederholung oder Re-Inszenierung der vorangegangenen Erfahrungen mit Macht ist, die es zuvor in der Rolle des Unterworfenen erlebt hat. Es ist nicht bloßes Produkt von Determination und Einschränkungen durch das Erlittene und steht nicht vor der Alternative von Autonomie oder Heteronomie. Denn selbst dann, wenn es die zuvor an ihm selbst vollstreckten Machstrategien bloß wiederholen würde, enthielte die Individualität der neuen Handlungssubjekte »eine Art Überschuss«, nämlich »ein Potential der Verschiebung oder Veränderung«.53 Machtstrukturen sind in ihren Wirkungen ambivalent, sie enthalten auch Potentiale ihrer eigenen Überschreitung, so Butlers Hoffnung, denn der Handlungsspielraum derer, die sich mit ihren eigenen Erfahrungen mit dieser Macht auseinandergesetzt haben, »übersteigt die sie ermöglichende Macht«.54 Diese Denkfigur kehrt wieder in Butlers Überlegungen zur Dynamik sozialer Anerkennung: Auch hier gehe es um »die Abhängigkeit des Subjekts von einer Instanz, die außerhalb seiner selbst liegt«, einer Angewiesenheit auf andere, die »anfällig für den Einfluss der Macht und gesellschaftlicher Normen« werden lässt.55 Die erfahrenen Reglementierungen führen zum Verzicht im Tausch gegen Anerkennung. Aber dies geschieht nicht ohne »Rest«.56 Zwar unterwirft es sich der reglementierenden Macht, aber seine Trauer
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Ebd., S. 54. Ebd., S. 60. Ebd., S. 61. Judith Butler (2001), Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a.M., zit. Koller, ebd. Ebd., S. 63. Ebd., S. 66.
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oder Melancholie erinnert an das Aufgegebene und kann zum Anlass werden, »gegen die gesellschaftlichen Bedingungen aufzubegehren, die ihm diese Anerkennung verweigern.«57 Unklar bleibe jedoch, so Koller, »wovon es abhängt, ob dieser Anlass und dieses Potential genutzt werden«.58 Das Bild, das Koller durch die Auswahl seiner Referenztheorien hindurch zeichnet, ist ein vielstimmiger Abschied vom sich selbst transparenten Subjekt. Wiederholt wird die formative Kraft von Vorbedingungen dargelegt, die dem Bewusstsein der Subjekte kaum zugänglich sind, aber ihren Habitus und ihre Perspektive auf sich und die Welt bestimmen, und zwar so, dass »sich ein Teil ihres Seins ihrem Bewusstsein und ihrer Kontrolle notwendigerweise entzieht.«59 Dies gilt nicht nur für das Unterworfensein unter prägende Ausgangsbedingungen, sondern ebenso für das Reservoir, aus dem sich ihre Handlungsfähigkeit speist, ihre Fähigkeit zur produktiven Überschreitung des Gegebenen. Statisch ist hier nichts, und diese Instabilität wird für Koller zum Ausgangspunkt, von dem aus jene Transformationen möglich werden, die er als Bildungsprozesse versteht. Deshalb fragt er im zweiten Teil seiner Untersuchung nach den Anlässen, die diese labilen Identitätskonstruktionen in Prozesse einmünden lassen, die das Welt- und Selbstverhältnis klären und transformieren. Damit ist die Frage nach der Art von Problemkonstellationen und Erfahrungen gestellt, die Subjekte zur Suche nach Bildungsprozessen veranlassen können, aber auch, wer oder was transformiert wird und welche Reichweite diese Prozesse haben. Koller erläutert nicht, wie er den Begriff der Transformation verstanden wissen will.60 Denkbar wäre eine Ausdifferenzierung des Transformationsbegriffs in diesem Zusammenhang (soweit ich sehe), indem die sprachliche Klammer »Selbst- und Weltverhältnis« aufgelöst wird und beide Formen zunächst getrennt betrachtet werden. Dies würde wahrscheinlich ergeben, dass der »Weltbezug« nach Ausdifferenzierungen, z.B. entlang der Unterscheidung zwischen Gegenstandsbezug und intersubjektiven Beziehungen verlangt. Zumindest auf dem hier erreichten Stand der Argumentation möchte Koller jedoch offenbar solche Differenzierungen vermeiden. Auf der Suche nach Anlässen transformatorischer Bildungsprozesse arbeitet Koller die Bedeutung krisenhafter Erfahrungen heraus. Wenn der Rückgriff auf bewährte Bewältigungsmuster, tradierte Verhaltensschemata, überlieferte Erklärungsweisen sich als ungeeignet erweist, führt dies entweder zu einer Bereitschaft zu Veränderungen oder einer »Tendenz zum Verharren«, die sich sogar zu einer »Verhärtung der Weltund Selbstbezüge« steigern kann.61 Insofern leitet sich aus der »Brüchigkeit« von psychischen Dispositionen nicht automatisch die Bereitschaft ab, sich auf die Infragestellung bisheriger Welt- und Selbstverhältnisse einzulassen. Krisenerfahrungen können 57 58 59 60
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Ebd., S. 67. Ebd., S. 68. Ebd., S. 58. Erstaunlich formelhaft wird in allen Texten immer wieder von einer »Transformation von Weltund Selbstverhältnissen« gesprochen und dies wird gleichgesetzt mit der »Entstehung neuer Formen des Verhaltens zur Welt, zu anderen und zu sich selber« (ebd., S. 73). Während Marotzki diese Transformationen auf der kognitiven Ebene ansiedelt, fassen Kokemohr und Koller den Transformationsbegriff offenbar weiter. Ebd., S. 71.
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dafür zwar Anlässe bieten, der Grund dafür, dies als Chance zu begreifen, ist damit nicht benannt. Die Entstehung neuer Verhaltensmöglichkeiten verdeutlicht Koller am Begriff des Erwartungshorizonts. Im Rückgriff auf Gedankengänge von G. Buck (1981) bestimmt er Wandlungen eines solchen Horizonts als Bildungsprozesse und hebt hervor, dass es insbesondere negative Erfahrungen sind, die zur Verabschiedung eines bisher gültigen Erwartungshorizonts führen. Horizontwandel bedeutet in diesem Zusammenhang mehr als nur die Korrektur bisheriger Erwartungen. Was ihn mit Bildungsprozessen verbindet ist, »dass ›hinter‹ dem bisherigen, nun negierten Horizont ein neuer Horizont auftaucht, der einen adäquateren Rahmen bildet.«62 Die negative Erfahrung wird dafür zum Ausgangspunkt und macht insofern einen Statuswandel durch: Sie ist nicht mehr »zu vermeidendes Missgeschick«, sondern wird »revolutionierende, das Bewusstsein umkehrende Instanz«.63 Unter den Bedingungen der Krise stellt Bucks Rede vom Horizontwandel jedoch nicht in Rechnung, dass in manchen Fällen »›hinter‹ dem negierten Erwartungshorizont kein neuer, umfassenderer Horizont erscheint, weil die Differenz zwischen dem Erwarteten und der tatsächlichen Erfahrung zu groß bzw. zu radikal ist«.64 Es gelingt dann nicht die Fremdheit der neuen Situation aufzulösen. Die negative Erfahrung radikalisiert sich zu etwas, das »sich jedem Vergleich und Ausgleich entzieht«.65 Um diese Erfahrungen kreisen die Reflexionen von B. Waldenfels, und Koller arbeitet heraus, dass Situationen, die dazu nötigen, die eigenen Denkmuster und Ordnungen des Verstehens zur Disposition stellen, zum Ausgangspunkt von Bildungsprozessen werden können. Historisch entwickelte sich erst spät die Einsicht, dass nicht von dem einen für alle geltenden Logos und der einen, alle umfassenden Ordnung ausgegangen werden kann. Im Umgang mit Fremdem wird eine kulturelle Erfahrung zum Thema, die auch für Prozesse transformatorischer Bildung charakteristisch ist: Nämlich dass man Phänomenen der Fremdheit nicht gerecht werden kann, wenn man die in der eigenen Kultur zuvor entwickelten Denkmuster auf diese Phänomene bloß anwendet. Das Fremde erscheint in seiner eigenen Gestalt, die die eigene Erwartung in Frage stellt. Dennoch kann das Fremde nur aufgefasst werden, wenn es die Grundbedingung aller Erfahrung erfüllt, nämlich »dass uns etwas als etwas, also in einem bestimmten Sinn, einer bestimmten Gestalt […] erscheint«,66 andernfalls wäre es ein Nichts. Der eigene Zugang muss also mitbedacht werden, aber er erschöpft sich nicht darin, bereits vorhandene Kategorien auf das neue Phänomen anzuwenden. Vielmehr wird deutlich, »dass Sachverhalt und Zugangsart nicht voneinander zu trennen sind«,67 eine Erfahrung, die den Blick auf die Gegenstände transformiert. Sie sind nun nicht mehr bloße »Gegebenheiten einer fertigen Welt«68 , und es ist das Individuum, das diesem neuen Sinn zur Artikulation
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Ebd., S. 76. Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Bernhard Waldenfels (1997), Topographie des Fremden. Frankfurt a.M., S. 13. Ebd. Ebd. Ebd.
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verhilft. Erst wenn man sich auf die Erfahrung des Unvertrauten so einlässt, dass sich im Augenblick des Umgangs mit ihm »Sinn bildet und artikuliert«, und zwar ein neuer, in diesem Zwischenbereich sich bildender Sinn, wird das Fremde nicht zum bloßen Anwendungsfall für die Ordnungen, die der eigenen Wahrnehmung zugrunde liegen.69 Koller knüpft in seiner Darstellung der Gedanken von Waldenfels dabei nur an das Moment der Irritation gewohnter Muster an. Jedoch spricht Waldenfels nicht nur vom »Außerkraftsetzen«, sondern auch von einem Sinn, der allererst im Zwischenbereich von fremdem Sachverhalt und der Wahrnehmung durch ein Individuum entsteht: Es ist »Sinn in statu nascendi«.70 Neuer Sinn entsteht im Kontakt von Eigenem und Fremdem und das »Zwischen« ist der Ort des Neuen. Darauf wird in Kapitel 10 näher einzugehen sein. Das Konzept transformatorischer Bildungsprozesse vollzieht diese Erfahrung nach. Koller versteht die beschriebene »Konfrontation mit dem Fremden« als »Irritation, die auf der Außerkraftsetzung einer Ordnung beruht« und insofern die im Anschluss an Buck dargestellte negative Erfahrung radikalisiert.71 Denn durch das Fremde werden nicht lediglich eigene Erwartungen korrigiert, Erfahrungen erweitert, sondern die Ordnung, die den eigenen Wahrnehmungen zugrunde liegt, wird selbst in Frage gestellt. Wenn das, was »dem Wahrnehmen, Denken und Handeln und damit dem Welt- und Selbstverständnis eines Individuums oder einer sozialen Gruppe zugrunde liegt«, auf diese Weise außer Kraft gesetzt wird, sieht sich das Individuum gezwungen, sich nicht nur von seinen Erwartungen, sondern auch von seinen schematischen Denkmustern zu distanzieren. Waldenfels entwickelt zu Anfang seiner Untersuchung diese Überlegungen in einem idealtypischen Raum der Begegnung von Eigenem und Fremdem. Was es heißen könnte, wenn der gesellschaftliche Rahmen solcher neuen Wahrnehmungsformen mitbedacht wird – und das heißt: der Einfluss von Machtverhältnissen – erläutert Koller im Anschluss und zwar unter Bezug auf Jean-Francois Lyotards Buch »Der Widerstreit«. Lyotards Untersuchungen beziehen sich auf das Nebeneinander unterschiedlicher Diskursformationen, die mit Wittgenstein als »Sprachspiele« bezeichnet werden können, und zwar in dem Sinne, dass sie in ihrer Pluralität nebeneinander stehen, ohne dass es für sie einen Metadiskurs gibt. Damit gibt es auch keine Instanz, die Aussagen über ihre Angemessenheit machen oder über die Teilnahmebedingungen entscheiden könnte. So kann es zum Merkmal dieses Pluralismus werden, dass jemandem die Chance verwehrt wird, sich angemessen in diese Diskurse einzubringen bzw. sich angemessen repräsentiert zu sehen. Dies kann an der ungleichen Verteilung von Zugangs-Chancen liegen, aber auch an der »totalitären Herrschaft eines Diskurses über andere Diskurse«, die alle disqualifiziert, die sich dieser Sprache nicht bedienen wollen oder können.72 »Widerstreit« bedeutet für Lyotard genau dies: Konflikte, die sich auf diese Ungleichheit beziehen, werden selbst dann noch, wenn es um ihre Beilegung geht, im »Idiom« der überlegenen Partei definiert. Gleichheit zwischen den Parteien ist nicht möglich,
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Ebd., S. 19. Ebd. H.-Ch. Koller (2018), a.a.O., S. 85. Ebd., S. 90.
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wenn sich die Darstellung und Lösung des Konflikts »im Idiom der einen vollzieht, während das Unrecht, das die andere erleidet, in diesem Idiom nicht figuriert.«73 Ihre Perspektive findet keinen adäquaten Ausdruck, weil die Sprachspiele der Macht dafür keine angemessenen Mittel zur Verfügung stellen. Übrig bleibt nur ein Gefühl, und das findet am ehesten im Schweigen der zu Sprachlosen Gemachten seinen Ausdruck; es »verweist auf das, was in der Diskursart, die sich durchgesetzt hat, nicht gesagt werden kann«.74 In Waldenfels’ Darstellung konnten durch das »Zwischen« als Raum, in dem Eigenes und Fremdes aufeinandertreffen, neue Wahrnehmungsformen und neue Bedeutungen entstehen, und dabei galt, »dass das kreative bzw. innovatorische Potential nicht dem sich bildenden Subjekt selbst innewohnt, sondern in dem Zwischenraum zwischen Subjekt und dem Fremden zu verorten ist.«75 Bildungsprozesse werden sich hier in erster Linie in der Fähigkeit zeigen, dass es möglich wird, sich dieser Erfahrung zu öffnen. Im Falle der Diskurstheorie Lyotards erscheint ein Zusammenhang mit Bildungsprozessen weniger leicht herstellbar. Jedoch weist Koller darauf hin, dass es die Aufgabe einer transformatorischen Bildungstheorie sei, jene Problemlagen herauszuarbeiten, »durch die Welt- und Selbstverhältnisse so nachhaltig in Frage gestellt werden, dass deren Transformation unausweichlich erscheint.«76 Diese Problemlagen erhalten bei Lyotard eine gesellschaftliche Dimension, und mit der Kategorie des Widerstreits wird eine Art von gesellschaftlichen Konflikten thematisiert, denen systematisch die Möglichkeit entzogen worden ist, in den herrschenden Diskursen präsent zu sein. Etwas vage bezeichnet Koller diesen Sachverhalt als »Herausforderung für Bildungsprozesse« und präzisiert, dass diese »Herausforderung« auf ethischer Ebene liege. Offenbar sieht er die Notwendigkeit, sich in solchen Konflikten außerhalb der widerstreitenden Parteien zu positionieren, denn nur dann sei es möglich »ein Idiom zu finden, in dem der Widerstreit angemessen artikuliert werden kann.«77 Eine ähnliche Forderung richtet Lyotard an die Kultur: »Für eine Literatur, eine Philosophie und vielleicht sogar eine Politik geht es darum, den Widerstreit auszudrücken, indem man ihm entsprechende Idiome verschafft.«78 Koller schlägt vor, Bildung »als jenen Prozess der Entstehung neuer […] Diskursarten zu begreifen, der zur Anerkennung und zum Offenhalten des Widerstreits erforderlich ist«.79 Sie würde es ermöglichen, auf andere sprachliche Ressourcen zurückzugreifen als die vom herrschenden Diskurs angebotenen bzw. aufgrund von Reflexionsleistungen sich sogar außerhalb dieser Diskursformationen zu stellen. Die »Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen« wird vermittelt durch ein »Sprachgeschehen […], bei dem neue sprachliche Möglichkeiten ge- oder erfunden werden«.80
73 74 75 76 77 78 79 80
Jean-Francois Lyotard (1989), Der Widerstreit. Frankfurt a.M., zit. Koller, ebd., S. 92. H.C h. Koller, a.a.O., S. 93. Ebd., S. 86. Ebd., S. 95. Ebd., S. 96. Lyotard (1989), a.a.O., zit. Koller, ebd., S. 94. Ebd., S. 97. Ebd.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Mit anderen Worten geht es um die Suche nach neuen Ausdrucksformen und Sprechweisen, die solchen Erfahrungen zur Artikulation verhelfen, die vorher aus der Kommunikation ausgeschlossen waren. Die Transformation der Sprache vom Herrschaftsinstrument in ein Medium, das jedem eine Stimme gibt, ist eine Arbeit an der Mitteilbarkeit von Erfahrungen, die zuvor von Exkommunikation bedroht waren. Bildungsprozesse werden zu Prozessen der Herausbildung neuer Ausdrucksformen, sie arbeiten an der Transformation des zuvor nicht Sagbaren und transformieren damit zugleich das Verhältnis der so Sprechenden zueinander, zu sich selbst und zur Welt. Beschränkt man zunächst den Fokus auf die Transformation des Selbstverhältnisses, so skizziert Koller hier Erfahrungen auf drei verschiedenen Ebenen, die er alle als Ausgangspunkte für Bildungsprozesse gewertet sehen will: Da ist zum einen die Negativität von Erfahrungen, durch die eigene Erwartungen nicht nur durchkreuzt werden, sondern eine Überprüfung der eigenen Erwartungshaltung und der ihr zugrundeliegenden Dispositionen erfordern. Da ist, als Radikalisierung dieser Infragestellung, die Erfahrung einer Fremdheit, die das erlernte Kategoriengefüge außer Kraft setzt und ein Erlernen der Fähigkeit erfordert, sich vorbehaltlos auf dieses Neue einzulassen. Und da ist, in einem dritten Schritt, die Suche nach einer Sprache für das, was bisher ausgeschlossen wurde und sich nur noch als Einspruch eines Gefühls bemerkbar macht. All dies sind Transformationsaufgaben, die an das Verhältnis zum eigenen Selbst gestellt werden und eine Erfahrungsfähigkeit erfordern, die ohne das Geländer konventionelle Einordnungen auszukommen vermag. Davon unmittelbar berührt ist das Verhältnis zur umgebenden Welt: Auf unterschiedliche Weise findet sich in den Gedankengängen von Buck, von Waldenfels und von Lyotard die Öffnung für neue Erfahrung an den Kontaktflächen des Eigenen und des Fremden. Voraussetzung dafür ist das, was sich bei Kokemohr als Begriff der »subsumtionsresistenten Erfahrung« findet,81 d.h. die Einsicht, dass von vereinheitlichenden Kategorisierungen Abstand genommen werden muss. Damit aber kommt eben jene Sprachlichkeit, die Arbeit an den Ausdrucksmitteln ins Spiel, auf die Lyotard hinweist. Denn Erfahrung wird das, was sich hier als »Weltverhältnis« abzeichnet, erst in seiner Reflexion und die ist sprachlich verfasst. So führt, weitergedacht, die Perspektive transformatorischer Bildungsprozesse zur Frage, was an die Stelle der subsumierenden, klassifizierenden, identifizierenden Sprache treten kann, wenn deren Logik ihre Rechtfertigung eingebüßt hat. Das theoretische Tableau, das Koller auf der Suche nach den Strukturen von Transformationen auf der Subjektebene entfaltet, ist damit noch nicht vollständig; in einem dritten Teil untersucht er, wie in einigen Theorien des 20. Jahrhunderts die Entstehung neuen Wissens als »revolutionärer Bewusstseinswandel«, als neue Verhaltensmöglichkeiten und als neue sprachliche Verarbeitungsformen präsentiert werden. Dies soll hier nicht referiert82 und stattdessen die Frage gestellt werden, welchen Sinn der Bildungs-
81 82
R. Kokemohr (2007), a.a.O., S. 21. Koller entfaltet dies in erster Linie anhand von Thomas Kuhns Untersuchungen zu wissenschaftlichen Revolutionen, Oevermanns Analysen zur von »inneren Bildern« geleiteten Entstehung neuer Denk-, Handlungs- und Interaktionsformen, der Rolle des Verstehens bzw. der Verabschiedung »vereinheitlichender Welt- und Selbstdeutungen« bei Gadamer und Derrida und schließlich der
9. Umstellungsprozesse des Bewusstseins
begriff annimmt, wenn er als »transformatorisch« verstanden werden soll. Der Begriff der Transformation fügt dem Wortfeld, das den Bildungsbegriff umgibt, der Rede von Entwicklung, Veränderung, Entfaltung, Werden eine weitere Nuance hinzu. Was dies bedeutet, soll abermals im Rückgriff auf Humboldts Reflexionen verdeutlicht werden. Als Humboldt in einem Brief an Körner seine Beobachtungen in dem Satz: »Denn eigentlich sind wir im Werden« zusammenfasste,83 ging er mit diesem Sprachgebrauch in gewisser Weise auf Distanz zu den sehr viel emphatischeren Bildungsvorstellungen Herders, der von Entwicklung gesprochen hätte, wo Humboldt »Werden« sagt. Entwicklung bedeutet die Entfaltung eines inneren Gesetzes, eines Bauplans, einer Ordnung, die allmählich zutage tritt und das Leben des Individuums bestimmt. Humboldt verabschiedet bereits wieder solche Vorstellungen einer inneren Teleologie,84 Bildungsprozesse entstehen für ihn durch die Art, wie jemand »Freiheit mit Naturnotwendigkeit verknüpft«, und dies ist nie gänzlich der Verfügung des Subjekts anheimgestellt.85 Auch die Sprache, in der es sich und die Welt zu verstehen lernt, ist ihm vorgeordnet, prägt und begrenzt seine Selbstverständigung. Der Gedanke der Transformation muss Humboldt fremd bleiben, weil alles Fremde bei ihm nur der Steigerung des Eigenen dient. Zur Bildungsaufgabe wird bei Humboldt, sich im Medium des kulturell Vorgefundenen selbst zu begreifen, in der eigenen »Eigentümlichkeit«, »Empfänglichkeit« und »Selbsttätigkeit«. Humboldt zeichnet diesen Bildungsprozess in seinem später »Theorie der Bildung des Menschen« genannten Textfragment als kontemplative Auseinandersetzung mit Perspektiven nach, die dem Ich zunächst fremd sind. In Gestalt der Kunst und der Wissenschaften trete dem Einzelnen eine Vielfalt bereits etablierter Erkenntnisformen und Inhalte gegenüber, die ihn desorientiert zurücklässt. Nicht einmal der Experte gelange zu einer »allgemeineren Übersicht«, noch weniger der Laie.86 Für diesen komme es bei der Beschäftigung mit diesen unterschiedlichen Stimmen darauf vor allem an, »dass er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere«,87 und dies geschieht, indem er sich das zunächst ihm Äußere und Fremde nutzbar macht. Es wird umgewandelt in »das erhellende Licht und die wohltätige Wärme«, die sein Inneres bereichert.88 Der latent konflikthafte Charakter, den die Auseinandersetzung mit fremden Perspektiven, sei es der Wissenschaft oder
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produktiven Veränderung von Bedeutungen bei J. Butler. In allen Fällen geht es um die Entstehung eines Sinns, den das Individuum selbst hervorbringt in Auseinandersetzung mit einem noch unüberschaubaren Sachverhalt. W. v. Humboldt (1981), Brief an Chr. G. Körner, a.a.O., Bd. V, S. 174. Der Mensch sei zwar einerseits Teil der Natur, von Tieren unterscheide ihn aber die Willkür seiner Handlungen. »Er folgt […] dem Zufall, äußeren Einwirkungen oder inneren augenblicklichen Antrieben«, was er tut, ist »das Resultat physischer und anderer Veränderungen auf eine freie Natur.« (W.v.Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, a.a.O., Bd. I, S. 358) Deshalb gebe es kein vorgegebenes Ziel von Entwicklungsprozessen: »dies Suchen nach Endursachen, man mag sie auch aus dem Wesen des Menschen und der Natur selbst ableiten wollen, stört und verfälscht alle freie Ansicht des eigentümlichen Wirkens der [individuellen, RB] Kräfte.« (W. v. Humboldt, Über die Aufgabe des Gesichtsschreibers, a.a.O., Bd. I, S. 596) W. v. Humboldt, Über die männliche und weibliche Form, a.a.O., Bd. I, S. 296-336, hier S. 313. Vgl. W. v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, a.a.O., Bd. I, S. 234. Ebd., S. 237. Ebd.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
der Kunst, haben könnte, kommt nicht zum Tragen, alles wird zum Material der Entfaltung des Selbst, zur bruchlos integrierbaren Ergänzung auf dem Wege der eigenen Vervollkommnung. Das »Idiom« des fremden Texts wird zum eigenen gemacht.89 Wenn der Begriff der Transformation demgegenüber in den Mittelpunkt gestellt wird, heißt dies, den Charakter des Fremdartigen festzuhalten, den eine neue Perspektive zumindest auch und unterhalb des Vertrauten hat, anstatt ihn vorschnell in die Sprache des bereits Bekannten zu übersetzen. Das, was bei Humboldt noch Freude über die Entdeckung »neue[r] Arten zu denken und zu empfinden« war, wird nun zum Bewusstsein des Inkompatiblen, nämlich der radikalen Differenz der Perspektiven.90 Humboldts Bereitschaft, das Neue und Fremde als Erweiterung der eigenen Perspektive wahrzunehmen, verwandelt sich in die bloße »Pluralität der Denk- und Sprechweisen, der Deutungsmuster und der Wertorientierungen«,91 die nebeneinanderstehen, aber nicht ohne Weiteres übernommen werden können. In Anlehnung an Lyotard ist es Koller wichtig, dass hier keine übergeordnete Instanz zur Verfügung steht, die über die Richtigkeit, Angemessenheit oder Überlegenheit einer dieser pluralen Ansichten entscheiden könnte. Deren latente Konfliktstruktur verbiete es, fremde Perspektiven umstandslos in den eigenen Bestand zu integrieren. Um sich in diesem Raum konfligierender Weltdeutungen zu bewegen, sei zum einen die »radikale Transformation des je eigenen Welt- und Selbstverhältnisses« nötig. »Und zum andern wäre in Rechnung zu stellen, dass es Differenzerfahrungen geben mag, für die keine der vorhandenen Sprachen und Sprechweisen ausreichen, und dass Bildung deshalb neben dem Erlernen auch auf das Erfinden neuer Sprachen und Idiome angewiesen sein könnte, um neue, angemessenere ›Weltansichten‹ zu eröffnen«.92 Unter der Hand hat sich mit diesen Erwägungen eine Eingangsprämisse verschoben oder vielmehr konkretisiert: Aus Bildungsprozessen als Bearbeitung von Krisenerfahrungen ist die Erfahrung von Dissens, Differenz und Konflikt geworden.93 Dies aber verschiebt den Fokus weg von allgemeinen Problemlagen und hin zur Auseinandersetzung zwischen Trägern von Meinungen, Ansichten, widerstreitenden Interessen, d.h. hin zu einem Raum sozialer Beziehungen. Transformationsprozesse werden zum Ergebnis intersubjektiver Auseinandersetzung. Stärker als Koller betont Kokemohr diesen 89 90
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»Idiom« im Sinne des Wortgebrauchs von Lyotard, vgl. H.-Ch. Koller (2018), a.a.O., S. 92, 94. Für Humboldt bedeutet die »Mannigfaltigkeit der Sprachen […] Reichtum der Welt […]; es erweitert sich zugleich dadurch für uns der Umfang des Menschendaseins, und neue Arten zu denken und zu empfinden stehen […] vor uns da.« (W. v. Humboldt, zit. H.-Ch. Koller 2018, S. 13). Das Bestehen auf der Inkompatibilität des Fremden ist durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kolonialismus gegangen, die allen »Reichtum der Welt« zum Material machte, um den »Umfang des [eigenen] Menschendaseins« zu steigern. Zwar war auch Humboldt bereits auf den systematischen Stellenwert des Nicht-Verstehens gestoßen (vgl. Koller, ebd.), aber dies bleibt bei ihm Randbemerkung und gewinnt keinen Einfluss auf sein Bildungsdenken. H.-Ch. Koller (2009), Der klassische Bildungsbegriff und seine Bedeutung für die Bildungsforschung. In: L. Wigger (Hg.), Wie ist Bildung möglich? Bad Heilbrunn, S. 34-51, hier S. 38. Ebd., S. 44. Dazu gehört auch, dass Kollers etwas formelhaftes »Welt- und Selbstverhältnis« in der zweiten Hälfte des Buches »Bildung anders denken« explizit durch die intersubjektive Dimension erweitert wird, indem er von den »Arten und Weisen, sich zur Welt, zu anderen und zu sich selbst zu verhalten«, spricht (H.-Ch. Koller (2018), a.a.O., S. 122).
9. Umstellungsprozesse des Bewusstseins
»Übergang von der Vorstellung eines selbst- zu der eines […] sozialreferenziellen Subjekts94 und weist darauf hin, dass es in außereuropäischen Kulturen den Begriff eines solchen starken, sich als Aktionszentrum verstehenden Subjekts oft gar nicht gibt, weil es eher als »Index einer Position in sozialen Allianzen« angesehen wird.95 Dieser soziale Raum wird jedoch weder von Kokemohr noch von Koller vorrangig als Ort, in dem Empfindungen der Zugehörigkeit und stabilisierenden Identifikationen entwickelt werden, vorgestellt. Die Destabilisierung des eigenen Welt- und Selbstentwurfs, um die es ihnen geht kommt ja erst unter der Voraussetzung der Störung solcher eingespielten Zugehörigkeiten zustande (um nichts anderes ging es auch in Hegels Geschichte vom Schicksal des Vasallen). Der Ausgangspunkt für solche Destabilisierungsprozesse kann keine bloße kurzzeitige Irritation sein. Kokemohrs Formulierung, Bildung sei als Suche nach neuen Möglichkeiten der Verarbeitung von Erfahrungen zu verstehen, »die der Subsumption unter Figuren eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen«,96 zeigt, dass es hier um Erfahrungen einer radikalen Fremdheit geht. Bildung wird zum »Prozess der Bezugnahme auf Fremdes jenseits der Ordnung […], in deren Denk- und Redefiguren mir meine ›Welt‹ je gegeben ist.«97 In diesem Prozess verliert das Ich den Status, als Subjekt das »Zentrum aller Zuschreibung« zu sein,98 es wird zum Teilnehmer und Teil eines Vorgangs wechselseitiger Zuschreibungen. Damit verändert sich der Sinn von Bildung.
9.4
Bildung in Übergangsgesellschaften
Bei Koller ist ein gewisses Schwanken hinsichtlich der Frage zu beobachten, ob seine Aktualisierung des Bildungsbegriffs traditionelle Definitionen lediglich ergänzt oder den klassischen Bildungsbegriff ersetzen soll: So spricht er einerseits in seiner Veröffentlichung von 2018 davon, »dass Bildungsprozesse der hier beschriebenen Art zumindest eine Form von Bildung darstellen«,99 andererseits sieht er Probleme, an die Bildungstheorie Humboldts anzuknüpfen und führt dies vor allem auf die Konsequenzen »radikaler Differenzerfahrungen der (Post-)Moderne« zurück, die zu einem »potentiell konflikthaften Charakter von Bildungsprozessen« führen. Gefordert sei deshalb »ein anderes, stärker am Dissens als an harmonischer Ergänzung orientiertes Theoriemodell«.100 Durchgängig ist jedoch sein Anspruch wahrnehmbar, das Verständnis von Bildung in einer radikal sich transformierenden Gesellschaft grundsätzlich zu überdenken. Neue gesellschaftliche Erfahrungen – Globalisierungsprozesse, Wandel von Arbeit durch Informationstechnologien, Destruktion ökologischer Ressourcen, die digitale Neujustierung der Lebensverhältnisse – führen zu Veränderungen der Selbstwahrnehmungen von Individuen und der Vorstellungen von einem gelingenden Leben zusammen mit 94 95 96 97 98 99 100
R. Kokemohr (2007), a.a.O., S. 22. Ebd. Ebd., S. 21. Ebd. D. Henrich (1982), Fluchtlinien. Frankfurt a.M., S. 140. H.-Ch. Koller (2018), a.a.O., S. 101 (Herv. i. O.). H.-Ch. Koller (2009), a.a.O., S. 44 und (2018), a.a.O., S. 14.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
anderen. Beantwortet werden muss die Frage, wie sich Selbstverhältnisse verändern müssen, um diesem Wandel gerecht werden zu können. Es könnte sein, dass am Anfang der Moderne der Bildungsbegriff besonders gut geeignet war, allmählichen Wandel auszudrücken und zwar sowohl in Bezug auf das eigene Selbstverhältnis als auch auf das Leben in der Gesellschaft, dass jetzt aber der Begriff der Transformation besser geeignet ist, das, was von den Individuen gefordert ist, auszudrücken. Allerdings gibt die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse den Bildungsbegriff ja nicht auf; tatsächlich wird er von den Autoren nicht durch den der Transformation ersetzt, sondern durch ihn nur genauer spezifiziert, und so stellt sich die Frage, welche Merkmale von Bildung als Projekt der Selbstveränderung sich durchhalten und in welcher Hinsicht der Bildungsbegriff seinen Charakter ändert, wenn er denn überhaupt noch brauchbar ist. Es war die Ambition in der frühen Phase von Bildungskonzeptionen, sich als autonomes Subjekt selbst hervorzubringen, und dies in scharfer Abgrenzung gegen eine Ausbildung für spezielle berufliche Anforderungen. Deshalb die Betonung von Reflexivität: Sie sollte ein kurzzeitiges Außerkraftsetzen von Handlungszwängen ermöglichen und ihnen gegenüber eine Metaebene einrichten. Deshalb die Betonung des Selbstbezugs als Suche nach einem Begreifen der eigenen Individualität, deshalb die Rückwendung zu den eigenen kulturellen Überlieferungen, um das eigene Gewordensein besser zu verstehen. Dabei wurde Ausdrucksfähigkeit zum Merkmal der »Gebildeten« und sollte ermöglichen, diese Erfahrungen eines einsamen Ichs in seinem Selbstbezug mit den Erfahrungen anderer zu vermitteln. Transformation durch Bildungsprozesse heißt zur Zeit der Entstehung des Bildungsgedankens, sich nicht mehr an den Maximen traditioneller Sittlichkeit zu orientieren, sondern an den eigenen Urteilsstrukturen, die im Austausch mit anderen formulierbar, revidierbar, präzisierbar werden, wie die umfangreiche Briefliteratur zeigt. Diese Fähigkeit, eine reflexive Sonderstellung der Subjekte gegenüber der Gesellschaft zu ermöglichen, verliert der Bildungsbegriff offenbar zunehmend, folgt man Kokemohrs und Kollers Begründungen. Die Möglichkeit, sich mit Hilfe von Reflexionsund Urteilsfähigkeit, der Darstellung des eigenen komplexen Selbstbezugs und der Kennerschaft in kulturellen Dingen sich eine gewisse Unvereinnahmbarkeit zu sichern, wird den Autoren zufolge durch die Erfahrung erschwert, »mit Problemen konfrontiert [zu] werden, für deren Bearbeitung keine etablierten Routinen zur Verfügung stehen.«101 Dadurch tritt der Begriff der »Bewältigung« in den Mittelpunkt.102 Der Bildungsimperativ erwächst nun aus dem Zwang zur »Entwicklung neuer Figuren der Problembearbeitung«103 und der Suche nach bisher nicht zur Verfügung stehenden Verhaltensmöglichkeiten. Bildung verliert die Funktion, lediglich ein Arsenal an selbstwertdienlichen Verarbeitungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, auf das jederzeit zurückgegriffen werden kann. Sie ist nicht mehr Reservoir kulturell eingespielter Beziehungsformen mit dem Ziel eines gemeinsamen Selbstverständnisses, sondern wird
101 H.-Ch. Koller (2010), a.a.O., S. 291. 102 Koller spricht von der Konfrontation mit Problemen […], für deren Bewältigung die Figuren des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr ausreichen.« (Ebd., S. 289, vgl. auch H.-Ch. Koller (2018), a.a.O., S. 15) 103 H.-Ch. Koller (2010), a.a.O., S. 291.
9. Umstellungsprozesse des Bewusstseins
nun zu dem Prozess selbst, in dessen Verlauf Bearbeitungsweisen von neuen Erfahrungen allererst entwickelt werden können. In seiner Suche nach Bewältigungsformen des Unbekannten durchläuft das Individuum nahezu zwangsläufig jene Stufen des Lernens, die Bateson beschrieben hat, da »neue Figuren der Problembearbeitung« ja genau dies meint: Die eingespielten Reaktionsweisen reichen nicht aus. Die neue Erfahrungsqualität, für deren Bewältigung Bearbeitungsformen allererst entwickelt werden müssen, fasst Kokemohr im Begriff des Fremden zusammen. Der Einbruch von Erfahrungen radikaler Fremdheit lässt es nutzlos erscheinen, sich im Rückgriff auf eigene kulturelle Wurzeln seiner Identität zu versichern, was ja immer als eine entscheidende Leistung von Bildung gegolten hatte. An die Stelle einer Überlieferung, die das Individuum in seinen Bildungsprozessen »wie abgelegte Gestalten« und fast spielerisch aufgreift, sie dabei sich aneignet und »für sich in Besitz« nimmt,«104 tritt eine Fremdheit, die nicht den Reiz des Exotischen hat. Lange Zeit war diese Fähigkeit zur Anverwandlung das, was eine Kultur ausmacht: »Ihre Eigenart verdankt eine Kultur der Antwort auf Fremdartiges«,105 Bildung war der Prozess, sich mit diesen Antworten auseinanderzusetzen, sie zu übernehmen, zu verändern, neu zu formulieren. In Kokemohrs Darstellung verlieren diese einmal gegebenen Antworten ihren Sinn. Nun gilt, »dass Bildung der Prozess der Bezugnahme auf Fremdes jenseits der Ordnung ist, in deren Denk- und Redefiguren mir meine ›Welt‹ je gegeben ist.«106
104 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., Bd. 3, S. 32/33. 105 B. Waldenfels (1997), Topographie, a.a.O., S. 84. 106 R. Kokemohr, a.a.O., S. 21.
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10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
10.1
Das antwortende Ich
Das Individuum, das in den Darstellungen Kollers und in den von ihm herangezogenen Theorien an Konturen gewinnt, begreift sich vor allem über seine Krisenerfahrungen und seine Suche nach neuen Orientierungen. Aufgrund biographischer Brüche und der Art ihrer Verarbeitung tritt jedes dieser Individuen in dieser Darstellung dem anderen mit einer Geschichte gegenüber, die sich weniger aus einer von allen geteilten Kultur speist als aus unterschiedlichen Erfahrungskontexten zusammensetzt und darin für andere nicht direkt erschließbar ist. Haltungen und Einstellungen sind eher auf diese innere Geschichte bezogen als auf stabilisierende kulturelle Traditionen, die solche Brüche abfedern könnten. Der Sinn von Aussagen kann sich insofern nicht völlig erschließen – der oder die hier spricht, bezieht sich auf einen anderen Hintergrund als die Adressaten, und so kommt es zu einer Vervielfältigung der Bedeutungsebenen. Wo sich dennoch ein »Zwischen« des wechselseitigen Bezugs aufeinander entwickelt, ist keiner der Beteiligten Sender oder Empfänger, vielmehr sind sie Koproduzenten einer Situation, die auf andere Situationen nicht übertragbar ist. Was sie verbindet, ist in erster Linie ihre Aufmerksamkeit für das Geschehen jetzt und hier und vielleicht auch ihre Suche nach Anschlussstellen, ihre Versuche des Verstehens. Diese sind aber nur möglich, wenn bisherige Perspektiven aufhören, ein sicherer Rückzugsort zu sein. Unhintergehbar bleibt die Differenz der Sichtweisen, aber auch die Angewiesenheit darauf, sich zu verständigen. Die Möglichkeit des Konflikts, die Gefahr, sich wechselseitig zu verfehlen, ist dabei stets präsent, ebenso aber auch die Aufforderung zur Suche nach Bewältigungsformen solcher grundlegenden Differenzerfahrungen. Dieses Individuum, das sich in der Verarbeitung krisenhafter Widerfahrnisse zwischen äußerster Vereinzelung und seiner Eingebundenheit in seine sozialen Kontexte bewegt, ist nur noch über eine Reihe von Vermittlungsschritten als Nachfolger des Bildungssubjekts, wie es traditionell gedacht wurde, zu erkennen. Die Figur des Anderen, als Du, als Fremder oder als Kommunikationspartner, betritt den Raum der Theoriebildung spät und erst recht gilt dies für Bildungstheorien. Relativ unvermittelt entstehen unabhängig voneinander im selben Zeitraum Anfang des 20. Jahrhunderts, nämlich gegen Ende des I. Weltkriegs und unmittelbar danach, eine Reihe von Philosophien
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Transformationen des Bildungsbegriffs
des Ich-Du-Verhältnisses und des Dialogs1 , aber diese Entwicklungen bleiben bildungstheoretisch lange Zeit weitgehend folgenlos. Bei Humboldt war bereits zu lesen, »dass Jeder […] nur durch das Andere bestehe«,2 und in Bubers zwischen 1916 und 1919 entstandenen »Ich und Du« findet sich die Formulierung: »Der Mensch wird am Du zum Ich«, die wie ein spätes Echo auf die Einsicht wirkt.3 Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird dieses Du dann (bei Theunissen 1964) zum »Anderen« und schließlich am Ende des Jahrhunderts (bei Waldenfels) zum »Fremden«. Wie bei Buber das Du hat es die Bedeutung des Nicht-Einordenbaren, das sich gegebenen Ordnungsmustern nicht einfügen lässt, aber während am Anfang des Jahrhunderts dies einen befreienden Charakter hatte, der Unmittelbarkeit und Nähe verhieß, ist nun die Rede von dem, was sich entzieht und das nicht nur zu einem »Fremdwerden der Erfahrung« führt, sondern sogar zu einem »Sich-Fremdwerden dessen, der die Erfahrung macht«.4 Auffällig ist, dass die Hinwendung zum Ich-Du-Verhältnis, die kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert so sehr an Bedeutung gewinnt, von Bildungstheorien so gut wie nicht mitvollzogen wurde.5 Zwar gab es Bezugnahmen auf diese Dimension in der Reformpädagogik, aber für diese Bewegung standen bildungstheoretische Fragestellungen nicht im Vordergrund, sondern eher praktische Aspekte der Beziehungsthematik, vor allem die Beschäftigung mit normativen Fragen des pädagogischen Bezugs und des Zusammenseins von Gleichaltrigen. Erstaunlicher ist, dass auch in Bildungstheorien das Gegenüber häufig auf die Rolle einer Instanz eingeschränkt blieb, von der sich das Ich ablösen muss, um sich seiner Vernunft »ohne Leitung eines anderen« bedienen zu können6 . Die Frage, was es für eine Bildungsgeschichte heißt, dass jeder und jede in ihren Entwicklungsprozessen auf die Instanz des Anderen angewiesen sind und wie sich Bindung und Bildung zueinander verhalten, wurde lange Zeit von Bildungstheorien kaum angesprochen. Stattdessen überdauerte in der erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Theoriebildung lange Zeit ein Subjektbegriff, der eine nicht leicht
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»Unabhängig voneinander und von den anderen Dokumenten aus der Anfangszeit des Dialogismus [gemeint sind wohl Schriften aus dem 18. Jahrhundert von Hamann, W. v. Humboldt u.a., RB] sind entstanden: Cohens im Winter 1917/18 verfasstes Spätwerk, Ebners im Winter 1918/19 geschriebene ›pneumatologische Fragmente‹, Marcels Aufzeichnungen im ›Metaphysischen Tagebuch‹, das etwa ab Juli 1918 um das dialogische Prinzip kreist, und schließlich im wesentlichen auch [M. Bubers] ›Ich und Du‹ selbst.« (Michael Theunissen (1977), Der Andere. Berlin, New York, S. 253) W. v. Humboldt, Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Spracheentwicklung, a.a.O., Bd. III, S. 1-25, hier S. 3. Martin Buber (1984), Ich und Du. In: Ders., Das dialogische Prinzip. Darmstadt, S. 7-136, hier S. 32. Bernhard Waldenfels (1997), Topographie des Fremden. Frankfurt a.M., S. 10. Dies unterscheidet die Theorieentwicklung in Deutschland von der im angloamerikanischen Raum. Dort war es im Anschluss an G. H. Mead zu einer grundsätzlichen Umstellung der Perspektive gekommen: Ausgehend von einem Individuum, das sich vor allem über seine Fähigkeit zu problemlösenden Verhalten begreift (so Dewey), ging Mead einen Schritt weiter und fragte, was sich verändert, wenn dieses Ich seine Handlungen überprüft und sie sich bewusstmacht. Dazu ist es auf Erfahrungen mit anderen Personen angewiesen, in deren Handlungen es eigene Intentionen wiedererkennt, und zwar auch im Sinne der Distanzierung. Erst über die Instanz der anderen Person entsteht so ein selbstreflexiver Zugang zu sich selbst. Immanuel Kant, Was ist Aufklärung, a.a.O., Bd. 9, S. 53 (A 481).
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
durchschaubare Stellung zwischen apriorischem und empirischem Status, zwischen Voraussetzung und Zielvorstellung einnahm. Diese Kategorie des einsamen Subjekts blieb theoretischer Bezugspunkt auch dann noch, als sie in der philosophischen Theoriebildung bereits in Frage gestellt wurde. Nach den Befunden von U. Binder (2009) überdauerte der Subjektbegriff nicht nur in der pädagogischen Literatur, sondern erhielt im von ihm analysierten Zeitraum von 1970 bis 2005 sogar den Status einer das Selbstverständnis weiter Teile dieser Disziplin fundierenden Kategorie.7 Immer wieder, so Binder in seiner Analyse der Verwendung des Subjektbegriffs in erziehungswissenschaftlichen Zeitschriften, setzen die von ihm untersuchten Texte den Subjektbegriff voraus, anstatt ihn in seiner Reichweite zu diskutieren. Bildungstheorien, so Binder, hätten sich immer wieder darauf zurückgezogen, »das vorgängige Subjektdenken selbstvergewissernd zu bestätigen«, anstatt es auf seine Tragfähigkeit hin zu untersuchen.8 Daraus erwuchs das Problem, dass der Subjektbegriff nun zwar in empirischen Kontexten Verwendung fand, aber seine transzendentale Herkunft dabei nicht völlig abstreifte. Im »Überschreiten der Bedingungen« soll die »›wahre Subjektfigur‹ […] gesucht und gefunden werden« und wird tatsächlich doch, so Binders Befund, »an den (negativ konnotierten) Bedingungen erst gebildet.«9 Diskutiert wird in diesem Zusammenhang denn sogar auch die »Frage, wie das Subjekt unvereinnahmt vom ›Außen‹ bleiben kann«.10 Diese Einkleidungen des Ichs einerseits in die Rolle des Subjekts und andererseits in die des Teils einer Ich-Du-Beziehung wirken unvereinbar; allein schon sprachlogisch betrachtet muss davon ausgegangen werden, dass dem Subjekt ein Objekt gegenübersteht und nicht ein Du. Das Ich in seiner Beziehung zu einem Du oder zum Anderem ist Teil der Lebenswelt, das Subjekt Ausdruck eines theoretischen Anspruchs. Der allerdings war phasenweise so groß, dass er lebensweltliche Aspekte völlig verdunkelte: nämlich der Anspruch, als Subjekt Ausgangspunkt aller Handlungen, aller Zuschreibungen, aller Verfügungsgewalt zu sein. Ein solches Subjekt ins Zentrum zu stellen kann logisch manchmal hilfreich sein, wobei Erkenntnissubjekte, Bildungssubjekte, Gesellschaftssubjekte lediglich eine Leerstelle in der Rede markieren, die erst noch mit näheren Bestimmungen gefüllt werden muss. Diese Verwendung als Platzhalter könnte man als schwachen Subjektbegriff bezeichnen. Etwas anderes ist es, das empirische Ich mit der ganzen auktorialen Gewalt des Subjektbegriffs aufzuladen: Dann beerbt es das transzendentale Subjekt der Erkenntnistheorie in Bezug auf all die Forderungen, die sich an das Produktionszentrum von Wahrheit richten, also autonom zu sein, frei von Bindungen, Träger einer unkorrumpierbaren Vernunft, bedürfnislos. Unterschwellig 7
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Ulrich Binder konstatiert bezüglich seiner Verwendung in der Erziehungswissenschaft »die Nichtausweisung von ›Subjekt‹ als be- oder ergründetes Theorem bei gleichzeitiger Permanentthematisierung«. (U. Binder (2009), Das Subjekt der Pädagogik – Die Pädagogik des Subjekts. Das Subjektdenken der theoretischen und praktischen Pädagogik im Spiegel ihrer Zeitschriften. Bern et al., S. 18) Der Subjektbegriff soll eine Rede vom Menschen ermöglichen, die seine Determiniertheit abwehrt: Alles was »ihn zum bloßen Produkt seiner Verhältnisse degradieren« könnte, kann durch den Subjektbegriff ausgespart bleiben. (Ebd., S. 563) Ebd., S. 573. Ebd., S. 564. Ebd., S. 247.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
spielte dies in der Geschichte der Bildungstheorien oft die Rolle einer regulativen Idee, wenn nicht gar einer Zielvorstellung, insbesondere im Hinblick auf das Ziel der Mündigkeit.11 Der Subjektbegriff wurde hier im überaus starken Sinne einer normativen Idee verwendet. Es war ein wichtiger Schritt, dass Humboldt das Ich mit dem Individuum gleichsetzte. »Subjekt« ist ein Wort, das sich bei ihm äußerst selten findet. Als Individuum sollte es nicht über seine verallgemeinerungsfähigen Eigenschaften, sondern über seine »Eigentümlichkeit« begriffen werden und Humboldt vermied es konsequent, hier vom »Besonderen« zu sprechen, denn dies ist von jeher Ausdruck für das Gegenstück des Allgemeinen, für das bloße Exemplar, das ein Allgemeines illustriert. Ihm ging es um Singularität. Durch die Hintertür verschafften sich dann aber doch all jene Eigenschaften des Subjekts Zutritt in sein Nachdenken über Bildung, die zunächst nur die Erkenntnisfunktionen eines als bloße logische Konstruktion gedachten Subjekts bestimmen sollten. Diese Geschichte seines Schwankens zwischen einer rigorosen Hinwendung zum Individuum in seinen Kontingenzen und Absturzgefahren12 und der Rolle, die dann doch das Ideal der Vervollkommung bei Humboldt spielt, soll hier nicht ein weiteres Mal erörtert werden (s.o., Kap. 5). Aber auch für ihn gilt, dass methodologische Denkvoraussetzungen der Erkenntnistheorie in diesen Vollkommenheitsvorstellungen den Status wechselten und nun, bildungstheoretisch gewendet, zur Zielvorstellung für lebensweltliche Entwicklungsprozesse wurden. Entscheidender als diese Idealisierungen ist für den hier betrachteten Zusammenhang jedoch, dass sich in Humboldts Hinwendung zum Individuum eine Konsequenz verbarg, die erst allmählich und mit großer Verzögerung verstanden wurde: Denn das Individuum ist notwendig auf ein Du oder zumindest auf die Gestalt der anderen Person angewiesen, an deren Anderssein es seines eigenen So-Seins innewird und durch die es sich in seinen nur ihm zukommenden Eigenschaften begreifen muss. Die Umstellung der Prämissen vom Subjekt zur Würdigung der einzelnen Person erwies sich bildungstheoretisch als äußerst folgenreich, denn sie betraf nicht nur die Anerkennung des Individuellen. Gleichzeitig wurde die Aufmerksamkeit auf die konstituierenden Elemente des individuellen Selbstbewusstseins gelenkt, nämlich von Anderen wahrgenommen zu werden. Nur über sie wird der oder die Einzelne auf die eigene Verschiedenheit gestoßen; unter dem Eindruck der anders gearteten Individualität seines Gegenübers wird sich das Individuum seiner eigenen Eigenart bewusst. Diese Erfahrung bedeutet nicht nur Nähe, sondern auch wachsendes Bewusstsein eines Unterschieds.13 11
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Diese beiden Bedeutungen aufnehmend bezeichnet Foucault das Subjekt als »eine seltsame, empirisch-transzendentale Dublette« (Michel Foucault (1974), Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M., S. 384). Gefährdungen gehen bei Humboldt von der Zwischenstellung des Menschen aus, da er »als ein gemischtes Wesen Freiheit mit Naturnotwendigkeit verknüpft« und ein Ausgleich zwischen beiden Polen nicht ohne weiteres gelingt. (W. v. Humboldt, Über die männliche und weibliche Form, a.a.O., Bd. I, S. 313). Die Sprache »baut wohl Brücken von einer Individualität zur andren und vermittelt das gegenseitige Verständnis; den Unterschied selbst aber vergrößert sie eher.« (W. v. Humboldt, zit. Tilman. Borsche (1976), Artikel »Individuum, Individualität«, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4. Darmstadt, Sp. 310-323, hier Sp. 316.
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
Gegenseitiges Verständnis geht einher mit der Wahrnehmung der Grenzen zwischen Individuen, einem wachsenden Bewusstsein von Differenz. Humboldt deutet diese Erfahrung als bedrohlich für das eigene Selbstgefühl; es komme alles darauf an, dass das Individuum »in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere« und dazu müsse es dem Differenten und Fremden »die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlicher machen.«14 So müsse auch im Zusammensein mit der anderen Person »einer den Reichtum des anderen sich eigen machen«.15 Das Andere wird nicht in seiner selbstständigen Existenz wahrgenommen oder nur das an ihm, was anschlussfähig an das Eigene ist; fast möchte man sagen: was verwertbar ist.16 Fremdes wird in Eigenes verwandelt, und nichts anderes ist für Humboldt Bildung: Anverwandlung und Übersetzung, Auflösung der Fremdheit. Ähnlich figuriert auch bei Hegel die Instanz des Anderen nur als Ausgangspunkt einer entfremdenden Erfahrung, über die das Ich lernt, sich seiner selbst bewusst zu werden. Sowohl bei Hegel als auch bei Humboldt ist mit anderen Worten die Erfahrung von Fremdheit bereits überaus präsent und gräbt sich als Entfremdung in das Weltund Selbstverhältnis ein, und doch gehen beide Autoren davon aus, dass sich Entfremdung durch die Arbeit der Anverwandlung auflösen lässt. Für beide ist dies die Aufgabe von Bildung. Dieser Glaube an eine Möglichkeit der Aneignung und Integration des Fremden schwindet erst im 20. Jahrhundert und so lange dauert es auch, für die Erfahrung des Eigensinns und der Nicht-Assimilierbarkeit des Fremden, für den Rest von Fremdheit auch in größter Nähe zueinander Worte zu finden. Entfremdung macht einen Statuswandel durch: Ihre Auflösung verliert in den Theorien des 20. Jahrhunderts an Stellenwert; die durch Nähe überwundene Fremdheit wird zur Illusion. Waldenfels zeichnet dieses Statuswechsel in seiner »Topographie des Fremden« nach, indem er darauf hinweist, dass historisch gesehen zunächst »der Fremde unser Feind ist«,17 dem sich dann aber auch die Vorstellung des exotisch Fremden zugesellt, die vor allem seit dem 18. Jahrhundert »an den Rändern und in den Lücken der diversen Ordnungen auftaucht.«18 Bei solchen romantischen Deutungen von Fremdheit gehe es allerdings »um eine bloße Erweiterung oder Vervielfältigung persönlicher Erfahrungen« angesichts der Fremdheit einer Person oder einer Kultur, eine Transformation von Anderssein in das Vokabular des Vertrauten, die letztlich Fremdes nicht gelten lässt. Um an die Stelle einer Übersetzung des Fremden in Eigenes Aufmerksamkeit für Divergentes treten zu lassen, muss das Ich auf Distanz zu eigenen Einordnungsversuchen gehen. Solche Versuche äußern sich z.B. bereits in der Frage danach, was das Andere ist und wozu es 14 15 16
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W. v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, a.a.O., Bd. I, S. 237. W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, a.a.O., Bd. I, S. 65. Erst im Rahmen seiner Sprachphilosophie, und damit sehr viel später, gelangt Humboldt zu Vorstellungen von echter Reziprozität: Es sei »die Natur alles Organischen, dass Jedes in ihr nur durch das Andere, und Alles nur durch die eine, das Ganze durchdringende Kraft besteht.« (W. v. Humboldt, Über das vergleichende Sprachstudium, a.a.O., Bd. III, S. 3) Humboldt macht diese Einsichten für sein bildungstheoretisches Denken nicht fruchtbar, sie gehören einer späteren Phase seines Nachdenkens an. B. Waldenfels, Topographie des Fremden, a.a.O., S. 45. Ebd., S. 10/11.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
gut ist. Denn dies wäre nur in den vertrauten eigenen Kategorien beschreibbar und das Fremde verlöre damit seinen Charakter: Es ist gerade nicht das, was unsere eingespielten Konzepte erfassen können, es geht in diesen Ordnungen nicht auf und zeigt darin seine Nichtassimilierbarkeit.«19 Dennoch stellt sich eine Beziehung zu ihm her; es wirkt wie eine Provokation, eine Beunruhigung, oder zumindest wie ein Stimulus, eine Aufforderung, die Aufmerksamkeit erfordert und Kommentare hervorruft. Waldenfels bezeichnet dies als Responsivität; sie findet auf Seiten derer, die diese Fremdheitserfahrung machen, statt und entwickelt sich quasi ohne ihr Zutun, wobei sie »dem Fremden seine Ferne lässt.«20 Das, was Waldenfels beschreibt, ist eine Responsivität, die weder auf die bereits vorhandenen Sinngebungen des einen wie des anderen Ichs zurückgreifen kann, wenn sie nicht Gefahr laufen soll, die aktuelle Situation zu verfehlen. An die Stelle vorhandener Sinnbezüge und Regelsysteme tritt ein Sinn, der »im Antworten selbst entsteht«, in dieser Situation, im Zwischenraum des aktuellen Aufeinandertreffens.21 Da das antwortende Ich darauf verzichtet, auf eingespielte Sinngebungen zurückzugreifen, befindet es sich in einer Situation, »in der wir geben, was wir nicht haben«, weil es in diesem Augenblick erst zwischen den Beteiligten entsteht. »Wo neuartige Gedanken entstehen, gehören sie weder mir noch dem Anderen. Sie entstehen zwischen uns.«22 Waldenfels nennt dies den »Anspruch des Fremden« und zwar in dem Sinne, dass nicht die Person, sondern die Fremdheit selbst, die Situation Ansprüche stellt. Um der Fremdheit des Anderen gerecht zu werden und sie nicht vorschnell in bereits vorhandene Sinngebungen aufzulösen, muss sich das wahrnehmende Ich von der Vorstellung einer Vermittlung und Versöhnung zwischen Eigenem und Fremdem unter dem Vorzeichen der eigenen, in diese Situation eingeführten Prämissen verabschieden. Kein Weg führt daran vorbei, ein Bewusstsein des Inkommensurablen zu entwickeln, der Tatsache, dass die wahrgenommene Fremdheit in ihrem Eigensinn unauflösbar ist. Der traditionelle Bildungsbegriff bezog sich auf ein Subjekt, das sich über die eigene Stellung in der Welt, die eigene Perspektive, über die eigenen Fähigkeiten Klarheit verschafft und dem es so gelingt, »vor sich selbst verständlich zu werden«, wie Humboldt formulierte. Die Bildungsprozesse, die in der Auseinandersetzung mit der Andersheit des Anderen entstehen, überschreiten diese Ethik der Selbstsorge und nehmen die Bedeutung des Antwort-Suchens in intersubjektiven Erfahrungen an. Die Bemerkungen von Waldenfels über den Anspruch des Fremden zeigen, dass sich das Tableau verändert hat. Zwar steht nach wie vor ein Ich im nunmehr bifokalen Zentrum, das Wissen erwirbt, handelt, Verhaltensmöglichkeiten reflektiert. Aber es ist 19 20
21 22
Ebd., S. 51. Ebd., S. 52. In vielem ähnelt Waldenfels’ Darstellung von Fremdheit Walter Benjamins Rede von einer »Ferne, so nah sie sein mag.« Benjamin beharrt auf dieser Eigenschaft der Dinge gerade angesichts einer überall zu beobachtenden »Tendenz einer Überwindung des Einmaligen«, in diesem Fall durch technische Reproduzierbarkeit. Es ist genau dieses Einmalige in seiner Unauflöslichkeit, das Waldenfels, sensibilisiert durch die historischen Ereignisse, in den Mittelpunkt stellt (vgl. W. Benjamin (1980), Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Gesammelte Schriften, Bd. I.2. Frankfurt a.M., S. 433-508, hier S. 440 und 479). B. Waldenfels, Topographie des Fremden, a.a.O., S. 53. Ebd.
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
nun Teil einer Situation, die mindestens zwei Beteiligte umgreift. Die entscheidende Veränderung besteht darin, dass das Ich Wahrnehmung von Fremdheit als Anspruch, vielleicht sogar als Forderung begreift und versucht dieser Wahrnehmung gerecht zu werden. Was daran Differenz ist, lässt sich nicht auflösen in Vermittlungsprozesse, deren Kategorien und Ziele einseitig von einer Seite vorgegeben werden. Die Responsivität, die an ihre Stelle tritt, entsteht aus der Aufmerksamkeit auf das, was sich zwischen den Beteiligten vollzieht, aber auch auf das, was darauf Einfluss nimmt. Man könnte dies als etwas Drittes bezeichnen, und es ist eine Dimension, der Waldenfels, an dieser Stelle zumindest, kaum Aufmerksamkeit schenkt. Dass er sich darauf konzentriert, die Bedeutung des Hier und Jetzt in seiner Einmaligkeit herauszuarbeiten, führt zur Vernachlässigung der Rahmen, innerhalb derer die Beteiligten agieren. Die von ihm dargestellte kommunikative Situation zwischen Ich und Anderem ist der Husserlschen Epoché nachgebildet, die ebenfalls von der Unterstellung ausgeht, lebensweltliche Rahmungen könnten zeitweilig außer Vollzug gesetzt werden. Ähnlich soll die Verständigung zwischen Ich und Anderem ganz aus dem Augenblick des wechselseitigen Bezugs entwickelt werden. Dass die Beteiligten ihre Erfahrungen und die Ordnungen, die in ihren Formen der Erfahrungsverarbeitung zum Ausdruck kommen, in die Situation hineingetragen werden, entfaltet vielleicht erst unter bildungstheoretischer Perspektive einen Sinn, der über die bloße Störung durch in die Situation hineingetragene Voreinstellungen hinausgeht. Diese Hintergründe, Kontexte, Zusammenhänge müssen allerdings artikuliert werden. Sie zu thematisieren, eine Sprache zu finden, in der sich dieses Dritte für beide erschließt, geht über den von Waldenfels in den Mittelpunkt gestellten spontan entstandenen neuen Sinn hinaus und ist doch davon auch ein Teil.
10.2
In den Zwischenräumen
Die Kategorie des Zwischen in substantivierter Form wurde wohl erst 1964 von Michael Theunissen in seiner Auslegung der Schriften Martin Bubers geprägt23 , um jene Dimension zu bezeichnen, die im Austausch von Ich und Du entsteht. Buber selbst benutzt diesen Ausdruck fast nie, sondern spricht davon, was »zwischen Ich und Du« geschieht. Für die hier versuchte Genealogie des Wechsels bildungstheoretischer Prämissen ist von Bedeutung, dass Buber diese Zwischensphäre in bestimmten, eng definierten kommunikativen Verhältnissen ansiedelt: Sie kann sich seiner Auffassung nach nur in Kontakten herstellen, in denen sich die Dialogpartner ausschließlich aufeinander beziehen, nicht aber da, wo es um ein Ziel geht, das sie jeder für sich verfolgen, dafür aber den Anderen brauchen.24 23
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M. Theunissen (1964), a.a.O., S. 243-277. Theunissens Arbeit, eine Habilitationsschrift, bezieht sich im ersten Teil im Wesentlichen auf Husserl, im zweiten auf Buber sowie Reinach, Löwith und Binswanger. M. Buber (1984), Ich und Du, a.a.O., z.B. S. 15, 41. Als Pädagoge lässt sich Martin Buber im weiteren Sinne der reformpädagogischen Bewegung zuordnen, ist aber vor allem als Philosoph des »dialogischen Prinzips« hervorgetreten. Seit 1919, als er in Heppenheim auf einer Tagung zur »Erneuerung des Bildungswesens« einen Vortrag gehalten hatte, war er als Pädagoge einem engeren Kreis bekannt, ebenso über Beiträge als Leiter der »Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung«
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Transformationen des Bildungsbegriffs
Scharf unterscheidet Buber insofern zwischen zwei Typen vom Kommunikationsakten: Im einen Fall gehe es darum, eine bestimmte, vorab definierte Intention umzusetzen, wobei die Person des Anderen nur ein Mittel ist, das eigene Anliegen voranzubringen. Im anderen Fall komme es zu einem absichtslosen Sich-Einlassen auf die andere Person und auf das, was hier und jetzt zwischen beiden Individuen geschieht; sie begegnen einander, ohne damit Zwecke zu verfolgen. So grundlegend erscheinen Buber diese beiden Verhaltensmöglichkeiten, dass er sie als zwei »Grundworte« bezeichnet: Ich-Du und Ich-Es25 . In der Ich-Es-Beziehung gehe es um »etwas«, um eine Absicht, über die gesprochen wird, und das »Über« zeigt für Buber bereits an, dass hier die Unmittelbarkeit des Zueinander-in-Beziehung-Tretens keine Rolle spielt. Vor allem aber gehe der Status des Etwas, über das geredet wird, von dieser Sache auch auf den Dialogpartner über, auch er oder sie werde ein bloßes Mittel zum Erreichen anderweitiger Ziele; aus dem Du werde, so Buber, ein Es. Dies allerdings sei unvermeidlich; auch in das persönliche Verhältnis mischten sich zwangsläufig irgendwann instrumentelle Aspekte, und es sei das Schicksal von Ich-Du-Beziehungen, dass sie von den Notwendigkeiten funktionalen Handelns immer wieder ausgehöhlt werden. Der Ich-Du-Augenblick sei »kurz bemessen«26 , unweigerlich bestätige sich immer wieder, »dass jedes Du in unserer Welt zum Es werden muss«27 . Wo aber die Beziehung zu einem Du für kurze Zeit möglich wird, bezeichnet Buber sie als vollkommene Gegenwart, ohne dass vorangegangene Intentionen oder Pläne dieses Miteinander überlagern. Es entstehe eine Unmittelbarkeit, die als gesteigerte Wirklichkeit erfahren wird, aber sie lässt sich nicht aufrechterhalten; schon nach kürzester Zeit ist die Beziehung wieder »vom Mittel durchsetzt«28 . Buber formuliert dies wie ein Naturgesetz: »Das einzelne Du muss, nach Ablauf des Beziehungsvorgangs, zu einem Es werden.«29 Verstärkt wird diese Instabilität der Ich-Du-Beziehung dadurch, dass ihre Möglichkeit im historischen Prozess zunehmend von instrumentellem Verhalten überlagert werde. Buber konstatiert eine »fortschreitende Zunahme der Eswelt«, die mit der »Minderung der Beziehungskraft des Menschen« einhergehe30 . In seinem Vergleich der Konzeptionen des »Anderen« bei Husserl und Buber bemerkt M. Theunissen, dass Buber für die Darstellung der Ich-Du-Beziehung viel weniger Bestimmungen angibt als für das Ich-Es-Verhältnis. Das ist nicht erstaunlich,
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und über Texte, die im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit am »Jüdischen Lehrhaus« in Frankfurt a.M. entstanden waren. 1925 hielt er das Grundsatzreferat auf der 3. Internationalen Pädagogischen Konferenz in Heidelberg mit dem Titel »Über das Erzieherische«, in dem er die Gestaltung des Ich-Du-Verhältnisses als eine Aufgabe darstellt, für deren Tragweite erst allmählich ein Bewusstsein entstehe und die nicht nur auf anthropologische und pädagogische, sondern vor allem auch auf religiöse Zusammenhänge verweise. In diesem Vortrag bestimmt er die Entwicklung von Dialogfähigkeit, d.h. der Fähigkeit, »in der Beziehung« zu stehen, als eigentliche Aufgabe aller Pädagogik, eine Position, die zu diesem Zeitpunkt breite Resonanz in der Öffentlichkeit fand. 1935 erhielt er Berufsverbot und musste 1938 emigrieren. Ebd., S. 7. Ebd., S. 21. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 37. Ebd., S. 39, 41.
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
da die Ich-Du-Beziehung viel sprachferner ist als das objektivierende Verhältnis. Das Du repräsentiert keine »Summe von Eigenschaften«31 , denn jede Beschreibung würde bereits eine Verdinglichung bedeuten. Der Grund von Bubers Wortkargheit liegt aber auch darin, dass er mit der Ich-Du-Beziehung immer zugleich mehr meint als ein innerweltliches Verhältnis: Seine eigene sehr unmittelbare Gotteserfahrung ist für ihn das Urbild allen Dialogs.32 Jedoch fehlt es nicht an Andeutungen, welche Merkmale das Verhältnis zum Du auszeichnen: Gegenseitigkeit und Gegenwart, Unmittelbarkeit und Verbundenheit gehören dazu. Im »Miteinandersein« entstehe das, was Buber »Geist« nennt: »Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du«33 . Buber beschreibt die beiden Grundhaltungen als zwei Verhaltensalternativen, die sich gegensätzlich und beziehungslos gegenüberstehen, und insofern gibt es gute Gründe, die Unterscheidbarkeit der Grundhaltungen in dieser Reinheit zu bezweifeln. Dies vorausgeschickt ist deutlich, dass die Sphäre der Ich-Es-Beziehung über die von ihm eingeräumten Schwierigkeiten ihrer Verwirklichung hinaus Geltung beansprucht, nämlich als dialogisches Prinzip, unter dessen Vorgabe die Person des Anderen und nicht die eigenen, mit ihr verknüpften Interessen auch dann noch von Belang ist, wenn die Ich-Du-Beziehung in ihrer Reinheit nicht aufrechtzuerhalten ist. Dies ist bildungstheoretisch von Belang: Zum Gegenstand von Bildungsprozessen wird nun die Arbeit an der eigenen Haltung dem anderen Individuum gegenüber. Dazu gehört, dass dieses Zwischen nicht ein Wirkungsfeld sein kann, das gemäß den Absichten von nur einem der beiden Beteiligten hergestellt und ausgerichtet an seinen Zwecken ist. Damit sich ein Geschehen entwickeln kann, das nicht nur den Plänen von einem der Beteiligen folgt, ist die Symmetrie des Status, eine »Gemeinschaft ranggleicher Partner« Voraussetzung34 . Das Subjekt-Objekt-Verhältnis ist dann überwunden, wenn einer Handlung von Seiten des Anderen »ihresgleichen antwortet. Dies aber geschieht nur dann auf dialogische Art, wenn die Akte der Partner gegenläufig ineinandergreifen.«35 Es versteht sich von selbst, dass dies auf Offenheit anstelle einer Durchsetzung vorgefasster Meinungen und Haltungen angewiesen ist. Die Beteiligten antworten einander, wobei für dieses Antwortverhalten gilt, dass es mehr als eine bloße Reaktion auf den anderen sein muss, wenn es der Situation gerecht werden soll: Wo bloß reagiert wird, bedeutet dies den Rückgriff auf Verhaltensmuster, die der Vergangenheit des SichVerhaltenden entstammen und insofern der Gegenwärtigkeit dieser Beziehung nicht gerecht werden können. Dialog ist insofern erst möglich jenseits bloßen Reagierens. Damit wird das Zwischen zum Raum für »Neues, Plötzliches, Unvorhergesehenes«36 , 31 32
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Ebd., S. 21. Dies, aber auch die »eingeplante Ergriffenheit«, die Adorno am Sprachgestus Bubers wahrnimmt, führte dazu, dass Adorno den Texten Bubers einen »Jargon« vermeintlicher Tiefe attestierte. Bubers Verquickung der Ich-Du-Beziehung mit der theologischen Dimension führe dazu, dass diese »Theologie festgemacht [sei] an Bestimmungen der Immanenz, die ihrerseits wieder durch Erinnerungen an Theologie mehr sein wollen.« (Theodor W. Adorno (1973), Jargon der Eigentlichkeit, Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt a.M., S. 413-523, hier S. 424, 423). Ebd., S. 41. M. Theunissen, a.a.O., S. 267. Ebd. Ebd., S. 285.
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dies wahrzunehmen ist aber für die Beteiligten nur möglich, wenn sie sich auf eine Überschreitung bisher gültiger Markierungen einlassen. Eine dieser Markierungen besteht in der Klassifizierung der am Anderen beobachtbaren Eigenschaften. Wo immer Individuen als Repräsentanten aufzählbarer Eigenschaften begegnet wird, werden sie nach Art von Gegenständen fixiert, »ohne über ihre Gegenständlichkeit hinaus etwas von ihnen zu erwarten.«37 Was in den Klassifizierungen nicht aufgeht, erhält keinen Platz, und sein Ausscheiden blockiert die Wahrnehmung. Dies ist jedoch nur die eine Seite, sie beschädigt das Gegenüber. Die andere ist Abhängigkeit von den eigenen Attributionen, die die Wahrnehmungsfähigkeit einengen, Voreinstellungen bloß bestätigen. Veränderung wird so auf der einen wie der anderen Seite blockiert, jedoch fast noch mehr auf Seiten der Person, die diese Zuschreibungen vornimmt.38 Bubers Reflexionen werden geleitet von der Sehnsucht nach einer unversehrten Intersubjektivität, die davor geschützt werden soll, von Zweckrationalität und Verdinglichung unterwandert oder überformt zu werden. Seine Entgegensetzung von Du- und Es-Bezügen kennt nur das Entweder-Oder und lässt in seiner Polarisierung des Verhaltens in Gestalt von zwei sich ausschließenden Grundhaltungen von der Sphäre des Zwischen nur einen idealen Raum reinen und absichtslosen Aufeinander-Bezogenseins übrig. Diese Gegenüberstellung einer reinen Gegenwärtigkeit des Miteinanders einerseits und der Verzweckung des Anderen wird tatsächlichen Interaktionsbeziehungen insofern nicht gerecht, als es eine selbst innerhalb des Ich-Du-Verhältnisses in seinem zweckfreien Aufeinander-Bezogensein komplexe Schichtung widersprüchlicher Erwartungen und Haltungen gibt. Löst man sich von Bubers Dichotomisierung, so zeigt sich der Raum des Zwischen als Ort der Verschränkung unterschiedlicher Ansprüche aneinander, die nicht zwangsläufig instrumentellen Motiven entspringen müssen, aber zu Auseinandersetzungen führen können. Das Zwischen ist stets Ort der Aushandlung widersprüchlicher Erwartungen aneinander. In die Interaktion trägt das Ich nicht nur mögliche Funktionalisierungen hinein, sondern auch seine eigene biographische Vergangenheit und sein jetziges Verhältnis zu ihr, beides bleibt aber möglicherweise unausgesprochen. Da die Beteiligten gleichzeitig noch in anderen und anders gearteten Beziehungen verankert sind, ragen andere Interaktionslogiken in dieses aktuelle Verhältnis hinein. Das Individuum macht das Ich-Du-Verhältnis unausweichlich zur Bühne dieser Widersprüche, die sich aus dem Nebeneinander unterschiedlicher Verhaltensformen und normativer Erwartungen ergeben. Wenn aber an der Möglichkeit der Ich-Du-Beziehung auch noch unter dem Vorzeichen diskrepanter Lebenskontexte und der Erfahrung von Differenz und Dissens festgehalten werden soll, so verliert die wechselseitige Anerkennung, die bei Buber Voraussetzung des »Beziehungserlebnisses« ist, den Status einer Prämisse und wird selbst zum Ziel, das nur über die Bearbeitung dieser Widersprüche erreicht werden kann. Diese Arbeit ist auf ein Reservoir von kognitiven Ressourcen angewiesen, die unterschiedliche Wissensformen ins Spiel bringen und zur Basis der Möglichkeit wechselseitigen Verstehens werden: auf Reflexivität und die Möglichkeit, sich auf alternative Zugangsweisen zu einem Thema einzulassen, auf 37 38
Ebd., S. 295. Für alle die genannten Bestimmungen gibt es einen Praxistest: die Funktionsfähigkeit von Mediationsverfahren, da sie auf ähnlichen Prinzipien beruhen.
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
Wissen über kulturelle oder soziale Kontexte, auf die Neubewertung von Kenntnissen und die Anerkennung ihrer Mehrdeutigkeit, auf Empathie und die Fähigkeit, sich in die Perspektiven anderer Personen hineinzudenken. Es handelt sich mithin um ein Wissen in höchst unterschiedlichen Dimensionen, das vorhandene Kenntnisse und gegenwärtige Erfahrung zueinander in Beziehung setzen muss. Das Anliegen, das Zwischen in der Kommunikation von Personen auszuleuchten, wurde in der amerikanischen Soziologie sogar zum Namensgeber einer theoretischen Richtung: Der Interaktionismus richtet sich zwar auf die sichtbaren Handlungen, die zwischen Personen beobachtbar sind (anstatt sich wie Buber auf ihre Intentionen zu beziehen), aber dabei gelingt es ihm, sehr genau die Details zu benennen, von denen das Gelingen der Buberschen Dialogstrukturen abhängt. Prämisse ist, die Fähigkeiten, die das einzelne Individuum ausbildet, nicht auf in ihm angelegte personale Merkmale zurückzuführen, sondern auf die interaktiven Zusammenhänge, in denen es sich bewegt. Lothar Krappmann, der diesen Ansatz Ende der 1960er Jahre vor allem in der Version von G. H. Mead und E. Goffman aufgreift, gibt ihm in seiner Studie »Soziologische Dimensionen der Identität« insofern eine veränderte Richtung, als er nicht so sehr die Anpassungsleistungen von Individuen an situative Gegebenheiten und Verhaltenserwartungen betrachtet, sondern deren Handlungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt stellt. Dadurch werden Freiheitsspielräume der Beteiligten deutlich, die sich in Diskrepanzen ihrer Situationsdeutungen und ihrer Art der Orientierung an differenten Normensystemen zeigen.39 Er beschreibt Interaktionen als von allen Beteiligten gestaltbare, offene und revidierbare Prozesse, in denen sich Individuen fortwährend in und durch Interaktionen mit anderen Menschen selbst hervorbringen, und zwar durch ihre Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Erwartungen der anderen, zu denen sie sich positionieren müssen, ebenso sehr aber durch die Darstellung der eigenen Ansprüche an andere Interaktionsteilnehmer.40 Der oder die Einzelne muss eigene Antworten finden angesichts der »Nichtübereinstimmung der Erwartungen, der Diskrepanzen von Normen und der Offenheit von Interaktionsprozessen«41 . Krappmann betont, dass die vorgefundenen Erwartungen nicht nur »übernommen oder auch abgelehnt werden können«42 , sondern darüber hinaus die Kenntlichmachung der eigenen Einstellungen erfordern. Dies kann explizit oder implizit geschehen, sei aber »ein in jeder Situation angesichts neuer Erwartungen und in Hinblick auf die jeweils unterschiedliche Identität von Handlungs- und Gesprächspartnern zu leistender kreativer Akt. Er schafft etwas noch nie Dagewesenes, nämlich die Aufarbeitung der Lebensgeschichte des Individuums für die aktuelle Situation.«43 Die 39 40
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Lothar Krappmann (1969), Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart. Es geht in Krappmanns Ansatz darum, »die Fähigkeiten des Individuums von ihrer Funktion in Interaktionszusammenhängen her zu erfassen« und auch »ihren genetischen Ursprung […] in Interaktionszusammenhängen zu suchen« (ebd., S. 132). Ein »auf die herkömmliche Vorstellung von Persönlichkeitsstrukturen sich stützendes Konzept der Identitätskategorie« lehnt er ab (ebd., S. 11). Ebd., S. 58. Ebd., S. 35. Ebd., S. 11.
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Art dieser Aufarbeitung nimmt Impulse auf, die von den Beteiligten ausgehen, sucht ihnen gerecht zu werden und sich ihnen verständlich zu machen. Dabei geht Krappmann von gleichberechtigt sich gegenüberstehenden Interaktionspartnern aus, die gemeinsam eine kommunikative Situation gestalten, sie aber auch verlassen können. Diese prinzipielle Symmetrie schließt jedoch nicht aus, dass das Miteinander gleichzeitig von tiefgreifenden Inkongruenzen geprägt ist: Die Interaktionsteilnehmer stoßen sowohl aufgrund der eigenen Erwartungen aneinander als auch der Inhomogenität gesellschaftlicher Kontexte und Rollenerwartungen auf Widersprüche, und dies führt zu »komplexen, disparate Elemente enthaltenden Situationen«44 . Die Pointe an Krappmanns Darstellung ist, diese disparaten Elemente nicht als Störung aufzufassen, sondern davon auszugehen, dass Individuen durchaus ein Interesse an der Inkongruenz der Erwartungen und Bedürfnisse haben können, auf die sie bei anderen stoßen. Denn die Bandbreite der Rollenverständnisse und Interaktionsstile ermögliche es ihnen, sich in den Selbstdarstellungen und Situationsdeutungen der einen Interaktionspartner eher, in denen anderer weniger wiederzuerkennen und auf diese Weise über eigene Bedürfnisse Klarheit zu gewinnen. Divergenzen und Inkompatibilitäten sind für Krappmann nicht etwas, über das man sich hinwegsetzen oder dagegen behaupten muss, sondern Voraussetzung dafür, zu einer eigenen, ausbalancierten Position zu gelangen, die unterschiedliche Erwartungen zueinander in Beziehung setzt und eine eigene Synthese herstellt. Anstatt die Erwartungen anderer zu übernehmen, muss das Individuum selbst »ein Element zur Interpretation beisteuern, das nicht nur übernommen ist, sondern die ihm allein eigene Interaktionssituation aufarbeitet.«45 Und auch die unterschiedlichen Rollen, die das Individuum in verschiedenen Interaktionssystemen spielen muss, setzt es zueinander in Beziehung, kommentiert und interpretiert sie, um angesichts dieser Inkongruenzen den eigenen Standort zu definieren. Dabei ordnet es seine eigenen »sozialen Beteiligungen […] aus der Perspektive der gegenwärtigen Handlungssituation zu einer Biographie, die einen Zusammenhang, wenngleich nicht notwendigerweise eine konsistente Abfolge, zwischen den Ereignissen […] herstellt.«46 Das Interesse der Beteiligten an gelingenden Interaktionsbeziehungen oder zumindest einer verlässlichen Kooperation führt dieser Darstellung zufolge jedoch nicht zu Selbstrücknahme und einer möglichst großen Konformität gegenüber den Erwartungen anderer: »Interaktionsprozesse in einer Gesellschaft mit divergierenden Normen und getragen von Individuen mit unterschiedlichen Biographien können nur fortdauern, wenn die Beteiligten ihre Ich-Identität zu erkennen geben. […] Mit Menschen ohne Ich-Identität ist es nicht möglich zu interagieren.«47 Um sein Gegenüber als Individuum zu identifizieren, ist jeder der Beteiligten darauf angewiesen, dass der oder die andere sich als jemand mit einem Bestand an Meinungen, Fähigkeiten und Vorlieben zu erkennen gibt, die in der aktuellen Situation nicht aufgehen. »Ist das Individuum nicht in der Lage zu zeigen, dass es auch noch anderes sein und tun kann, als es im
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Ebd., S. 167. Ebd., S. 42. Ebd., S. 9. Ebd., S. 79.
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
Augenblick ist und tut, wird für die Partner jede Interaktion sinnlos, die nicht nur den gegenwärtigen Zustand reproduzieren will.«48 In Bubers Kategorien ist die von Krappmann dargestellte Interaktionsstruktur eine Beziehung zwischen Ich und Du, wobei nun aber die Ermöglichung und Ausgestaltung des Bezugs aufeinander und die Ausdifferenzierung seiner Bedingungen im Vordergrund stehen. Die Variante, dass der Andere nur als Mittel für eigene Zwecke gesehen wird, spielt in Krappmanns Darstellung gar keine Rolle, und vielleicht würde er diese Möglichkeit sogar bezweifeln. Er konkretisiert, was es heißt, zueinander in Beziehung zu treten, und dies schließt bei ihm auch divergente Erwartungen aneinander, Distanz, Unsicherheiten und Konflikte ein. Balance wird dabei zu einer zentralen Kategorie für das Individuum, sie ist Ergebnis der Interpretation seiner unterschiedlichen Erwartungen. Balancieren bedeutet nicht nur unterschiedliche, von außen kommende Rollenansprüche in Einklang zu bringen, sondern auch dem Bedürfnis nach eigener innerer Kohärenz oder zumindest Verständlichkeit Rechnung zu tragen. Diese Vermittlungsleistungen erfordern einen gewissen Abstand gegenüber den wechselnden Rollen, die das Individuum auszufüllen hat. Angesichts der »Nichtübereinstimmung der Erwartungen, der Diskrepanz von Normen und der Offenheit von Interaktionsprozessen« entwirft das Individuum immer wieder neue Antworten49 , indem es zwischen Verhaltensmöglichkeiten auswählt, sie modifiziert oder auch negiert – und zwar im Dienste biographischer Kontinuität, also des Versuchs, zu einer gewissen Konsistenz des eigenen Selbstverständnisses zu gelangen. Es kann dies nur, wenn es dazu in der Lage ist, »sich Normen gegenüber reflektierend und interpretierend zu verhalten.«50 Mit anderen Worten geht es hier um Interpretationsleistungen, die eigene Distanzierungsfähigkeit voraussetzen, und darin geht Krappmann über die Beschreibung bloßen Verhaltens hinaus: Das Individuum wird zur Reflexionsinstanz gegenüber divergierenden Ansprüchen und Erwartungen, dem Verhältnis eigener Freiheitsspielräume und objektiver Beschränkungen, es etabliert eine Metaebene gegenüber der bloßen Abfolge von Interaktionen. Dabei bedeutet Distanz hier vor allem die Möglichkeit zeitweilig einen Schritt zurückzutreten, Gründe und Gegengründe abzuwägen, Perspektiven anderer einzubeziehen. Diese von Krappmann herausgearbeitete Bedeutung eigener Stellungnahmen zu den Erwartungen und Forderungen anderer erscheint als Alternative angesichts der Buberschen Dichotomie eines unmittelbaren Miteinanders einerseits und andererseits der Inanspruchnahme des Anderen als Mittel zum Erreichen eigener Zwecke. Aufbau von Distanz gegenüber Erwartungen wird zur Bedingung der Möglichkeit dafür, zu einer Synthese der unterschiedlichen Rollenanforderungen zu gelangen. Die verschiedenen Rollen »müssen jeweils neu definiert und in ihrer Relevanz bestimmt werden«51 , und dies wird geleitet von dem Wunsch des Individuums, »dass es seine Einmaligkeit
48 49 50 51
Ebd., S. 43/44. Ebd., S. 58. Ebd., S. 133. Ebd., S. 137.
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in ihnen ausdrücken kann«52 , was einschließt, dass »es den Anforderungen einer Rolle Widerstand entgegensetzen oder sie modifizieren kann.«53 Anders als man vielleicht meinen könnte zielt Distanzierungsfähigkeit hier jedoch nicht auf Abgrenzung und Rückzug aus der Interaktion; im Gegenteil wird sie bei Krappmann zur Voraussetzung dafür, sich in die Perspektive einer anderen Person hineinzuversetzen. Distanz heißt hier, über die Bereitschaft zu verfügen, einen Schritt hinter die eigene Rolle zu machen und ihre Präskriptionen zeitweilig außer Kraft zu setzen. Um die Interessen und Loyalitäten der anderen Person verstehen zu wollen und sich dazu in den Komplex der Erwartungen und Anforderungen einzufühlen, denen der oder die Andere gerecht werden muss, ist die zeitweilige Distanznahme gegenüber den eigenen Belangen und ihrer Durchsetzung die Voraussetzung. Paradoxerweise wird Distanzierungsfähigkeit zur Voraussetzung für die Möglichkeit von Empathie; sie macht von affektiv-motivationalen Faktoren Gebrauch, um sich von der Unmittelbarkeit eigener Interessen zu distanzieren und die Beweggründe anderer nachzuvollziehen. Unübersehbar ist die Ähnlichkeit dieser Fähigkeit zum Aufschub mit Erfahrungen, die das Individuum dabei macht, wenn es sich in neues, bisherige Denkweisen außer Kraft setzendes Wissen hineindenkt: Beide Male ist ein zeitweiliger Abstand zu dem bereits Gewussten nötig, um sich dem Unbekannten zu öffnen, Dazu muss ein Habitus des Sich-Einlassenkönnens auf Fremdes entwickelt werden: es handelt sich hier um eine Art von Selbstbezug (als Voraussetzung eines veränderten Weltverhältnisses), den das Individuum erst erlernen muss. Auch dies bringt die Fähigkeit zur Reflexivität ins Spiel, denn sie ist das Vermögen, die eigene innere Haltung zu den Perspektiven Anderer in Beziehung zu setzen, Widersprüche zu durchdenken und der affektiven Bedeutung der Situation Rechnung zu tragen. Es ist das, wofür die Soziologie den sperrigen Begriff der »Ambiguitätstoleranz« bereithält und damit die Fähigkeit benennt, sich auf die Ambivalenz von Sachlagen und die Uneindeutigkeit von Motiven einzulassen. Damit umzugehen setzt voraus, die Unklarheit von Situationen auszuhalten, ohne vorschnell auf Lösungen zu dringen, die der Gemengelage der Interessen nicht gerecht werden54 . Zwar wird von der psychologischen Forschung Ambiguitätstoleranz als stabiles Persönlichkeitsmerkmal behandelt, aber einiges spricht dafür, dass auch die Bedingungen und Kontexte des Aufwachsens darauf Einfluss haben. Für Krappmann beruht die Fähigkeit, Ambivalenzen zu ertragen, auf der »Verinnerlichung der Interaktionsstrategien […], die das Kind als Partner im Rollengeflecht der Familie anwenden muss.«55 Ist es mit unterschiedlichen, vielleicht auch widersprüchlichen Auffassungen von eigenen und fremden Rollen konfrontiert, so lernt es zugleich mit uneindeutigen Situationen zurechtzukommen und darauf später zurückzugreifen.
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55
Ebd., S. 134. Ebd., S. 138. Ausführlich geht Krappmann darauf ein, was es erschwert, eine solche Position reflexiver Distanz einzunehmen, und macht dafür in erster Linie ein rigides Festhalten an normativen Vorentscheidungen verantwortlich, vgl. ebd., S. 129/30, 141/42, 146, 155-162. Ebd., S. 162.
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
Rollendistanz, Perspektivenwechsel, Empathie, Ambiguitätstoleranz: Augenfällig ist, in welchem Umfang Krappmann der Fähigkeit, eine distanzierte Haltung sowohl gegenüber eigenen eingespielten Haltungen als auch den Erwartungen Anderer einzunehmen, einen Vorrang einräumt. Als Rollendistanz bekommt diese Haltung besondere Aufmerksamkeit in Krappmanns Darstellung und einen neuen Sinn, denn von ihr hängt das Gelingen von Interaktionen ab. Distanz bedeutet hier nicht Indifferenz gegenüber den Belangen anderer, sondern die Möglichkeit zu einem kurzzeitigen Rückzug aus Handlungszwängen, die durch die Identifikation mit einer Rolle entstehen. Er stellt ein Individuum in den Mittelpunkt, das aufgrund seiner Wahrnehmungsfähigkeit, seiner Bereitschaft zur Interpretation dieser Wahrnehmungen und zur Reflexion auftretender Widersprüche mehr tut, als bloß zu reagieren: Es verarbeitet das, was es erlebt, auf produktive Weise. Damit kommt etwas Eigenes ins Spiel, das aktiv Einfluss nimmt auf die Gestalt des Zwischenraums zwischen den Interaktionspartnern.56 Formal betrachtet ist dies seine ihm eigene Fähigkeit, Widersprüchliches auszubalancieren, anstatt diese Widersprüche zu negieren. Dies wird inhaltlich angetrieben von den Gedanken, die es sich zu dieser Situation macht, und sie speisen sich aus dem Wissen des Individuums, das es in lebensgeschichtlichen Bildungserfahrungen erworben hat und sich im Herstellen von Zusammenhängen, in Zielvorstellungen, Bewertungen und Hoffnungen zeigt. In die Interpretation der eigenen Rolle und der situativen Anforderungen gehen insofern nicht nur Wahrnehmungen ein, die sich auf aktuelle Erfordernisse beziehen, sondern Kenntnisse, Bewertungen, Urteilsstrukturen. Dies alles sind jedoch Voraussetzungen, die in der Kommunikation mit Interaktionspartnerinnen und -partnern nur implizit zum Tragen kommen. Indirekt färben sie sachbezogene Äußerungen ein und zeigen sich als Bereitschaft, andere Perspektiven anzuerkennen und Divergenzen zu akzeptieren. Wieder bekommt hier der Begriff der Vermittlung einen besonderen Stellenwert, doch stehen nun nicht mehr jene Vermittlungsleistungen an erster Stelle, über die es sich selbst als Subjekt konstituiert, indem es sich auf den Bezug zwischen seinen Erfahrungen mit der Außenwelt und seiner inneren Erfahrung konzentriert. Aus der Fähigkeit, zwischen der eigenen Empfänglichkeit gegenüber dem Außen und der eigenen inneren Selbsttätigkeit zu vermitteln hatte Humboldt das Bewusstsein der eigenen Individualität abgeleitet. Die Vermittlungsarbeit, die in den von Krappmann dargestellten Situationen von den Individuen geleistet wird, geht darüber hinaus, indem sie ein »Zwischen« als Raum der Interaktionen von Individuen miteinander konstituiert. Dieses »Zwischen« beruht auf der Anerkennung der Verschiedenheit der Perspektiven und der unterschiedlichen Formen, mit solchen Differenzen umzugehen. Vermittlung ist gefordert zwischen den impliziten Voraussetzungen, die jede und jeder mitbringt, und den expliziten Aufgaben der geforderten Kooperation, zwischen den implizit bleibenden
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Krappmann stellt zu Beginn seiner Arbeit die Vorstellung von etwas Eigenem in Frage und setzt, wo er sich doch dazu gezwungen sieht, auf diesen Ausdruck zurückzugreifen, das Eigene in Anführungsstriche (vgl. ebd., S. 11). Geschuldet ist dies seiner Intention, die Fähigkeiten des Individuums auf »ihren genetischen Ursprung […] in Interaktionsbeziehungen« zurückzuführen (ebd., S. 132). Später gibt er die Sprachregelung der Anführungszeichen jedoch auf, z.B. wenn er von »eigenen Bedürfnisdispositionen« spricht (ebd., S. 157).
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Gründen, die eigene Rolle auf die jeweilige Weise auszugestalten, und den expliziten Erwartungen, die die Beteiligten aneinander haben, zwischen den impliziten Intentionen, die das Verhalten der Einzelnen leiten, und dem explizit zum Ausdruck gebrachten Verständnis gemeinsamer Zielsetzungen. Das Implizite, Inartikulierte, das, was sich nicht ohne Rest aussprechen lässt, nicht einmal ohne Weiteres bewusstseinsfähig ist, drängt erst da zum Ausdruck, wo die Gemeinsamkeiten der Situationsdeutung enden. Um zwischen diesem Implizitbleibenden und dem explizit Formulierbaren vermitteln zu können, wird das Arsenal der Verhaltensmöglichkeiten wichtig, das Krappmann als Voraussetzungen gelingender Interaktionen entfaltet: der Freiheit zur Interpretation der eigenen Rolle und zur Reflexion von Erwartungen, der Möglichkeit, sich in die Perspektive anderer hineinzudenken und sich mit Empathie auf die unartikulierten Prämissen zu beziehen, die sich in diesen Perspektiven ausdrücken. Teil an dieser Vermittlungsarbeit hat das explizite Wissen – als Kenntnis der Ziele und ihrer Rahmungen, der Verfahrensschritte und dafür nötigen Ressourcen – und die impliziten Deutungen der gemeinsamen Situation, d.h. ein inhaltliches Wissen, das nicht in bloßer Verhaltensregulation aufgeht. Die bildungstheoretische Perspektive lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, welche Möglichkeiten den Einzelnen zur Verfügung stehen, das Gemeinsame und das Differente zu thematisieren, aber ihm nicht nur Ausdruck zu verleihen, sondern darauf Einfluss zu nehmen. Bildung wird zur Heranbildung eines gemeinsamen Artikulationsraums, der auf den Reflexionsleistungen der Einzelnen beruht.57 Die Verhaltensformen, die Krappmann als Bedingungen gelingender Interaktion identifiziert, sind kein bloßer »Tugendkanon« in neuem Gewand. Was sie davon unterscheidet, ist dass sie von den situativen Notwendigkeiten der Verständigung funktional gefordert werden: sie erfordern zumindest eine Bemühung darum, die Kontexte und inhaltlichen Begründungen fremder Positionen und Verhaltensweisen der Anderen sich zu erschließen. Denn die Beteiligten sind auf das Gelingen ihrer Kooperationen angewiesen. Dies verändert den Status der Bildungsprozesse; sie sind kein soziales Privileg, sondern werden zur Bedingung dafür, dass eine Bearbeitung der Differenzen, die Kooperation gefährden, gelingt. Selbstreflexion ist dabei zugleich die Voraussetzung der Kooperationsfähigkeit und wird durch deren Notwendigkeit motiviert. Dabei ist diese Reflexivität zugleich auf ein inhaltliches Wissen angewiesen, das Ähnlichkeiten mit dem aufweist, was traditionell unter Bildungswissen verstanden wurde: Wo Kenntnisse zu den Hintergründen von Positionen, Perspektiven, Zielsetzungen gefordert sind, wird breitgestreutes kulturelles Wissen erforderlich. Es stellt für das Individuum die Koordinaten bereit, um den Sinn von Handlungen, von grundlegenden Orientierungen und Wertungen besser verstehen zu können. Dabei ist es – kaum anders als dies Humboldt in den Schulplänen formuliert – auf die Allgemeinheit dieser Kenntnisse wie auch der Zugangsmöglichkeiten dazu angewiesen. Insofern bedeutet Krappmanns
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Diese Darstellung könnte den Vorwurf auf sich ziehen, eine allzu euphemistische Präsentation tatsächlicher Interaktionsabläufe und ihrer Probleme zu sein, jedoch verkennt dies die Funktion, die dies als Entwurf der Voraussetzungen gelingender Interaktionen hat. Indem Krappmann deren Bedingungen auslotet, bewegt er sich eher auf der konzeptionellen Ebene der Frage, welchen Ansprüche eine zunehmend auf diskursive Problembewältigung angelegte Gesellschaft gerecht werden muss, als der psychologischen Analyse, woran dies scheitert.
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
nachdrückliche Betonung der Beziehungsdimension nicht eine Verschiebung, sondern eher eine abermalige Erweiterung des Bildungsbegriffs und beschränkt sich nicht auf die Verhaltensdimension. Rekapituliert man noch einmal in aller Kürze die Entwicklung des Bildungsbegriffs, so lag der Fokus zunächst auf dem Erwerb jener Kenntnisse, die von einem über Jahrhunderte gültigen, nahezu invarianten »Lehrplan des Abendlandes« (W. Dolch) vorgeschrieben wurden und sich auf die Aneignung der Ordnung kultureller und religiöser Überlieferungen bezogen. Erst der klassische Bildungsbegriff verschob das Verständnis von Bildung hin zu Selbstentfaltung und Individualisierung, und dies in Auseinandersetzung mit einer möglichst großen Vielfalt von Situationen, die das Individuum selber als Schauplatz seiner Selbstfindung auswählt. Wenn schließlich nun die Ebene der Interaktion und der Verständigung zunehmend in den Blick gerät, so vor dem Hintergrund problematisch gewordener Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit. Die Erfahrung der Alterität des Anderen und die Bearbeitung von Differenz und Dissens treten in den Vordergrund. Krappmanns Darstellung lenkt den Blick auf die Bedingungen, vor allem die Ebene divergenter Erwartungen, deren Bearbeitung für Interaktionen konstitutiv ist, und darauf, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, dass Auseinandersetzungen nicht zu einer Gegenüberstellung vorgefasster Positionen erstarren. Interaktion wird in der Perspektive, die Krappmann skizziert, zu einem Medium, in dem zwischen den Beteiligten in einem längerfristigen Prozess neue Einstellungen und Sichtweisen und, daraus resultierend, neue Haltungen dem Anderen gegenüber entstehen können. Dass all dies auf eine aktive Erarbeitung dieser Fähigkeiten angewiesen ist, macht dies zum Bildungsprozess. Der Titel von Krappmanns Darstellung – »Soziologische Dimensionen der Identität« – weist darauf hin, dass die Ausarbeitung solcher Konzepte zunächst eher ein sozialwissenschaftliches Thema war und dann erst, über die Rezeption dieser Ansätze, zum Arbeitsfeld der Erziehungswissenschaft wurde. Erweitert zu einer allgemeinen Theorie der sozialen Konstitution von Identität wurden sie in den 1970er Jahren zu einem Grundkonsens der Erziehungswissenschaft, während Bildungstheorien dieses Thema kaum aufnahmen; einer der Gründe lag vermutlich in einer verbreiteten Reserviertheit gegenüber dem Denken des Pragmatismus, der ausgehend von Dewey und Mead den Hintergrund dieser Denkansätze bildete. Für die Erziehungswissenschaft wurden diese Denkansätze vor allem zum Ausgangspunkt für empirisch erforschbare Einzelfragen, wobei der Fokus jedoch eher auf den Sozialisationseffekten für das einzelne Individuum lag. Die Konzeptualisierung verständigungsorientierten Handelns und der dafür nötigen Bildungsprozesse spielte eine geringere Rolle, zumindest auf Theorieebene; Praxiskonzepte sozialen Lernens wirkten wie abgekoppelt.58 Bildungstheorien selbst
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Einen Niederschlag fand dieses Thema eher in ausgesprochen praxisorientierten Arbeiten: Z.B. denen von Reinhard und Anne-Marie Tausch, vor allem ihrer 1970 in der 5. Auflage erschienenen »Erziehungspsychologie«, sowie den Arbeiten von Klaus Schaller zur Kommunikativen Pädagogik, Friedemann Schulz von Thuns mehrbändiges »Miteinander reden. Störungen und Klärungen« sowie den schulpädagogischen Handreichungen von Reinhold Miller, insbesondere seiner »Beziehungsdidaktik« von 1999.
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Transformationen des Bildungsbegriffs
begannen solche Impulse erst verspätet, und zwar im Kontext von Fragen der interkulturellen und der Umweltbildung aufzunehmen. Heinz-Elmar Tenorth führt dieses Zögern auf eine Art von strukturellen Konservatismus zurück: Bildungstheoretischem Denken attestiert er, dass die »Reflexion über Bildung […] sich in einem durchaus eigentümlichen historischen Traditionsverbund entfaltet und ja auch im Wesentlichen von diesem, seit dem Ursprung nur geringfügig erweiterten und in dieser Erweiterung meist dem Ursprung noch verpflichteten Traditionsbestand bis heute nährt.«59 Dies führe dazu, dass die in anderen Humanwissenschaften entwickelten Ansätze oft nur oberflächlich oder unvollständig rezipiert würden; eine Entwicklung von Forschungsperspektiven sei auf dieser Basis nicht möglich. Demgegenüber soll die These vertreten werden, dass gesellschaftliche Veränderungen im Begriff des Wissens sich auch in einer Veränderung des Bildungsbegriffs niederschlagen, die zumindest an den Rändern sichtbar wird.
10.3
Veränderungen im Begriff des Wissens
Der traditionelle Bildungsbegriff wurde nicht für eine Gesellschaft öffentlicher Diskurse und gemeinsamer Willensbildungsprozesse entworfen. Das Bildungssubjekt der frühen theoretischen Konzeptionen wollte sich in ein neues Verhältnis zu sich selbst setzen, es lebte in einer Welt weitgehend monologischer Selbstverständigungen; das Gemeinsame, das es mit anderen verband, war lediglich eine Vorstellung von Vernunft als abstraktes, aber alle verbindendes Konzept. Bildung war zunächst nur ein weiteres umgangssprachliches Wort für die statische Gestalt. Dann aber wurde es Ende des 18. Jahrhunderts zum »Vorgangswort« (G. Bollenbeck) es nahm die dynamische Bedeutung des Gestaltens an und brachte damit den Willen, sich zu verändern, wie man ein Material verändert, zum Ausdruck. Es war der Wille, sich von überlieferten, von der Tradition angebotenen Identitätsmustern abzugrenzen. Bildung hieß nun Selbstthematisierung in ihrer Verlaufsform, eine auf Dauer gestellte Verflüssigung vorgefundener Rollen. Die Einrichtung eines öffentlichen Bildungssystems hat seitdem den Bildungsbegriff verändert. Für Humboldt stand die Institutionalisierung von Bildung (nach einigem Bedenken) nicht im Widerspruch zur der von ihm als vorrangig angesehenen Aufgabe, »die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen« zu wollen60 ; er suchte sich davon zu überzeugen, dass Schule die Chance bietet, diesen Zuwachs allen Ständen zu ermöglichen. Dennoch bedeutete dies eine Kanalisierung des ursprünglichen Bildungsgedankens; institutionelle Bildung regulierte nun die individuelle Entfaltung durch die obrigkeitliche Steuerung und Definition dessen, was an Kräften wünschenswert sei und was ohne Bedeutung. Die Bereitstellung von Orientierungswissen, Kulturtechniken, Denkmitteln sollte die Individuen mit vergleichbaren Grundlagen für ihre weitere Fähigkeitsentwicklung ausstatten, vor allem aber mit ähnlichen Auffassungen von Ra-
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H.-E. Tenorth (2020), a.a.O., S. 252. W. v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, a.a.O., Bd. I, S. 235.
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
tionalität, verstanden als Kohärenz und Folgerichtigkeit des Denkens.61 Dennoch ist es schwer zu entscheiden, ob das, was als schulische Bildung bezeichnet wurde und wird, lediglich die Voraussetzung und Grundlage eigener späterer Bildungsprozesse ist oder ob dies zurecht selbst schon den Titel der Bildung trägt. Schule setzt Bildung weitgehend mit Wissenserwerb und Qualifikation gleich, dabei strukturiert sie das Lernen der Einzelnen in hohem Maße vor und bindet es an leistungsthematische Situationen, in denen vorab definierte Ergebnisse mit den erbrachten Leistungen verglichen werden. Legt man ein traditionelles Verständnis von Bildung zugrunde, so sind Schulen nur in einem sehr schwachen Sinne Orte der Bildung, denn die inhaltliche Beschäftigung mit Unterrichtsgegenständen wird ständig überlagert von der Orientierung an Bewertung, Wettbewerb und Fragen des besten Verhaltens im Umgang mit dieser Situation. Solche Erfahrungen sind in bestimmten Entwicklungsphasen besonders prägend, denn über Wettbewerbsstrukturen handeln Individuen ihre Stellung in der Gruppe aus. Wettbewerb um gute Noten, kommt in bestimmten Phasen eine mindestens ebenso große Bedeutung für die eigene Orientierung zu wie inhaltlichem Wissen. Die inhaltliche Neugier, die Schülerinnen und Schüler mitbringen, wird durch die für sie existentielle Erfahrung von Konkurrenz und Bewertung überlagert. In diesen Situationen wird etwas erfahrbar, das auf sonst nur schwer fassbare Weise die Gesellschaft bestimmt, Regeln, die gemeinsame gesellschaftliche Tätigkeiten auf eine sehr viel verborgene Weise steuern: die Bedeutung von Rollenverteilungen, Machtverhältnissen, Regelkonformität und gewährter oder verweigerter Anerkennung zum Beispiel. G. H. Mead spricht vom »Hereinholen der weitgespannten Tätigkeit des jeweiligen gesellschaftlichen Ganzen […] in den Erfahrungsbereich« der Schülerinnen und Schüler62 . Etwas vorher Abstraktes wird konkret: »Die Wichtigkeit des Wettkampfs besteht darin, dass er gänzlich innerhalb der Erfahrung des Kindes liegt.«63 Dies gilt insbesondere für die von Mead erörterten sportlichen Wettkämpfe, in gewisser Weise aber auch für jede andere leistungsthematische Situation in der Schule. Indem die Heranwachsenden lernen, sich der Logik des Wettbewerbs zu unterstellen, erfahren sie die dieses gesellschaftliche Ganze strukturierenden Regeln als etwas von unmittelbarer Wichtigkeit für ihr Leben und setzen sich nicht nur mit ihnen auseinander, sondern wenden sie als Beurteilungskriterien auf sich selber an. Dies sind Lektionen, die alle Kräfte absorbieren und denen gegenüber die Auseinandersetzung mit inhaltlichen Fragen leicht ins Hintertreffen gerät; diese sind stets in Gefahr, auf einen bloßen Anlass für die viel unmittelbarer als entscheidend wahrgenommenen Leistungssituationen reduziert zu werden. Sozialisationserfahrungen sind zumindest phasenweise in Institutionen wie der Schule inhaltlichen Bildungserfahrungen vorgeordnet, denn sie haben die größere existentielle Tragweite.64 Auf der Rückseite curricularer Lernerfahrungen findet insofern für die Lernenden etwas statt, dass nicht nur mit der von ihnen erwarteten Zunahme 61
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Diese Verpflichtung auf die innere Widerspruchsfreiheit der eigenen Ansichten kann in der Folge zum Auslöser von Bildungsprozessen werden, da sie der Vieldimensionalität eigener Erfahrungen nicht gerecht wird. G.H. Mead (1968), Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt a.M., S. 197. Ebd., S. 202. Der Wettbewerb um gute Noten führt bei Schülerinnen und Schülern zu Selbstbeschreibungen in Kategorien von »Ich bin gut/Ich bin schlecht in …«. Sie sagen nicht: »Ich kann schon/Ich kann noch
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von Kenntnissen und Fähigkeiten zu tun hat, sondern Lernprozesse ganz anderer Art betrifft: einerseits die von Mead hervorgehobene Einführung in relativ abstrakte Regulative gesellschaftlichen Handelns, andererseits die höchst konkrete Erfahrung von Abhängigkeit: als Abhängigkeit von Lehrplänen, Leistungserwartungen, Lehrpersonen, Klassenzusammensetzungen, Selektionsentscheidungen. Klaus Holzkamp hat dies als Nötigung zu »defensivem Lernen« beschrieben, d.h. als Notwendigkeit, unangenehme Konsequenzen abzuwehren. In welchem Maße das Erlernen strategischen Verhaltens das mit Bildung Gemeinte überlagert, illustriert Holzkamp an einem eindrucksvollen Gedankenexperiment, das von einem Schüler ausgeht, der den gerade behandelten Unterrichtsgegenstand wirklich zu seinem Interesse macht. »Nehmen wir an, ein vom Lehrer dargestelltes Problem hat mich (als Schülerin/Schüler) so nachhaltig betroffen und interessiert, dass ich es als meine Lernproblematik übernommen habe: Ich werde also … herauszufinden suchen, wo dabei meine Schwierigkeiten liegen […], reaktualisieren, was ich darüber schon weiß und mir überlegen, in welchen allgemeineren Zusammenhang das Problem gehört […] Dies heißt aber, dass ich mich damit schrittweise aus dem schuloffiziell vorgegebenen Unterrichtsarrangement hinausbewege […] Auf oberflächlichster Ebene gerate ich hier schon mit dem zeitdisziplinären 45-MinutenTakt der Schulstunde in Widerspruch: Es wird vielleicht gleich zur Pause klingeln, dann wird der Unterricht schlagartig abgebrochen […], falls ich in der Pause noch etwas auf meinem Platz bleiben und nachdenken (mir vielleicht ein paar Notizen machen) will, werde ich vom aufsichtführenden Lehrer pflichtgemäß auf den Schulhof geschickt – und in der nächsten Stunde ist etwas total anderes dran. Viel gravierender ist es aber, dass sich im Zuge der Verfolgung meiner Lernproblematik […] meine Zuwendung zum weiterlaufenden Unterricht reduzieren muss. So kann ich […] meine mentale Anwesenheit im Unterricht, gerade weil ich tatsächlich etwas zu lernen angefangen habe, nicht mehr erfüllen: Ich bin ›unaufmerksam‹ […] Ich habe (wie der Lehrer aus seiner Sicht konstatieren muss), ›nicht aufgepasst‹, vielleicht sogar […] statt seinem Unterricht zu folgen, einem Moment nachdenklich aus dem Fenster geschaut […] Was außerhalb der Schule vielleicht der Anfang eines kooperativen Gesprächs, aus dem beide Gesprächspartner etwas lernen, hätte werden können, ist eben in der Schulklasse – da objektiv mit der Abhaltung des vorgeschriebenen Unterrichts nicht vereinbar – tatsächlich ›unmöglich‹.«65 Dieser Exkurs soll die unterschiedliche Logik verdeutlichen, der Lernen in- und außerhalb der Schule folgt. Will man aufrechterhalten, dass Bildungsprozesse an die Kriterien einer eigenständigen Entscheidung über ihren Inhalt und über die angestrebten Ziele gebunden sind, ist es fraglich, ob die Rede von »Bildungssystem« und »Bildungsmaßnahme«, »Bildungsplänen« und »Bildungsabschlüssen« in Bezug auf Schule wirklich angebracht ist. So berechtigt der Zweifel daran ist, ob es hier wirklich um Bildung im Sinne der Vermittlungsfähigkeit zwischen Eigenem und Fremdem geht und nicht nur um ein Abarbeiten von Lernpensum, ist der Bildungsbegriff im Laufe der
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nicht …«, d.h. sie nehmen sich selbst gegenüber den totalisierenden Blick einer höheren Urteilsinstanz ein. Klaus Holzkamp (1995), Lernen – Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt/New York, S. 477/78.
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
letzten 200 Jahre so stark an kognitives Wissen gebunden worden, dass er inzwischen nicht mehr vom schulischen Kenntniserwerb abgekoppelt werden kann. Dieses Wissen ist zur notwendigen, wenngleich nicht hinreichenden Bedingung auch der informellen Bildungsprozesse geworden. Schulische Lern-Erfahrungen werden als Orientierungswissen zur Voraussetzung für die Klärung der eigenen Ziele, sie können eine Vorbereitung künftiger Eigenständigkeit sein. Zugleich verändert sich der Bildungsbegriff auch durch den veränderten Bezug der Individuen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen, die ihrerseits eine andere Qualität angenommen haben. Unmittelbare Erfahrung und Sachverhalte, die sich nur über Wissen erschließen lassen, stehen wie zwei getrennte Realitäten nebeneinander. Aber sie beeinflussen sich wechselseitig; komplexe, unmittelbar gar nicht sichtbare Zusammenhänge zeigen Wirkung im alltäglichen Leben. Was die Individuen unmittelbar als ihre Alltagswelt umgibt, ist verflochten mit räumlich entfernten Schauplätzen und zukünftigen Handlungskonsequenzen, die durch hier und jetzt getroffene Entscheidungen beeinflusst werden. Prozesse der Zerstörung von Lebensmöglichkeiten und natürlichen Ressourcen sind für die unmittelbare Wahrnehmung oft nicht sichtbar, zeitliche Auslagerung oder räumliche Externalisierung der Nebenfolgen eigenen Handelns, die anderswo oder in der Zukunft eintreten, haben zur Folge, dass »die konkrete Lebenswelt des Individuums in globale Kontexte verflochten [ist]: […] Die kognitiven wie die moralischen Maßstäbe, deren wir zur Orientierung […] bedürfen, können nicht mehr hinreichend aus dieser Lebenswelt selbst gewonnen werden.«66 Dies hat beträchtliche Folgen für die Bedeutung von Wissen: Es verändert seinen Status, es lässt sich nicht mehr auf Orientierungswissen, Verfügungswissen und Vergewisserung der eigenen kulturellen Herkunft eingrenzen, sondern muss nun zugleich Wissen über die Folgen, Antizipationsfähigkeit, das Einnehmen unterschiedlicher Perspektiven einschließen. Erwartete W. v. Humboldt sich noch von neuem Wissen, dass dadurch »Licht und […] Wärme in sein Inneres zurückstrahle« und er dadurch »sich selbst verständlich, […] frei und unabhängig« werde67 , so kommen nun Anforderungen an Wissen in ganz anders gearteten Dimensionen hinzu. Bildungsprozesse sind nicht mehr auf den Freiraum eines von gesellschaftlichen Fragen losgelösten Selbstbezugs eingrenzbar, durch die Notwendigkeit, gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen Stellung zu beziehen, ist das Individuum auf andere Ressourcen an Wissen und Verhaltensmöglichkeiten angewiesen, als für die Klärung des eigenen Selbstverhältnisses nötig waren: Es wird Einsicht in komplexe Wenn-dann-Beziehungen in verschiedenen Gegenstandsbereichen nötig, die Fähigkeit zu deren Analyse, um unterschiedliche Handlungsoptionen entwickeln und beurteilen zu können. Dies sind Fähigkeiten, zu deren Aufbau planmäßige Vermittlung nötig ist, Lernumgebungen, die den systematischen Erwerb von Kompetenzen ermöglichen, und Unterstützung im Prozess, sich einen Überblick über komplexe Strukturen zu verschaffen. Dies kann am ehesten Unterricht in Gestalt langfristiger, aufeinander aufbauenden Sequenzen, d.h. seine formale Strukturierung, leisten. Was bei der Rede von formeller und informeller Bildung so wirkt, als stünden hier zwei Bildungsbegriffe weitgehend beziehungslos nebeneinander, der eine durch die 66 67
Klaus Seitz (2002), Bildung in der Weltgesellschaft. Frankfurt a.M., S. 264. W. v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, a.a.O., Bd. I, S. 237, 235.
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Entwicklung eines öffentlichen Bildungssystems entstanden, der andere dessen ins Private abgedrängte Vorform, erweist sich bei näherem Hinsehen insofern als miteinander verschränkt, da einer auf den anderen angewiesen ist: Informelle Bildung ist an Voraussetzungen gebunden, die in formellen Lernprozessen erworben werden, sie beruht auf Zugängen zur Kultur, die durch die formalisierten Angebote der Schule angebahnt wurden, und diese werden im Gegenzug dadurch gerechtfertigt, dass sie mit Kenntnissen für einen späteren unabhängigen Gebrauch ausstatten. Für Prozesse informeller Bildung ist einiges gleichgeblieben; weiterhin gilt, was bereits von Humboldt als zentral herausgestellt wurde: Auf eine »Mannigfaltigkeit der Situationen« komme es zu ihrer Entfaltung an und auf den Dialog mit Anderen68 , d.h. auf die unmittelbare Erweiterung individueller Spielräume durch eine Vielfalt von Erfahrungen. Informelle Bildung bedeutet einerseits Wissenszuwachs, andererseits die Notwendigkeit, sich im gemeinschaftlich geteilten Raum auf konstruktive Weise zu bewegen. Gegenwärtig hat sich dies durch Informationstechnologien vor allem auf der quantitativen Ebene gesteigert. Die Bildungserfahrungen in diesen außerinstitutionellen Kontexten, so die These des vorangegangenen Kapitels, sind jedoch angewiesen auf Räume, in denen sich kommunikative Beziehungen zu Anderen über längere Zeit entwickeln können und die in Ansätzen vorhandene kommunikative Wende von Bildungstheorien trägt dem Rechnung. Sie gehen nicht mehr von einem Subjekt von Praktiken einsamer Selbststeigerung aus, sondern zielen auf Wechselseitigkeit in den Bezügen der Individuen zueinander. Entfaltet wird ein Aspekt, der schon von frühen Bildungstheorien gesehen wurde, nämlich dass informelle Bildung kommunikative Beziehungen voraussetzt69 . Zu diesen Bildungsprozessen sind die Individuen auf Räume der Expressivität und Selbstdarstellung angewiesen, Räume der Auseinandersetzung mit den Erwartungen und Positionen anderer Personen, aber auch des Rückzugs, der Distanz als Möglichkeit zur reflexiven Vergegenwärtigung dieser Erfahrungen und ihrer Implikationen. Die Bewohner des gemeinsamen gesellschaftlichen Raums wollen sich Anderen gegenüber mitteilen und Stellung beziehen, sie sind darauf angewiesen, die eigene Haltung verständlich zu machen; sie wollen einander zusehen und zuhören bei der Herausbildung ihrer unterschiedlichen Einstellungen und Haltungen und überprüfen, ob sie deren Berechtigung nachvollziehen können. Es geht dabei nicht nur darum, die eigene Position zu vertreten, sondern auch um die »allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«, wie dies Heinrich von Kleist genannt hat. Denn als Person wird jemand nicht nur durch den formulierten Gedanken kenntlich, sondern durch die Mittel, deren er oder sie sich bei der allmählichen Verdeutlichung der eigenen Position bedient.70 Zu diesen Mitteln gehört neben vielem anderen ein auch anderen zumindest ansatzweise vertrautes Archiv 68 69 70
W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, a.a.O., Bd. I, S. 64/65. Von kaum etwas anderem sprechen der Anton-Reiser-Roman von K. Ph. Moritz und Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, s.o. Kap. 3. Heinrich v. Kleist entwickelt die Konstitution der Gedanken beim Reden aus dem Gegenüber einer zweiten Person und ihrem Blick, »der uns einen halbausgedrückten Gedanken als schon begriffen ankündigt«. Er macht Mut, diesen Gedanken nicht nur zu Ende zu bringen, sondern dies vielleiht sogar auf eine neue, für die erste Person überraschende Weise. Darin liegt die »Hebammenkunst« der zweiten Person. (Heinrich v.Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: Ders. (1977), Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2. München, S. 320, 324)
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
von Wissen und Kenntnissen, vertraut zumindest im Lageplan der einzelnen Wissenselemente und ihren Nachbarschaften, einem Lageplan, den alle überblicken können, wenn auch ihre Detailkenntnisse im Einzelnen variieren. Mit anderen Worten geht es um Ressourcen an Kenntnissen, aber auch an Fähigkeiten, sich produktiv auf andere Personen zu beziehen und an ihre Perspektiven anzuknüpfen. Diese Fähigkeiten zum Wechsel der Perspektive und zum Umgang mit Ambiguitäten sind nicht ohne Weiteres gegeben; die Beteiligten müssen ein Bewusstsein ihrer Notwendigkeit haben, um sie zu erlernen und so Kooperationen möglich zu machen. Bildungsprozesse schließen damit die Arbeit an der eigenen Vermittlungsfähigkeit zwischen vorhandenem Wissen und den Erfordernissen der aktuellen Situation ein. Und dies bedeutet die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit etwas Unbekanntem: mit dem Denken der anderen Person, ihrer Perspektive, ihrer Fremdheit, ihren vielleicht ganz anders gearteten Horizonten von Werturteilen und Wissen. Angelegt ist diese Bedeutung des Fremden als Anstoß für Bildungsprozesse in Bildungstheorien von Anfang an, bei Humboldt als Empfänglichkeit für Fremdes und dessen Aneignung, bei Hegel als radikale Veränderung des Selbst durch die konflikthafte Begegnung mit einem Anderen, bei Novalis als Wechselseitigkeit der Lernerfahrungen und wechselseitige Ergänzung der Beteiligte. In all diesen Theorien scheint eine vom Anderen trennende »radikale Differenz« noch nicht denkbar (bzw. nicht theoriefähig) gewesen zu sein71 . Die konflikthafte Dimension wird erst im Übergang zum gesellschaftstheoretischen Denken fassbar, den das 19. Jahrhundert vollzieht. Damit vollzieht sich aber nicht nur eine Ergänzung des Bildungsgedankens, sondern seine Veränderung. Für eine Bildungstheorie ist es von Belang, wenn die Beziehungsdimension zu etwas wird, das den Orientierungsrahmen der Beteiligten in Frage stellt, Alternativen zum eigenen Denken und Urteilen unübersehbar werden und Zuschreibungen sich verflüssigen. Zum Grenzfall verständigungsorientierter Kommunikation wird, dass in solchen Fällen tief verankerte Überzeugungen berührt werden, die als nicht verhandelbar erscheinen. Dabei entsteht oft der Eindruck, mental in völlig verschiedenen Welten zu leben. Eine Zeit lang wurden unter bildungstheoretischer Perspektive solche Konflikte gerne als Möglichkeit verstanden, sich in der Gestalt des Fremden, des Anderen, des Du der eigenen Fähigkeiten und der eigenen Kultur zu vergewissern. Man beschränkte sich darauf, sich im Anderen zu spiegeln und darin Klarheit über das Eigene zu gewinnen. Dies hat sich geändert, an die Stelle dieser Haltung tritt die Notwendigkeit, Aufmerksamkeit zu entwickeln für Unvertrautes in seiner Fremdheit. Klaus Seitz formuliert dies als Forderung, »den Kontext der eigenen Wertvorstellungen stetig zu überschreiten und den moralischen Horizont auf die Einbeziehung der jeweils ›Anderen‹ hin fortschreitend auszuweiten.«72 Möglich wird diese Überschreitung durch die Fähigkeit sich in die Perspektive des Anderen hineinzudenken und die damit einhergehende Vervielfältigung der Positionen auszuhalten. Wenn sich gegenwärtig eine zunehmende Bereitschaft abzeichnet, die Hinwendung zum Anderen in seiner Andersheit und Fremdheit und ihre Voraussetzungen zu thematisieren, so ist 71 72
Hans-Christoph Koller (2009), Der klassische Bildungsbegriff und seine Bedeutung für die Bildungsforschung. In: L. Wigger (Hg.), Wie ist Bildung möglich? Bad Heilbrunn, S. 34-51, hier S. 44. K. Seitz (2002), a.a.O., S. 44.
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dies wahrscheinlich darin begründet, dass Dinge, die historisch lange selbstverständlich waren, sich in Problemfelder verwandeln. Die hier verhandelten Fragen stellen sich Anfang des 21. Jahrhunderts mit größerer Schärfe und Unverhülltheit und bezogen auf immer mehr Bereiche, die nur gemeinsam zu klären sind: Wie wir leben wollen wird zur Frage, wie wir gemeinsam und zusammen leben können. Die Suche nach Möglichkeiten, wie die Lebensansprüche der Lebewesen in ihrer Vielfalt gewahrt werden, wird zur Unruhe hinter der Suche nach Zuwachs an Wissen und an Fähigkeiten der Verständigung. Die erwähnte Beobachtung von Seitz, dass in immer mehr Fällen die Nahperspektive nicht ausreicht, um zu entscheiden, was gut und richtig ist, und Orientierungen, die für die Beurteilung von Handlungsnotwendigkeiten und Verhaltensalternativen Grundlage wären, nicht mehr aus der unmittelbar umgebenden Lebenswelt gewonnen werden können, verändert den Status von Erfahrung. Erfahrung war stets an sinnliche Wahrnehmung und damit an eine bestimmte Perspektive gebunden; sie ging mit einer räumlich und zeitlich angebbaren Position, einem eigenen Standort einher. Aber die Perspektivität, auf die sich Seitz in dem Zitat bezieht, kann sich nur über die Fähigkeit, vom unmittelbar Gegebenen zu abstrahieren, entwickeln. »Die Globalisierung vollzieht sich nicht nur vor unseren Augen, sondern auch hinter unserem Rücken«73 , ebenso eine Reihe anderer Veränderungen des bisherigen Lebens in der natürlichen Umwelt; nur durch Zeitlupen und Zeitraffer, Auswertung von Daten und dem Blick durch Elektronenmikroskope wird überprüfbar, wovon sinnliche Erfahrung nur einen unvollständigen Eindruck liefert. In alltagsweltlichen Zusammenhängen ist aber diese Infragestellung der eigenen Perspektive für den Einzelnen schwer auszuhalten, sie kann nur als Bedrohung verstanden werden. Dieses drohende Wegbrechen der Referenzrahmen, die Orientierung geben, wird bewältigbar durch die Artikulation der eigenen Vorstellungen, der eigenen Ideen, Erwartungen und Befürchtungen, der eigenen inneren Bilder, die diese Vorstellungen grundieren. Artikulation, die Möglichkeit zur Darstellung der eigenen Wert- und Zielvorstellungen, ist auf Wechselseitigkeit des Austausches angewiesen, auf die Möglichkeit zur Verdeutlichung der eigenen Perspektive ebenso wie auf die Fähigkeit zum Zuhören und ein Sich-Einlassen auf die fremde Sichtweise und die Kommentare von Anderen. So wird eine gemeinsame »Verfertigung der Gedanken« beim Reden und Zuhören in ihrer Wechselseitigkeit möglich und über diese Artikulationen eine Öffentlichkeit, die von den Beteiligten hergestellt wird.
10.4
Die Ausdehnung des Wahrnehmungsfelds
Peter Weiss stellt in seinem Roman »Die Ästhetik des Widerstands« Orientierungsversuche in einer gesellschaftlichen Umwelt dar, in der Überleben äußerst schwierig geworden ist. Auf den ersten knapp zweihundert Seiten des fast tausend Seiten umfassenden Texts werden Gespräche geschildert, die im Berlin des Septembers 1937 von jungen Linken geführt werden, um ihre Situation zu klären. Alle drei kennen sich von der 73
Ebd., S. 383.
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
Abendschule, zwei sind Arbeiter, der andere, »den wir unsern Rimbaud nannten«, aus bürgerlicher Familie74 . Die Situation hat sich aufs Äußerste zugespitzt: Der Faschismus ist an der Macht, Gegenkräfte überleben nur noch in der Illegalität, in »kleinen verriegelten Räumen«, sie sind in jeder Hinsicht isoliert voneinander75 . Bespitzelung kommt nicht nur von rechts, sondern auch die Organisationen der Linken bekämpfen sich gegenseitig und setzen Angehörige der eigenen Partei strikter Überwachung aus. Die Linke hat sich zersetzt in Splittergruppen, zu einem gemeinsamen Vorgehen ist sie nicht in der Lage und kann dem Machtzuwachs der Faschisten nichts entgegensetzen. In der Art eines Rechenschaftsberichts gibt der Ich-Erzähler, einer der jungen Arbeiter, die Gespräche und Reflexionen wieder, die er und seine Freunde in diesen Tagen in den engen Wohnküchen Berliner Arbeiterviertel führen und in denen sie versuchen, die eigenen Perspektiven zu klären. Da sie sich von unterschiedlichen, aber gleichermaßen zerstörerischen Machtformationen bedroht sehen, heißt Widerstand zunächst, die eigene Vernichtung abzuwenden, dann aber auch, sich gegen die von den unterschiedlichen Lagern auferlegten Denk- und Wahrnehmungsmuster zur Wehr zu setzen, sich von ihnen nicht vereinnahmen zu lassen. »Unser Studieren war von Anfang an Auflehnung.«76 Sie arbeiten daran, ihre eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu schärfen, um die Konfliktlinien, die ihre Wirklichkeit bestimmen, noch genauer zu verstehen. Eine Möglichkeit dazu bietet das Gespräch, aber es muss davor bewahrt werden, immer wieder nur die Erfahrungen der letzten Monate zu reproduzieren, die allen sattsam bekannt sind. Neue Sichtweisen müssen entwickelt werden, Umstellungsprozesse des Denkens. »Unsere Aufgabe war es, uns so viel wie möglich bewusst zu machen von dem, was ringsum geschah«77 Die meisten Informationsquellen sind zu diesem Zeitpunkt weggefallen. Öffentlichen Verlautbarungen kann ohnehin kein Vertrauen entgegengebracht werden, aber auch den Äußerungen von Menschen, die einmal politische Weggefährten waren und von denen nicht klar ist, wo sie inzwischen stehen, muss mit Vorsicht begegnet werden. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren der Erzähler und seine beiden Freunde nicht mehr im Kino, da sie das, was die staatlich gelenkte Filmproduktion ihnen vorsetzt, nicht sehen wollen, andere Filme sind der Zensur zum Opfer gefallen. Aus demselben Grund scheidet das gleichgeschaltete Theater aus, das aber die beiden Arbeiter unter den dreien ohnehin nie betreten haben. Experimentelle Kunst wurde »ersetzt durch Fertiges«, das »eine enge Begrenzung der Aufnahmefähigkeit« unterstellt und festschreibt.78 Ihr Misstrauen gegenüber verordneten Denkmustern führt für die Protagonisten auch zu Ablehnung »gegenüber dem Bestimmten, dem Festgefügten«79 , aber ein solches Programm lässt sich nur durchhalten, wenn es sowohl den »Griff, der uns den Boden wegreißt unter den Füßen«, zulässt als auch das »Bestreben, einen fes-
74 75 76 77 78 79
Peter Weiss (1975), Die Ästhetik des Widerstands, Teil I. Frankfurt a.M., S. 8. Ebd., S. 26. Ebd., S. 53. Ebd., S. 137. Ebd., S. 66. Ebd., S. 58.
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ten Grund herzustellen zur Untersuchung einfacher Tatsachen.«80 Beides ist auf das Gespräch angewiesen. Was als Quelle für ihre Selbstverständigungsprozesse bleibt ist der Besuch von Museen und die Literatur der Klassiker, die in preiswerten Volksausgaben zur Verfügung steht; außerdem gibt es in Zeitschriften und Heften aus Antiquariaten Reproduktionen von Bildern der Kunstgeschichte. Aus vielen Gründen hat diese Ästhetik vergangener Epochen für sie Bedeutung: Vor allem studieren sie daran die Kontinuitäten und historischen Veränderungen der Repräsentation von Macht und der Darstellung der Unterworfenen. »Als Eigentumslose näherten wir uns dem Angesammelten zuerst beängstigt, voller Ehrfurcht, bis uns klar wurde, dass wir dies alles mit unsern eigenen Bewertungen zu füllen hatten, dass der Gesamtbegriff erst nutzbar werden konnte, wenn er etwas über unsre Lebensbedingungen sowie die Schwierigkeiten und Eigentümlichkeiten unsrer Denkprozesse aussagte.«81 Die Gespräche kreisen darum, was sie in dieser Kunst der Vergangenheit wiederfinden von ihren eigenen Erfahrungen mit Macht und Herrschaft, Ausbeutung und Enteignung, Auflehnung und Widerstand. Im Zentrum stehen die Herrschenden, aber an den Rändern finden sich Knechte, Bauern, Mägde, Söldner, Marketenderinnen, Prostituierte und Narren, und indem Siege verherrlicht werden, kommen zugleich die Besiegten, ihr Ausgeliefertsein an politische Gewalt und manchmal ihre stoische Unberührtheit von ihr ins Bild. Traditionelle Kunst ist in diesen Bildbetrachtungen nicht Bildungsgut, über das man sich einer gültigen kulturellen Überlieferung zuordnen kann, sondern Zeugnis einer unheilvollen historischen Kontinuität, von der sie sich abgrenzen: »Dieses Reich des Geists war entstanden durch Gewalt, jeder Äußerung der Kunst, der Philosophie lag Gewalt zugrunde. […] Die Gesetze der antiken Sklavenhaltergesellschaft bestanden fort.«82 Die Reliefs des Pergamon-Altars zeigen Götter und Halbgötter, »einander erdrosselnd, überkletternd, vom Pferd gleitend, in die Zügel verwickelt, überaus verwundbar in der Blöße, und wieder entrückt in olympischer Kühle, unbezwinglich erscheinend als Meerungetüm, Greif, Kentaur, doch grimassierend in Schmerz und Verzweiflung, so rangen sie miteinander, handelnd in höherem Auftrag«83 . Andererseits betrachten die drei Protagonisten diese Museumskunst mit der Vorstellung, selbst am Ende einer langen geschichtlichen Entwicklung zu stehen: Sie sehen die antiken Reliefs als Aussage »über die Ursprünge der Gesellschaft, in deren letzten Auswüchsen wir uns befinden.«84 Diese Geschichte gegenseitiger Vernichtung gehe zu Ende, glauben sie. Einerseits sehen sie sich in unmittelbarer Nähe zu den Geschlagenen aus früheren Jahrhunderten, andererseits glauben sie zu diesem Zeitpunkt noch, dass ein Zeitalter angebrochen sei, »in dem unsre Zielsetzungen sich zu verwirklichen begannen.«85
80 81 82 83 84 85
Ebd. Ebd., S. 54. Ebd., S. 43. Ebd., S. 8. Ebd., S. 37. Ebd., S 74.
10. Interaktion, Verständigung, Responsivität
Deshalb muss alles, was in der Kultur und Wissenschaft entwickelt wurde, neu geschaffen werden, indem es in Beziehung zu dem gestellt wird, »was uns betrifft«.86 Es sind die eigenen Entdeckungen, die zählen, die erneute Auslegung, der neu gesehene Zusammenhang, die Ausdehnung des Wahrnehmungsfelds. Dies aber gelingt nur über eine Schärfung des Bewusstseins für »das Thema der Ambivalenz, der Kontroverse, des Widerspruchs, unter dem wir lebten«87 , nur so kann die eigene Situation begriffen werden, und es ist gerade die fehlende Passung zwischen den vergangenen Kunstwerken und gegenwärtigen Entwicklungen, die solche Unschärfen formulierbar macht. Die Wahrnehmungslehre, die hier vorgeführt wird, soll davor schützen, sich vereinnahmen zu lassen, und sie ist in einem ersten Schritt eine Übung darin, eine eigene, aber auch eine gemeinsame Sprache für das Gesehene zu finden.88 »Dies war ein Umhertasten, wir wussten noch nicht, wozu das Aufgefundene gut sein sollte, verstanden nur, dass es, um sinnvoll zu werden, aus uns selbst kommen musste.«89 Es ist gerade die Fremdartigkeit des in Museen und Bildbänden Gesehenen, das »Versuche, der Sprachlosigkeit zu entkommen« provoziert und »erste Artikulierungen […], von denen aus das Verstummen überwunden« werden kann, ermöglicht.90 Aber aus dem Gesehenen Schlüsse zu ziehen ist eine Fähigkeit, die erlernt werden muss. »Immer wieder wurden wir zurückgeworfen, weil unser Vermögen des Denkens, des Kombinierens und Folgerns noch nicht genügend entwickelt war.«91 Die miteinander Diskutierenden fühlen sich systematisch ausgeschlossen von einem Wissen »hoch über uns«92 , ihre Arbeitsbedingungen lassen kaum zu, es sich anzueignen. Ihnen, die sich ausgeschlossen fühlen von der Nutzung der Güter, die sie selbst in den Fabriken produzieren, vermittelt Kunst die Erfahrung, dass sie hier selbst sowohl der Produzent als auch der Nutznießer ihrer Einsichten sind, wenn sie sich nicht abspeisen lassen mit vorfabrizierten Interpretationen: »niemand sonst kann uns die Zusammenhänge erklären, in die wir eingespannt sind.«93 Das Wiedererkennen eigener Erfahrungen im historischen Gewand der Kunstwerke aus einer vergangenen Zeit ist auf Auslegung, Interpretation, Kommentar angewiesen, auf Versuche, das nur an den Rändern Wahrnehmbare auszusprechen und Schlüsse daraus zu ziehen. Dies wird möglich durch gegenseitiges Sich-AufmerksamMachen, Aufgreifen der Gedanken des Anderen, Weiterverfolgen des Details, das er gesehen hat, aber auch Dissens über einzelne Aspekte durch das »Ausfechten von Ge-
86 87 88
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Ebd., S. 41. Ebd., S. 184. Eine gemeinsame Sprache zu finden wird schon gegenüber dem eigenen Vater schwierig, obwohl eine große Nähe zwischen beiden besteht und der »Gegensatz der Generationen« als Vorurteil zurückgewiesen wird: Die eigentliche Trennnungslinie wurde »vom Klassenkampf bestimmt, und diese verlief quer durch alle Altersgruppen.« (Ebd., S. 29) Dennoch erweisen sich zunehmend die Unterschiede des jeweiligen Erfahrungshintergrunds in den sich immer noch weiter verschärfenden politischen Konflikten als trennend. Ebd., S. 53. Ebd., S. 54. Ebd., S. 53. Ebd., S. 41. Ebd., S. 59.
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gensätzen, Widersprüchen«.94 »Doch dienten die Einwände, die wir vorbrachten, oft nur dazu, unser Urteil zu schärfen.«95 Erst durch Konflikte werden neue Vorstellungen möglich, und dadurch »Zusammenleben, die gegenseitige Würdigung«.96 Eine gemeinsame Übung im Genau-Sehen prägt diese Phase, ein immer genaueres Unterscheidungsvermögen, und zwar nicht nur durch die Schärfung des eigenen Blicks, sondern auch dessen Überprüfung durch die Sichtweisen des Anderen, der auf das übersehene Detail aufmerksam macht, auf die Bedeutung des scheinbar Selbstverständlichen. Das Verharren der Gespräche bei einem Gegenstand, seine immer erneute Auslegung, ist der Versuch, sich Rechenschaft zu geben über leicht zu übersehende Einzelheiten und ihre Bedeutung für das Ganze und mit diesen Betrachtungen so lange fortzufahren, bis eine neue Deutung möglich wird. Später, in einem anderen Zusammenhang, wird der Erzähler davon sprechen, dass er sich in einer Realität bewegt, der noch keine Begriffe für die Veränderungen entsprechen, die sich allmählich im eigenen Bewusstsein anbahnen97 , aber jetzt, in den Gesprächen der Freunde, greifen Akte der eigenen Auslegung und der Kommentare der Anderen ineinander, und »aus Vergleichen und Gedankenverknüpfungen, Störungen ausgesetzt und der Gefahr des Überfalls, entstand in unsrer Vorstellung etwas von dem Gewebe, das uns umspann.«98 Nicht nur ist dies der Versuch, die Überlieferung mit eigenen Bewertungen zu füllen, sondern die Gespräche verändern den Stoff, auf den sie sich beziehen, »oft ohne dass wir es bemerkten, bis er spürbar, gegenständlich wurde«99 und zu einer zweiten Wirklichkeit wird. Was Peter Weiss in diesen Gesprächen vorführt, ist die Suche nach einer Ebene, auf der im Lichte einer fremden Perspektive ein Begreifen der eigenen Situation möglich wird. Dabei handelt es sich einerseits um die fremde Perspektive des Anderen in der Rolle des Gesprächspartners, andererseits um die andersartigen Perspektiven, die in den betrachteten Artefakten erfahrbar werden. Nur die Gegenständlichkeit des Überlieferten macht solche Gespräche möglich, es hat als Text oder Bild eine Realität, auf die sich der gemeinsame Blick richtet. So können Übereinstimmungen der Wahrnehmung sichtbar, Differenzen formulierbar werden, Vorstellungen Gestalt annehmen. Gerade über die Vielfalt der Repräsentationen, über ihre zeitliche Entfernung, ihre räumliche Distanz, ihre kulturelle Andersartigkeit, gelingt es schärfer auszusprechen, was in der Gegenwart, im eigenen Umfeld geschieht. Die eigenen Entdeckungen von Zusammenhängen und Unterscheidungen bedeutet, »zu uns selbst zu kommen«, das Vorgefundene »in Beziehung [zu] stellen zu dem, was uns betrifft.«100 Dies aber ist nur möglich, wenn es ihnen gelingt, die in den überlieferten Kunstwerken eingehüllten Weltbilder freizulegen und die damit verknüpften Wahrnehmungsregeln außer Kraft zu setzen. Und der Ich-Erzähler fasst zusammen, dass die Erfahrungen, die sie in den Gesprä-
94 95 96 97 98 99 100
Ebd., S. 126. Ebd., S. 85. Ebd., S. 126, 127. Vgl. P. Weiss (1981), a.a.O., Bd. III, S. 131. P. Weiss (1975), a.a.O., Bd. I, S. 135. Ebd., S. 171. Ebd., S. 41.
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chen machen, ihnen zeigen, dass auf dieser Basis »unsere zukünftige Kultur aus uns selbst kommen würde«101 .
101
Ebd., S. 87.
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Pädagogik Kay Biesel, Felix Brandhorst, Regina Rätz, Hans-Ullrich Krause
Deutschland schützt seine Kinder! Eine Streitschrift zum Kinderschutz 2019, 242 S., kart., 1 SW-Abbildung 22,99 € (DE), 978-3-8376-4248-3 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4248-7 EPUB: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4248-3
Andreas Germershausen, Wilfried Kruse
Ausbildung statt Ausgrenzung Wie interkulturelle Öffnung und Diversity-Orientierung in Berlins Öffentlichem Dienst und in Landesbetrieben gelingen können April 2021, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 8 Farbabbildungen 25,00 € (DE), 978-3-8376-5567-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5567-8
Andreas de Bruin
Mindfulness and Meditation at University 10 Years of the Munich Model April 2021, 216 p., pb. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5696-1 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5696-5
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Pädagogik Andreas de Bruin
Achtsamkeit und Meditation im Hochschulkontext 10 Jahre Münchner Modell Februar 2021, 216 S., kart., durchgängig vierfarbig 20,00 € (DE), 978-3-8376-5638-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5638-5 €
Ivana Pilic, Anne Wiederhold-Daryanavard (eds.)
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Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.)
Geschlecht: divers Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit Februar 2021, 264 S., kart., Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 34,00 € (DE), 978-3-8376-5341-0 E-Book: PDF: 33,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5341-4
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