Todesbegegnungen im Film: Zuschauerrezeption zwischen Zeichen und Körper 9783839448298

Death is not representable in films (among other media), pushing semiotics to its limits. Could the body be the key to a

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German Pages 384 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einführung
2. Die Macht der Bilder
3. Hinter den Zeichen
3.1 Vom Bild zum Körper
3.2 Sadismus, Masochismus und Empathie im Film
3.3 Tötungen im postklassischen und New Extremity Kino
4. Schlussbetrachtung
Anhang
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Todesbegegnungen im Film: Zuschauerrezeption zwischen Zeichen und Körper
 9783839448298

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Laura Räuber Todesbegegnungen im Film

Film

Laura Räuber studierte Literatur-Kunst-Medien in Konstanz und Filmwissenschaft in Berlin. Sie lebt in München und arbeitet bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Laura Räuber

Todesbegegnungen im Film Zuschauerrezeption zwischen Zeichen und Körper

Zugleich Dissertation an der Freien Universität Berlin, 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: pixabay / MabelAmber Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4829-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4829-8 https://doi.org/10.14361/9783839448298 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 Einführung | 9 1.1 Untersuchungsgegenstand und Fragestellung | 9 1.2 Forschungsstand | 12 1.3 Methodische Vorgehensweise | 21 1

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Die Macht der Bilder. (Nicht-)Darstellbarkeit des Phänomens Tod | 25

2.1 Symbole der Malerei, Film und Tod | 25 2.1.1 Malerei, Fotografie, Film: Eine kurze Geschichte des Todes | 25 2.1.2 Transi, Totentänze und Zombies im Film | 31 2.1.3 Der Tod als Skelett und der Animationsfilm | 45 2.2 Realitätsbezug der Fotografie und Tod | 55 2.2.1 Die Fotografie als Medium des Sichtbaren und Dagewesenen | 55 2.2.2 Ikon, Index und Symbol – und der ›reale‹ Tod in den Massenmedien | 61 2.2.3 Der Tote und der entscheidende Todesmoment in der Fotografie | 75 2.2.4 Fotografien des Unsichtbaren – Die Bildfolgen von Duane Michals | 81 2.3 Bewegung des Films und Tod | 87 2.3.1 Das bewegte Bild – Übergänge und Prozesse | 87 2.3.2 Freeze Frames – Der Stillstand im bewegten Film | 97 2.3.3 Todessymbole in den Filmen Ingmar Bergmans | 101 2.4 Zwischenresümee: Der Film ist ein Totentanz | 112 3

Hinter den Zeichen. Erfahrungspotentiale des gewaltsamen Todes | 119

3.1 Vom Bild zum Körper | 119 3.1.1 Zeichen und Körper | 119 3.1.2 Den Tod erleben: Explizite Gewalt in Bildern | 135 3.1.3 Körpersemiotik, Gewalt und Tod | 142 3.1.4 Fleischliche Zeichen und christliche compassio | 154 3.1.5 Filmische Illusion und der Leihkörper | 168

3.2 Sadismus, Masochismus und Empathie im Film | 180 3.2.1 Sadismus, psychoanalytische Filmtheorie und der Körper | 180 3.2.2 Masochismus und Opferinszenierung | 198 3.2.3 Empathie, Gehirn und Körper | 212 3.3 Tötungen im postklassischen und New Extremity Kino | 227 3.3.1 Exkurs: (Post-)Klassisches Kino, New Extremity und Genres | 227 3.3.2 Horror und Geschlechtergrenzen | 239 3.3.2.1 Der Slasherfilm der 1970er | 239 3.3.2.2 Der New Extremity Horrorfilm der 2000er | 255 3.3.3 Action, gute und böse Gewalt | 272 3.3.3.1 Der Actionfilm der 1980er | 272 3.3.3.2 Der Actionfilm der 2000er | 285 3.3.4 Drama und Gewalt als Strafe | 299 3.3.4.1 Drama der 1990er und Strafe von außen | 299 3.3.4.2 Drama der 2000er und Selbststrafe | 315 4

Schlussbetrachtung. Der Reiz unlustvoller Kinoerfahrung | 333

Anhang | 355

Filmographie | 355 Bibliographie | 357 Internetquellen | 379 Bilderverzeichnis | 381

Danksagung

Meiner Doktormutter Prof. Dr. Gertrud Koch und meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Christiane Voss möchte ich für den Input zu dieser Arbeit danken. Die Denkanstöße und Lektüreempfehlungen waren sehr hilfreich für eine Fokussierung bei einer Thematik, die sonst leicht aus dem Ruder gelaufen wäre. Prof. Dr. Carlos Collado Seidel danke ich für die (kunst-)historischen Anregungen. Dr. Michael Öllinger und Prof. Dr. Ernst Pöppel danke ich für die Gespräche und das Feedback zu neurowissenschaftlichen Schnittpunkten zu meiner Arbeit. Vieles davon hätte den Rahmen leider gesprengt, dennoch war es interessant und für mein Verständnis der Thematik sehr hilfreich. Katja Mollenhauer, Maja Schneider und Dr. Andreas Ströhle danke ich für die Lektüre von und die Anmerkungen zu dieser Arbeit. Nach all der Zeit allein am Schreibtisch und allen damit verbundenen Zweifeln, war es sehr beruhigend zu hören, dass sie meiner Argumentation folgen konnten und ich mich nicht völlig verzettelt habe. Vielen Dank an das LWL-Museum für Kunst und Kultur, besonders Anke Killing und thank you as well to The Thanatos Archive, especially Jack Mord, and to the Swedish Film Institute, especially Krister Collin, for providing me with pictures. Außerdem möchte ich meiner (erweiterten) Familie und den wichtigen Menschen in meinem Leben danken, ohne die ich diese lange Zeit mit einem Themengebiet, das einzig um Tod und Gewalt kreist, nicht überstanden hätte. Allen, die mich auf unterschiedliche Weise unterstützt haben und mit denen ich immer so viel Spaß habe! Von diesen – neben schon genannten – insbesondere meiner Mutter Birgitt Räuber und meiner Tante Sabine Schiebel-Zimmermann für ihren unerschütterlichen Glauben an mich sowie Ralf Räuber und Ursula Klement für die Endspurt-Unterstützung. Jana M. Großmann, Julia Fröbel und Dr. Humphrey Morhenn danke ich für Anmerkungen, Formatierungs-Hilfen, zweifelhafte Peptalks und besonders die vielen gemeinsamen Jahre. Mareike Richter für unseren Fern-Alltag, Dr. Andrea Weniger für den unbeirrten Optimismus und alles, was wir immer weiter von- und miteinander lernen. Uwe Zerwes fürs Zuhören und Computerkram, Sophia Pritscher für die Nächte und unsere parallelen (absurden) Lebensbedingungen und Marlon Metzger für unsere endlosen, witzigen Uneinigkeiten und Diskussionen. Last but not least danke ich den Menschen, die hier noch nicht vorkommen können, die aber auf dem langen Weg von der fertig geschriebenen Diss zur Publikation wichtig wurden. Für alles, was seitdem passiert und was nichts hiermit zu tun hat.

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Einführung

1.1 UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND UND FRAGESTELLUNG Verbildlichungen des unbegreiflichen Todes sind insbesondere deshalb interessant, weil der Tod im Grunde gar nicht darstellbar ist. Man fürchtet demnach etwas, das man sich nicht vorstellen kann und die vielfältigen Darstellungen des Todes in der Kunstund Bildgeschichte sind nichts weiter als ein unzureichender Ersatz für eine absolute Leerstelle. Wie nah kann man dem Tod so kommen? Zu den vielen Arten, den Tod künstlerisch zu verarbeiten, zählen der Tote als Stellvertreter1 in Portraits der Malerei und dokumentarischen Bildern, Symbolisierungen, etwa karge Landschaften und Ruinen,2 oder im Experimentalfilm,3 oder auch das ›Sterben‹ des Stummfilms mit Einzug des Tonfilms und der natürliche Verfall des

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Mit der Nennung der männlichen Bezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. »Die allegorische Urlandschaft des Verfalls bebildert weniger das Naturfaktum ›Tod‹, als daß sie vielmehr in der Todesverfallenheit der Dinge den Verfall des semiotischen Prozesses selbst darstellt. Sinn bröckelt von Bildern und Wörtern ab wie die Form (der Geist) von den Ruinen und hinterläßt die Rätselspur der Vergängnis.« Böhme, Hartmut: »Die Ästhetik der Ruinen«, in: Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hg.), Der Schein des Schönen, Göttingen: Steidl Gerhard Verlag 1989, S. 287-304, hier ohne Seitenzahlen, https://www.hartmutboehme.de/media/Ruinen.pdf (Abgerufen 24.01.2019). Vgl. bspw. LIFE-DEATH (Deutschland 1969, R: Katharina Sieverding): »Der Film ›LifeDeath‹ von Katharina Sieverding bündelt wesentliche Aspekte, die für das gesamte Schaffen der Künstlerin charakteristisch sind. Themen wie die Polarität von Leben und Tod, die Fragilität des Individuums und die Überlagerung des Ich durch die politischen Verhältnisse finden in diesem Frühwerk bereits kraftvollen Ausdruck [...] Einzige Protagonistin des 48minütigen Films ist Katharina Sieverding selbst. Ihre Hände und ihr Gesicht interagieren mit einem leuchtend roten Mantel. Sein Stoff umfließt, überlappt und kontrastiert ihre Züge. Hände, Augen, Mund und Nase drohen in seinen Falten zu verschwinden.« o. A., Life-Death, Berlin, http://www.musterraum.net/programm/13/live_death.htm (Abgerufen 21.01.2019).

10 | Todesbegegnungen im Film

Filmmaterials selbst.4 Gerade weil niemand den eigenen Tod erleben kann, geschieht der Umgang der Bildmedien mit diesem ungreifbaren Phänomen besonders häufig innerhalb von Fiktionen. Will man versuchen, seiner habhaft zu werden, dem Phänomen Tod einen figürlichen Körper zu geben, begibt man sich in eine Abstraktion von Realität, die Zeichensysteme der Bildmedien5 – und damit im Grunde weg vom realen Tod. Statt ihn nur zu symbolisieren oder in der Abbildung in ein Ikon zu verwandeln, wie die Malerei, vermögen die fotografischen Medien auch indexikalisch auf vergangenes, echtes Leben zu verweisen. Etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich existiert hat, wird durch einen mechanischen Prozess abgebildet und – so zumindest in der analogen Fotografie – photochemisch bewahrt. Der Bezug zu einer vergangenen Wirklichkeit bleibt so erhalten. Die Fähigkeit des fiktionalen Films, diesen Wahrheitsanspruch der Fotografie mit seiner illusionsfördernden Bewegungsfähigkeit, die etwa Übergänge und Prozesse vorführt, zu verbinden, macht ihn zu einem besonders ergiebigen Untersuchungsgegenstand. Der Bezug zum Tod wird somit, trotz der Realität transformierenden Künstlichkeit, wieder realer, das Vergängliche im Ablauf speicherbar. Der ursprünglich gesichtslose Tod, dieses erschreckende, unheimliche Phänomen, wird zwar nicht restlos greifbar, er bleibt flüchtig wie der Film selbst, aber man kommt ihm immerhin – gefahrlos – näher. Er scheint durch die Bildhaftigkeit, durch die Zeichen, hindurch zu schimmern, wie das Gespenst, in dessen Nähe die Künste ihn zum Teil gerückt haben. Obwohl der Film den Tod somit, wie schon Malerei und Fotografie, nicht gänzlich erfassen kann, da sich dieser einer direkten Darstellung, wie auch Erfahrbarkeit entzieht, kann er die Vorstufen und Übergänge des Todes – Verwundungen, Tötungen und Überlebenskämpfe – eindringlicher und nachvollziehbarer als seine Vorgänger zur Schau stellen. Der gewaltsame Tod des Anderen, so Vivian Sobchack, stehe somit im Film für das unrepräsentierbare Phänomen Tod ein: »It is the visible mortification of – or violence to – the intentional, responsive, and representable lived body that stands as the index of dying, and it is the visible cessation of that body’s intentional and responsive behavior that stands as the symbol of death.«6 Bei Tötungen im Film wird die reine Abbildung, die Zeichenhaftigkeit, die dem Tod erst einen Körper gab, im Zuge einer körperlichen Erfahrung des Publikums überschritten. Trotz der räumlich 4

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Vgl. LYRISCH NITRAAT (Niederlande 1991, R: Peter Delpeut). Hierbei handelt es sich um eine »[c]ompilation of film clips from 1905-1915, found footage of silent movies and documentaries from the Jean Desmet Archive of the Netherlands Film Museum. Jean Desmet was one of the first Dutch film distributors. Lyrisch nitraat is a tribute to the craftsmanship of early filmmakers, but also shows the brittleness of old nitrate films. Composed as an opera about love and death, set to music by Bizet, Masek and Puccini.« o. A., Nederlands Film Festival, Lyrisch Nitraat, https://www.filmfestival.nl/en/archive/lyrisch-nitraat/(Abgerufen 11.01.2019). Der Tod lässt dazu auch bspw. in der abstrakten Malerei, durch den Einsatz von Farben, die Intensität der Pinselstriche, etwaige Verletzungen der Leinwand etc. thematisieren. Dies lässt etwa Assoziationen zwischen Leinwand und Haut entstehen. Sobchack, Vivian: »Inscribing Ethical Space: Ten Propositions on Death, Representation, and Documentary«, in: Dies., Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture, Berkely/Los Angeles/London: University of California Press, S. 235. Im Original kursiv hervorgehoben.

Einführung | 11

und zeitlich abtrennenden Leinwand, werden wir von extrem brutalen filmischen Tötungen unmittelbar erschüttert. Wir sind dabei konfrontiert mit zunehmend versehrten Körpern und schmerzverzerrten Gesichtern und die Grenzen zwischen Leben und Tod, von Tabus in der Darstellung, Nähe und Distanz, Leinwand und Zuschauerraum, können verschwimmen. Das Töten, mehr als das sanfte Entschlafen, hat einen festen Platz in der Kunstund Filmgeschichte. Die Vielzahl an gewaltsamen Themen spricht, wie beim Tod selbst, für den Wunsch nach einer Auseinandersetzung. Die Frage, warum man derart schonungslose Darstellungen rezipieren könne, ist eng an Thesen zum Wesen des Menschen, gut oder böse, friedlich oder aggressiv, gebunden, so etwa bei Augustinus7, Spinoza8, Kant9, Nietzsche10 oder Hannah Arendt11, Baudrillard12, Machiavelli13, Hobbes14, Rousseau15 und vielen anderen.16 Hinzu kommt eine anhaltende Medien-GewaltDebatte zum Einfluss von gewaltsamen Medien auf Rezipienten.17 Die vorliegende

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Vgl. Augustinus, Aurelius: Vom Gottesstaat. Vollständige Ausgabe in einem Band. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2007 [De Civitate Dei. 413-426 n. Chr.]. Vgl. Hampe, Michael/Schnepf, Robert (Hg.): Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Berlin: Akademie Verlag 2006 [Ethica, ordine geometrico demonstrata. 1677]. Vgl. Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Stuttgart: Reclam Verlag 1986 [1793]. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von gut und böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Köln: Anaconda Verlag 2006 [1886]. Vgl. Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München: Piper 2007 [Some Questions of Moral Philosophy, 1965]. Vgl. Baudrillard, Jean: Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin: Merve Verlag 1992. Vgl. Machiavelli, Niccolò: Der Fürst, Hamburg: Nikol Verlagsgesellschaft 2009 [Il Principe, 1532]. Vgl. Mayer-Tasch, Peter Cornelius (Hg): Thomas Hobbes. Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates, Stuttgart: S. Hirzel Verlag 2012 [Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil, 1651]. Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes, Stuttgart: Reclam Verlag 1958 [Du Contract Social Ou Principes du Droit Politique, 1762]. Vgl. bspw. Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004 [1963] und Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Liebe und Haß. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen, München: R. Piper & Co. Verlag 1970; Vgl. Girard. René: Das Heilige und die Gewalt, Ostfildern: Patmos Verlag 2006. [La Violence et le sacre, 1972]; Vgl. Pinker, Steven: The Better Angels of our Nature. Why Violence has declined, New York: Viking Books 2011. Zur Medien-Gewalt-Forschung vgl. insbesondere Kunczik, Michael: Medien und Gewalt. Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und der Theoriediskussion, Wiesbaden: Springer Verlag 2017 sowie Kunczik, Michael/Zipfel, Astrid: Medien und Gewalt. Befunde der Forschung 2004-2009. Bericht für das Bundesministerium für Familie und Senioren, Frauen und Jugend. Vorgelegt im März 2010. https://www.bmfsfj.de/blob/94294/fffc44cf

12 | Todesbegegnungen im Film

Arbeit wird dagegen untersuchen, was die Künste, insbesondere der Film, uns bezüglich der Erfahrungspotentiale von Tötungen im Film während der Rezeption bieten können und wo hierin ein augenblicklicher Genuss liegen könnte. Dies setzt den (lebendigen) Zuschauerkörper als empfindsamen phänomenologischen Leib an den Ausgangspunkt jedweder Wahrnehmung und als Bedingung weiterführender Reflexionen. Hierauf aufbauend unterscheidet sich eine Theorie zur Erfahrung des Tötens im Film, die den Körper ins Zentrum rückt, grundlegend von Thesen zu rein kognitiven Schlüssen oder einer nur sadistischen bzw. masochistischen Befriedigung psychoanalytischer Ausrichtung. Die Motivation für eine Auseinandersetzung mit dem Tod bzw. Töten im Kino scheint zutiefst in dieser körperlichen Komponente der Filmrezeption selbst verankert sein.

1.2 FORSCHUNGSSTAND Die christliche Malerei ist eng verbunden mit Motiven des Todes und deshalb Ausgangspunkt der Arbeit. Gert Kaiser untersucht in Der tanzende Tod den Totentanz als Sinnbild von Bewegung, die in der unbewegten Malerei nur angedeutet werden kann.18 Im Wiederaufgreifen traditioneller Todessymbole im bewegten Film, lassen sich entsprechend neue Bezüge erkennen und medienspezifisch erweitern.19 Gemäß dem Kunsthistoriker Winfried Nerdinger verweisen Vanitas-Stillleben auf die Vergänglichkeit allen Lebens, während sie durch die Malerei konserviert werden.20 Ihre detailreiche Perfektion, so wird hier ausgeführt, steht einer Speicherung von Leben durch die Fotografie nah, welches wiederum der Film reanimieren und in der Bewegung festhalten kann. Die Fotografie stellt als Bindeglied zwischen Malerei und Film eine Erweiterung der Malerei dar, da sie, nach Philippe Dubois,21 als mechanische

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4772413da5bd7637262eeaa8/medien-und-gewalt-befunde-der-forschung-langfassung-data. pdf (Abgerufen 11.01.2019). Vgl. Kaiser, Gert: Der tanzende Tod. Mittelalterliche Totentänze, Frankfurt am Main: Insel Verlag 1982. Vgl. dazu Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod. Vom Wandel in der abendländischen Geschichte, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 1996; Richard, Birgit: Todesbilder. Kunst, Subkultur, Medien. München: Wilhelm Fink Verlag 1995; Richter, Isabel: Der phantasierte Tod. Bilder und Vorstellungen vom Lebensende im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2010; Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. München: Matthes & Seitz Verlag 1991; Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Ditzingen: Reclam Verlag 2011 [1936]; Sontag, Susan: Über Fotografie, München/Wien: Hanser Verlag 1978. Vgl. Nerdinger, Winfried: Perspektiven der Kunst. Von der Karolingerzeit bis zur Gegenwart, München: Martin Lurz Verlag 1994, S. 153ff. Vgl. Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 1998. Vgl. außerdem zu Fotografie auch Talbot, William Henry Fox: »Der Zeichenstift der Natur«, in: Wiegand, Wilfried (Hg.), Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst. Frankfurt am Main: S.

Einführung | 13

Apparatur erstmals Dinge darstellen konnte, wie sie wirklich waren. Eng verbunden mit semiotischen Aspekten, wie sie Charles Sanders Peirce untersucht hat,22 ergeben sich durch den Abbildcharakter der Fotografie Potentiale zur Verbindung von (realer) Vergangenheit und Gegenwart, wie von Roland Barthes diskutiert23 und echtes Leben kann in der Bewegung bewahrt werden, wie von André Bazin postuliert.24 Über diese Ansätze zum Realitätsbezug hinaus – wie auch den unterschiedlichen Umgang mit Zeitlichkeit, etwa Henri Cartier-Bressons entscheidenden Augenblick,25 die reanimierten Bewegungsstudien Eadweard Muybridges26 oder die fotografischen Fiktionen Duane Michals27 – nähert sich die Untersuchung zunächst schrittweise dem Potential einer indirekten ›Todesbegegnung‹ durch die fotografischen Medien, insbesondere den bewegten Film, an. Dies baut auf Untersuchungen von Audrey Linkman

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Fischer Verlag 1981 [1844-1846] und Flusser, Vilém: »Für eine Philosophie der Fotografie.«, in: von Amelunxen, Hubertus (Hg.), Theorie der Fotografie IV. München: Schirmer/Mosel Verlag 2000 [1983]. Vgl. dazu Peirce, Charles Sanders: Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1983, Short, T. L.: Peirce’s Theory of Signs, New York: Cambridge University Press 2007; Blanke, Börries: Vom Bild zum Sinn. Das ikonische Zeichen zwischen Semiotik und analytischer Philosophie, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2003 [Dissertation Technische Universität Berlin 1999] sowie Eco, Umberto: »Die Gliederung des filmischen Codes«, in: Knili, Friedrich (Hg.), Semiotik des Films. Mit Analysen kommerzieller Pornos und revolutionärer Agitationsfilme. München: Carl Hanser Verlag 1971, S. 7093. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1985. Bazin, André: »Ontologie des fotografischen Bildes«, in: Ders., Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln: DuMont Verlag 1975, S. 21-27. Natürlich gab es hierzu auch gegenläufige Stimmen, wie die von Siegfried Kracauer, der die bloße Kopie der Fotografie als wahllos und oberflächlich einstuft. Kracauer, Siegfried: »Die Fotografie«, in: Kemp, Wolfgang (Hg.), Theorie der Fotografie II. 1912-1945. München: Schirmer/Mosel Verlag 1979 [1927], S. 101-112. Cartier-Bresson, Henri: »Der entscheidende Augenblick«, in: Henri Cartier-Bresson. Meisterwerke. München: Schirmer/Mosel Verlag 2004, S. 5-16. Vgl. Puttkamer, Jesco von: »Illustrierte Chronik zur Bewegungsdarstellung in der Photographie«, in: von Amelunxen, Hubertus (Hg.), Sprung in die Zeit – Bewegung und Zeit als Gestaltungsprinzipien in der Photographie von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin: Ars Nicolai Verlag 1992. [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung der Berlinischen Galerie, Museum für Moderne Kunst, Photographie und Architektur. 20. November 1992 – 17. Januar 1993], S. 231-251, hier S. 234 und Stelzer, Otto: Kunst und Photographie. München: R. Piper & Co. Verlag 1966, S. 109 f. Vgl. Dinkla, Söke: »Das Drama des täglichen Lebens. Duane Michals’ Fotogeschichten in Duisburg«, in: Bildau, Gerd/Dinkla, Söke (Hg.), Duane Michals. The Theatre Of Real Life 2001, Duisburg: Klartext Verlag 2004 [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. 25. April – 16. Mai 2004 im Landschaftspark Duisburg-Nord], S. 6-17, hier S. 12 und Foucault, Michel: »Denken, Fühlen«, in: Dits et Écrits. Schriften. Band IV, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2005, S. 294-303, hier S. 297.

14 | Todesbegegnungen im Film

auf, die sich mit Postmortem-Fotografien befasst,28 Thomas Machos und Kristin Mareks Die neue Sichtbarkeit des Todes,29 mit verschiedenen künstlerischen Ansätzen zu Fotografie und Tod, sowie Katharina Sykoras Die Tode der Fotografie II30 zur medialen Parallelität von Fotografie und Tod in der Fotografiegeschichte. Spezieller zum Film nimmt die Untersuchung Bezug auf Laura Mulveys Death 24x a Second31, Christiane Peitz’ Das Kino, ein Schattenreich32 und Susanne Marschalls Poetik der Vergänglichkeit,33 die jeweils die medienspezifischen Potentiale des Films mit dem Tod in Beziehung setzen, aber dabei noch vorwiegend auf Bewegung und Stillstand bzw. die Flüchtigkeit der Bilder beschränkt bleiben, ohne weiterführend den fotografischen Abbildcharakter, filmische Bewegungsfähigkeit und das Wiederaufgreifen kollektiver Todessymbole zu verbinden und für eine (indirekte) ›Todesbegegnung‹ verwertbar zu machen. In drastischen Todes- und Gewaltdarstellungen wird der Körper des Publikums durch somatische Empathie bzw. motor mimicry direkt adressiert. Es handelt sich um »basale[...] Reaktionen der Zuschauer auf die filmischen Figuren, die auf einer weitgehend vorbewussten Leib-Koppelung an das Leinwandgeschehen beruhen.«34 Hiervon ausgehend können bei der Rezeption weiterführende Ebenen und Bezüge greifen. Ein reiner Sadismus oder Masochismus, wie ihn die psychoanalytische Filmtheorie zugrunde gelegt hatte, lässt sich somit in Frage stellen.35 Der empfindsame

28 Vgl. Linkman, Audrey: Photography and Death, London: Reaktion Books 2011. 29 Vgl. hieraus folgende: Macho, Thomas: »Ästhetik der Verwesung. Zur künstlerischen Arbeit von Teresa Margolles«, in: Macho, Thomas/Marek, Kristin (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S. 337-353; Schulz, Martin: »Die Sichtbarkeit des Todes in der Fotografie«, ebd., S. 401-426.; Geimer, Peter: »Das Letzte«, ebd., S. 463474; Marek, Kristin. »Der Leichnam als Bild – Der Leichnam im Bild. ›Der Leichnam Christi im Grabe‹ von Hans Holbein d. J. uns seine modernen Derivate«, ebd., S. 295-313; Macho, Thomas/Marek, Kristin: »Die neue Sichtbarkeit des Todes«, ebd., S. 9-21; Lutz, Helga: »Sue Fox. Proben mit dem Unerträglichen«, ebd., S. 133-149. 30 Vgl. Sykora, Katharina: Die Tode der Fotografie II. Tod, Theorie und Fotokunst, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2015. 31 Vgl. Mulvey, Laura: Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image, London: Reaktion Books Ltd 2006. 32 Vgl. Peitz, Christiane: »Das Kino, ein Schattenreich. Stichworte zu einem Verhältnis besonderer Art.«, in: Karpf, Ernst/Kiesel, Doron/Visarius, Karsten (Hg.), Kino und Tod. Zur filmischen Inszenierung von Vergänglichkeit, Berlin: Schüren Presseverlag 1993, S. 9-16. 33 Vgl. Marschall, Susanne: »Poetik der Vergänglichkeit. Sinn-Bilder des Flüchtigen in Malerei und Film.«, in: Keazor, Henry/Liptay, Fabienne/Marschall, Susanne (Hg.), Filmkunst. Studien an den Grenzen der Künste und Medien, Marburg: Schüren Verlag 2011, S. 370393. 34 Wulff, Hans J.: »Empathie als Dimension des Filmverstehens. Ein Thesenpapier«, in: Montage AV. Digitales Kino. Filmologie und Psychologie (2003), S. 136-161, hier S. 138. Vgl. dazu auch Kapitel 3.1.1. 35 Vgl. zu Sadismus und psychoanalytischer Filmtheorie insbesondere Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Braudy, Leo/Cohen, Marshall (Hg.), Film Theory and Criticism: Introductory Readings, New York: Oxford University Press 1999 [1975], S. 833-

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Körper wird von psychoanalytisch-poststrukturalistischen Theorien lediglich gestreift. Insbesondere für den Tod und das Töten kann man hier an das Abjekt Julia Kristevas36 bzw. das Phantasma einer körperlichen jouissance bei Jacques Lacan37 anschließen. Die ersten Vertreter des Neoformalismus, David Bordwell, Kristin Thompson und Janet Staiger, gehen der Frage nach, welche cues, Hinweise, Filme Zuschauern bieten, um sie bewusst zu erschließen,38 statt sich unbewusst zu identifizieren. Der ›kühle‹, rein kognitive Neoformalismus wurde später durch Theoretiker wie Murray Smith39 oder Ed Tan40 durch affektive und emotive Anteile erweitert und öffnet sich damit bereits für eine stärkere Einbeziehung des Zuschauerkörpers. Auch der Exzess bei Kristin Thompson (alles, was nicht ausreichend durch die Narration motiviert ist41) schafft Raum für eine Überschreitung der Narration durch filmische Mittel, die mitunter den Zuschauerkörper direkt adressieren. Kognitive Theorien ordnen den Körper aber noch

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844 und Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Münster: Nodus Publikationen 2000 [1977]. Zu Masochismus vgl. Studlar, Gaylyn: »Schaulust und masochistische Ästhetik«, in: Gramann, Karola/Koch, Gertrud/Schlüpmann, Heide (Hg.), Frauen und Film. Heft 39. Masochismus (1985) S.15-39. Außerdem Doane, Mary Ann: »Film and the Masquerade. Theorising the Female Spectator.«, in: Screen Vol. 25, Nr. 3-4 (1982), S.74-87. Dies wird in Kapitel 3.2 eingehender diskutiert. Gemäß Julia Kristeva muss das Kind die Mutter als etwas Unreines verwerfen, um sich von ihr zu lösen und in die symbolische Ordnung einzutreten. Die Mutter werde zu einem Abjekt, einem Kadaver gleich, etwas Abstoßendem, das dem Ich entgegensteht. Vgl. Kristeva, Julia: Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York: Columbia University Press 1982 [Pouvoirs de l'horreur. Essai sur l’abjection, 1980.] S. 13. Das allem hintergründige Reale bei Lacan ist weder imaginär noch symbolisierbar, sondern bleibt immer unsagbar und unkontrollierbar. Vgl. Lacan, Jacques: »Seminar on ›The Purloined Letter‹«, in: Ders., Ècrits. The First Complete Edition in English. New York/London: W. W. Norton & Company. 2006 [1956], S. 6-48, hier S. 17. Es ist ein Trauma, vgl. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan Buch XI (1964). Olten/Freiburg im Breisgau: Walter Verlag 1978, S. 61. Die Lacan’sche jouissance ist ein im Realen beheimateter schmerzhafter Genuss fernab der Grenzen der symbolischen Ordnung. Vgl. Lacan, Jacques: The Ethics of Psychoanalysis 1959-1960. The Seminar of Jacques Lacan. Book VII, London/New York: Tavistock/Routledge 1992. [Le Seminaire, Livre VII. L'ethique de la psychanalyse, 1959-1960, Erschienen 1986]. Dies hat schon Thomas Morsch indirekt in seiner Medienästhetik des Films angesprochen, ohne dies jedoch direkt auf explizite Gewaltszenen anzuwenden. Vgl. Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films. Verkörperte Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung im Kino. München: Wilhelm Fink Verlag 2011 [Diss. FU Berlin 2008], S. 228/229. Vgl. bspw. Thompson, Kristin: Breaking the Glass Armor. Neoformalist Film Analysis, Princeton, N.J./Oxford: Princeton University Press 1988, S. 6. Smith, Murray: Engaging Characters. Fiction, Emotion and the Cinema. Oxford: Clarendon Press 1995. Tan, Ed: Emotion and the Structure of Narrative Film. Film as Emotion Machine. Mahwah, N. J.: Lawrence Erlbaum Associates 1996. Vgl. Thompson, Kristin: »The Concept of Cinematic Excess«, in: Rosen, Philip (Hg.), Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York/Oxford: Columbia University Press 1986, S. 130-142, hier S. 131ff.

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immer dem Geist unter, so dass eine sinnliche Wahrnehmung ein Ausnahmezustand in der Theorie bleibt. Gerade explizite Gewalt bei Tötungen kann, wie Linda Williams ähnlich für die body genres Horror, Porno und Melodrama analysiert hat,42 einen Exzess darstellen, der somatisch erfasst wird. Entsprechend wird der Versuch unternommen, die bestehenden Theorien zumindest bedingt zu versöhnen und für eine Todeserfahrung verwertbar zu machen. Vom Körper geht auch die Phänomenologie aus: Statt ein Primat des cogito, der Seele bzw. des Bewusstseins anzunehmen, wie noch der Leib-Seele-Dualismus René Descartes,43 konzentriert sich diese gerade auf unmittelbare Wahrnehmungseindrücke der Außenwelt. Anders als ihr Begründer, Edmund Husserl, der in seiner Transzendentalphilosophie noch von Vorstellungen eines Subjekts ausgeht,44 gab Maurice Merleau-Ponty der Leibgebundenheit ein stärkeres Gewicht.45 Der Körper als Leib oder lived body46 ist immer bereits einem Milieu zugehörig, erhält somit eine eingeschränkte Perspektive und wird in seiner Wahrnehmung beeinflusst.47 An die direkte phänomenologische Wahrnehmung lassen sich Vivian Sobchacks Thesen zur Filmwahrnehmung anschließen.48 Die Philosophie Merleau-Pontys lässt sich außerdem in Verbindung zu den soziologischen Thesen Pierre Bourdieus setzen, der die Theorie einer Inkorporierung eines Habitus entwirft – spezifische Verhaltensweisen sozialer Schichten, die auf den Körper einwirken.49 Unmittelbare Sinnesempfindungen stünden 42 Vgl. Williams, Linda: »Film Bodies. Gender, Genre, and Excess«, in: Film Quarterly, Vol. 44, Nr. 4 (1991), S. 2-13. 43 Diesem einzig könnten wir uns nach Descartes sicher sein, da die Außenwelt ein Trugbild sein könnte. Vgl. Hirschberger, Johannes: Geschichte der Philosophie. Band II: Neuzeit und Gegenwart. Frechen: Komet Verlag 1980, S. 93. Oder direkt Descartes, René: Meditationes de prima philosophia /Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Lateinischdeutsch. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2008 [1641]. 44 Vgl. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Dordrecht/Boston/London: Kluwer Academic Publishers 1995 [1913]. 45 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter Verlag 1974. [Phénoménologie de la perception, 1945]. 46 Der lived body, bei Merlau-Ponty corps propre, ist der echte, wahrnehmende Leib, der in der Welt verortet ist. Damit haben wir immer einen Körper, der von außen wahrnehmbar ist und sind zugleich ein empfindsamer Leib. Vgl. Rappe, Guido: Interkulturelle Ethik. Band II. Teil 1. Ethische Anthropologie I. Der Leib als Fundament von Ethik, Berlin/Bochum/London/Paris: Europäischer Universitätsverlag 2005, S. 407. 47 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 7. 48 Vgl. Sobchack, Vivian: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience, Princeton, N.J.: Princeton University Press 1992 und Sobchack, Vivian: »What My Fingers Knew: The Cinesthetic Subject, or Vision in the Flesh«, in: Dies., Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture, Berkely/Los Angeles/London: University of California Press 2004, S. 53-84. 49 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1987 [La distinction, Critique sociale du jugement. 1979]. und Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2012. [La domination masculine, 1998].

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allerdings allem voran, so Steven Shaviro. In The Cinematic Body untersucht er entgegen weiterführenden Einflüssen und psychoanalytischen Blickregimen die Direktheit des Filmbildes selbst.50 Auch Siegfried Kracauer hat bereits in seiner Theorie des Films eingeräumt, Filmbilder würden den Zuschauerkörper unmittelbar affizieren, ehe der Intellekt greife.51 Laura Marks bringt in The Skin of the Film und Touch eine Haptik ein, die in der visuellen Filmrezeption unmittelbar mit angesprochen werde.52 Um die leibliche Seite der Filmrezeption für eine Filmtheorie verwertbar zu machen, müsse man Affekt, reines, phänomenologisches Erleben,53 und körperliches Verstehen als Erfahrung, die bereits intuitive Bezüge zur echten Welt herstellt, unterscheiden, so Hans Peter Preusser in Sinn und Sinnlichkeit im Kino.54 Bereits auf einer rein körperlichen Ebene könne eine Sinnstiftung stattfinden, die Bewusstsein und Sprache voransteht und nicht immer verbalisiert werden kann. Hierauf beruhen auch neuere Theorien zu ästhetischer Erfahrung:55 Der Begriff Ästhetik als ›aisthesis‹ für sinnliche Wahrnehmung, geht auf den Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten, bzw. sein Werk Aesthetica von 1750 zurück.56 In der Folge diente der Begriff, neben seiner Auffassung als Philosophie der Kunst (nach Hegel57), meist als Bezeichnung für

50 Vgl. Shaviro, Steven: The Cinematic Body, Minneapolis: University of Minnesota Press 1993. 51 Vgl. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Erettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1964 [Theory of Film, 1960], S. 216. 52 Vgl. Marks, Laura: The Skin of the Film: Intercultural Cinema. Embodiment, and the Senses, Durham: Duke University Press 2000 und Marks, Laura: Touch: Sensuous Theory and Multisensory Media, Minneapolis: University of Minnesota Press 2002. Auch Jennifer M. Barker konzentriert sich in The Tactile Eye. Touch and the Cinematic Experience auf die somatische Beteiligung und taktile Anteile an der Filmwahrnehmung. Vgl. Barker, M. Jennifer: The Tactile Eye. Touch and the Cinematic Experience, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 2009. 53 Affekt bedeute, so Josef Früchtl, »[...], alles zu ›eliminieren‹ (Virginia Woolf), sich von allem zu ›reinigen‹ (Kant), was an unseren geläufigen Perzeptionen ›klebt‹. ›Affekt‹ meint also die von ihrer alltäglichen Beschreibung gereinigte oder befreite Affektion, befreit von dem, was Deleuze in platonischer Tradition verächtlich ›Meinung‹ nennt.« Früchtl, Josef: »Den Glauben an die Welt fiktiv wiederherstellen. Zu einer These aus dem Kino-Buch von Gilles Deleuze«, in: Koch, Gertrud/Voss, Christiane (Hg.), ›Es ist, als ob‹. Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, München: Wilhelm Fink Verlag 2009, S. 1326, hier S. 21. 54 Vgl. Preusser, Heinz Peter: »Sinnlichkeit und Sinn im Kino. Eine Einführung«. in: Ders., Sinnlichkeit und Sinn im Kino. Zur Interdependenz von Körperlichkeit und Textualität in der Filmrezeption, Marburg: Schüren Verlag 2015, S. 7-36, hier S. 13. 55 Vgl. Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2016 [2003]; Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München/Wien: Carl Hanser Verlag 2000. 56 Vgl. Mirbach, Dagmar (Hg.): Alexander G. Baumgarten. Ästhetik. Hamburg: Meiner Verlag 2007 [1750]. 57 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie der Kunst oder Ästhetik, München: Wilhelm Fink Verlag 2004 [1826].

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das Schöne und Ansprechende, so der Philosoph Max Schasler.58 Karl Rosenkranz stellt – für diese Arbeit bereits relevanter – dem Schönen 1853 das Hässliche gegenüber. Durch die Überwindung des Hässlichen könne Wohlgefallen ausgelöst werden.59 Edmund Burke dagegen postuliert, gerade negative Motive, nicht Schönheit, könnten eine Quelle für das Erhabene darstellen.60 Es handle sich um einen abgemilderten Schrecken, der nur etwas Anziehendes habe, wenn man nicht selbst in Lebensgefahr sei.61 Auch Theodor W. Adorno sieht einen Mehrwert in Kunstwerken mit negativem Inhalt, da sie auf Missstände in der Welt hinweisen könnten.62 Dem distanzierten Erhabenen steht unmittelbarer, den Körper durchdringender Ekel gegenüber, wie er von dem Philosophen Aurel Kolnai diskutiert wurde.63 Mit Ekel in der Filmrezeption haben sich bereits Winfried Menninghaus64 und Julian Hanich65 befasst, dies soll hier auf eine direkte Beteiligung des Publikums am Filmgeschehen erweitert werden, die zwischen unterschiedlichen, auch widersprüchlichen, Empfindungen changiert. Wie die phänomenologische, basiere auch die ästhetische Erfahrung auf unmittelbarer Sinnlichkeit,66 so die Philosophen Deines, Liptow und Seel. Hinzu kämen hier aber auch kognitive und epistemische Anteile.67 In der distanzlosen Anteilnahme an der teils überbordenden Gewalt filmischer Tötungen fallen die ästhetische Erfahrung des Hässlichen, im Sinne eines todbringenden Filmmonsters oder schwerverletzten 58 Vgl. Schasler, Max: Ästhetik als Philosophie des Schönen und der Kunst. Abtheilung 1. Kritische Geschichte der Aesthetik von Plato bis zum 19. Jahrhundert: Grundlegung, Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung 1872. Digitalisierte Version des Münchener DigitalisierungsZentrums der Bayerischen Staatsbibliothek, Permalink: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11009634-5, S. XI. 59 Vgl. Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen, Leipzig: Reclam Verlag 1996 [1853], S. 48. 60 Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, London: Routledge and Kegan Paul 1958 [1757]. Das Erhabene wird u.a. auch von Immanuel Kant diskutiert: Weischedel, Wilhelm (Hg.), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft (= Werkausgabe, Band 10), Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1968 [1790]. Die Auslegung Burkes ist für die vorliegende Untersuchung zu Tod und Gewalt jedoch ergiebiger. 61 Vgl. Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, S. 48ff. 62 Vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1977 [1970] S. 58f. 63 Vgl. Kolnai, Aurel: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2007 [1929 bis 1935]. 64 Vgl. Menninghaus, Winfried: Disgust: Theory and History of a Strong Sensation, Albany: State University of New York Press 2003. 65 Vgl. Hanich, Julian: »Dis/Liking Disgust. The Revulsion Experience at the Movies«, in: New Reviews of Film and Television Studies, Vol. 7, Nr. 3 (2009), S. 293–309. 66 Immerhin steht Ästhetik im ursprünglichen Sinne, bei Alexander Gottlieb Baumgarten, zunächst einmal für sinnliche Erkenntnis. Vgl. Mirbach, Dagmar (Hg.), Alexander G. Baumgarten. Ästhetik, S.11. 67 Vgl. Deines, Stefan/Liptow, Jasper/Seel, Martin: »Kunst und Erfahrung. Eine theoretische Landkarte«, in: Dies., Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin: Suhrkamp Verlag 2013, S. 7.-37, hier S. 13.

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Gewaltopfers und die medienspezifischen Potentiale des Films zusammen, um gemeinsam das Publikum zu überwältigen. Thomas Morsch spricht deshalb eben von einer Medienästhetik des Films, Chris Tedjasukmana sucht in Mechanische Verlebendigung ebenfalls eine Verbindung der Technizität des Films und der durch und mit ihm generierten ästhetischen Erfahrungen.68 Gertrud Koch und Christiane Voss haben sich in mehreren Sammelbänden der Illusionsbildung in Kunst und Film gewidmet und gegen einen reinen Abbildcharakter des Films ausgesprochen.69 Sabine Nessel sieht, wie auch Thomas Morsch, deshalb in der Filmrezeption ein Ereignis erfüllt,70 wie man es sonst aus Theater und Performance-Kunst kennt,71 was den Film weiter von seiner bloßen Reproduktion löst. Christiane Voss hat Vivian Sobchacks somatische Thesen zum Konzept eines Leihkörpers72 ausgebaut, den der Zuschauer dem Film für die Dauer einer Filmvorführung zur Verfügung stelle. So werde der Zuschauer räumlich, wie auch zeitlich mit dem Filmgeschehen verschränkt. Das dem nahestehende Konzept der Einfühlung wurde 1873 durch Robert Vischer in seiner Dissertation Ueber das optische Formgefühl erstmals klar benannt.73 Der Philosoph David Hume ebnete der Theorie aber bereits im 18. Jahrhundert den Weg. Er unterscheidet zunächst unmittelbare Sinnesempfindungen (impressions) und Vorstellungen (ideas).74 Theodor Lipps greift die Einfühlung Humes wieder auf, dessen Sympathie mit Anderen wird dabei zu Empathie.75

68 Vgl. Tedjasukmana, Chris: Mechanische Verlebendigung. Ästhetische Erfahrung im Kino, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014. 69 Vgl. Koch, Gertrud/Voss, Christiane (Hg.): Zwischen Ding und Zeichen. Zur ästhetischen Erfahrung in der Kunst, München: Wilhelm Fink Verlag 2005; Koch, Gertrud/Voss, Christiane (Hg.): ...kraft der Illusion, München: Wilhelm Fink Verlag 2006; Koch, Gertrud/Voss, Christiane (Hg.): ›Es ist, als ob‹. Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, München: Wilhelm Fink Verlag 2009. 70 Vgl. Nessel, Sabine: Kino und Ereignis: das Kinematografische zwischen Text und Körper, Berlin: Vorwerk 8 Verlag 2008. 71 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2004 und Fischer-Lichte, Erika: »Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung«, in: Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2016 [2003], S. 138-161. 72 Vgl. Voss, Christiane: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion, München: Wilhelm Fink Verlag 2013. 73 Curtis, Scott: »Einfühlung und die frühe deutsche Filmtheorie«, in: Curtis, Robin/Koch, Gertrud (Hg.), Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Wilhelm Fink Verlag 2009, S. 79-102, hier S. 85. 74 Vgl. Hume, David: An Enquiry Concerning Human Understanding. Mineola, N.Y.: Dover Publications 2004 [1748] S. 9. Vorstellungen wirken demnach weniger stark auf uns ein, als Sinnesempfindungen. Ebd., S. 38. 75 Vgl. Lipps, Theodor: Ästhethik: Psychologie des Schönen und der Kunst, Hamburg/Leipzig: Leopold Voss Verlag 1906, S. 1. Empathie wird im Zuge kognitiver Theorien in Kapitel 3.2.3 näher behandelt.

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Zur Frage nach dem Mehrwert unlustvoller Filminhalte zum Tod gibt es verschiedene Erklärungsansätze, so etwa bzgl. einer Sinnstiftung.76 Der Fokus dieser Untersuchung liegt erneut auf einer körperlichen Ebene. Marco Dohle bringt hierfür bereits Metaemotionen ein, bezieht sich dabei jedoch auf traurige Filme.77 Benjamin Moldenhauer hat bereits die Erfahrung von Gewalt im Film untersucht, bleibt dabei aber noch auf Verstörung und Sinnstiftung des (jugendlichen) Publikums durch den drastischen Horrorfilm beschränkt.78 Demgegenüber sollen hier gängige Theorien zu gewaltsamen Tötungen im Horrorfilm,79 Actionfilm80 und Drama81 durch eine somatische Perspektive in Frage gestellt und erweitert werden. 76 Vgl. Bartsch, Anne/Mares, Marie-Louise: »Making Sense of Violence: Perceived Meaningfulness as a Predictor of Audience Interest in Violent Media Content«, in: Journal of Communication, Vol. 64, Nr. 5 (2014), S. 956-976. 77 Dohle, Marco: Unterhaltung durch traurige Filme. Die Bedeutung von Metaemotionen für die Medienrezeption, Köln: Herbert von Halem Verlag 2011. 78 Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen. Welterfahrung und Gewalt im Horrorfilm, Berlin: Bertz + Fischer Verlag 2016, S. 264f. 79 Vgl. dazu Clover, Carol J.: Men, Women and Chainsaws. Gender In The Modern Horror Film, Princeton, N.J.: Princeton University Press 1992; Rockoff, Adam: Going to Pieces. The Rise and Fall of the Slasher Film, 1978-1986, Jefferson/London: McFarland & Company 2002; Hagelin, Sarah: Reel Vulnerability. Power, Pain and Gender in Contemporary American Film and Television. New Brunswick/New Jersey/London: Rutgers Univesity Press 2013; Creed, Barbara: The Monstruos-Feminine. Film, Feminism, Psychoanalysis, London/New York: Routledge 1993. Bronfen, Elisabeth: »Nachwort«, in: Dies., Die schöne Leiche. Texte von Clemens Brentano. Eta Hoffmann, Edgar Allan Poe, Arthur Schnitzler und Anderen, München: Goldmann Verlag 1992, S. 376-429. 80 Vgl. O’Brien, Daniel: Classical Masculinity And the Spectacular Body on Film. The Mighty Sons of Hercules, London/New York: Palgrave MacMillan 2014; Tasker, Yvonne: »Dumb Movies For Dumb People. Masculinity, the body, and the voice in contemporary action cinema«, in: Cohan, Steven/Hark, Ina Rae (Hg.), Screening the Male. Exploring Masculinities in Hollywood Cinema, London/New York: Routledge 1993, S. 230-244; Tasker, Yvonne: Spectacular Bodies. Gender, genre and the action cinema, London/New York: Routledge 1993; Hanich, Julian: »Mr. Schnitzelicious, the Muscle Man. Somatic Empathy and Imaginary Self-Extension in Arnold Schwarzenegger’s Hard-Body Movies«, in: Wendt, Simon/Butter, Michael/Keller, Patrick (Hg.), Arnold Schwarzenegger. Interdisciplinary Perspectives on Body and Image, Heidelberg: Universitätsverlag Winter GmbH 2011, S. 103127; Neale, Steve: »Masculinity As Spectacle. Reflections on men and mainstream cinema«, in: Cohan, Steven/Hark, Ina Rae (Hg.), Screening the Male. Exploring Masculinities in Hollywood Cinema, London/New York: Routledge 1993, S. 9-20. 81 Halberstam, Judith: In a Queer Time & Place. Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York/London: New York University Press 2005; Koch, Angela: »Gefährdete Ordnung im Rape-Revenge-Film«, in: Deuber-Mankowsky, Astrid/Holzhey, Christoph/Michaelsen, Anja (Hg.), Der Einsatz des Lebens. Lebenswissen, Medialisierung, Geschlecht, Berlin: bbooks 2009, S. 175-189; Hanrahan, Rebecca: »Popping it in: Gender Identity in Boys Don’t Cry«, in: Blessing, Kimberly A./Tudico, Paul J. (Hg.), Movies and the Meaning of Life. Philosophers Take on Hollywood, Chicago/La Salle: Carus Publishing 2005, S. 77-93; Nicodemo, Timothy: »Cinematography and Sensorial Assault in Gaspar Noé’s Irreversible«,

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1.3 METHODISCHE VORGEHENSWEISE Diese Arbeit geht zunächst von einer bildsemiotischen Ebene bzw. der Fähigkeit der Bildmedien Malerei, Fotografie und Film aus, das Phänomen Tod darzustellen. Malerei und Fotografie dienen dabei hauptsächlich einer Untermauerung filmischer Potentiale, die insgesamt im Vordergrund der Untersuchung stehen und werden jeweils mit diesen in Beziehung gesetzt. Anschließend werden die Bildzeichen im Hinblick auf filmische Tötungen und eine Erfahrbarkeit von Figurenkörpern ›überschritten‹. Die beispielhaften Todessymbole der Malerei, Transi und Skelett, dienen nicht nur der Veranschaulichung einer möglichen Verkörperung des eigentlich unsichtbaren Phänomens Tod, sondern lassen zugleich historische und religiöse Bedeutungsebenen sowie eine unterschiedliche Wirkungsweise erkennen: Während der Transi für eine Grenzüberschreitung steht, die schockiert und verängstigt und mitunter die Distanz zum Bildmedium einbrechen lässt, ist das Skelett ästhetisch schön und beruhigender. Diese traditionellen Todessymbole erhalten sich über die Jahrhunderte bis zum Film, der Transi als Zombie – hier beispielhaft an 28 Days Later (2001)82 veranschaulicht, das Skelett insbesondere im Animationsfilm, hier THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS (1993)83 und CORPSE BRIDE (2005).84 Es lässt sich außerdem eine Verstrickung mit der filmischen Medialität selbst erkennen: Der Film reanimiert das eigentlich Tote und doppelt so die inhaltliche Ebene zum Tod. Bezüglich der Fotografie werden verbunden mit der Semiotik Charles Sanders Peirce’ Potentiale und Einschränkungen diskutiert, die Realität mimetisch abzubilden, um dies zwischen Theorien zur getreuen Wiedergabe und solchen zur starken Abstraktion von Realität für eine Annäherung an das reale Phänomen Tod verwertbar zu machen. Über fotografische Potentiale wie die Bewahrung von Toten in Postmortem-Fotografien oder das Erfassen des entscheidenden Todesmoments hinaus, erlaubt die Fiktionalisierung – zumal im Rahmen von Bildfolgen – der Arbeit des Fotografen Duane Michals eine Annäherung an den fiktionalen Film und seinen Umgang mit dem echten Tod. Dessen Bewegungsfähigkeit schafft, obgleich auf der Fotografie beruhend, einen völlig anderen Eindruck in der Rezeption, die indexikalische Verbindung der Fotografie bleibt jedoch erhalten85 und wird durch den lebensnahen Ablauf, eine Speicher- und Wiederholbarkeit erweitert, wie an ZARDOZ (1974)86 veranschaulicht wird. Freeze Frames wiederum bringen den stillgestellten Tod der Fotografie in den bewegten Film zurück. Das Kino Ingmar Bergmans schließlich, insbesondere DAS SIEBENTE SIEGEL (Det sjunde inseglet, 1957),87 verbindet die Todessymbole der Malerei mit den

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in: Birks, Chelsea/Keller, Dana (Hg.), Cinephile. The University of British Columbia’s Film Journal. Vol. 8, Nr. 2: Contemporary Extremism (2012), S. 33-39. 28 DAYS LATER (Vereinigtes Königreich 2001, R: Danny Boyle) THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS (USA 1993, R: Henry Selick). CORPSE BRIDE (USA 2005, R: Tim Burton/Mike Johnson). Dies gilt selbst – zumindest bedingt – bei digitalen Bildern, wie noch diskutiert wird. ZARDOZ (Vereinigtes Königreich 1974, R: John Boorman). DAS SIEBENTE SIEGEL (Det sjunde inseglet, Schweden 1957, R: Ingmar Bergman).

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fotografischen und filmischen Potentialen und erlaubt es zuletzt, die Möglichkeit einer indirekten ›Todesbegegnung‹ im Film zu diskutieren. Das Kapitel 3 zur Erfahrbarkeit des gewaltsamen Todes geht sozusagen den Weg durch die Zeichen hindurch zum Figurenkörper, der mit dem Zuschauerkörper ›in Kontakt tritt.‹ Hier scheint eine direktere ›Todesbegegnung‹ möglich zu sein als in Kapitel 2 zur Darstellbarkeit des Phänomens Tod diskutiert wird, die sich unmittelbar am Zuschauerkörper vollzieht. Über die medialen Schwierigkeiten einen abwesenden, unbewegten Körper der bildenden Kunst oder abwesenden, bewegten Körper aus Lichtbündeln des Films für einen Rezipienten erfahrbar zu machen, wird zunächst die Frage ergründet, wo der Unterschied zwischen bildlich nur angedeuteten Tötungen und direkter Konfrontation mit diesen liegen könnte. Für eine somatische Erfahrbarkeit der Gewalt an Figurenkörpern ist zudem Körpersemiotik einzubeziehen: die Art wie das Äußere eines Körpers – seine Hautfarbe und sein Geschlecht etwa – sowie die Handlungen, die er ausführt, Bedeutungen erzeugen. Weder der Körper selbst, noch ein Thema wie tödliche Gewalt, kann je neutral dargestellt werden. Für eine direkte somatische Erfahrung, bei der man einem anderen Körper nicht nur distanziert äußerlich bleibt, müssen diese Strukturen überwunden werden. Dieser Weg von der Oberfläche der Körpersemiotik zum fühlbaren, ‚echten‹ Körper wird im Vergleich von Matthias Grünewalds Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes 88 und Mel Gibsons Film THE PASSION OF THE CHRIST89 diskutiert. Die christliche Blutsymbolik geht dabei über realitätsgetreue Darstellungen hinaus, trifft in Gibsons Film aber auf eine extreme Darstellungsweise, die gerade auf ein Authentizitätsbestreben zurückgeht. Der zweidimensionale Bild-Körper soll, im Sinne von Christiane Voss’ Leihkörper-Theorie, wie der ganze Film, in eine Dreidimensionalität gekippt und gegenwärtig körperlich nachvollzogen werden. Für den Umgang des Films mit Tötungen müssen auch voyeuristisch-sadistische bzw. nachfühlend-masochistische Anteile der Filmrezeption einbezogen werden. Über die Blickkonstellationen der psychoanalytisch-poststrukturalistisch geprägten Theorien sowie die bewusste kognitive Auseinandersetzung mit dem Filmgeschehen in neoformalistischen Theorien hinaus, wird eine körperliche Erfahrung diskutiert, die ähnlich in der die Sprache übersteigenden Schmerzlust der Lacan’schen jouissance bzw. im neoformalistischen Exzess zu finden ist. Die in Kapitel 2 diskutierten repräsentierenden bildlichen Zeichensysteme werden, wie die Narration, zugunsten einer ambivalenten Körpererfahrung überschritten, die sich nicht nur durch starke Affekte bezüglich dem Tod auszeichnet, sondern selbst eine Ebene der Sinnstiftung bilden kann. Dies wird zuletzt beispielhaft anhand von Ausschnitten aus verschiedenen Genres zu ihren jeweiligen Hochzeiten veranschaulicht, dem Slasherfilm der 1970er, dem Actionfilm der 1980er und dem Drama der 1990er. Diese werden jeweils internationalen New Extremity Produktionen90 der 2000er Jahre gegenübergestellt, um bestehende Debatten um eine somatische Grundlage zu

88 Grünewald, Matthias: Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes (1523/24), HarzTempera/Holz, 195,5 x 142,5 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inventarnummer: 994. 89 THE PASSION OF THE CHRIST (USA/Italien 2004, R: Mel Gibson). 90 Diese Art Film thematisiert Grenzfälle des Körpers in expliziten Bildern zu Sex und Gewalt und adressiert darin, Zeichensysteme überschreitend, auch direkt den Zuschauerkörper.

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erweitern. Dies betrifft im Horror- bzw. Slasherfilm Geschlechterrollen – hierzu dienen Ausschnitte aus THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (1974)91, HALLOWEEN (1978)92, und FRIDAY THE 13TH (1980)93 sowie HIGH TENSION (2003),94 HOSTEL (2005)95 und MARTYRS (2008).96 Eine Einbeziehung des Körpers als direkt erlebende und sinnstiftende Instanz kann Diskussionen um den männlichen Blick bzw. Geschlechterrollen-Differenzen unterlaufen. Dies erlaubt eine übergeschlechtliche Nähe zum Tod im leidenden und sterbenden Körper des anderen. Für den Actionfilm wird die Opposition von Gut und Böse behandelt – als Beispiele dienen CONAN THE BARBARIAN (1982)97, RAMBO: FIRST BLOOD PART II (1985)98 und DIE HARD (1988)99, sowie als Gegenentwürfe RAMBO (2008),100 THE RAID 2: BERANDAL (2014)101 und HARDCORE HENRY (2015).102 Der typische Dualismus von Gut und Böse wird nicht nur narrativ, sondern auch auf der Bildebene ausgetragen – gewaltsamen Tötungen, die man sehen darf/muss und solchen, die gezielt ausgespart werden. Die Tötungen zu zeigen lässt nicht nur gute Protagonisten böse – da Tod bringend, statt Leben rettend – erscheinen, sondern macht jenseits moralischer Einschränkungen auch ›böse Gewalt‹ rezipierbar und für eine Annäherung an eine Todeserfahrung verwertbar. Für das Drama werden Fragestellungen zur Gesellschaft, die sich gewaltsam gegen das Individuum richtet, anhand von den Vergewaltigungsszenen als Vorstufen von Tötungen in BOYS DON’T CRY (1999)103 und AMERICAN HISTORY X (1998)104 sowie IRRÉVERSIBLE (2002)105 untersucht, wobei die Botschaft des Films jeweils an Körpern

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Vgl. Kerner, Aaron Michael/Knapp, Jonathan L.: Extreme Cinema: Affective Strategies in Transnational Media, Edinburgh: Edinburgh University Press 2016, S.3. Meist wird in der Literatur zum Thema zwischen US-amerikanischem torture porn und nicht minder brutalem europäischen Kunstkino unterschieden. Sofern nicht eigens benannt, werden in dieser Arbeit die extrem brutalen Produktionen der 2000er allgemein unter dem Begriff New Extremity Kino geführt. Das Kapitel 3.3.1 wird dies noch ausführen und filmhistorisch einordnen, ehe in den Folgekapiteln konkrete Filmbeispiele behandelt werden. THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (USA 1974, R: Tobe Hooper). HALLOWEEN (USA 1978, R: John Carpenter). FRIDAY THE 13TH (USA 1980, R: Sean S. Cunningham). HIGH TENSION (Haute Tension, Frankreich 2003, R: Alexandre Aja). HOSTEL (USA 2005, R: Eli Roth). MARTYRS (Frankreich/Kanada 2008, R: Pascal Laugier). CONAN THE BARBARIAN (USA 1982, R: John Milius), dazu ausschnittsweise zwei weiitere Filme mit Arnold Schwarzenneger: COMMANDO (USA 1985, R: Mark L. Lester) und RED HEAT (USA 1988, R: Walter Hill). RAMBO: FIRST BLOOD PART II (USA 1985, R: George Cosmatos). Die Hard (USA 1988, R: John McTiernan). RAMBO (USA/Deutschland 2008, R: Sylvester Stallone). THE RAID 2: BERANDAL (Indonesien 2014, R: Gareth Evans). HARDCORE HENRY (USA/Russland 2015, R: Ilya Naishuller). BOYS DON’T CRY (USA 1999, R: Kimberley Peirce). AMERICAN HISTORY X (USA 1998, R: Tony Kaye). IRRÉVERSIBLE (Frankreich 2002, R: Gaspar Noé).

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vorgeführt wird, bei IRRÉVERSIBLE jedoch auch beinahe ausschließlich somatisch erfasst wird. Im Folgekapitel geht es um das Individuum, das sich durch selbstgerichtete Gewalt gegen die Gesellschaft zur Wehr setzt, bzw. die Funktion der Selbstverletzungen in BLACK SWAN (2010),106 DIE KLAVIERSPIELERIN (La Pianiste, 2001)107 und DANS MA PEAU (2002).108 Insbesondere DANS MA PEAU ist intensiv körperlich erfahrbar und bietet kaum eine erklärende narrative Rahmung mehr. Eine Filmrezeption, die ‚einmal durch den Körper gegangen ist‹ könnte entsprechend gerade im Angesicht von erschütternden Themengebieten wie Tod und Tötungen, zu Erkenntnissen aus dem fiktionalen Film führen. Diese Erfahrung selbst, ihre Eindrücklichkeit und Lebendigkeit, könnte, zumindest für einige Zuschauer, in sich lohnend sein

106 BLACK SWAN (USA 2010, R: Darren Aronofsky). 107 DIE KLAVIERSPIELERIN (La Pianiste, Österreich/Deutschland/Frankreich/Polen 2001, R: Michael Haneke). 108 DANS MA PEAU (Frankreich 2002, R: de Van, Marina).

2

Die Macht der Bilder (Nicht-)Darstellbarkeit des Phänomens Tod

2.1 SYMBOLE DER MALEREI, FILM UND TOD 2.1.1 Malerei, Fotografie, Film: Eine kurze Geschichte des Todes »Die[...] ›Unschärfe‹ des Todes, daß er unentrinnbarer Teil des eigenen Lebens ist und wir ihn doch nicht er-›leben‹ können, diese Nichtdarstellbarkeit des eigenen Endes stellt in der Geschichte der Bildenden Kunst eine außerordentlich starke Herausforderung an die ästhetische Vernunft dar. Der Tod also, das zeigt jeder Blick in die Kunstgeschichte, gibt ein Darstellungsproblem auf, das weit älter ist als das Medium Fotografie und Film.«1

Der Tod ist eine schwer zu fassende Begebenheit, er ist das Ende allen Lebens, allen Denkens und Fühlens, all dessen, was man gekannt hat. Sich ihn vorzustellen ist unmöglich. Schwierig ist selbst die genaue Festlegung des Todeszeitpunkts: Eine schwere Krankheit kann sich als ein langsames Sterben über Monate hinziehen. Aber wann ist man tot? Wenn das Herz aufhört zu schlagen? Wenn das Gehirn seine Arbeit aufgibt? Wie lassen sich die subjektive Erfahrung eines Eintritts von leben zu nicht mehr leben mit einem schlichten Ende der Körperfunktionen vereinen? Der Tod befindet sich außerhalb des Bekannten und Lebendigen, ist ein Nichts, eine Leerstelle und steht dem Leben damit – so zumindest im Dualismus christlich geprägter Kulturen – als etwas grundlegend Anderes gegenüber, wie die Leiche einem lebenden Zeugen. Hier liegt das Unheimliche des Todes verborgen, der den Lebenden stets droht und es verwundert nicht, dass sich im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Mythen um ihn gebildet haben, wie der Glaube an Vampire. Sind unsere Vorstellungen nicht immer schon geprägt von (Aber-)Glaube und Ersatzdarstellungen vergangener Jahrhunderte, also eigentlich ganz irdischen Bildern? Wie kann man etwas nicht Darstellbares in einem Bildmedium erfassen? Wie soll man der Größe eines Ereignisses, das alles Bekannte beendet, gerecht werden und den Lebenden den Tod verständlich machen? 1

Wahlert, Christiane von: »Die dunkle Kammer. Präliminarien zu ›Film und Tod‹«, in: Karpf, Ernst/Kiesel, Doron/Visarius, Karsten (Hg.), Kino und Tod. Zur filmischen Inszenierung von Vergänglichkeit, Berlin: Schüren Presseverlag 1993, S. 17-24, hier S.19. Die Rechtschreibung in Zitaten wird in dieser Untersuchung nicht an die aktuelle Schreibweise angeglichen.

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Es besteht seit jeher ein Bedürfnis den Tod bildlich zu thematisieren und sich ihm anzunähern, ohne ihn je direkt zeigen zu können. Die Malerei kennt allerlei Allegorien und Symbole, die Fotografie bewahrt Menschen über ihren realen Tod hinaus. Der Film kann dies vereinen und vermag zudem Übergänge festzuhalten, den Weg vom Leben zum Tod, Prozesse, Zeitlupen und -raffer, in immer neuen Perspektiven. Könnte der Film damit das geeignetste Medium darstellen, um sich dem ungreifbaren Phänomen Tod anzunähern? Das ist die entscheidende Frage dieser Arbeit. Als ein Lebewesen mit einem Bewusstsein kann der Mensch anhand der Tode Anderer den eigenen Tod gedanklich vorwegnehmen. Gertrud Koch bestätigt in Der unsterbliche Körper – Kino und Todesangst, Heidegger folgend:2 »Im Tod der Anderen findet das Wissen, dass man stirbt, zwar immer wieder seine Versicherung, ohne aber je mit der Erfahrung des eigenen Todes zusammenfallen zu können. Man kann weder den eigenen Tod erfahren, noch den Tod eines anderen sterben – man kann zwar sein eigenes Leben opfern für einen anderen, aber damit schiebt man dessen Tod als seinen eigenen allenfalls nur hinaus.«3 Der Tod bleibt somit als unabänderliches Phantasma in der eigenen unbestimmten Zukunft verortet. Doch »je klarer das Sterblichkeitsbewusstsein wurde«, so Marianne Mischke in Der Umgang mit dem Tod, »desto größer wurde das Bedürfnis, das Unvermeidliche symbolisch zu bewältigen.«4 Der Tod ist nicht darstellbar, motiviert seit Anbeginn der Bild- und Kunstgeschichte aber Ersatzdarstellungen, die ihn sicht- und damit begreifbar machen sollen. Die künstlerische Verarbeitung hat sich im Laufe der Zeit verändert, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hatten darauf jeweils starken Einfluss und bieten den historischen Kontext für die folgenden Kapitel: Bei frühen Naturvölkern gab es noch feste Riten, auch im Übergang vom Leben zum Tod, die im Mittelalter, christlich geprägt, ebenfalls existierten. Bis zum 11. Jahrhundert, so Marianne Mischke, waren Diesseits und Jenseits nicht getrennt, sondern standen im regen Austausch. Die Toten fungierten als Ratgeber und Helfer. Eine Rückkehr von den Toten zu den Lebenden wurde zudem als möglich erachtet.5 Nach den großen Pestwellen‚ dem ›schwarzen Tod‹, kamen ab dem 14. Jahrhundert schauderhafte Darstellungen des verwesenden Transi auf – häufig im Zuge von Totentänzen6 – wie das Kapitel 2.1.2 untersucht und mit dem Filmzombie in Beziehung setzt. In dieser Zeit, so Mischke, hatte jeder einen festen Platz in der Gesellschaft, die von Kaiser und Papst bestimmt war. Die Kirche gab von der Geburt bis zum Tod feste Rituale vor, sei es bei der Taufe, der Hochzeit oder der Einnahme von Speisen. Man fühlte sich einer Gruppe, einem gottgewollten System, zugehörig und erhielt Trost und Antworten im Glauben, alles unterliege dem Willen Gottes und man werde im himmlischen Jenseits für das schwierige Diesseits entlohnt.7 Auch bei der Bestattung ging man nach festgelegten Regeln vor, die aus heutiger Sicht viel mit Furcht und 2 3

4 5 6 7

Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2006 [1927]. Koch, Gertrud: »Der unsterbliche Körper – Kino und Todesangst«, in: Wyss, Beat/Buschhaus, Markus (Hg.), Den Körper im Blick, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 35-49, hier S. 35. Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod, S. 26. Vgl. ebd., S. 52. Vgl. Richard, Birgit: Todesbilder, S.52. Vgl. Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod, S. 37.

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Aberglaube zu tun haben: so schloss man etwa dem Toten Augen und Mund, um sich vor dem bösen Blick zu schützen, bzw. die Seele des Verstorbenen daran zu hindern, in den Körper zurück zu kehren und aus ihm einen Wiedergänger zu machen8 – was später Stoff für zahlreiche Zombie- und Vampirfilme bieten sollte. Jean Baudrillard sieht in den Darstellungen von Totentänzen eine Möglichkeit zum kollektiven Umgang mit dem Tod erfüllt, der in den folgenden Jahrhunderten zunehmend verloren gehen sollte: »Könige, Bischöfe, Prinzen, Bürger und Bauernlümmel sind vor dem Tode alle gleich, eine Herausforderung an die ungleiche Ordnung nach Geburt, Reichtum und Macht. Ein letzter großer Augenblick, in dem der Tod als offensiver Mythos und kollektive Sprache erscheinen konnte. Seitdem ist der Tod bekanntlich ein individueller und tragischer Gedanke ›von rechts‹ geworden, der im Hinblick auf Bewegungen der Revolte und sozialen Revolution ›reaktionär‹ ist. Unser Tod wurde tatsächlich im 16. Jahrhundert geboren. Seine Sense und seine Totenuhr, die Reiter der Apokalypse und die grotesken und makabren Spiele des Mittelalters hat er verloren. All das war noch Volkskunst und Fest, in denen sich der Tod noch austauschte, sicherlich nicht mehr mit der ›symbolischen Wirksamkeit‹ der Primitiven, aber zumindest als kollektives Phantasma am Giebel der Kathedralen oder in den Passionsspielen, die in der Hölle spielten.«9

Weg von der Personalisierung des Todes, wird er im Laufe der Zeit demnach zunehmend zu einem asymbolischen Phänomen, dem nicht mehr in der Gruppe begegnet wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass kollektive Rituale rund um den Tod bzw. die Toten im weiteren Verlauf der Geschichte gänzlich aus der Gesellschaft verschwunden wären, wie etwa die Untersuchung Der Kriegstoten gedenken von Isabel Leicht zu Erinnerungskulturen nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt.10 Im 17. Jahrhundert verlor die Kirche einen Großteil ihrer Vormachtstellung und die Gesellschaft wurde immer stärker individualisiert, was zu Unsicherheiten für den Einzelnen führte, der nicht mehr im selben Maß in einer Gruppe mit festen Ritualen aufgehoben war.11 Als Sinnbild für das Lebensende setzte sich nun das Skelett, das in Kapitel 2.1.3 im Fokus steht, immer mehr durch. Der Tod als bis heute bekannte Figur mit Kutte und Stundenglas existierte ebenso in der Vorstellung der Menschen, die Personifizierung des Todes fand mit dem Zerfallen des Skeletts in seine Einzelteile aber allmählich ein Ende.12 Auch Vanitas-Stillleben, Arrangements aus scheinbar zufällig angesammelten Alltagsgegenständen, führen symbolisch die Vergänglichkeit von materiellem Reichtum und körperlicher Schönheit vor.13 Das eindeutigste Todessymbol ist dabei noch immer der Totenschädel. Als filmische Beispiele zum Skelett dienen hier THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS (1993) und CORPSE BRIDE (2005). Die Bewegungsfähigkeit des Mediums Film übertrifft dabei die angedeutete Bewegung der 8 Vgl. Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod, S. 43. 9 Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 230/231. 10 Vgl. Leicht, Isabel: Der Kriegstoten gedenken. Lokale Erinnerungskulturen in Rosenheim und Penzberg nach 1945, Rosenheim: Historischer Verein Rosenheim 2016 [Dissertation Ludwig-Maximilians-Universität München 2014]. 11 Vgl. Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod, S. 95. 12 Vgl. Richard, Birgit: Todesbilder, S. 55f. 13 Vgl. Nerdinger, Winfried: Perspektiven der Kunst, S. 153ff.

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gemalten Totentänze und setzt sich scheinbar selbst über den Stillstand des Todes hinweg. Die Hoffnungen auf ein himmlisches Jenseits erstarben spätestens im 18. Jahrhundert. Zu dieser Zeit, so Birgit Richard, distanzierten sich die Lebenden immer mehr von den Toten. Friedhöfe galten als unrein und wurden weiter außerhalb der Wohnstätten angelegt. Man wollte sich nicht mit dem Sterben befassen.14 Christliche Versprechungen auf ein himmlisches Leben nach dem Tod wurden von der Angst vor einem »Schritt ins Nichts«15 abgelöst, die christlich geprägte Kunst geriet somit auch zunehmend ins Abseits. Im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Fotografie, wurden Friedhöfe rehabilitiert und ein respektvoller Umgang mit Toten (mit Sterbebegleitung) propagiert. Die Medizin befasste sich mit dem toten zerlegten Körper und verlor so die Todesfurcht. Das abbildende Medium Fotografie wirft zudem ganz neue Fragen zu Tod und Todessymbolen auf, die in Kapitel 2.2 bearbeitet werden: Kann man mit einer mechanischen Reproduktion der Wirklichkeit einen Menschen dauerhaft bewahren? Kann man den Tod darstellen bzw. wie sehen die neuen Todessymbole aus? Beim Fotografieren handelt es sich um einen mechanischen Prozess, das Dargestellte ist nicht mehr länger der Phantasie eines Künstlers entsprungen, sondern muss zu einem bestimmten Zeitpunkt so da gewesen sein, wie Roland Barthes feststellt.16 Schrittweise ablaufendes Leben, der Tod in den Phasen einer Krankheit oder als einzelner, flüchtiger Moment, können aus der Zeit gehoben betrachtet werden. Ob die modernen Künste Fotografie und Film dadurch dem Mythos Tod gerecht werden können, daran scheiden sich die Geister. Für Walter Benjamin fehlt es ihnen auf Grund ihrer Reproduzierbarkeit an einer gewissen Aura, die sie als Kunstwerke einzigartig macht. Im ursprünglichen kollektiven Ritual sieht Benjamin das traditionelle (auratische) Kunstwerk beheimatet. Diese Aura entspringt eben dem rituellen Umgang, den das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit (also Fotografie und Film), nicht mehr aufweist: »Die ursprüngliche Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen. Es ist nun von entscheidender Bedeutung, daß diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst. Mit anderen Worten: Der einzigartige Wert des ›echten‹ Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte.«.17

Diese alten Kunstwerke hatten einen ausgesprochenen Kultwert, waren magische Objekte, die erst später auch für eine künstlerische Fertigkeit anerkannt wurden.18 Im Umgang mit dem Tod gab es gemeinsame Riten und kollektive Bilder. Das einheitliche Bild, das die Gesellschaft vom Tod hatte, existiert heute aber nicht mehr. Es gibt keinen Austausch mit den Toten mehr, aber der verdrängte Tod bedeutet auch keinen Sieg über ihn. Im Gegenteil, man kann ihm keinen (etwa christlich geprägten) Sinn mehr 14 15 16 17 18

Richard, Birgit: Todesbilder, S. 59ff. Ebd., S.62. Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer, S.12. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S.19. Vgl. ebd., S. 24.

(Nicht-)Darstellbarkeit des Phänomens Tod | 29

geben.19 Das letzte Bild einer Person allerdings wird ihren Hinterbliebenen immer von Bedeutung sein. Solche Bilder, ebenso wie die eines geliebten Menschen im Geldbeutel, zeugen von einem an alte Rituale erinnernden »talismanartige[n] Gebrauch von Fotos [...] aus Sentimentalität und verborgenem Glauben an magische Kräfte«20, so Susan Sontag. Damit wäre etwas verloren Geglaubtes Rituelles durch die Fotografie wiederbelebt worden, was also auch für den Film gelten muss.21 Obwohl die fotografische Fixierung eines Moments an den Tod erinnert (auch ohne den Versuch, ihn wie bei den Personifizierungen direkt darzustellen), geht es ihr immer darum Leben zu bewahren. Statt kollektiver Todesbilder helfen demnach heute oft umgekehrt individuelle ›Lebensbilder‹ bei der Todesbewältigung. Wenn man sich einer Wiederbegegnung im Jenseits nicht mehr sicher sein kann, muss man den verlorenen Menschen, von dem man nun abgeschnitten ist, irgendwie festhalten. Die Fotos die häufig an Grabsteinen angebracht werden, sollen dabei helfen, auf ewig den Menschen zu bewahren, wie er war. Selbst Walter Benjamin bewertet die Aura früher fotografischer Portraits dementsprechend anders: »In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen. Dieser weicht aber nicht widerstandslos. Er bezieht eine letzte Verschanzung, und die ist das Menschenantlitz. Keineswegs zufällig steht das Portrait im Mittelpunkt der frühen Photographie. Im Kult der Erinnerung an die fernen oder die abgestorbenen Lieben hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht. Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal. Das ist es, was deren schwermutvolle und mit nichts zu vergleichende Schönheit ausmacht. Wo aber der Mensch aus der Photographie sich zurückzieht, da tritt erstmals der Ausstellungswert dem Kultwert überlegen entgegen.«22

Der Kultwert ist demnach noch vorhanden, wenn eine Person portraitiert wird, die deren Hinterbliebene bewahren wollen. Fotos sind bis heute ein wichtiger Bestandteil der individuellen Trauerarbeit. Seitdem kompakte Geräte für jedermann erschwinglich sind, sammelt jeder Fotos und Videos von seinen Lieben, um im schnellen Ablauf der Zeit Augenblicke zu bewahren. Wenn jemand stirbt, werden diese Bilder zum Zeugnis seines Lebens. Für Siegfried Kracauer, so wird das Kapitel 2.2.2 zeigen, stellt ein Foto dagegen nur eine Augenblickaufnahme dar und kann einem Menschen(leben) nicht

19 Vgl. Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod, S. 110. 20 Sontag, Susan: Über Fotografie, S. 21. 21 »Man findet auch Vermutungen über das Potential des photographischen Mediums, den Tod in der Photographie zu ritualisieren, zu zivilisieren und in eine zivilisatorische Strategie der Bewahrung zu überführen. Damit korrespondiert der Gedanke, beim Bildgebrauch und der Aufbewahrung der Photographien in Familienalben handle es sich in erster Linie um Reliquienverehrung. Gerade die persönlichen, sentimentalen und todesverliebten Verwendungsweisen zeigen, wie sehr diese technisch produzierten Bilder zu Gegenständen des Glaubens werden und in die Spiele des Begehrens und des Todes verstrickt sind [...]« Richter, Isabel: Der phantasierte Tod, S. 293. 22 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S.25.

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gerecht werden.23 Roland Barthes und André Bazin argumentieren jeweils für die Fotografie und den Film und gestehen diesen zu, eine bleibende ›magische‹ Verbindung in die Vergangenheit24 zu schaffen bzw. einen Menschen (annähernd) zu konservieren.25 Seit dem Aufkommen technischer Bilder gibt es kein einheitliches gesellschaftliches Bild des symbolischen Todes mehr, wie den Transi oder das Skelett. Dennoch gibt es in den modernen Medien Fotografie und Film zahlreiche Todessymbole, die eben teils an traditionelle Motive anknüpfen, teils neue schaffen (etwa ein EKG mit gerader Linie). Zusätzlich existiert immer eine Symbolik auf medialer Ebene, da stets eine lebendige, dreidimensionale Wirklichkeit auf einen zweidimensionalen Träger übertragen wird und somit beispielsweise der Eindruck von Tiefe nur angedeutet werden kann. Etwa ab den 1930er Jahren hatte der Tod seine Macht verloren, er war kein Schreckgespenst mehr, sondern ein schlichtes Ende der Körperfunktionen. Er war damit de facto aus der Gesellschaft verschwunden und man starb in der Isolation des Krankenhauses, statt, wie noch im 19. Jahrhundert, im Kreise der Familie.26 «Die Kultur des 20. Jhs.«, so Birgit Richard, «ist im Umgang mit dem toten Körper allgemein auf Hygiene und Sauberkeit ausgerichtet, so muß der schmutzige, tote Körper desinfiziert, sterilisiert, geschminkt, re-designed werden. Die Toten sollen durch Schminken lebendig wirken, sie werden posthum in hübsche Fertigware verwandelt, um den Tod als Verfall des Körpers zu leugnen.«27 Wegen der zunehmenden Distanzierung vom Tod, der einen persönlich betrifft, übernahmen nun Bestatter sämtliche Schritte zu einer pietätvollen Beisetzung.28 Dafür wird seitdem der spektakuläre Tod, z.B. durch Mord oder Unfall, über die Massenmedien verbreitet. Die Reproduzierbarkeit, die die fotografischen Medien mit sich bringen, lässt aus dem Tod ein Massenphänomen werden. So sind z.B. Beerdigungen von Prominenten für jedermann über sein Fernsehgerät zugänglich. Obwohl sich diese Medien der Authentizität verschrieben haben, gibt es zahlreiche Manipulationen und sie sind medienspezifisch zwangsläufig immer codiert. Dies ist für eine Annäherung an das Phänomen Tod äußerst problematisch. Als Beispiel für den Tod in den Massenmedien dient hier Thomas Demands Badezimmer,29 eine Nachbearbeitung des Pressefotos zum mysteriösen Tod des Politikers Uwe Barschel, bei der dieser gerade nicht im Bild vorkommt.

23 24 25 26

Vgl. Kracauer, Siegfried: »Die Fotografie«, S. 103ff. Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer, S. 99. Vgl. Bazin, André: »Ontologie des fotografischen Bildes«, S. 21. »Im Krankenhaus finden keine Riten und Zeremonien mehr statt. Der Tod ist vielmehr in einen technischen Prozeß eingebunden, und sein Eintreten ist am ›Abbruch der Betreuung‹ zu erkennen [...] Der Mensch fühlt seinen Tod nicht mehr kommen, im Gegenteil, ihm wird sein Zustand verheimlicht [...] Der Mensch ist um den ›eigenen Tod‹ gebracht.« Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod, S. 103. 27 Richard, Birgit: Todesbilder, S. 69. 28 Vgl. ebd., S.64ff. 29 Demand, Thomas: Badezimmer (1997), C-Print, Diasec, 160 x 122 cm, Thomas Demand/VG Bild-Kunst Bonn.

(Nicht-)Darstellbarkeit des Phänomens Tod | 31

Natürlich kann die Fotografie neben Lebenden auch Tote dauerhaft bewahren, wie die Postmortem-Fotografie des 19. Jahrhunderts zeigt.30 Die Sterbebegleitung wird durch diese letzten Fotografien der Toten ersetzt und eine ›Begegnung mit dem Tod‹ über das Medium ermöglicht, wobei den Toten häufig ein Anschein von Leben gegeben wird. Die Fotografie kann sich außerdem dem Tod annähern, indem sie einen entscheidenden Todesmoment, etwa durch einen Gewehrschuss verursacht, einfängt. Eine weitere Variante ist die Darstellung der eigentlich unsichtbaren Bilder rund um den Tod (z.B. Seelenwanderung), wie sie der Fotograf Duane Michals mit seinen inszenierten Bildfolgen verwirklicht hat.31 Diese Fotoserien stellen zugleich einen Übergang zum Film dar, der gleichfalls nur eine Aneinanderreihung von Bildern ist und durch seine Fiktion Ebenen beleuchtet, die im echten Leben nicht existieren. Der Film selbst kann Prozesse umkehren und Tode ungeschehen machen. Durch seine Bewegung steht er dem ewigen Stillstand des Todes entgegen, der sich in der unbewegten Malerei zeigt. Die Fähigkeit der Fotografie, ein Stückchen Realität aus dem Verlauf der Zeit zu reißen und dauerhaft zu bewahren, wird durch die Mobilität des Films noch übertroffen. Er transformiert unsere bewegte Realität in eine Leinwandrealität. Der filmische Tod zeichnet sich – im Gegensatz zum realen, einmaligen Tod – durch seine Wiederholbarkeit aus.32 Allerdings ist der Film durch seinen immer gleichen Ablauf auch eingeschränkter als Fotografien und es bleibt keine Zeit für Assoziationen und Erinnerungen, die das Einzelbild im Betrachter auslöst. Anders verhält es sich bei seiner Stillstellung durch Freeze Frames. Nun bleibt Zeit zur genauen Betrachtung und Reflexion. Im Kontrast zur Bewegung lässt sich aber auch hier, wie bei der unbewegten Fotografie, eine Parallele zum Tod erkennen.33 Die Filme Ingmar Bergmans sind voll von Todessymbolen und werden deshalb abschließend betrachtet.34 Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf DAS SIEBENTE SIEGEL. Hier gibt es einige Todes-Motive aus der bildenden Kunst, die der Film wieder aufgreift. Dazu lässt sich in mehreren Großaufnahmen die ›Begegnung‹ mit dem Tod am Mienenspiel der Figuren ablesen. 2.1.2 Transi, Totentänze und Zombies im Film Der Tod ist eigentlich das Ende der Bilder, das Ende jeglicher Wahrnehmung. Doch wie sollten die bildenden Künste anders mit ihm umgehen als durch (Ersatz-)Bilder? Gleichzeitig stellen diese häufig eine Bewältigung dar. Etwas Flüchtiges wird greifbar gemacht, etwas Schreckliches im Bild gebannt. »Daß wir in der Kunstgeschichte so vielen Todessymbolen und Todes-Bildern begegnen, mag angesichts der eigentlichen Bildlosigkeit des Todes paradox erscheinen. Immer waren es Bildvorstellungen, die das eigentlich Unvorstellbare in menschengerechten Formen zu begreifen

30 31 32 33 34

Vgl. Kapitel 2.2.3 Vgl. Kapitel 2.2.4 Vgl. Kapitel 2.3.1 Vgl. Kapitel 2.3.2 Vgl. Kapitel 2.3.3

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helfen sollten. Religiöse Jenseitsvorstellungen basierten auf Projektionen, die das Diesseits spiegelten und verlängerten. Der Tod wurde unter anderem wiederholt als Reise vorgestellt, und zwar in den unterschiedlichsten Gesellschaften und Kulturen [...] Zahllose bildliche Vorstellungsversuche zeugen von dem Willen, sich dieses Phänomens in effigie zu bemächtigen.«35

Über die Jahrhunderte hinweg wurde der Tod auf sehr unterschiedliche Arten dargestellt,36 die folgenden Kapitel müssen sich der Fülle wegen aber auf den verwesenden Transi und das fertige Skelett beschränken. Die Figur des Transi erhält sich als Zombie im Film bis heute. Hier lässt sich erkennen, wie eine Personifizierung des Todes diesen zugleich greifbarer und besonders erschreckend macht. Anders als das Skelett, an dem der Prozess des Vergehens bereits abgeschlossen ist, konfrontiert der Transi den Betrachter mit dieser anwidernden prozesshaften Verwesung. Damit erfassen Transi- und Zombiefiguren den Rezipienten mitunter schockartig, direkt somatisch, durch Angst oder Ekel. Das stillgestellte Skelett dagegen kann auch als etwas sonderbar Schönes aufgefasst werden und lädt damit eher auf kognitiver Ebene zu einer Reflexion über den Tod ein. Ganz ähnlich bewegt sich diese Arbeit vom stillgestellten Studienobjekt Tod hin zum unmittelbaren, erschütternden Erleben filmischer Schrecken angesichts lebensbedrohlicher Grenzgänge zwischen Leben und Tod: so zu finden bereits im faulen Fleisch des Zombies und noch mehr dem aufgerissenen, blutenden Körper des Gewaltopfers in Kapitel 3. Die klare Trennung von Dort und Hier, Tod und Leben, verwischt dann ebenso, wie die Grenze zwischen Leinwandwelt zum Zuschauerraum. Während die Malerei den Tod einst im Bild gebannt hatte – endlich sichtbar, dabei abgetrennt und somit kognitiv zu bewältigen – bricht er im bewegten Film (re-)animiert, mit voller Wucht aus der Leinwand hervor. Der Transi ist nicht mehr vollständiger Mensch, aber auch noch nicht Skelett. In der makabren Ära, so Birgit Richard erlebte er seine Hochzeit: »Die entscheidende Epoche für die Darstellung des toten Körpers mit Nachwirkungen für das imaginäre Todesbild in unserem Jahrhundert ist die Zeit zwischen dem 14. und dem 16. Jh: Es ist die erste makabre Ära, in der man sich direkt mit den Vorgängen in der unterirdischen Welt des Todes, mit dem Grab beschäftigt. Die makabren Themen, dazu zählen auch die makabren Totentänze, bzw. ›danse macabre‹, die als Friedhofsmauerdekoration dienen und die Darstellungen der artes moriendi, bestimmen in der genannten Zeit Ikonographie und Literatur.«37

35 Lang, Walther K.: Der Tod und das Bild. Todesevokationen in der zeitgenössischen Kunst 1975-1990, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 1995, S. 59/60. 36 »Die Menschen gaben ihm in früheren Zeiten eine Gestalt, sahen ihn als Gerippe, mörderischen Würger, unversöhnlichen Widersacher, Jäger, Krieger, Totengräber, Spielmann, Sensenmann, ›Schnitter Tod‹, apokalyptischen Reiter, ›Gevatter Hein‹, barmherzigen Erlöser, Liebhaber, Vampir, Mutter Erde oder als Todesgöttin. Sie bewaffneten ihn mit Pfeil und Bogen, Speeren, Lanzen, Messern, Stacheln, Keulen, Hacken, Beilen, Schwertern, Schaufeln, Sensen, Sicheln, gaben ihm Stricke, Seile, Schlingen und Netze. Sie definierten ihn als eine letzte Reise, als Abschied, als Heimkehr [...] Diese Symbole und Bilder können dem Individuum Halt geben oder auch Angst auslösen«. Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod, S. 27. 37 Richard, Birgit: Todesbilder, S. 52.

(Nicht-)Darstellbarkeit des Phänomens Tod | 33

Gerade der Übergang zwischen Leben und Tod, den die Verwesung darstellt, ist besonders grauenhaft. Hier spiegeln sich Ängste vor dem Verwesungsprozess selbst, der Wiederkehr der Toten, wie auch der grotesken Verlebendigung der Toten im Tanz wider. Ursprünglich aus dem Volksglauben heraus entstanden, die Toten würden um Mitternacht aus ihren Gräbern steigen und auf den Friedhöfen tanzen,38 taucht der Totentanz künstlerisch umgesetzt immer dann auf, wenn in der Bevölkerung ein »unterschwelliges Krisengefühl, [...] verborgene Ängste und Befürchtungen«39 auftreten, so Gert Kaiser in seinem Buch Der tanzende Tod. Die Anfänge der Totentanzdarstellungen liegen vermutlich im Frankreich des Mittelalters, als Reaktion auf die Schrecken der Pest. Das Motiv hält sich aber bis in die Gegenwart. Inspiriert durch die Vado Mori-Gedichte des 13. Jahrhunderts, in denen Angehörige verschiedener Stände ihren bevorstehenden Tod beweinen, erläutert auch in den Totentanzdarstellungen der beigegebene Text das Bild.40 Frank Link bestätigt in Tanz und Tod in Kunst und Literatur: »Als eines der frühen Beispiele wird gewöhnlich der Totentanz auf dem Friedhof des Franziskanerklosters Aux S.S. Innocents in Paris genannt. Er bestand aus einem Wandgemälde, das die verschiedenen Stände – angeführt von Papst und Kaiser – in Begleitung eines Toten bzw. des Todes sich im Tanz bewegend darstellte. Eingeleitet und begleitet wurde das Gemalte durch einen leicht fasslichen Text, der auf die Unausweichlichkeit des Todes verwies.«41

Abbildung 1: Guyot Marchant. La Danse macabre. Paris 1485

Quelle: Ville de Grenoble, Bibliothèque municipale

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Vgl. Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod, S. 77. Kaiser, Gert: Der tanzende Tod, S. 9. Vgl. Kaiser, Gert: Der tanzende Tod, S. 23 ff. Link, Frank: »Tanz und Tod in Kunst und Literatur: Beispiele«, in: Ders., Tanz und Tod in Kunst und Literatur, Berlin: Duncker & Humblot Verlag 1993, S. 11-68, hier S. 11.

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Dieses Fresko (ca. 1424-1425) zog sich über 35 Meter auf der Innenseite der Friedhofsmauer entlang und stellte beinahe lebensgroß verschiedene Tanzpaare dar. Der personifizierte Tod geleitete geistliche und weltliche Vertreter aus dem Leben. Trotz der Zerstörung des ursprünglichen Wandgemäldes, sind die einzelnen Szenen dank eines Drucks von Guyot Marchant von 1485 (Abbildung 1) weitgehend erhalten. Bilder und beigegebene Texte wurden durch den Abdruck handlich und portabel und eine wiederholte Auseinandersetzung mit den Motiven dadurch vereinfacht.42 Auch das berühmte Motiv vom Tod und dem Mädchen findet sich bereits innerhalb der frühen Totentanzdarstellungen, es trat aber auch unabhängig davon in Kunst, Musik und Literatur auf.43 Es verwundert nicht, dass auch anlässlich der beiden Weltkriege von verschiedenen Künstlern auf Totentanzmotive zurückgegriffen wurde: So etwa Otto Dix (18911969) mit seinem Totentanz anno 17 (Höhe Toter Mann, 1924).44 Das Bild ist Teil eines Zyklus (Der Krieg), der die Schrecken des Ersten Weltkrieges darstellt. Zu sehen sind tote Soldaten, die auf dem Schlachtfeld im Stacheldraht qualvoll ihren Verwundungen erlegen sind. Getanzt wird hier nicht, der Tod tritt auch nicht in Person auf, die Leichen selbst stehen für den einst tanzenden Tod. Dix’ Motivation den Tod (im Krieg) zu thematisieren ist der früherer Künstler sehr ähnlich: er selbst hat den Alltag an der Front miterlebt, jedoch ist der »Schwerpunkt des Motivspektrums [...] weniger der Soldatenalltag, vielmehr die bizarre Kriegsästhetik der Trümmer-, Trichter- und Grabenlandschaft. Im Vergleich zur veristischen Polemik der späteren Kriegskompositionen sucht der MG-Schütze das Grauen durch Stil zu ›bannen‹.«45 Den Tod darzustellen und dadurch zu bannen, haben viele Künstler vor und nach Dix versucht. Es ist eine zentrale Motivation aller Todesdarstellungen, vom Transi bis zu zeitgenössischen Ausdrucksformen. Auch Arnulf Rainer beschäftigte sich 1977 gezielt mit Zerfallsprozessen. Wiederholt übermalte er als »künstlerisches Analogon zum Verwesungsprozeß«46 Fotos von Totenmasken und Leichengesichtern. Seine Übermalungsarbeiten kommentiert Rainer: »Die Fotografie allein ist [...] nicht in der Lage, eine bewegte oder statisch-konzentrierte Anspannung adäquat zu vermitteln. Um dem näher zu kommen, überzeichne ich das Foto. Es ist dies keine Retuschierung, sondern eine Akzentuierung, eine Wiederdynamisierung des erstarrten Moments«.47 Gilt es 42 Vgl. Fein, David A.: »Text and Image Mirror Play in Guyot Marchant’s 1485 Danse Macabre«, Neophilologus, Vol. 98, Nr. 2 (2014), S. 225–239, hier S. 225/226. 43 »Schon Zeitgenossen haben diese Bildidee, die wie keine andere die Vanitas-Allegorie zu illustrieren vermag, außerhalb des Totentanz-Kontextes gestellt, und so reicht ihre Dynamik bis in die unmittelbare Gegenwart [...] Es wirkt diese Bildidee allemal durch den Schock, den das Beieinander von blühendem Mädchenleib und skelettiertem Liebhaber auslöst«. Kaiser, Gert: Der tanzende Tod, S. 19. 44 Dix, Otto: Totentanz anno 17. (Höhe Toter Mann, 1924), Radierung. 24,5 x 30 cm. Kunstsammlung Gera, Otto-Dix-Haus, Inventarnummer D/G 72. 45 o. A., 1914-1918. Weltkrieg, http://www.otto-dix.de/werk/c_weltkrieg (Abgerufen 22.01. 2019). 46 Lang, Walther K.: Der Tod und das Bild, S. 117. 47 Thierolf, Corinna (Hg.): Arnulf Rainer. Schriften, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2010. [Anlässlich der Ausstellung Arnulf Rainer: Der Übermaler. Alte Pinakothek München. 10. Juni bis 5. September 2010], S.112.

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also den Tod, oder besser das Vergehen in seinem Prozess darzustellen, sind die immobilen Medien Malerei und Fotografie dem bewegten Medium Film unterlegen und müssen sich in Andeutungen retten. Das Grauen gegenüber dem verwesenden Körper setzt sich entsprechend bis in den bewegten Kinofilm fort, in dem etwa Zombies auf der Suche nach Menschenfleisch über die Leinwand wandeln. Neben der schaurigen Komponente der lebenden Toten spielen im Zombiefilm auch immer moralische und gesellschaftskritische Aspekte eine Rolle: Fürchtet man um das eigene Leben, dann ist man zu Dingen bereit, die man nicht für möglich gehalten hätte, man schützt den eigenen Leib vor dem jedes Anderen. Die niedersten Triebe kommen zum Vorschein, was einer modernen Zivilisation und jeglichen gesellschaftlichen Normen entgegensteht. Zudem spielen sich diese Szenarien teilweise in Stätten der Konsumgesellschaft ab, wie z.B. riesigen Malls,48 ein ironischer Verweis auf die amerikanische Alltagskultur. Steven Shaviro dazu: »The zombies are not an exception to, but a positive expression of, consumerist desire [...] They embody and mimetically reproduce those very aspects of contemporary American life that are openly celebrated by the media«.49 Die Malls bieten den Überlebenden zunächst einen gewissen Schutz und versorgen sie mit den notwendigen Utensilien um am Leben zu bleiben, aber im Grunde sind sie genau darauf zurückgeworfen: das blanke Überleben, bei dem Geld und Konsum keine Rettung bieten. Die in Europa grassierende Pest im 14. und 15. Jahrhundert stellte für die damalige Gesellschaft eine Krise dar, wie sie Kaiser beschrieben hat. Diese war Ausgangspunkt für die zahlreichen Transi-Darstellungen zur Bewältigung und Bannung des schwarzen Todes. Eine Analogie zum Verhalten der Überlebenden im Zombiefilm lässt sich nicht leugnen: »Sehen wir die zahlreichen Pestberichte zusammen, so fällt auf, daß fast einhellig eine schockartige Destabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse vermerkt wird. Das Zerbrechen von Familienbindungen, von Freundschaften, von Gruppenbeziehungen aller Art, das oft panische Hinwerfen von Berufspflichten besonders der Ärzte, Notare und Priester, die schamlose Bereicherung an herrenlos gewordenem Gut, das Verschachern der Sterbenssakramente gegen Testierungen für die Kirche erzeugen offensichtlich das Gefühl allgemeinen Niedergangs und kollektiver Trostlosigkeit.«50

Wo liegt also die von Kaiser beschriebene Erschütterung der Gesellschaft, die sich in Horrorfilmen bis in die Gegenwart zeigt? Unterschwellige Ängste vor Krieg, radioaktiver Verseuchung oder Epidemien könnten ein Beweggrund sein. Hinzu kommt eine offene Kritik an Autoritäten: Regierung und Militär versuchen in Zombiefilmen häufig die Lage mit Gewalt in den Griff zu bekommen, scheitern jedoch. Zudem werde durch ihre Vertreter die patriarchale Gesellschaft selbst in Frage gestellt, so Steven Shaviro: »The[...] white males’ fear of zombies seems indistinguishable from the dread and hatred they display toward women. The self-congratulatory attitudes that they continually project are shown 48 Vgl. DAWN OF THE DEAD (USA 1978, R: George Romero) und das Remake DAWN OF THE DEAD (USA 2004, Zack Snyder). 49 Shaviro, Steven: The Cinematic Body, S. 92. 50 Kaiser, Gert: Der tanzende Tod, S. 31.

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to be ineffective at best, and radically counterproductive at worst, in dealing with the actual perils that the zombies represent. The macho, paternalistic traits of typical Hollywood action heroes are repeatedly exposed as stupid and dysfunctional.«51

Dennoch sind die Überlebenden diesen unfähigen Machthabern ausgeliefert und finden in ihnen weitere Antagonisten neben den Zombies, statt Verbündete, so zu sehen etwa in 28 DAYS LATER. Hier erreicht die Hauptfigur Jim (Cillian Murphy) mit seinen Begleiterinnen Selena (Naomie Harris) und Hannah (Megan Burns) nach einem langen Überlebenskampf endlich die vermeintliche Sicherheit eines Militärcamps, nur um festzustellen, dass der Major Henri West (Christopher Eccleston) seinen Soldaten Frauen versprochen hat, um ihnen Hoffnungen für die Zukunft zu geben. Selena und Hannah sind also in großer Gefahr und Jim muss mit ihnen fliehen (TC 01:16:3601:23:48). 28 DAYS LATER arbeitet nicht mit klassischen Transi-Zombies, man sieht ihnen die Verwesung nicht so direkt an, wie beispielsweise denen in DAWN OF THE DEAD (1978),52 wo Soldaten leichenblasse Zombies mit offenen Wunden durch gezielte Schüsse ins Gehirn töten müssen (TC 00:09:08-00:10:25). Das Augenmerk in 28 DAYS LATER liegt auf ihrem Raubtiercharakter mit roten Augen, Sie bewegen sich auch schnell wie Raubtiere. Catherine Shelton erläutert in Unheimliche Inskriptionen: »Die Angriffe der kannibalischen Zombies werden in extrem schnell montierten Sequenzen dargestellt, die eine Bewegungskette in zahlreiche Fragmente auflösen. Gleichzeitig erscheinen sie beschleunigt, sind also in fast motion gedreht, was den Überfall einerseits noch desorientierender wirken lässt, andererseits den Eindruck natürlicher Bewegung verfremdet und die Begegnung mit den monströsen Gestalten noch irrealer und bedrohlicher, diese noch entmenschlichter erscheinen lässt. Der unerwartete Schock aufgrund der Konfrontation mit dem Monstrum findet seinen Ausdruck in einer filmischen Inszenierung, die diesen als Affekt ›gegen‹ den Zuschauer richtet.«53

Die Dynamisierung der Bewegungsfähigkeit eigentlich toter Zombiegestalten setzt damit, wie ihr abstoßender Anblick selbst, auf einen somatisch spürbaren Schock beim Publikum, das distanzlos ergriffen wird,54 wenn die Toten rennend Lebende verfolgen. Dennoch bleiben die Zombies typische Wiedergänger, der wandelnde Tod, der kommt, um die Lebenden zu holen. Dies zeigt, wie sich die Sehgewohnheiten geändert haben.55 51 Shaviro, Steven: The Cinematic Body, S. 88. 52 DAWN OF THE DEAD (USA 1978, R: George Romero). 53 Shelton, Catherine: Unheimliche Inskriptionen. Eine Studie zu Körperbildern im postklassischen Horrorfilm, Bielefeld: transcript Verlag 2008, S. 148. 54 Vgl. Kapitel 3.2.2 und 3.3.2.2 55 Der Medienwissenschaftler Dolf Zillmann macht bereits 1982 die These der Gewöhnung des Zuschauers an Medieninhalte stark. Dies erfordere die kontinuierliche Steigerung von Stimuli, um den Zuschauer noch zu erreichen: »It appears that stronger and stronger stimuli were called upon to provide the audience with excitement and, more important here, that the use of more and more powerful material became necessary to get the job done [...] initially strong excitatory reactions have become weak or have vanished entirely with repeated exposure to stimuli of a certain kind, and correspondingly, initially strong effective reactions have

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Was heute Angst macht und uns ergreift, sind nicht mehr die unbeholfenen und langsamen Bewegungen der traditionellen Film-Zombies, es ist die Wendigkeit, die derjenigen der Lebenden in nichts nachsteht, sie sogar noch zum Übermenschlichen hin übertrifft. Der Film beginnt mit real wirkenden Gewaltbildern der Massenmedien,56 die über Fernsehbildschirme flimmern. Diese Bilder, die alltäglichen Nachrichtenberichten entstammen könnten, verweisen auf Unruhen und Kriegszustände in vielen Gesellschaften der Welt. Sie zeigen Auseinandersetzungen in einem Kriegsgebiet, eine Frau, die um ihr totes Baby weint, Polizeibeamte, die in voller Montur mit Schutzschilden durch eine Straße marschieren, einen erhängten Mann, der noch nach seinem Tod traktiert wird, Polizisten, die auf dem Boden liegende Demonstranten misshandeln, Feuer und Straßenschlachten. Als die Kamera langsam von den Fernsehbildern zurückfährt, was erst das Medium im Medium bewusst macht, sieht man, dass ein angebundener Affe auf einer Liege diesen in einem Labor ausgesetzt war. Eine Überwachungskamera zeigt einen vermummten Mann, der in das Versuchslabor mit den Affen eingedrungen ist. Eine Gruppe Aktivisten will die Versuchsaffen aus ihrer Gefangenschaft befreien. Auch die Warnung eines Labormitarbeiters, der sie wissen lässt, dass die Tiere ›mit Wut‹ infiziert seien, hält sie nicht ab. Noch vor Ort wird eine junge Frau von einem Affen gebissen und das Virus verbreitet sich innerhalb von Sekunden (TC 00:00:24-00:05:11). Das oben beschriebene Krisengefühl in der Gesellschaft wird hier also direkt im Film thematisiert. 28 Tage später erwacht Jim nackt in einem verlassenen Krankenhaus und muss feststellen, dass auch ganz London menschenleer ist. Die sonst pulsierende, jetzt stillgelegte und ausgestorbene Großstadt mit ihren leeren Autos und weiteren Hinterlassenschaften, ist ein einziges Todessymbol. Da er seine Lage noch nicht begriffen hat, sammelt Jim herumliegendes Geld auf. Dabei gehört es einer Gesellschaft an, die gar nicht mehr existiert, sondern sich nur noch in riesigen Werbebannern zeigt. Wie bei den Totentanzdarstellungen bietet Reichtum im Angesicht des Todes keinen Schutz. Über Zeitungsartikel und Briefe von Angehörigen, die sich an Vermisste oder Verstorbene richten, begreift Jim allmählich, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss (TC 00:05:14-00:12:38). Bald darauf muss er feststellen, dass alle, die er liebte, tot sind und sein Kampf ums Überleben beginnt. Die Zombies im Film sind – wie der Transi, oder auch bereits die Pestkranken der Vergangenheit – nicht mehr Teil der Gesellschaft, nehmen nicht mehr die Rolle eines Ehemanns, einer Schwester oder eines Kindes ein, sie werden ausgegrenzt. Karl Rosenkranz folgend sind sie aus ästhetischer Sicht hässlich,57 denn sie präsentieren die »[...] Negation der schönen Form der Erscheinung durch eine Unform, die aus der physischen oder moralischen Verwesung entspringt [...]«58 Eben dieses aus-der-Form-

been blunted.« Zillmann, Dolf: »Television viewing and arousal«, in: Pearl, D./Bouthilet, L./Lazar, J. (Hg.), Television and behavior: Ten years of scientific progress and implications for the eightees, Vol 2. Washington, DC: U.S. Government Printing Office 1982, S. 53-67, hier S. 61. 56 Die Todesbilder der Massenmedien werden in Kapitel 2.2.2 noch genauer diskutiert. 57 Vgl. Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen, S. 142. 58 Ebd., S. 252.

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Fallen der Verwesung ist bedrohlich für den Einzelnen, wie auch die Gesellschaft, so Katharina Sykora: »Der tote Körper gilt aus der Perspektive des Sozialen als hässlich, weil er die tödliche Gefährdung darstellt, welcher der lebende Körper stets ausgesetzt ist, und die Unordnung repräsentiert, die jeder Gesellschaft durch den Verlust eines Mitglieds droht. An ihm irritiert insbesondere der unaufhaltbare, ›selbsttätige‹ Prozess der Verwesung, der die reine, geschlossene, statische Form in eine durchlässige, unreine, dynamische verwandelt. Solchermaßen symbolisch geworden, gilt der verwesende Körper im Zentrum der Gesellschaft der Lebenden als deplatziert, ja destruktiv, macht er doch die Integrität des Individuums wie der sozialen Gemeinschaft zunichte. Daher muss er vom Hässlichen bereinigt und mit dem Formschönen ausgestattet werden. Oder er muss ausgesondert, sprich jenseits der Grenze des Sichtbaren und Sozialen verlagert werden [...] Kategorien des Sozialen bilden sich so in Parametern des Ästhetischen ab und vice versa.«59

Im Sinne Julia Kristevas stellen Transis und Zombies als Kadaver den Inbegriff des Abjekten dar, des Ekelhaften und Abstoßenden: »The corpse, seen without God and outside of science, is the utmost of abjection. It is death infecting life. Abject. It is something rejected from which one does not part, from which one does not protect oneself as from an object. Imaginary uncanniness and real threat, it beckons to us and ends up engulfing us. It is thus not lack of cleanliness or health that causes abjection but what disturbs identity, system, order. What does not respect borders, positions, rules. The in-between, the ambiguous, the composite. The traitor, the liar, the criminal with a good conscience, the shameless rapist, the killer who claims he is a savior... Any crime, because it draws attention to the fragility of the law, is abject, but premeditated crime, cunning murder, hypocritical revenge are even more so because they heighten the display of such fragility.«60

Nach psychoanalytisch-poststrukturalistischer Auffassung ist der Körper des Zombies – oder auch bereits des Transi – als Kadaver demnach nicht mehr Teil der Lacan’schen symbolischen Ordnung (der Sprache und Gesellschaft), die das Kind mit Abschluss des Spiegelstadiums durch die Trennung von der Mutter erreicht hatte.61 Die Mutter 59 Sykora, Katharina: Die Tode der Fotografie II, S. 100. 60 Kristeva, Julia: Powers of Horror, S. 4. 61 Im Spiegelstadium sieht sich das sechs bis achtzehn Monate alte Kind, gemäß Jacques Lacan, zu einem Zeitpunkt, zu dem es noch keine vollständige Kontrolle über seine motorischen Fähigkeiten hat, als ein vollkommenes Ideal-Ich, das es kontrollieren kann, freudig im Spiegel. Zum ersten Mal sehe es sich nicht nur ausschnittweise, aus der eigenen Perspektive. Vgl. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion.«, in: Ders., Schriften I., Olten: Walter Verlag AG 1973, S.63ff. Der Moment des Erkennens eines idealen Ichs im Spiegel sei für Lacan die erste Stufe der Identifikation, eine erste Loslösung von der Mutter, durch die Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich – oder auch Ich und Du, was man als Ausgangspunkt für eine Enunziation, eine Gesprächssituation mit Anderen, ansehen könne, so Hermann Kappelhoff. Vgl. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 8 Verlag 2004, S. 271. Das Kind, so Lacan, trete aus dem Imaginären als Subjekt in die symbolische Ordnung der Gesellschaft ein. Vgl. Lacan, Jacques: »Seminar on ›The Purloined Letter‹«, S. 40.

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selbst, so Kristeva, stelle für das Kind das erste Abjekt dar. Sie müsse als etwas Unreines verworfen werden, um die eigene Identität zu finden und in die symbolische Ordnung eintreten zu können.62 Helga Lutz führt in Zusammenhang mit den Leichenfotografien der Künstlerin Sue Fox aus: »Auf dem Feld der Ästhetik kehrt das Geschwisterpaar von Mutter/Tod [...] vor allem [...] in Form der verwesenden Leiche wieder. Sie stellt die kardinale Chiffre des Abjekten, der Grenzverletzung und Verunreinigung dar, die es zu beseitigen, zu verstecken und unsichtbar zu halten gilt.«63 Das Abjekt, so Kristeva, stehe entsprechend dem objet petit a bei Lacan entgegen,64 welches das Begehren innerhalb der symbolischen Ordnung regelt: »The abject has only one quality of the object—that of being opposed to I. If the object, however, through its opposition, settles me within the fragile texture of a desire for meaning, which, as a matter of fact, makes me ceaselessly and infinitely homologous to it, what is abject, on the contrary, the jettisoned object, is radically excluded and draws me toward the place where meaning collapses.«65 Wo das objet petit a dem Subjekt einen Sinn gibt, etwas, worauf es sich ausrichten kann, nimmt das Abjekt ihm jegliche Möglichkeit einer Sinnstiftung. Bei der Angst vor dem Kadaver, Transi bzw. Zombie, handelt sich demnach um eine identitätsgefährdende Angst, eine unmittelbare, distanzlose Auseinandersetzung mit dem Tod. Helga Lutz führt entsprechend aus: »Der Moment [des Todes] selber, die Grenze zwischen Sein und Nichtsein entzieht sich, bleibt unrepräsentierbar. Nur das Wissen um die Sterblichkeit kann über Bilder und Metaphern evoziert werden, in der Figur des Wiedergängers ebenso wie in den Leichnamen von Sue Fox. Die Bedrohung erscheint dort besonders groß, wo der Eindruck oder die Illusion entsteht, die Differenz zwischen dem Tod des Anderen und dem eigenen könne implodieren [...]«66

Aurel Kolnai folgend führt dies neben Angst häufig zu einer starken somatischen Reaktion im Rezipienten, Ekel.67 Die Reaktion auf die Unmittelbarkeit des Todes als ein Distanzverlust, der sich somatisch vollzieht, muss dabei nicht auf psychoanalytische Theorien zur abjekten Mutter beschränkt bleiben. In seinem Buch The Philosophy of Horror bezeichnet Noël Carroll aus der Warte der kognitiven Filmtheorie die 62 Vgl. Kristeva, Julia: Powers of Horror, S. 13. 63 Lutz, Helga: »Sue Fox. Proben mit dem Unerträglichen«, S. 144. 64 Das (wandelbare und imaginäre) Objekt des Begehrens, objet petit a, der kleine andere, Auslöser und Antrieb der Handlungen des Subjekts, bleibt gemäß Lacan stets unerreichbar. Er beschreibt es etwa im Zusammenhang mit der oralen Phase des Kindes als: »[...] das Objekt, das wir so oft verwechseln mit dem, worüber der Trieb sich schließt – das Objekt, das tatsächlich nicht mehr ist als das Dasein einer Höhle, einer Leere, die, wie Freud anmerkt, mit jedem beliebigen Objekt besetzt werden kann und dessen Einwirkung wir lediglich in Gestalt des verlorenen Objekts klein a kennen. Das Objekt a ist nicht der Ursprung des Oraltriebs [...] keine Nahrung [wird] je dem Oraltrieb [...] genügen können, es sei denn, sie umkreise das ewig fehlende Objekt«. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 188. 65 Kristeva, Julia: Powers of Horror, S. 1/2. 66 Lutz, Helga: »Sue Fox. Proben mit dem Unerträglichen«, S. 148/149. 67 Vgl. Kolnai, Aurel: Ekel, Hochmut, Haß, S. 29.

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Empfindungen des Publikums gegenüber erschreckenden Leinwandgeschehen und Filmmonstern als art-horror, im Unterschied zum natural horror im echten Leben:68 »[Art-horror] is the emotion that horror narratives and images are designed to elicit from audiences. [It] is an occurrent emotional state, like a flash of anger, rather that a dispositional emotional state, such as undying envy [...] To be an occurrent emotion, I want to claim, involves a physical state – a sense of a physiological moving of some sort – a felt agitation or feeling sensation.«69 Art-horror unterscheide sich vom TerrorGefühl, das etwa ein normaler Gewalttäter im Film auslösen könne.70 Auf Monster würde man zwar auch in anderen Filmgenres stoßen, doch: »In works of horror, the humans regard the monsters they meet as abnormal, as disturbances of the natural order. In fairy tales, on the other hand, monsters are part of the everyday furniture of the universe [...] they are not unnatural [...] The monsters of horror, however, breach the norms of ontological propriety presumed by the positive human characters in the story.«71

Die Empfindungen der Protagonisten seien dabei ausnahmsweise deckungsgleich mit denen des Publikums und würden durch seine Reaktion auf das Monster erst den entscheidenden cue für einen emotionalen Zugang des Publikums bieten.72 Die unmittelbaren körperlichen Reaktionen, »[...] abomination, nausea, shuddering, revulsion, disgust [...]«73, ließen auf die Auffassung des Monsters als unrein schließen.74 Auch Rosenkranz erkennt bereits, dass »[...] alles das uns Ekel einflößt, was durch 75 die Auflösung der Form unser ästhetisches Gefühl verletzt« und führt aus: »Für den Begriff des Ekelhaften im engern Sinn aber müssen wir die Bestimmung des Verwesens hinzufügen, weil dasselbe dasjenige Werden des Todes enthält, das nicht sowohl ein Welken und

68 Vgl. Carroll, Noël: The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart, New York/London: Routledge 1990, S. 12ff. 69 Ebd., S. 24. 70 Vgl. ebd., S. 15. 71 Ebd., S. 16. 72 Vgl. ebd., S.17. Das Kapitel 3.2.3 wird hierauf zurückkommen. 73 Ebd., S. 28. 74 In den Filmbeispielen des New Extremity Genres in den folgenden Kapiteln wird es statt um Monster, gerade um alltägliche Menschen gehen, die zu unbeschreiblichen Gewalttaten fähig sind. Carroll räumt für den Mörder in Hitchcocks Psycho ein: »[...] even if Norman Bates is not a monster technically speaking, he does begin to approximate the central features of arthorror as I have developed them. That a madman witch a butcher knife is threatening needs no comment. But, as well, Norman Bates, in virtue of his psychosis, resembles the impure beings at the core of the concept of art-horror«. Ebd., S. 39. Bates unterscheidet sich damit, obgleich er ein Mensch ist, noch immer von der Norm, die das Publikum darstellt. Die ›Jedermanns‹ der New Extremity Filme dagegen, die andere grundlos quälen und töten, könnten gerade in ihrer Austauschbarkeit, der unerwarteten und sinnlosen Brutalität, zu unreinen Monstern werden. Sie konfrontieren den Zuschauer damit mit etwas, das er nicht wahrhaben will und das einen ganz eigenen Horror darstellt: einer Ähnlichkeit mit ihm. 75 Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen, S. 252.

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Sterben als vielmehr das Entwerden des schon Todten ist. Der Schein des Lebens im an sich Todten ist das unendlich Widrige im Ekelhaften [...] Das Ekelhafte als ein Produkt der Natur, Schweiß, Schleim, Koth, Geschwüre u. dgl., ist ein Todtes, was der Organismus von sich ausscheidet und damit der Verwesung übergibt.«76

Ekel gründe sich, so Torben Grodal in Embodied Visions, auf unseren Überlebensinstinkt, der uns verdorbene Waren oder eben verwesende Körper meiden lässt, um unsere Gesundheit zu erhalten: »One of the most basic things known to all humans from experience is that dead bodies no longer suppress the bacteria and viruses that a live body wards off [...] The dead bodies of humans and animals are therefore dangerous sources of contamination, and there is thus considerable survival value in having strong innate feelings of disgust and fear in relation to the dead.«77 Aurel Kolnai sieht Ekel dagegen, analog zum Abjekt Kristevas und der Ausführung Helga Lutz’, eng verbunden mit unserem eigenen Todesbewusstsein: »Die im Ekelhaften gegenwärtige Todesfratze mahnt uns an unsere eigene Todesaffinität, unsere Todesunterworfenheit, unsere geheime Todeslust: also nicht wie der Totenkopf mit der Sanduhr, an die rein daseinsmäßige Unentrinnbarkeit des Todes, ähnlich der erbarmungslos herannahenden Hinrichtungsstunde eines zufällig zum Tod Verurteilten, sondern an unsere Wesensbotmäßigkeit dem Tod gegenüber, den Todessinn unseres Lebens selbst, unser Bestehen aus todgeweihter, man könnte sagen todestrunkener, verwesungsbereiter Materie. Das Ekelhafte hält uns keine Sanduhr, sondern einen Vexierspiegel vors Auge; und nicht den Totenschädel in seiner trockenen Ewigkeit, sondern gerade das, was am Totenschädel nicht mehr dran ist, in seiner triefenden Verwesung.« 78

Die unterschwellig empfundene Gefahr für unsere Gesundheit und unser Leben, wie auch die unmittelbare Todeserkenntnis, machen die starke Reaktion auf Transigestalten erklärlich, aber auch eine Faszination von ihnen. Dasselbe gilt für die Zurschaustellung überbordender Grausamkeit und ausgedehnter körperlicher Qualen bis zum Tod in Kapitel 3. Bei gewaltsamen Tötungen reagiert das Publikum ebenfalls unmittelbar körperlich. Statt mit dem verwesenden Übergang ist man hier mit verschiedenen Phasen der Folter, des Leids und der zunehmenden Körperzerstörung konfrontiert. Von den sichtbaren Übergängen der Verwesung – wie auch verwundeten, geöffneten Körpern – bleibt man im Alltag für gewöhnlich verschont, das Wissen um die eigene Verletzlichkeit und Sterblichkeit ist meist abstrakter. Die plötzliche Konfrontation damit überschreitet das Artikulierbare, es ist ein »tiefe[r] Schrecken abseits der Sprache«,79 so Helga Lutz und vollzieht sich somit durch eine spontane Gewissheit in Reaktion auf die Darstellung, die einen erst körperlich trifft – in angespannter Angst, Ekel etc., ehe man sie kognitiv begreift. Thomas Morsch führt aus: »Nur angesichts des Ekels gerät das subversive Affektpotenzial des Horrors in den Blick. In ihm wird 76 Ebd. 77 Grodal, Torben: Embodied Visions. Evolution, Emotion, Culture, and Film, Oxford/New York: Oxford University Press 2009, S. 115. 78 Kolnai, Aurel: Ekel, Hochmut, Haß, S. 53. 79 Lutz, Helga: »Sue Fox. Proben mit dem Unerträglichen«, S. 133.

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die Grenze des ästhetischen Systems vermutet. Mehr als jeder andere fiktional inszenierte Affekt setzt der Ekel die reflexiven Instanzen des ästhetischen und moralischen Urteils außer Kraft [...] Insofern stellt er eine Steigerung gegenüber der ästhetischen Gewalterfahrung und der Evokation von Gefühlen des Unheimlichen dar, die umso weniger von rationalisierenden Diskursen eingeholt werden kann.«80 Hier, so wird das Kapitel 3 anhand von Tötungen im Film ausführen, wird die Fiktion der Malerei, Fotografie oder insbesondere des Films zu einer augenblicklich empfundenen eigenen Realität, die sich am Körper des Rezipienten vollzieht. Das Dort auf der Leinwand fällt mit dem Hier des Rezipienten zusammen und der Tod wird nicht mehr länger nur bildlich präsentiert, sondern als bislang unübertroffene Nähe gespürt. In dieser Unmittelbarkeit sind, so Vivian Sobchack, Reflexionen über den Tod nicht mehr möglich. Der Tod eines anderen verlagert sich stärker zum möglichen eigenen Tod: »Abruptness does not allow for the temporal experiences of process and ritual, the analgesic of form and formalities. The abrupt transformation of the animated body into an inanimate corpse denies formal reason and connotes the ›irrationality‹, ›arbitrariness‹, and ›unfairness‹ of death. Indeed, abruptness itself structures in part what we perceive as violence, and it may well be that, in our present culture, both abruptness and violence best articulate death so that its binary marking of existence and nonexistence can be felt viscerally and personally by those who view its signs. It might be said, then, that the cinematic representation and durée of dying as a gradual process effectively functions to signify a third-person death – whereas the abrupt and binary representation of death through a violently sudden bodily transformation signifies a first-person death that, because it always appears untimely, can be appreciated, at least to some extent, as potentially mine.«81

Der lebendige Körper des Zuschauers ermöglicht, so wird diese Arbeit herausstellen, erst die empfundene Nähe zum Tod. Im Kino stehe die Stillstellung einer Leiche im starken Kontrast zum eigentlich bewegten Film, so Gertrud Koch: »Das Kino schiebt den unaussprechlichen Moment in die Beobachterrolle: in der Großaufnahme wird das Gesicht des Sterbenden nach Lebenszeichen abgesucht, bis es erstarrt. Und es ist der Moment der Erstarrung, der wiederum in den Filmgrotesken die Leiche zum widerspenstigen Objekt macht, das sich dem Zur-Sache-Werden mit großer Willensstärke zu widersetzen scheint.«82 Der Transi der Malerei, der den Lebenden nach ihrem Leben trachtet, bleibt trotz seines schauderhaften Äußeren noch zum Teil ein Symbol für den Tod, als ein Phänomen, das sich eben nicht direkt darstellen lässt. Der Zombie des Films dagegen wird von einem Symbol zu etwas weit Realerem und Direkterem. Er steht wirklich wieder auf, bewegt sich wirklich wie die Lebenden, wie das folgende Kapitel im Zusammenhang mit dem Animationsfilm noch ausführen wird.83 Hierfür

80 Vgl. Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 236. Das Kapitel 3.3.2.2 greift dies wieder auf. 81 Sobchack, Vivian: »Inscribing Ethical Space«, S. 240. 82 Koch, Gertrud: »Der unsterbliche Körper – Kino und Todesangst«, S. 38. 83 Außerdem wird das Kapitel 2.3 zum bewegten Film selbst noch einmal hierauf zurückkommen.

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ist unerheblich ob Zombies, Skelettmänner oder Puppenanimationen je in der Realität existiert haben, da sie im Film als Tatsachen auftreten, jetzt und hier. Die Bewegungsfähigkeit des Films ermöglicht sowohl die Wiedergabe von Verwesungsprozessen am toten Körper als auch die der unkoordinierten Bewegungsabläufe des Zombies. Er verfolgt die Lebenden unerbittlich, um sie wie ein Raubtier zu zerfleischen und verweigert sich der Stillstellung des unbewegten Toten. Sein Handeln in dynamischen filmischen Bildern lässt keine Zeit für Reflexionen. Parallel dazu fänden das Wissen um den Tod oder Sinnstiftungen diesbezüglich, so Kristeva, innerhalb der symbolischen Ordnung statt, verwesende Körper oder offene Wunden durch körperliche Gewalt würden dagegen eine direktere Konfrontation mit dem Tod darstellen, die sich unserer Kontrolle entzieht.84 Wir würden uns dabei dennoch auf seltsame Art zum Abjekt hingezogen fühlen: »One does not know it, one does not desire it, one joys in it [on enjouit]. Violently and painfully. A passion.«85 Steven Shaviro beschreibt entsprechend anhand der Zombiefilme George A. Romeros die Möglichkeit überlebensgroß und hyperrealistisch dem Zerreißen und kannibalischen Verspeisen menschlichen Fleisches beizuwohnen.86 Die Kinoleinwand und die Tatsache, dass Zombies nicht wirklich existieren, müssen bei der Rezeption immer wieder für die nötige Distanz sorgen – nicht zuletzt vom eigenen Genuss an diesem Spektakel, vom Tabubruch, den ein anderer, ein fiktiver Zombie, stellvertretend ausführt. Shaviro erkennt aber auch eine Befriedigung durch die Körpersensation selbst, dem synästhetisch nachvollziehbaren Offenlegen des Körperinneren,87 dem Vorführen der Organe: »I am fixated upon the terrifying instant of transmogrification: the moment of the tearing apart of limb from limb, the twitching of the extremities, and the bloody, slippery oozing of the internal organs. Fascination resides in the evanescent and yet endlessly drawn-out moment when the victim lives out his own death, an instant before the body is finally reduced to the status of dead meat.«88

Es handelt sich augenscheinlich um eine beinahe kindliche Begeisterung für das Körperliche, das quasi-Fühlbare, Eklige, Matschige im Übergang vom Leben zum Tod. Nicht nur die erschreckende Figur des Zombies selbst, sondern auch sein brutales Vorgehen sind deshalb für eine ›Todesbegegnung‹ interessant: Allgemein das Töten 84 85 86 87

Vgl. Kristeva, Julia: Powers of Horror, S. 3. Ebd., S. 9. Vgl. Shaviro, Steven: The Cinematic Body, S. 99. »Der Begriff der Synästhesie geht zurück auf den medizinischen Diskurs im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wo er von Vulpian geprägt wurde, um bestimmte Sinnesphänomene im Nervensystem zu bezeichnen, in denen primäre Sensationen von sekundären begleitet werden. Als Beispiel führt er den ›Kitzel in der Nase‹ an, ›wenn man in grelles Licht sieht.‹ Die Übertragung des Begriffs auf ästhetische Phänomene ließ nicht lange auf sich warten und radikalisierte sich in fast allen Künsten, von der Literatur bis zur Musik und Malerei [...]«. Koch, Gertrud: »Vorwort«, in: Curtis, Robin/Glöde, Marc/Koch, Gertrud (Hg.), Synästhesie-Effekte. Zur Intermodalität der ästhetischen Wahrnehmung, München: Wilhelm Fink Verlag 2010, S. 7. 88 Shaviro, Steven: The Cinematic Body, S. 99.

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im Film und der energische Kampf einzelner Figuren ums Überleben als Kulminationspunkte zwischen Leben und Tod müssen nachhaltig faszinierend auf das Kinopublikum wirken. Statt einer reinen Angst, einer Bannung des Todes im Bild, der so endlich einen sichtbaren Körper erhält, nähert man sich dem Versuch einer Erfahrung des unvorstellbaren Todes an, die weniger im abgeschlossenen Zustand des Todes als in seinen prozesshaften Vorstufen zu suchen ist und zutiefst körperlich empfunden wird. In dieser Erfahrung kann – so wird sich noch zeigen – durchaus eine, wenn auch durchwachsene, Lust liegen. Geht es um Leben und Tod, so hat dieses Kapitel behandelt, verhalten sich die Menschen zu allen Zeiten gleich. Die Angst vor dem Tod hat sich unerschütterlich gehalten, auch wenn in modernen Zeiten der Pesttod etwa von Virusepidemien abgelöst wurde, wie es sich in Zombiefilmen nachfühlen lässt.89 Die noch relativ junge Terrorgefahr der letzten Jahre könnte entsprechend in eine neue Welle von Zombiefilmen resultieren. Oftmals ist der Fortschritt im Film kein Heilsbringer, sondern erst der Ursprung allen Übels: Der Versuch einiger Wissenschaftler Gott zu spielen oder militärische Allmacht zu erlangen endet im Tod Tausender. Gescheiterte Experimente mit Biowaffen lösen das Virus erst aus. Moralisch gesehen wird der Mensch dadurch auf seinen Platz verwiesen und eine potentielle verheerende Zukunft gezeichnet, die wahr werden könnte, wenn er sich nicht besinnt. Zur Zeit des Transi suchte man seine Rettung in Frömmigkeit und Religion, der Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod. Vor dem Tod, so zeigen auch die Totentanzdarstellungen, sind alle gleich, er holt sich Vertreter aller Stände und jeden Alters. Frühere Darstellungen des Todes, wie der Transi, der sich im Zombie wiederfindet, werden teils im Film wieder aufgegriffen, sind aber häufig nicht mehr als Zitate. Der Zombie ist dem Kinopublikum nicht als dem Transi verwandt bewusst90 und erfüllt auch nicht im selben Maße eine rituelle Funktion der Todesbewältigung. Allerdings treten beide besonders stark in Krisenzeiten auf und stehen für die Angst vor dem Tod und dessen bildliche Bannung. Es ließe sich zudem diskutieren, ob im vollen Kinosaal nicht eine dem kollektiven Ritual ähnliche Situation entstehen kann. Als Toter, der sich scheinbar noch immer wie ein Lebender bewegt, erschreckt schon der Transi in der Malerei, die Andeutung von Verwesung mag schon Angst und Ekel im zeitgenössischen Betrachter ausgelöst haben. Der Filmzombie jedoch, der nicht nur durch sein Äußeres ängstigt, sondern sich wirklich als Wiedergänger über die Leinwand schleppt oder mitunter sogar rennt wie ein Raubtier, um Lebende brutal zu zerfleischen, hat durch die medienspezifischen Fähigkeiten des Films eine noch stärkere Wirkung auf das Publikum. Kerner und Knapp präzisieren in Extreme Cinema: »The abject is not a 89 Neben 28 DAYS LATER etwa auch in RESIDENT EVIL (Deutschland/UK/Frankreich. 2002, R: W.S. Paul) – hier ist es das künstlich geschaffene sogenannte T-Virus – oder in I AM LEGEND (USA 2007, R: Francis Lawrence), bzw. seinen Vorgängern THE OMEGA MAN (USA 1971, R: Boris Sagal) und THE LAST MAN ON EARTH (USA/Italien 1964, R: Ubaldo Ragona/Sidney Salkow). In allen drei Fassungen, die auf demselben Buch basieren, ist die Menschheit nach einer von Wissenschaftlern versehentlich ausgelösten Virusepidemie fast vollständig ausgelöscht. Der Forscher Dr. Robert Neville kämpft allein gegen Licht verabscheuende Zombie-Mutanten. 90 Er wird in der Regel generell nicht mit dem personifizierten Tod gleichgesetzt, sondern gehört, wie auch Vampire oder Mumien, schlicht der Welt der wandelnden Toten an.

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thing, nor is it a representation; is is a non-object, a feeling without a signified. It is not the corpse that prompts abjection, but rather how the corpse is presented.«91 Eine rein semiotische Präsentation des nicht darstellbaren Phänomens Tod durch das Todessymbol des Transi wird dabei auf eine ergreifende körperliche Erfahrung des Publikums hin überschritten, wie insbesondere Kapitel 3 ausführen wird. Der Beweggrund, das Thema Tod in allen Künsten bis zum Film immer wieder aufzugreifen, ist klar: Er betrifft und ängstigt jeden, damals wie heute. Die Funktion der makabren Darstellungen ist deshalb bis heute, wenn auch abgeschwächter, dieselbe: Sie rufen zur Besinnung bzw. Buße auf, warnen vor dem bevorstehenden Tod und verursachen Angst. Nicht zuletzt ermöglichen sie es, sich dem Tod mit unstillbarer Faszination immer weiter anzunähern, ohne selbst sterben zu müssen, indem er in seiner schrecklichsten Variante geschildert wird: dem verwesenden Körper. 2.1.3 Der Tod als Skelett und der Animationsfilm »Das Skelett hat wie der Transi nicht mehr die Funktion eines Sendboten der Hölle, die übernimmt der düstere, körperlose Schatten oder das schwarzgekleidete Gespenst. Die Bedrohung durch den Tod wird zu einer immateriellen Bedrohung, die nicht mehr personifizierbar ist. Das Skelett des 17. Jh. symbolisiert das finis vitae. Es wird zerlegt, zerfällt in Einzelteile: im Sinne eines pars pro toto steht jeder Knochen für eine gesamte symbolische Bedeutung als memento mori. Einzelne Knochen werden jetzt oft als Schmuckornament benutzt: Schädel und SchienbeinMotive werden z.B. mit einer Sanduhr oder dem Spaten des Totengräbers kombiniert. Das Attribut der Sanduhr wird der Darstellung des Chronos entlehnt, der meist als bärtiger Greis erscheint. Schädel und Skelett finden sich als vanitas- und memento mori-Motive auf Schmuck und Gebrauchsgegenständen, tauchen an Möbeln und Kleidung auf.«92

Das Skelett, hier von Birgit Richard beschrieben, löst in der Kunstgeschichte den Transi ab. Es bietet zahlreiche Ansätze zu einer nicht mehr vorwiegend negativen Auseinandersetzung mit dem Tod. Die gemalten Totentänzen sind dennoch erschreckend, da der personifizierte Tod, sei er ein Transi oder Skelett, tanzt und damit die Lebenden verhöhnt.93 Der tanzende Tod erinnere dabei immer auch an den tanzenden Teufel, so Gert Kaiser: »Die Bewegungsrichtung in den Totentänzen geht immer von rechts nach links, die Todesfigur zieht den Menschen stets in die teuflische Richtung. Es leidet keinen Zweifel, daß die tanzenden Teufel und die tanzenden Toten – und schließlich der Tanz des personifizierten Todes – einer gemeinsamen Sphäre der Angst vor dem Tod und der Angst um das Heil der Seele entspringen.«94 Dennoch ist er nicht mit dem Teufel gleich zu setzen. Walther K. Lang dazu: »Anders als die angenommene ›reale Existenz‹ des Teufels, besitzt der personifizierte Tod stärker metaphorischen und allegorischen Charakter [...] prägend [...] für die Neuzeit [ist] die Darstellung des Todes in Gestalt eines Toten, dem als Attribute und Hoheitszeichen Stundenglas und Sense beigegeben sind. In Ermangelung einer eigenen, positiv formulierbaren Wesenheit, 91 92 93 94

Kerner, Aaron Michael/Knapp, Jonathan L.: Extreme Cinema, S. 4. Richard, Birgit: Todesbilder, S. 57. Vgl. Kaiser, Gert: Der tanzende Tod, S. 67. Kaiser, Gert: Der tanzende Tod, S. 62.

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wird der Tod mit seiner Auswirkung auf das Objekt gleichgesetzt. Wir müssen sehr wohl unterscheiden zwischen dem halbzersetzten Leichnam der Makaberdarstellungen und dem barocken Skelett. Im ersteren ist das Grauen vor der Verwesung und der ihr innewohnenden eigenen Lebendigkeit thematisiert, während das Skelett, das sich nicht mehr verändernde Endprodukt, als das wesenhaft ›Andere‹ auftritt.«95

Das Skelett als Todessymbol findet sich abermals auch im Film wieder. Zunächst aber erneut einige Beispiele aus der Kunst: Der Künstler Gerard de Lairesse (1640-1711) illustrierte für den Arzt Govard Bidloo das 1690 erschienene anatomische Nachschlagewerk Ontleding Des Menschelyken Lichaams.96 Abbildung 2: Gerard de Lairesse. Table 87

Quelle: U.S. National Library of Medicine

Auffällig ist, dass die detailgetreue Darstellung des menschlichen Skeletts in der Bildtafel 87 (Abbildung 2) ein Stundenglas in der linken Hand hält. Dies ist ein Symbol für das unwiderrufliche Verrinnen der Zeit und ein Attribut, das dem personifizierten Tod in vielen Abbildungen beigegeben ist. Bei einer Illustration in einem Anatomiebuch würde man dies weniger erwarten. Die Mystik, die dem Tod über medizinische Erkenntnisse hinaus nach wie vor beigemessen werden kann, wird hier deutlich. Das Skelett scheint in dieser Darstellung zudem eben erst dem Grab entstiegen zu sein. Auch in Arnold Böcklins (1827-1901) Selbstbildnis mit fiedelndem Tod97 von 1872 spielt ein Skelett eine entscheidende Rolle. Hinter dem Künstler stehend, der mit Pinsel und Farbpalette in den Händen offenbar vor einer Leinwand sitzt, die sich außerhalb des Bildes befindet, spielt es scheinbar lachend auf einer Geige. Was der Künstler malt,

95 Lang, Walther K.: Der Tod und das Bild, S. 62. 96 Vgl. Bidloo, Govard: Ontleding Des Menschelyken Lichaams, Historical Anatomies on the Web, U.S. National Library of Medicine, https://www.nlm.nih.gov/exhibition/historicalanatomies/bidloo_home.html (04.01.2019). 97 Böcklin, Arnold: Selbstbildnis mit fiedelndem Tod (1872), Öl auf Leinwand, 75 x 61 cm, Nationalgalerie, Berlin. Inventar-Nr. A I 633.

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gehört unserer wirklichen Welt außerhalb der Bildfläche an. Das Skelett ist hier nicht mehr anatomisches Lehrstück, sondern scheinbar ein lebendiges Wesen, wie schon der Transi der Totentänze. Der Künstler lauscht dem Klang der Geige, der dem Bildbetrachter verborgen bleibt. Der Tod ist ihm eine Muse. Zugleich ist das Bild ein eindeutiges Memento mori, ein Verweis auf den gewissen und unausweichlichen Tod.98 Doch auch in seine Einzelteile zerlegt ist das Skelett in unzähligen Abbildungen anzutreffen: Vanitas-Stillleben sind voller Symbole für Tod und Vergänglichkeit. Winfried Nerdinger führt aus: »›Vanitas‹ heißt wörtlich Leere, Nichtigkeit und bezeichnet in der Moralphilosophie den Inbegriff aller verführerischen und vergänglichen Dinge. Körperliche Schönheit, materieller Reichtum etwa gelten in diesem Sinne als ›Vanitas‹, vor allem dann, wenn sie Denken und Fühlen der Menschen beherrschen und so den Blick auf ideelle Werte verstellen. Dem StillebenMaler dient die Faszination der irdischen Dinge dazu, um in mahnender Absicht gerade auf diese Bezauberung durch den schönen Schein und letztlich auf die Nichtigkeit des Daseins überhaupt hinzuweisen.«99

Jedes Element in den Vanitas-Stillleben steht also für den schönen Schein, der vergehen muss, wie der Mensch selbst. Nichts bleibt, woran man sich klammern kann. Das Vergängliche ist zwar im Bild dauerhaft festgehalten und wirkt, der Kunstfertigkeit der Stillleben-Maler zum Dank, täuschend echt und zum Greifen nah, aber berühren und halten kann man es nicht. Das Vanitas-Stillleben mit Nautiluspokal100 (Abbildung 3) von Pieter Claesz (ca. 1597-1660) dürfte hierfür eines der bekanntesten Beispiele sein. Abbildung 3: Pieter Claesz: Vanitas-Stillleben mit Nautiluspokal, 1634

Quelle: LWL-Museum für Kunst und Kultur (Westfälisches Landesmuseum), Münster/ Erworben mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen 98

Auch in weiteren Werken befasste sich Böcklin mit dem Tod. Das wohl bekannteste Motiv ist Die Toteninsel, es existieren fünf verschiedene Versionen seit 1880: Böcklin, Arnold: Die Toteninsel (1880), Öl auf Leinwand, 111 x 155 cm, Kunstmuseum Basel, Inventar-Nr. 1055. 99 Nerdinger, Winfried: Perspektiven der Kunst, S. 153. 100 Claesz, Pieter: Vanitas-Stillleben mit Nautiluspokal (1634), Öl auf Holz, 47 x 61 cm. Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, Inv.Nr. 1369 LM.

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Ganz im Sinne der üblichen Vanitas-Symbolik tauchen hier als Verweis auf einen abwesenden Schreiber Papier und Siegelwachs auf, eine verglimmende Kerze steht für das Verlöschen des Lebens; auch ein leeres Trinkglas, zumal gewaltsam umgestoßen, steht für den Tod. Der Prunk findet sich, neben der prächtigen Kette im Bildvordergrund, vor allem im namensgebenden Nautilus-Pokal. Beide Ziergegenstände verweisen aber zudem auf religiöse Andacht, beim Pokal durch das christliche Motiv, bei der Kette durch ihre Funktion: der eingefasste Bisamapfel findet sich hauptsächlich an Rosenkränzen und dient der religiösen Praxis.101 Die verstreuten Früchte werden ebenso faulen wie die aufgebrochene Walnuss im Vordergrund, Fruchtbarkeit und Fülle haben ein Ende. Am eindeutigsten auf die Vergänglichkeit verweist aber der Totenschädel am rechten Bildrand: »Er hat eigentlich weder als Ziergegenstand, noch als Nutzding in dieser gedrängten Fülle eines holländischen Hausrates etwas zu suchen. Nur als Denkanstoß ist er ins Bild genommen. Er bildet deshalb innerhalb der Komposition die Schlüssel- und Schlußstelle, die auch der flüchtigste Blick nicht übergehen kann. Das Memento mori [...] des Totenschädels macht unmissverständlich klar, wie das Stillleben insgesamt gesehen werden soll. Alle Schönheiten, die aus den Reichen der Kunst, der Natur und der alltäglichen Nützlichkeit in diesem Bild versammelt sind, sollen wohl in ihren Werten und Reizen erkannt, nicht aber überschätzt werden. Weil alles Sinnliche der Welt [...] letzten Endes nur Vergänglichkeit und Hinfälligkeit bedeutet, soll man sich der wahren und bleibenden Werte besinnen, die in den Dingen der Welt zwar anklingen, nicht aber mit ihnen völlig eins sind.«102

Der Totenschädel als pars pro toto für das Skelett und damit den Tod ermahnt im eindeutigsten Memento mori den Bildbetrachter, dass alles vergehen muss, auch er selbst. Weitere Vanitas-Motive sind beispielsweise welkende Blumen, Uhren (für das Ende der Zeit), Insekten, die sich am Vergänglichen laben, verderbliche Nahrungsmittel oder Musikinstrumente, die ohne Musikanten nicht mehr erklingen.103 Insbesondere der Totenschädel taucht auch an vielen anderen Orten auf. Das berühmteste Beispiel aus der Literatur ist wohl der Monolog von Shakespeare’s Hamlet, in dem dieser, den Schädel des toten Hofnarren Yorick betrachtend, über Leben und Tod sinniert: »Alas, poor Yorick! I knew him, Horatio: a fellow of infinite jest, of most excellent fancy: he hath borne me on his back a thousand times; and now, how abhorred in my imagination it is! My gorge rims at it. Here hung those lips that have kissed I know not how oft. Where be your gibes now? Your gambols? Your songs? Your flashes of merriment, that were wont to set the table on a roar? Not one now, to mock your own grinning? Quite chap-fallen? Now get you to my lady's chamber, and tell her, let her paint an inch thick, to this favour she must come; make her laugh at that.«104

101 Vgl. Nerdinger, Winfried: Perspektiven der Kunst, S. 153. 102 Ebd., S. 153/154. 103 Vgl. Raupp, Hans-Joachim (Hg.): Stilleben und Tierstücke. Niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts der SØR Rusche Sammlung, Münster: Lit Verlag 2004., S. 20ff. 104 Shakespeare, William: Hamlet, Stuttgart: Reclam Philipp Junior Verlag 1993 [1599-1602], S. 183.

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Der einst geliebte Freund aus Kindertagen ist verschwunden. Was bleibt, ist ein kahler Schädel, der Ekel in Hamlet auslöst. Dies zu begreifen – und damit auch, dass man selbst zu einem solchen Schädel werden soll, obwohl man jetzt lebendig ist, ist unmöglich. Auch in vielen anderen Bereichen bewahrt sich der Totenschädel bis in die heutige Zeit, etwa als mahnendes Zeichen auf Piratenflaggen, warnendes Symbol auf giftigen Tinkturen oder schmückender Gegenstand an Ketten und auf Halstücher gedruckt. In Michael Apteds Drama NELL (1994)105 dient der Totenkopf der Zwillingsschwester der Hauptfigur Nell (Jodie Foster) als persönliches Erinnerungsstück, dass sie in Ehren hält und keinesfalls als gräulich wahrnimmt. Hier wird der von Baudrillard beschriebene kultische Umgang der Naturvölker propagiert, eine natürlichere Beziehung zum Tod. Wie die Totentanz-, so sind auch die Vanitas-Motive ursprünglich als ein Aufruf zu einer rechtschaffenen Lebensweise und frühzeitiger Buße zu verstehen (was jedoch im Laufe der Jahrhunderte immer mehr belächelt wird106). Denn alles schöne Irdische, so die damalige Auffassung, ist nur Schall und Rauch, was bleibt, ist die Ewigkeit im Himmelreich nach dem Tode. Die Motivik bleibt bis heute aktuell: Das Werk For the love of God107 von Damien Hirst, ein Platin-Abzug eines menschlichen Schädels, mit 8601 Diamanten besetzt, war vom 3. Juni bis 7. Juli 2007 in einer Ausstellung in der Galerie White Cube in London zu sehen.108 Der Totenkopf als Symbol der Vergänglichkeit wird hier zugleich zu einem prunkvollen Kunstgegenstand erhoben. Der funkelnde Totenkopf scheint einen 105 NELL (USA 1994, R: Michael Apted). 106 Im Spätrokoko kommt es zu einer Abwendung vom Vanitas-Gedanken. Die Beschäftigung mit der Vergänglichkeit dient nun eher dem Profit als dem Ausdruck religiöser Gefühle: »Das Festhalten an Ausdrucksmustern und Formensprache des Spätbarocks kann nicht über die irreversible Säkularisierung der Weltwahrnehmung hinwegtäuschen. [Der Karrikaturist William] Hogarth [1697-1764] gehört sicherlich zu den ersten, die erkannt haben, daß die Kunsttradition mit ihrer Ausrichtung auf Religion und Mythos unterbrochen und nur noch kunsthistorisch zu rezipieren ist. Die Auseinandersetzung mit der Natur, mit Krankheit und Tod oder mit den Anderen bleiben freilich weiterhin die beherrschenden Fragen in der Selbstbestimmung des Menschen. Allerdings muss diesen Themen mit neuen Ausdrucksformen begegnet und der Säkularisation der Gesellschaft Rechnung getragen werden«. Beden, Jochen: Verwicklungen. William Hogarth und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts (Lessing, Herder, Schilling, Jean Paul), Würzburg: Königshausen und Neumann Verlag 2004, S.31. 107 Hirst, Damien: For the Love of God, Platin, Diamanten und menschliche Zähne, 17.1 x 12.7 x 19.1 cm, White Cube Galerie, London 2007. 108 Die Beschreibung der Galerie White Cube zur Ausstellung und dem Werk For the love of God: »In this exhibition, Hirst continued to explore the fundamental themes of human existence – life, death, truth, love, immortality and art itself [...] For the Love of God is a lifesize cast of a human skull in platinum, covered entirely by 8,601 VVS to flawless pavé-set diamonds, weighing a total of 1,106.18 carats. It is without precedent in the history of art. On one level, the work is a traditional ›Memento Mori‹, an object that addresses the transience of human existence. ›The skull is out of this world, celestial almost‹ writes the distinguished art historian Rudi Fuchs. ›It proclaims victory over decay. At the same time‹, Fuchs continues, ›it represents death as something infinitely more relentless. Compared to the tearful sadness of a vanitas scene, the diamond skull is glory itself‹«. o. A., White Cube,

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Triumph über den Tod darzustellen. Allerdings haben die Vanitas-Stillleben gezeigt, dass alles Prunkvolle unweigerlich vergehen muss. Wie der Transi findet sich auch das Skelett in zahlreichen Filmen, etwa HorrorKomödien, wieder.109 Besonders beliebt ist das Motiv aber in Animationsfilmen. Der Grund hierfür liegt wohl in der Faszination dafür, dass etwas Totes, Unbewegtes, wie ein Skelett filmisch wieder zum Leben erwachen kann. Es handelt sich demnach, wie auch das Kino der Attraktionen in Kapitel 3.3.1 zeigen wird, auch um eine Huldigung der filmischen Potentiale selbst, etwa der Fähigkeit, Dinge vorzuführen, die es in der Realität so nicht geben kann. Eines der frühesten Beispiele dürfte der Disney-Animationsfilm THE SKELETON DANCE 110 von 1929 sein. Auf einem Friedhof treibt eine Gruppe Skelette des Nachts, zum Schrecken der anwesenden Tiere, ihr Unwesen. Wie in den gemalten Totentänzen tanzen sie zusammen. Hier mutet das aber eher amüsant als bedrohlich an, das Tanzen zieht die Schreckensfiguren ins Lächerliche und verharmlost sie damit. Allerdings lassen sich gewisse groteske Züge nicht leugnen, etwa wenn ein Skelett die Oberschenkelknochen eines anderen nutzt, um auf dessen Wirbelsäule Xylophon zu spielen (TC 00:03:45-00:04:05). Letztendlich verlieren sie ihren Schrecken nie ganz und die Botschaft ist komplexer als es zunächst den Anschein hat: »The first official Silly Symphony The Skeleton Dance (1929) – features an array of skeletons coming to life to perform music upon themselves, where their bodies are the very instruments they play in order to make their bodies move. The deathly inertia of the graphic image is mobilized by the animation process and dynamized by the musical soundtrack, while the human skeleton (the matter that remains after death) is reanimated by rhythm, the ›rhythm of life‹ (remembering that the human body is basically a container for the rhythmic flow of fluids).«111

Das unbewegliche Bild wird im Film durch die schnelle Aneinanderreihung leicht variierter Bilder in Bewegung versetzt. Bei einem eigentlich toten ›Ding‹, einem Skelett, das einmal ein Mensch gewesen ist, wäre der ewige Stillstand der logischste Zustand. Der Film vermag es aber, zu reanimieren und rhythmisch zu bewegen, als eine Imitation des Lebens. Noch eindrücklicher als durch die gemalten Totentänze werden hier die Lebenden verhöhnt – und darin liegt der Schrecken, wenn er auch abgeschwächt und eher kindgerecht daherkommt. Der Rückgriff auf das Todessymbol Skelett und die medienspezifischen Möglichkeiten – wie die Animation des Leblosen – kommen im Film zusammen. Seine Todessymbolik findet damit immer auf zwei Ebenen statt, wobei die Bewegung eher an das Leben erinnert (was hier, wie auch im Zombiefilm, erst den grotesken Eindruck der wandelnden Toten erweckt) und so dem Stillstand des Todes entgegensteht.112

109 110 111 112

Damien Hirst Beyond Belief, http://whitecube.com/exhibitions/exhibition/damien_hirst_ masons_yard_hoxton_square_2007(Abgerufen 06.01.2019). Beispielsweise in ARMY OF DARKNESS (USA 1992, R: Sam Raimi) THE SKELETON DANCE (USA 1929, R: Walt Disney). Brophy, Philip: The Animation of Sound, http://ww.w.philipbrophy.com/projects/chapters/animationofsound/chapter.html (Abgerufen 13.01.2019). Wieso diese augenscheinliche Nachahmung des bewegten Lebens problematisch ist und was das für den Stillstand des Films bedeutet, kommt im Kapitel 2.3.2 zur Sprache.

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Auch in den Animationen THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS und CORPSE BRIDE spielen Skelette die Hauptrolle. Hier wird das Leben im doppelten Sinne nachgeahmt: eine leblose Puppe, die in THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS zudem ein Skelett darstellt, wird durch Stop-Motion-Technik zum Leben erweckt. Das Medium Film fungiert als eine Art Dr. Frankenstein und belebt, was eigentlich unbelebt sein müsste. Doch zunächst zur narrativen Ebene: in THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS findet sich der Tod schon zu Beginn, beim Eintritt in Halloween Town. Typische Halloween-Motive wie schaurige Kürbisse oder allerlei Monster (angelehnt an Kindheitsängste etwa das Monster unter dem Bett) mischen sich mit Todessymbolen wie Skeletten. Man bewegt sich auf einer langen Kamerafahrt über einen unheimlichen Friedhof mit singenden Gespenstern, betritt ein düsteres Haus in dem etwa Vampire wohnen oder sieht erhängte Skelette sich an einem Baum wiegen. Der Star des Films ist ein Skelett im Anzug, der Kürbiskönig Jack Skellington (TC 00:00:44-00:03:51). Jack ist des Halloweenspuks überdrüssig und möchte, nach einem Besuch in Christmas Town, lieber Weihnachten feiern. Nach der Entführung des Weihnachtsmanns nimmt Jack selbst dessen Rolle ein. Durch seinen Einsatz als Weihnachtsmann scheint die Welt der Toten aber die der Lebenden in Besitz zu nehmen, die Geschenke werden, ohne bösen Willen seinerseits, grotesk, unheimlich oder sogar gefährlich für die Beschenkten. Das Böse scheint in die Welt des Guten einzudringen. In seiner Imitation des Lebens bringt der Tod, Jack, Unheil über die Lebenden, weil er nun mal nicht sein kann, was er nicht ist, so sehr er es sich auch ersehnt. Hier kann man weitere Ebenen mit angesprochen sehen: Wie der Tod nicht dem Leben gleich sein kann und die animierte Puppe nicht dem lebenden Menschen, so kann der das Leben simulierende Film nie unsere ›lebendige‹ Realität sein. Leinwandrealität und echte Realität bleiben immer zwei verschiedene Welten, wie Halloweentown (das Totenreich) und die Menschenwelt (die Welt der Lebenden) in THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS. Am Ende des Films kehrt Jack in seine eigene Welt zurück und die Grenzen zwischen Leben und Tod, gut und böse, sind wiederhergestellt. Jack findet eine Partnerin in der aus Leichenteilen zusammengesetzten und damit an Frankensteins Monster angelehnten Sally. Der Tod als das Ereignis, das die größte Angst in den Menschen auslöst, gehört natürlich zu Halloween. So kommt allen Hinweisen auf Tod und Vergehen in THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS die Aufgabe zu, den Schrecken von Halloween zu verkörpern. In CORPSE BRIDE geht es schon direkter um den Tod: Der schüchterne Victor steckt beim Üben seines Eheversprechens einen Ehering auf einen Zweig. Dieser entpuppt sich allerdings als skelettierte Hand, die nun die seine umklammert. Victor flieht vor der aus dem Grab gestiegenen Braut, die mittelalterlichen Ängste vor einem Wiedergänger kommen hier zum Vorschein. Letztendlich holt sie ihn aber ein und besiegelt die in ihren Augen geschlossene Ehe mit einem Kuss (TC 00:15:54-00:18:07). Aus einer Ohnmacht erwacht, befindet sich Victor nun im Kreise der Freunde der Braut Emily. Sie alle sind Transis oder Skelette im Endstadium, jedoch bekleidet wie Menschen und auch in ihrem Verhalten Menschen gleich. So trinken etwa zwei Skelette, die ihrer Kleidung nach einmal einen hohen militärischen Rang innehatten auf das Wohl der Eheleute. Ihr Getränk fließt jedoch ungehindert wieder hinaus, da kein Magen mehr vorhanden ist, der es auffangen könnte. In dem bunten Treiben verliert Emily kurzzeitig ein Auge, weil eine Made sich dahinter hervortut, um sich in die Gespräche über ein Hochzeitsbankett einzumischen. Die Urängste vor Tod und Vergehen werden

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also humorvoll betrachtet, was nur durch die Tatsache möglich ist, dass es sich um eine Puppen-Animation handelt, die selbst Themen wie Verwesung comic-artig und harmlos darzustellen vermag (TC 00:18:10-00:19:05). Ähnlich dem SKELETON DANCE von Walt Disney kommt auch eine Tanzszene mit Skeletten vor. Wieder werden Teile von Skeletten von anderen als Instrument genutzt, während hier singend die Geschichte der Leichenbraut erzählt wird, die einem Heiratsschwindler zum Opfer fiel, der sie beraubte und ermordete. Die Skelette bewegen sich leichtfüßig wie Lebende, sie haben den Tod nicht mehr zu fürchten und so ist auch die Melodie fröhlich und ausgelassen. Im Refrain wird jedoch deutlich gemacht, dass jeder einmal sterben muss (TC 00:19:42-00:22:58) – ganz wie es die den Totentanzdarstellungen beigegebenen Texte verkündeten. Insgesamt geht es in CORPSE BRIDE hauptsächlich um das Wandeln zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten, wie es die Menschen früher für denkbar erachteten und wie es nur das Medium Film ermöglichen kann – einerseits narrativ durch seine fiktive Handlung, andererseits medial, indem es durch seine bewegten Bilder die Leblosen belebt. Darin lehnt sich CORPSE BRIDE inhaltlich an den mexikanischen Día de los muertos an, bei dem einmal im Jahr die Toten in üppigen Festen mit Verkleidung und Tanz gefeiert werden und Kinder glasierte Totenschädel als Süßigkeit erhalten als sei eine Wiederkehr der Toten möglich.113 Dies erinnert außerdem erneut an einen Wandel zwischen realer Welt und Leinwandwelt. In CORPSE BRIDE vollzieht sich dieser Wandel zwischen den Welten beinahe märchenhaft und er schürt Hoffnungen, dass geliebte Verstorbene doch noch weiter existieren, dass der Tod nicht wirklich ein Ende bedeuten könnte. Andere Darstellungsweisen, so haben bereits die Zombies aus 28 DAYS LATER gezeigt, stehen für eine Bedrohung der Welt der Lebenden durch die der Toten, damit auch für eine Bedrohung der Zuschauer durch die Ereignisse auf der Leinwand. CORPSE BRIDE erlaubt durch eine indirektere und beschönigende Darstellungsweise des Todes ein Familienvergnügen, das den Schauder stark reduziert. Die (symbolische) Ordnung wird zudem am Ende des Films, wie schon in THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS, wiederhergestellt: Der Tod wird in CORPSE BRIDE, trotz vorhandener grotesker Züge, als etwas Normales und eher Harmloses dargestellt, da die Toten den Lebenden sehr ähneln und der Übergang von einer Welt in die andere kein Ende darstellt. Die Welt der Lebenden erscheint hier sogar düsterer und trister als die der Toten. Das Motiv vom Tod und dem Mädchen wird umgekehrt, indem Victor sich mit einer toten Braut vermählt. Bei der Hochzeitsfeier am Ende des Films begleiten ihn die Toten in die Welt der Lebenden und sind hier für kurze Zeit mit ihren Hinterbliebenen wiedervereint (TC 01:00:0201:01:07). Allerdings wird festgehalten, dass Victor in die Welt der Lebenden und zu seiner lebenden Braut Victoria gehört, wie auch Publikum und Leinwandhelden ihren Platz in ihrer jeweiligen Welt haben. Er müsste tot sein, um die Ewigkeit mit Emily zu teilen und dieses Opfer will sie ihm nicht abringen. Anders als bei echter Realität und Leinwandrealität wird es hier allerdings irgendwann ein Wiedersehen im Totenreich geben, die Leinwand wird sich jedoch niemals überwinden lassen. Eine Überschreitung beider Grenzen ist so oder so ein Phantasma, das nur der Film innerhalb seiner Fiktion behandeln kann. Damit sind am Schluss die Welten wieder getrennt, der Böse tot, die Liebenden vereint und Emily befreit. Endlich kann sie ihr schauderhaftes 113 Vgl. Macho, Thomas: »Ästhetik der Verwesung«, S. 339.

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Transi-Dasein aufgeben. Ihr Corpus leuchtet strahlend, während ihr Körper sich in hunderte von Schmetterlingen auflöst, die zum Nachthimmel auffliegen, wie die Seele zum Himmel (TC 01:09:45-01:10:22). Der Film, so wird hier erneut deutlich, kann sich einerseits auf narrativer Ebene mit dem Tod befassen, wie in Zombiefilmen oder nun durch die fröhlichen Skelette, andererseits bietet er als Medium ganz neue Möglichkeiten dem Tod zu ›begegnen‹. Er greift damit auf traditionelle Motive zurück, tut dies aber durch die ihm üblichen Eigenschaften: Seine Bewegung steht dem Stillstand des Todes entgegen. Tote, wie Zombies, bewegen sich im Film wie Lebende. Selbst etwas, das niemals gelebt haben kann, wie eine Puppe, wird durch ihn zum Leben erweckt und auf der Leinwand unsterblich gemacht. Gertrud Koch erläutert, von der unbewegten Fotografie ausgehend: »Führt man sich die mediale Differenz zwischen Fotografie und Film als ästhetische Form vor Augen, wird erklärlich, dass das Kino zu denjenigen Institutionen gehört, die immer wieder die körperliche Grenzerfahrung des Todes thematisieren: Sterben und Töten, Todesangst und Überleben sind nicht einfach nur Themen des Kinos, sondern bestimmen seine Bildstruktur. Gerade weil das Bewegungsbild des Films Lebendigkeit assoziiert, ist es zum Medium der Untoten, der lebendig Begrabenen und der unsterblichen Körper geworden. Lange nachdem die Vampire die populäre Literatur endgültig verlassen haben, springen sie aus den filmischen Gräbern, als wäre gestern heute und jederzeit Mitternacht. Dass die alten Mythen sich im Kino lebendig gehalten haben, zeigt, dass die Kinoapparatur ein Jungbrunnen ewigen Lebens ist, denn nur hier werden die Zeitverhältnisse so umkehrbar, dass das gestern Gefilmte wie die Rückkehr von Toten ins Leben wirken kann. Das Kino ist eine Veranstaltung, in der tote Körper lebendig erhalten werden und lebende Körper einen ewigen Tod erfahren. Diese paradox anmutende These lässt sich sowohl im Bildtypus (Zeit- und Bewegungsbild), wie in der Apparatur (Reproduktion und Wiederholbarkeit) als deren eigene Strategien nachvollziehen, die den Zuschauerkörper im Angesicht des Todes als unsterblich bestätigen. Das Kino hätte somit auch eine Funktion übernommen, die früher die Religionen ausgefüllt haben: die Gewissheit des körperlichen Todes mit der Postulierung des ewigen Lebens triumphal zu unterlaufen. Und das heißt genau, die ontische Differenz zwischen seelenloser Leiche und animiertem Körper zu verwischen.«114

Weil im Film Bilder aufeinander folgen, entsteht Bewegung. So ist es auch möglich, Prozesse und Übergänge wie die zwischen Leben und Tod darzustellen. Der Film steht als bewegtes Medium für das Leben, kann selbst Tote wiederbeleben und ihnen ein ewiges Leben auf der Leinwand verschaffen. Diese Ewigkeit überträgt sich auf den Zuschauer, der in diesem dauerhaften Zustand seines Stellvertreters seine eigene Unsterblichkeit verwirklicht sieht. Die Konservierung durch den Film steht damit einerseits für die erschreckenden wandelnden Toten, andererseits für das positiv empfundene eigene Überleben. Man kann das eine nicht ohne das andere haben, die Überwindung des Todes ist nur für einen bestimmten Preis zu bekommen, weil sie die Gesetzmäßigkeiten der Natur außer Kraft setzt. Die Unsterblichkeit auf der Leinwand greift die im Kapitel 2.1.1 angesprochene Bewältigung des Todes jenseits der kollektiven Rituale, die mit auratischen Kunstwerken verbunden sind, wieder auf: Zwar gibt es heute in der Gesellschaft in dem Sinne kein kollektives Bild des Todes mehr – die Medien Fotografie und Film sind dazu 114 Koch, Gertrud: »Der unsterbliche Körper – Kino und Todesangst«, S. 38.

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endlos reproduzierbar und deshalb für Benjamin wenig auratisch – und der Film kann nur auf traditionelle Motive zurückgreifen, die man gemeinsam im Kinosaal erlebt.115 Doch solche Symbolisierungen des Todes, deren volle Entschlüsselung nur durch ein kunstwissenschaftliches Wissen möglich ist, sind gar nicht nötig: Der Film kann dem Zuschauer aus seiner Medialität heraus, ganz unabhängig von seinem Handlungsverlauf, ein Gefühl der Unsterblichkeit vermitteln (was einer Bewältigung des eigenen Todes entspricht). Statt eines Heilsversprechens auf ein ewiges Leben im Jenseits durch die Religion besteht für das Kollektiv der Zuschauer nun das eines ewigen Lebens auf der Leinwand, die Leben bewahrt. Zwar kann es keinen wirklichen direkten Austausch zwischen Zuschauer und Film geben und auch keinen der Zuschauer untereinander, was einem kollektiven Ritual entgegensteht, aber dies fördert ja gerade die Illusionsbildung des Films, durch die sich das Publikum auf diesen einlässt. Die Nähe zu Filmfiguren kann erst entstehen, wenn man das eigene Leben, die Umgebung des Kinosaals und im Grunde auch sich selbst teilweise ausblendet. Dies erinnert an eine Seelenwanderung, in der man den eigenen sterblichen Körper zurücklässt. Leider ist das, wie alles im Film, nur Illusion. Selbst wenn die Figur auf ewig lebt, der Schauspieler außerhalb der Leinwand tut es nicht und diese unsterblich machende Leinwand lässt sich auch für den Zuschauer nicht überwinden. Immerhin kann man mit fotografischen bzw. filmischen Mitteln das Abbild eines Menschen und seine Erinnerung bewahren.116 Gerade die Tatsache, dass wir unseren eigenen, im Diesseits verorteten Körper eben nicht verlassen können, um in die Leinwand einzutauchen, sondern von ihm ausgehend dem Geschehen beiwohnen, ermöglicht außerdem durchdringende (medien)ästhetische Erfahrungen im Kino, wie sie im Zuge von filmischen Tötungen in Kapitel 3 diskutiert werden. Dieses und das vorangegangene Kapitel haben anhand der Beispiele Transi und Skelett gezeigt, dass die Angst vor dem Tod und der Versuch, ihn bildlich zu bewältigen vom Mittelalter bis in die heutige Zeit gleich geblieben sind. Die Personifizierungen des Todes existieren nicht in der Realität, machen das Phänomen Tod aber erst greifbar. Der Tod bekommt so einen Körper, die Bildzeichen schaffen ein Gegenüber, dessen Gestalt sich bis in den Film hält. Sie präsentieren eine sichtbare Figur, wo zuvor nur ein unvorstellbares, körperloses Phantasma existierte. Dies wird anders bei jeglichen Vorstufen des Todes, Tötungen, bei denen ein realer Körper bis zum Übertritt in den unvorstellbaren, endgültigen Tod leiden muss. Diesem leidenden Körper können die ihn nur repräsentierenden Zeichen nicht gerecht werden, eine Überschreitung der Bildzeichen auf eine unmittelbare somatische Erfahrbarkeit hin, ist deshalb für eine gelungene ästhetische Erfahrung unumgänglich.117 Fiktion und medienspezifische Bewegungsfähigkeit des Films erwecken die Personifizierungen des Todes – oder allgemein Tote – (wieder) zum Leben und schaffen so einen makabren Widerspruch zum stillstehenden Tod, wie es etwa in den Totentänzen der Malerei schon angedeutet wurde. Diese Überwindung des Todes schafft aber gewissermaßen auch Hoffnungen im Publikum dem unausweichlichen Tod zu ent115 Außerdem bezieht er sich häufig auf moderne, weniger verbreitete Todessymbole, die sich hauptsächlich aus Krankenhausinventar zusammensetzen, damit also eher indexikalisch als symbolisch sind. Vgl. Kapitel 2.2.2 116 Dies wird in Kapitel 2.2.3 ausführlicher einbezogen. 117 Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 3.1.1

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gehen. Vielleicht eröffnet der Film dadurch oder zumindest durch die wiederholte Konfrontation mit dem Tod, sogar eine gewisse, alten Ritualen ähnliche Todesbewältigung. Es entsteht eine unheimliche Parallelität zwischen der furchterregenden Wiederkehr der Toten und der vermeintlichen Wahrung des eigenen Lebens über den filmischen Stellvertreter, zwischen Wiederholbarkeit und Umkehrbarkeit aller Ereignisse im Film (was ja auch eine Rettung vor dem Tod beinhaltet) und dem dennoch weiterhin real existierenden einmaligen Tod, der dem Publikum bewusst bleibt.118 Damit herrscht beim Film ein Memento mori vor, den man auch im Einzelbild des angehaltenen Films findet.119 Dies verweist auf ein anderes Medium: die Fotografie. Statt ewiger Wiederholbarkeit gibt es hier einen einzelnen Moment, der aus der Zeit gepickt und bewahrt wird, während im echten Leben alles vergeht

2.2 REALITÄTSBEZUG DER FOTOGRAFIE UND TOD 2.2.1 Die Fotografie als Medium des Sichtbaren und Dagewesenen Die Fotografie ist die Grundlage des bewegten Films. Durch ihre mechanische Abbildung der Wirklichkeit entsteht ein direkter Bezug zu dieser, der für den Tod interessant ist. Über diese Wirklichkeitsbezüge hinaus wird, insbesondere in Kapitel 3, das Filmische selbst relevant, das Möglichkeiten bietet und Erfahrungen bündelt, die nicht mehr auf eine bloße Kopie der Realität angewiesen sind. Durch die Entdeckung der Röntgen-Strahlen im Jahre 1895 bot sich erstmals die Möglichkeit, das Skelett eines Menschen in Erscheinung treten zu lassen. Die Fotografie stand damit eng in Verbindung, denn: »[D]ass die Nachricht von Röntgens ›X-Strahlen‹ mit einer derartigen Gewalt den internationalen Blätterwald aufwirbelte ist vermutlich zuallererst jenen Fotografien zu verdanken, die sich mit Hilfe der X-Strahlen produzieren ließen und eine andere Welt sichtbar machten. Unter den ersten zirkulierenden Bildern befand sich auch jenes berühmte Bild das Röntgen von der Hand seiner Frau angefertigt hatte.«120

Zwar stellte diese Erfindung einen Meilenstein für die Medizin dar, die von nun an Krankheitsverläufe auch von innen betrachten konnte, aber vielen Zeitgenossen muss sie wie ein Hexenwerk erschienen sein. Der Tod schien gleichermaßen durch das noch lebende Gewebe zu schimmern, so nah war man ihm im Leben noch nie gekommen. Die tragische Ironie des Schicksals war zudem die, dass die Strahlen, die so viele Krankheiten aufzuklären möglich machten, selbst tödlich wirkten. Doch der Tod findet sich auch in alltäglichen Fotografien, beispielsweise bei der Betrachtung alter Fotos, bei denen man davon ausgehen kann, dass der Porträtierte nicht mehr lebt. Man weiß, dass dies ein echter Mensch war, man sieht seine Kleidung, 118 Diese Eigenschaften des Films greift das Kapitel 2.3.1 noch einmal auf. 119 Vgl. Kapitel 2.3.2 120 o. A., Vorschau auf den Tod: Röntgenbilder, http://www.untot.info/102-0-Vorschau-aufden-Tod-Roentgenbilder.html (Abgerufen 13.01.2019).

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kann sich sein Leben vorstellen, aber nun ist er weg und wird nicht wiederkehren. Es entsteht ein starker Bezug zur Vergänglichkeit des Lebens und eine Annäherung an das ungreifbare Phänomen Tod – als ein imaginäres Totenreich, in dem der Porträtierte sich nun befindet, der in der Fotografie ewig festgehalten wurde, am Dahingehen gehindert. Kommt man dem Toten im fotografischen Abbild näher als es die Malerei vermag – und mit diesem Toten dem Tod? Mit dem Einsatz der Fotografie im 19. Jahrhundert änderte sich das Verhältnis zum Dargestellten. Kunstfertigkeit war nicht mehr von Bedeutung, denn wo die Malerei einen echten Gegenstand oder Menschen nur simulieren konnte, bildet die Fotografie diesen ab – so wie er zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich existiert hat. Diese revolutionäre Möglichkeit einer mechanischen Abbildung ohne den Eingriff eines Künstlers schildert William Henry Fox Talbot in seinem zwischen 1844 und 1846 entstandenen Buch Der Zeichenstift der Natur (The Pencil of Nature) wie folgt: »Es müsste [...] genügen, wenn ich erkläre, daß die Tafeln dieses Werkes durch nichts anderes zustande gekommen sind als durch Einwirkung des Lichts auf empfindlich gemachtes Papier. Sie wurden ausschließlich mit optischen und chemischen Mitteln geformt oder gezeichnet und ohne Unterstützung durch irgend jemanden, der mit der Zeichenkunst vertraut wäre.«121

Anders als das Gedächtnis, so Siegfried Kracauer, vergisst die Fotografie nichts, sie hat keine Lücken, macht keine Sprünge. Ohne zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden, bildet sie alles ab, wie es ihr zu einem bestimmten Zeitpunkt vor die Linse kam. Kracauer dazu: »Die Fotografie erfasst das Gegebene als ein räumliches (oder zeitliches) Kontinuum, die Gedächtnisbilder bewahren es, insofern es etwas meint.«122 Kleine Partikel aus dem (auch alltäglichen) Leben werden also durch die Fotografie aus dem Lauf der Zeit gerissen und dauerhaft bewahrt. Allerdings handle es sich, so Kracauer, um bedeutungsleere, oberflächliche Imitationen der Realität: »Denn in dem Kunstwerk wird die Bedeutung des Gegenstandes zur Raumerscheinung, während in der Fotografie die Raumerscheinung eines Gegenstandes seine Bedeutung ist.«123 Ein Mensch kann so für Kracauer nur bewahrt werden, wie er zu diesem speziellen Zeitpunkt aussah: »[...] nicht der Mensch tritt in seiner Fotografie heraus, sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist. Sie vernichtet ihn, indem sie ihn abbildet, und fiele er mit ihr zusammen, so wäre er nicht vorhanden.«124 Eine solche oberflächliche Imitation des Lebens kann natürlich auch den Tod nur ungenügend (mit-)abbilden, was zu einer Entfernung führen würde, die keine Ergründung dieses Phantasmas zulässt. Für Roland Barthes ist die Fotografie jedoch näher an der Realität: Ihm zufolge zeigt sie in einer eindeutigen Geste »das da, genau das, dieses eine ist’s! und sonst nichts.«125 Eine Bedeutung über das, was man auf einem Foto sieht hinaus, ist zunächst nicht intendiert, im ersten Schritt geht es nicht um eine Symbolik, wie bei Transi oder Skelett, die den bevorstehenden Tod personifizieren. Es wird schlicht ein Stückchen 121 122 123 124 125

Talbot, William Henry Fox: »Der Zeichenstift der Natur«, S. 45. Kracauer, Siegfried: »Die Fotografie«, S. 103. Ebd., S. 104. Ebd., S. 108. Barthes, Roland: Die helle Kammer, S. 12.

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Realität durch ein mechanisches Verfahren konserviert. Es geht, so Barthes, nicht um die »[…]möglicherweise reale Sache, auf die ein Bild oder ein Zeichen verweist, sondern die notwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die es keine Photographie gäbe. Die Malerei kann wohl eine Realität fingieren, ohne sie gesehen zu haben. Der Diskurs fügt Zeichen aneinander, die gewiß Referenten haben, aber diese Referenten können ›Chimären‹ sein, und meist sind sie es auch. Anders als bei diesen Imitationen läßt sich in der PHOTOGRAPHIE nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit. Und da diese Einschränkung nur hier existiert, muß man sie als das Wesen, den Sinngehalt (noema) der PHOTOGRAPHIE ansehen. Worauf ich mich in einer Photographie intentional richte (vom Film wollen wir noch nicht sprechen), ist weder die KUNST noch die KOMMUNIKATION, sondern die REFERENZ, die das Grundprinzip der PHOTOGRAPHIE darstellt. Der Name des Noemas der PHOTOGRAPHIE sei also: ›Es-ist-so-gewesen‹ oder auch: das UNVERÄNDERLICHE.«126

Durch die Abbildung der dagewesenen Realität kommt ein Faktor hinzu, der in den simulierenden Künsten nur symbolisch von Bedeutung war: die Zeit. Die Fotografie bewahrt einen Augenblick im Ablauf der Zeit, der sonst verstrichen wäre. Zu dem Zeitpunkt, zu dem man das Foto betrachtet, befindet sich der Foto-Augenblick bereits in der Vergangenheit. Etwas, dass es zu einem bestimmten Augenblick wirklich gegeben hat, wird fotografisch dauerhaft bewahrt.127 Hierin ähnelt die Fotografie einer Totenmaske. Gottfried Boehm beschreibt diese in Der Topos des Lebendigen: »Unter den europäischen Bildtechniken gehört das Verfahren der Totenmaske zu jenen, die sich dem Dargestellten am stärksten annähern, so sehr, daß ihre Abformungen in aller Regel aus dem Kanon der Künste verdammt waren. Der Abklatsch folgt getreu der Sache, an die er sich angeschmiegt hatte, er berührt sie distanzlos. So wird er, im Falle des Verstorbenen, zu einem Bild des Todes, in dem die Erinnerung an das verflossene Leben dominiert. Die Totenmaske ist Protokoll jenes letzten Momentes, in dem die Spuren einer Lebensgeschichte noch lesbar sind. Lebendigkeit entsteht dabei nicht. Wie auch und warum? Geht es doch um den Rückblick auf das Vergangene und nicht um das, was die Person in der Zukunft sein könnte. Sie ist nichts und wird nichts mehr sein. Alles ist gewesen. Sie ist abgeschieden. Ihre einzige Fortexistenz besteht allein in der geneigten Erinnerungsbereitschaft des Betrachters. Totenmasken vereinigen sehr oft eine schutzbedürftige Intimität mit der Rücksichtslosigkeit eines erzwungenen Protokolls. Lebendigkeit prägt sich dabei nur in einer Vergangenheitsform ein.«128

Ähnlich setzt auch André Bazin an, der für die Fähigkeit des Films plädiert, Zeit zu speichern und der hierfür ebenfalls den Weg über die Malerei und die Fotografie geht: 126 Ebd., S. 86/87. 127 Dieses ›Es-ist-so-gewesen‹ von Barthes bezeugt, dass der fotografierte Mensch eben nicht nur in der Phantasie existiert hat, wie es bei einem (ikonischen) Gemälde möglich ist. Es hat ihn wirklich gegeben, die Fotografie verweist indexikalisch auf ihn. Vgl. Kapitel 2.2.2 128 Boehm, Gottfried: »Der Topos des Lebendigen. Bildgeschichte und ästhetische Erfahrung«, in: Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2016 [2003], S. 94-112, hier S. 106/107.

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Laut Bazin liegt der Ursprung der bildenden Künste im alten Ägypten, in der Mumifizierung der Verstorbenen, die diese, »aus dem Strom der Zeit künstlich heraus[gerissen], an das Leben [ge]fessel[t]«129, dauerhaft vor dem Verfall schützte. Hier sieht man also eine eindeutige Parallele zur Fotografie. Laura Mulvey bestätigt in Death 24x a Second: »Bazin says: ›Death is but the victory of time. To preserve the bodily appearance artificially is to snatch it from the flow of time, to stow it neatly away, so to speak, in the hold of life.‹ This process, holding the flow of time, or ›embalming‹ time, and preserving the actual features of the dead person through an imprinted image, would, Bazin argues, be realized finally and perfectly with photography.«130

Die Möglichkeit zu dieser Bewahrung eines Menschen durch sein Abbild sieht Bazin ebenfalls im Umgang der Ägypter mit ihren Toten begründet: in dieser Zeit kam es immer wieder zu Grabschändungen, so dass man befürchten musste, dass der tote Körper zerstört wurde. Als Ersatz für den verletzlichen Körper stellten die Ägypter deshalb Terrakottastatuen in die Nähe des Sarkophags, falls dem Toten etwas zustieße. Damit die Statue allerdings als solcher dienen konnte, musste eine Übertragung, ähnlich einer Seelenwanderung, von der Mumie auf die Statue stattfinden.131 Die Statue war nach Auffassung der ägyptischen Religion nun im Grunde der Mensch, nicht nur ein ihm ähnliches Objekt. Im Laufe der zivilisatorischen Entwicklung ist eine Entfernung zwischen Mensch und Übertragungsobjekt festzustellen, wie Walter Benjamin schon im Bezug auf die Aura, die eng mit dem Kultwert eines Werkes verbunden ist, ausgeführt hat. Die magische Komponente entfiel zunehmend und ist bei den Medien Fotografie und Film kaum mehr vorhanden. Man konnte nicht mehr an ein Bezwingen des Todes glauben, so Bazin, eine so direkte Übertragung wie bei Mumie und Statue fand nicht mehr statt. Allerdings dienten beispielsweise im 16. Jahrhundert Porträts von Herrschern und Edelfrauen als Erinnerungsstütze und vermochten diese wenigstens vor dem »geistigen Tod«132 zu bewahren. Der Gedanke ist also auch bis in die heutige Zeit ein ähnlicher. Die Malerei entwickelte sich weiter und wurde immer realistischer, man bemühte sich die Welt möglichst exakt zu kopieren. Besonders die Perspektive, die erstmals die Illusion eines dreidimensionalen Raumes schuf, war der Wirklichkeit sehr nah. Objektiv und damit vollständig realistisch konnte die Malerei aber nie sein, denn immer stand ein einzelner Künstler als Genie hinter dem Werk und gab diesem eine bestimmte Färbung. Die Fotografie als mechanischer und chemischer Prozess, stellte nicht nur die eindeutigste Wiedergabe der Realität (damit auch des realen Todes) dar, sondern sie tat dies eben auch beinahe ohne menschliches Zutun. Somit befreite sie laut Bazin »[...]

129 Bazin, André: »Ontologie des fotografischen Bildes«, S. 21. 130 Mulvey, Laura: Death 24x a Second, S. 58/59. 131 Dies wurde ähnlich schon im vorangegangenen Kapitel für die ›Seelenwanderung‹ des Filmzuschauers beschrieben, der auf der Leinwand seine eigene Unsterblichkeit verwirklicht sieht. 132 Bazin, André: »Ontologie des fotografischen Bildes«, S. 21.

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die bildenden Künste von ihrem Ähnlichkeitswahn [...],«133 denn mit einer so exakten Reproduktion der lebendigen Wirklichkeit konnten sie sich nicht messen. Auch für Barthes handelt sich bei einer Fotografie um eine »Einbalsamierung«134, da selbst ein später verstorbener Mensch auf ewig lächelnd und lebendig in die Kamera blickt. Hier ergeben sich parallel verschiedene Zeitebenen: Zum Zeitpunkt der Aufnahme hat er vielleicht sein ganzes Leben noch vor sich, aber der Betrachter weiß, dass er sterben wird, oder bereits gestorben ist.135 Ermahnende Symbole wie ein Totenkopf in einem Vanitas-Stillleben sind deshalb nicht nötig. Jedes Bild, jeder bewahrte Augenblick, ist ein Memento mori, denn, so Susan Sontag: »Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, daß sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit.«136 Das still gestellte Leben wird zum Todessymbol. Der Fotograf, so Sontag, wird zum Mörder, indem er ein Foto schießt wie mit einem Gewehr.137 Er sieht Menschen wie sie sich selbst niemals sehen, macht sie zu Objekten und nimmt sie symbolisch in Besitz.138 Vilém Flusser bestätigt: »Betrachtet man die Bewegungen eines mit einem Fotoapparat versehenen Menschen (beziehungsweise eines mit einem Menschen versehenen Fotoapparates), dann gewinnt man den Eindruck eines Lauerns: Es ist die uralte pirschende Geste des paläolithischen Jägers in der Tundra.«139 Auch für Barthes ist die Fotografie eine Art Tötung, die den Fotografierten zum »Gespenst«140 macht. Er erläutert: »Was ich letztlich auf der Photographie suche, die man von mir macht (die ›Intention‹, mit der ich sie betrachte), ist der TOD: der TOD ist das eidos dieser PHOTOGRAPHIE vor meinen Augen. So ist auch das einzige, was ich ertragen kann, was ich liebe, was mir vertraut ist, wenn ich photographiert werde, seltsamerweise das Geräusch des Apparats [...] dies kurze Klicken, welches das Leichentuch der POSE zerreißt.«141

Hier klingt schon an, dass Fotografie mehr ist als eine mechanische Abbildungsfunktion. Obwohl sie theoretisch nur zeigen kann, was wirklich da war, ist ihr Verhältnis zur Wirklichkeit komplexer als Kracauer es in ihrer oberflächlichen Imitation sah. Sie

133 Ebd., S. 23. 134 Barthes, Roland: Die helle Kammer, S. 22. 135 Barthes spricht von einem punctum, einem Stich den die Fotografie dem Betrachter versetzen kann, vgl. Kapitel 2.2.2 136 Sontag, Susan: Über Fotografie, S. 21. 137 Michael Powell geht in seinem Film PEEPING TOM (Vereinigtes Königreich 1960, R: Michael Powell) so weit, dass die Kamera zu einem echten Mordinstrument wird. Im Augenblick größter Angst werden die Opfer des Kamerafans Mark (Karlheinz Böhm) mit dem spitzen Fuß der Kamera aufgespießt, während diese den Mord dauerhaft festhält. 138 Vgl. Sontag, Susan: Über Fotografie, S. 20. Diese gewaltsame Auffassung der Kamera wird auch für die sadistisch-voyeuristische Kinorezeption relevant. Vgl. Kapitel 3.2.1 139 Flusser, Vilém: »Für eine Philosophie der Fotografie.«, S. 49. 140 Barthes, Roland: Die helle Kammer, S. 22. 141 Ebd., S. 24.

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bewahrt einen Augenblick – damit auch einen Menschen in einem Augenblick – für die Ewigkeit, während dieser in der Realität altert und stirbt. Die auf ewig eingefrorene Pose schafft die von Gertrud Koch für den Film beschriebene Unsterblichkeit durch das Medium, der bewegte Mensch wird aber durch die Fotografie gleichzeitig totengleich still gestellt. Jedes dieser Bilder könnte sein Letztes sein, die Art wie man sich seiner erinnert. Je nachdem, wie die Fotografie einen Menschen einfängt, noch lebendig oder bereits tot, schön oder bereits Verwesungsprozessen unterworfen, kann der Anblick beruhigend oder zutiefst verstörend ausfallen. In ihrem direkten Bezug zur Wirklichkeit wird die Fotografie dabei zu etwas Unheimlichen und wurde dementsprechend auch mit der Medusa-Sage der griechischen Mythologie in Beziehung gesetzt, deren Anblick ihre Betrachter zu Stein erstarren ließ.142 Katharina Sykora dazu: »Der fotografische Akt wurde mit der Tötung der Medusa in Verbindung gebracht: Ihm eigne dieselbe schockhafte Kraft wie dem Schwerthieb des Perseus, der ihren Kopf vom Leib trennte. Und die Betrachtung der Aufnahme erlaube es, der tödlichen Realität ins Gesicht zu sehen, ohne daran zugrunde zu gehen. Dem korrespondiert eine weitere Zuschreibung, die dem zweiten Teil der mythischen Erzählung entstammt. Demnach ist der Referent des toten Körpers in der Fotografie derart unverstellt aufgehoben wie das auf Athenas Schild applizierte Haupt der Medusa. Wie dieses kann uns daher der Anblick eines fotografierten Toten auch in Schockstarre versetzen.«143

Durch die Fotografie – wie auch die Filmleinwand – können wir demnach einen Gegenstand aus der echten Welt direkt sehen und sind zugleich von ihm abgetrennt und deshalb beschützt. Ähnliches lässt sich auch bereits über den Transi der Malerei sagen, der natürlich kein Äquivalent in der echten Welt kennt, aber dieselben Ängste vor dem Tod bündelt. Durch das vermeintlich Unverstellte in der Fotografie kann der Anblick den Betrachter aber auch schockieren, da ein flüchtiger Blick in der konservierenden Fotografie zu einem endlos betrachtbarem Zeugnis wird, auch in Nahsicht. Der Aspekt des Realität-getreu-Wiedergebens fotografischer Medien ist vielfach angezweifelt worden, Inszenierungen der Fotografie und des Films können jedoch eine Art neue Realität schaffen, die den ursprünglichen Schrecken transformiert und als etwas Anderes dem Betrachter oder Zuschauer darbietet. Der Umgang mit dem Tod in 142 »Als Perseus den Ort erreicht hatte, wo die drei Gorgonen mit ihren grausigen Häuptern hausten, fand er die Medusa schlafend vor. Um ihr nicht direkt ins Gesicht schauen zu müssen, näherte er sich ihr so, dass er vorsichtig nur seinen Rücken gegen sie wandte und sie nur im blanken metallenen Schild als Spiegelbild sah. Denn ihr Haupt mit den grossen [sic!], starren Augen, dem grinsenden Antlitz, der heraushängenden Zunge und den Schlangen im Haar liess[sic!] jeden, den die Gorgo anblickte, zu Stein erstarren. Schnell hieb er der Medusa mit seinem sichelförmigen Schwert den Kopf ab, steckte ihn in seinen Zaubersack und mache sich davon. Er entkam den beiden Schwestern nur deshalb, weil ihn seine Kappe unsichtbar machte«. Fischer, Rudolph: Griechische Sagen, Oberdorf: Edition Piscator 1991 [1989], S. 34. Das abgeschlagene Haupt der Medusa verwendet Perseus im Anschluss, um damit seine Gegner zu versteinern, ehe er es der Göttin Athene schenkt, die es auf ihrem Schild anbringt. Vgl. ebd., S. 34 f. 143 Sykora, Katharina: Die Tode der Fotografie II, S. 18.

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Fotografie und insbesondere Film könnte demnach ganz neue Blickwinkel auf diesen eröffnen, weniger eingeschränkt – sei es perspektivisch, moralisch oder auch durch Angst, Trauer oder Wut getrübt, wie in Kapitel 3 und 4 ausgearbeitet wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Fotografie in ihren Anfängen als ein Medium, das Realität direkt abbilden kann gefeiert wurde, ein Medium, das die Malerei darin in ihrem Realismus um Weiten übertraf. Seit Anbeginn der Fotografie war sie aber auch harscher Kritik ausgesetzt. Katharina Sykora dazu: »Trotz ihrer unmittelbaren Faszination und ihrem unaufhaltsamen Siegeszug wurde die Fotografie während der gesamten Geschichte des Mediums von Diskursen begleitet, die sie als defizitär abqualifizierten. Zu Beginn geschah dies im Vergleich mit der Malerei und Grafik, später mit dem Film. In beiden Fällen wird die Fotografie als toter Spiegel der Wirklichkeit betrachtet, einmal, weil ihr als mechanisches Verfahren die künstlerische Gestaltung fehle, und einmal, weil sie verglichen mit dem Filmbild ohne Bewegung sei.«144

Die Problematik dieses Abbildungsverhältnisses wird im folgenden Kapitel im Zusammenhang mit Bildsemiotik noch ausgeführt. Siegfried Kracauer kritisierte an dieser Abbildungsfähigkeit bereits, dass die Fotografie willkürlich aufzeichne und so nur oberflächlich Realität imitiere. Roland Barthes dagegen, so wird ebenfalls noch weiter ausgeführt, sah in ihr ein Medium, das etwas genau so abbilden kann, wie es zu einem bestimmten Zeitpunkt da war. Das macht jede Fotografie zu einem Tor in die Vergangenheit, einer vergangenen Wirklichkeit. Da sie aber immer vergangen bleibt, ist sie auch einer Totenmaske ähnlich. Für André Bazin geht es bei fotografischen Medien, insbesondere dem bewegten Film, vorrangig um die Speicherung von Zeit. Obwohl noch immer auf ›vergangenen‹ Fotografien beruhend, erzeugt der Wechsel der Bilder im Film, wie sich noch zeigen wird, den Eindruck von Gegenwärtigkeit. In dieser Speicherbarkeit liegt auch das Phantasma der Unsterblichkeit durch das Medium verborgen, das uns etwa alte Hollywoodstars lebendig und lächelnd in Aktion präsentiert, die schon lange nicht mehr unter uns weilen. Die Nähe zum fotografierten Menschen, die weit größer ist als die zu einem Portrait der Malerei – und die über seinen Tod hinaus weiter zu existieren scheint – schafft jedoch ein komplexes Verhältnis von Zeichen, die Bildern immer mitgegeben sind, wie im nun folgenden Kapitel diskutiert wird. 2.2.2 Ikon, Index und Symbol – und der ›reale‹ Tod in den Massenmedien Die Fotografie galt lange als unumstößliches Zeugnis real stattgefundener Geschichte,145 als ein scheinbar eindeutiger Beweis für zurückliegende Ereignisse. Im 19. Jahrhundert glaubte noch niemand an Inszenierungen. Nach damaliger Ansicht bildete sie mimetisch die Realität ab. »Es herrscht[e]«, so Philippe Dubois in Der fotografische Akt, »so etwas wie eine grundsätzliche Übereinstimmung darüber, daß das fotografische Dokument die Welt getreu wiedergibt. Eine außerordentliche

144 Ebd., S.23. 145 Vgl. Sontag, Susan: Über Fotografie, S. 11f.

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Glaubwürdigkeit wurde ihm zugesprochen, ein einzigartiges Gewicht der Wirklichkeit.«146 Die Ähnlichkeit zwischen Referent und Bild macht gemäß dem Zeichensystem von Charles Sanders Peirce, jedes Foto zu einem Ikon.147 Ikons müssen sich nicht zwingend auf ein real existierendes Objekt beziehen, sondern können auch der Fantasie entstammen. Jedes Bild, auch ein Gemälde ohne Realitätsbezug, ist damit ein Ikon. Eine Fotografie von einem Toten weist als Ikon eine starke Ähnlichkeit zu dem realen Toten auf. Dasselbe gilt natürlich für den Film. Diese Haltung galt jedoch besonders ab dem 20. Jahrhundert als naiv und wurde von vielen Seiten kritisiert. Der Eindruck von Realität, den die Fotografie erweckt, sei nicht mehr als ein Realitätseffekt, so die Kritiker. Die Theorie vom natürlichen Zeichen musste, so Börries Blanke, »[...] für die europäische, strukturalistisch ausgerichtete Semiotik zu einem ernsthaften Problem werden, denn [dies] stellte das Saussuresche Prinzip der Arbitrarität des Zeichens in Frage, demzufolge jedes Zeichen erst als Element eines durch soziale Konvention festgelegten Zeichensystems Bedeutung erlangt [...] Wenn das so ist, dann können Zeichen nicht natürlich sein [...] Wo kein Kode ist, so die Überzeugung, da kann auch kein Zeichen sein.«148

Der Ähnlichkeitsbegriff, der die Natürlichkeit eines Zeichens bedingt, wurde etwa von Umberto Eco149 oder Nelson Goodman150 in Frage gestellt und das Ikon als durch und 146 Dubois, Philippe: Der fotografische Akt, S. 29. 147 »An Icon is a sign which refers to the Object it denotes merely by virtue of characters of its own which it posseses, just the same, whether any such Object exists or not [...] That is to say, an icon’s significance is grounded in its own qualities, and not in any relationship to another that requires the latter to exist [...] A painted portrait is an icon of the features depicted, whether or not anyone ever had them; only as accompanied by an indexical sign, such as an attached label, or in respect to the history of its production, is the painting a portrait of an actual person (whom it might fail to resemble)«. Short, T. L.: Peirce’s Theory of Signs, S.215/216. 148 Blanke, Börries: Vom Bild zum Sinn, S. 11. 149 »Die natürliche Ähnlichkeit eines Bildes mit der Wirklichkeit, die es darstellt, ist theoretisch durch den Begriff ›ikonisches Zeichen‹ ausgedrückt. Nun wird dieser Begriff immer wieder einer Revision unterzogen [...] Von Peirce über Morris bis zur heutigen Semiotik sprach man ohne Bedenken von einem ikonischen Zeichen als von einem Zeichen, das einige Eigenschaften des dargestellten Objektes besitzt. Nun zeigt eine einfache phänomenologische Untersuchung eines beliebigen figürlichen Gebildes, etwa einer Zeichnung oder eines Fotos, daß ein Bild keinerlei Eigenschaft des dargestellten Objekts besitzt; und die Naturgesetzlichkeit des ikonischen Zeichens, die uns unanfechtbar erschien im Gegensatz zur Willkür des sprachlichen Zeichens, bricht zusammen und lässt in uns den Verdacht zurück, daß auch das ikonische Zeichen gänzlich willkürlich, konventionell und unbegründet ist [...] Zwar reproduziert das ikonische Zeichen die Wahrnehmungsverhältnisse, doch reproduziert es nur einige.« Eco, Umberto: »Die Gliederung des filmischen Codes«, S.73/74. 150 »Daß ein Bild wie die Natur aussieht, bedeutet oft nur, daß es so aussieht, wie die Natur gewöhnlich gemalt wird.« Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1995 [Languages of Art. An Approach

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durch konventionell deklariert: Bei fiktionalen Bildern (wie dem personifizierten Tod) existiert das Referenzobjekt nicht in der Wirklichkeit; eine Sache, die einer anderen ähnlich ist, repräsentiert diese nicht automatisch, Bilder ähneln außerdem einander mehr als dem Objekt, das sie darstellen und ein Ikon kopiert niemals bloß Eigenschaften seines Referenzobjekts, was Ähnlichkeit ausmachen würde, es gibt einen bestimmten Blickwinkel auf dieses wieder,151 so einige der Kritikpunkte. Ein Foto ist deshalb nie ein reiner (natürlicher) ›Spiegel der Wirklichkeit‹, sondern immer kulturell codiert.152 Das macht Fotografien symbolisch,153 da ihre Codes entschlüsselt werden müssen. Weg vom Spiegel der Wirklichkeit, entfernt man sich auch von den Toten – und damit dem Tod – in der Fotografie. Er wird dadurch zu etwas Abstrakterem. Katharina Sykora führt aus: »Die meisten Fotografien wollen die Realität des Todes durch die Darstellung des menschlichen Leichnams fassen. Daraus leitet sich die Frage ab, was der tote Körper an Bedeutung mit ins Bild bringt, inwieweit die Fotografie ihn transformiert und den Tod auf ihre Weise konstruiert. Wir haben es dabei mit zwei Formen der Annäherung an den Tod zu tun: einer ›realistischen‹, die seiner Wirklichkeit, wenn auch vergeblich, auf den Fersen ist, und einer konstruktivistischen, die sich angesichts der Unfassbarkeit des Todes ein imaginäres oder symbolisches Bild von ihm macht.«154

Für Roland Barthes gibt es dagegen in Fotografien eine direkte Verbindung zu Personen aus der Vergangenheit. Dies macht die Fotografie (und den Film) schließlich indexikalisch.155 Die »zeichenkonstitutive Beschaffenheit [des Index liegt] in einer Zweitheit,«156 da er eine Relation zu einem Objekt benötigt, die des Ikons und Symbols in einer Erstheit, da sie auch ohne Referenzobjekt existieren kann. Die Fotografie weist

151 152 153

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to a Theory of Symbols. 1976], S. 47. An anderer Stelle bemerkt Goodman: »Realismus ist relativ; er wird durch das Repräsentationssystem festgelegt, das für eine gegebene Kultur oder Person zu einer gegebenen Zeit die Norm ist.« Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst, S. 45. Vgl. Blanke, Börries: Vom Bild zum Sinn, S. 14 ff. Vgl. Dubois, Philippe: Der fotografische Akt, S. 30. Peirce’s Definition: »A Symbol is a sign which refers to the Object that it denotes by virtue of a law, usually an association of general ideas, which operates to cause the Symbol to be interpreted as referring to that Object.« Short, T. L.: Peirce’s Theory of Signs, S. 220. Sykora, Katharina: Die Tode der Fotografie II, S. 14. »Peirce’s 1903 characterization of indices: An Index is a sign which refers to the Object that it denotes by virtue of being really affected by that Object [...] appears to be far to narrow. It reads as if all indices were effects, the objects signified being their causes. Among much else, that would exclude the paradigmatic instance of an index, which is pointing [...] A spatial connection must be between two actualities, existing or occuring, but does not require one to be a cause of the other.« Short, T. L.: Peirce’s Theory of Signs, S. 219. Peirce, Charles Sanders: Phänomen und Logik der Zeichen, S. 65.

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mit dem Index demnach ein Zeichen auf, das in direktem Zusammenhang mit der Realität steht, diese hinterlässt eine Spur eines vergangenes Wirklichen.157 Es gibt diesen direkten Bezug, obwohl jedes Foto auch codiert ist.158 Barthes dazu: »Die Realisten, zu denen ich gehöre und bereits gehörte, als ich die Behauptung aufstellte, die PHOTOGRAPHIE sei ein Bild ohne Code – obschon Codes selbstverständlich ihre Lektüre steuern –, betrachten eine Photographie keineswegs als eine ›Kopie‹ des Wirklichen – sondern als eine Emanation des vergangenen Wirklichen: als Magie und nicht als Kunst.«159

Ein ›Bild ohne Code‹, das bedeutet ein natürliches Zeichen, einen Spiegel der Wirklichkeit, denn »die Ähnlichkeit [zum vergangenen Wirklichen] ist [...] so offensichtlich, dass die Ikons [die Bilder darstellen] keinerlei Interpretation zu bedürfen scheinen, um verstanden zu werden [...] Der Blick geht gleichsam durch das Zeichen hindurch direkt auf das Objekt,«160 so Börries Blanke. Es geht Barthes jedoch weniger um die reine Mimesis der Wirklichkeit, er ist sich der Codes ja bewusst, als um den indexikalischen Bezug zu realen Referenten. Martin Schulz beschreibt diese Fähigkeit der Fotografie in Die Sichtbarkeit des Todes in der Fotografie treffend, es handle sich um: »[...] ein Dispositiv der gemachten und hinterlassenen Spur, eine physische und daher, zeichentheoretisch ausgedrückt, indexikalische Referenz. Diese ist bis zu einem gewissen Grad das Gegenstück zum ikonischen Verweis und zeichnet sich nicht zwangsläufig durch eine spiegelgleiche, perfekt mimetische Wiedergabe der sichtbaren Wirklichkeit aus. Ein verschwommenes und verzerrtes Foto, ein sepiabrauner und vergilbter, kaum noch entzifferbarer fotografischer Schatten können als hinterlassene Spuren zugleich einen hohen symbolischen Wert besitzen.«161

›Magisch‹ ist also schon die Idee beinahe unmittelbar mit dem fotografierten Objekt – oder Menschen – in Verbindung zu stehen. Dies erinnert wieder stark an die zum Greifen nahen und doch unerreichbaren Gegenstände auf Vanitas-Stillleben, die deren besonderen Reiz ausmachen. Im Falle der Fotografie ist es eben keine an Perfektion grenzende Imitation wie bei der ikonischen Malerei, sondern etwas wirklich Dagewesenes, das aber bereits vergangen ist, obwohl es so nah scheint. Mary Ann Doane beschreibt in The Indexical and the Concept of Medium Specificity den Index der Fotografie im Gegenteil als eine »[...] privileged relation to contact, to touch, the assurance of its physical link, as well as its resistance to iconicity that becomes, in the case of a photograph, according to Peirce, a mere accident or by-product of contact.«162 Diese Verbindung zur Realität ist bezogen auf den Tod besonders bestechend. Doane dazu: 157 Anders ist es bei der Malerei: Man kann nur vermuten ob die Mona Lisa wirklich existiert hat und so aussah, wie es da Vinci uns glauben macht. 158 Vgl. Dubois, Philippe: Der fotografische Akt, S. 30. 159 Barthes, Roland: Die helle Kammer, S. 99. 160 Blanke, Börries: Vom Bild zum Sinn, S. 10. 161 Schulz, Martin: »Die Sichtbarkeit des Todes in der Fotografie«, S. 405. 162 Doane, Mary Ann: »The Indexical and the Concept of Medium Specificity« in: Differences. Vol. 18, Nr. 1 (2007), S. 128-152, hier S. 135.

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»[I]t is not coincidental that the privileged form of the index has been associated with death – the shroud of Turin, André Bazin’s death mask in The Ontology of the Photographic Image, Roland Barthes’s photograph that perfectly captures the essence of his dead mother and occasions an extended meditation on indexicality (Camera). The lure of the indexical is linked to its intimate collusion with what Didi-Huberman calls the fantasy of referentiality, with the inert stability of the real, most fully realized in death.«163

Was bedeutet das für digitale Bilder? Die Spur scheint hier verloren zu sein, die Verbindung zu den Toten abgebrochen. In der analogen Fotografie, so Doane, berühre der Index die profilmische Wirklichkeit,164 vergewissere uns als Rezipienten ihrer Existenz, »[...] while the digital image has the potential to abstract and isolate itself, severing any connection with an autonomous reality. Digital imaging allows for the manipulation of intensities, the seamless combination of image fragments from different sources, and invisible constructions or interventions in image formation [...]«165 Digitale Bilder würden die Berührung der Wirklichkeit negieren, keine Materialität aufweisen, sie seien nur ein Code.166 Dies löst Fotografien aus ihrer Verankerung in Raum und Zeit, da die Aufnahme einem Nicht-Ort entstammen könnte, einer reinen Manipulation, die künstlich Menschen und Situationen schafft, die nie gelebt haben und deshalb auch nicht sterben können. Die indexikalische Zweitheit ist aufgebrochen und wir haben es nur noch mit möglichen Wirklichkeiten zu tun, mit Fiktion. Zugleich werden die aufgenommenen Menschen – sofern es sie so gab, wie es die Bilder darstellen – nicht mehr bewahrt, ewig ans Leben gebunden, sondern sie zerfallen sozusagen in bloße Codierungen und nur die sichtbare Oberfläche – von Kracauer kritisiert – das rein Ikonische, bleibt vorhanden. Ist eine Annäherung an den Tod im Digitalen damit von vornherein ausgeschlossen? Tom Gunning unterscheidet in Moving Away From the Index den ›Vergangenheits-Index‹ der Fotografie von der empfundenen Gegenwärtigkeit des Films, zweifelt, anders als Doane, die Gleichstellung von Indexikalität und analoger Fotografie an und hebt neben dem Index als Spur weitere Bedeutungsebenen, wie seine deiktische Funktion hervor.167 Auch ohne photochemische Abbildung, so lässt sich dies weiterführen, gibt es den Verweis auf etwas in der echten Welt Existierendes als starken Fingerzeig weiterhin. Die Spur einer Spur, wenn man so will, bleibt in der digitalen Fotografie erhalten. Der Betrachter wird Fotografien – etwa von im echten Leben bereits Verstorbenen – nie nicht als Abbilder der physischen Wirklichkeit ansehen. Das überdauert auch Datensätze ohne physisches Trägermaterial und das Wissen um Manipulationen durch Bildbearbeitungsprogramme. Die Geschichte der Fotografie, alles das, was ihr an Wahrheit zugerechnet wurde, ist damit unweigerlich in das Medium eingegangen. Fotografisch Festgehaltenes gilt 163 164 165 166 167

Doane, Mary Ann: »The Indexical and the Concept of Medium Specificity«, S. 129. Vgl. ebd., S. 140. Ebd., S. 142. Vgl. Doane, Mary Ann: »The Indexical and the Concept of Medium Specificity«, S. 142. Vgl. Gunning, Tom: »Moving Away from the Index. Cinema and the Impression of Reality«, in: Differences, Vol. 18, Nr. 1 (2007), S. 30f. So auch Doane, vgl. Doane, Mary Ann: »The Indexical and the Concept of Medium Specificity«, S. 29-52, hier S. 136.

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noch immer, weitestgehend, als echt. Dies haftet auch dem Film an, mit oder ohne Filmrolle. Eine weitere Ebene der Echtheit ist für Gunning, ganz unabhängig vom fotografischen Index, die Bewegungsfähigkeit des Films.168 Diese ist – so wird das Kapitel 3 ausführen – neben auditiven Eindrücken, auch der entscheidende Ausgangspunkt für die somatisch geprägte Rezeption, die nicht mehr auf Indices angewiesen zu sein scheint. Der Körper des Zuschauers selbst schafft ersatzweise für den fotografischen Index die Verbindung zwischen Leinwand- und profilmischer Welt. Ob die filmische Wirklichkeit so existiert hat, wie sie es uns gegenwärtig glaubhaft macht, ist dann sekundär – im Kino haben wir es ohnehin mit Fiktionen zu tun. Der Film deutet innerhalb der Fiktion auf die (komplexe) außerfilmische Realität und wir erfahren diese mit. Trotz der fotografischen Zeichensysteme ist es einleuchtend, dass bereits Barthes bei der Fotografie von einem natürlichen Zeichen ausging, das eine starke Ähnlichkeit mit dem Referenzobjekt hat, da es sich um eine mechanische Reproduktion handelt (die zudem einen Index enthält). Hiervon ausgehend besteht »[Barthes] Lösung für das Problem des scheinbar natürlichen fotografischen Zeichens [...] darin, dass er zwei verschiedene Schichten von Bedeutungen unterscheidet, die er, Hjemslev folgend, als Denotation und Konnotation benennt [...] Die Fotografie denotiert auf natürliche Weise das abgebildete Objekt, aber eine konnotative, kodierte Bedeutungsschicht fügt sich dieser Grundlage in jedem Fall hinzu.«169

Analog hierzu sieht Philippe Dubois die ›Botschaft ohne Code‹ auf der Seite der Produktion in dem einen Moment erfüllt, in dem der Auslöser betätigt wird und der Abdruck der Wirklichkeit entsteht, der eine Fotografie ausmacht.170 Es ist der Moment, in dem der Mensch nicht eingreifen kann und das mechanische Verfahren für sich allein agiert. Doch in all den Momenten zuvor, in denen der Fotograf etwa einen Ausschnitt wählte, die Beleuchtung oder die Belichtungszeit, fand immer eine Codierung und damit eine Konnotation statt.171 Es ist »als ob am Anfang eine rohe Fotografie da war, frontal und klar, auf der der Mensch dann, mit Hilfe verschiedener Techniken, die Zeichen eines kulturellen Codes einträgt«172, so Barthes. Auf der Seite der Rezeption unterliegt das punctum, ohne Code, bei Barthes nicht der Kontrolle des Betrachters und trifft ihn daher unvorbereitet, ähnlich dem Chock bei Benjamin, so Thomas Steinaecker in Literarische Foto-Texte.173 Barthes selbst definiert es: 168 Vgl. Gunning, Tom: »Moving Away from the Index«, S. 34ff. 169 Blanke, Börries: Vom Bild zum Sinn, S. 11. 170 Dubois verweist hier auch auf Bazin, André: »Ontologie des fotografischen Bildes«, S. 24. Das Bild entsteht in diesem einen Moment automatisch, ohne das Eingreifen eines Menschen. Vgl. Dubois, Philippe: Der fotografische Akt, S. 40. 171 Ebd., S. 54f und S. 89. 172 Barthes, Roland: »Rhetorik des Bildes«, in: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie. Band 3. München: Schirmer & Mosel Verlag 1982, S. 144 173 Steinaecker, Thomas von: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds, Bielefeld: transcript Verlag 2007, S. 24.

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»[D]as Element [...] schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. Ein Wort gibt es im Lateinischen, um diese Verletzung, diesen Stich, dieses Mal zu bezeichnen, das ein spitzes Instrument hinterläßt [...] punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).«174

Diese Unmittelbarkeit des punctums, die den Betrachter aus der Fotografie heraus regelrecht körperlich verwundet, ihm einen Stich versetzt, ohne dass dies mit bewussten kognitiven Bezügen verbunden wäre, greift das Kapitel 3.2.4 wieder auf. Ohne Vorwissen kann man somit ein Foto als Kopie der Wirklichkeit denotieren: Eine Fotografie von einem Toten – wenngleich man medienspezifisch niemals sicher sein kann, ob die Person wirklich tot war oder ein Lebender nur mit geschlossenen Augen dalag175 – erschließt sich einem direkt, sie trifft den Betrachter individuell. Dies ist eben dem Moment des Auslösens geschuldet, in dem der Zufall herrscht und der Fotograf keinen Einfluss mehr hat. Das Studium dagegen176 beruht auf dem »kulturspezifische[n] Wissen«177, das man anwenden muss, um ein Bild zu entschlüsseln. Es existiert hier folglich wieder eine Codierung und damit eine Konnotation: Der Stil einer Fotografie stellt automatisch ein Mehr an Information zur Verfügung, ebenso die Auswahl bestimmter Objekte oder Posen, Bezüge auf frühere Motive der Kunst, die Kombination von Fotos zu einer Sequenz oder die Beigabe von Text. Selbiges gilt auch für die Malerei und den Film.178 Todessymbole aus der Kunstgeschichte wurden in den ersten Kapiteln angeführt. Der zeitgenössische Betrachter war sich der Bedeutung der leeren Trinkgefäße und welkenden Blumen auf Vanitas-Gemälden bewusst (es handelt sich eben nicht um schlichte Ikons, die Wirklichkeit abbilden; wenn man die Codes entschlüsselt, haben sie mehr zu ‚sagen‹) auch ohne die Beigabe des eindeutigsten Symbols, des Totenschädels; Ein tanzender Transi oder ein Skelett mit einem Stundenglas in der Hand sind zwar in ihrer Symbolik nicht schwer zu entschlüsseln, aber nicht jedem mag es sich erschließen, dass sie sich mahnend an den Betrachter richten, ihm sagen wollen, dass seine Zeit auf Erden abläuft. Rückgriffe auf Darstellungen des Todes aus der Kunstgeschichte müssen dem heutigen Betrachter bekannt sein, damit sie ihm überhaupt als solche auffallen, man denke nur an die Parallele zwischen Zombie und Transi. Natürlich können Fotografie und Film mit solchen Rückgriffen arbeiten. Zu diesen traditionellen Todessymbolen gesellen sich aber auch neue dazu, die hauptsächlich aus dem heutigen Umgang mit dem Tod (bspw. die Krankenhausumgebung) resultieren. Neben der Symbolik bestehen zugleich indexikalische Verweise auf die realen Referenten und die Bilder sind (wie alle Bilder) Ikons. Die vielen Ebenen einer Fotografie zeigen sich in der umstrittenen AIDS-Kampagne der Firma Benetton aus dem Jahr 1992.179 174 175 176 177 178 179

Barthes, Roland: Die helle Kammer, S. 35/36. Vgl. Koch, Gertrud: »Der unsterbliche Körper – Kino und Todesangst«, S. 37. Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer, S. 35ff. Blanke, Börries: Vom Bild zum Sinn, S. 12. Vgl. Ebd., S. 12. Frare, Thérèse (SW-Foto)/Rhoney, Ann (Kolorierung)/Toscani, Oliviero (Konzept): Pietà (1992), Werbekampagne für United Colors of Benetton.

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Abbildung 4: Pietà, AIDS-Kampagne Benettons, 1992

Quelle: United Colors of Benetton/Oliviero Toscani, Foto: Thérèse Frare/Kolorierung: Ann Rhoney

Die Aufnahme mit dem Namen Pietà (Abbildung 4) zeigt die letzten Momente des bereits sehr geschwächten AIDS-Aktivisten David Kirby im Kreis seiner Familie. Der Hausfotograf Oliviero Toscani äußerte sich zu dem Bild: »I called the picture of David Kirby and his family ›La Pietà‹ because it is a Pietà which is real. The Michelangelo’s Pieta during the Renaissance might be fake, Jesus Christ may never have existed. But we know this death happened. This is the real thing.«180 Benetton gab als Begründung für die Kampagne an, die Öffentlichkeit für diese gefährliche Krankheit aufmerksamer machen zu wollen. Kritiker stießen sich an einer Ausbeutung eines schwer Kranken für Werbezwecke.181 In jedem Fall ist die Fotografie ein Ikon David Kirbys, das auch über seinen Tod hinaus weiter existiert. Ein Index besteht im Verweis auf den real existierenden Menschen. Die Symptome der schweren Krankheit verweisen außerdem indexikalisch auf seinen bevorstehenden Tod: »Cause and effect instantiate a general law but nonetheless are dyadically, existentially connected. The symptom in a particular case is therefore an index of the disease that is its cause. To be sure, knowledge of the causal relation in general is required to identify the individual instance as being a symptom; but that neither makes the individual occurence a symbol nor the causal law a convention.«182

Im realen Leben ist der Kranke kein Symbol für den Tod, obwohl man Kenntnisse über seinen Zustand haben muss, um diesen zu verstehen. Die Fotografie macht ihn aber dennoch zu einem solchen, ebenso wie seine Umgebung, das Krankenbett, etc. Durch die Fixierung der Fotografie wird der Mensch zu einem Ikon gemacht, das den Lauf der Zeit überdauert – und sich somit auch vom realen Menschen unterscheidet. Durch die Abbildung wird der Mensch (im Sinne Bazins und der Übertragung vom Menschen auf eine Terrakottastatue) also dahingehend transformiert, dass man ihn, bei entsprechendem Kontext, auch als ein Symbol auffassen kann. Er wird auf eine Bühne erhoben, wie es sich am Beispiel eines Hollywoodstars, der zum Sexsymbol deklariert 180 Macleod, Duncan: »Benetton Pieta in AIDS campaign«, in: The Inspiration Room vom 7. April 2007, /(Abgerufen 06.01.2019). 181 Vgl. ebd. 182 Short, T. L.: Peirce’s Theory of Signs, S. 230.

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wird, leicht verstehen lässt. Da das Symbol, zu dem der abgebildete David Kirby wurde, aber gleichzeitig die Ähnlichkeit des Ikons zu ihm und den Index beinhaltet, der den Betrachter darin bestätigt, dass es diesen Menschen wirklich gegeben hat – berührt es einen mehr als es ein übliches Symbol täte, das allein der Konvention entstammt. In seiner Ähnlichkeit zu Jesus Christus wird David Kirby zudem erhöht und scheint für einen guten Zweck gestorben zu sein: die Warnung vor einer tödlichen Krankheit. Seine Symbolfunktion verstärkt sich damit noch, da er nicht nur als Todessymbol, sondern auch als das einer Rettung der Nachwelt fungiert. Die Fotografie kann auch aus ihrer technischen Beschaffenheit heraus, ganz unabhängig vom Motiv, immer nur symbolisch arbeiten: Parallele Linien wie Schienen oder Häuserreihen erscheinen auf einem Foto nicht parallel. Die echte Welt ist dreidimensional, die Fotografie jedoch nur zweidimensional. Sie ist in diesem Sinne ein Symbol der realen Welt, da Tiefe (oder beispielsweise auch Bewegung) nur angedeutet werden können. Mit der Gesetzmäßigkeit, dass eine Sache eine andere bedeutet, muss der Betrachter vertraut sein. Auf Grund unserer Sehgewohnheiten geschieht dies jedoch automatisch.183 All dies ergibt sich ohne Einfluss eines Fotografen aus der Fotografie selbst, der Art wie sie die Wirklichkeit einzufangen vermag.184 Ähnliche Erfahrungen macht Erwin Panofsky im Hinblick auf die Zentralperspektive: »Die ganze ›Zentralperspektive‹ macht, um die Gestaltung eines völlig rationalen, d.h. unendlichen, stetigen und homogenen Raumes zu gewährleisten zu können, stillschweigend zwei sehr wesentliche Voraussetzungen: zum Einen, daß wir mit einem einzigen und unbewegten Auge sehen würden, zum Anderen, daß der ebene Durchschnitt durch die Sehpyramide als adäquate Wiedergabe unseres Sehbildes gelten dürfe. In Wahrheit bedeuten aber diese beiden Voraussetzungen eine überaus kühne Abstraktion von der Wirklichkeit (wenn wir in diesem Falle als ›Wirklichkeit‹ den tatsächlichen, subjektiven Seheindruck bezeichnen dürfen). Denn die Struktur eines unendlichen, stetigen und homogenen, kurz rein mathematischen Raumes ist derjenigen des psychophysiologischen geradezu entgegengesetzt: ‚Die Wahrnehmung kennt den Begriff des Unendlichen nicht; sie ist vielmehr von vornherein an bestimmte Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit und somit an ein bestimmt abgegrenztes Gebiet des Räumlichen gebunden.«185

Es wird, Erwin Panofsky zufolge, etwas Künstliches geschaffen, das der natürlichen Weltwahrnehmung entgegensteht. Es handelt sich um einen konstruierten Raum, der

183 Dank unserer Sehgewohnheiten erkennen wir auch einen Menschen auf einem Foto so selbstverständlich, als würden wir ihn durch ein kleines Fenster betrachten – die Konnotation, die wir dabei leisten ist uns nicht bewusst. Philippe Dubois macht die Codes jedoch am Beispiel einer Buschmann-Frau deutlich, die ihren eigenen Sohn auf einem Foto nicht erkennt: »Damit die Eingeborene das Foto begreift, müssen zunächst einmal die Codes versprachlicht werden, die an seiner Komposition beteiligt sind. Das fotografische Dispositiv ist also durchaus ein kulturell codiertes Dispositiv«. Dubois, Philippe: Der fotografische Akt, S. 46. 184 Zusätzlich gibt es natürlich noch beabsichtigte Effekte wie unterschiedliche Blickwinkel, Belichtungszeiten, Ausleuchtungen der Szene usw. 185 Panofsky, Erwin: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin: Bruno Hessling Verlag 1974, S. 101.

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im Kopf des Betrachters entsteht und der so in der Wirklichkeit nicht existieren könnte. Dies gilt für die Malerei, die Fotografie und selbstverständlich auch für den Film. Jacques Aumont bemerkt dazu: »Wie die Malerei setzt auch die fotografische Abbildung die Wahl eines Ortes für das Kamera-Auge voraus und ebenso eine gute Platzierung des Gegenstandes. Darüber hinaus ist das Objektiv im Allgemeinen so konstruiert, dass es automatisch ein Bild mit zentralem Fluchtpunkt erzeugt. Auch der Film ist als fotografisches Medium bis in die Bildgestaltung hinein geradezu besessen von der Metapher des Blicks, des Point of View.«186 Beim Film muss sich der Zuschauer ebenso im eigenen Kopf Räume konstruieren. Alles, was ihm hierfür zur Verfügung steht, sind einzelne Kameraeinstellungen, die je einen Blickwinkel auf einen Raum wiedergeben. Neben der Zentralperspektive werden dem Zuschauer auch verschiedene Figurenperspektiven (Points of View) geboten, die nicht zwangsläufig an den wirklichen räumlichen Blickwinkel der Figuren gebunden sein müssen. Kinogänger sind schon so daran gewöhnt, den Kamerablick einem Figurenblick zuzuordnen, dass ihnen nicht einmal mehr auffällt, dass dies keiner natürlichen Wahrnehmung entspricht. Das Kapitel 2.3.1 wird dies wieder aufgreifen. Sieht man von der fragwürdigen Intention Benettons für die Kampagne ab, kann man zugestehen, dass das erschreckende Bild eines AIDS-Todes so einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wurde, der es bislang nicht vertraut gewesen sein dürfte. Der aufsehenerregende Tod eröffnet sich einem Massenpublikum, im privaten Bereich wird er aber eher verdrängt: Der in die Zukunft gesetzte Tod ist laut Baudrillard ein Mythos (er gehört dem Imaginären an),187 da man weder den Zeitpunkt seines Eintreffens, noch die Art des Ablebens voraussehen kann. Das Individuum benötige diesen Mythos des eigenen Todes ebenso wie den des eigenen Ursprungs.188 Der Tod anderer wird heute seltener im privaten Bereich als über die Medien vermittelt erlebt. Dies ist »der einzige Ort, an dem Tod heute stattfindet, öffentlich und für alle sichtbar«189, so Marianne Mischke. Er liegt damit in der Ebene der Reproduktion. Statt mit dem toten Körper, so Birgit Richard, habe man es mit einem oberflächlichen, zweidimensionalen Bild zu tun.190 Damit ist Realität wieder nur durch das Foto oder den Film medial symbolisiert und der starke Index, etwa auf einen schockierenden Unfalltod, ist nur ein Ersatz für die wirkliche Begegnung mit dem Sterben. Der Medientod erscheint bedeutungsvoll: Schmerzen, Leid, aber auch Verwesungen und Ausdünstungen werden mit etwas Abstand, auf einem Bildschirm angedeutet oder als Zeitungsmotiv, leichter ertragen. Der Tod kann derart distanziert, gemäß Edmund Burke, sogar zu einer Quelle des Erhabenen werden.191 Der reale Tod wird weggeschoben, in die Hände von Pflegepersonal und Bestattern gegeben, obwohl der mediale Tod einen täglich umgibt.192 Der natürliche Alterstod in der Familie ist für die Gesellschaft unbedeutend, so 186 Aumont, Jacques: »Der Point of View«, Montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation. Figur und Perspektive, Nr. 2 (2007), S. 14. 187 Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 211. 188 Vgl. ebd. 252. 189 Mischke, Marianne: Der Umgang mit dem Tod, S. 200. 190 Dies erinnert an Kracauers Auffassung der Fotografie. Vgl. Kapitel 2.2.1 191 Vgl. Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, S. 40. Dies wird in Kapitel 3.1.2 ausführlicher behandelt. 192 Vgl. Richard, Birgit: Todesbilder, S. 26f.

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Baudrillard,193 nur der schockierende Tod – das gilt damit auch für die gewaltsamen Tötungen in Kapitel 3 – wird kollektiv verarbeitet bzw. gesucht. Der einmalige Tod, etwa der des AIDS-Kranken David Kirby oder der Prinzessin Diana 1997, wiederholt sich dabei in den (Massen-)Medien endlos. Ein zerbeultes Auto oder Fotos einer lebendigen und lächelnden Prinzessin von Wales, lassen die Welt gebannt vor den Bildschirmen innehalten. Der eigene zukünftige Tod wird einem bewusst, aber für den Moment hat man überlebt. Die Gesellschaft besteht weiter, sie ist in der Masse unsterblich.194 Christiane von Wahlert führt weiter aus: »Jeder Anblick eines Toten – so hat Canetti scharfsinnig erkannt – bereitet dem Lebenden, dem Überlebenden, neben Angst, Schrecken, Entsetzen und Trauer auch ein Gefühl der Überlegenheit und des Triumphes: Nicht mich, sondern den anderen hat es erwischt. Der Tod ist ein Ereignis in der Zeit. Eine Lebenszeit endet langsam oder abrupt, auf jeden Fall unwiderruflich, irreversibel und einmalig. Im Leben jedenfalls stirbt ein Mensch nur einmal – nicht so im Film.«195

Der Film kann den Zuschauer demnach nicht nur durch seinen unsterblichen Stellvertreter ›vor dem Tod retten‹, wie in Kapitel 2.1.2 diskutiert wurde, sondern auch im voyeuristischen Beobachten des Todes anderer auf Fernsehbildschirmen und Kinoleinwänden fühlt man sich im eigenen Überleben bestätigt, wie ebenfalls in Kapitel 3 ausgeführt wird. Ein Zugang zum Phänomen Tod wird einem durch Nachrichtenbilder eher nicht eröffnet, sondern es wird eine Distanz geschaffen, eine Art Abstumpfung, die aus der Überschwemmung mit solchen Medienbildern resultiert.196 »Der Mensch im 21. Jahrhundert«, so Helga Lutz, »[...] glaubt an den Anblick von Leichen gewöhnt zu sein. Die Aufnahmen eines Verkehrstoten in der Zeitung, die Nachrichtenbilder tödlich verletzter Soldaten, das Bild eines vergewaltigten Mädchens – all dies erscheint mühelos konsumierbar [...] dort, wo der Blick auf den toten Körper

193 Der schockierende Opfertod, etwa durch einen Unfall, ist entscheidender: »Der ›natürliche‹ Tod ist sinnlos, weil die Gruppe daran keinen Anteil hat. Er ist banal, weil er mit dem banalisierten individuellen Subjekt und der banalisierten Familienzelle verbunden ist und weil er nicht mehr kollektives Freud und Leid ist. Jeder beerdigt seine Toten. [...] Jede Leidenschaft flüchtet sich folglich in den gewaltsamen Tod, der allein so etwas wie das Opfer ausdrückt, das heißt, eine reale Umwandlung durch den Willen der Gruppe. Und so wird der Tod – unwichtig ob er durch einen Unfall, eine Katastrophe oder ein Verbrechen verursacht ist – von dem Moment an, in dem er der ›natürlichen‹ Vernunft entgeht und zu einer Herausforderung der Natur wird, wieder zu einer Angelegenheit der Gruppe; er verlangt eine kollektive und symbolische Antwort – in einem Wort, er erregt eine nichtnatürliche, künstliche Leidenschaft, die zugleich eine Opferleidenschaft ist.« Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 260. 194 Vgl. Richard, Birgit: Todesbilder, S. 89. 195 Wahlert, Christiane von: »Die dunkle Kammer«, S.22. 196 So auch die Habituations-Theorie Dolf Zillmanns, wie in der Einführung angeführt. Vgl. Zillmann, Dolf: »Television viewing and arousal«, S. 61.

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als vorhersehbare, codierte Facette eines wie auch immer ausgerichteten medialen Zusammenhanges auftaucht, wo er in einem bestimmten Diskurs eingebunden ist, wird sein Anblick tatsächlich selten mehr als ein kurzes Unbehagen verursachen [...]«197

Das Medium Film, damit auch das Fernsehen, ist zu unendlicher Wiederholung fähig – selbst bei einmaligen Ereignissen, wie dem Tod. Hinzu kommt die massenhafte Verbreitung der Bilder über Fernsehbildschirme oder auf der Kinoleinwand. Hierin sieht Walter Benjamin den Aura-Verlust bei den reproduzierbaren Medien verankert: sie haben keine Einmaligkeit mehr.198 Man ist so sehr an den Medientod gewöhnt, an das alltägliche Sterben und die Gewalt, dass sie einen nicht mehr berühren. Immer extremere und schlicht ungewohnte Darstellungsweisen von gewaltsamen Tötungen, so wird Kapitel 3.3 zeigen, können diese vermeintliche Sicherheit und Gewöhnung aufbrechen. Auch einzelne Tode, von den Medien dramatisch in Szene gesetzt, können immerhin mehr berühren als die der Massen. Im Wissen, dass die Botschaft vom Tod der Prinzessin Diana weltweit unzählige Menschen erreicht, wird man gewissermaßen Teil einer Art kollektiven Rituals, Teil der Trauergemeinde – selbst in der Isolation der eigenen vier Wände. Ebenso verhält es sich bei Schiffs- oder Flugzeugkatastrophen mit Einzelschicksalen und ein kleiner Rucksack eines vermissten Kindes wird schnell zum Todessymbol, wenn die Suche aussichtslos scheint. Diese Todesbilder der modernen Gesellschaft sollen Realität darstellen, mimetische Ikons der Wirklichkeit sein, mit der sie indexikalisch verbunden sind. Aber natürlich wird in den Medien tagtäglich manipuliert – und wieder hat man es mit codierten Scheinwahrheiten zu tun. Philippe Dubois dazu: »Alain Bergala attackiert etwa in seinem Text ›Le Pendule‹ die stereotypen historischen Fotos und beschreibt sie als im Grunde vollständig beherrschte und kontrollierte Fotos – gleichgültig woher sie stammen – , als Trugbilder eines weltweiten künstlichen Konsenses, als Simulakren eines kollektiven Gedächtnisses, in das sie nur das Image eines historischen Ereignisses einprägen, ein Image, das kein anderes ist als das der Macht, die es ausgewählt hat, um alle anderen Bilder zum Schweigen zu bringen.«199

197 Lutz, Helga: »Sue Fox. Proben mit dem Unerträglichen«, S. 139/141. 198 »Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura. Der Vorgang ist symptomatisch; seine Bedeutung weist über den Bereich der Kunst hinaus. Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte [...] Ihr machtvollster Agent ist der Film. Seine gesellschaftliche Bedeutung ist auch in ihrer positivsten Gestalt, und gerade in ihr, nicht ohne diese seine destruktive, seine kathartische Seite denkbar: die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe. Diese Erscheinung ist an den großen historischen Filmen am handgreiflichsten.« Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 15/16. 199 Dubois, Philippe: Der fotografische Akt, S. 45.

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Diese pseudo-wahren Medienbilder brennen sich ein, wie auch der Fall Uwe Barschel zeigt: Das Foto des CDU-Politikers, der 1987 unter bis heute ungeklärten Umständen starb und der tot in der Badewanne eines Hotelzimmers aufgefunden wurde, dürfte nur wenigen unbekannt sein. In der Abbildung jedoch geschieht etwas Sonderbares mit dem Toten, so Kunsthistoriker Peter Geimer: »Es dauerte nicht lange, und das verstörende Bild wurde gewissermaßen kulturhistorisch domestiziert, indem man es in den Kanon der klassischen Kunstgeschichte hereinholte und es einer Inkunabel der Historienmalerei an die Seite stellte: Jacques Louis Davids Tod des Marat von 1793.«200 Das schafft eine Art Friedhof in der Bilderwelt, die die Toten von der Realität trennt und in der bildhaften Ewigkeit vereint: »Im zeitlosen Jenseits der Bildgeschichte schlummern Jean-Paul Marat und der tote Ministerpräsident aus Kiel einträchtig nebeneinander.«201 Der reale Tod wird dadurch im Grunde fiktionalisiert und in einen Bedeutungskontext, eine parallele Gleichzeitigkeit, gestellt, was das traurige Einzelschicksal zugunsten eines sich wiederholenden Motivs ausblendet. Nicht der tote Barschel selbst, sondern die allseits bekannte Fotografie des Toten ermöglicht diese Parallelität zum toten Marat, der ebenfalls nur noch in seiner zweidimensionalen Bildlichkeit präsent ist. Beide Motive haben sich ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt. Der Künstler Thomas Demand machte sich genau das Nicht-vergessen-Können zunutze, indem er die Badewanne Barschels als Modell nachbaute und im selben Bildausschnitt abfotografierte (Abbildung 5). Abbildung 5: Thomas Demand: Badezimmer

Quelle: Thomas Demand/VG Bildkunst, Bonn

Das »Modell [beruht also] auf Fotografien, die [...] gleichsam zurückübersetzt werden in neue Fotografien. Durch den Umweg, den Demand dabei über seine nachgebauten Modelle geht, gelingt es ihm, gesellschaftliche Realität als interpretierbare Fiktion zu

200 Geimer, Peter: »Das Letzte«, S. 471. Gemeint ist: David, Jacques-Louis: Der Tod des Marat (1793), Öl auf Leinwand, 165 x 128 cm, Musées Royaux des Beaux-Arts Brüssel. Inventarnummer: 3261. 201 Ebd., S. 472.

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behaupten,«202 so Uta Grosenick und Burkhard Riemschneider in Art Now. Künstler zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Peter Geimer Geimer dazu: »Wie alle Fotografien Demands, so spielt auch dieses Bild in einer beunruhigenden Nachwelt, aus der die menschlichen Akteure abgezogen wurden. Nur die Dinge bleiben in ihr zurück. Der Tote ist verschwunden, das trübe Wasser steht unbewegt, die weiße Badematte lässt ihr Spiegelbild auf die blitzblanken Kacheln fallen, die Dinge sind unter sich. Einzig die Falte in der Badematte und die halb geöffnete Tür, aus der eine ungute Dunkelheit starrt, erzeugen ein Vorstellungsbild von jemandem, der sich hier aufgehalten hat und vielleicht noch einmal zurückkehrt.«203

Man könnte auch sagen, der Tod wird hier zweifach transformiert: einmal im Abfotografieren des Toten für die Presse, im zweiten Schritt im Abfotografieren des auf dem Pressefoto beruhenden Modells. Was bleibt damit vom Tod übrig? Er wird zur Kopie einer Kopie. Ein Ikon bleibt dabei erhalten, der Index hat aber sehr gelitten, da der tote Uwe Barschel im Modell-Foto nicht mehr vorhanden ist. Allerdings könnte man sagen, dass hier seine Abwesenheit auf ihn verweist. Auch ohne Toten ist die Botschaft eindeutig, das Bild, der Ausschnitt, die Badewanne wurden zu Todessymbolen. Schon die frühen Vanitas-Stillleben zeigen, dass für eine Todesassoziation kein Toter im Bild benötigt wird. Verweise auf den Tod genügen und auch Alltagsgegenstände können zu Todessymbolen werden. Eine Art Reliquienkult kann selbst noch bei verlassenen Kleidungsstücken und leeren Räumen bestehen, da diese auf einen nicht mehr anwesenden Toten verweisen können. Walther K. Lang erläutert: »Dazu bedarf es aber weiterer Hinweise oder Symbole. Leere allein drückt keinen Tod aus [...] Leere evoziert Tod, wenn zusätzliche Anzeichen die Leere als ein Nicht-mehr-Vorhandensein eines Dagewesenen, und zwar nicht eines Objektes, sondern eines menschlichen Wesens, zu erkennen geben: Abwesenheit.«204 Kennt man den Kontext, können die Spuren eines nicht mehr anwesenden Menschen ein starkes Gefühl seiner Präsenz vermitteln. Denkt man etwa an Bilder vom Holocaust, dann schnüren einem die der Leichenberge ebenso den Hals zu, wie die von gestapelten Kleidungsstücken oder Koffern. Ohne einen Toten im Bild oder traditionelle Todessymbole wie den Transi, wird eben die Umgebung (seine Kleidung oder das Krankenbett) mit der Mystik des Todes ›aufgeladen‹. Die modernen Todessymbole seit Beginn der Fotografie scheinen also die Alltagsgegenstände rund um den toten Körper zu sein, sie sind daher in erster Linie indexikalisch. Dieses Kapitel hat gezeigt, dass die Fotografie zwar mechanisch Realität abbildet, dass das Verhältnis zu Realität oder Wahrheit aber weit komplexer ist. Die Transformation von echter auf eine Leinwandrealität beinhaltet allerlei Verfremdungen, (un)beabsichtigte Hervorhebungen und neue Bedeutungsebenen. Durch die Abbildung entstehen Parallelen zu anderen Abbildungen, ein Mensch kann zu einem Symbol werden, eine unvoreingenommene Wiedergabe von Realität, die keine weiteren Bedeutungen mit sich trägt, ist unmöglich. Selbst ein Menschenkörper, so wird das 202 Grosenick, Uta/Riemschneider, Burkhard (Hg.): Art Now. Künstler zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Köln: Taschen Verlag 2005, S. 80. 203 Geimer, Peter: »Das Letzte«, S. 473. 204 Lang, Walther K.: Der Tod und das Bild, S. 142.

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Kapitel 3.1.3 zu Körpersemiotik noch konkreter herausarbeiten, wird in der Abbildung zu einem Bedeutungsträger, er wird, wie die (Vor-)Urteile ihm gegenüber, fixiert. Anders als die Malerei, beinhaltet die Fotografie außerdem einen Index, der auf etwas verweist, das wirklich vor der Kamera vorhanden war. Dies lässt sich in den Zeiten digitaler Bilder und Photoshop-Bildbearbeitungen anzweifeln, aber die Idee von bewahrtem echten Leben, von einem in der Zeit eingefrorenen Menschen, den man wie durch ein Tor in die Vergangenheit betrachten kann, bleibt dennoch bestechend. Dies gilt insbesondere für geliebte Menschen, aber auch realhistorische Ereignisse, die man größtenteils über die Bildmedien mitverfolgt. Selbst Hinterlassenschaften eines Menschen, wie Kleidungsstücke, verweisen auf Fotografien auf dieses nicht mehr vorhandene Menschenleben. Dies wird nie mit gemalten Menschen, Räumen oder Kleidungsstücken vergleichbar sein, die nur der Phantasie eines Künstlers entsprangen. Allein die Tatsache, dass fotografische Medien zu diesem Realitätsbezug und der (vermeintlichen) Speicherung echten Lebens im Stande sind, gibt ihnen ein besonderes Gewicht – selbst dann noch wenn sie offenkundig Fiktives darstellen. Sie wirken so echt, dass man sich dieser Illusion hingeben will. Die scheinbar perfekte Abbildung eines Menschen, im Film auch noch bewegt, lässt ihn ewig jugendlich tanzen und lachen, selbst wenn im echten Leben alles vergeht 2.2.3 Der Tote und der entscheidende Todesmoment in der Fotografie Natürlich kann die Fotografie auch einen Toten bewahren. Die Postmortem-Fotografie war ein wichtiger Bestandteil der Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts, so Isabel Richter. Die gängigsten Darstellungsweisen waren der Tote als Schlafender im Leichenbett oder die Verlebendigung eines sitzenden oder stehenden Toten, dem – mit Stützvorrichtungen und rosig bemalten Wangen – der Anschein von Leben gegeben wurde. Oftmals muss man zweimal hinsehen, ehe man erkennt, dass es sich jeweils um einen Toten handelt. Blumengestecke oder eine etwas eingesunkene Körperhaltung können Aufschluss geben, 205 doch mit letzter Sicherheit sagen lässt es sich rückblickend oftmals nicht. Leben und Tod liegen in der unbewegten Fotografie nah beieinander: Wo der liegende Mensch mit geschlossenen Augen ebenso gut nur schlafen könnte, könnte der aufgerichtete und präparierte Tote ebenso gut noch am Leben sein. Zwischen der fotografischen Momentaufnahme und einem Zustand ewiger Stille, gibt es keinen Unterschied – die Fotografie stellt alle totenstill. Eben dies schafft auch den einnehmenden Kontrast zwischen toten und noch lebenden Familienmitgliedern, die auf einer Fotografie vereint sind. Die Ähnlichkeit von Geschwistern etwa, die einen aufrecht und neugierig, die anderen eingesunken und von vorangegangener Krankheit ausgemergelt, bildet auch ein Geschwisterpaar von Leben und Tod. Im nachfolgenden Bild (Abbildung 6) dagegen, ist der Patriarch einer Familie ein letztes Mal im Kreise seiner Angehörigen stehend festgehalten. Hierfür wurde er – ganz praktisch gedacht – mit einem Seil an ein Brett gebunden und der Kopf mit Kissen gestützt.206

205 Vgl. Richter, Isabel: Der phantasierte Tod, S. 257ff. 206 Unbekannt: Patriarch (ca. 1875), Carte de Visite, The Thanatos Archive, Duvall, WA.

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Abbildung 6: Unbekannt: Patriarch, Carte de Visite, ca. 1875

Quelle: The Thanatos Archive

Die Postmortem-Bilder dienen der Erinnerung an einen verstorbenen, geliebten Menschen. In einer Zeit, in der die Fotografie noch nicht so alltäglich war wie heute, handelt es sich oft um die einzige Aufnahme eines Menschen, die Art wie man ihn für immer bewahren konnte. Dies könnte auch im obigen Beispiel der Fall sein: Der Patriarch sollte immerhin als Toter, für das vielleicht erste und einzige Familienportrait, ein letztes Mal seine übliche Rolle als Familienoberhaupt einnehmen. Damals war es üblich, die Sterbenden in ihren letzten Tagen zu begleiten. War dies nicht möglich, so bildeten die Fotografien auch eine Linderung, einen Ausgleich zur verpassten Sterbebegleitung. Audrey Linkman dazu in Photography and Death: »The living brought solicitude, physical care and emotional support to the dying. In return, the witnessing of death could provide a powerful lesson and, at best, reassurance for the living. For those denied the ›privilege‹ of attendence at the deathbed, a post-mortem portrait may have offered a form of proxy admission to the theatre of death and so provided some measure of consolation.«207

Abbilder von Toten bieten ursprünglich einmal, so Kristin Marek in Der Leichnam als Bild – Der Leichnam im Bild: »[...] den versehrten kollektiven Ersatzkörper an, weil noch nicht offen(er)sichtlich sein soll, dass ein menschlicher Körper tot und darum unwiederbringlich verloren ist – wenigstens in materiellkörperlicher Hinsicht. Zumindest auf dieser stofflichen Ebene findet immer ein Tausch statt: Ein Bildkörper gibt dem toten Körper ein Medium, um erscheinen und präsent bleiben zu können.«208

207 Linkman, Audrey: Photography and Death, S. 16. 208 Marek, Kristin: »Der Leichnam als Bild – Der Leichnam im Bild«, S. 296.

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Anders als diese ursprünglichen Kultgegenstände sind Fotografien von Toten gemäß Marek Abbilder der Abbilder von Lebenden und damit im Grunde Verdoppelungen des Todes, denn bereits »[...] der Leichnam ist Anwesenheit und Abwesenheit in einem [...] Ein Leichnam produziert rein körperliche Gegenwärtigkeit im Modus der ›absoluten‹ Ähnlichkeit [...] der Leichnam [ist] reine Ähnlichkeit und nicht mehr [...]«209 Dies betont stärker den ikonischen Charakter der Fotografie als den indexikalischen. Die Kopie einer Kopie des Todes lässt diesen damit immer weiter in die Ferne rücken. Ein eher indexikalischer, statt ikonischer Bezug zur Realität, zu ihrer ›Dinghaftigkeit‹, kann diese Problematik allerdings teilweise aushebeln, wie das Kapitel 3.1.5 ausführen wird. Die Pflege eines Sterbenden machte seiner Familie dessen Tod erträglicher, eine Postmortem-Fotografie schien wenigstens die Gewissheit zu bergen, dass er friedlich und ohne Qualen dahingeschieden war, die Verbindung zum abwesenden Menschen blieb teilweise erhalten.210 Wenn jemand stirbt, so Katharina Sykora, gebe es eine kurze Phase, in der der Tote einen Bildstatus habe und durch das Waschen, Bekleiden und Aufbahren auch schön sein könne, ehe er durch den Verfallsprozess der Verwesung im Sinne Karl Rosenkranz’ hässlich werde:211 »Am Anfang steht der Umschlag vom lebendigen, selbstbestimmten Menschen zu seinem toten Derrivat, das die Gewissheit seiner Deformation und Entmaterialisierung birgt und im Sinne von Rosenkranz tendenziell hässlich ist. Aus ihm kann durch die postmortale Gestaltung der schöne Leichnam entstehen, der in den ästhetischen Parametern des Todesschlafs ein friedliches Bild ergibt. Und die Metamorphose endet schließlich mit der Zersetzung des Kadavers, der aus diesem schönen, die ehemalige Einheit des lebendigen Körpers fingierenden Bild hervorgeht und es zugleich annulliert. Die Fotografie ist hier ein privilegiertes Medium. Durch ihre indexikalische Verfasstheit ist sie in der Lage, ein Bild des toten Körpers zu schaffen, das als Abdruck oder Spur begriffen wird, und es unbegrenzt zu reproduzieren. [...] Sie greift mit ihrem punktuellen Schnitt durch Raum und Zeit bei gleichzeitiger Verstetigung dieses Augenblicks genau in jenen prekären Zeitrahmen ein, in dem der Leichnam noch die Möglichkeit hat, schön oder hässlich zu sein. Der Moment, in dem das Foto entsteht, entscheidet darüber, ob wir einen integralen oder einen zerstörten Körper sehen Mit ihren ästhetischen Mitteln kann die Fotografie zudem den ganzen wie den desintegrierten Körper als hässlich oder schön gestalten.«212

Die Fotografie – und natürlich auch der Film – schaffen als Abbilder der Toten eine endlos wiederholbare Auseinandersetzung mit dem Tod, wie schon im Hinblick auf die Massenmedien besprochen wurde. Anders als bei diesen, gibt es bei den Postmortem-Fotografien aber einen persönlichen Bezug. Es geht nicht um Schreckensbilder von toten Unbekannten, sondern um tröstliche Erinnerungen an geliebte Verwandte, die kein Entsetzen auslösen. Zudem friert die Postmortem-Fotografie einen Menschen ein, bevor Verwesungsprozesse einsetzen können, statt die Phasen dieser Zersetzung sichtbar zu machen, wie es der Film (auch andeutungsweise bei Transi-/Zombiegestalten) vermag. Der Tod als beruhigender Moment, nicht erschreckender Prozess wird 209 210 211 212

Ebd., S. 299. Vgl. Linkman, Audrey: Photography and Death, S. 17. Vgl. Sykora, Katharina: Die Tode der Fotografie II, S. 98. Vgl. außerdem Kapitel 2.1.2 Sykora, Katharina: Die Tode der Fotografie II, S. 98/99.

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präsentiert, wie auch letztendlich das fertige Skelett weniger Schrecken auslöst als der unfertige Transi im Übergang. Bewegung und Stillstand doppeln sich demnach im Motiv und dem Medium selbst. Zwar war im vorangegangenen Kapitel von den Codes die Rede, die den realen Tod in einer Fotografie abstrahieren, aber unsere Sehgewohnheiten – und noch mehr die Illusionspotentiale des Films – verwischen die Spuren des Künstlichen. Was übrig bleibt ist der von Barthes beschriebene direkte (da indexikalische) Zugang zu einem Menschen aus der Vergangenheit, das Gefühl, es mit einem echten Körper, nicht nur einem Bild zu tun zu haben, was sich auch in digitalen Bildern erhält.213 Das Bestechende daran ist die Tatsache, dass insbesondere audiovisuelle Medien einen Teil einer Person wirklich dauerhaft speichern, neben dem Abbild selbst auch typische Gesten oder die Stimme. Martin Schulz präzisiert dies: »Stets wird etwas vom Körper losgelöst, auf ein künstliches Medium übertragen und extern gespeichert. Das, was einmal dem lebendigen Körper angehörte, erscheint nun als etwas Anderes, als etwas Totes und Irreales [...]«214 Auch Fiktion spielte bei den Postmortem-Fotografien eine entscheidende Rolle: Statt wie im fiktiven Film den Eindruck eines realen Todes zu erwecken, wurde hier umgekehrt häufig den Toten mit allerlei Tricks ein lebendiger Anschein verliehen, damit man sie als Lebende in Erinnerung behalten konnte. Die Möglichkeit, den Toten (und damit gewissermaßen den Tod) beliebig oft zu betrachten, war schon hier wichtiger Bestandteil der Trauerarbeit und dazu ein Memento mori, der einem die eigene Sterblichkeit vorführte. Aber immerhin wirkten die Toten auf den Postmortem-Fotos friedlich und schön – der Tod machte also keine Angst. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschwanden diese Fotografien dann fast vollständig,215 hinterließen allerdings einen prägenden Einfluss auf die nachfolgende Fotografie. Isabel Richter dazu: »[...] die Toten können beim Anblick eines Photos nie ganz verschwinden. Diese säkularisierte Form der Unsterblichkeit setzt sich deutlich von christlichen Jenseitsvorstellungen ab. Möglicherweise nimmt die Postmortem-Photographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Phantasma der Unsterblichkeit vorweg, das das 20. Jahrhundert so nachhaltig prägen wird. Die Toten, deren Platz in einem christlichen Jenseits nicht mehr gewiss ist, leben in uns weiter – ein Phänomen, das der Kulturwissenschaftler Thomas Macho auch als moderne Form der Besessenheit interpretiert hat.«216

Die hier angesprochene Unsterblichkeit in der Fotografie wurde in Kapitel 2.1.2 bereits für den Film besprochen, in dem die Figur als Stellvertreter für den Zuschauer ewig lebt und in Kapitel 2.2.2 für die Tode in den Massenmedien, während man selbst wenigstens jeweils für den Moment überlebt. Bei der Postmortem-Fotografie sind es Tote, die vor dem Verfall geschützt werden, um so die Hinterbliebenen zu beruhigen. Seitdem der Glaube an die unsterbliche Seele im Himmel zurückgegangen war, klammerte

213 Die Erfahrung eines anderen Körpers über das Medium wird in Kapitel 3 für das Beiwohnen körperlichen Leids besonders relevant. 214 Schulz, Martin: »Die Sichtbarkeit des Todes in der Fotografie«, S. 402/403. 215 Vgl. Richter, Isabel: Der phantasierte Tod, S. 257ff. 216 Richter, Isabel: Der phantasierte Tod, 297.

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man sich ans Leben und wollte auch seine Verwandten und Ehepartner dauerhaft ans Diesseits binden – und zwar möglichst so menschlich und lebendig wie man sie kannte. Neben dem ewigen Zustand kann die Fotografie auch den entscheidenden Augenblick des Todes zeigen, da sie ein Medium ist, das schnell auf Situationen reagieren kann. Der Fotograf muss lediglich im richtigen Moment den Auslöser betätigen. Um einen Augenblick festzuhalten, muss eine Bewegung fixiert werden. Der Moment, in dem ein Gewehrschuss einen Soldaten trifft und ihn zurückschleudert, ist ein passendes Beispiel,217 während seine Arme sich zu den Seiten werfen und der Blick sich weitet, ehe er zu Boden fällt und bewegungslos liegen bleibt. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Bewegungsstudien des Fotografen Eadweard Muybridge, der mit Hilfe der Chronofotografie218 einzelne Bewegungsphasen einfror und sie dann in Reihung wieder in Bewegung versetzte. 1872 sollte Muybridge den Beweis erbringen, dass sich bei einem galoppierenden Pferd zu einem bestimmten Zeitpunkt alle vier Hufe in der Luft befänden.219 Hierzu stellte er entlang einer Pferderennstrecke zwölf Kameras auf und spannte, ausgehend von den Kameraverschlüssen, quer über die Bahn Fäden, die von den vorbei galoppierenden Pferden nacheinander zerrissen wurden, was die Verschlüsse auslöste.220 Den Kameras gegenüber wurde eine Holzwand aufgestellt, auf der, im gleichen Abstand wie zwischen den Kameras, 53 Zentimeter, nummerierte Markierungen angebracht waren. Die Belichtungszeit bei dieser Serienfotografie lag bei etwa 1/1000 Sekunde.221 Nach vorangegangenen gescheiterten Versuchen war dieser nun erfolgreich. Die Reihenfotos zeigten, dass bei einem Pferd im Galopp für einen kurzen Augenblick alle vier Beine in der Luft sind, nämlich wenn Vorder- und Hinterbeine unterhalb des Bauches zusammengehen. Zum ersten Mal war es möglich, das zu sehen, was dem trägen menschlichen Auge bisher entgangen war. Die einzelnen Bewegungsphasen waren eingefroren und konnten nachvollzogen werden. Alle bisherigen Darstellungen von Pferden im schnellen Lauf waren damit widerlegt, denn bei diesen waren stets die Vorderbeine nach vorne und die Hinterbeine nach hinten gestreckt gewesen, was den Malern am logischsten

217 Der Kriegsfotograf Robert Capa bietet einen solchen Moment mit seinem berühmt gewordenen Loyalistische[n] Soldat[en] im Moment seines Todes von 1936: Der republikanische Soldat ist in dem Moment festgehalten worden, in dem die Kugel ihn getroffen hat. Er fällt nach hinten um und streckt die rechte Hand mit dem Gewehr weit von sich. Jahre lang wurde darüber debattiert, ob die Fotografie den Anarchisten Federico Borrell García im Moment des Todes zeige, wo die Aufnahme entstanden sei und ob es sich um eine Inszenierung handle. Vgl. bspw. Rohter, Larry: »New Doubts Raised Over Famous War Photo«, in: The New York Times vom 17. August 2009, https://www.nytimes.com/2009/08/18/ arts/design/18capa.html (Abgerufen 13.01.2019). 218 Dies bezeichnet eine Hochgeschwindigkeitsfotografie, die schnelle Bewegungen in mehreren Bewegungsphasen einfriert, um sie für das menschliche Auge sichtbar zu machen. 219 Vgl. Puttkamer, Jesco von: »Illustrierte Chronik zur Bewegungsdarstellung in der Photographie«, S. 234. 220 Vgl. Stelzer, Otto: Kunst und Photographie, S. 109f. 221 Vgl. Puttkamer, Jesco von: »Illustrierte Chronik zur Bewegungsdarstellung in der Photographie«, S. 235.

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erschien, weil es die Dynamik der schnellen Vorwärtsbewegung beinhaltete.222 Erstmals bekam man eine Vorstellung davon, wie ein Bewegungsablauf wirklich aussah und konnte die aneinander gereihten fixierten Augenblicke zu einer kontinuierlichen Bewegung ergänzen. Sich einen solchen Bewegungsablauf vorzustellen, entspricht inzwischen den Sehgewohnheiten, da der Film ein beliebtes Medium darstellt, das jedermann zugänglich ist. Bei der Betrachtung eines Einzelbildes, das im Bewegungsverlauf aus der Zeit gerissen wurde (wie dem Beispiel mit dem erschossenen Soldaten), ergänzt man dadurch automatisch die restliche Bewegung. In Reihung oder sogar filmisch (wieder) in Bewegung versetzt, kann so der Tod nicht nur als ein Zustand oder Augenblick, sondern als Prozess, als Sterben, als Todeskampf, wiedergegeben werden,223 wie auch für Kapitel 3 relevant wird, da diese Übergänge vom Publikum somatisch wirksamer erfasst werden, als Zustände. Der Fotograf Henri Cartier-Bresson (1908-2004) prägte den Begriff entscheidender Augenblick und beschrieb seine Arbeit folgendermaßen: »Den ganzen Tag ging ich mit angespannter Aufmerksamkeit herum, um auf den Straßen gleichsam in flagranti meine Bilder zu erjagen. Ich wollte vor allen Dingen in einem Bilde den wesentlichen Kern einer vor mir abrollenden Szene einfangen.«224 Dies erinnert stark an den fruchtbaren Augenblick, den Gotthold Ephraim Lessing in einem Werk erfüllt sah, das in einem einzigen Augenblick eine ganze Geschichte erzählt und dennoch der Phantasie des Rezipienten Spielraum lässt.225 Es handelt sich also um eine idealisierte Darstellung, bei der die Aussagekraft hinter einer realistischen Fixierung einer Bewegung zurücktritt: »Dem vergänglichen Augenblick der Handlung [sollten] zeitlose moralische Größe und ideale Schönheit gegenüber[stehen].«226 Exemplarisch hierfür ist hierfür die Laokoongruppe,227 die den Todeskampf des Priesters Laokoon und seiner Söhne darstellt, den eindrücklichen Moment also, in dem noch nicht über Leben und Tod entschieden ist. Cartier-Bresson ging es ebenso wenig um zufällige fotografische Schnappschüsse. Er gibt an: »›Für mich besteht die Fotografie im gleichzeitigen, blitzschnellen Erkennen der inneren Bedeutung einer Tatsache einerseits, und auf der

222 223 224 225

Vgl. Stelzer, Otto: Kunst und Photographie, S.110. Vgl. Kapitel 2.3 Cartier-Bresson, Henri: »Der entscheidende Augenblick, S. 6. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, Ditzingen: Reclam Verlag 2006 [1766], S.22ff. Juliane Rebentisch argumentiert in Ästhetik der Installation dagegen weniger im Sinne eines idealen Kunstobjekts. Die ästhetische Erfahrung beruhe vielmehr auf einem performativen Ereignis, das sich zwischen Subjekt und Objekt vollziehe. Vgl. Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2003, S. 68f. Dies nimmt die Überlappung von Leinwand- und Zuschauerraum im Sinne des Leihkörpers in Kapitel 3.1.5 bereits gedanklich vorweg. 226 Pochat, Götz: »Zeit/Los – zur Kunstgeschichte der Zeit«, in: Aigner, Carl/Pochat, Götz/Rohsmann, Arnulf (Hg.), Zeit-Los – Zur Kunstgeschichte der Zeit, Köln: DuMont Buchverlag. Köln 1999. [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Kunsthalle Krems. 30. Mai – 3. Oktober 1999], S. 9-96, hier S. 70. 227 Hagesander/Athanodorus/Polydoros: Laokoongruppe (späteres 1. Jahrhundert v. Chr., Nachbildung aus hellenistischem Original von ca. 200 v.Chr., gefunden 1506), Marmor, Höhe: 2,25m, Vatikanische Museen, Rom, Inventarnummer 1059.

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anderen Seite des strengen und rückhaltlosen Aufbaus der optisch erfassbaren Formelwelten, die jene Tatsache zum Ausdruck bringt.‹«228 Der so eingefangene Moment ist ein ›point of no return‹, er ist nicht wiederholbar und gerade deshalb so kostbar.229 Beim Einfangen einer Sterbeszene durch einen Fotografen ist dieser ›point of no return‹ sogar noch stärker, da man sich nicht mit Inszenierungen behelfen kann. Allein die inszenierte Fotografie kann aber intentional Bedeutung in eine Aufnahme legen. Der (fiktionale) Film, so wird das Kapitel 3 zeigen, kann durch seine Bewegungsfähigkeit und auditive Eindrücke das Publikum derart involvieren, dass gerade ein Todeskampf wie der Laokoons – nicht als Höhepunkt nun, sondern in seinem Ablauf – äußerste Anteilnahme, Lebendigkeit, in ihm auslösen kann. Die Fotografie vermag, so hat dieses Kapitel gezeigt, Tote vor dem Verfall zu schützen, wie die Mumien Bazins. Man kann so Angehörige bewahren, aber auch den Tod betrachten, ohne den abjekten Schrecken von Verwesung und Ausdünstungen ausgesetzt zu sein. Der entscheidende Augenblick der Fotografie, der die größtmögliche Aussagekraft enthält, geht im bewegten Film verloren,230 weil Bilder einander so schnell ablösen, dass man das Einzelbild nicht wahrnimmt und keine Zeit bekommt, inne zu halten. Was die Fotografie größtenteils in einem einzelnen Bild ausdrücken soll, schildert der Film in (augenscheinlich) bewegten Handlungen, in aufeinanderfolgenden Abläufen. Eine ganze Geschichte in einem einzelnen Bild zu verankern, ist entsprechend schwieriger, insbesondere bei einem schwer zu fassenden Thema wie dem Tod. Inszenierte Bilder bieten dagegen neue Möglichkeiten, die sich dem fiktionalen Film stark annähern. Hier lösen sich die fotografischen Medien, die dazu geschaffen wurden Realität abzubilden, von der reinen Mimesis und kreieren etwas Eigenständiges. Natürlich kann jeder Fotograf eine Szene in der Natur als bewahrenswert erkennen, das Licht nutzen, die vorherrschende Stimmung einfangen. Aber allein die Inszenierung vermag – ähnlich den durchkomponierten Vanitas-Stillleben – jedes Element auf dem Bild zu bestimmen und gezielt zu nutzen, ohne vom Zufall abhängig zu sein. Dies ist für das folgende Kapitel relevant. 2.2.4 Fotografien des Unsichtbaren – Die Bildfolgen von Duane Michals In den oben genannten Beispielen wurden zwar der Tote oder der Sterbende im Todesmoment gezeigt, nicht aber der Tod. Es wird abermals klar, dass sich dieser nicht direkt darstellen lässt. Man kann sich ihm immer nur annähern. Hier kann Inszenierung der entscheidende Schlüssel sein: Um Bilder zu schaffen, die es eher in der Vorstellung als der Realität gibt.

228 Kemp, Wolfgang: Geschichte der Fotografie. Von Daguerre bis Gursky, München: Verlag C.H. Beck 2011, S. 70. 229 Ziegler, Ulf Erdmann: Magische Allianzen. Fotografie und Kunst, Regensburg: Lindinger + Schmid Verlag 1996, S. 30. 230 Dies gilt bis auf wenige Ausnahmen, wie den Freeze Frame, der die unbewegte Fotografie in den bewegten Film zurückbringt. Vgl. Kapitel 2.3.2

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Die Fotografie kann, neben der Kopie der Wirklichkeit, auch Dinge andeuten, die über das Sichtbare und Dagewesene hinausgehen. In der wohl einfachsten Variante, einer Mehrfachbelichtung, kann ein Mensch vielfach in einem Bild auftauchen, oft nur schemenhaft wie ein Geist. Alles auf dem Bild Sichtbare ist manipulierbar und es lässt sich sogar der Eindruck erwecken, man könne die Grenze zwischen Leben und Tod durch die Fotografie überwinden. Isabel Richter dazu: »Zu dieser Phantasie hat sicherlich auch das Medium Photographie selbst beigetragen, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch die spiritistische Photographie und sogenannte ›Geisterphotographie‹ kannte. ›Geister‹ und photographische Doppelgänger waren zunächst das Ergebnis technischer Störungen durch Unterbelichtung oder Doppelbelichtung. Doch die spiritistische Photographie war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein verbreitetes Phänomen, weil die Photographen sehr schnell verstanden, daraus auch kommerziellen Gewinn zu erzielen [...] Geister- wie Leichenphotographie geht es um die Wiederbelebung der Toten durch visuelle Repräsentation.«231

Die Fotografie bildet hier nicht nur das Sichtbare ab, sondern bringt auch das Unsichtbare zum Vorschein. Im selben Kontext ist auch die Röntgenfotografie Ende des 19. Jahrhunderts anzusiedeln, so Richter. Neben dem offensichtlich Sichtbaren, sollte die Geister- und Leichen-Fotografie auch die Psyche232 eines Menschen einfangen können, ihn in seinem ganzen Wesen erhalten und in der perfekten Repräsentation unsterblich machen.233 Jahrzehnte später greift der Fotograf Duane Michals diese Gedanken wieder auf und schafft Fotosequenzen, die thematisch zwischen Leben und Tod angesiedelt sind. Das Einzelbild entfaltet erst in der Folge der übrigen seine Bedeutung, die, wie bei den Totentänzen, oft noch durch einen beigegebenen Text bzw. einen ausführlichen Titel bestimmt ist. Allein schon durch den Text wird das im Bild Sichtbare überschritten. »Der Text«, so Söke Dinkla, »ermöglicht es Michals, zwei semantische Systeme, zwei Systeme der Bedeutungskonstitution und damit der Konstitution von Wirklichkeit – Text und Bild – miteinander zu verzahnen und gegeneinander auszuspielen. Mit Hilfe des Textes gelingt es ihm, die Paradoxien und inneren Widersprüchlichkeiten zu zeigen, für die sein Werk bekannt geworden ist.«234 Auch Stummfilme erhielten durch die Beigabe von Zwischentiteln ein Mehr an Bedeutung. Der moderne Tonfilm kommt auf Grund seiner gesprochenen Dialoge (manchmal zusätzlich durch Kommentare eines Sprechers ergänzt) ohne geschriebenen Text aus. Michals Bildfolgen eröffnen der Fotografie eine neue Zeitlichkeit, die dem Film schon sehr ähnlich ist. Inhaltlich sind damit Prozesse und aufeinander folgende Ereignisse möglich, nicht nur einzelne eingefrorene Augenblicke. Mit dieser Erwartungshaltung des Betrachters, der von einem Bild zum nächsten wahrscheinliche

231 Richter, Isabel: Der phantasierte Tod, S. 302/303. 232 »Dass hier von der Psyche bzw. dem Psychischen die Rede ist, hängt mit der interpretatorischen Entwicklung von der Seele zur Psyche als innerem Erfahrungsraum zusammen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzog.« Ebd., S. 303. 233 Vgl. ebd., S.303ff. 234 Dinkla, Söke: »Das Drama des täglichen Lebens«, S. 12.

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Entwicklungen des Geschehens gedanklich vorwegnimmt, spielt Michals ebenso gezielt, wie mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren in der Fotografie. Michel Foucault dazu: »Duane Michals gibt sich alle Mühe, von [der] gewichtigen Ethik des Blicks loszukommen – darin liegt seine tolldreiste, verrückte, burleske Seite. Er versucht, die, wie man sagen könnte ›Augenfunktion‹ der Fotografie aufzuheben. Daraus ergibt sich eine Reihe mehr oder weniger komplexer Spiele, in denen das Objektiv das Sichtbare immer wieder entkommen lässt, während das Unsichtbare in ungehöriger Weise auftaucht, vorübergeht und seine Spuren auf dem Film zurücklässt. Das Einfachste unter diesen Spielen besteht darin, das Verschwinden selbst zu fotografieren und in seinem Ablauf darzustellen: Der Mann, der in den Himmel geht, taucht zunächst kaum sichtbar als ein schwarzer Schatten auf, in dem sich nur der Umriss einer Schulter abzeichnet; dann erscheint einen Augenblick lang seine Nacktheit, verschwindet aber wieder, während er eine Treppe hinaufsteigt, doch diesmal in einem strahlenden Licht, das seine Form verschluckt wie der von einem Verschwundenen bewohnte Nimbus.«235

Die Bilderreihe A man going to heaven236 (1967, Abbildung 7) von der Foucault hier spricht, zeigt einen nackten Mann, der schrittweise, von Bild zu Bild, eine Treppe emporsteigt. Anfangs ist er in Dunkelheit gehüllt, aber schon auf dem zweiten Bild ist er gut zu erkennen. Ohne den erklärenden Titel wäre einigen Betrachtern die Assoziation vom Licht am Ende des Tunnels oder der leuchtenden Himmelspforte wohl entgangen. Mit dem Titel bleibt allerdings kaum Raum für Interpretationen. Der Mann taucht aus der Dunkelheit auf und verschwindet anschließend wieder im Licht. Michals knüpft damit an sehr alte Vorstellungen vom Übergang vom Leben in den Tod – damit auch an Todessymbole – an. Ein Beispiel hierfür ist die biblische Jakobsleiter,237 die diesem in einem Traum begegnet: »Da träumte ihm: Er sah eine Leiter auf der Erde gestellt, deren Spitze den Himmel berührte. Engel Gottes stiegen an ihr auf und nieder.«238

235 Foucault, Michel: »Denken, Fühlen«, S. 297. 236 Michals, Duane: A man going to heaven (1967) Fünf Silbergelatinedrucke, handbeschriftet, je 13 x 18 cm, Carnegie Museum of Art, Pittsburgh, USA. 237 Dieses Motiv wurde natürlich auch in der frühen Kunst wieder aufgegriffen, etwa bei Stella, Jacques: Jakobs Leiter (Ca. 1650) Öl auf Alabaster, 22.54 x 33.02 cm, Los Angeles County Museum of Art (LACMA). 238 Gen 28,12, in: Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Bundes. Vollständige deutsche Ausgabe, Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2007.

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Abbildung 7: Duane Michals: A Man Going to Heaven

Abbildung 8: Duane Michals: Death Comes to the Old Lady

Quelle: Carnegie Museum of Art, Pittsburgh

Quelle: Carnegie Museum of Art, Pittsburg

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Aber auch das Bild vom Licht am Ende des Tunnels scheint in Michals Bilderfolge angesprochen zu sein, wie es zahlreiche Menschen beschrieben haben, die einige Momente als medizinisch tot galten, aber ins Leben zurückgeholt werden konnten. Hieronymus Bosch hat dies bereits zwischen 1500 und 1504 in seinem Flug zum Himmel239 verwirklicht. Engel geleiten die nackten Toten zu einem Tunnel, der sich in himmlischen Höhen befindet und an dessen Ende ein gleißendes Licht wartet. Bei Michals tritt der Mensch ganz allein und nackt den Weg ins Licht an. Er kommt aus einer tiefen Schwärze, dem Tod, und ist deshalb zunächst beinahe unsichtbar. Daraufhin ist er drei Bilder lang sichtbar, ehe er sein Ziel erreicht hat und sich fast vollständig im Licht auflöst. Michals hat damit einen Weg gefunden, das schwer begreifliche Verschwinden eines Verstorbenen bildlich festzuhalten – und das mit dem Medium Fotografie, das eigentlich nur zeigen kann, was wirklich da war. Das Thema Tod beschäftigt ihn auch in anderen Bildserien, so gibt es bei ihm etwa Fotografien von der Seele, die den Körper verlässt: The Spirit Leaves the Body240 (1968) ist eine Serie aus sieben Bildern, in der ein Mann regungslos, augenscheinlich tot, auf einer Bahre in einem sonst leeren Raum liegt. Im zweiten Bild löst sich der durchsichtige Doppelgänger des Mannes (die durch eine Doppelbelichtung verwirklichte Seele) von dessen Leib, steht auf und bewegt sich von Bild zu Bild auf den Betrachter zu. Im letzten Bild ist er verschwunden. Es ist, als sei er durch die Fotografie hindurch in unsere Welt (zugleich jedoch symbolisch ins Jenseits) gestiegen; zu sehen ist wieder nur der regungslose Mann auf der Bahre. Eine himmlische Figur, die man auf einer Fotografie nicht erwarten würde, ist The Fallen Angel241 (1968), der sich als Idealtypus eines unbekleideten Jünglings mit großen weißen Flügeln, einer Frau auf einem Bett annähert, sich mit ihr vereinigt und dadurch seine Flügel einbüßt. Ähnlich wie in Wim Wenders’ Der Himmel über Berlin (1987)242 hat er aus Liebe auf seine Unsterblichkeit verzichtet und ist von nun an, ohne Flügel und im letzten Bild vollständig bekleidet, zu einem Leben als Mensch verurteilt. Auch der personifizierte Tod selbst bekommt in Death Comes to the Old Lady243 (1969, Abbildung 8) seinen Auftritt. Eine alte Dame sitzt auf dem ersten Bild auf einem Stuhl und blickt direkt in die Kamera und auf den Betrachter. Im zweiten Bild nähert sich schemenhaft ein Mann im dunklen Anzug und mit Brille. Im dritten Bild hat er sie fast erreicht, während sie unbeirrt nach vorne blickt. Im vierten Bild legt er ihr, zu einem dunklen Schatten geworden, sanft eine Hand auf die Schulter, um sie mit sich zu nehmen. Im letzten Bild erhebt sich die Frau verschwommen, um seinem Ruf zu folgen. Besonders hier fällt auf, dass das Sichtbare, Irdische, bei Michals meist klare Konturen aufweist während alles Spirituelle, eigentlich Unsichtbare, häufig schemenhaft, verschwommen oder 239 Bosch, Hieronymus: Flug zum Himmel (1500-1504), Öl auf Holz, 87 x 40 cm, Galleria dell’Accademia, Venedig. 240 Michals, Duane: The Spirit Leaves the Body (1968), Sieben Silbergelatinedrucke, je 13 x 18cm, Carnegie Museum of Art, Pittsburgh, USA. 241 Michals, Duane: The Fallen Angel (1968), acht Silbergelatinedrucke mit handgeschriebenem Text, je 13 x 18 cm, Carnegie Museum of Art, Pittsburgh, USA. 242 DER HIMMEL ÜBER BERLIN (Deutschland/Frankreich 1987, R: Wim Wenders). 243 Michals, Duane: Death Comes to the Old Lady (1969), fünf Silbergelatinedrucke, je 13 x 18 cm, Carnegie Museum of Art Pittsburgh, USA.

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durchlässig dargestellt wird. Es geht eben nicht mehr nur darum, im Sinne Roland Barthes, festzuhalten was wirklich da war. Foucault führt aus: »Der umgekehrte Weg besteht darin, das Unsichtbare zu fotografieren: Ektoplasmen; Silhouetten aus dem Jenseits, die uns streifen; Engel, die ihre Flügel ablegen, um eine Frau zu besitzen; Seelen in Gestalt durchsichtiger Körper, die sich langsam von sterbenden Schläfern lösen. All die Figuren, die durch Duane Michals’ Fotos geistern, haben nichts mit Glauben zu tun, sondern mit Ironie: Wer hat denn da geglaubt, die Fotografie zeigte das Sichtbare?«244

Todessymbole sind hier nicht mehr nur mit Indices verbunden, die auf Dinge verweisen, die wirklich in der Welt existierten. Es geht gerade um die Dinge, die nicht wirklich da waren, zumindest nicht in der sichtbaren Welt. Die Malerei kann darstellen, was auch immer sie will, denn sie muss keinen direkten Bezug zur Wirklichkeit herstellen. Die Tatsache, dass gerade die Fotografie aber das Unsichtbare, Überirdische, abbildet, macht den Kern von Duane Michals’ Arbeit aus. Die letzten Kapitel haben viele Aussagen für die Fotografie getroffen, die auch für den Film entscheidend sind, der im nächsten Kapitel direkt betrachtet wird. Die Fotografie friert Menschen in flüchtigen Augenblicken dauerhaft ein. Es entsteht ein Memento mori im Kontrast zum vergänglichen Leben. Jedes Bild ist ein Ikon, aber die Fotografie ist als mechanisch abbildendes Medium zu einer perfekteren Nachahmung im Stande als die Malerei. Durch ihren Index (sei es als physische Spur oder Spur einer Spur im Fingerzeig) gibt es einen stärkeren Bezug zu einem realen Referenten, also auch einem realen sterblichen Menschen. Gleichzeitig sind aber alle Fotografien auch (symbolisch) codiert, sie transformieren Realität und entfernen sich so von ihr und damit auch vom Phänomen Tod, insbesondere bei digitalen Bildern. Die realen Bilder der Massenmedien scheinen den unmittelbarsten Zugang zum Tod zu vermitteln, der Index ist stark, fast so als wäre man dabei gewesen. Doch sie sind medienspezifisch ebenso codiert und ihre Bilder effekthascherisch manipuliert. Die Überflutung mit diesen gezielten Schreckensbildern führt zur Abstumpfung und Entfernung vom Tod. Persönlicher und ›sanfter‹ war die Konfrontation mit dem Tod noch in den Postmortem-Fotografien im 19. Jahrhundert. Durch gezielte Inszenierung wurde den Toten ein Eindruck von Leben verliehen, diese Fiktion machte eine wiederholte Betrachtung der Fotografien und damit eine gewisse Bewältigung des eigenen Todes erst möglich. Beim fiktionalen Film ist es ebenfalls die Fiktion, die einen geschützten Umgang mit dem Tod ermöglicht. Sowohl im berührenden Melodrama, als auch dem erschreckenden Horrorfilm ist man sich stets bewusst, dass es sich nur um eine mögliche Realität handelt, die einen zudem nicht selbst betrifft. So kann man mit den filmischen Figuren fühlen, mit ihnen auf unterschiedliche Arten dem Tod ›begegnen‹, sie Erfahrungen machen lassen, von denen man selbst letztendlich doch verschont bleibt. Über den quasi-rituellen wiederholten Umgang mit dem Tod wird das Wissen um die eigene Sterblichkeit (und die geliebter Menschen) vielleicht sogar etwas erträglicher. Fängt die Fotografie einen Todesmoment ein, handelt es sich nie nur um fixierte Bewegung, sondern stets um einen entscheidenden Augenblick von großer Tragweite. Stets betrachtet man solche Fotografien im Wissen, dass dies der letzte Moment eines Menschen war. Fotografisch haltbar gemacht, ergibt sich die Möglichkeit den 244 Foucault, Michel: »Denken, Fühlen«, S. 297.

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Gesichtsausdruck und die Körperhaltung des Sterbenden zu studieren – und so zu versuchen, das Phänomen Tod zu erkunden.245 Es kann sich jedoch immer nur um Außenperspektiven handeln: wirklich verstehen wird man den Tod so nicht. Es gibt eben keinen Sensenmann, ein Jenseits im Himmel ist ungewiss, den Übergang, bzw. das Licht am Ende des Tunnels kennt man nur aus Erzählungen anderer von Nahtoderfahrungen, doch wer weiß, was einen wirklich erwartet. Mit eben diesen Vorstellungen und Hoffnungen spielen die Inszenierungen von Duane Michals. Er zeigt mit dem Medium Fotografie, das eigentlich nur zeigen kann, was wirklich da war, Dinge, die es so nicht gegeben hat. Diese Fiktionen, die sich in Bildfolgen entfalten, sind eine Grundlage für den Film. Allerdings bleibt das Einzelbild der Serie bei Michals erhalten, im Film verschwindet es im Ablauf.

2.3 BEWEGUNG DES FILMS UND TOD 2.3.1 Das bewegte Bild – Übergänge und Prozesse Auf den Gesetzmäßigkeiten der Fotografie beruhend und sich der Symbolismen der Malerei bedienend, kann der Film durch seine zusätzliche Bewegungsfähigkeit (sowie auditive Eindrücke) die anderen Bildmedien in einer Annäherung an den Tod übertreffen, wie die folgenden Kapitel ausführen werden. Durch den Anschein von Realität scheint auch eine größere Nähe zum Phänomen Tod möglich zu sein – dies ist allerdings immer auch Teil der Illusion. Dennoch ist der Film als Medium, losgelöst von seinen Inhalten, etwa in seiner Speicher- und Wiederholbarkeit, für den Tod interessant. Der Film abstrahiert zunächst Realität ebenso wie die Fotografie und muss deshalb auf andere Weise realistisch wirken. Durch die gezielte Verschleierung der Kamera etwa, wird beim Publikum der Eindruck einer in sich geschlossenen Realität erweckt. Jean-Louis Baudry spricht deshalb in Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus von einem Vergessen des Kino-Apparatus durch das Publikum während der Filmrezeption246 und meint damit die gezielte Verschleierung der realitätsverfremdenen Prozesse der Filmproduktion im fertigen Film, was das Publikum empfänglich 245 Ähnlich verhält es sich beim filmischen Freeze Frame und der Großaufnahme, die beide in Kapitel 2.3.2 behandelt werden. 246 Die besonders in den 1970ern in der Filmwissenschaft verbreitete Apparatustheorie ist marxistisch, semiotisch und psychoanalytisch geprägt und besagt, der Film als Medium verändere die ursprüngliche Wirklichkeit im Prozess der Filmentstehung auf verschiedene Arten, was aber im Endprodukt, dem fertigen Film, nicht mehr erkennbar ist: »We must first establish the place of the instrumental base in the set of operations which combine in the production of a film [...] Between ›objective reality‹ and the camera, site of the inscription, and between the inscription and projection are situated certain operations, a work which has as its result a finished product. To the extent that this cut of from the raw material (›objective reality‹) this product does not allow us to see the transformation which has taken place. Equally distant from ›objective reality‹ and the finished product, the camera occupies an intermediate position in the work process which leads from raw material to

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für dessen Ideologien mache. Auch wenn man sich gegen eine unreflektierte Annahme ideologischer Effekte aussprechen kann,247 lässt sich nicht in Abrede stellen, dass die Kamera in der Filmrezeption in der Regel nicht bewusst ist. Im echten Leben kann man nie zwischen subjektiver, halbsubjektiver und neutraler Perspektive wechseln. Als Filmzuschauer wird man, unbemerkt, innerhalb der Diegese regelrecht körperlos gemacht.248 Der ›Spiegel der Wirklichkeit‹, in der Bewegung des Films perfektioniert, ist demnach kalkulierte Illusion. Ein Toter im Film wirkt selbstverständlich nur realistisch – im fiktionalen Film handelt es sich um einen Schauspieler, der eine sterbende Figur, wenn auch oft überzeugend, nur spielt. Der Film, so hat schon André Bazin erkannt, schafft immer etwas Künstliches, um einen natürlichen Eindruck zu erwecken: »Der Realismus in der Kunst kann nur auf artifiziellem Weg erreicht werden. Jede Ästhetik ist gezwungen, zwischen dem auszuwählen, was wert ist, bewahrt zu werden, was fallengelassen oder abgelehnt werden kann. Aber wenn sie, wie das der Film tut, grundsätzlich beabsichtigt, die Illusion der Wirklichkeit zu schaffen, so begründet das Auswählen einen fundamentalen Widerspruch, der gleichzeitig unannehmbar und notwendig ist. Notwendig, weil Kunst eben nur durch diese Auswahl entsteht; ohne Auswahl – angenommen, daß der totale Film schon heute technisch möglich wäre – würden wir schlicht und einfach zur Realität zurückkehren. Unannehmbar, weil die Auswahl schließlich auf Kosten der gleichen Realität geschieht, die der Film uneingeschränkt wiederherstellen will.«249

Eine Ersatz-Darstellung des Todes im Film ist natürlich seinen Gesetzmäßigkeiten unterworfen: Der Tod kann hier ebenso nur symbolisiert werden, wie das Leben, weil der Film sämtliche Partikel der Wirklichkeit (zu denen auch der Tod zählt) nur zu etwas Anderem, Filmischen, transformieren kann. Versucht man sich dem realen Ereignis Tod filmisch anzunähern, wird man immer mit einer Zweidimensionalität konfrontiert sein, die sich für Tiefeneindrücke in perspektivische Verzerrungen rettet. Räume werden immer nur in einzelnen fragmentierten Kamerablickwinkeln zu erschließen sein und die Subjektivität, die zum Sterben gehört, wird seltener durch eine subjektive finished product.« Vgl. Baudry, Jean-Louis/Williams, Alan: »Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus«, in: Film Quarterly, Vol. 28, Nr. 2 (1974-1975), S. 3947, hier S. 40. Die Verschleierung dieser Mechanismen, wie auch der Kamera selbst, die Zentralperspektive und der traumähnliche Zustand des Publikums würden das Kino zu einer Apparatur machen, die Ideologien übertragen kann. Der Zuschauer werde unbewusst beeinflusst, identifiziere sich mit Filmfiguren und nehme das Gezeigte als echt an. Dominante gesellschaftliche Strukturen würden so im Film weitergetragen. Vgl. Ebd., S. 40ff. Vgl. außerdem: Lauretis, Teresa de/Heath, Stephen (Hg.): The Cinematic Apparatus, New York: St. Martin’s Press 1980. 247 Vgl. Kapitel 3.2.1 248 Dafür erhält man allerdings ersatzweise eine Kinoerfahrung als Leihkörper, die zwischen eigenem Körper und Film angesiedelt ist und nicht an bestimmte Figuren(körper) gebunden bleibt. Vgl. Kapitel 3.1.5 249 Bazin, André: »Der kinematografische Realismus und die italienische Schule nach der Befreiung«, in: Was ist Kino? Bausteine zu einer Theorie des Films, Köln: Dumont Verlag. 1975, S. 130-155, hier S. 142.

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Kamera, die den genauen Blickwinkel eines Sterbenden wiedergibt als durch Einstellungen von außen (Großaufnahmen vom Gesicht des Sterbenden oder eines Menschen in Todesangst etwa250) repräsentiert werden. Wieder erfährt man den Tod nur am Tode anderer, aber der Film kann einem durchaus suggerieren, man sei zumindest unmittelbar beteiligt, wenn auch nicht direkt selbst betroffen.251 Als ein Medium, das einem Zuschauer Fremderfahrungen so nahebringen kann, müsste der Film einen direkteren Zugang zum Phänomen Tod ermöglichen als andere Medien. Auf Grund seiner durchkomponierten Künstlichkeit entfernt man sich aber gleichzeitig wieder vom Tod. Das Symbolische, sei es inhaltlich im Umgang mit Todessymbolen wie Totenköpfen oder medienspezifisch in der Abstraktion der Wirklichkeit durch Fotografie und Film, kann immer nur ein Ersatz, ein Stellvertreter, für etwas sein, was das Medium nicht direkt leisten kann. Dennoch verfügt der Film über etwas, das die anderen Bildmedien nicht aufweisen können und das ihn grundlegend von diesen unterscheidet, seine Bewegungsfähigkeit. Dieter Wunderlich dazu in Der kinetische Film: »Die Elementarereignisse des Films sind die auf Zelluloid gebrachten Einzel- oder Phasenbilder, z.B. fotografische Momentaufnahmen. Bei der Vorführung, vorausgesetzt eine genügende Geschwindigkeit des Streifens (mehr als 15 Bilder pro Sek., beim Film sind es 24/sek), verschmelzen jedoch die Wahrnehmungen der Einzelbilder miteinander. Handelt es sich etwa um Aufnahmen eines bewegten Gegenstandes (von einer ruhenden Kamera aus), werden sie als ein kontinuierlich sich bewegendes Objekt angesehen. Hieraus folgt, daß das Phasenbild selbst eigentlich nicht als die kleinste bedeutungsvermittelnde Einheit des Films angesehen werden kann, oder doch nur im Grenzfall. Normalerweise sind es immer schon Folgen mehrerer Einzelaufnahmen, die eine Einzelbedeutung vermitteln – diese Bedeutungen selbst sind aber komplex. Sie lassen sich, wie jedes Einzelbild auch, wieder in einzelne Elemente zerlegen.«252

Die im letzten Kapitel geschilderten Bedingungen der Fotografie gelten auch für den Film, schließlich gründet er sich auf sie: Der Seheindruck, so führt Dieter Wunderlich hier aus, ist aber dennoch ein anderer als in der Fotografie, da die Bilder sich bewegen. Das Einzelbild ist in der Regel nicht mehr als solches zu erkennen, denn ein Bild wird vom nächsten abgelöst. Um bewegte Bilder zu erzeugen, muss sich entweder das gefilmte Objekt innerhalb einer bestimmten Zeit (von Bild zu Bild) im Raum bewegen wie bei Muybridge, die Kamera bewegt werden, oder eine Schnitttechnik angewendet werden, bei der der Eindruck von Bewegung entsteht,253 wie etwa die Stop-MotionPuppentrickfilme THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS und CORPSE BRIDE gezeigt haben. Natürlich muss Kontinuität gewahrt werden, die Bewegungsrichtung darf sich

250 Dies greift das Kapitel 2.3.3 noch einmal auf. 251 Dies wird insbesondere das Kapitel 3 im Zuge einer Diskussion der Potentiale somatischer Empathie wieder aufgreifen. 252 Wunderlich, Dieter: »Der kinetische Film. Über Analyse und Synthese von Bewegung im Film«, in: Knilli, Friedrich (Hg.), Semiotik des Films. Mit Analysen kommerzieller Pornos und revolutionärer Agitationsfilme, München: Carl Hanser Verlag 1971, S.158-175, hier S.160. 253 Vgl. ebd., S.162.

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beispielsweise nicht von einem Bild zum nächsten ändern, sonst nimmt der Zuschauer keinen logischen Bewegungsablauf mehr wahr. Erst dadurch, dass der Film eine Dauer hat, weil er abläuft, können sich die Bewegungen und damit Handlungen entfalten. Zeitlichkeit spielt in der Malerei nur symbolisch eine Rolle,254 in der Fotografie direkt, da sie einen Moment aus dem Ablauf der Zeit reißt. Filme dagegen, sind in der Zeit ablaufende Bildfolgen und haben damit eine dem Leben ähnliche Endlichkeit. Susanne Marschall dazu in Poetik der Vergänglichkeit: »Gilt die Malerei als Kunst der Dauer, in der sich Zeitlichkeit zu einer Bildkomposition verdichtet, so gibt sich das Kino dem Fluss der Zeit hin, der das Filmische konstituiert. Zeitlichkeit prägt die Film-Kunst in einem doppelten Sinne: Das Vergehen der Zeit bestimmt schon allein darum die Ästhetik des Kinos, weil sich der Film im Vorgang der Projektion erst einmal in ihr entfalten muss, um überhaupt wahrgenommen werden zu können. Grundsätzlich [...] steht das Filmische im Zeichen einer Poetik der Vergänglichkeit, einer bisweilen nur leise spürbaren, aber latent immer vorhandenen Melancholie. Auf der Ebene der Inszenierung hat das Kino im Verlauf seiner über einhundert Jahre währenden Entwicklungsgeschichte eine Phänomenologie der Zeit-Zeichen aufgefächert, die über die symbolische Repräsentation der Temporalität in der Malerei weit hinaus geht. Zugleich bewahrt das Kino auch die alt eingesessenen Sinnbilder des Flüchtigen, so dass sie in der kollektiven Erinnerung erhalten bleiben. Das Kino [...] gibt dem Memento mori und dem Vanitas-Bild den Schmerz des Organischen zurück, weil es den Zuschauer mit der Lebendigkeit von Mikromomenten konfrontiert, in denen sich vielfältiges Werden und Vergehen abzeichnet.«255

Die konservierten Momente der Fotografie, die nach Susan Sontag ihren Memento mori ausmachen, weil alle festgehaltenen Menschen und Dinge real vergänglich sind, sind im Film also noch kürzer. Sie fliehen so schnell vorüber, dass man sie gar nicht als Einzelmomente wahrnehmen kann. Die Mittel des Films unterscheiden sich zudem stark von denen der Fotografie, da zwischen den Bildern beispielsweise Überblendungen oder Perspektivenwechsel stattfinden können. Die Aufnahmebedingungen lassen sich nicht mehr so klar rekonstruieren, wie im einzelnen fotografischen Bild.256

254 »Die zumeist sehr unkonkrete Zeitbestimmung in [der Malerei] ist deshalb so bemerkenswert, weil Metaphern der Zeit eine Konstante in der traditionellen Todessymbolik sind. Das Stundenglas ist sowohl ein festes Attribut des personifizierten Todes wie auch ein Standardrequisit des Vanitas-Stillebens. Die Lebensalter, die Symbolik des Ephemeren, alles verweist auf die Hinfälligkeit des Zeitlichen. Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit ist auf [sic!] engste verbunden mit der Wahrnehmung der dahinfließenden Zeit« Lang, Walther K.: Der Tod und das Bild, S.275. 255 Marschall, Susanne: »Poetik der Vergänglichkeit«, S. 370. 256 »Die Kompositionsstruktur des Films ist immer eine zweifache. Zunächst ist die Kamera einfach ein mechanisiertes Auge und der Film ist fotografische Reproduktion eines Stücks Wirklichkeit, z.B. einer natürlichen menschlichen Bewegung, und zwar aus einer gewissen optischen Perspektive heraus. Die Bewegungen im Film laufen parallel zu den wirklichen Bewegungen der Gegenstände. Zweitens werden die fotografischen Bildserien manipuliert mittels Perspektivenwechsel, räumlicher Verzerrung, Zeitraffung oder –dehnung, sogar

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Die filmische Bewegungsfähigkeit ist auch für André Bazins Speicherung von Zeit relevant: Als erste Kunstform kann der Film Bewegung darstellen und nicht nur andeuten. Margrit Tröhler schreibt in ihrem Aufsatz Film-Bewegung und die ansteckende Kraft von Analogien. Zu André Bazins Konzeption des Zuschauers hierzu: »Durch seine Bewegung ist das Filmbild räumlich und zeitlich in der Wirklichkeit verankert.«257 Es kann also nicht nur einen einzelnen starren Punkt in Zeit und Raum bewahren, sondern reiht flexibel Augenblicke aneinander, wie es im echten Leben geschieht. Bazin sagt dazu: »Zum ersten Mal ist das Bild der Dinge auch das ihrer Dauer, eine sich bewegende Mumie.«258 Damit scheint Bazin ähnliche Ansichten wie Roland Barthes zu vertreten, für beide ist die (dem Film zugrundeliegende) Fotografie ein Medium, das die Toten auf gewisse Weise wiederkehren lassen kann. Allerdings lässt sich für Barthes im Film auf Grund der Flüchtigkeit der bewegten Bilder kein punctum ausmachen.259 Bazin dagegen spreche der Fotografie nicht dieselbe Macht wie dem Film zu, wenn es darum geht, den Tod darzustellen, so Alexander Streitberger. Sie könne lediglich den Todesmoment oder einen Leichnam darstellen, aber nicht den Übergang vom Leben in den Tod. Jean-Luc Godard folgend werden gefilmte Personen im Altern erfasst, ihr Ende wird vorausgesetzt. Das Kino zeigt also das im Tod endende Leben oder, nach Cocteau, den ›Tod bei der Arbeit‹.260 Bazin wurde – ebenfalls ähnlich wie Barthes bei der Fotografie261 – dafür kritisiert, dem Film als abbildendem Medium angeblich die Fähigkeit zuzuschreiben, besser als alle Künste vor ihm die Realität mimetisch nachzuahmen, was somit auch für den realen Tod gelten würde. Thomas Elsaesser hält dem entgegen, dass es Bazin »gerade

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Zeitumkehrung, Überblendung, Simultanbelichtung, paralleler oder alternierender Montage [...] der Betrachter kann aus der Bildaussage nicht mehr eindeutig auf das fotografische Stück Wirklichkeit zurückschließen, er kann nicht ohne weiteres die Aufnahmebedingungen rekonstruieren und vom Bildeindruck substrahieren. Die Informationen, die der Film gibt, liegen in seiner Kompositionsstruktur begründet und nur z.T. in den fotografierten Teilstücken.« Wunderlich, Dieter: »Der kinetische Film«, S.160/161. Tröhler, Margrit: »Film – Bewegung und die ansteckende Kraft von Analogien: Zu André Bazins Konzeption des Zuschauers«, in: Montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation. Warum Bazin (2009), S. 49-74, hier S. 56. Bazin, André: »Ontologie des fotografischen Bildes«, S. 25. Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer, S. 88. Vgl. Streitberger, Alexander: »Fotografie, Doppelgänger und Tod in Krzysztof Kieslowskis LA DOUBLE VIE DE VÉRONIQUE«, in: Diekmann, Stefanie/Gerling, Winfried (Hg.), Freeze Frames. Zum Verhältnis von Fotografie und Film, Bielefeld: transcript Verlag 2010, S. 27-39, hier S. 28. Philippe Dubois zu Barthes Theorie der Botschaft ohne Code, die die Fotografie ermögliche: »Wenn Barthes die Dinge so darstellt, verstrickt er sich natürlich, wenn auch nicht in der Mimesis, so doch in den Referentialismus. Denn die Gefahr einer solchen Konzeption liegt darin, daß man das Prinzip des Realitätstransfers verallgemeinert und verabsolutiert, sobald man eine rein subjektive Einstellung mit ontologischem Anspruch einnimmt. Barthes ist dieser Gefahr keineswegs entgangen und dem Kult, diesem Wahn, der Referenz um der Referenz willen verfallen.« Dubois, Philippe: Der fotografische Akt, S. 53. Soweit nicht anders gekennzeichnet entstammen Hervorhebungen in Zitaten jeweils der Originalquelle.

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nicht darum [geht] zu behaupten, dass das Kino mit seinem Realismus und seinen mimetischen Potentialen die Vollendung der Malerei darstelle; Bazins Punkt ist ja vielmehr, dass der Film sie endlich vom Zwang, immer mimetischer zu werden, befreit hat.«262 Ein Film sei für Bazin, so Elsaesser, nicht weniger realistisch, wenn eine Szene mehrmals gedreht werden musste, oder wenn, wie im französischen Kurzfilm LE BALLON ROUGE (1956),263 hunderte roter Ballons für einen einzigen eingesetzt wurden.264 Bazin hält sich demnach nicht an die bedingungslose Wahrheit der außerfilmischen Realität. Es geht nicht darum, die uns umgebende Wirklichkeit, hier eben den realen Tod, genau abzubilden: »Bazins Ontologie des filmischen Realismus ist, so sehr sie auf der Fotografie basiert (worauf auch sonst?), in erster Linie eine Theorie der Einschreibung und Speicherung von Zeit, und sie hängt weniger von dem ab, was wir üblicherweise als ›Bild‹ bezeichnen, also von Mimesis und Repräsentation.«265 Diese Fähigkeit der Bewahrung von Zeit kann man dem Film durchaus zugestehen. Durch seine mediale Beschaffenheit kann er sogar Menschen und Ereignisse in einem Ablauf bewahren und sich so beispielsweise auch inhaltlich mit realen geschichtlichen Begebenheiten auseinandersetzen, ein Gefühl für eine Zeit vermitteln und sogar Ebenen beleuchten, die dem Menschen in der Realität gewöhnlich verborgen bleiben. Man denke nur an die heute befremdlich wirkenden Hitlerreden, bei denen sich dieser auf seine typische Art vor dem Volk ereiferte, während es ihm zujubelte. Der Film speichert, neben dem Inhalt der Rede, Gestik und Mimik, die immer lauter werdende Stimme, die jubelnden Massen, die einheitlich den Hitlergruß vollziehen. Hierfür kann ein Kameramann eine Perspektive vom Rednerpult aus gewählt haben, also einen Blickwinkel, der den meisten Zeitzeugen sonst verborgen geblieben wäre. Natürlich zeigt der Film nicht die gesamte Wirklichkeit, das ist auch technisch gar nicht möglich, sondern Ausschnitte daraus. Der Zuschauer blickt demgemäß wie durch ein Fenster auf diese Wirklichkeitsfragmente und ist durch seine Position, wie es Thomas Elsaesser und Malte Hagener in ihrer Filmtheorie zur Einführung beschreiben, von den Ereignissen distanziert und nicht »aus moralischen Gründen genötigt einzugreifen (wie im realen Leben).«266 Er wird also auch nicht versuchen, einen Filmtod aufzuhalten. Der Film kann immer nur eine Illusion von Realität sein. Das Wirkliche wird auf die Leinwandwirklichkeit übertragen, ähnlich der Transformation von der Mumie zur Statue. Bazin selbst bestätigt in seinem Aufsatz Der kinematografische Realismus und die Italienische Schule der Befreiung: »Dasselbe Ereignis, derselbe Gegenstand unterliegen verschiedenen Darstellungsformen. Jede von ihnen lässt einige Eigenschaften weg, bewahrt andere [...] Am Ende dieses unvermeidlichen und notwendigen Prozesses ist die ursprüngliche Realität ersetzt durch eine Illusion von Realität,

262 Elsaesser, Thomas: »Ein halbes Jahrhundert im Zeichen Bazins«, in: Montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation. Warum Bazin (2009), S. 11-31, hier S. 15. 263 LE BALLON ROUGE (Frankreich 1956, R: Albert Lamorisse). 264 Vgl. Elsaesser, Thomas: »Ein halbes Jahrhundert im Zeichen Bazins«, S. 21. 265 Ebd., S. 22. 266 Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2007, S.24 f.

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die aus einem Komplex von Abstraktionen (schwarz-weiß, Flächigkeit des Bildes), von Regeln (die Gesetze der Montage zum Beispiel) und authentischer Realität entstanden ist.«267

Das gilt auch für den Tod: Wie es das Leben nachahmt, so ahmt das Kino auch den Tod nur nach. Gerade die Fiktion schafft eine Nähe zum Phänomen Tod, wie noch ausgeführt wird. Das bedeutet, auch der Umgang des Films mit dem Tod kann sehr unterschiedlich ausfallen – einerseits inhaltlich, andererseits auf formaler Ebene: Er kann durch seine Bewegungsfähigkeit Dinge leisten, zu denen die immobilen Medien Malerei und Fotografie nicht imstande sind. Wo diese beispielsweise das schrittweise Vergehen nur andeuten können, wie beim Transi oder den welkenden Blumen der Vanitas-Stillleben, kann der Film es wirklich schildern. John Boormans Science-Fiction-Film Zardoz bietet ein anschauliches Beispiel für ein solches Vergehen im Film, das zudem noch nah an der Fotografie, etwa Muybridges Phasenbildern, ist: In mehreren Überblendungen schnell hintereinander sieht man Zed (Sean Connery) und Consuella (Charlotte Rampling) mit ihrem kleinen Sohn aufrecht dasitzen und direkt in die Kamera blicken als blickten sie dem Zuschauer in die Augen. Während der Sohn von Überblendung zu Überblendung wächst und schließlich als junger Mann den Bildausschnitt – und damit das Elternhaus – verlässt, werden die beiden immer älter. Zum Schluss sieht man sie als Skelette dasitzen, dann ist der Platz leer, sie sind von der Erde verschwunden (TC 01:40:41-01:41:20). Auch insgesamt bietet ZARDOZ interessante Ansätze zu den Themen Leben, Sinn des Lebens und Tod. In einer futuristischen Gesellschaft leiden sowohl die fremdbestimmten Brutals, denen Zed entstammt, als auch die erhabenen Eternals, denen Consuella angehörte, am Leben. Die Eternals sind zwar überlegen und unsterblich, jedoch fehlt es ihnen an Zielen und Aufgaben im Leben, ihre ganze Existenz erscheint sinnlos und Individualität ist unerwünscht. Einige wünschen sich sogar den Tod, ein Wunsch, der ihnen am Ende des Films in einem blutigen Massaker erfüllt wird. Mit dem Auftauchen von Zed beginnt der Niedergang dieser Hochkultur. Die Brutals dagegen, ein Volk wie aus dem dunklen Mittelalter, leben mit der Lüge, ein Gott (verkörpert durch einen fliegenden Steinkopf, Zardoz) bestimme ihr Tun. Sie sind zu sklavischer Farmarbeit für diese Gottheit verdammt und eine Gruppe Exterminators kontrolliert dies mit Schusswaffen. Sterben gehört bei den Brutals demnach, im Gegensatz zu den unsterblichen Eternals, zum Alltag. Bei jeder falschen Bewegung, selbst bei unerwünschter Fortpflanzung, muss man damit rechnen, erschossen zu werden, wie es der Steinkopfgott propagiert: »The gun is good. The penis is evil. The penis shoots seeds, and makes new life to poison the Earth with a plague of men, as once it was, but the gun shoots death, and purifies the Earth of the filth of brutals. Go forth ... and kill!« (TC 00:03:53-00:04:20). In einer Szene schießt der Exterminator Zed sogar mitten in die Kamera (TC 00:05:06-00:05:09) und damit auf den Zuschauer, der jedoch, wie schon zu Anfang des Films festgelegt wurde, einem eigenen, unabhängigen System mit einem eigenen Gott angehört. Arthur Frayn (Niall Buggy), ein Eternal, den Zed (vorübergehend) tötet, ehe er mit dem fliegenden Steinkopf in die Welt der Eternals gelangt, führt in direkter Ansprache an das Kinopublikum in die Geschichte ein: 267 Bazin, André: »Der kinematografische Realismus und die italienische Schule nach der Befreiung«, S. 142.

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»It is set deep inside a possible future so none of these events have yet occured but they may. Be warned, lest and you end as I. In this tale I’m a fake god by occupation and a magician by inclination. Merlin is my hero. I am the puppet master. I manipulate many of the characters and events you will see. But I am invented too for your entertainment and amusement. And you, poor creatures – who conjured you out of the clay? Is God in show business too?« (TC 00:00:42-00:01:34)

In dieser direkten Zuschaueradressierung wird einerseits der Film als solcher kenntlich gemacht, andererseits das Publikum darauf hingewiesen, dass die Ereignisse ihm näherliegen könnten, als sie erscheinen. Gedankenspiele zur Idee der Wahrheit, analog zu Platons Höhlengleichnis, kommen zum Tragen. Die Eternals haben es nur zu so einem fortschrittlichen Utopia gebracht, weil sie teilnahmslos Tod und Verderben der Brutals in Kauf nehmen. Die beinahe surrealen, oft sehr bunten Bilder von ZARDOZ in der Welt der Eternals, dem sogenannten Vortex, (beispielsweise in der Wissensvermittlung an Zed, die sich aus bunten Projektionen auf Händen, klassischer Musik und mehrsprachigem Stimmengewirr zusammensetzt; TC 01:14:15-01:18:48) stehen im Kontrast zur kargen und Tod bringenden äußeren Landschaft, die von den Brutals bewohnt wird. (Über-)Leben und Tod in ihrer gesellschaftlichen Tragweite werden damit, wie schon im Zombiefilm – wenn auch anders umgesetzt – durch den Film vorgeführt. Anders als bei den früheren Künsten, wie der Malerei, wird auch der Gedanke durchgespielt, wie es ist, wenn das diesseitige Leben eben nicht endlich ist, wenn man eben nicht den Tod fürchten muss. Das Medium Film kann das echte Leben übertreffen, hier etwa Gedanken filmisch sichtbar machen, und selbst den Tod überwinden. Die Ewigkeit findet sich hier nicht im Himmelreich, sondern direkt auf der Erde: Die Eternals sind, wie die Zombies, Wiedergänger, allerdings kommen sie durch eine Art Wiedergeburt ins Leben zurück. Die Art, wie ZARDOZ dem Publikum präsentiert wird, mal karg und dem antiken Theater ähnelnd (erkennbar an Masken, die die Exterminators tragen, während sie sich durch leere tote Landschaften bewegen), mal sphärisch-bunt, mit Mehrdeutigkeiten und Vagheiten, Lücken, Spiegelungen und Brechungen, mag häufig nicht den Sehgewohnheiten aus dem eigenen Leben entsprechen. Die aufklärerischen Züge wie etwa die Infragestellung eines Gottes ebenso wie die Schilderung der futuristischen Gesellschaft, werden im Handlungsverlauf aber immer wieder mit unserer realen Welt in Bezug gesetzt, auch auf der Bildebene: »Boorman has his own distinctive effects to oppose, and notably the concept of the visual field as a plane or interface of some more complex and layered, chippable or fragmentable crystalline solid. (I would suppose that the ultimate symbol of the crystal emerges from Boorman’s use of the camera, rather than the other way around.) So the visual pleasures of ZARDOZ are of a world explored with the rather complex registering instrument of crystalline refraction, or, occasionally, a world itself encased in crystal, and to be penetrated or at length, to be smashed. Connery pounds on the invisible force field which is also your movie screen, and he knows the ultimate and predictable, Wells-like bewilderment in the cinematographic house of mirrors.«268

268 Jameson, Fredric: »History and the death wish: Zardoz as open form«, in: Jump Cut. A Review of Contemporary Media, Nr. 3 (2004 [1974]), S. 5-8, http://www.ejumpcut.org/ar chive/onlinessays/JC03folder/ZardozJameson.html#1 (Abgerufen 13.01.2019).

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Der Film als Medium kann Blickwinkel eröffnen, die nicht den täglichen Sehgewohnheiten entsprechen. Mittel wie Spiegelungen liefern zudem weitere Bedeutungsebenen, etwa die der Selbsterkenntnis im filmisch Präsentierten.269 Die unsichtbare Schutzschicht, die den Vortex umgibt, weist eine starke Analogie zur Filmleinwand auf, die dem Zuschauer derart vorgeführt bewusst wird, die sich jedoch in keine Richtung durchschreiten lässt. Am Ende des Films lässt sich die Schutzschicht überwinden, was aber den Tod aller Bewohner zur Folge hat, die sich nicht retten konnten.270 Das Wandeln zwischen der Welt des Vortex und der der barbarischen Brutals setzt dem zwischen der Welt der Lebenden und der Toten ein Ende, zu der die Eternals bislang fähig waren. Nun ist ihr Tod endgültig. In ZARDOZ wird das Phänomen Tod aus Sicht einer fiktiven Unsterblichkeit beleuchtet. Das Medium Film kann demnach nicht nur das echte Leben nachahmen und sich damit dem Tod annähern, sondern es übertrifft dieses häufig noch, sowohl narrativ, als auch aus seiner Medialität heraus: auf Grund seiner sich ständig verbessernden Technik kann der Film Großaufnahmen und selbst Dinge im mikroskopisch vergrößerten Bereich zeigen, Blutkörperchen oder Mikroorganismen. Dem menschlichen Auge ist er damit weit überlegen. Zeitraffer oder Zeitlupeneffekte können auch sehr schnelle oder sehr langsame Prozesse zugänglich machen, wie schon das frühe Beispiel von Muybridges galoppierenden Pferden gezeigt hat. Damit werden unsichtbare Bereiche sichtbar, die man zuvor höchstens unbewusst wahrgenommen hatte. Walter Benjamin nennt dies das »Optisch-Unbewusste.«271 Die Fähigkeit der Fotografie Leben zu bewahren gilt auch im Film. Bei diesem wird es sogar in seiner lebendigen Bewegung erhalten. Wie schon in Kapitel 2.1.2. angesprochen, sind Figuren auf der Leinwand vor jeglichem körperlichen Verfall geschützt und können in beliebiger Wiederholung betrachtet werden. Gleichzeitig weiß man aber, dass der Schauspieler als Mensch ebenso vergänglich ist wie alle anderen Menschen.272 Damit mutet das Kino auch etwas unheimlich und zeitlos-geisterhaft an. Christiane Peitz führt aus: »Was wir auf der Leinwand sehen, geschieht mit Sicherheit im Jenseits. Kino ist Geisterstunde, und die Filmhelden sind fleischlose Wesen, pure Lichtgestalten. ›Die Nacht, die alle ängstigt, 269 Sie gemahnen damit auch an das Lacan’sche Spiegelstadium. Vgl. Kapitel 2.1.2 270 Wenn man die Eternals also als Filmfiguren ansehen würde, die Brutals als die echten Menschen, die die Kinoleinwand überwinden, dann wäre das der Tod der Fiktion. 271 »Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung in ihm. So wird handgreiflich, daß es eine andere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht. Anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer vom Gang der Leute, beispielsweise, sei es auch nur im Groben, sich Rechenschaft ablegt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens [...] Hier greift die Kamera mit ihren vielen Hilfsmitteln – ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein. Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.« Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S.62. 272 Vgl. Richard, Birgit: Todesbilder, S. 35.

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behütet Euch alle‹, schreibt Benjamin Henrichs über Woody Allens ›Schatten und Nebel‹. Kaum ein neuerer Film versammelt schönere Bilder von jenem Phänomen des Kinos als Hinterlassenschaft, bei der die Stars wie längst erloschene Sterne immer noch glänzen, so daß wir die Spur dessen sehen können, was nicht mehr existiert. Angesichts dieses Firmaments ›weckt das Kino die Todesangst und bringt sie sogleich zum Verschwinden‹, schreibt Henrichs weiter. Das Kino, ein Schattenreich.«273

Hier findet sich abermals eine Parallele zur Malerei, etwa den Makaberdarstellungen, die sowohl die Angst vor dem Tod ausdrückten, als auch bildlich bannten. Die Schauspieler existieren als Figuren auf ewig weiter, auch wenn man um ihren Tod weiß. Ein im Film bewahrter Mensch, die ›lebende Mumie‹, mag zwar die für ihn eigentümlichen Bewegungsabläufe und Mimiken aufweisen, zudem kann man seine Stimme vernehmen – was sehr viel näher am lebenden Menschen ist als eine Fotografie – aber dieser Bewegungsablauf, die Mimiken, die Worte, werden immer dieselben sein, zur ewigen Wiederholung verdammt. Immerhin erscheint er innerhalb dieser Einschränkung lebendig, obwohl derselbe Memento mori wie bei der Fotografie herrscht. Auch thematisch ist das Vergehen von Zeit für den Film relevant. Wohl jede spannende Szene lebt von schnellen Verfolgungsszenen, von Zügen, die man gerade noch erwischt oder der Bombe, die tickend ihre Detonation ankündigt.274 Natürlich lassen sich solche Abläufe auch umkehren und Tote können wieder auferstehen. Christiane von Wahlert dazu: »Dieser in der Technik des Mediums Film begründete Sachverhalt, also die Wiederholbarkeit und die Reversibilität des Dargestellten mag uns Mediengewöhnten banal klingen, ist aber ein wichtiges Moment in der Frage des Verhältnisses von Fotografie und Tod.«275 Gerade die Fiktion, so hat dieses Kapitel gezeigt, ermöglicht eine ›Begegnung‹ mit dem Tod im Film. Die medienspezifischen Potentiale des Films, seine Bewegung, die Abläufe zulässt, Zeitraffer und -lupen, Großaufnahmen, die fotografische Fähigkeit Dinge zu speichern etc. – verbinden sich mit der Handlung, die unbegrenzt den Tod aus jeglicher Perspektive thematisieren kann. Das, was man nicht aus dem echten Leben kennt – etwa die Möglichkeit der Unsterblichkeit in ZARDOZ – lässt neue Reflexionen zur Bedeutung von Leben und Tod zu. Die Abläufe des Films sind endlich wie das Leben, doch lassen sie sich wiederholen und Tode umkehren. Filme sind damit nah an der Realität und übertreffen sie noch. Allerdings sind Filmbilder ebenso flüchtig wie Momente aus dem echten Leben. Benjamin bestätigt: »Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das Letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich 273 Peitz, Christiane: »Das Kino, ein Schattenreich«, S. 14. 274 »Filme illustrieren das Ablaufen von Zeit. Oft machen sie es zum Thema [...] Auf der einen Seite verhält sich also der Film – wie sonst nur die Musik – mimetisch zum Schwund der Zeit; auf der anderen bewahrt er – wiederum wie keine andere Kunst – die Spuren des Schwindens. Er bezeugt, daß etwas war, wo nichts hätte sein können.« Mattenklott, Gerd: »Film und Tod«, in: Karpf, Ernst/Kiesel, Doron/Visarius, Karsten (Hg.), Kino und Tod. Zur filmischen Inszenierung von Vergänglichkeit, Berlin: Schüren Presseverlag 1993, S. 53-61, hier S.57. 275 Wahlert, Christiane von: »Die dunkle Kammer«, S. 23.

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seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefasst, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden [...] In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen.«276

Um einen Menschen, der Fotografie ähnlich, zu fixieren, müsste man das Bild also anhalten. Dies geschieht – zumindest dem Eindruck nach – beim Freeze Frame. 2.3.2 Freeze Frames – Der Stillstand im bewegten Film Damit im Kino ein Bild stillstehen kann, muss es sich viele Bilder lang wiederholen. In der Veränderung von Bild zu Bild liegt die Bewegung, der Stillstand in der Gleichheit der Bilder. Der Film läuft noch immer ab, aber auf diese Weise wird das nicht mehr wahrgenommen. Wie die Fotografie verweisen Filmbilder indexikalisch auf etwas, das wirklich dagewesen ist. Durch ihr Ablaufen ähneln die Bilder im Film dem Leben, erinnern aber auch an Vergänglichkeit und Tod. Sie sind zudem im Grunde nicht mehr als eine Aneinanderreihung vieler kleiner, erstarrter Momente. Dies ist natürlich der zugrundeliegenden Fotografie anzurechnen, deren dauerhafte Starre als Todessymbol anzusehen ist. Die Simulation von Bewegung durch ihre Reihung ist also auch nur eine Simulation von Leben, so Alexander Streitberger, Laura Mulvey folgend.277 Die Unterscheidung vom fotografischen und filmischen Umgang mit Zeit kommt im Film selbst zum Tragen, wenn die sonst bewegten Bilder plötzlich stillstehen. Zu einem still gestellten Bild (Freeze Frame) in Dsiga Vertovs MAN WITH A MOVIE CAMERA (1929)278 bemerkt Laura Mulvey: »This accumulation of movement had carried forward the movement of the film and of time itself, so when the image froze another temporal dimension suddenly emerged. While movement tends to assert the presence of a continuous ›now‹, stillness brings a resonance of ›then‹ to the surface.«279 Der ablaufende Film schafft somit ein Kontinuum von vielen Gegenwartsmomenten. Dieser Ablauf hat einen Anfang und ein Ende, eine feste Dauer. Um die Bilder still zu stellen, benötigt der Film ebenfalls ein Kontinuum, das des immer gleichen

276 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S.48. 277 Alexander Streitberger: »Die Originalität des Ansatzes von Mulvey besteht nun darin, dass die Autorin, ausgehend von der Festlegung der Fotografie als Index, dem Film ein dialektisches Verhältnis zum Tod zuspricht. Wenn die Fotografie als Abdruck der Wirklichkeit diese aus dem raumzeitlichen Kontinuum löst und damit ›mortifiziert‹, dann gilt derselbe Vorgang eben auch für die fotografische Grundeinheit des Films, das Einzelbild, nun allerdings in serieller Form – Death 24x a Second. Demzufolge gleiche der Film nur scheinbar dem Leben. In Wirklichkeit sei er nichts anderes als die anorganische Reproduktion vieler kleiner Tode, die, zusammen genommen, das Leben auf unheimliche Weise simulieren.« Streitberger, Alexander: »Fotografie, Doppelgänger und Tod in Krzysztof Kieslowskis LA DOUBLE VIE DE VÉRONIQUE«, S. 29. 278 MAN WITH A MOVIE CAMERA (UdSSR 1929, R: Dsiga Vertov). 279 Mulvey, Laura: Death 24x a Second, S. 13.

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Bildes, welches dann als ein einzelnes unbewegtes Bild erlebt wird. Die Fotografie greift einzelne Momente heraus, die dauerhaft bewahrt werden und die man als etwas Vergangenes wahrnimmt. Derselbe Eindruck entsteht beim Freeze Frame. Ein Bild muss also ein anderes ablösen, damit das Gefühl von Aktualität, von einem Jetzt, aufkommt. Wo die Fotografie einen direkten Bezug zu einem Referenten herstellt, beziehen sich die Filmbilder demnach auch hauptsächlich aufeinander, ihre Vorgänger und Nachfolger, so Lorenz Engel:280 »Der Film thematisiert nicht die zeitliche Beziehung zwischen dem Abgebildeten und dem Bild selbst, sondern diejenige der Bilder untereinander. Sie ist so beschaffen, dass jedes nachfolgende Bild des durchlaufenden Filmstreifens das vorhergehende Bild transformiert und vom nachfolgenden seinerseits transformiert oder deplatziert wird. Was wir sehen, sind nicht die transformierten oder deplatzierten Bilder selbst, die ja gerade [...] nicht Teil des Films sind, sondern die Bewegung der Transformation oder, wenn man so will, die Anwesenheit des vorhergehenden und des nachfolgenden Bildes in dem gerade sichtbaren Bild. Der laufende Veränderungsprozess, der auf der Leinwand abläuft, dient also gerade nicht der Festschreibung eines Gegenwartmoments, sondern seiner fortlaufenden Aktualisierung. Das Filmbild gibt nicht, wie die Fotografie, den gewesenen Augenblick wieder, sondern die je bewegliche, in jedem Jetzt neu aktualisierte Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zeitlich gesehen ist es in Relation zu den Bildern des Filmstreifens ausdehnungslos, es verschwindet im Moment seines Auftauchens sofort wieder.«281

Das durch die Fotografie eingefrorene Leben, so Mulvey, wird durch den Film wieder reanimiert.282 Der Freeze Frame bringt so gesehen wiederum den Tod in den Film zurück, da er im Kontrast zum lebendigen Bewegtfilm steht.283 Durch die massenweise 280 Vgl. Engell, Lorenz: »›Are you in pictures?‹ Ruhende Bilder am Ende bewegter Bilder, besonders in Ethan und Joel Coens BARTON FINK.«, in: Diekmann, Stefanie/Gerling, Winfried (Hg.), Freeze Frames. Zum Verhältnis von Fotografie und Film, Bielefeld: transcript Verlag 2010, S. 173-191, hier S. 177. 281 Engell, Lorenz: »›Are you in pictures?‹«, S. 180. 282 Vgl. Mulvey, Laura: Death 24x a Second, S. 15. 283 Alexander Streitberger erläutert die Unterscheidung von Fotografie und Film: »›Der Film‹, erfährt man bei Christian Metz, ›gibt den Toten einen Anschein von Leben zurück, der zwar schwankend, schattenhaft und fragil ist, aber sogleich durch das Begehren des liebenden Publikums und sein drängendes Verlangen nach Stillung desselben verstärkt wird, während die Fotografie kraft der objektiven Suggestionen ihres Signifikanten – Unbewegtheit und Stille – die Toten als Tote würdigt.‹ Als radikaler Schnitt in die Zeit wird Fotografie hier mit absolutem Stillstand und damit mit dem Tod gleichgesetzt, da sie wie dieser den Menschen dem raumzeitlichen Kontinuum des Lebens entreiße, ihn thanatographiere, wie es Philippe Dubois in seinem Buch ›Der fotografische Akt‹ auf den Punkt bringt. Der Film hingegen wird mit dem Leben gleichgesetzt, da er durch seine ›beständige Bewegung‹ das Gefühl unmittelbarer Präsenz erzeuge. Dem gegenüber steht eine andere Denktradition, die sich auf Cocteaus Aphorismus, das Kino zeige den Tod bei der Arbeit (›la mort au travail‹), beruft und somit den Tod zu einem, wenn nicht dem Spezifikum des Filmes erklärt.« Streitberger, Alexander: »Fotografie, Doppelgänger und Tod in Krzysztof Kieslowskis LA DOUBLE VIE DE VÉRONIQUE «, S. 27/28.

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Verbreitung von Videorekordern konnte man dann sogar zu Hause eigenmächtig Filme anhalten und Figuren in einer Pose einfrieren, wie die Fotografie.284 Die Todessymbolik findet sich hier also abermals auf medialer Ebene: Nicht die Inhalte der Bilder sind entscheidend, sondern die Tatsache, dass man das abgefilmte Leben durch Freeze Frames an beliebiger Stelle einfrieren kann. Es ist der Tod der Bewegung. Natürlich kann in diesem eingefrorenen Moment der Tod zusätzlich auch inhaltlich ›auftreten‹: Am Ende von BUTCH CASSIDY AND THE SUNDANCE KID (1969)285 springen Butch Cassidy (Paul Newman) und Sundance Kid (Robert Redford) mit gezogenen Waffen aus einem Versteck, um sich ihren zahlenmäßig weit überlegenen Gegnern zu stellen. Dies ist in einem Standbild festgehalten. Interessanterweise ist es nicht der entscheidende Todesmoment, sondern der kurz davor. Ihr Schicksal ist damit besiegelt, es besteht aber auch der Hauch einer Chance, dass die Helden mit dem Leben davongekommen sind, wie schon bei der Laokoongruppe. Der Tod scheint sicher, doch noch ist nichts entschieden. (TC 01:44:40-01:45:52). Anders als sonst im Film, folgt kein Bild auf dieses eingefrorene, es bleibt auf ewig für sich stehen wie eine Fotografie. Auch die beiden echten Verbrecher haben Gerüchten zufolge diese Situation überwunden und unter falschen Namen weitergelebt. Das Ende im Film bleibt also offen. Eine ähnliche, wenn auch eindeutigere, Szene gibt es am Ende von THELMA & LOUISE (1991)286: Die beiden Protagonistinnen Thelma (Geena Davis) und Louise (Susan Sarandon) sehen kein Entkommen vor der Polizei mehr und fahren deshalb willentlich in eine Schlucht des Grand Canyon. Kurz bevor das Auto nach unten abstürzt, ist das Bild eine Sekunde lang eingefroren, dann wird weiß überblendet (TC 01:59:57-02:00:31). Dem Zuschauer ist klar, dass sie diesen Absturz nicht überleben werden, die weiße Überblendung ist wie ein Übergang in den Tod anzusehen. Die anschließenden Rückblenden in Bewegtbildern bezeugen die vergangenen Menschenleben. Statt alles zu zeigen, die Erschießung von Butch Cassidy und Sundance Kid, oder den Aufprall des Autos von Thelma und Louise, hören beide Filme einen Augenblick zuvor auf, dem Moment höchster Spannung, der Lessings fruchtbarem Augenblick ähnlich ist. Der Tod ist spürbar, aber eben nicht zu sehen. Das Heldenhafte wird dadurch betont und statt im ablaufenden Film zu vergehen, bleiben die Vier auf ewig im eingefrorenen Moment bewahrt – und erhalten so Unsterblichkeit. Das still gestellte Bild kann dementsprechend – das haben schon die PostmortemBilder gezeigt – auch auf den Wunsch verweisen, die im Ablauf flüchtige Person zu halten, oder gar zu besitzen. Pin-Ups und Filmposter seien dem Bedürfnis entsprungen, eines Stars habhaft zu werden, so Mulvey.287 Er wird dadurch aus dem Handlungsverlauf eines Films gehoben und bietet in seiner Unbewegtheit Zeit zu genauer Betrachtung und Tagträumerei. Ebenso verhält es sich mit dem Freeze Frame: »Bellour makes the crucial point that a moment of stillness within the moving image and its narrative creates a ›pensive spectator‹ who can reflect ›on the cinema‹. Not only can the ›pensive‹ spectator experience the kind of reverie that Barthes associated with the photograph alone, but

284 285 286 287

Vgl. Mulvey, Laura: Death 24x a Second, S. 22. BUTCH CASSIDY AND THE SUNDANCE KID (USA 1969, R: George Roy Hill). THELMA & LOUISE (USA 1991, R: Ridley Scott). Vgl. Mulvey, Laura: Death 24x a Second, S. 161.

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this reverie reaches out to the nature of cinema itself. This pause for the spectator, usually ›hurried‹ by the movement of both film and narrative, opens a space for consciousness of the still frame within the moving image. Similarly, the pensive spectator who pauses the image with new technologies may bring to the cinema the resonance of the still photograph, the association with death usually concealed by the film’s movement, its particularly strong inscription of the index. These reflections are not lost when the film is returned to movement. On the contrary, they continue and inflect the film’s sense of ›past-ness‹«.288

Das Anhalten des Bildes schafft die Möglichkeit, über das Einzelbild nachzudenken. Automatisch entsteht im Zuschauer die Assoziation von etwas Vergangenem und von Tod (entgegen der wechselnden Gegenwartsmomente im Bewegtfilm), genau wie bei Fotografien. Dieses Gefühl prägt den Film, auch wenn er anschließend wieder in Bewegung versetzt wird. Abläufe anhalten bedeutet auch, Tode aufhalten zu können. Man weiß jedoch: Sobald die Bilder sich wieder in Bewegung versetzen, wird alles seinen unausweichlichen Verlauf nehmen. Deshalb sind die Freeze Frames oft mächtige Momente höchster Spannung, die die Katastrophe nur hinauszögern oder einen letzten Blick auf eine Figur gewähren, deren Leben auf der Leinwand ein Ende gefunden hat. Wie bei den Phasenbildern Muybridges, kann man den weiteren Verlauf imaginieren, auch wenn der Film mit einem Freeze Frame endet. Zum Glück ist die Leinwand ein Ort, an dem der gestorbene Held in der Wiederholung oder rückwärts abgespielt wieder auferstehen kann – doch nur um im erneuten Verlauf der Handlung wieder und wieder zu sterben. Dieses Kapitel hat gezeigt, wie der Kontrast von Bewegung und Stillstand nicht nur an den Tod erinnert, sondern auch vorführt, wie der Film selbst funktioniert. Während er abläuft, bleibt keine Zeit für Reflexionen über das Leben, den Tod oder das filmische Potential. Animierte Bilder führen zu neuen Ereignissen, die alte Ereignisse vergessen lassen. Im Freeze Frame erinnert der Film daran, dass er auf der Fotografie beruht, die vergangenes Leben bewahren kann. So lassen sich Abläufe anhalten, es entsteht aber eine von der Handlung gelöste Ebene, eine andere Welt, die weder zu unserer, noch zu der des Films gehört. Wie das Leben kann man auch den Film nicht anhalten, zumindest nicht ohne die Illusion zu zerstören. So lässt sich – wie auch durch die Pausetaste auf dem DVD-Player – eine Figur einfrieren, näher betrachten oder gar ihr Filmtod aufschieben, doch das Einfrieren selbst beraubt sie ebenso der lebendigen Bewegung, ähnlich wieder einer Mumifizierung oder der Präparation erlegter Wildtiere. Die filmische Welt mit ihren wechselnden Perspektiven wird auf einen einzelnen Bildausschnitt beschränkt, die Bedeutung der bewegten darstellenden Künste auf die der abbildenden Bildzeichen beschränkt. Eine Aneinanderreihung wird zu einem Einzelnen, das jedoch mit dem Wissen um den Rest ›aufgeladen‹ ist und deshalb noch in das wieder weiterlaufende Bewegtbild nachwirken kann, selbst wenn sich dieses gar nicht mehr damit befasst. Der Freeze Frame steht damit für eine Sehnsucht nach einem Innehalten, das einem im Leben verwehrt bleibt. Er steht für die Hoffnung, Tode aufzuhalten und Leben zu bewahren, aber in diesem Stillstand kann es auch kein Leben geben. Wie schon Zombie und animiertes Skelett gezeigt haben, findet sich der Tod im Film nicht nur im still gestellten Bild der Fotografie, sondern auch auf narrativer 288 Mulvey, Laura: Death 24x a Second, S. 186.

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Ebene. Dies wird wiederum durch filmische Mittel unterstützt: ZARDOZ hat gezeigt, dass der Film Prozesse darstellen kann, wie das Altern und Vergehen eines Menschen, Susanne Marschall bestätigt, dass im Ablauf des Films eine melancholische Vergänglichkeit mitschwinge. Das Kino scheint wie gemacht für den Umgang mit dem Tod. Und so verwundert es nicht, dass einige Regisseure sich regelrecht diesem Thema verschrieben haben – wie Ingmar Bergman, dessen Filme voll von Todessymbolen sind. 2.3.3 Todessymbole in den Filmen Ingmar Bergmans Ebenso wie die Fotografie arbeitet auch der Film häufig mit Todessymbolen. Die Filme Ingmar Bergmans sind dafür ein besonders anschauliches Beispiel, da sich der Kontrast von Leben und Tod durch das gesamte Lebenswerk des schwedischen Regisseurs zieht. 1949 erscheint GEFÄNGNIS (Fängelse)289: Der Verlobte (Stig Olin) und die Schwester (Irma Christenson) der jungen Prostituierten Birgitta Carolina (Doris Svedlund) nehmen dieser das Baby weg und töten es. Die Diskussion über das Behalten oder Weggeben eines Kindes wird sich später etwa in WILDE ERDBEEREN (Smultronstället, 1957)290 wiederholen, so wie Bergman generell Themen in seinen Filmen wieder aufgreift. In einer beinahe surrealen Traumsequenz bewegt sich Birgitta Carolina wie im Totenreich,291 nebelig düster, vorbei an einigen Menschen die fast regungslos nebeneinander verharren. Ihre tote Mutter spricht währenddessen zu ihr und sagt ihr, sie solle keine Angst haben. Im Traum, wie im Film, ist ein Austausch mit dem Totenreich möglich. Der Film überwindet die Grenze zwischen Leben und Tod und schafft eine Begegnung mit dem Tod bzw. den Toten. Birgitta Carolina trifft auf ihren Begleiter Tomas (Birger Malmsten), der augenscheinlich in einen Autounfall verwickelt war (und sich deshalb nun im Totenreich befindet) und gesteht ihm ihre bedingungslose Liebe, im Wissen, dass es sich nur um einen Traum handelt. Doch als sie aufsieht, ist es nicht mehr Tomas. Birgitta Carolina folgt dem Klang von Babygeschrei zu einer frei stehenden Badewanne. Hier wartet schon ihr Verlobter Peter, greift in die Wanne voll Wasser, in dem eine Puppe schwimmt. Diese war die Quelle für das Geschrei und ist ein Ersatz für das echte Kind in der filmischen Realität. Wieder handelt es sich um ein Substitut für den sterblichen menschlichen Körper, wie bei Bazins Terrakottastatuen und den Puppen in THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS und CORPSE BRIDE. Dabei ist die Puppe immer schon ein toter Gegenstand gewesen, der nur eine unheimliche Ähnlichkeit mit einem lebendigen Baby aufweist. Etwas, das nie gelebt hat, kann auch nicht sterben, es kann aber den Anschein erwecken, ebenso wie

289 GEFÄNGNIS (Fängelse, Schweden 1949, R: Ingmar Bergman). 290 WILDE ERDBEEREN (Smultronstället, Schweden 1957, R: Ingmar Bergman). 291 Im filmischen Traum lässt sich ein Verweis auf den Film als Medium erkennen. Der Traum im Film fungiert als eine Art selbstreflexiver Film im Film. Auch das Unbewusste, dem sich die Psychoanalyse widmet, kommt im Traum wie im Film zum Tragen. Der Film versetzt den Zuschauer dementsprechend in einen traumähnlichen Zustand, so Hermann Kappelhoff, Christian Metz folgend. Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle, S. 275. Da die Traumwelt hier dem Totenreich ähnelt, gibt es abermals eine Parallele zwischen filmischer Welt und Jenseits.

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auch der Film und seine Figuren immer nur den Anschein erwecken können, lebendig gewesen zu sein – und damit fähig zu sterben. Dabei ist alles nur Fiktion: Der Schauspieler (hat ge)lebt, nicht aber die Figur. Und wenn die Figur stirbt, dann nur zum Schein, denn der Schauspieler lebt weiter. Die Ermordung der Puppe ist also ein fiktives Spiel, ebenso wie der Film selbst. Der Schauspieler spielt die Figur, wie die Puppe Birgitta Carolinas Kind ›spielt‹. Der Puppenmord wiederholt in der Pseudorealität des Traums innerhalb der Pseudorealität des Films den Kindsmord, der zuvor in der filmischen Pseudorealität stattgefunden hat. Im Verweis auf ihr echtes Kind muss die Situation mit der Puppe für Birgitta Carolina unerträglich sein, auch wenn der unbelebten Puppe im Grunde nichts geschehen kann. Die Dramatik erhöht sich, indem die Puppe im entscheidenden Moment verlebendigt wird: Als Peter sie aufhebt um ihr den Hals umzudrehen, verwandelt sie sich in einen Fisch, den er tötet. Birgitta Carolina erwacht, verstört und weinend. Sie erinnert sich an ihr Baby, das sie zu verdrängen versuchte und ist sich sicher, dass es tot ist (TC 00:45:40-00:52:28), was sich später bestätigen wird. Todessymbole wie ein toter Vogel (TC 01:01:54-01:02:04) sind düstere Vorzeichen für ein drohendes Unglück. Am Ende des Films bringt sich Birgitta Carolina im Keller ihres Wohnhauses um: Sie ersticht sich und stirbt halluzinierend. Nun nimmt die Kamera ihre Sicht ein. Ihr hinzugetretener Verlobter Peter wird aus ihrer Perspektive gezeigt, sein Bild verschwimmt als Birgitta Carolina stirbt, dann ist das Blickfeld schwarz, während er im Off noch immer ihren Namen schreit. Das subjektive Dahingleiten in den Tod ist hier sehr eindrücklich wiedergegeben, der Tod als Schwarzbild entspricht jedoch wieder dem Unvermögen diesen darzustellen. Nun sind die beiden aus einer Außenperspektive zu sehen (da es Birgitta Carolinas Perspektive nicht mehr geben kann), die tote Birgitta Carolina liegt am Boden, durch ein Fenster über ihr fällt ein Lichtschein in den Raum, der an das himmlische Licht erinnert. Peter hebt sie vom Boden auf und trägt sie mit sich aus dem Keller die helle Treppe empor (TC 01:07:0001:11:12). Dieses Bild erinnert etwa an die Bilderreihe A Man Going to Heaven von Duane Michals und frühere Darstellungen vom Licht am Ende des Tunnels, oder der Treppe, die zur leuchtenden Himmelspforte führt. LEKTION IN LIEBE (En Lektion i kärlek, 1954)292 beginnt und endet mit Einstellungen auf einen Lieblingsgegenstand Bergmans, so Thomas Koebner, eine Spieluhr. Drei Porzellanfigürchen bewegen sich kreisend umeinander, eine junge Frau und zwei Männer. Die Spieluhr als Metapher kommt auch in anderen Filmen Bergmans vor, kurz in GEFÄNGNIS und dann etwa zu Beginn von DAS LÄCHELN EINER SOMMERNACHT (Sommarnattens leende, 1955)293 oder in FANNY UND ALEXANDER (Fanny och Alexander, 1982)294. Sie ist, so Koebner, eine Metapher für den beinahe mechanischen Ablauf der Dinge, als seien die Menschen nur Puppen, die nach einem vorgesehenen Programm

292 LEKTION IN LIEBE (En Lektion i kärlek, Schweden 1954, R: Ingmar Bergman). 293 DAS LÄCHELN EINER SOMMERNACHT (Sommarnattens leende, Schweden 1955, R: Ingmar Bergman). 294 FANNY UND ALEXANDER (Fanny och Alexander, Schweden 1982, R: Ingmar Bergman).

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funktionieren. Dies demonstriere die Vanitas, die Eitelkeit des Begehrens. Das Ziffernblatt verweise dabei auf die unerbittlich verstreichende Zeit, die für jeden mit dem Tod endet.295 DAS SIEBENTE SIEGEL (Det sjunde inseglet, 1957) dürfte der ergiebigste Film Bergmans im Hinblick auf den Tod sein. Die im Mittelalter angesiedelte Geschichte des Kreuzritters Antonius Block (Max von Sydow), der mit seinem Knappen Jöns (Gunnar Björnstrand) von den Kreuzzügen aus dem Heiligen Land in das von der Pest heimgesuchte Schweden zurückkehrt und sich auf die Suche nach Gott und dem Sinn des Lebens begibt, handelt fast ausschließlich vom Tod. Der Film beginnt mit einem »wild zerrissene[n] Himmel, in den sich ein Adler aufschwingt, begleitet vom Gesang des ›Dies irae‹ und Posaunenklängen: ein drohender Beginn, der einen ernsten Akkord anschlägt, Ereignisse voller Gräuel anzukündigen scheint – wie in der Offenbarung des Johannes beschrieben, der die Formel vom ›siebenten Siegel‹ entnommen ist«296 so Thomas Koebner. Eine Passage aus der Offenbarung des Johannes, die den Tag des Jüngsten Gerichts ankündigt, wird auch im Off zitiert,297 während in langen Einstellungen das Meer zu sehen ist. Die Kamera ruht dabei und ist nicht zu spüren, was Bergman auch im restlichen Film beibehält. Sie soll dem Zuschauer nicht bewusst sein, damit er sich mehr auf die Filmhandlung einlassen kann und die Ereignisse ihm authentischer erscheinen. Jonathan Baldo führt aus: »Bergman makes every effort to keep the camera neutral and transcendent. He writes, ›In many cases the position and movement of the camera is considered more important than the player, and the picture becomes an end in itself – this can never do anything but destroy illusions and be artistically devastating… The camera must be a completely objective observer and may only on rare occasions participate in the action.‹«298

Damit schlägt Bergman eine andere Richtung ein als etwa Jean-Luc Godard, Michelangelo Antonioni oder Terrence Malick, die die Kamera (sowie weitere filmische Mittel wie Farbfilter, Unschärfen oder Verzerrungen) gezielt einsetzen und dadurch bewusst machen,299 wie es Kristin Thompson für den filmischen Exzess beschreibt.300 Das

295 Koebner, Thomas: Ingmar Bergman. Wanderung durch das Werk, München: Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG 2009, S. 45ff. 296 Koebner, Thomas: Ingmar Bergman, S. 58. 297 Vgl. Offb 8,1-5. 298 Baldo, Jonathan: »Narrative Foiled in Bergman‘s ›The Seventh Seal‹«, in: Theatre Journal 3 (1987), S.364-382, hier S. 367. 299 Es handelt sich hierbei um ein anderes, poetisches, Kino, wie es Pier Paolo Pasolini in Die Sprache des Films diskutiert hat. Vgl. Pasolini, Pier Paolo: »Die Sprache des Films«, in: Knilli, Friedrich (Hg.), Semiotik des Films. Mit Analysen kommerzieller Pornos und revolutionärer Agitationsfilme, München: Carl Hanser Verlag 1971, S. 38-55. Selbst die Kamera direkt zu präsentieren (bzw. eine weitere Kamera) war hier nicht ausgeschlossen. Bergman selbst macht aber durchaus Ausnahmen und setzt die Kamera gezielter ein, wie beispielsweise der Übergang in den Tod Birgitta Carolinas in GEFÄNGNIS gezeigt hat. 300 Vgl. Thompson, Kristin: »The Concept of Cinematic Excess«, S.134. Das Kapitel 3.2.3 wird sich näher damit befassen.

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klassische Hollywoodkino meidet solche exzessiven Elemente zugunsten einer nachvollziehbaren, ungestörten Handlung. Diesem folgt jedoch auch der Autorenfilm DAS SIEBENTE SIEGEL nicht. Zu sehr erinnert er an das Theaterstück, auf dem er beruht. Sascha Becker erkennt in Allegorien des Nichts – Zu Ingmar Bergmans ›Das siebente Siegel‹ ebenfalls den »bühnenhaften Habitus dieses Films, der eben keine täuschende Illusion sein will, sondern die Inszenierung des Existentiellen. Ein Kunstwerk also, das seine notwendige und unüberwindliche Distanz zu seinem Gegenstand mitdarstellt, um nicht an ihr zu scheitern.«301 Wichtiger als seine Illusion und seine rein unterhaltende Narration nimmt dieser Film seine Fragestellungen und Bilder.302 Ein wichtiger Bestandteil hiervon ist das Schwarz-weiß, in dem der Film durchgehend gehalten ist. Es schafft oft starke Kontraste und erhöht die Dramatik der Handlung. Die rohe Welt des Mittelalters im Anblick von Pest und Tod kommt so besonders zum Ausdruck.303 Helle und dunkle Bilder schaffen im Wechsel eine leichtere oder bedrückende Stimmung. Antonius Block etwa wird auf seiner pessimistischen Sinnsuche von eher düsteren Bildern mit starken Kontrasten begleitet. Außerdem bieten sich im Schwarz und Weiß, hell und dunkel, Parallelen zur Handlung an, als Unterschied zwischen Leben und Tod oder gut und böse. Direkt zu Beginn des Films erscheint der personifizierte Tod (Bengt Ekerot) – in bedrohlicher Großaufnahme, mit weiß geschminktem Gesicht und schwarzer Kutte, wie einem Theaterstück entstammend304 – um Antonius zu holen. Dieser überredet den Tod zu einem Schachspiel am Meer (das Spiel wird sich durch den ganzen Film ziehen), das ein ergiebiges Symbol darstellt305 und wieder als eine Grenze zwischen Diesseits und Jenseits aufgefasst werden kann. Er bittet um einen Aufschub, bis das Spiel beendet ist. Falls er gewinnen sollte, solle der Tod ihn verschonen (TC 00:01:09-00:04:46, Abbildung 9).

301 Becker, Sascha: Das siebente Siegel. Allegorien des Nichts – Zu Ingmar Bergmans ›Das siebente Siegel.‹, http://www.filmzentrale.com/rezis2/siebentesiegelsb.htm (Abgerufen 13.01.2019). 302 Dies gilt auch für die Filme des postklassischen bzw. New Extremity Kinos im Kapitel 3.3, die unter anderem vom europäischen Kunstkino beeinflusst wurden, vgl. Kapitel 3.3.1 303 Für Bergman wird das Publikum außerdem durch das Schwarzweiß in den kreativen Prozess eingebunden, in die Kommunikation mit dem Filmemacher und seinen Bildern. Vgl. Singer, Irving: Ingmar Bergman. Cinematic Philosopher. Reflections on his Creativity, Cambridge: MIT Press 2007, S.105. 304 »[...] nach Bergmans Wunsch eine Kombination aus schwarz gekleidetem Mann mit weitem Mantel und dem Gesicht des weißen Clowns.« Koebner, Thomas: Ingmar Bergman, S. 58. 305 Walther K. Lang dazu: »Eine tiefe Zwiespältigkeit kennzeichnet die Beziehung des Landwesens Mensch zum Meer [...] Die Vorstellung von den unbekannten Tiefen des Meeres verrät eine Phantasie, die sich von Bildern des Grauens nähren. Das Meer, in dem Schiffe im Sturm versinken, wird als verschlingendes Ungetüm vorgestellt.« Lang, Walther K.: Der Tod und das Bild, S. 89. Das Meer steht als Quelle des Lebens für alles Lebendige, durch seine Tiefen, die Mythen und die Ohnmacht des Menschen gegenüber den Wassermassen aber auch für den Tod.

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Abbildung 9: Das Siebente Siegel, Schachspiel mit dem Tod

Quelle: AB Svensk Filmindustri (1957), Still Archiv: Schwedisches Filminstitut

Die Szene des Schachspiels mit dem Tod erscheint wie ein Gemälde. Die Kontrahenten sitzen sich gegenüber, im Hintergrund rauscht das Meer. Und wirklich, das Motiv vom Schachspiel mit dem Tod scheint den Menschen des Mittelalters, etwa durch Wandmalereien, geläufig gewesen zu sein: »Spätestens um 1500 saß oder stand der Knochenmann im Elsass, in Graubünden und im schwedischen Uppland am Brett. Das berühmteste – freilich nur noch archivalisch nachweisbare – Zeugnis stammt aus dem Straßburger Münsterkreuzgang. Dort befand sich von 1480 bis 1715 eine Wandmalerei, deren Inschrift die Chronik des Oseas Schadaeus überliefert. Ein Kupferstich des niederrheinischen Meisters BR mit dem Anker gibt das Aussehen wieder: Vorne links sitzt der Kaiser, der seine Schachpartie gegen den Tod bereits verloren hat, da der schwarze Springer, der damals nur ein Feld schräg ziehen durfte, dem weißen König matt bietet. Zur gleichen Zeit hält der Engel am Kopfende des Tisches das abgelaufene Stundenglas empor. Seitlich sehen die weltlichen Ständevertreter zu: Frauen und Männer verschiedenen Alters sowie ein Kind. Ihnen gegenüber verfolgt die Geistlichkeit – darunter Papst und Kardinal – mit Bestürzung die Niederlage des Regenten. In den Schriftbändern mahnt der Engel, es gehe um die Seele und das Leben. Der Kaiser wendet sich an Gott, um Beistand zu erbitten. Doch der Tod gibt ihm keine Chance; er holt alle ohne Rücksicht auf Alter und Stand. Hinsichtlich der dargestellten, beziehungsweise erwähnten Ständevertreter sprechen Fachleute mit gutem Grund von einem Totentanz.«306

Bergman war das Motiv des Schach spielenden Todes ebenso vertraut. Er beziehe sich auf seine Kindheitserinnerungen an Kirchenmalereien, so John Stubbs in The Seventh

306 Wunderlich, Uli: Totentanz des Monats Februar 2012. Die zerstörte Wandmalerei im Straßburger Münsterkreuzgang, http://www.totentanz-online.de/TT-Monat/2012-02-Monats-TT.php (Abgerufen 22.01.2019).

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Seal.307 Wie im Totentanz holt sich auch der Schach spielende Tod Gegner jedes Alters und Standes, indem er sie besiegt. Das oben genannte Beispiel aus der Malerei verdeutlicht, dass Gott dem Beistand Erbittenden nicht antwortet, wie es auch Antonius Block im Film ergehen wird. Die Lebenszeit läuft ab, ohne dass Antonius’ Fragen beantwortet würden und der Einzige, den er zu Gesicht bekommt, ist der Tod. An diesen traditionellen Bildern bedient sich Bergman auch an anderen Stellen im Film. DAS SIEBENTE SIEGEL basiert damit direkt auf den bildenden Künsten, einzelnen bildlichen Kompositionen, die durch die filmische Bewegung zum Leben erweckt werden, obwohl sie vom Tod handeln: In einer Szene fingiert etwa ein Schauspieler (Erik Strandmark) seinen eigenen Tod (zuvor spielte er schon den Tod) und wird dafür bestraft: Als alle Zeugen weg sind, erwacht er zu neuem Leben und beschließt die Nacht in der sicheren Höhe eines Baums zu verbringen und sich am nächsten Tag wieder Jof und Mia anzuschließen. Unten wartet aber schon der Tod und fällt den Baum, um ihn zu holen (TC 00:55:55-01:06:43). Im Schuss-Gegenschuss vom Baum herab und hinauf, nahe den beiden Figuren, aber nicht deren Perspektive einnehmend, ergibt sich ein amüsantes Gespräch, in dem der Schauspieler sich aus der Situation herauszuwinden versucht, was ihm jedoch nicht gelingt. Die Kamera bleibt dabei näher beim Schauspieler, dem auch der Zuschauer sich näher fühlt als dem undurchsichtigen Tod. Der ist zwar eine Figur mit durchaus humanen Zügen, kein Schreckgespenst, aber eben dennoch der Tod und kein Mensch. Er gibt nichts von sich preis und schafft keinen Raum für Identifikation oder Sympathie. Es ist offenkundig, dass es sich bei dieser Szene um ein Todessymbol handelt: Der Baum ist als Lebensbaum anzusehen und der Schauspieler stirbt als der Tod ihn fällt. Das Bild vom Baum des Lebens ist zudem ein biblisches Motiv: Im Garten Eden wuchs laut dem Alten Testament neben dem Baum der Erkenntnis, der Baum des Lebens.308 Nachdem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen haben, vertreibt sie Gott aus dem Paradies, damit sie nicht auch noch vom Baum des Lebens essen und unwiderruflich ewiges Leben erlangen.309 Durch den Tod Christi ist den 307 »A source [...] in Bergman’s life is the medieval wall paintings which he saw in rural churches as a boy listening to his father preach. Bergman has written: ›There was everything that one could desire – angels, saints, dragons, prophets, devils, human being ... In a wood sat Death, playing chess with the Crusader. Clutching the branch of a tree was a naked man with staring eyes, while down below stood Death, sawing away to his heart‘s content. My mind was stunned by the extreme cruelty and the extreme suffering‹« Stubbs, John: »The Seventh Seal«, in: Journal of Aesthetic Education, Vol.9, Nr. 2 (1975), S. 6276, hier S. 66. 308 »Und Gott, der Herr, ließ aus der Erde allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und gut davon zu essen, den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.« Gen 2,9. 309 »Dann sprach Gott, der Herr: Siehe, der Mensch ist geworden wie einer von uns; sodass er Gutes und Böses erkennt. Dass er nun nicht aber seine Hand ausstreckt und auch von dem Baum des Lebens nimmt und davon isst und ewig lebt! Darum entfernte Gott, der Herr, den Menschen aus dem Garten Eden, damit er den Erdboden bebaue, von dem er genommen ist. Und nachdem er den Menschen vertrieben hatte, stellte er östlich vom Garten Eden die Kerubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachen.« Gen 3,22-24.

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Menschen später der Weg ins Paradies wiedereröffnet. Das Essen vom Baum der Erkenntnis brachte den Menschen demnach den Tod, das Opfer Christi am Kreuz, das nach mancher Auslegung aus dem Baum des Lebens gefertigt wurde, gab ihnen die Möglichkeit zu ewigem Leben zurück. In der Offenbarung des Johannes, dem Leitmotiv von DAS SIEBENTE SIEGEL, wird festgehalten, dass bei der Wiederkehr von Jesus Christus der Baum des Lebens den rechtschaffenen Menschen wieder zugänglich sein wird.310 In Bergmans Film ist diese Unsterblichkeit jedoch nicht denkbar. Der Tod fällt den Lebensbaum und holt sich eine weitere Seele. Ob es anschließend ein Jenseits im Himmel geben wird, in dem die unsterbliche Seele fortbesteht, bleibt Spekulation. Bei einer Art letztes Abendmahl311 nehmen Antonius, Jof und dessen Frau Mia (Bibi Andersson) auf einer Decke auf einer Wiese Platz und Mia reicht frisch gemolkene Milch und Erdbeeren – was Bergman-Fans sofort an seinem im gleichen Jahr entstandenen WILDE ERDBEEREN denken lässt312 – und was gleichzeitig das Bild von Maria und Josef unterstreicht, das Jof und Mia schaffen. Ähnlich einem VanitasGemälde werden alle Speisen (und Menschen) im Bild vergehen. Während die drei wie auf einem Gemälde einträchtig nebeneinander sitzen und die frischen Speisen teilen, sieht man im Hintergrund als mahnendes Memento mori eine Totenmaske hängen, ein Kontrast zum Leben, das sich im Vordergrund abspielt. Der Unterschied zwischen der fröhlichen Schauspielerfamilie und dem verbitterten Antonius, der schon zuvor im Film ersichtlich war, sowohl narrativ, als auch auf der Bildebene (indem die Schauspielerfamilie in helleren, leichteren Bildern präsentiert wurde als der Ritter313) tritt hier besonders stark hervor: Mia sagt Antonius das Leben sei schön, jeder neue Tag sei der Tod des anderen und man müsse alles so nehmen wie es kommt. Jof spielt zufrieden Musik für die Anwesenden. Trotz der ärmlichen Verhältnisse, in denen sie leben, genießen sie das Leben. Antonius lässt sich davon anstecken und erkennt, wie kostbar Augenblicke wie dieser sind und dass es eigentlich immer nur um solche Augenblicke gehen kann, die man mit all seinen Sinnen wahrnimmt. Der Sinn des Lebens 310 »Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt: Wer siegt, dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens, der im Paradies Gottes steht.« Offb 2,7. 311 Vgl. Ghoshal, Ananya: »Not a day has gone by in my life when I haven’t thought about death – Ingmar Bergman«, in: Haliburton, T. Chandler/Edwards, Caroline (Hg.), Mortality, Dying and Death. Global Interdisciplinary Perspectives, Oxford: Inter-Disciplinary Press 2007, S. 337-347, hier S. 343. 312 WILDE ERDBEEREN befasst sich ebenfalls stark mit dem Thema Tod: Die Hauptfigur Isak Borg (Victor Sjöström) sieht die eigene Lebenszeit ablaufen und fürchtet, ebenso wie Antonius Block, den Tod. Der Albtraum geplagte Medizinprofessor reist mit seiner Schwiegertochter Marianne (Ingrid Thulin) nach Lund zu seinem 50jährigen Promotionsjubiläum. Unterwegs, im Austausch mit verschiedenen Menschen, ändert sich seine Haltung zum Leben und die Todesangst schwindet. Obwohl der Film ebenfalls sehr ergiebig für das Thema Tod ist, kann er hier der Länge wegen nicht ausführlicher diskutiert werden. 313 »Bergman hat die Momente der glücklichen Familie mit Gunnar Fischer, seinem Kameramann bis Ende der fünfziger Jahre, in leichtere, hellere Bilder umgesetzt als die oft in starken schwarzweiß Kontrasten inszenierten Begegnungen des Ritters mit dem Tod [...]« Raabe, Kai Beate: »Das Siebente Siegel«, in: Töteberg, Michael (Hg.), Film-Klassiker, Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2006, S. 132-133, hier S. 133.

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scheint demnach in diesen Augenblicken zu liegen. Für den Moment ist die Frage nach einer Existenz Gottes irrelevant, das, was greifbar da ist, ist entscheidender. Das Diesseits ist nun wichtiger als das Jenseits (TC 00:46:29-00:54:37). Dieser Moment gibt Antonius den entscheidenden Sinn im Leben, den er so verzweifelt suchte: Er will der Familie helfen – und wird ihr auch bald das Leben retten. Die Eintracht im Augenblick stellt eine Art Gegenstück zum Vanitas-Gemälde dar, in dem alle Symbole nur auf Vergänglichkeit und Nichtigkeit verweisen: Alles was im Bild zu sehen ist, ist in einem Augenblick kostbar und das greifbare Irdische übersteigt für diesen Augenblick sogar Gedanken an ein mögliches Himmelreich. Die Erdbeeren, die in WILDE ERDBEEREN noch einmal eine zentrale Rolle spielen werden, gehören, so Thomas Koebner, zu »ein[em] magische[n] Ort der Rückkehr zur Natur und zur Jugend bei Bergman.«314 Heike Ließman führt noch genauer aus: »›Smultronstället‹ hat im Schwedischen zwei Bedeutungen: Das Wort bezeichnet den Platz der Walderdbeeren und ist zugleich ein Synonym für einen Ort außerhalb des Alltagstreibens, steht für Muße und Erholung, Innehalten und Verbundenheit mit der Natur. Die süßen, aber empfindlichen Sommerfrüchte tauchen in vielen Filmen Ingmar Bergmans auf, in frühen Werken wie Törst (Durst, 1948/49) oder Sommarlek (Einen Sommer lang, 1950) ebenso wie in seinem letzten Film Fanny och Alexander, wo sie nur noch Erinnerung sind: Symbole des verlorenen Paradieses, der reinen Liebe, der Jugend und des Glücks.«315

Wie Fotografien stehen sie für einen bewahrten, kostbaren Augenblick, der aber in der Realität unweigerlich vergehen muss, wie die Erdbeeren selbst und die Menschen, die sie essen. Die Bewegungsfähigkeit des Films übertrifft auch hier die des immobilen Vanitas-Gemäldes und alles augenblicklich Lebendige erscheint besonders lebendig. Gleichzeitig hat die Szene aber etwas Zeitloses, Innehaltendes, im sonst ablaufenden Film und erinnert an seine Fähigkeit, Vergängliches zu bewahren. Diese Idylle wird unterbrochen, was sich schon musikalisch zeigt: in dem Moment, in dem der Tod wieder auftaucht, wird Jofs Saitenspiel von düsterer Musik überlagert. Wieder spielen Antonius und der Tod Schach. Der Tod erkundigt sich nach Jofs und Mias Kind und Antonius wird klar, dass dieses in großer Gefahr ist (TC 00:54:39-00:55:54). Nach diesem letzten Abendmahl wird Antonius, wie Jesus Christus, sterben. Statt wiederauferstehen zu können, wird er sich für die Gauklerfamilie opfern. Er wird ihren Tod hinauszögern und dadurch seinem eigenen einen Sinn geben. Ein gemalter Totentanz taucht (quasi intermedial) in einer Kirche auf und soll den Menschen ihre Vergänglichkeit vor Augen führen. Der Atheist Jöns unterhält sich mit dem Maler, der im Auftrag des Pfarrers gezielt besonders grausige Bilder kreiert, damit das Volk sich ängstigt und mit Glauben und Geld der Kirche zuwendet. Hier zeigt sich Jöns’ zynische aber humorvolle Haltung zu Leben und Tod. Währenddessen geht der fromme Antonius zur Beichte, weiß jedoch nicht, dass er dem Tod berichtet. Dies erhöht für den Zuschauer die Spannung, da er, im Gegensatz zu Antonius, den Betrug sofort durchschaut. Antonius gesteht seine Zweifel an einer Existenz Gottes nach zehn Jahren Kreuzzügen. Diese Zweifel sind für das Mittelalter, in dem jeder seinen Platz 314 Koebner, Thomas: Ingmar Bergman, S. 30. 315 Ließmann, Heike: »Wilde Erdbeeren«, in: Töteberg, Michael (Hg.), Film-Klassiker, Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2006, S. 174-175, hier S. 174.

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in der Welt hatte und bedingungslos an die himmlische Ordnung glaubte, ungewöhnlich.316 Die gesamte Szene ist in starken hell-dunkel-Kontrasten und leichten Unter- oder Oberansichten gehalten, was eine beunruhigende Wirkung erzeugt. Es ist, als würde die Kamera die Unruhe und Verzweiflung von Antonius widerspiegeln. Während seiner Ansprache wird aus Antonius Sicht auf das schmerzverzerrte Gesicht einer gekreuzigten Christusfigur über ihm an der Wand geschnitten, die beiden werden so miteinander in Verbindung gesetzt. Interessant ist hier, dass nicht der verwundete Körper, sondern das Gesicht im Vordergrund steht, als hätte man es wieder mit der lesbaren Mimik einer Person zu tun. Auch Jesus Christus war im Angesicht des Todes auf sich allein gestellt und fühlte sich verlassen. Durch die Erfahrung der Kreuzzüge und der wütenden Pest, der apokalyptischen Vorzeichen, erscheint Gott Antonius fern (allerdings hat er es Jesus Christus ermöglicht, den Tod durch seine Auferstehung zu überwinden). Seinen Glauben aufgeben kann Antonius dennoch nicht. Nur wenn es einen Gott und einen Himmel gibt, kann er all den irdischen Schrecken einen Sinn abgewinnen und ohne Furcht seinem Ende entgegengehen. Es ist die bis heute aktuelle Frage nach dem Sinn des Lebens. Thomas Koebner: »Es ist das übliche Ringen um den abwesenden Gott, das in Zeiten großer Gefahr viele Menschen bewegen mag, die sich als sinnlose Opfer des Schicksals fühlen müssen.«317 Die grausame Gewissheit der traditionellen Totentänze, dass der Tod einen holen wird, die Bußegedanken mit Hoffnung auf ein besseres Leben im Himmelreich, werden hier mit modernen Zweifeln gekoppelt, ob es dieses Himmelreich überhaupt jemals geben wird. Im Glauben, er rede mit einem Priester, gibt Antonius dem Tod auch noch seine Schachstrategie preis und besiegelt damit sein Schicksal. Der Tod gibt sich ihm zu erkennen und verabredet ein Spiel in der Schenke. Der unfaire Tod kann einen plötzlich und hinterrücks überfallen, ein Spiel mit ihm ist immer gefährlich. Antonius fühlt sich aber (und der Zuschauer mit ihm) im Angesicht des Todes besonders lebendig und nimmt diese Herausforderung an (TC 00:15:21-00:22:36). Zum Schluss des Films findet dann noch ein wirklicher Totentanz statt. Der Gaukler Jof (Nils Poppe) hat eine Vision: Auf einem Hügel in der Ferne sieht er, wie der Tod vorneweg geht und Antonius und seine Gefolgsleute zwingt, hinter ihm her zu tanzen. Sie bewegen sich wie üblich von rechts nach links, in die teuflische Richtung und halten sich an den Händen. Jetzt trägt der Tod zum ersten Mal traditionsbewusst auch Sense und Stundenglas bei sich (TC 01:29:58-01:32:08). Der Totentanz, der in DAS SIEBENTE SIEGEL immer wieder auftaucht, legt die Frage nah, ob es auch hier einen gesellschaftlichen Anlass für den Film gab. Die Bedrohung des kalten Krieges scheint eine nachvollziehbare Grundlage zu sein. Die Massenvernichtung im II. Weltkrieg klang noch nach, die Gefahr eines Atomkriegs war noch immer gegeben. Für Bergman war es aber, so Irving Singer, entscheidender, seine persönliche Todesangst zu thematisieren und filmisch zu bewältigen,318 was wieder der in den ersten Kapiteln beschriebenen Bannung des Todes durch seine Darstellung gleichkommt.

316 Die Frage nach der Existenz Gottes ist ein Leitthema bei Bergman, das auch in GEFÄNGNIS und WILDE ERDBEEREN aufgegriffen wird. 317 Koebner, Thomas: Ingmar Bergman, S. 59. 318 Vgl. Singer, Irving: Ingmar Bergman, S. 102.

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Neben diesen auf Motiven der Malerei beruhenden Szenen bietet DAS SIEBENTE SIEGEL auch eine Reihe von Großaufnahmen – gemäß Gilles Deleuze Affektbilder, die Ausdrucksbewegung erkennen lassen319 – die für eine Todesbegegnung interessant sind: So sieht man etwa das kindliche Gesicht einer vermeintlichen Hexe (Maud Hansson), die auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden soll. Ihre Erscheinung erinnert stark an Jeanne d'Arc320 und ihr wird nachgesagt, sie stünde mit dem Teufel im Bunde und habe die Pest ins Dorf gebracht. Dem ohnmächtigen Zuschauer, der nicht eingreifen kann, erscheint diese Schuldzuweisung irrsinnig und ihr junges leidendes Gesicht erweckt Mitleid. Ebenso empfindet auch Antonius hier zum ersten Mal so etwas wie Mitgefühl, aber sein Interesse an ihrem Bund mit dem Teufel ist stärker – denn wo ein Teufel ist, da muss auch ein Gott sein – und er versucht auch nicht sie zu retten (TC 01:06:44-01:15:15). Eine erinnerungswürdige Großaufnahme ist auch die eines Pesttoten den Jöns auf dem Weg in die Stadt nach dem Weg fragen will. Nach Jöns vorangegangenem Bericht von apokalyptischen Vorzeichen wie sich öffnenden Gräbern und vier Sonnen am Himmel, ist dies ein besonders furchterregender und Unheil verkündender Memento mori. Jöns erschreckt sich kurz über das halb verweste, Transi-hafte und damit abjekte Gesicht ohne Augen, sagt dann aber trocken, der Mann habe ihm nicht den Weg genannt, sein Gesicht sei jedoch sehr beredt gewesen (TC 00:06:50-00:07:42). Der Tod, hier durch einen Toten verkörpert, kommt so nicht nur dem Knappen greifbar nah, sondern auch dem Publikum, das vor einem solchen Anblick für gewöhnlich verschont bleibt. Das ehemals menschliche Gesicht ist starr wie eine Totenmaske und es lässt sich keine Mimik mehr ableiten. Brian Gourly führt in Manifestations of the Grotesque and Carnivalesque Body in Ingmar Bergman’s The Seventh Seal aus: »The face is recognisably human but the absence of eyes and facial flesh shatters the possibility of the face being identified as a recognisable individual with a visible identity.«321 Dem Toten ist somit die Identität genommen. Er ist ein lebloses Ding und der Zuschauer sucht in der Großaufnahme vergebens nach menschlicher Mimik. Es gibt kein Gegenüber mit einer Persönlichkeit mehr. Der Mensch ist ausgelöscht, auch wenn seine Hülle noch vorhanden ist. Nach Kristevas Definition des Abjekts ist durch diesen grauenhaften Anblick der Leiche gleichzeitig die Identität des Zuschauers gefährdet, der sich in der schockhaften Auseinandersetzung mit dem Tod zu verlieren droht, wie in Kapitel 2.1.2 diskutiert wurde. 319 Im Affekt werde aus der filmischen Bewegung eine Ausdrucksbewegung. Vgl. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1996 [1983], S. 97. »Ein Affektbild ist eine Großaufnahme und eine Großaufnahme ist ein Gesicht.« Ebd., S. 123. 320 Außerdem erinnert dies an die eindrücklichen Großaufnahmen in Carl Theodor Dreyers Stummfilm LA PASSION DE JEANNE D’ARC (Frankreich 1928, R: Carl Theodor Dreyer). Diese mussten naturgemäß auf gesprochene Dialoge verzichten und jegliche Aussagekraft in die Mimik der Angeklagten legen. Deleuze sieht hierin den »affektiven Film par excellence [...]« Ebd., S. 148. 321 Gourly, Brian: Manifestations of the Grotesque and Carnivalesque Body in Ingmar Bergman’s The Seventh Seal, School of English. Queens University Belfast, Quest, Vol.1 (2006), Ohne Seitenangaben. https://notendur.hi.is/larsj/Ingmar%20Bergman%20I/ Manifestations%20of%20the%20Grotesque.pdf (Abgerufen 13.01.2019).

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Diese Erfahrung lässt sich aber noch um ein Vielfaches steigern, wie Kapitel 3 zeigen wird. Während das erschreckende Gegenüber hier bereits tot ist, sind die Figuren dort gerade noch am Leben und kämpfen in der Bewegung des Films ums Überleben. Die Übergänge, das bewegte Visuelle, das von auditiven Eindrücken begleitet wird, die vermittelte Gegenwärtigkeit und der empfundene Distanzverlust durch diese Eindrücke, unterscheiden sich grundlegend von dem, was schon tot ist. Der Tote im Film hat alles Grausame schon hinter sich, er ist ein Bild – das Abbild eines gewesenen Menschen – und erschreckt nur kurz durch seinen unerwartet entstellten Anblick. Er gruselt einen, weil man nur erahnen kann, was ihm widerfahren sein mag, wie ihn etwa eine Krankheit, wie die Pest, gequält haben mag. Eindrücklich ist im SIEBENTEN SIEGEL auch die Großaufnahme eines Mädchens (Gunnel Lindblom), das Jöns gerettet hat, gegen Ende des Films. Die Reisenden haben es bis in die Burg von Antonius geschafft, aber hier ist ihr Weg zu Ende: Jemand klopft an die Tür, doch als Jöns nachsieht und zurückkehrt sagt er, er habe niemanden gesehen. Alle Anwesenden blicken Richtung Tür. Im Gegenschuss sieht man die schemenhafte Gestalt des Todes. Nun sieht man das Gesicht des Mädchens, das Jöns gerettet hat. Sie weint. Die Kamera fährt zurück und sie folgt ihr, wie auch die anderen. Sie gehen demnach dem Tod entgegen. Die Hausherrin (Inga Landgré) heißt ihn willkommen, der Schmied (Åke Fridell) stellt sich und seine Frau (Inga Gill) vor. Antonius betet in Todesangst zu Gott, aber Jöns versichert ihm, dass er ins Nichts bete. Das Mädchen kniet nieder, die (subjektive) Kamera nähert sich ihr, stellvertretend für den Tod, wieder an. Sein Schatten fällt auf ihr Gesicht, das unterschiedliche Emotionen erkennen lässt und es ist klar, dass er alle Anwesenden mit sich nehmen wird (TC 01:22:19-01:29:57). Entgegen dem personifizierten Tod, der mit regloser, ernster Miene blickt, oder dem starren Gesicht des Pesttoten – beide sind nicht lesbar, es gibt kein interpretierbares Mienenspiel – spiegeln die Gesichter der beiden Frauen verschiedene Emotionen wieder: Angst, Trauer, aber auch eine gewisse Bereitschaft. Dies schafft eine Metaebene, die sich wie eine eigenständige Erzählung über die des Films legt. Anders als bei der Fotografie oder dem Freeze Frame sind durch die Bewegung des Films auch Nuancen und Übergänge von Emotionen erkennbar. Die Großaufnahme, so Gertrud Koch in Nähe und Distanz, lasse wie durch ein Vergrößerungsglas blickend Spuren verborgenen Schmerzes oder versteckter Lust erkennen.322 Die Regungen im Gesicht eines anderen, selbst noch einer Filmfigur, würden Interaktion ermöglichen, ließen dessen körperlichen Sensationen, Affekte und Emotionen erkennen und würden so einen vor-linguistischen, da intuitiven Zugang schaffen, wie u.a. das Kapitel 3.1.4 ausführen wird.323 322 Vgl. Koch, Gertrud: »Nähe und Distanz: Face-to-face-Kommunikation in der Moderne«, in: Dies., Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995, S. 272-291, hier S. 277. 323 »Der Eintritt ins Symbolische beginnt dementsprechend um einiges früher, als die psychoanalytische Theorie bisher angenommen hatte, möglicherweise sogar in einem vorlinguistischem Stadium. Über Blick und Gesicht als erstem Interaktionssystem entwickelt sich früher als angenommen ein Selbst. Subjekt/Objekt-Beziehungen beginnen demnach früher, und das Stadium der primären Symbiose erscheint von diesem Standpunkt aus gesehen nicht mehr zu sein als eine Rückprojektion, die für die erlittenen Unbill des

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Die Mimik der Gesichter erzählt (natürlich handelt es sich um Fiktion, denn es sind vorgetäuschte Affekte von Schauspielern) von einer Begegnung mit dem Tod und den Facetten von Emotionen, die diese auslöst. Man kann sich den eigenen Tod nicht vorstellen und echte Lebensgefahr erschließt sich einem meist nur über Mikromomente, wie ein schnell heranfahrendes Auto, das einen erschreckt. Hier im Film wird aber eine Situation geschaffen, in der man dem Tod über den Stellvertreter, die Figur, begegnen kann. Über ihre Reaktionen, die Affekte, die sich in ihrem Gesicht (besonders stark eben in Großaufnahme) ablesen lassen, erlebt der Zuschauer mit, was sie erlebt, ohne zwangsläufig genau zu empfinden, was sie empfindet. Hermann Kappelhoff dazu: »Das Bildnis, die Darstellung des Gesichts, ist für [den Zuschauer] nicht so sehr das Fenster der fremden Seele, als vielmehr der Zauberspiegel eines idealen Selbst: ein buchstäblich selbstgenügsamer Genuß eigener Empfindungskräfte.«324 Wie bei der Begleitung eines Sterbenden erlebt man den Tod hier demnach über den anderen, die Filmfigur, mit. Die Großaufnahme ermöglicht dem Zuschauer zudem – ähnlich Fotografien oder dem Freeze Frame, aber mit den Minimalbewegungen vermischter Emotionen in der Mimik – ein Innehalten, eine Reflexion über diese Emotionen, hier auch die Erfahrung des Todes, die im schnellen Wechsel der Filmbilder sonst nicht möglich ist. Was nach dem Tod aus Antonius und den anderen wird, erfährt man als Zuschauer nicht. Antonius Fragen werden auch nach seinem Tod, wo er Gewissheit haben müsste, nicht beantwortet. Der Tod ist nunmal ein subjektives Ereignis, das sich nicht darstellen lässt. Es ist wohl zu viel verlangt, dass ein Film darauf Antworten geben könnte. Der Zuschauer muss sein eigenes Ende abwarten, um sie vielleicht selbst zu finden. Da der Film mit dem Leben (der Schauspielerfamilie) abschließt und nicht mit dem Tod, kann man aber wenigstens einen Triumph des Lebens über den Tod erkennen. Immerhin bekommt man als Zuschauer bestimmte Ansätze dafür, wie man mit Leben und Tod umgehen könnte: Man sollte keine Zeit verlieren sein Leben zu nutzen, eben weil es endlich ist. Obwohl DAS SIEBENTE SIEGEL im Mittelalter spielt und auf christliche Motive der Malerei zurückgreift, predigt der Film, ganz anders als diese, man solle nicht auf ein Jenseits hoffen und das Diesseits ertragen, sondern Augenblicke wertschätzen, all das was man hat – vielleicht bekommt man nach dem Tod nicht mehr.

2.4 ZWISCHENRESÜMEE: DER FILM IST EIN TOTENTANZ Die Art, wie das Medium Film den Tod (ersatzweise) präsentiert, kann sehr unterschiedlich ausfallen. Wie die Fotografie kann es unbewegte Tote zeigen, dazu bewegte Untote; das Töten im Akt, den Todesmoment, in dem etwa eine Figur in Großaufnahme

schwierigen und als konflikthaft erlebten Stadiums oraler Abhängigkeit entschädigen soll durch die Phantasie eines Goldenen Zeitalters eines Reiches ohne Grenzen zwischen sich und den anderen.« Ebd., S. 285/286. 324 Kappelhoff, Hermann: »Bühne der Empfindungen, Leinwand der Emotionen – das bürgerliche Gesicht«, in: Gläser, Helga/Groß, Bernhard/Kappelhoff, Hermann (Hg.), Blick Macht Gesicht, Berlin: Vorwerk 8 Verlag 2001, S. 9-41, hier S. 10.

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dramatisch die Augen weitet, den personifizierten Tod, aber niemals den Tod als subjektives Ereignis. Trotz all seiner Technik scheint der Film keinen Schritt weiter zu sein als die Malerei der vergangenen Jahrhunderte. Er erlaubt zwar Einblicke, die vorher unmöglich schienen, wie Aufnahmen im mikroskopischen Bereich oder extreme Zeitraffer, aber er beleuchtet damit nur Ebenen des Sichtbaren und Lebendigen, die zuvor verborgen geblieben waren. Geht es um den Tod, behilft er sich, wie die Malerei, mit Symbolen. Da gibt es beispielsweise das Stillstehen der Zeit, die Augen die dem Toten geschlossen werden, das Schwarzbild im Todesmoment wie in Ingmar Bergmans Gefängnis, aber auch Rückgriffe auf alte Motive wie Personifizierungen des Todes: Statt Transis in Totentänzen sind es nun Zombies, der wandelnde Tod, der auf reale Krisen und das potentielle Ende der Menschheit verweist. Statt dem Skelettmann sind es comichafte Animationen von Skeletten, die amüsant, aber nicht ohne groteske Züge, ein eindringliches Memento mori ausdrücken. Sie sind meist ausgelassen und erscheinen besonders lebendig, obwohl ein totes ›Ding‹ wie ein Skelett – bei Tim Burton dargestellt durch eine ebenso tote Puppe – ja eigentlich zum ewigen Stillstand verdammt sein müsste. So sind Burtons melancholisch-fröhliche Geschöpfe, so sehr sie in ihrem Verhalten und Empfinden lebenden Menschen ähneln, doch nur im zweifachen Sinne Doppelgänger des Lebens, wie nur der Film sie schaffen kann. Die narrative Behandlung des Themas Tod im Film ist immer eng verschränkt mit seiner Medialität. Die tanzenden Skelette gibt es auch in der Malerei, aber nur im Film sind sie wirklich zu bewegtem Tanz fähig. Selbst durch die reine Technik, unabhängig von der Narration, können Todesassoziationen entstehen, wie etwa der Freeze Frame im Kontrast zum sonst bewegten Film gezeigt hat. In allem, was der Film durch seine Bilder zeigen kann, geht er zunächst vom echten Leben aus: Wie die Malerei kann er die dreidimensionale Wirklichkeit nur andeuten. Beleuchtung und Montage abstrahieren sie noch weiter, schaffen so aber oft erst einen realistischen Effekt. Wie sich der Film dem Leben immer nur annähern kann, so auch dem Tod. Er ist etwas Künstliches, Symbolisches, das nur vortäuschen kann reale Ereignisse mimetisch wiederzugeben und »weder Leben noch Tod lassen sich in Bildern und Texten fixieren. Sterben ist ein Übergang, ein zeitlicher Prozess, der nicht zu fassen ist, sondern immer im Dazwischen bleibt,«325 so Thomas Macho und Kristin Marek in Die neue Sichtbarkeit des Todes. Dasselbe lässt sich allerdings über den flüchtigen Film sagen, der nur im Ablauf existiert und den anzuhalten ihn zu ›töten‹ bedeuten würde. Dort, wo der Prozess noch nicht abgeschlossen ist, der Tod als eingefrorener Zustand noch nicht eingetroffen ist – im Töten, im Sterben und Hinübergehen – so wird Kapitel 3 untersuchen, können sich Film, Zuschauer und Tod ansatzweise verschränken. Der Film beinhaltet den Index der Fotografie, der bezeugt (oder behauptet), dass es den Menschen wirklich gegeben hat. Deren mechanisches Verfahren hält echtes Leben – oder auch Tote – fest, friert es ein und macht es damit dauerhaft haltbar, was im ständig weiterlaufenden Leben niemals möglich wäre. Die Figur, den personifizierten Tod etwa, mag es so nicht gegeben haben, wohl aber den Schauspieler, der ihn spielt. Fotografien schaffen für Roland Barthes eine direkte Verbindung zur Vergangenheit, zu verstorbenen Verwandten, die sonst verloren wäre. Doch schon dadurch

325 Macho, Thomas/Marek, Kristin: »Die neue Sichtbarkeit des Todes«, S. 17.

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schwingt der Tod mit, die Vergänglichkeit zeigt sich bei jedem Blick auf alte Fotografien. Die Fotografie selbst ›tötet‹ die Bewegung. Der Film gibt den eingefrorenen Momenten ihre Bewegung zurück und schafft ›lebende Mumien‹, wie schon André Bazin festgestellt hat. Gemäß Henri Bergson lassen sich Bewegungen und Veränderungen aber nicht in starre Einzelbilder unterteilen, denn: »Now, life is evolution. We concentrate a period of this evolution in a stable view which we call a form, and, when the change has become considerable enough to overcome the fortunate inertia of our perception, we say, that the body has changed its form. But in reality the body is changing form at every moment; or rather there is no form, since form is immobile and the reality is movement.«326

Die Reanimation der Bewegung durch den Film gibt ihr nie das vollständig Lebendige zurück, da nur mehrere starre Zustände miteinander verbunden werden. Wie die Totentänze die Lebenden kopieren/verhöhnen, gilt dies gewissermaßen auch für den Film. Die Tatsache, dass der Film Bewegung nur nachahmt wie er das Leben nachahmt, lässt sich aber leicht ausblenden, wenn man sich der Illusion eines Kinofilms hingibt. Es erschließen sich unbekannte Welten und alles scheint möglich: Singuläre Ereignisse lassen sich beliebig oft wiederholen, Geschehenes lässt sich ungeschehen machen, was besonders im Hinblick auf den Tod ein gewaltiger Schritt ist. Jan Holmberg wählt in ›I am Dead‹: Notes on Cinema’s Refutation of Time ein besonderes Beispiel, das Leben und Tod, Kinoillusion und Realität miteinander verbindet, den Tod des Hauptdarstellers von THE CROW (1994)327 am Set des Films, der sich auf wundersame Weise in der Handlung spiegelt: »A man and his fiancée are brutally murdered on Devil’s night. But death proves not to be final, because a year later the man returns from his grave to seek vengeance on his killers: a common task for ghosts as we all know. But tragically enough, the theme of The Crow was further emphasised by an accident. During the shooting of the film (a horrifically apt metaphor), a mistake is being made and a gun is being loaded with live ammunition, rather than blanks. The shot is fired, hits and kills the star of the film, Brandon Lee. Being almost completed, the producers decide to finish the film anyway. For the scenes with Lee still not recorded, they use a body double, whose face is digitally exchanged for Brandon Lee’s. Finally, The Crow opens, and the audience gets to see a dead man.«328

Plötzlich gibt es also eine Dopplung: Die Figur kann sterben, doch der Schauspieler stirbt sonst nicht mit ihr, wie schon im Hinblick auf Ingmar Bergmans GEFÄNGNIS besprochen wurde. Hier ist der Schauspieler aber gewissermaßen mit der Figur gestorben, auch wenn sein realer Tod nicht auf der Leinwand festgehalten wurde. In einer Szene, so Holmberg, ruft ein Polizist dem Protagonisten mit erhobener Waffe zu: ›Move and You’re dead.‹, woraufhin dieser antwortet: ›And I say I’m dead. And I 326 Bergson, Henri: Creative Evolution, London: MacMillan & Co. Verlag 1922, S. 318/319. 327 THE CROW (USA 1994, R: Alex Proyas). 328 Holmberg, Jan: »›I am Dead‹: Notes on Cinema’s Refutation of Time.«, in: Haliburton, T. Chandler/Edwards, Caroline (Hg.), Mortality, Dying and Death. Global Interdisciplinary Perspectives, Oxford: Inter-Disciplinary Press 2007, S. 349-356, hier S. 354.

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move.‹ Der Film schafft damit das Unmögliche: Der Stillstand des Todes wird überwunden, ein Toter kann sich bewegen. Im tragischen Fall von Brandon Lee gilt das sogar für ein verlorenes echtes Leben außerhalb der Kinoleinwand, das auf der Leinwand bewahrt wird.329 Die Illusion des Lebendigen, die der Film durch seine Bewegtheit schafft, übertrifft die Fotografie, die lediglich Augenblicke bewahren kann. Die Annäherung des Films an das dahinfließende Leben erinnert aber auch an Vergänglichkeit und Tod. Durch das Wiederaufgreifen der unbewegten Fotografie im Freeze Frame wird der Kontrast zwischen Stillstand und Bewegung, Bewahren und flüchtigem Ablaufen, Tod und Leben, besonders deutlich. Auf narrativer Ebene spiegelt der Film im Grunde immer nur die Unfähigkeit der Menschen wider, sich den Tod vorzustellen. So wie Ingmar Bergmans Antonius Block keine Antworten auf seine Fragen nach einer Existenz Gottes und einem Leben nach dem Tod erhält, geht der Kinozuschauer aus jedem Film, ohne das Phänomen Tod wirklich weiter erschlossen zu haben. Der Film kann nur die existentiellen Fragen zu Leben und Tod aufgreifen und reflektieren: Obwohl DAS SIEBENTE SIEGEL im Mittelalter angesiedelt ist, erscheinen Fragen wie die nach der Existenz Gottes sehr modern. Bergman wollte sicher keinen Historienfilm drehen, sondern er wählte eine Zeit in der Religiosität, aber auch die Angst vor dem Tod besonders stark waren – man denke nur an die schaurigen Makaberdarstellungen. Wie bei den Totentänzen und dem Zombiefilm, gibt es eine reale Erschütterung der Gesellschaft, die, neben privaten Motiven Bergmans, einen Anlass für diesen Film bietet: den Krieg und die ausgeprägte Todesangst vor einem Atomkrieg. Und so taucht auch der Totentanz selbst im Film auf, nicht nur als Wandgemälde, sondern als ein Ereignis, dem Antonius und sein Gefolge selbst beiwohnen müssen. Die Bilder, auf die Bergman sich in DAS SIEBENTE SIEGEL bezieht, das Schachspiel mit dem Tod, der Baum des Lebens, der vom Tod umgesägt wird, der Totentanz, werden zwar nicht durch Freeze Frames festgehalten, aber dennoch sind sie verweilenden Augenblicken der Malerei oder Fotografie sehr ähnlich. Da es sich um idealisierte symbolische Verbildlichungen des Sterbens handelt, die sich auf christliche Motive der Malerei beziehen, scheinen sie eine eigene Zeitlichkeit aufzuweisen. Der übrige Film läuft ab, wie die Lebenszeit, seine Filmbilder sind flüchtig, wie es beim Film üblich ist. In den symbolischen Bildern setzt diese Zeitlichkeit aber aus, sie stehen immerwährend da. Die Begegnungen mit dem personifizierten Tod im Film scheinen ebenfalls einer anderen Sphäre anzugehören, da ihn niemand sehen kann, außer Antonius und Jof. Das Sterben gehört zum Kino und das gilt für alle Genres. Es bewegt den Zuschauer, es lässt ihn Parallelen zu seinen eigenen Erfahrungen ziehen, aber er kann es, vom Kinosessel aus, nicht aufhalten und wird sich nicht dazu genötigt fühlen. Die Trauer, die einen mit Filmfiguren fühlen lässt, ist echt und durch die gezielte Inszenierung – etwa die Untermalung mit trauriger Musik und das leidende Gesicht des Protagonisten in Großaufnahme – sogar stärker als bei realen Ereignissen auf den Fernsehbildschirmen. Das Wissen um die Fiktion erleichtert den Zugang, denn wie schrecklich die Todesbilder auch sein mögen, sie sind nicht echt. Wie beim Verfolgen der Katastrophe in den Massenmedien wird man zudem versichert, dass man selbst mehr Glück hatte und nicht persönlich mit dem Tod konfrontiert wurde. Die Leinwand 329 Holmberg, Jan: »›I am Dead‹«, S. 354 f.

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trennt und beschützt einen vor ihm. Das gilt für das Melodrama wie für den Horrorfilm.330 Das Kapitel 3.3 wird dies allerdings ändern, die Distanz zur Leinwand wird in den verwendeten Filmbeispielen zunehmend unterlaufen. Der reale Tod ist ein in der eigenen Zukunft verortetes Phantasma, also lässt sich ihm vielleicht am besten durch Fiktion begegnen. Der Zuschauer kann sich in Filmen beliebig oft und in beliebiger Ausführung damit auseinandersetzen. In dieser thematischen Wiederholung arrangiert man sich vielleicht sogar ein Stück weit mit dem eigenen Lebensende. Man hat die Tode anderer häufiger im Spielfilm als im echten Leben miterlebt und konnte unentdeckt im dunklen Kinosaal die Trauer der Hinterbliebenen auf der Leinwand beobachten. Das bedeutet nicht, dass der reale Tod nicht dennoch schockiert. Niemand möchte von einer tödlichen Krankheit erfahren oder einen Verwandten durch einen Unfall verlieren. Aber in einem sich (in unzähligen Filmen miterlebten) ewig wiederholenden, quasi-rituellen Prozess, hat man sich immer schon indirekt mit diesen Ereignissen auseinandergesetzt. Es bleibt im Film somit etwas Ursprüngliches der alten Kultgegenstände erhalten, bei dem man seine massenhafte Verbreitung ausblenden kann, bzw. bei dem sie erst die Möglichkeit zu einer Art kollektivem Ritual bietet, da so die größtmögliche Menge an Menschen erreicht werden kann. Für den Zuschauer ist aber wohl die eigene Erfahrung, sein persönlicher Zugang zum Film und die philosophischen Schlüsse, die er daraus zieht und weiterentwickelt, entscheidender als das Wissen, dass er andere neben ihm erreicht, deren Empfinden außerdem variieren kann. Zusammenfassend lässt sich sagen: Durch seine recht überzeugende Nachahmung der Realität und seinem indexikalischen Bezug ist der Film dem realen Tod näher als die Malerei. Da er durch seine Bewegungsfähigkeit Übergänge und Prozesse darstellen kann, ist er dem Tod auch näher als die Fotografie. Allerdings muss er, ähnlich dieser, die Wirklichkeit immer zu einer Leinwandwirklichkeit transformieren und ist deshalb künstlich. Damit entfernt er sich vom realen Leben und Tod. Er kann jedoch Illusionen bilden und so tun, als zeige er die echte Welt und damit eben auch den Tod. Innerhalb seiner Fiktion kann er Dinge zeigen, die es nicht gegeben hat, wie den personifizierten Tod, Geister oder Seelenwanderungen. Außerdem kann er Fremderfahrungen durch den gezielten Einsatz der Kamera zugänglich machen – etwa über Perspektivenwechsel oder Großaufnahmen. Damit übertrifft er selbst das echte Leben. Er beinhaltet sowohl die Vergänglichkeit des realen, ablaufenden Lebens und kann als Kopie der Wirklichkeit den Tod realistisch darstellen, als auch die Speicherfähigkeit der Fotografie, so dass er – zumal in Bewegung – das Leben konservieren kann. Da er selbst Tote reanimieren und Tode ungeschehen machen kann, ist er restlos zu einem unheimlichen und widersprüchlichen Medium geworden. Die Darstellung des Todes als subjektives Ereignis kann dem Film aber natürlich letztendlich nie restlos gelingen. Wie die Malerei muss er sich in Andeutungen und Symbole retten. Christiane Peitz dazu in Das Kino, ein Schattenreich:

330 Gleichzeitig, so hat sich gezeigt, kann sie einem aber auch ein Gefühl von Unsterblichkeit vermitteln, denn die filmischen Stellvertreter, die auf der Leinwand ›leben‹, tun es auf ewig und wenn sie dort doch sterben, dann sind sie beim nächsten Mal wieder zurück (ihr Tod lässt sich rückwärts abgespielt sogar umkehren).

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»Die Krankheit kann man zeigen, auch das Töten und die Trauer danach. Der Tod hingegen ist nicht abbildbar, er entzieht sich der Simulation. So wird der Tod im Film gewöhnlich metonymisch oder metaphorisch umschrieben: die nackte Glühbirne [...] der Becher, der umfällt, das Rad, das stillsteht, die Linie auf dem Monitor neben dem Krankenbett, die Blutspur auf den Straßen von Sarajewo [...]«331

Es handelt sich also scheinbar um einen doppelten Widerspruch: So sehr der Film das Leben nachahmt, er erinnert doch immer wieder auch an den Tod – und so sehr er an den Tod erinnert, direkt zeigen kann er ihn dennoch nicht. Und dennoch haben viele Menschen behauptet, im Moment des sicheren Todes sei ihr Leben wie ein Film vor ihren Augen abgelaufen.

331 Peitz, Christiane: »Das Kino, ein Schattenreich«, S. 12.

3

Hinter den Zeichen Erfahrungspotentiale des gewaltsamen Todes

3.1 VOM BILD ZUM KÖRPER 3.1.1 Zeichen und Körper »Let us return, then, to cinema, where we watch the transformation from alive to dead unfold, or the ›time of dying‹. Looking closely, we see death happen here both cleanly and turbulently, precisely and momentously.«1

Wie das Kapitel 2 zur Nicht-Darstellbarkeit des Todes in den Bildmedien gezeigt hat, weist der Film nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Künstlichkeit entscheidende Potentiale auf, um dem Phänomen Tod immerhin näherzukommen. Bislang ist das eher indirekt geschehen: Etwas nicht Darstellbares, wie der Tod, kann nur sprachlich umschrieben oder bildlich symbolisiert werden. Die Möglichkeit etwa traditionelle Todessymbole der Malerei, die Kopie der Realität der Fotografie und die eigene Bewegungsfähigkeit zu verbinden, haben dem Film in seiner Nähe zum Leben (und damit auch Tod) einen entscheidenden Vorteil gegenüber den anderen Künsten verschafft. Der endgültige Tod entzieht sich uns Lebenden aber nach wie vor ebenso, wie der angehaltene Film und die regungslose Leiche. Fotografie, Leiche und angehaltener Film bieten nur stillgestellte Abbilder von gewesenem Leben. Nur dort wo (noch) lebendige Bewegung ist, kann der Film sich entfalten und einem Publikum zugänglich werden. In dieser Bewegung, unterstützt von Kamerafahrten und -zooms, kann ein Erfahrungsraum zwischen Zuschauer und Film entstehen, der die klare Trennung von Dort und Hier, Dann und Jetzt, Tod und Leben bedingt unterlaufen kann, wie nun untersucht wird. Der Tod im abgeschlossenen Zustand einer Leiche oder als abstrahierte Allegorie erlaubt eher eine theoretische, sinnstiftende Auseinandersetzung, so haben die Postmortem-Fotografien in Kapitel 2.2.3 oder die Skelette und Vanitasdarstellungen in Kapitel 2.1.3 gezeigt. Auch Andeutungen des ruhigen Sterbens, wie in den Werken

1

Combs, C. Scott: Deathwatch: American Film, Technology and the End of Life, New York/Chichester: Columbia University Press 2014, S. 10.

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Ingmar Bergmans oder Nahtoderfahrungen, wie sie in Filmen wie Flatliners (1990)2 behandelt werden, zeugen weniger von einer stärkeren Todesnähe als einer Unfähigkeit aller Bildmedien den Tod direkter zu erfassen. Was uns im bewegten Film fesselt, ängstigt und erschüttert, sind die Übergänge zwischen Leben und Tod: Lebensgefahr und Todesnähe, Schmerz, Angst und versehrte Körper, denen man im Kino hautnah beiwohnen kann. Weit häufiger als den (eigentlich undarstellbaren) Tod selbst thematisiert der Film deshalb dessen Vorstufen, das Töten und Sterben als Akt. Im Zusammentreffen der filmischen Technizität – die Realität einfängt, transformiert und als etwas Anderes widergibt – mit einem wahrnehmenden Zuschauerleib, sind für das Publikum ästhetische Erfahrungen möglich, wie sie in den folgenden Kapiteln im Zentrum stehen. Hier eröffnet sich eine Ebene, bei der der Tod als Todeskampf, als Sterben, als Verwundetsein und Dahingehen bis zu seinem Endpunkt direkt leiblich nachvollzogen werden kann. Noch stärker als in Kapitel 2 kommt hier die Medialität des Films selbst zum Tragen, die Geschehnisse nicht nur durch Bildzeichen auf der Leinwand sichtbar macht, nicht nur Realität nachahmt, sondern gemeinsam mit dem Publikum eine eigene gegenwärtige Realität – und damit eine annähernde Todeserfahrung – ermöglicht. Der Körper des Opfers dient hierbei als Ersatzkörper, der für uns leidet und stirbt. Zuletzt muss geklärt werden, warum wir diese Todeserfahrung suchen sollten. Während die Symbolisierungen des Todes etwas nicht Darstellbares im Bild erst greifbar machen, stehen die Bildmedien bei gewaltsamen Tötungen vor dem Problem, dass es einen echten Körper gegeben haben muss, der diese Gewalt als Täter ausgeführt oder insbesondere als Opfer erduldet hat, dass der jeweilige Körper des Täters und Opfers aber zum Zeitpunkt der Rezeption nicht mehr anwesend sind. Die Referenzobjekte der Ikons der Malerei haben in der Realität, die sie abbilden, vielleicht niemals existiert, die Indices fotografischer Medien verweisen zwar auf einen Körper, aber auch dieser ist nicht mehr wirklich anwesend. Um dem nah zu kommen, was wir aus unserer Wirklichkeit kennen – so hat schon Kapitel 2 gezeigt – haben die Künste sich im Laufe der Jahrhunderte zunächst die größte Mühe gegeben, die Abwesenheit des Körpers durch eine besonders realistische Darstellungsweise, perfekte Mimesis, zu kompensieren: Betritt man beispielsweise ein Museum mit (über-)lebensgroßen Statuen antiker Krieger, steht man dem gegenüber, was sich wohl ein Großteil der Menschen unter einem Helden vorstellt: gestählten Körpern in angedeuteter Bewegung, hervortretenden Muskeln, ebenen Gesichtern mit bestimmten Blick, die Waffe fest in der Hand. Idealisiert wie die Laokoon-Gruppe in Kapitel 2.2.3, scheinen sie doch echten Menschen zu entsprechen, als könnten sie jeden Moment ihre Marmorhülle durchbrechen und endlich lospreschen, um ihre Gegner zu töten. Hier findet sich bereits ein Ansatz zur Gewalt, einerseits in der kriegerischen Absicht der Jünglinge, andererseits in ihren durch die Zeit beschädigten, gebrochenen Gliedmaßen. Während die antiken Helden selbst töteten, um Städte zu erobern, Ungeheuer zu besiegen und schöne Frauen zu befreien, liegt der christliche Umgang mit dem Töten und Sterben eindeutig auf der Opferseite und wird in seiner Nachvollziehbarkeit für diese Arbeit relevanter. Der

2

FLATLINERS (USA 1990, R: Joel Schumacher).

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Cachorro-Christus (Cristo de la Expiración, genannt El cachorro, 1682)3 von Sevilla etwa, soll der Legende nach sein lebensechtes, leidendes Gesicht einer Begegnung des Künstlers Francisco Antonio Gijón mit einem nach einer Messerstecherei im Sterben liegenden Mann mit dem Spitznamen El Cachorro (›der Welpe‹) im Elendsviertel Sevillas seiner Zeit verdanken. Dessen Gesichtszüge soll Gijón vor Ort skizziert und auf seine Jesusfigur übertragen haben – so detailgetreu, dass seine Zeitgenossen ihn wiedererkannten.4 Damit überwindet Gijón einen entscheidenden Mangel: die Abwesenheit eines realen Christus, dessen Leid weder er noch die Rezipienten seiner Kunst, je zu Gesicht bekamen. Dies lässt sich an die Benetton-Kampagne in Kapitel 2.2.2 anschließen, doch statt den leidenden Christus, bekannt aus unzähligen Malereien, in der Fotografie lediglich zu zitieren, wird in diesem Fall das lebendige Gesicht eines realen Zeitgenossen in ein Kunstwerk eingefügt und damit eine Verbindung zur Realität geschaffen, um ihm so den größtmöglichen Realismus und eine eindringliche Gegenwärtigkeit zu verleihen. Aber noch immer ist die Skulptur, anders als die Realität, unbewegt. Dem gegenüber steht der Umgang des Films mit dem Körper. Betritt man ein Kino und verdunkelt sich der Saal zu Beginn des Films, offenbart ein Blick nach oben ein Bündel flackernder Lichtstrahlen, die vorne auf die Leinwand fallen und ein flächiges Bild ergeben. Die dargestellten Körper sind zwar augenscheinlich zur Bewegung fähig, aber sie sind nichts weiter als Lichtbilder, nicht greifbar, abwesend. Zudem werden im Film Körper durch Schnitte zerstückelt, weshalb man – den fotografischen Bildern zum Trotz – im Grunde schon nicht mehr von Realismus sprechen kann. Die Filmwissenschaftlerin Karla Oeler erläutert für frühe Filmvorführungen: »The ›cutting‹ of the actor’s body into tightly framed shots of body parts frequently suggested violence to filmmakers, theorists, and spectators. But this perception of violence depends on the convention of seeing images showing people from head to toe as whole [...] Thanks, in part, to cinema’s formative association with theater, and to its photographic base, we sometimes see in early film theory and critisism a tacit neutralization of the long shot as ›the whole body‹ instead of a rigorous insistence on its status as a sign [...] Montage can function like cubism to achieve a new realism through emphasizing the partiality of any one view. The shock effect, abundantly documented in early film critical writing, of ›disconnected‹ body parts potentially generates a sense of the body as something real.«5

Interessanterweise haben sich bis zum heutigen Zeitpunkt die Sehgewohnheiten des Publikums so geändert, dass die ›Zerstückelung des Schauspielerkörpers‹ durch den

3 4 5

Gijón, Francisco Antonio: Cristo de la Expiración (1682), Basílica del Cristo de la Expiración, Sevilla. Vgl. Vera, Juan Bautista Martín: El escultor Francisco Antonio Ruiz Gijón. Vida y obra de un imaginero sevillano del siglo XVII, Madrid: Bubok Publishing 2010, S. 67-75. Oeler, Karla: A Grammar of Murder. Violent Scenes and Film Form, Chicago/London: The University of Chicago Press 2009.

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Schnitt nicht mehr auffällt oder gar schockiert.6 Was sich jedoch bis heute nicht geändert hat, ist die Tatsache, dass wir Figurenkörpern (bedingt) begegnen als wären sie echt und unmittelbar anwesend. Der Körper spielt im Kino seit jeher eine entscheidende Rolle, immerhin ist der Film eine Apparatur, die uns in erster Linie einmal Körper präsentiert und Bewegung simuliert, wie bereits die frühen Studien von Eadweard Muybridge in Kapitel 2.2.3 gezeigt haben. Immer neue Varianten der Körperthematik begeistern und erschrecken seitdem das Kinopublikum, vom frühen GOLEM (1915)7 über die hier thematisierten Zombies, von der Menschmaschine TERMINATOR (1984),8 über Körperprothesen in AVATAR (2009)9 oder SURROGATES (2009)10 bis hin zum abwesenden Körper, der Maschine, die sich einen eigenen, empfindsamen Leib ersehnt, in HER (2013).11 Zwar weiß man, dass man auf eine Leinwand blickt, dass der Schauspieler beispielsweise nicht wirklich sterben muss, aber man vergisst während der Rezeption gewissermaßen, dass man es mit flackernden Lichtbildern zu tun hat, vergisst die Flächigkeit des Filmbildes, beachtet die Schnitte und Kamerawinkel nicht weiter.12 Interessant ist dabei, im Anschluss an die vorangegangenen Kapitel, dass wir es bei sämtlichen Bildmedien zunächst einmal mit repräsentierter Wirklichkeit zu tun haben. Die fotografische Abbildung bedeutet zugleich eine Trennung von Publikum und Film, weil in der Vorführung etwas zuvor Aufgezeichnetes auf einen Träger, die Leinwand, projiziert wird, die so nie räumliche Tiefe entwickeln kann, sondern als raumzeitliche Trennwand erscheint. Von außen blicken wir auf nur scheinbar bewegte Bilder, zweidimensionale Zeichensysteme als Reste etwas ursprünglich Dagewesenen. Was für den Tod selbst galt, scheint damit auf den ersten Blick auch auf das gewaltsame Töten im Film zuzutreffen: Wir bekommen es grausam vorgeführt, werden aber auch vor ihm geschützt, da das Geschehen nie die Leinwand verlassen und zu uns durchdringen kann. Miriam Bratze Hansen bemerkt dazu in Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden: »[Der Film bietet] die strukturelle Möglichkeit [...] Phänomene zur scheinbar unmittelbaren Darstellung zu bringen bzw. dem Zuschauer zum sinnlichen Gruß anzubieten, die in realen Situationen das wahrnehmende Subjekt zerstrümmern oder verschlingen würden. Die Bedingung dieser Möglichkeit ist die absolute Trennung des raum/zeitlichen Bereichs des Dargestellten vom 6

Die Verbindung fragmentierter Ausschnitte wird in Kapitel 3.2.1 im Zusammenhang mit Blickkonstellationen behandelt. Gerade durch Ausschnitte kann aber auch ein somatischer Zugang zur filmischen Welt und damit auch filmischen Körpern entstehen. 7 DER GOLEM (Deutschland 1915, R: Paul Wegener/Heinrich Galeen) 8 THE TERMINATOR (USA 1984, R: James Cameron) 9 AVATAR (USA 2009, R: James Cameron) 10 SURROGATES (USA 2009, R: Jonathan Mostow) 11 HER (USA 2013, R: Spike Jonze) 12 Dies hat schon Baudry ähnlich für die Verschleierung der Kamera angesprochen. Vgl. Baudry, Jean-Louis/Williams, Alan: »Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus«, S. 42. Vgl. Kapitel 2.3.1. Dementgegen setzen somatisch fundierte Thesen in der Tradition der Phänomenologie die eigene, ganzkörperliche Wahrnehmung des Zuschauers in den Fokus, die nicht mit der des Films zusammenfallen kann und diesem nicht unterworfen ist. Vgl. Kapitel 3.1.5

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raum/zeitlichen Bereich des Zuschauers, also die filmische Steigerung des dramatischen Prinzips der ›vierten Wand‹. Anders als im Theater, wo es sich um eine nur phänomenale Trennung der Bereiche handelt, impliziert der Effekt der Gegenwärtigkeit des Dargestellten im Kino einen zeitlichen Sprung, eine notwendig gespaltene Zeitstruktur: Wenn Kamera und Darsteller anwesend sind, ist der Zuschauer abwesend und umgekehrt. Markiert die Leinwand die unüberschreitbare Grenze zum Reich der Illusion, so bietet sie zugleich auch Schutz gegen die als real dargebotenen Sensationen [...]«13

Dementgegen kann uns gerade das Töten bzw. Sterben im Film gegenwärtig und ›mit Haut und Haar‹ überwältigen und eben dies ist von den betreffenden Filmemachern intendiert. Rein thematisch ist der Tod im Film bereits ein aufwühlendes Thema, da es unser aller Verletzlichkeit und Endlichkeit anspricht. Kracauer dazu, ähnlich der Argumentation Bratze Hansens: »Naturkatastrophen, die Greuel des Krieges, Gewalttaten und Terrorakte, hemmungsloses erotisches Triebleben und der Tod sind Ereignisse, die das menschliche Bewußtsein zu überwältigen drohen. Jedenfalls rufen sie Erregungszustände und Ängste hervor, die sachlich abgelöste Beobachtung unendlich erschweren. Kein Zeuge solcher Ereignisse und erst recht kein aktiv an ihnen Beteiligter wird deshalb zuverlässig über sie berichten können. Da aber diese Manifestationen roher – menschlicher oder außermenschlicher – Natur in den Bereich physischer Wirklichkeit fallen, gehören sie umso mehr zu den spezifisch filmischen Gegenständen. Nur die Kamera vermag sie unverzerrt darzustellen.«14

Der Film kann somit Körper und Psyche bedrohende Begebenheiten aufgreifen und durch die Kinosituation für den Zuschauer erträglich erfahrbar machen. Er kann aber auch im Zuge der Transformation eines Echten in etwas Filmisches den ursprünglichen Schrecken wiederherstellen oder gar erhöhen. Dem Tod kommt der Film nun nicht mehr nur mit und zwischen den Zeichen nah, wie in Kapitel 2 behandelt wurde, sondern er ermöglicht eine noch unmittelbarere ›Begegnung‹, als Malerei und Fotografie. Tötungen im Film vollziehen sich nicht sprachlich-diskursiv, sondern bildlich-konfrontativ, sind also eng verbunden mit der Technik des Films, die Bilder (und Töne) aufzeichnet und dynamisch wiedergibt. Damit ästhetisierte Gewalt uns nicht »›kalt läßt‹, sondern [...] in einen eigentümlichen Erregungszustand versetzt«,15 wie es der Philosoph Roman Ingarden für die Ursprungsemotion jedweden ästhetischen Erlebnisses beschrieben hat, unabhängig davon, ob uns der wahrgenommene oder erdachte Gegenstand gefällt,16 können wir diese nicht nur als Abbildung auffassen und semiotisch entschlüsseln. Wir müssen den durch

13 Bratze-Hansen, Miriam: »Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden: Kino als Ort der Gewalt-Wahrnehmung bei Benjamin, Kracauer und Spielberg«, in: Koch, Gertrud. (Hg.), Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995, S. 249-271, hier S. 251. 14 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films, S. 91. 15 Ingarden, Roman: Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937-1967, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1969, S. 3. 16 Vgl. ebd., S. 3.

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die Leinwand von uns räumlich, durch die Aufzeichnung des Films zeitlich abgetrennten, also zweifach abwesenden Körper des Schauspielers erfassen als wäre er unmittelbar jetzt und hier anwesend. Wir müssen den flächigen Bildern ihre Räumlichkeit zurückgeben und die Vergangenheit als Gegenwärtigkeit begreifen.17 »Wo ästhetische Illudierung gelingt«, so Christiane Voss in Zum Verhältnis von ästhetischer Lebendigkeit und Sterblichkeit, »gelingt es Artefakten, nicht als das zu erscheinen, was sie vermeintlich eigentlich sind, nämlich tote Zeichengebilde. Einem ästhetischen Gebilde ›Lebendigkeit‹ zuzuschreiben, ist dann [...] nicht nur etwas Deskriptives, sondern auch etwas Evaluatives und Normatives [...]«18 Wir verlebendigen demnach die durch tote Zeichen auf der Leinwand repräsentierten Körper, nur um sie – zumindest in den hier zu behandelnden Beispielen – sogleich wieder sterben zu sehen. Sie durchleiden ersatz- und etappenweise für uns einen qualvollen und deshalb äußerst eindrücklichen, lebendigen Tod. Nach neueren Theorien zur filmischen Erfahrung rückt hierfür einerseits der eigene, empfindsame Körper des Zuschauers in den Vordergrund, andererseits die Fähigkeit des Films, durch technische Mittel wie seine dynamische Bewegungsfähigkeit, Kamerafahrten und -zooms, Schnitte oder Soundeffekte eine Unmittelbarkeit zu erzeugen, die sich auf diesen Zuschauerkörper übertragen kann. Gertrud Koch und Christiane Voss stellen in der Einführung zu ...kraft der Illusion entsprechend fest: »[...] in der neueren Filmtheorie [beginnt sich] eine Tendenz dahingehend abzuzeichnen, so etwas wie die Eigenästhetik der auch kinetisch-taktilen Materialität von Film hervorzuheben, die jenseits seines mimetischen Vermögens liegt. Weder Korrespondenz noch Referenz zählen für das, was Film in seiner Erfahrbarkeit auszeichnet. Vielmehr wird das Kino zunehmend als eine virtuelle Wirklichkeit eigenen Rechts betrachtet, die unsere sinnlichen Reaktionen weder suspendiert noch manipuliert, sondern ins eigene Recht setzt. Das ästhetische Verfahren der filmischen Illusionsbildung generiert und intendiert keine falschen Überzeugungen über die Realität nicht-existenter Dinge. Im Blick auf Film kollabiert die alte Struktur ästhetischer Kontemplation zugunsten eines dynamischen Erfahrungstypus von Film, in dessen Vollzug sich zugleich erst dessen Ästhetik als eine der Illusionsbildung konstituiert.«19

Die Wirkung auf den Zuschauerkörper bzw. dessen Wahrnehmungsfähigkeit wurde lange in den bestehenden Theorien weitgehend ausgeschlossen. Die neue Hinwendung zum Körper als Basis bedeute, so Thomas Morsch, »[...] eine deutliche Abkehr von den Theorien des Films, die im Gefolge des linguistic turn [im 20. Jahrhundert] eine sprachaffine, zeichentheoretisch fundierte Konzeption des filmischen Bildes und seiner Erfahrung verfolgt haben.«20 Mit dem affective turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts rückten auch Affekte und Emotionen 17 Vgl. Kapitel 3.1.5 18 Voss, Christiane: »Zum Verhältnis von ästhetischer Lebendigkeit und Sterblichkeit«, in: Stoellger, Philipp/Wolff, Jens (Hg), Bild und Tod. Grundfragen der Bildanthropologie. Band II, Tübingen: Mohr Siebeck 2016, S. 567-580, hier S. 569. 19 Koch, Gertrud/Voss, Christiane: »...kraft der Illusion«, in: Dies., ...kraft der Illusion, München: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 7-13, hier S. 9. 20 Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 258. Mirjana Gross beschreibt den linguistic turn Anfang des 20. Jahrhunderts: »In der intellektuellen Geschichte der Vereinigten Staaten

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in den Fokus der Untersuchungen.21 Das Lesen, so Sabine Nessel in Kino und Ereignis, werde nun häufiger dem somatischen Genießen nachgeordnet und die Kategorie ›Text‹ – wie noch bei Theorien im Umfeld von Christian Metz22 – werde durch ›Körper‹ ersetzt.23 Im Sinne der existentiellen Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys24 ist unser Leib sinnlicher Ausgangspunkt jedweder Wahrnehmung,25 damit auch der Filmrezeption. Mimesis beschreibt dann nicht mehr länger nur die mimetische Nachahmung der

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ist die zuerst von der strukturalistischen Linguistik formulierte Ansicht verbreitet, daß die Sprache nicht Ausdruck der Wirklichkeit sei, sondern ihre eigene Wirklichkeit konstituiere. Das menschliche Bewußtsein wäre daher den Formen und Strukturen der Sprache untergeordnet, als einem System, aus welchem jeder mögliche Sinn herstamme. Die Sprache drückt zwar ihre Beziehung zur Welt aus, aber sie verbirgt sie auch, sie sei der Mittelpunkt der Kultur, und der Mensch sei nur ihr Gegenstand, weil er die Regeln und Codes der Sprache nicht kontrollieren könne. Darum ist es überhaupt nicht interessant, was der Autor eines bestimmten Textes zu sagen hatte. Der Poststrukturalismus löscht jede Verbindung zwischen dem Wort und der Sache [...]« Gross, Mirjana: Von der Antike bis zur Postmoderne. Die zeitgenössische Geschichtsschreibung und ihre Wurzeln, Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 1998, S. 393. Analog zum linguistic turn forderte der iconic turn, eine interdisziplinäre Beschäftigung damit, wie Bilder Sinn erzeugen, so Gottfried Boehm. Vgl. Boehm, Gottfried: »Die Wiederkehr der Bilder«, in: Ders., Was ist ein Bild?, München: Wilhelm Fink Verlag 1995, S. 11-38, hier S. 13. Vgl. bspw. Ticineto Clough, Patricia/Halley, Jean (Hg.): The Affective Turn. Theorizing the Social, Durham: Duke University Press 2007. Vgl. Metz, Christian: Sprache und Film. Frankfurt am Main: Athenäum-Verlag 1973 [1971]. Vgl. Nessel, Sabine: Kino und Ereignis, S. 18. Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 7. Dazu auch Gertrud Koch: »Die phänomenologische Filmtheorie greift auf die Leibgebundenheit der Wahrnehmung zurück und stellt damit die erkenntnistheoretischen Fragen auf einer anderen Ebene als der von Semiotisierung. Stofflich-materielle Grundierungen kommen hier ebenso ins Spiel wie Fragen des Weltbezuges. ›Illusion‹, so grob zusammengefasst der Vorschlag, sollte man nicht als referenzielles, epistemisches Problem auffassen, sondern als eigenes aisthetisches Phänomen der Wahrnehmung.« Koch, Gertrud: »Müssen wir glauben, was wir sehen? Zur filmischen Illusionsästhetik«, in: Koch, Gertrud/Voss, Christiane (Hg.), ...kraft der Illusion, München: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 53-69, hier S. 55. Simon J. Willams und Gillian Bendelow führen in The Lived Body aus: »[F]or MerleauPonty, [perception] is first and foremost an embodied experience. Even our ›higher‹ perceptual experiences cannot escape our primordial embodiment. The theory of the body, in other words, is always ›already a theory of perception‹. In this respect, Merleau-Ponty raises a number of doubts and objections to Cartesian thought, including the fact that the ontological separation of mind and body leaves unresolved the question of how precisely mind engages with body and world during the act of perception itself [...] Cartesianism defines perception as an inner representation of an outer world of given objects, thus giving rise to the subject/object dualism and all the problems this involves. According to Merleau-Ponty, these and many other problems cannot be adequatly resolved within a Cartesian/mentalistic framework. Rather, perception must be radically rethought, and it is this critique which serves as

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Wirklichkeit durch die Bildmedien, sondern wir als Zuschauer ahmen mimetisch das Filmgeschehen nach, im Sinne einer motorischen und affektiven Ansteckung, einer Verstrickung in die Darbietung, wie sie schon Aristoteles für die griechische Tragödie beschrieben hat,26 wenn auch zugunsten einer vermeintlichen Katharsis des Publikums, was in dieser Arbeit nicht vertieft werden soll.27 Diese körperliche Ebene, so wird hier untersucht, macht einen großen, wenn nicht den entscheidenden Anteil einer Filmrezeption aus, insbesondere wenn man versuchen will, den Tod zu erleben, ihn in seinen Übergängen so nah und lebendig zu erfassen wie möglich, ehe das Filmopfer im endgültigen Tod stillgestellt wird. Um eine solche Rezeption theoretisch zu erfassen, muss man den Weg zum Körper ›hinter den Zeichen‹ gehen, zu einer Wahrnehmungssituation, in der zwei Welten, zwei ›echte‹ Körper sich gegenüberstehen und interagieren. Statt nur über den ewig jungen Stellvertreter auf der Leinwand Unsterblichkeit zu erlangen, wie in Kapitel 2 diskutiert wurde, können wir dann durch und mit ihm tausend Tode sterben – an unsere psychischen und physischen Grenzen gehen, erschüttert, verängstigt und aufgewühlt – und werden doch ein ums andere Mal unversehrt aus dem Kinosaal treten. Benjamin Moldenhauer fasst in Ästhetik des Drastischen zusammen: »Filme sind im Idealfall in der Lage, uns aus unseren Sitzen hochschrecken zu lassen, in Angst zu versetzen und zum Lachen oder Weinen zu bringen, ohne dass diese Reaktionen zwangsläufig zum Gegenstand unserer bewussten Reflexion werden müssten. Der Begriff der Mimesis ist an dieser Stelle zentral.«28 Theodor W. Adorno sieht Mimesis als eine Möglichkeit des Kunstwerks Sachverhalte aus der Wirklichkeit nicht nachzuahmen, sondern in etwas Anderes zu transformieren und so einem Rezipienten zugänglich zu machen,29 wie es ebenfalls für den Film gilt. Kunstwerke seien nach Adorno Artikulationsobjekte, so der Philosoph Martin Seel, widerständig gegen die

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Merleau-Ponty’s point of departure in developing a phenomenology of embodiment.« Williams, Simon J./Bendelow, Gillian: The Lived Body. Sociological themes, embodied issues, London/New York: Routledge 1998, S. 52. »Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei die formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.« Fuhrmann, Manfred (Hg.): Aristoteles. Poetik. Stuttgart: Philipp Reclam junior 1982 [ca. 335 v. Chr.], S.19. Vgl. dazu bspw. Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. Zweyter Theil. Hamburg/Bremen: Cramer Verlag 1769, http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/lessing_dramaturgie02_1767 (Abgerufen 14.01.2019), S. 194. Vgl. weiterführend zur Katharsisthese und ihr gegenläufigen Thesen innerhalb der Mediengewaltforschung bspw. Feshbach, Seymour/Singer R.D.: Television and Aggression. An Experimental Field Study, San Francisco: Jossey-Bass 1971 und Hug, Daniel: Katharsis. Re-Vision eines umstrittenen Konzepts, London: Turnshare 2004. Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S.119. Vgl. Sonderegger, Ruth: »Ästhetische Theorie«, in: Klein, Richard /Kreuzer, Johann /Müller-Doohm, Stefan (Hg.), Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler Verlag 2011, S. 414-426, hier S. 417f.

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gegebenen Lebensverhältnisse, das Chaos in der rigiden gesellschaftlichen Ordnung.30 Ihr »[...]irritierendes Erscheinen [würde] ein sensitives Interpretieren verlang[en], dem daran liegt, ›das Begrifflose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.‹«31 Dabei – so lässt es sich in Beziehung zum Töten im Film setzen – dürfen Kunstwerke nach Adorno im Grunde nicht schön sein, gerade das Dissonante könne das Hässliche in der Welt anprangern. So stellt Adorno fest: »Moderne ist Kunst durch Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete; dadurch, nicht durch Verleugnung des Stummen wird sie beredt; daß sie kein Harmloses mehr duldet, entspringt darin«32 und: »Kunst muß das als häßlich Verfemte zu ihrer Sache machen, nicht länger um es zu integrieren, zu mildern oder durch den Humor, der abstoßender ist als alles Abstoßende, mit seiner Existenz zu versöhnen, sondern um im Häßlichen die Welt zu denunzieren [...]«33 Eben dies scheinen die hier zu behandelnden Filmbeispiele anzustreben. Im Beiwohnen einer filmischen Tötung könnte entsprechend eine Reaktion auf den Tod liegen, die Erkenntnisse bündelt, die nicht mehr einer distanzierten Reflexion über das eigene Lebensende gleichkommen, sondern sich augenblicklich am Körper des Zuschauers vollziehen. Die Reaktion auf das Kunstwerk könne, so Adorno entsprechend, als leibliche Erschütterung erfolgen, bei der »[...] der Rezipierende sich vergißt und im Werk verschwindet [...] Er verliert den Boden unter den Füßen; die Möglichkeit der Wahrheit, welche im ästhetischen Bild sich verkörpert, wird im leibhaft.«34 Diese Erfahrung bedürfe aber »[...] des ganzen Bewußtseins, nicht punktueller Reize und Reaktionen [...] Urteilslos deuten Kunstwerke gleichwie mit dem Finger auf ihren Gehalt, ohne daß er diskursiv würde. Die spontane Reaktion des Rezipierenden ist Mimesis an die Unmittelbarkeit dieses Gestus. In ihm jedoch erschöpfen die Werke sich nicht [...] Volle Erfahrung, terminierend im Urteil über das urteilslose Werk, verlangt die Entscheidung darüber und deswegen den Begriff.«35

Damit macht Adorno eine unmittelbare Wirkung des Kunstwerks analog zu einem hier zu untersuchenden akuten Todesbewusstsein stark, die der Rezipient direkt leiblich erfahren und damit verstehen kann, ohne dass dies den Umweg über die Sprache gehen müsste. In der körperlichen Erschütterung sieht Adorno jedoch nicht mehr als eine motorische Reaktion, die erst durch die kognitive Reflexion und eine Versprachlichung Gewicht bekommt. Dementgegen könnte man die kognitive Reflexion auch als Distanzierung zum Kunstwerk betrachten, das im abschließenden Urteil bereits nicht mehr unmittelbar erlebt wird. Aus dieser Perspektive liegt der größte Wert der ästhetischen Erfahrung – so auch der Erfahrung von Tötungen im Film – im Vollzug selbst, der, wie der Tod, nie verbalisiert werden kann, da dies bereits eine Abstraktion darstellt. Gertrud Koch beschreibt entsprechend für die Filmrezeption: »Im völligen 30 31 32 33 34 35

Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, S. 33f. Ebd., S. 34. Vgl. auch direkt Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, S. 144f. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, S. 39. Ebd., S. 78/79. Ebd., S. 363. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, S. 363/364.

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Zusammenfall praktischer Bezüge wird gleichsam alle Kraft zur Semantisierung der Welt auf den körperlichen Ausdruck zurückgebogen [...] Das oft am Kino geschmähte ›Primitive‹ als sein Vermögen, Affekt auszulösen, erscheint mir [...] als sein besonderer Reiz jenseits der Unterscheidung in Unterhaltung und Kunst.«36 Auch Steven Shaviro setzt in The Cinematic Body bei den Filmbildern selbst und einer körperlichen Reaktion auf diese an und löst sie von vorangegangenen Bedeutungen. Sie seien weniger von einer ursprünglichen, entfernten Realität entfremdet, indem sie diese ideologisch eingefärbt präsentieren oder im Sinne semiotischer Theorien als Zeichen (ungenügend) repräsentieren, sondern zunächst einmal einfach da:37 »Images confront the viewer directly, without mediation. What we see is what we see; the figures that unroll before us cannot be regarded merely as arbitrary representations or conventional signs. We respond viscerally to visual forms, before having the leisure to read or interpret them as symbols.”38 Vivian Sobchack geht von unserer unmittelbaren, phänomenologischen, Wahrnehmung mit allen Sinnen und dem Körper als (auch perspektivischem) Ausgangspunkt dieser aus, wie das Kapitel 3.1.5 ausführen wird. Sowohl der Zuschauer, als auch der Film – nicht etwa nur der Schauspieler – hätten einen Körper, die miteinander in Beziehung treten.39 Über die ›leeren‹ Bilder Shaviros und die bloße Unmittelbarkeit der filmischen Darbietung hinaus, auf die das Publikum ganzkörperlich reagiert, hebt Henri Bergson die Rolle des Bewusstseins in Form von Gefühlen bei allen Handlungen40 hervor, die durch Bilder reaktiviert werden könnten und entwickelt damit das Konzept der Erinnerungsbilder: »Tatsächlich gibt es keine Wahrnehmung, die nicht von Erinnerungen durchtränkt ist. Unter die unmittelbaren und gegenwärtigen Daten unserer Sinne mischen wir tausend und abertausend Einzelheiten unserer vergangenen Erfahrung. Zumeist verdrängen diese Erinnerungen unsere realen Wahrnehmungen, von denen wir dann nur einige Andeutungen zurückbehalten, schlichte ›Zeichen‹, die dazu bestimmt sind, uns alte Bilder in Erinnerung zu rufen. Dies ist der Preis für die Bequemlichkeit und die Schnelligkeit der Wahrnehmung; doch daraus werden auch Illusionen aller Arten geboren.«41

Jeder Film würde durch seine Bilder als ›Zeichen‹ dann unzählige Erinnerungen in uns als Zuschauer aktivieren. Dies gibt dem Film einen Mehrwert über ein reines Erleben seiner Bilder hinaus, er wird aber wieder als Zeichensystem behandelt. Laura Marks

36 Koch, Gertrud: »Zu Tränen gerührt – Zur Erschütterung im Kino«, in: Keilbach, Judith/Morsch, Thomas (Hg.), Gertrud Koch. Zwischen Raubtier und Chamäleon. Texte zu Film, Medien, Kunst und Kultur, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2016, S. 315-326, hier S. 316. 37 Vgl. Shaviro, Steven: The Cinematic Body, S. 15ff. 38 Ebd., S. 25. Dies wird in Kapitel 3.2.3 wieder aufgegriffen. 39 Vgl. Sobchack, Vivian: The Address of the Eye, S. 6ff. 40 Vgl. Bergson, Henri: »Von der Selektion der Bilder für die Vorstellung – Die Rolle des Körpers.«, in: Drewsen, Margarethe (Hg.), Henri Bergson. Materie und Gedächtnis. Philosophische Bibliothek. Band 664, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2015. [Matière et Mémoire, 1896], S. 15-86, hier S. 16. 41 Ebd., S. 33.

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nimmt die These Bergsons auf und verschiebt dabei den Akzent vom Geist auf den Körper selbst: »[...] images are always both multisensory and embodied. Pure memory does not exist in the body, but it is in the body that memory is activated, calling up sensations associated with the remembered event [...] Bergson’s insistence on the carnality of memory is crucial. Yet [...] he still assigns only a cicumscribed role to the body in memory. Bergson undervalues bodily memory because he assumes that memory can be easily actualized when necessary, not acknowledging the individual and social prohibitions on the actualization of memory. In contrast, I argue that memory involves not simply the activation of ›pure memory‹, nor only the bucking up of the individual unconscious, but the traces of collective life that inform the structure of perception.«42

Erinnerung ist dann weniger eine geistige Ebene, die im Körper wie in einem Gefäß enthalten ist und hervorgebracht werden kann, als etwas, das als eine Art Körpergedächtnis an einen bestimmten Körper gebunden ist und gegebenenfalls während der Filmrezeption an diesem vollzieht.43 Unterschiede in Körpern, seien sie ethnisch, geschlechtlich oder geprägt durch Kulturkreise oder auch schmerzliche eigene Erfahrungen müssen sich zwangsläufig auf aktuelle Erfahrungen auswirken, ohne jedoch deshalb immer kognitiv bewusst zu werden. Dies lässt sich an die leibgebundene Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys, an der sich auch Vivian Sobchack orientiert, sowie das Habitus-Konzept Pierre Bourdieus anschließen, die beide äußere Einflüsse auf den wahrnehmenden Leib bzw. die Inkarnierung von (gesellschaftlichen) Strukturen thematisieren, wie das Kapitel 3.1.3 ausführen wird. Benjamin Moldenhauer unterscheidet, wie auch Heinz Peter Preusser, 44 entsprechend bei der Filmwahrnehmung zwischen unmittelbarem, phänomenologischen Erleben und Erfahren: »Erleben meint den prozessualen Akt der körperlich fundierten Filmwahrnehmung, der sich in den Zuschaueraffekten niederschlägt. Erfahrung meint die von diesem Erleben ausgehende Wahrnehmung des Films, die intuitiv in Bezug zur Wirklichkeit außerhalb des Kinos gesetzt wird.«45 Statt Realität nur durch Zeichen abzubilden, ermöglicht der Film demnach eine fiktive aber leiblich erfassbare ›neue Realität‹ als Präsenz mit intuitiven Verbindungen zur Lebenswelt des Zuschauers. Ähnlich wie Laura Marks mit den taktilen Potentialen des Films, argumentiert auch Claudia Benthien in Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse: »Die Authentizitätserfahrung durch das Taktile soll in der Virtualität die bisher fehlenden 42 Marks, Laura: The Skin of the Film, S. 73. 43 Marks stelle dazu, so Thomas Elsaesser und Malte Hagener, entgegen der normierten Rezeption des Hollywood-Blockbusters für den interkulturellen Essayfilm fest: »Die schwierige Zugänglichkeit der Werke, die Gebrauchsspuren an einzelnen Kopien und die generell aktivere Rezeptionshaltung (oft werden solche Vorführungen gerahmt von Vorträgen oder Diskussionen mit dem Filmemacher) ermöglichen die Einschreibung unterschiedlicher Publika in die Haut des Films selbst, so dass sich ein wechselseitiger Prozess von Berührung und Übertragung zwischen Film und Zuschauer ergibt.« Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, S. 158. 44 Vgl. Preusser, Heinz Peter: »Sinnlichkeit und Sinn im Kino«, S. 13. 45 Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S. 116.

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Dimensionen von Schwere, Masse, Temperatur, Bewegung und Räumlichkeit generieren, um so Realerfahrung weitgehender simulieren zu können [...] Ziel ist es, den Körper aus der Vernetzung nicht länger auszuschließen [...], sondern ihn komplett als sinnliche Wahrnehmenden in die virtuelle Realität ›mitzunehmen‹.«46 Das, was wir aus der echten Welt kennen, wie sie sich anfühlt und riecht, die Schwere unseres Körpers oder Schmerz, wirkt sich dann unbemerkt darauf aus, wie wir einen (nur) audiovisuellen Film wahrnehmen – selbst noch in filmischen Situationen wie dem Leiden und Sterben, die uns eigentlich fremd sind. Eine Präsenz des Todes im filmischen Übergang zwischen Leben und Tod eines Opfers könnte entsprechend eine ›Todesbegegnung‹ zulassen, die nicht mehr länger nur indirekt in der Speicherbarkeit von Zeit oder Symbolisierungen zu suchen ist, sondern sich direkter – im Ablauf des Films zwischen Publikum und Film – vollzieht. Eine Konfrontation mit Tötungen ist im gelungenen Fall nicht nur eine Beobachtung eines entfernten Fiktiven, sondern wird durch das Wissen um die eigene Verwundbarkeit, frühere negative Erfahrungen etc. am eigenen Körper verlebendigt und damit in gewisser Weise ›echt‹. Über die vorwiegend temporalen Aspekte, wie die Speicherung von Zeit in Kapitel 2 hinaus, wird nun auch stärker Räumlichkeit relevant. Robin Curtis bemerkt dazu in Vicarious Pleasures: »[N]atürlich ist die Erfahrung des Filmschauens sowohl vom räumlichen wie zeitlichen Fluss bedingt. Eben dieses Versinken in einen anderen Ort und eine andere Zeit, die beide unweigerlich vom filmischen Bild indexikalisch registriert werden, wird durch die Rezeption des filmischen Bildes in seiner ganzen protensiven Kraft erlebt.«47 Die filmische Bewegungsfähigkeit bietet dann nicht nur im Ablauf eigentlich statischer, flächiger fotografischer Bilder, eine Illusion von Bewegung. Kamerafahrten und -zooms erlauben auch einen Effekt, der ein Erschließen von Räumlichkeit und Tiefe suggeriert, mit dem sich die Malerei nicht messen kann, der aber, etwa durch die Verwendung von Farb- und Größenunterschieden, sehr wohl auf dieser beruht. David Bordwell dazu: »The most obvious way that the classical cinema works to treat the screen as a plate-glass window is in the representation of depth. Probably the most important depth cue in cinema is movement. When a figure moves and creates a continuous stream of overlapping planes and receding shapes, when the camera glides through or across a space – under these circumstances it becomes very difficult to see the screen as a flat surface [...] Classical Hollywood space is created in planes through various depth cues. To the usual cues of visual overlap (the object that overlaps must be closer) and familiar size, the classical image adds pattern, color, texture, lighting, and focus to specify depth. Geometrical patterns and colors, especially of costumes, stand out from plainer backgrounds [...] Even in black-and-white filming, set designers painted sets in different colors to create planes in depth.«48 46 Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek: Rowohlt Verlag 2001 [1999], S. 266. 47 Curtis, Robin: »Vicarious Pleasures. Fiktion, Immersion und Verortung in der Filmerfahrung«, in: Koch, Gertrud/Voss, Christiane (Hg.), ...kraft der Illusion, München: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 191-204, hier S. 202. 48 Bordwell, David: »Space in the classical film«, in: Bordwell, David/Staiger, Janet/Thompson, Kristin (Hg.), The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960, New York: Columbia University Press 1985, S. 50-59, hier S. 52.

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Dies ermögliche, so Ed Tan, auch eine größere Nähe zwischen Zuschauer und Leinwandgeschehen als bei anderen Künsten: »The primary basis for the diegetic illusion is the fact that the camera is moving within the scene. The cinema adds motion to the perspective illusion, and motion is capable of reducing the distance between the viewer and the objects in the imaginary space. Among the classical film theorists, Balazs above all has stressed that motion distinguishes cinematography from the other arts, which tend to keep the spectator at a distance from their altar [...]«49 Eine distanzierende Reflexion über den Tod ist dann nicht nur erschwert, weil der Film abläuft, die Bilder einander ständig ablösen, sondern weil er uns – sei es als erschreckender Zombie oder schwer verletztes Gewaltopfer – in Kamerafahrten und -zooms regelrecht überfällt. Die Sinnlichkeit und Räumlichkeit unseres Körpers wiederum ermöglichen es erst die Filmwelt als quasi-echt zu erleben, wie die Leihkörper-These von Christiane Voss zeigen wird.50 Unsere alltägliche, vielschichtige Wahrnehmung wird unter Beachtung des Körpers im Kino nicht länger beschnitten – wir werden so gesehen nicht mehr länger von uns selbst abstrahiert – und Kunstwerke werden im selben Zuge zu mehr als bloßen Referenzobjekten. Thomas Morsch hat entsprechend die Bevorzugung des Körpers als Ausgangspunkt der Filmwahrnehmung als Paradigmenwechsel innerhalb bestehender Theorien bezeichnet.51 Bei (darauf aufbauenden) ästhetischen Erfahrungen handle es sich um eine Praxis, so Joachim Küpper und Christoph Menke in ihrer Einleitung zum Sammelband Dimensionen ästhetischer Erfahrung, »[...] in der Subjekt und Objekt zusammengeschlossen sind.«52 Losgelöster von Objekten der Kunst erlaube der sich seit einigen Jahren vollziehende aesthetic turn in der wissenschaftlichen Debatte die Untersuchung ästhetischer Erfahrungen in allen erdenklichen Wahrnehmungssituationen.53 Die immersiven Potentiale zwischen Film und Zuschauer lassen uns entsprechend nicht nur von außen auf eine Leinwandwelt blicken, 49 Tan, Ed: Emotion and the Structure of Narrative Film, S. 53. 50 Vgl. Kapitel 3.1.5 51 »Mit einem Paradigmenwechsel haben wir es zu tun, weil es nicht einfach darum geht, anderen, bereits erforschten Dimensionen der Zuschauererfahrung mit dem Somatischen eine weitere hinzuzufügen und neben der kognitiven Verarbeitung von Filmen, den unbewussten und emotionalen Vorgängen in der Filmbetrachtung, den sozialen Aspekten des Kinobesuchs etc. einen weiteren Aspekt filmischer Erfahrung zur Geltung zu bringen; vielmehr ist von einem Paradigmenwechsel zu sprechen, weil die Filmtheorie beginnt, den Film als Medium, seine Gestaltungselemente sowie seine Beziehung zu den Zuschauern zur Gänze aus der Perspektive des Körpers heraus zu thematisieren. Eine somatische Theorie des Kinos zu formulieren heißt nicht, die körperliche Erfahrung neben andere Aspekte der filmischen Erfahrung zu stellen, die mit Prozessen des Verstehens oder des Unbewussten verbunden sind, sondern das Feld des Kinos in seiner Gesamtheit durch die Optik des Körperbegriffs zu reflektieren.« Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 7. 52 Küpper, Joachim/Menke, Christoph: »Einleitung«, in: Dies., Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2016 [2003], S. 7-15, hier S. 13. 53 »Ästhetische Erfahrung kann es dann von allem möglichen geben; sie wird beschreibbar als eine spezifische Form des Umgangs mit Objekten, Situationen, Personen überhaupt. Damit ändert sich der Sinn des Erfahrungsbegriffs. Ästhetische Erfahrung erscheint als eine Weise, sich in der Welt zu orientieren. Mehr noch: das Vorhandensein und der Grad der Ausbildung

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sondern verstricken uns komplex mit dieser, lassen uns in diese eintauchen,54 ohne auf psychoanalytische Identifikationen beschränkt zu bleiben.55 Technische Neuerungen wie virtual reality-Räume in denen man sich wirklich realphysisch bewegen und sich interaktiv einbringen kann, stellen eine Erweiterung dieses Ansatzes dar. Gerade Übergänge – sei es der verwesende Körper in Kapitel 2.1.2, oder der verzweifelte, wehrhafte Todeskampf eines verwundeten Opfers –, nicht das stillgestellte Skelett im Endzustand, üben einen besonders starken Einfluss auf den Zuschauerkörper aus. Dies ermöglicht eine schwer verbalisierbare, am eigenen Körper als (fiktive) Realität erfahrene Konfrontation mit dem Tod.56 Die medialen Besonderheiten, die schon in Kapitel 2 angesprochen wurden, dienen nun als Ausgangspunkt dieser Erfahrung durch das Publikum. Doch auch, wenn man sich durch die ablaufende Filmrolle, die Bewegung suggeriert, Kamerafahrten und Soundeffekte auf einer technischen Ebene zu befinden scheint, wird dies einer Filmerfahrung (als Todeserfahrung) ebenso wenig gerecht, wie Ansätze zu ästhetischen Erfahrungen der Künste. Thomas Morsch hat sich dementsprechend mit einer Medienästhetik des Films einer Verbindung beider Bereiche angenähert: »Der programmatische Begriff der Medienästhetik versucht der zementierten Alternative von Medientheorie oder ästhetischer Theorie zu entkommen, die über weite Teile des Mediendiskurses Regie führt.«57 Weder könne man den Film nur als technischem Medium begegnen, noch »[...] das Thema des Somatischen rein

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dieser ästhetischen Orientierungsweise erscheint als ein wesentlicher Gradmesser für das Gelingen einer Kultur. Die Hinwendung zum Leitbegriff ästhetischer Erfahrung hat daher nicht nur kunsttheoretische und auch nicht nur ästhetiktheoretische, sie hat zugleich sozialund kulturtheoretische Konsequenzen.« Küpper, Joachim/Menke, Christoph: »Einleitung«, S. 9. »Wird ein Großteil der Aufmerksamkeit des Rezipienten vom Film absorbiert, spricht man auch vom ›Eintauchen in den Film‹ oder, synonym dafür, von ›fiktionaler Immersion‹«. Voss, Christiane: »Fiktionale Immersion zwischen Ästhetik und Anästhesierung«, in: Image 8. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft (2008), S. 3-15, hier S. 4. Vgl. außerdem Balázs, Béla: »Zur Kunstphilosophie des Films (1938)«, in: Albersmeier, F.-J. (Hg.), Theorie des Films, Stuttgart: Reclam Verlag 1995, S. 204–226, hier S. 215. Vgl. Kapitel 3.2.1 Martin Seel bemerkt in Ästhetik des Erscheinens passend hierzu: »In der ästhetischen Wahrnehmung, das ist der rote Faden der ästhetischen Theorie von Baumgarten bis zu Adorno (und darüber hinaus), ereignet sich eine Affirmation des begrifflich und praktisch Unbestimmbaren; sie leistet, wie man mit Valéry sagen könnte, eine sensitive Beachtung dessen, was in den Dingen unbestimmbar ist. Sie ist darauf aus, ihre Gegenstände so zu belassen, nicht wie sie unter diesem oder jenem Aspekt sind, sondern wie sie unseren Sinnen jeweils, hier und jetzt, erscheinen. Diese Konzentration auf das momentane Erscheinen der Dinge aber ist stets zugleich eine Aufmerksamkeit für die Situation der Wahrnehmung ihres Erscheinens – und damit eine Rückbesinnung auf die unmittelbare Gegenwart, in der sie sich vollzieht. Die ästhetische Aufmerksamkeit für ein Geschehen der äußeren Welt ist so zugleich eine Aufmerksamkeit für uns selbst: für den Augenblick hier und jetzt. Ästhetische Aufmerksamkeit für Objekte der Kunst ist darüber hinaus häufig eine Aufmerksamkeit für Situationen, in denen wir nicht sind und niemals sein werden: für einen Augenblick jetzt und nie.« Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, S. 38/39. Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 135.

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von ästhetischen Konstellationen des Films her [...] entwickeln, ist es doch offensichtlich, dass der Film generell, und das heißt als Medium und noch vor allen ästhetischen Entscheidungen, den Zuschauer in einer anderen Weise körperlich adressiert als dies in anderen Kunstformen und Medien der Fall ist.«58 Chris Tedjasukmana führt diesen Ansatz noch aus: »[...] spätestens mit dem philosophisch und kunsthistorisch geprägten Begriff der Perspektive erweist sich der Versuch einer rein medientechnischen Bestimmung des Films als unbefriedigend. Aus medienästhetischer Sicht lässt sich der technische Vorgang als eine ästhetische Dynamik weiterentwickeln. Denn obwohl der Film an den optisch-mechanischen Prozess gekoppelt bleibt, bezeichnet er nicht mehr länger den materiellen Träger im Moment der Projektion, sondern eine eigenständige, virtuelle Welt, die wir wahrnehmen und verlebendigen.«59 Nur an dieser Schnittstelle – nicht im reinen Ablaufen einer Filmrolle, aber eben wegen der technischen Bedingungen, die etwa Bewegung simulieren – ist eine Verstrickung von Publikum und Film, damit eine somatisch fundierte ästhetische Erfahrung des Tötens und Sterbens im Film möglich. Statt einen Moment in der Zeit einzufrieren, wie Malerei und Fotografie, präsentiert der Film Begebenheiten so augenscheinlich gegenwärtig, in ihrem Ablauf, während sie geschehen, als ein performativer Akt. Erika Fischer-Lichte unterscheidet entsprechend in Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung Kunstwerk und Kunstereignis und hält fest: »Diese Schwerpunktverlagerung hat für die ästhetische Theorie weitreichende Konsequenzen. Denn während Werke in der Regel gedeutet und verstanden werden wollen, sind Ereignisse wahrzunehmen und zu erfahren. An die Stelle der Begriffe Interpretation, Bedeutung, Sinn, Verstehen treten hier eher Begriffe wie Ereignis, Inszenierung, Aufführung, Spiel, Verkörperung. Diesem Phänomen ist entsprechend nicht mehr mit einer hermeneutischen oder semiotischen Ästhetik beizukommen. Es verlangt vielmehr die Entwicklung einer anderen Ästhetik – einer Ästhetik des Performativen.«60

Statt um kognitive Aspekte wie Antizipieren und Reflektieren geht es in der Filmerfahrung demnach in erster Instanz um die gegenwärtige Erfahrung mit allen Sinnen. Dies macht den Film, damit auch die Erfahrung filmischer Tötungen, zu einem Ereignis. Thomas Morsch definiert dieses: »Ereignis meint in diesem Sinne die Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Unvorhersehbarkeit zum Beispiel einer Theateraufführung oder Performance, die stets an einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Konstellation gebunden sind. In enger Auslegung würden Ereignishaftigkeit und (technische) Medialität sich wechselseitig ausschließen, insofern die Reproduzierbarkeit das Kriterium der Einmaligkeit unterläuft. Ereignis lässt sich aber genau wie Präsenz in einem nicht-empirischen, ästhetischen Sinne begreifen. Das Ereignishafte des Films liegt in der Kontingenz der Begegnung zweier verkörperter Entitäten, des Films und des Zuschauers. Es liegt in der Konfrontation mit dem, was sich der Lesbarkeit und hermeneutischen Zugänglichkeit entzieht, was aus dem System klassifizierbarer Zeichen herausfällt, auch wenn 58 Ebd., S. 135. 59 Tedjasukmana, Chris: Mechanische Verlebendigung, S. 13. 60 Fischer-Lichte, Erika: »Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung«, S. 138.

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es durch sie hervorgebracht wird. Der Ereignisbegriff zielt somit auf eine irreduzible Singularität der Begegnung mit etwas in seinem Erscheinen, in seiner Materialität und in seiner Präsenz, eine Singularität, die keineswegs im Widerspruch zu der technischen Reproduzierbarkeit des Films steht.«61

Dies steht dem von Walter Benjamin postulierten Auraverlust durch reproduzierbare Werke62 entgegen und gibt jeder einzelnen Filmvorführung in ihrem Vollzug zwischen Film und Zuschauer ein eigenes Gewicht. Im Angesicht des Sterbens im Film wäre so dessen reale Einmaligkeit zum Teil wiederhergestellt, da sich die Rezeption desselben Films zwar wiederholen lässt, sich die Empfindungen während der ersten Vorführung jedoch nicht reproduzieren lassen. Wie lassen sich aber die Differenzen zwischen dem eigenen und dem Figurenkörper überwinden, um diesen erfahren zu können und so dem Tod näher zu kommen? Wie stehen wir einem verletzten, leidenden Figurenkörper mit unserem Körper gegenüber? Sind wir damit auf der sadistischen oder masochistischen Seite angesiedelt? Und wieso vermeiden wir die Auseinandersetzung mit diesen schrecklichen Bildern von Tod und Gewalt nicht, wie im echten Leben? Diese Fragen werden die folgenden Kapitel beantworten: Kein Körper gleicht dem anderen. Stereotype Vorstellungen oder unser eigener Kulturkreis werden nicht nur in den Verbildlichungen von Körpern fixiert und weitergetragen, sondern bestimmen auch von vornherein unsere eigene Wahrnehmung. Dennoch kann dieser fremde Körper des anderen über das Kunstwerk erfahrbar werden. Bereits christliche Malereien zur Passion Christi setzten auf die Präsentation von Blut und Wundmalen, um eine Reaktion im Betrachter hervorzurufen. Hier lässt sich eine Brücke von den Zeichensystemen der Bildmedien hin zu der somatischen Erfahrung vermeintlich echten körperlichen Leids schlagen. Über die Bildzeichen hinweg – gemalte Wunden – gelangen wir zu einem intuitiven somatischen Verständnis des (realen) körperlichen Leids eines Anderen bis hin zu dessen Tod. Die Audiovisualität des Films, die Dynamik seiner Bewegung, müssen umso eindringlicher wirken. Das Leihkörper-Konzept von Christiane Voss, das für einen gemeinsamen ästhetischen Erfahrungsraum zwischen Zuschauer und Film plädiert, bietet einen hilfreichen Erklärungsansatz hierfür. Eine mögliche sadistische oder masochistische (oder natürlich auch empathische) Filmrezeption im Angesicht von Tötungsszenen wird ausgehend von psychoanalytischen Filmtheorien diskutiert und auf eine somatische Erfahrung hin erweitert, die eine klare Positionierung des Publikums in Frage stellt. Auch die kognitive Sinnstiftung im bewussten Verfolgen der Filmnarration wird im Zuge einer direkten Konfrontation mit körperlichen Qualen im Todeskampf, die eine stringente Handlung zurücktreten lassen, diskutiert und somit somatische Anteile der Filmrezeption als Ausgangspunkt jeglicher Wahrnehmung bewussten kognitiven Anteilen vorangestellt. Filmausschnitte aus den Bereichen Slasherfilm der 1970er, Actionfilm der 1980er und Drama der 1990er sowie darauf aufbauenden New Extremity Produktionen der 2000er Jahre, dienen einer Untermauerung des Potentials einer somatisch fundierten Filmrezeption. Zuletzt soll geklärt werden, worin der ›Mehrwert‹ einer Erfahrung von unlustvollen

61 Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 90. 62 Vgl. Kapitel 2.1.1

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Themen wie dem Töten und Sterben liegen könnte. Das folgende Kapitel wird zunächst auf den unterschiedlichen Umgang der Künste mit Tötungen eingehen. Hierbei steht im Fokus, ob der entscheidende Tötungsmoment zu sehen ist – worauf diese Arbeit vorrangig aufbaut – oder er gerade nicht zu sehen ist. Dies hat entscheidenden Einfluss auf die somatische Reaktion auf das Filmgeschehen, damit auch auf weiterführende Anteile. 3.1.2 Den Tod erleben: Explizite Gewalt in Bildern Während in Kapitel 2 eine Verbildlichung und Bannung des Phänomens Tod im Fokus der Untersuchung stand, was Reflexionen und Sinnstiftungen bezüglich des eigenen Lebensendes zuließ, geht es in den folgenden Kapiteln um eine direkte Konfrontation. Der Film mit seinen bewegten, als gegenwärtig erfahrenen Bildern, ist prädestiniert für eine solche Unmittelbarkeit der Wahrnehmung. Eben weil der Tod selbst sich einer Darstellbarkeit und Erfahrbarkeit entzieht, sind die Grenzgänge zwischen Leben und Tod besonders faszinierend, weniger im Beiwohnen eines ruhigen Hinübergleitens als dem bis zuletzt wehrhaften Todeskampf, im Nachvollzug körperlicher Versehrtheit, von Schmerz und Angst – nah beteiligt und doch durch die Leinwand geschützt. Wie nah kann man dem Tod so kommen und wieso sollte man diese Erfahrung suchen? Anders als der eigentlich körperlose Tod, der letztendlich unvorstellbar bleibt und nur symbolisiert werden kann, obwohl er jeden Menschen eines Tages ereilen wird, ist tödliche Gewalt etwas, das wir zu kennen glauben, das zum Leben zu gehören scheint. Doch für den weit größeren Teil der Menschen in unseren friedlichen westlichen Gesellschaften, die das Glück hatten, Kriegserlebnissen, Anschlägen, wie auch häuslicher Gewalt oder Schulhofschlägereien zu entgehen, ist Gewalt etwas, das sie aus den Medien kennen und im echten Leben erfolgreich meiden. Darstellungen von Tätern und Opfern können nie wirklich objektiv sein, sie stellen immer schon einen Wahrheitsanspruch und versuchen darin Betrachter oder Publikum zu beeinflussen. Die eigene Körperlichkeit, die Verwundbarkeit des Rezipienten, ist hierfür der Schlüssel. Wie unterscheidet sich die Rezeption, wenn man den entscheidenden Tötungsakt direkt sieht oder dieser ausgespart wird? Bilder expliziter Gewalt begehen immer einen Tabubruch. Nicht nur der Film steht seit langem im Ruf, durch seine Gewaltdarstellungen reale Gewalttätigkeit beim (meist jugendlichen) Publikum auszulösen. Die Debatte um die Macht der Bilder geht bis zur Malerei zurück und scheint bis in die Gegenwart mit der anhaltenden, abschreckendfaszinierenden Wirkung der Todesdarstellungen in Kapitel 2 konform zu gehen. Bilder mit gewaltsamen Inhalten würden sowohl verbannt, als auch gezielt gesucht, so Wolfgang Sofsky: »Noch heute, da in Alltag und Kunst nahezu alle gestattet scheint, ist die Abwehr von Schreckensbildern weithin verbreitet. Bilder des Bösen, so hört man, verstören den arglosen Betrachter, verderben die Sitten, befriedigten niedere Schaugelüste und verführten anfällige Gemüter zu brutaler Aktion. Eine unheimliche Kraft scheint von den schwarzen Bildern auszugehen. Ähnliches bewirkt stets Ähnliches, lautet ein Grundgesetz der Magie. Deshalb verwandelten böse Bilder gutartige Menschen in Bösewichte [...] Anrüchig ist die Faszination, die

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von dem Schreckensbild ausgeht, anstößig die Angstlust, welche der Betrachter zu genießen weiß.«63

Wie der Tod schrittweise aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurde, dem Pflegepersonal übergeben, um einem dann doch in tausenden von Medienbildern wieder zu begegnen, geschieht es ähnlich auch mit tödlicher Gewalt: Man möchte weder leiden noch sterben, doch gleichzeitig scheinen wir Tötungen in möglichst direktem Anblick immer wieder zu suchen, bereits etwa im antiken Kolosseum oder bei mittelalterlichen Hinrichtungen. Ein bildlicher Ersatz für solche Tötungen war ebenfalls schon in der Antike, etwa in der Vasenmalerei, gegeben und Täter/Sieger sowie Opfer/Besiegter wurden, wie in Kapitel 2.2.1 in Verbindung mit André Bazins Thesen beschrieben, in der Abbildung unsterblich gemacht als hätte es sie genau so gegeben. Die Archäologin Susanne Muth bemerkt zu Malereien im Athen des späten 6. und frühen 5. Jh. v. Chr, hier seien erstmals besonders drastische Gewaltdarstellungen aufgetreten.64 Sowohl die Leiden des Opfers, als auch der aggressive Gewaltakt eines Angreifers wurden eindrücklich dargestellt – zunächst im Höhepunkt der Handlung, dem Moment etwa, in dem die Klinge des Helden den Leib des Gegners durchbohrt, wie bereits im Zusammenhang mit Lessings fruchtbarem Augenblick und Cartier-Bressons entscheidendem Augenblick diskutiert wurde.65 Später verlagerte sich dies zum Moment unmittelbar davor. Susanne Muth dazu: »Die Wahl des vorausgehenden Zeitmoments hatte verschiedene Vorteile für die Darstellung von Gewaltszenen. Die Steigerung der Spannung, mit der die Szene nun geschildert werden konnte, war einer der wesentlichen Vorteile: Garantierte er doch, daß das Bild die Aufmerksamkeit des Betrachters nachdrücklicher auf sich zog und damit die Vorstellungen, die in dem Bild verhandelt wurden, empathischer und emotional ergriffener rezipiert wurden [...] Einerseits gelang es, nun auch in ästhetischer Hinsicht die Aufmerksamkeit auf die Figur des Stärkeren zu konzentrieren. In den vorausgehenden Bildern der expliziten, pathetisierten Gewalt konnte dies nur bedingt gelingen: Hier zog das leidende Opfer – aufgrund seiner deutlich aufsehenerregenderen Ikonographie – weitaus mehr Aufmerksamkeit auf sich als die Figur des Siegers [...] Damit entstand für die Bilder das Risiko, daß die Gewaltikonographie den Blick des Betrachters zu stark auf die falsche Seite lenkte.«66

Diese durch die zeitliche Versetzung erzeugte Wirkung gleicht der des in Kapitel 2.3.2 besprochenen Freeze Frame im Film. Die Spannung wird durch die (im antiken Bild vermeintliche) Verzögerung erhöht, man imaginiert den weiteren Verlauf. Außerdem wird der Fokus hier nun vom Opfer auf den Sieger verlagert. Dieser erschien logischerweise weniger grausam, wenn man die in vorangegangenen Darstellungen so 63 Sofsky, Wolfgang: Todesarten. Über Bilder der Gewalt, Berlin: Matthes & Seitz Verlag 2011, S.14/15. 64 Vgl. Muth, Susanne: »Als die Gewaltbilder zu ihrem Wirkungspotential fanden«, in: Seidensticker, Bernd/Vöhler, Martin (Hg.), Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik, S. 259-293, hier S. 260ff. 65 Vgl. Kapitel 2.2.3 66 Muth, Susanne: »Als die Gewaltbilder zu ihrem Wirkungspotential fanden«, S. 289/290.

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eindrücklich herausgearbeiteten Qualen des Unterlegenen nicht bildlich vor Augen hatte. Dies zeugte nicht etwa, so Muth, von einer sadistischen Täteridentifikation der Griechen, sondern nur so war es möglich, eine Beeinflussung des Betrachters auszuschließen, wie sie häufig im heutigen Kino, durch Narration und Kamerawinkel forciert, üblich ist. Statt ein Mitfühlen mit dem Opfer regelrecht zu erzwingen, ließ die implizite Gewalt durch die zeitliche Versetzung offen, auf wessen Seite man sich stellte.67 Würde eine eindringliche Gewaltdarstellung im Umkehrschluss unseren Fokus vom Täter zum Opfer lenken? Würden wir damit somatisch mit diesem fühlen? Bei den christlichen Motiven im Kapitel 3.1.4 scheint dies der Fall zu sein, wie sich noch zeigen wird. Während Malerei und Fotografie meist das Ergebnis von Gewalt zeigen würden – den Tod als Zustand – so Mattias Frey in Extreme Cinema, zeige der Film Ereignisse im Vollzug. Hier bestehe generell immer die Gefahr, dass der Filmzuschauer nicht wie im stillgestellten Bild mit dem Opfer, sondern dem Täter fühle. Dem Regisseur Michael Haneke folgend würden drei Voraussetzungen diese Täterperspektive ermöglichen, bzw. filmische Gewalt genießbar machen: Die Gewalt werde in ein entferntes Setting versetzt, wie etwa im Western oder Science Fiction, die Gewalt werde durch die Narration moralisch gerechtfertigt oder die Gewalt werde durch Humor verharmlost68: »The only ethical alternative, Haneke claims, is to deliver forms to represent violence in a way that respects victims, returns pain (rather than aesthetic pleasure) to the representation of violence, and allows viewers to identify with the victims rather than the perpetrators.«69 Auch wenn der Respekt für die Opfer ein streitbarer Punkt ist, werden die Filmbeispiele in Kapitel 3.3 eben dies veranschaulichen: eine extreme Nähe zum Filmgeschehen, bei der das Leiden und Sterben der Opfer sich gleichermaßen fühlbar auf den Zuschauer(körper) überträgt. Die Gewalt der ausgedehnt sichtbaren Tötungen wird dem Publikum nicht nur vorgeführt, sondern regelrecht gegen dieses gerichtet. Als Paradebeispiel impliziter Gewalt im Kino dagegen können die Filme Alfred Hitchcocks angesehen werden, die sein Publikum seit jeher zu schockieren, fesseln und affizieren wissen, deren mörderische Gewalthöhepunkte allerdings in den Köpfen der Zuschauer imaginiert werden. PSYCHO (1960),70 nicht zuletzt wegen der berühmten Duschszene mit der aufblitzenden Klinge und der einsetzenden schrillen Musik, wird häufig als Mutter des darauffolgenden Slasherfilms aufgefasst, der in Kapitel 3.3.2.1 eigens thematisiert wird.71 Doch »Like any good showman, Hitchcock subscribed to 67 Vgl. Muth, Susanne: »Als die Gewaltbilder zu ihrem Wirkungspotential fanden«, S. 292. 68 Vgl. Frey, Mattias: Extreme Cinema. The Transgressive Rhetoric Of Today’s Art Film Culture, New Brunswick/New Jersey/London: Rutgers University Press 2016, S. 27ff. 69 Ebd., S. 29. 70 PSYCHO (USA 1960, R: Alfred Hitchcock). 71 Vgl. Rockoff, Adam: Going to Pieces, S. 26. Adam Rockoff beschreibt den Slasherfilm: »The slasher film – which was not named erroneously – is defined by the method by which its characters are killed. The victims are usually slain by a knife, although any sharp metal object seems to be sufficient. Killings by swords, razors, axes, machetes, arrows, chain saws, powerdrills, hammers, swords, spears, saws, scythes, hatchets, darts, sickles and pitchforks are commonplace.« Ebd., S. 7. Carol J. Clover beschreibt ihn als »the immensely generative story of a psychokiller, who slashes to death a string of mostly female victims, one by one,

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the idea that what an audience could conjure up was far more horrible than what could actually be shown on screen«,72 so Adam Rockoff in Going to Pieces. The Rise and Fall of the Slasher Film. Hermann Kappelhoff vergleicht entsprechend die jeweilige Gewaltästhetik bei Hitchcock und dem Slasherfilm: »Darf man bereits Hitchcocks [Psycho] als eine Reflexion des billigen Horrorfilms begreifen, lässt sich umgekehrt der entstehende Slasherfilm ziemlich präzise beschreiben als Verfilmung dessen, was bei Hitchcock zwischen zwei Einstellungen ausgespart wird. [Er] setzt genau dort ein, wo die Montagekunst Hitchcocks die Zerstückelung der Frau ästhetisch sublimiert. Ist das Kalkül des Filmschnitts bei Hitchcock auf die Einbildung des Zuschauers gerichtet, auf dessen Angstphantasien, zielt hier das Bild der klaffenden Wunde und des zerschnittenen Körpers auf den Realitätseffekt des filmischen Bilds, auf das nackte Sehen.«73

Auch wenn Hitchcock Tötungen subtiler in Szene setzt, bedeutet das nicht, dass das Publikum nicht körperlich an seinen Filmen beteiligt wäre, im Gegenteil, gemäß Christine Noll Brinckmanns Text Somatische Empathie bei Hitchcock sind, »[...]von der stummen Frühzeit bis zum Alterswerk, fast durchweg Stellen enthalten, bei denen die Zuschauer sich so stark in die Beobachtung physischer Verrichtungen auf der Leinwand verwickeln, daß ihre eigenen Muskeln mitzuspielen beginnen.«74 Diese somatische Empathie bzw. motor mimicry75 zeige sich bei Hitchcock häufig in einer Orientierungslosigkeit beim Publikum, »angstbesetzte[r] physische[r] Ratlosigkeit, Begegnungen im Dunkeln, nicht klar verortbare[n] Angriffe[n]«76, oder stark affizierenden physischen Stimuli, die eine Handlungsbereitschaft beim Publikum ansprechen, die nicht nur durch die Kinosituation selbst unerfüllt bleibt,77 sondern auch innerhalb der Diegese durch gleichermaßen »[...] sadistische Behinderungen und Missgeschicke, [...] scheinbar unmögliche, aber äußerst dringliche Kraftakte oder das verzweifelte Ringen gleichstarker Kontrahenten [...]«78 blockiert wird. Die somatische Wirkung bei Hitchcock liegt damit – als Steigerung des Effekts der oben beschriebenen antiken Vasenmalereien – hauptsächlich in einer beinahe unerträglichen, körperlich fühlbaren, aber dennoch über lange Strecken nicht aufgelösten,

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until he is subdued or killed, usually by the one girl who has survived.« Clover, Carol J.: Men, Women and Chainsaws, S. 21. Rockoff, Adam: Going to Pieces, S. 28. Kappelhoff, Hermann: Realismus: das Kino und die Politik des Ästhetischen, Berlin: Vorwerk 8 Verlag 2008, S. 158/159. Noll Brinckmann, Christine: »Somatische Empathie bei Hitchcock: Eine Skizze«, in: Heller, Heinz B./Prümm, Karl/Peulings, Birgit (Hg.), Der Körper im Bild: Schauspielen – Darstellen – Erscheinen, Marburg: Schüren Verlag 1999, S.111-120, hier S. 111. Vgl. Ebd. Auch Murray Smith sieht in motor mimicry bzw. affective mimicry einfache und automatisierte somatische Reaktionen: »Unlike emotional simulation, the action of mimicry is not performed voluntarily, or with specific reasons on specific occasions. Rather, it functions almost as a ›sixth sense‹, a physiological mechanism by which we constantly probe the meaning of our environment.« Smith, Murray: Engaging Characters, S. 100. Noll Brinckmann, Christine: »Somatische Empathie bei Hitchcock«, S. 115. Vgl. ebd., S. 113ff. Ebd., S. 120.

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(An-)Spannung – was für eine masochistische Rezeption spricht, wie das Kapitel 3.2.2 ausführen wird. Die medienspezifische Fähigkeit des Films, nicht nur Ausschnitte von Handlungen, sondern Abfolgen, zu schildern, lässt diese verzögerte Spannung, auch in endlosen Variationen, noch eindringlicher wirken. Natürlich spielt Hitchcock, entsprechend kognitiver Filmtheorien, auch mit Erwartungshaltungen des Publikums, hier treffen also neoformalistische und somatische Ansätze aufeinander.79 Der direkte Anblick von Gewalt- und Tötungsszenen bzw. deren unmittelbare Erfahrbarkeit wirken jedoch anders, wie diese Arbeit zeigen wird. Die explizite Zurschaustellung von Körpern im Kino, so Hermann Kappelhoff, ermögliche eine Erfahrung dieser, die fernab von Vernunft oder Moral bestehen könne.80 Die komplexen somatischen Wirkungsweisen entstehen hier nicht mehr (nur) im Erzeugen von Spannung, sondern in der Konfrontation mit dem leidenden Körper selbst. Dabei muss man nicht immer alles sehen. Gezielte Schnitte81 oder eine Verlagerung des Tötungsaktes in die Tonebene82 erreichen bei gelungener Inszenierung eine ebenso starke Zuschauerbeteiligung. So gelte etwa das Kino Michael Hanekes vielen als sehr gewalttätig, so Karl Ossenagg in Der wahre Horror liegt im Blick, obgleich man die entscheidenden Gewalthöhepunkte von Tötungen, meist selbst imaginieren müsse.83 Die Anteilnahme des Publikums ist in diesen Fällen offenbar so hoch, dass diesem mitunter gar nicht auffällt, was es wirklich gesehen hat. Tödliche Gewalt auf der Leinwand, zunächst unabhängig von ihrem Kontext oder moralischen Bewertungen, muss uns besonders intensiv treffen, da körperlicher Schmerz eine sehr eindringliche, unlustvolle Erfahrung darstellt, die sich uns intuitiv erschließt. In einem Erfahrungsraum, in dem sich Leinwand- und Zuschauerkörper gegenüberstehen und das Publikum unmittelbar affiziert wird, ist das fotografische Medium Film punktuell von einer reinen Mimesis der Welt befreit (wie es Bazin einst für die Malerei angekündigt hat, die darin durch die Fotografie abgelöst wurde), weil die Überwältigung durch filmische Eindrücke, das, was dabei sinnlich empfunden wird, nicht minder real ist als das, was wir unsere Realität nennen. Statt nur Realität nachzuahmen, kann der Film, gemeinsam mit dem Publikum, eine Art Parallelrealität bilden.84

79 Vgl. Kapitel 3.2.3 80 Vgl. Kappelhoff, Hermann: Realismus, S. 161. Nicht jede Form von expliziter Gewalt erziele dabei dieselbe Reaktion beim Publikum. Filme wie Quentin Tarantinos KILL BILL (USA 2003, R: Quentin Tarantino) seien auf eine comicartige und übertriebene Art inszeniert, die mit der Realität wenig zu tun habe, entsprechend distanziert könne man sie rezipieren und sich sogar über sie amüsieren. Vgl. ebd., S. 154. 81 Vgl. Kapitel 3.3.4.1 82 Vgl. Kapitel 3.3.2.2 83 Vgl. Ossenagg, Karl: »Der wahre Horror liegt im Blick. Michael Hanekes Ästhetik der Gewalt«, in: Wessely, Christian/Grabner, Franz/Larcher, Gerhard (Hg.), Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft, Marburg: Schüren Verlag 2008, S. 68. 84 Dazu auch Christiane Voss: »Erst im Zuge der modernen Autonomisierung der Künste ist ›Mimesis‹ weitgehend durch den Begriff der ›Fiktion‹ bzw. der ›fiktionalen Darstellung‹ ersetzt worden. Damit einhergehend ist auch die zentrale Bedeutung der Nachahmung für

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Wie die Filmerfahrung von Tötungen für das Publikum genau ausfällt, ist natürlich zunächst je nach Rezipient und Darstellungsweise sehr unterschiedlich. Solange eine ausreichende Distanz zum Filmgeschehen besteht, befindet man sich in einer Situation, die dem Erhabenen bei Edmund Burke ähneln kann. Burke definiert dieses: »Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain, and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling. I say the strongest emotion, because I am satisfied the ideas of pain are much more powerful than those which enter on the part of pleasure. Without all doubt, the torments which we may be made to suffer, are much greater in their effect on the body and mind, than any pleasures which the most learned voluptuary could suggest, or than the liveliest imagination, and the most sound and exquisitely sensible body could enjoy [...] But as pain is stronger in its operation than pleasure, so death is in general a much more affecting idea than pain [...]«85

Das Erhabene bei Burke sei zutiefst somatisch, so Catherine Shelton, da es von Zittern, Schreien, Seufzen und Zähneklappern begleitet sei. Damit betone Burke Sinne, Instinkte und Affekte in ästhetischen Erfahrungen.86 Im Kino ist das Erhabene möglich, weil einem die Gefahr und das Leid in der filmischen Welt nichts anhaben können und gleichzeitig erst für einen hervorgebracht werden. Um so empfinden zu können, sei eine gewisse Distanz unerlässlich, so Burke: »[I]t is certain, that it is absolutely necessary my life should be out of any imminent hazard before I can take a delight in the sufferings of others, real or imaginary, or indeed in any thing else from any cause whatsoever.«87 Benjamin Moldenhauer führt in Drastik und Erhabenheit aus: »Nimmt man Burkes Hinweis ernst, wonach auch die Gewalt Gegenstand der Erfahrung des Erhabenen sein kann, und versteht man im Weiteren das erst bei Kant ausformulierte Moment der Erhebung des Subjekts über das, was es zu überwältigen droht, als wirkungsästhetischen Kern dieser Erfahrung, erhält man eine Figur, die zur Kategorisierung von kinematographischen Inszenierungsstrategien dienen kann. Die Inszenierung einer erhabenen Gewalt liegt dann vor, wenn die Bilder der Gewalt mit Eindrücken von Masse, Weite und schierer Größe verbunden sind – wenn also die Inszenierung es nahelegt, das Gewaltbild nicht primär als ein Bild der Gewalt wahrzunehmen, sondern als ein Substitut von Größe.«88

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ästhetische Kontexte einem anderen Topos gewichen: eben dem der Lebendigkeit des Eindrucks einer Darstellung. Einen lebendigen Realitätseindruck zu erzielen, ist nun gerade die definierende Funktion des Kinos.« Voss, Christiane: Der Leihkörper, S. 18. Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, S. 39/40. Vgl. Shelton, Catherine: Unheimliche Inskriptionen, S. 25. Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, S. 48. Moldenhauer, Benjamin: »Drastik und Erhabenheit. Zwei Inszenierungsmodi kinematographischer Gewalt«, in: Demmerling, Christoph /Esser, Andrea /Honneth, Axel /Krüger, HansPeter (Hg.), Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Band 63, Nr. 1 (2015), S. 133-151, hier: S. 137/138.

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Moldenhauer nennt als Beispiele gewaltige Schlachten, wie in Peter Jacksons THE LORD OF THE RINGS89 oder die Weltuntergangsszenarien Roland Emmerichs, die die volle Größe der Kinoleinwand ausnutzen.90 Dies erinnert an gewaltige Kunstwerke der Malerei in meterhohen Gemäldegalerien. Doch derselbe Effekt könne sich auch durch verfremdende Elemente einstellen: klassische Musik und verlangsamte Bewegungsabläufe, wie etwa in manchen Martial-Arts-Filmen. So lässt sich dem Morden auf der Leinwand teilweise sogar etwas Poetisches abgewinnen, dem Rot des Blutes, dem Tanz widerständiger, bis zum Tod wehrhafter Körper. Ganz anders ist jedoch die Wirkung, wenn diese Distanz nicht gegeben ist: Das Morden im Horrorfilm etwa kann zutiefst ängstigen, was sich auch direkt somatisch äußert, in angespannten Muskeln, vorgehaltenen Händen oder Aufschreien. Das Sterben im Drama kann zu tränenreicher Anteilnahme führen. Der Anblick offener Wunden, laute Schmerzensschreie oder besonders grausame Torturen können die abgrenzende Leinwand augenscheinlich gar zeitweise brüchig werden lassen. Nähe und Distanz können außerdem während der Filmvorführung beliebig hin und her kippen.91 Dieses Kapitel hat gezeigt, dass das Aussparen des entscheidenden Tötungsmoments, des Gewalthöhepunkts, eine Nähe zu Tätern, statt Opfern erleichtert, welche in dieser Arbeit im Vordergrund stehen. Dies wird das Kapitel 3.3.3 zum Actionfilm wieder aufgreifen. Der Zuschauer ist dennoch körperlich am Filmgeschehen, etwa körperlichen Anstrengungen von Filmfiguren, beteiligt, wird aber von einem Nachvollzug des Leidens und Sterbens von Opfern verschont. Somit liegt insgesamt eine stärkere Distanzierung vor, die erhabene Gefühle im Sinne Edmund Burkes oder auch Sadismus ermöglicht, wie das Kapitel 3.2.1 ausführen wird. Für eine Annäherung an den Tod ist ein Sichtbarmachen des Sterbens durch den Film, ungeschönt und mitunter ausufernd, aber zuträglich, wie die folgenden Kapitel ausführen werden. Dabei reagiert der Zuschauer sowohl auf die filmischen Eindrücke selbst, Kamerafahrten, Farben und Soundeffekte, als auch auf Genuss und Leid der Körper auf der Leinwand. Ihr sichtbares Leiden oder Verletzungen verweisen – wie bereits bei Tötungen in Malereien oder Fotografien vor ihnen, nun jedoch um Bewegung und auditive Eindrücke erweitert – indexikalisch auf den Schmerz, den sie erkennbar erdulden müssen. Dies scheint die reine Zeichenhaftigkeit zu überschreiten. Es handelt sich vielmehr um ›fleischliche Zeichen‹, die zuallererst durch den eigenen empfindsamen Körper intuitiv entschlüsselt werden, wie das folgende Kapitel und das Kapitel 3.1.4 ausführen werden.

89 THE LORD OF THE RINGS: THE FELLOWSHIP OF THE RING (USA/Neuseeland 2001, R: Peter Jackson). 90 Vgl. Moldenhauer, Benjamin: »Drastik und Erhabenheit«, S. 142. 91 Vgl. Kapitel 3.1.5. Verschiedene Funktionsweisen filmischer Gewalt werden über Genres und Themenschwerpunkte insbesondere in Kapitel 3.3 anhand konkreter Filmbeispiele diskutiert.

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3.1.3 Körpersemiotik, Gewalt und Tod »Der Körper ist Text, nicht [...] a priori der Erfahrung, sondern Produkt von Einschreibungen, die Erfahrungen generieren; der Körper ist ein Palimpsest, ein Text, unter dem sich andere Texte verbergen, mehrfach codiert.«92

Anders als Repräsentationen des Todes existieren gewaltsame Tötungen in der echten Welt und sollten entsprechend darstellbar sein. Diese im Kino zu sehen, sollte sie somit für ein Publikum unmittelbar erfahrbar machen. Bernd Kiefers obiges Zitat aus Allegorien des Körpers lässt jedoch erahnen, dass das Verhältnis von Film und Zuschauer komplexer ist. Jeder Körper, auch der des Zuschauers, ist immer bereits durch seine Hautfarbe, sein Geschlecht, seine Statur, sein Alter, die seiner gesellschaftlichen Schicht typischen Verhaltensweisen, seinem Kulturkreis üblichen Gesten etc. durch weitere Bedeutungen ›aufgeladen‹. Dies prägt unsere Wahrnehmung selbst noch in der Filmrezeption. Der Gewaltakt einer Tötung im Film wird dazu wieder durch Bildzeichen repräsentiert. Es handelt sich stets um Verbildlichungen von Körpern die Gewalt ausüben oder erdulden. In der Abbildung, das hat bereits die Benetton-Kampagne Pietà in Kapitel 2.2.2 gezeigt, wird der Körper eines Menschen semiotisch. Es entsteht nicht nur eine – indirekte, weil ikonische und ggf. auch direkte, weil indexikalische – Verbindung zur echten Welt, sondern er kann zum Symbol werden. Zugleich entstehen in der Verbildlichung eines Körpers Bezüge zu anderen Bildern. Kann es trotz der verschiedenen Bedeutungsebenen, die repräsentierten, wie erfahrenden Körpern zwangsläufig immer mitgegeben sind, eine direkte somatische Erfahrung von Tötungen geben, bei der ein Figuren- und ein Zuschauerkörper unmittelbar ›in Kontakt treten‹, so verschieden sie sein mögen? Gerade die bildliche Repräsentation von gewaltsamen Tötungen schränkt den Fokus des Zuschauers extrem ein: Bei der Darstellung eines Gewaltakts ist es kaum möglich, sich nicht auf den Täter oder aber das Opfer zu konzentrieren, die damit zum Schuldigen oder Unschuldigen, Helden oder Schurken deklariert werden, was als ideologisch aufzufassen ist und den Betrachter oder Zuschauer in der Rezeption manipuliert.93 Dies kann vom Künstler oder Filmemacher intendiert sein, ist aber auch teils der bildlichen Darstellung selbst inhärent, wie bei den Vasenmalereien im vorangegangenen Kapitel angesprochen wurde. Diese ideologischen Strukturen können auch dem Körper selbst eingeschrieben sein, wie sich beispielsweise an der Hautfarbe erkennen lässt und mitunter zu einer Distanzierung zu Leid und Tod von Opfern führen.94 Der Kulturtheoretiker Stuart Hall analysiert anhand bildlicher Repräsentationen von Schwarzen zur Zeit der Sklaverei, zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert:

92 Kiefer, Bernd: »Allegorien des Körpers. Bacon, Mapplethorpe und die Vor-Bilder der Postmoderne«, in: Felix, Jürgen (Hg.), Unter die Haut. Signaturen des Selbst im Kino der Körper, St. Augustin: Gardez! Verlag 1998, S. 13-24, hier S. 14. 93 Durch die Kinoanordnung selbst sei die ganze Kinosituation ideologisch, so die Apparatustheorie Vgl. Kapitel 2.3.1 94 Natürlich ist eine gegenläufige Lesbarkeit möglich, insbesondere aus der Perspektive anderer zeitlicher und kultureller Kontexte.

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»Typisch für das rassisierte Repräsentationsregime war die Praxis, die Kulturen von Schwarzen auf Natur zu reduzieren, oder ›Differenz‹ zu naturalisieren. Die Logik des Naturalisierens ist einfach. Wenn die Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen ›kulturell‹ sind, können sie modifiziert und verändert werden. Wenn sie jedoch ›natürlich‹ sind – wie die Sklavenhalter glaubten – , dann befinden sie sich jenseits von Geschichte, sind permanent und festgeschrieben. ›Naturalisierung‹ ist deshalb eine Strategie der Repräsentation, die dazu da ist, ›Differenz‹ festzuschreiben, und sie so für immer zu sichern. Sie ist ein Versuch, das unvermeidbare ›Entgleiten‹ von Bedeutung aufzuhalten und eine diskursive und ideologische ›Schließung‹ sicherzustellen.«95

Die Differenz von Schwarzen gegenüber Weißen, so Hall, ließ sich nicht nur an der Hautfarbe erkennen, sondern diese ließ augenscheinlich wiederum auf einen faulen und sturen Charakter schließen, einfach und zur Knechtschaft geboren, wie es in vielen Darstellungen thematisiert und damit festgeschrieben wurde; es wurde ein Stereotyp geschaffen,96 wie es auch von Darstellungen sich bereichernder Juden mit übergroßen Nasen bekannt ist. Die als naturgegeben propagierten Bedeutungsebenen des schwarzen Körpers beeinflussten nicht nur die Rezeption solcher Bilder. Rassismus ist gleichermaßen aus der Gesellschaft in die Bilder eingegangen (und damit an ihnen ablesbar), wie durch sie verstärkt und weitergetragen worden. Dies diente einer Rechtfertigung der Sklaverei, wie auch von reuelosen Gewaltakten gegen Schwarze. Auch der Hass von Weißen auf Schwarze im 20. Jahrhundert wurde entsprechend in Bildern fixiert. Analog zur Hetzmasse Elias Cannettis,97 beschreibt die Kunstwissenschaftlerin Linda Hentschel den amerikanischen Lynchmob der 1930er Jahre, eine Meute Weißer, die, meist unter vorgeschobenem Vorwand, wie der Rache der angeblichen Vergewaltigung einer weißen Frau, Schwarze gefangen nahm und an Bäumen aufknüpfte.98 Hierbei sei es, so Hentschel, auch zu brutalen Verstümmelungen gekommen, ohne dass die Täter eine Strafe zu befürchten hatten. Diese Taten hätten aber als Befriedigung nicht ausgereicht, man habe die Toten fotografiert, um sie dauerhaft zu bewahren:

95 Hall, Stuart: »Das Spektakel des ›Anderen‹«, in: Koivisto, Juha/Merkens, Andreas (Hg.), Stuart Hall. Ideologie Identität Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg: Argument Verlag 2004, S. 108-166, hier S. 130. 96 Vgl. Hall, Stuart: »Das Spektakel des ›Anderen‹«, S. 128ff. 97 Nach Canetti handelt es sich hierbei um einen Pulk, der sich mit dem Ziel bildet, ein einzelnes Opfer zu töten. Jeder möchte möglichst unmittelbar beteiligt sein. Entscheidend ist dabei auch, dass das Opfer gegen die Übermacht der Masse chancenlos ist, sein Schicksal ist besiegelt und für die Masse besteht keine Gefahr: »Der freigegebene Mord springt für alle Morde ein, die man sich versagen muß, für deren Ausführung man schwere Strafen zu befürchten hätte. Ein gefahrloser, erlaubter, empfohlener und mit vielen anderen geteilter Mord ist für den weitaus größten Teil der Menschen unwiderstehlich.« Canetti, Elias: Masse und Macht, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2011 [1960], S. 54. 98 Der Soziologe Wolfgang Sofsky beschreibt ähnlich das Massaker, die Auslöschung ganzer Dörfer im Krieg als reuelosen Massenmord durch Soldaten. Vgl. Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2005 [1996], S. 173ff.

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»Gegen Ende der 1930er Jahre war der Markt an Lynchfotografien von Weißen für Weiße schließlich so weit etabliert, dass die Präsenz der Bilder zum Teil die Funktion der Ermordungen selbst übernommen hatte, denn medial waren sie überall, häufiger und schneller als die Ereignisse es hätten sein können: Sie wurden konziliant an Freunde und drohend an Feinde verschickt, verbreiteten Überheblichkeit, Narzissmus und Sadismus genauso wie Angst, Scham und Wut. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatten die Fotografien das erreicht, was sie von Anfang an sein sollten: nicht Abbildungen, sondern Teil der Folter.«99

Damit stellen diese Bilder Trophäen dar und lassen eine düstere Parallele zum reliquienartigen Gebrauch der Postmortem-Fotografien des 19. Jahrhunderts erkennen.100 Es werden nicht mehr Tote vor dem Verfall geschützt, die Absicht ist nicht eine Verbindung zu den verstorbenen Menschen zu erhalten, den Tod zu begreifen oder gar durch das Bild zu besiegen, sondern die ihnen angetane Gewalt wurde bildlich fixiert und damit dauerhaft zugänglich. Diese Macht der Bilder, ihre Rolle als Ersatz eines echten Körpers, wurde schon von André Bazin thematisiert. Realität wird dabei durch Bildzeichen vertreten, wie in Kapitel 2.2.2 ausgeführt wurde. Doch auch der Körper selbst, so zeigt sich hier, ist durch ›Mehrinformationen‹ semiotisch, statt nur bewertungsfrei zu kopieren, was in der Realität existierte. Die Farbe der Haut etwa kann vermeintliche Bedeutungen und Werte kodieren, die über Bilder weiter transportiert und manifestiert werden, mitunter in reale Gewaltakte resultieren können, die zu neuen Bildern werden und immer so fort. Körpersemiotik spielt sich damit auf einer oberflächlichen Ebene ab, die jedoch weitreichende Auswirkungen haben kann: Die mimetischen Potentiale des Films als fotografischem Medium, gekoppelt mit einer Bedeutung schaffenden Montage, erwecken so den Anschein der reinen Wiedergabe natürlich gegebener Sachverhalte,101 während diese, im Gegenteil, immer bereits mit (Vor-)Urteilen behaftet sind. Rassismus und Gewalt greifen auch im Film direkt ineinander. Julie F. Codell hierzu: »Filmic associations of ethnicity with violence (starting in the 1970s with Blaxploitation films of gangs and Black mafia) have persisted […], reinforcing fears about ethnic groups and reviving nineteenth-century notions of people of color as ›savage‹.”102 Das Hineinlegen von Bedeutungen, Eigenschaften und Werten in Körper wandelt sich im Lauf der Zeit oder auch je nach Kulturraum,103 wird während der Rezeption, meist unbewusst und nicht von jedem gleichermaßen, dekodiert und kommt so als weitere Bedeutungsebene hinzu.

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Hentschel, Linda: »Strange Fruit: Die visuelle Kultur des Lynchens in den USA«, in: Pawlak, Anna/Schankweiler, Kerstin (Hg.), Ästhetik der Gewalt - Gewalt der Ästhetik, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2013, S. 165-178, S. 166/167. Vgl. Kapitel 2.2.3 Dies lässt sich erneut an die Apparatustheorie anschließen, vgl. Kapitel 2.3.1 Codell, Julie F: »Part III. Race: Stereotypes and Multiple Realisms«, in: Dies., Genre, Gender, Race, and World Cinema. An Anthology, Malden/Oxford/Victoria: Blackwell Publishing 2007, S. 213-222, hier S. 219. In Japan tauchen etwa die tief in der Kultur verwurzelten Yūrei-Gespenster, deren Körperlosigkeit mit großen Ängsten verbunden ist, auch im gegenwärtigen Kino auf, bspw. in RING (Ringu, Japan 1998, R: Hideo Nakata). Vgl. dazu Belmain, Colette: Introduction to

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Auch die Darstellungsweise von Tätern ist nicht bewertungsfrei und kann zu einer Distanzierung des Publikums führen, indem sie als unheimlich und übernatürlich inszeniert werden und das Publikum damit vom ›echten‹ gewaltsamen Tod entfernen. Ihre Bosheit scheint häufig sichtbar in ihren Körper eingegangen zu sein, was in einer Rohheit und Hässlichkeit, zu erkennen ist.104 Von der Antike an ist der Versuch unternommen worden, den guten oder schlechten menschlichen Charakter äußerlich zu erkennen, zu kategorisieren und vermessen.105 Bestimmte Prototypen von Gewalttätern erhalten sich über alte Legenden und Bildnisse hinweg bis zum heutigen Film: so etwa die schottische Legende von Alexander ›Sawney‹ Bean, der im 15. Jahrhundert mit seiner Frau und ihren 46 verwilderten Kindern in einer Höhle lebend, rund tausend Reisende getötet und verspeist haben soll.106 Das Motiv hält sich über die Jahrhunderte hinweg, bis hin zu Filmfiguren wie Leatherface aus THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE,107 ein monströser, völlig entmenschter und kannibalistischer Hinterwäldler. Obwohl im Film auch der gewaltsame Tod thematisiert wird, knüpft THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE, dem backwood horror üblich,108 insbesondere an solche Legenden von Wegelagerern in unergründlichen, abgelegenen Gegenden abseits der Zivilisation an. Die Unergründlichkeit der Natur muss bedrohlich wirken und kippt deshalb in vielen Filmen sogar ins Übermenschliche: Monster, Vampire oder Werwölfe gehen entsprechend vielfach auf solche alten Legenden zurück. Besonders der Horrorfilm, so Catherine Shelton in Unheimliche Inskriptionen, »[...] präsentiert den monströsen Körper des Tiermenschen als Sinnbild eines erschreckenden Rückfalls ins Kreatürliche, ins Naturhafte.«109 Was in seiner Unerklärlichkeit Angst macht, erhält in der erschreckenden Darstellung eine greifbare Form, wie schon der Tod als Transi und Skelett gezeigt hat. In der übermenschlichen Monstrosität von fiktiven Tätern liegt ebenfalls ein Schrecken und zugleich eine Beruhigung – weil das todbringende Böse

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Japanese Horror film, Edinburgh: Edinburgh University Press 2008. Diese halten auch Einzug in die westliche Welt: Im Remake von Gore Verbinski, THE RING (USA/Japan 2002, R: Gore Verbinski), wurde der Plot an die hiesigen Sehgewohnheiten angepasst. Ed Tan dazu in Emotion and the Structure of Narrative Film: »Protagonists are sexually attractive, while antagonists, in particular bad guys, may be characterized by means of innate releasers of aversion and fear. These include such things as a slight deformity, a rasping voice, a perpetual expression of anger, or – less commonly, perhaps – a remote physical resemblance to animals that generally call up a reaction of fear, such as rats, snakes, and scorpions.« Tan, Ed: Emotion and the Structure of Narrative Film, S. 162. Vgl. bspw. Aerni, Fritz (Hg.): Aristoteles. Physiognomik: Der Zusammenhang zwischen Körper und Seele und der Ausdruck der Seele durch den Körper, Waldshut-Tiengen: Carl Huter Verlag 2006; Siegrist, Christoph (Hg.): Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Stuttgart: Reclam Verlag 1986. [1775-1778]; Gibson, Mary/Hahn Rafter, Nicole (Hg.): Cesare Lombroso: Criminal Man, Durham: Duke University Press 2006. [L’Uomo delinquente, 1876]. Vgl. Holmes, Ronald: The Legend of Sawney Bean, London: Frederick Muller Ltd. 1975. THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE wird im Kapitel 3.3.1 zum Slasherfilm noch einmal aufgegriffen. Vgl. Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S. 17. Shelton, Catherine: Unheimliche Inskriptionen, S. 176.

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so einen sichtbaren (abscheulichen) Körper und damit seinen eigenen Platz, außerhalb der Gemeinschaft, erhält. Dementsprechend resümieren zwei FBI-Ermittler zu Serienverbrechen: »Serienmorde sind möglicherweise ein weit älteres Phänomen, als wir glauben. Die Geschichten und Legenden über Hexen, Werwölfe und Vampire könnten eine Form gewesen sein, Gräueltaten zu erklären, die so abscheulich waren, daß niemand in den kleinen Dorfgemeinschaften Europas und des frühen Amerika die Perversitäten fassen konnte, die wir heute als gegeben hinnehmen. Bei solchen menschlichen Ungeheuern mußte es sich um übernatürliche Wesen handeln. Unmöglich konnten sie sein wie wir.«110

Jeweilige kulturelle Vorstellungen und kollektive Ängste fließen somit nicht nur in die Narration ein, sondern sind mitunter direkt am körperlichen Erscheinungsbild des fiktiven Gewalttäters ablesbar, ohne immer bewusst erkannt zu werden. Shelton: »Der Körper im Horrorfilm ist nicht primär aufgrund seiner durch eine lebensnahe, filmische Inszenierung in den Vordergrund gerückten Materialität unheimlich oder grauenhaft, sondern er ist es (auch), weil in und mit ihm kulturelle Konzeptionen des Unheimlichen oder Grauenhaften sichtbar werden.«111 Selbst Figuren wie Alex in A CLOCKWORK ORANGE,112 Hannibal Lecter in THE SILENCE OF THE LAMBS113 oder Patrick Bateman in AMERICAN PSYCHO,114 die zivilisierte, auf Äußerlichkeiten bedachte Gewalttäter darstellen, wohlsituiert und kühl, aber gnadenlos und brutal in ihren gewaltsamen Handlungen,115 ironisieren damit vorhandene Vorstellungen und beziehen sich auf denselben Kontrast von natürlich-roh und zivilisiert-feinsinnig.116 Ist der Gewalttäter im Film ein Monster, wie auch noch die emotionslosen, maskierten Killer im Slasherfilm in Kapitel 3.3.2.1, ist das Verhältnis von Gut und Böse, Leben und Tod, Kultur und Natur, klar verteilt. Als Zuschauer kann man den Grusel und die Anspannung genießen, eben weil der böse Täter und der von ihm verursachte Tod nichts mit einem gemein haben. So werden im Kino in ausreichender Distanz nur theoretisch grundlegende Ängste vor dem Tod angesprochen, die, so Anette Kaufman in Blut-Bilder, »[...] im Vertrauen auf die eigene körperliche Unversehrtheit lustvoll

110 Douglas, John/Olshaker, Mark: Die Seele des Mörders. 25 Jahre in der FBI-Spezialeinheit für Serienverbrechen, Hamburg: Spiegel Buchverlag 1996, S. 32/33. 111 Shelton, Catherine: Unheimliche Inskriptionen, S. 95. 112 A CLOCKWORK ORANGE (Großbritannien 1971, R: Stanley Kubrick). 113 THE SILENCE OF THE LAMBS (USA 1991, R: Jonathan Demme). 114 AMERICAN PSYCHO (USA 2000, R: Mary Harron) 115 Sie sind moderne Sade’sche Libertins, wie das Kapitel 3.2.1 zeigen wird. 116 Thomas Elsaesser beschreibt entsprechend Hannibal Lecter: »Seine Vorfahren sind weniger die physischen oder gewalttätigen Ungeheuer. Eher ist sein Typus aus der dekadenten Literatur (und dem Surrealismus) bekannt: der Dandy, Ästhet und Connaisseur, für den Mord eine Kunstform darstellt.« Elsaesser, Thomas: Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, Berlin: Bertz + Fischer GbR 2009, S. 140.

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durchlebt werden können [...]«117 Hierbei nähert man sich erneut dem Erhabenen Edmund Burkes an, da die Gefahr für das Publikum nicht echt ist und deshalb als Angstlust genossen werden kann. Das New Extremity Kino jedoch mit ›normalen Menschen‹ auf Täter-, wie Opferseite, bricht dieses klare Verhältnis auf, wie die Beispiele in Kapitel 3.3 zeigen werden und kommt dem ›echten‹ gewaltsamen Tod abseits des Unheimlichen und Übernatürlichen näher. Die Inszenierung von Tötungen auf der Seite des Films beeinflusst damit immer den Zuschauer – sowohl darin, wer wie dargestellt wird, als auch darin, ob die Qualen eines Opfers versteckt oder präsentiert werden, wie das Kapitel 3.3.3 zum Actionfilm noch ausarbeiten wird. Die Haltung des Publikums auf der anderen Seite wird nicht nur von starren Bildzeichen beeinflusst, sondern auch von performativen Akten, wie hier nun ausgeführt wird. Eine natürliche Wahrnehmung einer realistischen gewaltsamen Tötung und damit eine Annäherung an den Tod selbst, scheint damit zunächst unmöglich. In den darstellenden Künsten, so Erika Fischer-Lichte, entstehe Bedeutung gegenwärtig, in der sich ereignenden Handlung,118 statt, wie die Zeichen der Bildmedien, von vornherein fixiert auf etwas bereits in der Realität Existentes zu verweisen. Der Körper erzeugt eine Bedeutung in der Bewegung, die in einem fixierten Augenblick nicht zu erfassen wäre und trägt bestenfalls, so Theatertheorien ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, keine eigenen Bedeutungsebenen dazu bei, um die ›Aussage‹ nicht zu verfälschen.119 Er ist lediglich das Medium, das in einem performativen Akt Bedeutung erst hervorbringt. Der Film als Bildmedium, wie Malerei und Fotografie und zugleich darstellende Kunstform, wie Theater und Performancekunst, vereint beide Ebenen. Hält man ihn an (tötet man ihn), bleiben die Bildzeichen wie bei einer Fotografie als ein Ausschnitt eines größeren Ganzen erhalten. Sein volles Potential, das Lebendige und spezifisch Filmische, das uns gegenwärtig somatisch ergreift und das Töten und Sterben als Übergang erfahren lässt, geht aber verloren. Ebenfalls performativ, so Fischer-Lichte nach Judith Butler, werde die (Geschlechts-)Identität innerhalb einer Gesellschaft erzeugt,120 statt von vornherein gegeben oder biologisch festgelegt zu sein,121 was also auch den Zuschauer(körper) 117 Kaufmann, Anette: »Blut-Bilder. Serial Killer im amerikanischen Thriller«, in: Felix, Jürgen (Hg.), Unter die Haut. Signaturen des Selbst im Kino der Körper, St. Augustin: Gardez! Verlag 1998, S. 193-216, hier S. 199. 118 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 37. 119 »Die Bedeutungen, die der Dichter im Text zum Ausdruck gebracht hatte, sollten im Leib des Schauspielers einen neuen sinnlich wahrnehmbaren Zeichen-Körper finden, in dem alles ausgelöscht bzw. zum Verschwinden gebracht war, was nicht der Übermittlung dieser Bedeutungen diente, was sie affizieren, verfälschen, beschmutzen, kontaminieren oder in sonst einer Weise beeinträchtigen könnte«. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S.132/133. 120 Dazu auch Butler direkt: »Wenn ›der Leib eine Situation ist‹, wie Beauvoir sagt, so gibt es keinen Rückgriff auf den Körper, der nicht bereits durch kulturelle Bedeutungen interpretiert ist. Daher kann das Geschlecht keine vordiskursive, anatomische Gegebenheit sein.« Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2012 [Gender Trouble, 1990], S. 26. 121 »[...] der Körper in seiner je besonderen Materialität ist das Ergebnis einer Wiederholung bestimmter Gesten und Bewegungen; es sind diese Handlungen, die den Körper als einen

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betrifft. Das Habituskonzept des Soziologen Pierre Bourdieu befasst sich ebenso mit der Inkorporierung bestimmter Verhaltensweisen in der täglichen Praxis, hier abhängig von gesellschaftlichen Schichten. Der Habitus sei erworben, nicht angeboren und äußere sich etwa im persönlichen Geschmack, der Sprache oder der Art sich zu kleiden.122 Über den »vergeschlechtlichte[n] Habitus«123 bemerkt Bourdieu beispielsweise, man habe allgemein »in Form unbewusster Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die historischen Strukturen der männlichen Ordnung verinnerlicht. Wir laufen daher Gefahr, daß wir zur Erklärung der männlichen Herrschaft auf Denkweisen zurückgreifen, die selbst das Produkt dieser Herrschaft sind.«124 Wie schon für ideologische Gesichtspunkte beschrieben, wird hier abermals der Eindruck von Natürlichkeit erweckt und wirkt so als Rechtfertigung in sich. Der Körper wird damit gleichermaßen äußerlich bewertet, wie innerlich geprägt. Die Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer erläutert: »The body is actor and instrument. It is conceived of not as an assembly of organic material and processes alone, but as a knowing body, one that stores information from past experiences in habituated processes and contributes this knowledge to human activity and consciousness [...] The habitual use of the body’s muscular, autonomic, sensorimotor, hormonal, and other capacities does not leave them unaffected. the body is deeply shaped by the habitus, a term Bourdieu (by way of Marcel Mauss) adapted from Aristotelian and Scholastic traditions to denote a ›system of cognitive and motivating structures‹ that correspond to social positioning.«125

Auch Simone de Bouvoir sieht die Geschlechter größtenteils als gesellschaftliches Konstrukt an und bemerkt im Bezug auf frühe Helden- und Kriegermythen: »Nicht indem er Leben schenkt, sondern indem er es einsetzt, erhebt sich der Mensch über das Tier. Deshalb wird innerhalb der Menschheit der höchste Rang nicht dem Geschlecht

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individuell, geschlechtlich, ethnisch, kulturell markierten überhaupt erst hervorbringen. Identität – als körperliche und soziale Wirklichkeit – wird also stets durch performative Akte konstituiert.« Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 37. »Läßt sich der gesamte Lebensstil einer Klasse bereits aus dem Mobiliar und Kleidungsstil ablesen, dann nicht allein deshalb, weil in diesen Merkmalen sich die ihre Auswahl beherrschenden ökonomischen und kulturellen Zwänge objektivieren; vielmehr auch, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse, die in diesen vertrauten Dingen gegenständliche Gestalt gewinnen – in deren Luxus wie Ärmlichkeit, deren ›Ausgesuchtheit‹ wie ›Gewöhnlichkeit‹, ›Schönheit‹ wie ›Häßlichkeit‹ – sie vermittels zutiefst unbewußter körperlicher Empfindungen und Erfahrungen aufzwingen [...] die in Dingen und natürlich auch Personen objektivierten gesellschaftlichen Verhältnisse [werden] von einem jeden unmerklich inkorporiert [...] und [bilden] dessen dauerhafte Beziehung zur Welt und zu den anderen aus[...]« Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, S. 137/138. Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, S. 11. Ebd., S. 14. Scheer, Monique: »Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuan Approach to Understanding Emotion«, in: History and Theory, Vol. 51, Nr. 2 (2012), S. 193-220, hier S. 200/201.

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zuerkannt, das gebiert, sondern dem, das tötet.«126 Die Frau habe dagegen keinen eigenen Mythos, sondern definiere sich über den des Mannes.127 Die Art wie Frauen sich verhalten – oder auch Männer sich zu Frauen verhalten – ist demnach immer bereits zutiefst gesellschaftlich vorgeprägt und die Frau in einer Art Nicht-Ort beheimatet, immer dort wo das Männliche nicht ist, in stetiger Abgrenzung zu diesem.128 Besonders bemerkenswert beim (vergeschlechtlichten) Habitus ist die Inkorporierung, die Unmöglichkeit ihn vollständig ›aus dem eigenen Körper zu bekommen‹, die Art wie er in der alltäglichen Praxis das Gehen, Sprechen, Denken oder Empfinden zu jedem Zeitpunkt beeinflusst, so auch die Rezeption filmischer Tötungen. Phänomenologie und Soziologie gehen damit, obwohl Bourdieu sich von Ersterer abgrenzte,129 eine gewinnbringende Verbindung ein, so der Philosoph Guido Rappe. Das Habituskonzept erlaube: »[...] obwohl Bourdieu kein Leibphänomenologe war, wesentliche Erkenntnisse der Soziologie sinnvoll in die Leibphänomenologie zu integrieren [...] Außerdem ergibt sich die Chance, die stark erkenntnistheoretische Ausrichtung der Philosophie um Aspekte der Psychologie und Soziologie so zu erweitern, dass die leiblichen Dispositionsgeflechte nicht nur von ihrer Rolle bei der Wahrnehmung und Erkenntnisgewinnung her, sondern auch von ihren den ›Gefühlshaushalt‹ des Menschen prägenden und sein soziales Verhalten wesentlich bestimmenden Aspekten in den Blick genommen werden können.«130

Monique Scheer fasst Emotionen in diesem Sinne als Praxis auf und führt aus, diese seien erlernt und kulturspezifisch: »Depending on where and when we live, we learn to keep our thoughts and feelings to ourselves (or not), to listen to our hearts (or our heads), to be ›true to ourselves‹ and to know what we want [...] The history of the self in the West has shown that the concepts on which such practices are based – interiority, self-reflexivity, distinct faculties of feeling and thinking – have been intensely cultivated at certain times in specific social and cultural constellations. And since attending to ›inner‹ experience is a practice, it is also always embodied, dependent on brain cells, bodily postures, and the disciplining or habituating of these [...]131 126 Vgl. Beauvoir, Simone de: »Das andere Geschlecht«, in: Doyé, Sabine/Heinz, Marion/Kuster, Friederike (Hg.), Philosophische Geschlechtertheorien. Ausgewählte Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart: Philipp Reclam junior 2002, S. 422-447, hier S. 432. 127 Vgl. Beauvoir, Simone de: »Das andere Geschlecht«, S. 438. 128 Vgl. dazu auch Irigary, Luce: »Die sexuelle Differenz«, in: Doyé, Sabine/Heinz, Marion/Kuster, Friederike (Hg.), Philosophische Geschlechtertheorien. Ausgewählte Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart: Philipp Reclam junior 2002, S. 462/463. 129 Als Subjektivismus verallgemeinere die Phänomenologie stets nur Einzelerfahrungen, der Strukturalismus bei Saussure oder Levi-Strauss als Objektivismus abstrahiere und theoretisiere dagegen zu sehr. Vgl. Unterthurner, Gerhard: »Symbolische Gewalt nach Bourdieu – phänomenologische Bemerkungen«, in: Staudigl, Michael. (Hg.), Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014, S. 175203, hier S. 177. 130 Rappe, Guido: Interkulturelle Ethik, S. 490. 131 Scheer, Monique: »Are Emotions a Kind of Practice?«, S. 200.

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Dies beeinflusse entsprechend auch unser Mitgefühl mit anderen, während wir ihren Schmerz in ihrem Gesicht ablesen, da wir unbewusst einrechnen würden, wer der andere ist, welchen Rang er innehat, wie ähnlich er uns ist und ob wir ihn als Täter oder Opfer auffassen.132 Barbara Creed hat bezogen auf die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlechtern und als Gegenentwurf zum Stereotyp der Frau als Opfer, die monströse Frau für den Horrorfilm analysiert: »The reason why the monstruos-feminine horrifies her audience are quite different from the reasons why the male monster horrifies his audience [...] As with all other stereotypes of the feminine, from virgin to whore, she is defined in terms of her sexuality.«133 Gerade die mit Frauen assoziierte Körperlichkeit rund um Geburt und Menstruation gefährde, so Creed Julia Kristeva folgend, die (männliche) symbolische Ordnung,134 wie das Kapitel 3.3.4.2 näher untersuchen wird. Die Frau als Opfer erfüllt dagegen erkennbar das Klischee äußerster Verwundbarkeit und verbindet, psychoanalytisch-poststrukturalistisch geprägte Theorien aufgreifend, den semiotischen und den erfahrbaren Körper, wie das Kapitel 3.3.2 diskutieren wird. Auch wenn wir den Habitus nicht restlos aus dem Körper bekommen können, lässt sich untersuchen, inwiefern eine Auseinandersetzung mit der intensiven körperlichen Erfahrung ausgeprägter filmischer Gewalt als Todesnähe den gesellschaftlichen Habitus bewusst machen könnte, wie in Kapitel 3.3.4 diskutiert wird. All die Unterschiede zwischen Körpern und ihrer Prägung durch Äußerlichkeiten, verschiedene Kulturkreise etc. lassen beinahe in den Hintergrund rücken, dass unsere Körperempfindungen sich sehr ähneln, dass unsere rein biologischen Körper – etwa angesichts von Kälte, Freude, Angst oder Schmerz – ähnlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Somatische Empathie im Beiwohnen filmischer Tötungsakte könnte damit die oberflächliche Bewertung von Körpern für die Dauer einer Filmszene überwinden und innerhalb der Fiktion als intuitive Sinnstiftung etwas Echtes ergeben – eine annähernde Todeserfahrung, indem ein anderer für uns stirbt. Wie kann man nun diese semiotischen Ebenen ›durchbrechen‹, um dem gewaltsamen Tod im ›echten‹ Leid von Filmfiguren näher zu kommen? Claudia Benthien hat mit ihrer Abhandlung zur menschlichen Haut einen wichtigen Beitrag hierzu geleistet. Zunächst hält sie entsprechend obiger Ausführungen fest: »[D]ie Haut – jener Ort‚ wo das ›ich‹ sich entscheidet [...] – wird spätestens im 20. Jahrhundert zur zentralen Metapher des Getrenntseins. Nur an dieser Grenze können sich Subjekte begegnen.«135 Zugleich, so stellen ihre weiteren Ausführungen her-aus, ist die Haut aber ein zentrales Sinnesorgan, »[...] die Ebene der Selbst- und Fremdwahrnehmung des Körpers im Modus der Berührung, des Berührtwerdens und des eigenleiblichen Spürens [...]«136 Damit besteht ein Kippverhältnis, wie es die Phänomenologie in der Unterscheidung von Körper, den andere sehen und Leib, der selbst empfindet, ausgemacht hat. Guido Rappe: »Wir ›sind‹ unser Leib auf andere Art als wir unseren Körper ›haben‹, diesen ›haben‹ wir nur, indem wir ihn uns zuschreiben. Leibsein setzt Subjektivität voraus. In diesem Sinn sprach Merleau-Ponty [...] dann 132 133 134 135 136

Ebd., S. 211. Creed, Barbara: The Monstruos-Feminine, S. 3. Vgl. ebd., S. 13f. Benthien, Claudia: Haut, S. 7. Ebd., S. 222.

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vom ›Leib als Subjekt der Wahrnehmung‹ und betonte damit die Sicht des Leibes als eines Mediums zwischen Ich (bzw. Selbst) und Welt.«137 Geht man noch einen Schritt weiter und betrachtet die Kinoleinwand als Hautoberfläche oder durchlässige Membran, durch die wiederum Eindrücke auf den Zuschauerkörper, mit all seinen Sinnen, einwirken können und koppelt man dies nun noch mit filmischen Tötungen auf der inhaltlichen, wie auch medial vermittelten Ebene, so ergeben sich Potentiale, die einem Distanzverlust jenseits der (Haut-) Oberfläche gleichkommen. Es entsteht eine mögliche ›Kommunikation zwischen Körpern‹, die auf deren gemeinsamen Sinnlichkeit beruht, dem Leibsein von Körpern, nicht einem äußeren Blick auf sie. Dies steht nicht nur kognitiven Sinnstiftungen voran, sondern kann sie – insbesondere im Angesicht filmischer Tötungen mit extremer Gewalt – zeitweise sogar aushebeln und dabei auch einem Ich-Verlust psychoanalytisch-poststrukturalistisch ausgerichteter Theorien nahkommen, wie die Kapitel 3.2.1 und 3.2.2 ausführen werden. Eine erfahrbare Intersubjektivität138 durch das Durchdringen von Körpergrenzen, so prognostizieren Thomas Elsaesser und Malte Hagener für die weitere Entstehung von Filmen und Theorien, die ihren Fokus vom Blick zum Körperkontakt wenden, sei deshalb aber nicht zwangsläufig gegeben: »Setzt man [...] Haut/Berührung an die Stelle von Auge/Blick, so könnte die Grundeinstellung (oder der Nullpunkt) dieses Paradigmas der gewalttätige Zusammenstoß und die Kollision, die mörderische Überidentifikation und das Einverleiben, wenn nicht sogar die ethnischen Missverständnisse und Interessenkonflikte sein, aber gerade nicht die Möglichkeit einer Verständigung über den Körper als Sinnträger.«139 Obgleich die hier verwendeten Filmbeispiele einen solchen ›gewalttätigen Zusammenstoß‹ mit dem Filmgeschehen bestätigen und der Zuschauer von den blutigen Folterungen und Tötungen überwältigt wird, ist eine Sinnstiftung nicht ausgeschlossen. Gerade verborgene gesellschaftliche Missstände bzw. Erkenntnisse diesbezüglich können durch die intensive Erfahrung des Körpers, der im Alltag häufig in den Hintergrund rückt, während der Rezeption hervortreten. Im Sinne Adornos muss der Film als Kunstwerk das Hässliche denunzieren und als leibliche Erschütterung für das Publikum erfahrbar machen.140 Trotz einer Ästhetisierung von Gewalt, so der Kritiker John

137 Rappe, Guido: Interkulturelle Ethik, S. 407. 138 Nach Edmund Husserl bestehen zwischen verschiedenen Menschen und deren Wahrnehmungen »[...] prinzipiell betrachtet, Wesensmöglichkeiten der Herstellung eines Einverständnisses, also auch Möglichkeiten dafür, daß die faktisch gesonderten Erfahrungswelten sich durch Zusammenhänge aktueller Erfahrung zusammenschlössen zu einer einzigen intersubjektiven Welt.« Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, S. 90. Bei Merleau-Ponty wird die Intersubjektivität zu einer Interkorporalität bei der man leiblich wahrnimmt und im Austausch mit anderen (ähnlich) empfindungsfähigen Menschen steht. Dies schließt nun auch Perspektiven ein, da man derart verkörpert immer von einem bestimmten Standpunkt aus wahrnimmt. Vgl. Williams, Simon J./Bendelow, Gillian: The Lived Body, S. 53. 139 Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, S. 146. 140 Vgl. Kapitel 3.1.1

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Fraser, könne gerade die Kunst Tabus brechen und den Rezipienten schockieren. Dieser fühle sich durch die dargestellte Gewalt verletzt141 und befinde sich in der ungewöhnlichen Position zu einem bestimmten Grad zugleich Opfer, schockierter Zeuge und Täter zu sein, was die Realität schlicht nicht bieten könne.142 Wenn eine somatische Anteilnahme gelingt, wird der Körper auf der Leinwand nicht mehr in dem Maße als vom eigenen Körper abgetrennte Entität, sondern als Teil eines gemeinsamen Erfahrungsraums erlebt, relativ losgelöst davon, wie dieser Körper aussieht oder sich verhält.143 Sein Leiden wird durch den eigenen Körper (bedingt) nachempfunden und der Film ist somit mehr als nur ein Repräsentationssystem. Dies wird sich insbesondere für die Filmbeispiele aus dem New Extremity Kino zeigen. Tanya Horeck und Tina Kendall erkennen entsprechend für den New Extremism in Cinema: »The question of how cinema works on the level of sensation and body attempts to complicate a purely representational understanding of it as a semiotic meaning-making machine [...] the films of the new extremism help us rethink cinema as that which is played out on our bodies, and which constructs an appeal to affect, emotion and, indeed, the intellect.«144 Wie ist das möglich? Obgleich sich das Potential für echte Körperempfindungen angesichts des fiktionalen Films nicht in Darbietungen zu Körperverletzungen und Tötungen erschöpft, ist dieser Themenbereich für eine Analyse besonders ergiebig. Erika Fischer-Lichte beschreibt dementsprechend zum performativen Akt der Selbstverletzung Marina Abramovićs Lips of Thomas: »[Ihre Handlungen] konstituierten sowohl für die Künstlerin als auch für die Zuschauer, d.h. für alle an der Performance Beteiligten, eine neue, eine eigene Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit wurde von den Zuschauern nun nicht nur gedeutet, sondern zuallererst in ihren Auswirkungen erfahren. Sie bewirkte bei den Zuschauern Staunen, Erschrecken, Entsetzen, Abscheu, Übelkeit, Schwindel, Faszination, Neugier, Mitgefühl, Qual und brachte sie dazu, ihrerseits wirklichkeitskonstituierende Handlungen zu vollziehen. Es ist anzunehmen, daß die Affekte, die ausgelöst wurden und offensichtlich so stark waren, daß sie einzelne Zuschauer zuletzt zum Eingreifen bewegten, bei weitem die Möglichkeiten und Anstrengungen zur Reflexion, zur Konstitution von Bedeutung, zur Interpretation des Geschehens überstiegen. Es ging nicht darum, die Performance zu verstehen, sondern sie zu erfahren und mit den eigenen Erfahrungen, die sich nicht vor Ort durch Reflexion bewältigen ließen, umzugehen.«145

Bis auf die Möglichkeit zum Eingriff in den Ablauf, der dem Kinopublikum verwehrt bleibt, ist das Erleben dieses Performanceaktes mit dem eines extremen filmischen Gewaltaktes vergleichbar. Das gegenwärtige körperliche Erleben vollzieht sich hier 141 Vgl. Fraser, John: Violence in the Arts, Cambridge: Cambridge University Press 1974, S. 48. 142 Vgl. Ebd., S. 86. Die Multiperspektivität des Films auf den Tod wird in Kapitel 3.1.5 diskutiert, die Positionierung des Zuschauers wird in Kapitel 3.2.1 wieder aufgegriffen. 143 Das Kapitel 3.3.2.1 wird dementgegen diskutieren, wie der Körper weiblicher Opfer durch Mehrinformation einen stärkeren somatischen Zugang bieten kann. 144 Horeck, Tanya/Kendall, Tina: »Introduction«, in: Dies., The New Extremism in Cinema. From France to Europe, Edinburgh: Edinburgh University Press 2011, S. 1-17, hier S. 8. 145 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 18/19.

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unmittelbarer als weiterführende Bedeutungsebenen, kognitive Reflexionen oder auch unbewusste Vorgänge psychoanalytischer Ansätze. Das Verstehen der Handlungen der Künstlerin oder, analog dazu, das Verfolgen einer stringenten Filmnarration, wird dann weniger relevant als dieses direkte ›körperliche Verstehen‹. Das durch die Adressierung der Selbstverletzung ›sensibilisierte Fleisch‹ des Zuschauers, das direkt durch somatische Empathie reagiert, kann auch zu einer Oberfläche der Sinnstiftung werden, indem er intuitiv spürt, dass in dieser Selbstverletzung eine Todesnähe liegt. Bei Marina Abramovičs Performance ist die Situation heikler als im Film, da nicht nur körperliche Wirklichkeit suggeriert wird: es handelt sich um ein Kunstereignis und doch ist das Geschehen echt. Als Publikum bleibt man für gewöhnlich passiv, so aufgewühlt man auch innerlich sein mag, doch wenn man hier diesen ungeschriebenen Vertrag nicht bricht – das dürfte man spüren ehe man es kognitiv begreift – könnte die Künstlerin wirklich sterben. Ähnlich intuitiv lässt sich auch das Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch erfassen.146 Die distanzlose Nähe zu den Performances, die bei Nitsch gezielt den ganzen Körper, alle Sinne des Publikums, anspricht, ist im Kino, mit der abtrennenden Leinwand, zunächst nicht möglich.147 Durch eine Art Hyperrealismus, der die uns umgebende Wirklichkeit in seiner visuellen und auditiven Fülle übersteigt, kann die Leinwand jedoch ›brüchig‹ werden. Gerade Zugänge zur filmischen Wirklichkeit, die nicht unserer Alltagswahrnehmung entsprechen – etwa Großaufnahmen, schnelle Schnitte, der gezielte Einsatz von Soundeffekten etc. – können dabei beim Publikum zu einer echten Erfahrung führen. Dieses Kapitel hat gezeigt, dass verschiedene Bedeutungsebenen von Körpern etwa bezüglich Hautfarbe oder Geschlecht uns im Alltag, wie auch in der Filmwahrnehmung, beeinflussen und selbst unsere Gefühlswelt manipulieren. Im Sinne Merleau-Pontys lived body behindern zeitliche und kulturelle Kontexte damit reine Erfahrungen – somit auch eine unverstellte Nähe zum Tod im Film. Der empfindsame, ›innere‹ Leib, statt sichtbare, ›äußere‹ Körper kann Körpergrenzen aber bedingt unterlaufen, insbesondere in Grenzbereichen wie dem Schmerz körperlicher Verwundungen und Tod. Schmerz, Leid oder auch Angst sind universelle Zustände, die sich über Alter, Geschlecht und Kulturkreis hinweg erschließen. Intuitive somatische Empathie ermöglicht damit einen basalen Zugang zum Leiden und Sterben im Film, auf den sich ästhetische Erfahrungen gründen können. Die Überwindung der bloßen Kopie von Wirklichkeit durch distanzloses Erfahren, statt distanziertem Betrachten von Leinwandkörpern, ermöglicht einen neuen, somatisch fundierten, Zugang, der in besonderer Weise – aber nicht ausschließlich – im Angesicht filmischer Tötungen eröffnet wird und so einen neuen, direkteren Zugang zum Phänomen Tod bietet. Das Überschreiten der Zeichenhaftigkeit, der in Kapitel 2 diskutierten (Re-)Präsentation durch Abbildung, wird im folgenden Kapitel eingehender untersucht.

146 Vgl. Schröder, Gerald: »Inszenierter Vatermord. Das Orgien Mysterien Theater von Hermann Nitsch«, in: Pawlak, Anna/Schankweiler, Kerstin (Hg.), Ästhetik der Gewalt Gewalt der Ästhetik, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2013, S. 75-90, S. 77. 147 Dennoch ist der Film ein Medium, das, eingeführt über Auge und Ohr, weitere Sinne mit anspricht, vgl. Kapitel 3.1.5

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3.1.4 Fleischliche Zeichen und christliche compassio Kann man den Tod, wenn schon nicht als ewigen Zustand, dann immerhin als Übergang, am Körper eines anderen (bedingt) nachvollziehen und könnte der Film als Medium der Nuancen und Übergänge eben hierfür geschaffen sein – bis eben zu dem Punkt an dem die lebendige Bewegung endet, sei es die des Lebens, der Filmrolle oder auch der Figuren selbst? Die bloße Abbildung eines Tötungsakts in der Malerei, Fotografie oder im Film, muss erst vom Rezipienten in etwas gegenwärtig Reales übersetzt werden, damit er sich einer Todeserfahrung annähern kann, die nicht nur ein distanziertes Betrachten einer medial festgehaltenen Tötungsszene bleibt. Dieses Kapitel behandelt deshalb beispielhaft anhand des Motivs der Passion Christi eine durch ästhetische Mittel hervorgerufene erwünschte körperliche Rezeption, die der somatischen Kinoerfahrung ähnlich ist und setzt Malerei und Film entsprechend erneut miteinander in Beziehung, diesmal mit einem stärkeren Fokus auf die Filmerfahrung durch den Zuschauer. Durch dessen körperliche Beteiligung wird der zweidimensionale Leinwandkörper als dreidimensionaler Menschenkörper verstanden und die Fiktion der Künste ›geglaubt‹.148 Stärker als in der gegenständlichen Malerei rücken im bewegten, audiovisuellen Film weitere, von der Repräsentation gelöste, Wahrnehmungsmodi in den Vordergrund. Christiane Voss führt aus: »So kann das Auge auch auf taktile Weise die farblichen und haptischen Oberflächen der beweglichen Filmbilder abtasten oder die Reaktion der Gänsehautbildung einen schrillen Ton in sich als eine haptische Signatur aufnehmen. Die Langsamkeit, mit der eine Einstellung gefilmt ist, kann als Gefühl von Schwere und Melancholie übersetzt werden, ein hohes Schnitttempo kann als taumelndes Staccato aufgenommen werden und dabei die Orientierung innerhalb eines narrativen Geschehens irritieren usw.«149

Wir sind damit ebenso an Bewegung, Farben, Sounds oder der Geschwindigkeit der Abläufe im Film sinnlich beteiligt und diese lösen teils Empfindungen oder Stimmungen aus, ehe man sie kognitiv bewerten kann.150 Diese Unmittelbarkeit ermöglicht, wie in den vorangegangenen Kapiteln bereits angesprochen, eine Akzentverschiebung von der reinen Symbolisierung (des Todes) und Realitätskopie (des Lebens) in Kapitel 2 zu einer Realitätserfahrung (der Vorstufen des Todes) hier in Kapitel 3. Um direkt auf den bisherigen Überlegungen aufbauen zu können und den Figurenwie auch Zuschauerkörper für die Erfahrung filmischer Tötungen in den Fokus zu nehmen, bleiben Bildzeichen aber nach wie vor relevant. Die bildlichen Zeichensysteme dienen nun als Ausgangspunkt für eine sinnliche Auseinandersetzung mit Kunst und Film, die nicht mehr auf diese Zeichenhaftigkeit angewiesen zu sein scheint, da man auf vermeintlich echte Körper reagiert. Darstellungen Jesu Christi, insbesondere der

148 Das Kapitel 3.1.5 zu Christiane Voss’ Leihkörperkonzept wird dies noch weiter ausführen. 149 Voss, Christiane: »Der affektive Motor des Ästhetischen«, in: Deines, Stefan/Liptow, Jasper/Seel, Martin (Hg.), Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin: Suhrkamp Verlag 2013, S. 195-217, hier S. 215. 150 Vgl. Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S. 128.

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Stationen seiner Passion, sind fester Bestandteil der westlichen Kultur. Jesus Christus kann, ganz gleich ob man sich der christlichen Religion zugehörig fühlt oder nicht, schon rein kunsthistorisch als ein Prototyp des leidenden Opfers aufgefasst werden.151 Bilder der Passion können dabei jedoch nie als bloße Illustrationen oder ästhetisch schöne Kunstgegenstände aufgefasst werden, handelt es sich doch um das entscheidende Opfer, die Marter, auf die sich die gesamte christliche Religion gründet. Mit diesem Opfer soll die Menschheit von all ihren Sünden reingewaschen worden sein. Wie sollte man einem Betrachter die Größe einer solchen Tat vermitteln? Zunächst mussten die Qualen Christi sich an seinem gemarterten Körper und leidenden Gesicht – wie beim Cachorro-Christus – zweifellos ablesen lassen, um diese nachfühlen zu können: »Durch das Nachleben der Passion [, die imitatio christi]«, so Winfried Nerdinger, will man sich das Seelenheil verdienen [...] Das neue Verhältnis zwischen Christus und den Menschen bezeichnet man als ›compassio‹, als MitLeiden.«152 Die beabsichtigte compassio ist demnach auf drastische Illustrationen angewiesen. Es handelte sich um eine Art »Empfindungstraining«,153 so der Historiker Valentin Groebner, eine Anleitung, wie man religiöse Erkenntnis erlangen konnte. Man könne heute nicht sicher sein, wie die zeitgenössischen Betrachter empfanden, es lasse sich lediglich sagen, wie sie empfinden sollten. Dies ist auch für die somatische Anteilnahme am Film bzw. weiterführende ästhetische Erfahrungen relevant, da sich nicht immer pauschal gültige Aussagen zur Wirkung auf den Zuschauer treffen lassen, wohl aber diskutiert werden kann, was der Film diesem anbietet. Die häufig blutigen Darstellungen der Leiden Christi sollten für den damaligen Betrachter eine Unmittelbarkeit und Echtheit eröffnen, »[d]as ›richtige‹ Bild des Gekreuzigten sollte es [...] ermöglichen, durch hyperrealistisch dargestellte Wundmale und das besonders hervorgehobene Blut in frommer Empathie die Schmerzen des Erlösers nachzuempfinden. Vom 13. Jahrhundert an spielte das Blut Christi in den mystischen Visionsberichten eine zunehmend große Rolle. Im Lauf des 14. und 15. Jahrhunderts hoben auch die Bilder des Gekreuzigten sein Blut immer stärker hervor [...]«,154 so Groebner. Die Bilder sollten demnach so eindringlich wirken, dass man statt einer rein kognitiven Auseinandersetzung auch eine somatische Erfahrung des Betrachters annehmen kann. Neben dem Blut Christi als Zeichen der Wahrhaftigkeit seines Leidens spielten hierfür auch seine offenen Wunden eine zentrale Rolle, denn »[...]als fleischlich-materielle Zeichen verweisen Wunden auf die unmittelbare Präsenz des Schmerzes«,155 so die Literaturwissenschaftlerin Anne-Rose Meyer. Die imaginäre Auseinandersetzung mit dem Leiden Christi überbrücke damit zeitliche Distanzen und das eigene Leid

151 Wollte man weitere klassische Opfermotive anführen, böten sich auch Darstellungen der griechischen Mythologie, etwa die Häutung des Marsyas, an. 152 Nerdinger, Winfried: Perspektiven der Kunst, S. 61. 153 Groebner, Valentin: Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter, München/Wien: Carl Hanser Verlag 2003, S. 101. 154 Ebd., S. 98 155 Meyer, Anne-Rose: Homo Dolorosus. Körper – Schmerz – Ästhetik, München: Wilhelm Fink Verlag 2011, S. 200.

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werde relativiert.156 Man steht mit seinem eigenen verletzlichen Körper diesem gemarterten, von Wundmalen übersäten Körper gegenüber. Eine realistische Darstellungsweise ist dabei für das, was die Bilder bewirken sollten, nicht ausreichend. Der Historiker Thomas Lentes dazu: »[D]ie spätmittelalterlichen Passionsbetrachtungen [folgen] keineswegs einem historischen Konzept in dem Sinne, dass sie das Leiden Christi so darstellen wollten, wie es tatsächlich stattgefunden hat. Noch der Blutrealismus wie der immer wieder beschriebene Verismus der Gewaltdarstellungen folgten vielmehr einer Körperlogik, die für die gesamte spätmittelalterliche Frömmigkeit kennzeichnend war. Nur der geöffnete Körper schuf eben Heil. Am Körper, zumal am verum corpus Christi entschied sich die letztgültige Zusage Gottes an die Menschen und durch seine Öffnung sollte die göttliche Gnade als reinigender Blutstrom die Menschen von ihren Sünden reinwaschen [...] Der Blutrealismus spätmittelalterlicher Frömmigkeit folgte einer zutiefst symbolischen Logik und lässt sich nicht einfach aus heutiger Sicht als Masochismus abtun.«157

Die tiefe christliche Symbolik soll das Sichtbare noch übersteigen, körperliche Grenzen auf eine überwältigende religiöse Erfahrung hin überschreiten. Die Größe des Opfers liegt im menschlichen Körper Christi, der derselben Schmerzintensität ausgesetzt ist, wie der des Betrachters, doch zugleich ein Gott ist, der sich für die Menschen opfert. Damit sei die Botschaft des übermenschlichen Leids der Passion positiv, eine ›gute Gewalt‹ – ist doch nur so die Befreiung der Menschheit von der Erbsünde möglich, so die Kunsthistorikerin Daria Dittmeyer.158 Gleichzeitig sollten im Betrachter aber auch Schuldgefühle geschürt werden, so Wolfgang Sofsky: »[A]n den Qualen des gekreuzigten Gottes erfährt der Gläubige das Ausmaß seiner Sündhaftigkeit. Es sind die Untaten der menschlichen Spezies, welche die heilige Marter verschuldet haben. So unermesslich ist der Frevel der Gattung, daß er allein durch Gottes Tod zu sühnen ist [...] Nicht moralische Gebote stehen am Anfang der christlichen Religion, sondern Schuldangst.«159

156 Vgl. ebd., S. 203f. Diese raumzeitliche Überlappung wird auch für das Konzept des Leihkörpers im folgenden Kapitel relevant. 157 Lentes, Thomas: »Blut – Echtheit – Imagination oder Von der Wahrheit des Erzählens«, in: Zwick, Reinhold/Lentes, Thomas (Hg.), Die Passion Christi. Der Film von Mel Gibson und seine theologischen und kunstgeschichtlichen Kontexte, Münster: Aschendorff Verlag 2004, S. 44-59, hier S. 51. 158 Vgl. Dittmeyer, Daria: »Gloria Passionis – Die Tortur der Märtyrer in der nordalpinen Tafelmalerei des späten Mittelalters«, in: Pawlak, Anna/Schankweiler, Kerstin (Hg.), Ästhetik der Gewalt - Gewalt der Ästhetik, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2013, S. 41-55, hier S. 42. 159 Sofsky, Wolfgang: Todesarten, S. 94.

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Matthias Grünewalds Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes160 (Abbildung 10), um 1523/24 entstanden, zeigt den toten Christus am Kreuz, in Anwesenheit Marias und des Jüngers Johannes. Abbildung 10: Matthias Grünewald: Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes (1523/24)

Quelle: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe

Die mit Nägeln durchstoßenen Hände sind gen Himmel gerichtet, der Körper eingesunken, die Haut wund: »Überlebensgroß erhebt sich der gemarterte Gott. Das Ereignis des Heils ist dicht an die Bildrampe gesetzt, aus unmittelbarer Nähe überfällt es den Betrachter. Die kleineren Seitenfiguren, Maria und Johannes, gehören einer anderen Welt an als der Gott am Kreuz. Seine Erscheinung erfüllt den ganzen Bildraum«,161 so Sofsky. Die unmittelbare Nähe, fast als wäre man dabei gewesen, soll eine compassio erleichtern. Jesu Christis Wundmale und sein Blut zeugen von der Wahrhaftigkeit seiner Qualen, der Körper ist entkleidet und zur Schau gestellt. Um ihm seine Würde nicht gänzlich zu nehmen, hätten viele Maler einen Kompromiss gefunden, so Sofsky, und seine Blöße mit einem Lendentuch bedeckt, den Körper jungenhaft, das Gesicht friedlich dargestellt. Details wie die blutende Seitenwunde hätten genügt, um im Betrachter, auch noch im idealisierten Passionsbild, die vorangegangenen Martern imaginär hervorzurufen.162 Ganz anders Grünewald, dessen Christus merklich von der Tortur gezeichnet ist, so dass kein Trost bleibt. Und gerade hierin ist seine Wirkung, ähnlich der Erschütterung bei Adorno, zu finden:

160 Grünewald, Matthias: Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes (1523/24), Nadelholz, Mischtechnik, 195,5 x 142,5 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inventarnummer 994. 161 Sofsky, Wolfgang: Todesarten, S. 93. 162 Vgl. ebd., S. 97ff.

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»Seine ästhetische Wirkung rückt das Altarbild in die Nähe eines heiligen Objektes. Die entgleiste, dissonante Farbigkeit, die Verformungen und Verletzungen des gemarterten Körpers, die dramatischen Gebärden [...] diese Ästhetik der hässlichen Unmittelbarkeit ruft Empfindungen hervor, die der Erfahrung des Heiligen gleichen. Der Schrecken der tödlichen Pein verschmilzt mit der Erhabenheit des gekreuzigten Gottes. Der krasse Ausdruck des toten Christus stößt ab und fesselt zugleich [...] Würde im Leichnam Christi noch der unsterbliche Geist durchscheinen, so wäre der tote Gott nur ein Trugbild. Nur weil er tatsächlich zu Tode gemartert wurde, birgt der gekreuzigte Gott jenes geheimnisvolle Wunder in sich, das den gläubigen Christen mit heiliger Ehrfurcht erfüllt: das Wunder der Auferstehung.«163

Die positive Seite, die Heilsgeschichte, müsse dabei dazu gedacht und geglaubt werden. »Für den Gläubigen«, so Anne-Rose Meyer, »hat Schmerz deswegen eine deiktische Funktion. Dieser ist niemals nur körperliches Erlebnis, sondern immer auch transzendent, immer auf die Heilsgeschichte, auf deren glückliches, aber in den meisten bildlichen Darstellungen nicht explizit thematisiertes Ende bezogen.«164 Ähnlich wie Sofsky und Meyer argumentiert auch Karl Rosenkranz und erteilt damit dem Hässlichen im Sinne einer besonders drastischen Darstellung eine Berechtigung: »Der Leichnam Christi muß [...] bei aller Wahrheit des Todes doch noch den unsterblichen Geist, der ihn beseelte und ihn wieder beseelen wird, durchschimmern lassen. Diese geschlossenen Augen werden sich wieder öffnen, diese bleichen, schlaffen Lippen werden sich wieder regen, diese starren Hände werden wieder segnen und das Brot des Lebens brechen. Diese Möglichkeit muß nun vom Bildhauer oder Maler nicht als ein im Leichnam zurückgehaltenes Leben dargestellt werden, denn das wäre nur ein Scheintod, sondern sie muß als das Wunder erscheinen, das in diesem Leichnam einzig existiert [...] Der Glaube freilich hat mit diesen ästhetischen Postulaten unmittelbar nichts zu schaffen, und auf seinen niedrigeren Bildungsstufen kann ihm sogar ein recht krasser Ausdruck des Todes Christi sehr angemessen sein; ein recht entfleischter, wundenzerrissener, schmerzzertrümmerter Leichnam wird für die Masse eben durch seine Grässlichkeit und durch den Widerspruch, in solcher Gestalt doch den Welterlöser gegenwärtig zu schauen, viel ergreifender sein.«165

Auch die Malerei und Bildhauerei im goldenen Zeitalter Spaniens, dem Siglo de Oro (ca. 1550-1660), beabsichtigte durch eine dramatische Inszenierung der Passion Christi und weiterer Märtyrer, die zugleich realistisch und übermäßig in ihrer Darstellung des Leids war, compassio in den Betrachtern zu erzeugen. Die lebensnahen Skulpturen von Gregorio Fernandéz (1576-1636), so Ilenia Colón Mendoza in The Cristos yacentes of Gregorio Fernández, stellen mit dem Cristo yacente, dem liegenden Christus, der vom Kreuz abgenommen wurde, nicht nur den toten Christus dar. Sie

163 Ebd., S., 105. 164 Meyer, Anne-Rose: Homo Dolorosus, S. 213. 165 Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen, S. 236.

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schildern detailliert am geschundenen Körper den gesamten vorangegangenen Leidensweg und lassen den Betrachter – etwa im Zuge der Prozessionen der Semana Santa, der heiligen Woche – in Kontakt mit dem toten Körper Christi treten:166 »In Fernández’s version, like many subsequent ones, the mouth is shown half-open, as are the eyes, through which the dead figure of Christ subtly engages the viewer. Painstaking details are rendered in the musculature, hair, teeth, and skin. Sculptures of this type were often carved from a single block of pine segmented into pieces, which was then prepared with gesso and painted. The image of the Cristo yacente is meant to communicate with the viewer and to encourage religious fervor; its pathos appeals to basic human compassion and explains the image’s popularity in seventeenth-century Spanish society.«167

Obgleich natürlich eine Skulptur aus Holz – wie für alle Betrachter damals wie heute klar war – kommt der Cristo yacente einem echten geschundenen Toten so nah und ist so ›aufgeladen‹ mit dem immer wieder rituell wiederholten Wissen um seine Marter, dass zeitweilig die Illusion von Echtheit entstehen kann, als habe man wirklich den Toten vor sich, seine verwundete Haut, sein Blut, nicht bemaltes Holz in lebensechten Farben. In derselben Weise, wie eine Skulptur immer ein kunstvoll bearbeitetes Stück Holz bleibt und doch auf einnehmende Weise Echtheit suggerieren kann, kann man auch in der Filmrezeption einer Illusion von Echtheit anheimfallen, die sozusagen den eigenen Körper gegen einen ausspielt, indem dieser unmittelbar auf das vermeintlich Echte reagiert. In diese Tradition der bildenden Kunst, so Thomas Lentes, wolle sich auch Mel Gibsons umstrittener Film THE PASSION OF THE CHRIST einordnen, was das Übermaß an Filmblut zumindest teilweise rechtfertigen würde. Mel Gibson habe sich bei THE PASSION OF THE CHRIST bewusst an den Vorbildern der Malerei orientiert, so der Kunsthistoriker Andreas Gormans.168 Hierbei muss er nicht mehr ein einzelnes Bild oder eine Skulptur des gekreuzigten Christus mit allen Stufen seines vorangegangenen Martyriums ›aufladen‹, wie die Malerei und Bildhauerei. Er kann dieses Martyrium selbst in seinem grausamen Ablauf für den Zuschauer erfahrbar machen, nicht nur Wunden, sondern aktive Verwundungen zeigen. Gibsons Film schildert detailliert, wie Christus sein eigenes Kreuz tragen muss, um zuletzt an dieses geschlagen zu werden. Unterbrochen von Szenen vom vorangegangenen letzten Abendmahl sieht man in Nahaufnahme, wie seine Arme festgebunden werden und ein Nagel auf der Handfläche aufsetzt. Der entscheidende Schlag wird durch die Rückblende herausgezögert und als Zuschauer erwartet man ihn mit unwohlem Gefühl in der Magengrube. Dann sieht man den Hammer nach oben fahren und den Nagel durch die Handfläche schlagen, Blut tritt hervor und Christus verzieht sein 166 Vgl. Colón Mendoza, Ilenia: The Cristos yacentes of Gregorio Fernández. Polychrome Sculptures of the Supine Christ in Seventeenth-Century Spain, Surrey/Burlington: Ashgate Publishing 2015, S. 5. 167 Ebd., S. 12. 168 Vgl. Gormans, Andreas: »Der Film vor dem Film. Das Verhältnis von Mel Gibsons ›Passion of Christ‹ zur bildenden Kunst«, in: Zwick, Reinhold/Lentes, Thomas (Hg.), Die Passion Christi. Der Film von Mel Gibson und seine theologischen und kunstgeschichtlichen Kontexte, Münster: Aschendorff Verlag 2004, S. 60-98, hier S. 61.

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Gesicht in qualvollem Schmerz. Für die zweite Fixierung am Kreuz wird ihm der Arm gestreckt, bis seine Schulter auskugelt, um die Hand an die gewünschte Position zu bringen. Maria und Maria Magdalena weinen und Christus fleht zu Gott, als ein Nagel durch die zweite Hand geschlagen wird. Die Soldaten lachen als sie zuletzt einen Nagel durch die Füße schlagen. Blut rinnt auf den Boden und spritzt empor. Als das Kreuz gestürzt wird und er über dem Boden hängt, läuft es in Rinnsalen auf den Boden wie Regenwasser. Nun wird das Kreuz aufgerichtet und erschöpft und zitternd hängt er da, mit tiefen, blutigen Wunden am ganzen Körper (TC 01:35:32-01:42:44, Abbildung 11). Abbildung 11: Nach langer Tortur wird Jesus ans Kreuz geschlagen

Quelle: THE PASSION OF THE CHRIST, TC 01:41:42, Icon Productions/capelight pictures

Eine mittelalterliche Blutsymbolik ist hier schwer zu erkennen, die explizite Gewalt könnte eher einem Horrorfilm entstammen: »Gibson claims that only through the shock of hyperbolic visceral display, by making us literally sick, can a modern audience be moved to accept the Gospel’s message of love and hope,«169 bemerkt die Literaturwissenschaftlerin Terri J. Hennings entsprechend. Dazu strebe Gibson eine starke Authentizität an: » He states that his film is historically accurate, even down to the detail of using the original Aramaic and Latin. Gibson claims fidelity to the Passion narrative stating that his story is the story of Jesus Christ as it really was […] Instead the film affects us on the same level as a slasher movie or pornography does, eliciting intense bodily reactions with little emotional evolvement.«170

Anders als in zahlreichen Christusdarstellungen der Malerei, so auch Lentes, bleibe Gibsons Christus blass und erscheine kaum als Person, eher nur als gemarterter Körper.171 Dies sei wohl beabsichtigt, denn »[d]er Christus von Mel Gibson soll nicht

169 Hennings, Terri J.: »Violence as Spectacle. Mel Gibson’s The Passion of the Christ«, in: Maye, Harun/Sepp, Hans Rainer (Hg.), Phänomenologie und Gewalt, Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann GmbH 2005, S. 232-243, hier S. 234. 170 Hennings, Terri J.: »Violence as Spectacle«, S. 233. 171 Vgl. Lentes, Thomas: »Blut – Echtheit – Imagination oder Von der Wahrheit des Erzählens«, S. 52ff.

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zuerst subjektiv betroffen machen und nicht als Mensch in Erscheinung treten. Vielmehr geht es eben darum, das Objektive seines Erlösungsleidens zu zeigen.«172 Dies ist für die somatisch fundierte Filmerfahrung interessant, da es hierbei weniger um eine psychoanalytische Identifikation mit einem Protagonisten,173 als ein direktes, intuitives Verstehen körperlichen Leidens durch den eigenen Körper geht. Körperliches Leiden wird auch bereits in vielen Darstellungen der vorangehenden Geißelungsszene der Passion präsentiert. Seit dem 9. Jahrhundert, so die Kunsthistorikerin Carla Fandrey, werde diese bildlich dargestellt: »Anfangs besteht die Szene aus dem nackten mit Lendentuch oder Tunika bekleideten Christus, der mit gekreuzten Armen an einer Säule stehend von zwei Schergen mit Geißeln, Rutenbündeln oder Stangen malträtiert wird [...] Die zunehmend drastischere Schilderung des Gegeißelten erreicht in der deutschen Plastik des 18. Jahrhunderts einen Höhepunkt: blutüberströmt, den ganzen Körper mit aufgerissenen, zerfetzten Wundmalen überzogen, zeigen die barocken Andachtsbilder schonungslos den geschundenen Körper Christi.«174

Eben dies gilt auch für die Darstellung in THE PASSION OF THE CHRIST: Eine Gruppe Soldaten bereitet sich lachend und scherzend auf ihre Rolle als Folterknechte vor. Sie freuen sich regelrecht auf die Folter und schlagen dann mit voller Kraft mit Gerten zu. Christus, an einen Pflock gekettet, windet sich unter den Schlägen. Das Publikum innerhalb des Films, darunter seine Ankläger, sieht ernst zu, manch einer wendet den Blick ab – was dem Filmzuschauer jedoch verwehrt bleibt, der Kamerablick präsentiert die Qualen gnadenlos und in Echtzeit. Ein Auge Christi ist bereits von vorangegangenen Schlägen zugeschwollen, das Gesicht davon entstellt. Jeder Schlag fährt einem als Zuschauer in den eigenen Körper. Weil er noch immer stehen kann, werden die Folterinstrumente schließlich ausgetauscht. Nun kommt eine Geißel mit mehreren Stricken mit Haken daran zum Einsatz. Jeder Schlag reißt ihm fetzenweise Haut aus dem Rücken und als ein Haken in der Haut stecken bleibt, brechen die Folterknechte in schallendes Gelächter aus. Blut spritzt ihnen ins Gesicht als sie sich völlig in der Gewaltorgie verlieren. Die Folterszene ist durchsetzt mit dem weinenden Gesicht der Mutter Maria, nur in diesen kurzen Zwischensequenzen wird man von der blutigen Folter verschont (TC 00:52:07-01:02:17). Dies sei ein bewusstes Mittel, so Gormans, da die anhaltende Folterung Christi den Zuschauer mit der Zeit abstumpfen lasse und auf diese Weise die Intensität der Szene aufrecht erhalten bleibe.175 Nur über die Gottesmutter, so auch der Philosoph Thomas Schärtl, erschließe sich das christliche Potential des Films. Sie eröffne dem Zuschauer die Perspektive des Mitleidens und nur so ließen sich die drastischen Bilder überhaupt

172 Ebd., S. 54. 173 Vgl. Kapitel 3.2.1 174 Fandrey, Carla: »Das Leiden Christi im Andachtsbild. Zur Entwicklung der wichtigsten Bildtypen«, in: Meurer, Heribert/Westhoff, Hans. (Hg.), Christus im Leiden. Kruzifixe. Passionsdarstellungen aus 800 Jahren. [Katalog zur Ausstellung im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart. 4. Oktober 1985 bis 6. Januar 1986] Ulm: Süddeutsche Verlagsgesellschaft 1985, S.36/37. 175 Vgl. Gormans, Andreas: »Der Film vor dem Film«, S.77.

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ertragen.176 Nun wird das Kino, auch unabhängig von religiösen Ansprüchen, im Allgemeinen häufig nicht als hohe Kunstform aufgefasst.177 Museen oder auch Theater zählen zur Hochkultur, der Film dagegegen, obwohl von vielen geschätzt, ist eher dem gemeinen Volk vorbehalten. Gewaltdarstellungen der Malerei zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert, so Valentin Groebner, konnten ihre Wirkung durch Verweise auf vorangegangene Darstellungen häufig sogar noch verstärken: »Die Bilder sollten sehr reale Schmerzen und extremen Schrecken vermitteln. Sie waren also nicht einfach Zitate anderer Bilder, sondern dokumentierten wirklich Geschehenes. Gleichzeitig mussten sie sich auf allgemein bekannte Topoi und Motive beziehen, um überhaupt Wirkung zu erzielen. Kurz, sie griffen auf ältere Darstellungen zurück, auch – und gerade – dann, wenn sie über aktuelle Vorfälle berichteten.«178

Statt die Wirkung auf den Betrachter durch eine Wiederholung des Motivs und eine Bestätigung der Sehgewohnheiten und des kulturellen Wissens ebenfalls zu erhöhen, wie auch in Kapitel 3.1.3 zu den Bildern von Sklaven besprochen, erzeugt Gibson diese Bezüge gerade zu den in vielen Augen niveaulosesten Genres des Kinos. Wenn die Nähe zur Gewaltästhetik des Horrorfilms beim heutigen Publikum von THE PASSION OF THE CHRIST unvermeidlich mitempfunden wird, muss die beabsichtigte, andächtige compassio, in der Tradition der christlichen Malerei, zwangsläufig für einige Menschen blockiert werden: nicht weil die dargestellten Körper im Horrorfilm keine somatische (oder anderweitige) Reaktion auslösen könnten, sondern weil sich einige Zuschauer dieser Ästhetik verweigern, indem sie derartige Filme meiden oder ggf. den Kinosaal verlassen. Vivian Sobchack erkennt im Abbruch der Filmrezeption sogar eher eine gelungene Verbindung zwischen Zuschauer und Film, der diesem dann zu nah gekommen sei:179 »This relational structure can, of course, be refused or broken – and, indeed, it often is when the sensual experience becomes too intense or unpleasurable. However, leaving the theater because one has become literally sickened or covering one’s eyes is hardly ever the outcome of a thought. It is a reflexive, protective action that attests to the literal body’s reciprocal and reversible relation 176 Vgl. Schärtl, Thomas: »Per Mariam ad Iesum. Über christliche Potenziale eines problematischen Jesusfilms«, in: Zwick, Reinhold/Lentes, Thomas (Hg.), Die Passion Christi. Der Film von Mel Gibson und seine theologischen und kunstgeschichtlichen Kontexte, Münster: Aschendorff Verlag 2004, S. 185-207, hier S. 201ff. 177 Der Philosoph John Dewey erkennt bereits früh: »Die Zweige der Kunst, denen der Durchschnittsmensch unserer Tage vitalstes Interesse entgegenbringt, werden von ihm nicht zur Kunst gezählt: Zum Beispiel Filme, moderne Tanzmusik, Comics und allzu oft auch Zeitungsberichte über Lasterhöhlen, Morde und Gangstergeschichten. Denn wenn das, was er unter Kunst versteht, in Museum und Galerie verbannt wird, so sucht der nicht zu unterdrückende Wunsch nach Genuß seine Befriedigung in den Möglichkeiten, die die Umgebung des Alltags bietet.« Dewey, John: Kunst als Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1980 [1934], S.12. 178 Groebner, Valentin: Ungestalten, S. 13. 179 Dies wird in Kapitel 3.2.2 zu Masochismus und 3.2.3 zu empathic distress wieder aufgegriffen und in Kapitel 3.3 an Filmbeispielen veranschaulicht.

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to the figures on the screen, to its sense of actual investment in a dense, albeit also diffuse, experience that is carnally as well as consciously meaningful – an experience [...] that is ›not yet differentiated into reality and illusion.‹«180

Was inhaltlich dargestellt wird, ist damit weniger entscheidend als die Art dieser Darstellung und die Rezeptionssituation. Malereien stehen Filmbildern teils an Brutalität in nichts nach und doch ist der Effekt im Film eindrücklicher, ›echter‹. Zugleich bleibt die Reaktion auf filmische Folterungen und Tötungen mehrdeutiger als die auf reale Taten. Denn natürlich ist das, was uns im Kino vorgeführt wird nicht real.181 Gibsons THE PASSION OF THE CHRIST mag nicht dieselben religiösen oder anerkennenden Gefühle ausgelöst haben, wie die großen Kunstwerke der Malerei. Man mag den Film geschmacklos finden. Interessant ist er jedoch aus einem anderen Grund: Wie eingangs beschrieben, können die Bildmedien Körper immer nur semiotisch repräsentieren. Insbesondere Künstler christlicher Malereien (oder deren Auftraggeber) hatten aber ein großes Interesse daran, zeitlos erfolgreiche Werke zu schaffen, die im Zuge der compassio den leidenden Körper als solchen somatisch erfahrbar machen. Das sichtbare körperliche Leid der gemalten Passion Christi – etwas bei Grünewald – verbildlicht nicht nur für Gläubige den Messias, den sie nie zu Gesicht bekamen, sondern soll ihn durch den Nachvollzug seines Opfers lebendig und echt machen.182 Die ›fleischlichen Zeichen‹, Wunden oder ein schmerzverzerrtes Gesicht, haben im gelungenen Fall einen derart drastischen Effekt auf den Betrachter eines Bildes oder Zuschauer des (gegenwärtig empfundenen) bewegten Films, dass sie sich selbst abzuschaffen scheinen und nur zwei vermeintlich echte Körper übrigbleiben, die sich gegenüberstehen. Wir ›glauben‹ an die Existenz des Leidens des Anderen – und damit die Existenz dieses Körpers – obwohl wir Malereien oder Filme nicht mit der uns umgebenden Realität gleichsetzen.183 Sabine Nessel erkennt ganz ähnlich für den Katastrophenfilm: »Die Präsenzbehauptung wird im Film vornehmlich an die Inszenierung körperlicher Strapazen rückgebunden, denen die Protagonisten ausgesetzt sind. Der Körper auf der Leinwand fungiert als Mittler zwischen Leinwand und Zuschauer.«184

180 Sobchack, Vivian: »What My Fingers Knew«, S. 79. 181 Vgl. Kapitel 3.2 182 Die Körperlichkeit Christi als Verkörperung Gottes, so Elaine Scarry, als erstes Greifbares, nachdem der christliche Gott sich nie wirklich gezeigt habe und der Versuch einer Vergegenwärtigung durch das goldene Kalb, bestraft worden war, sei von besonderer Bedeutung. Vgl. Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1992 [1985], S. 319ff. Diesen Körper durch immer neue, besonders eindrückliche Darstellungen seiner Passion leiblich erfahrbar machen zu wollen, ist dann derselben Sehnsucht geschuldet. Dies erinnert an die Wahrung des Lebens und damit Überwindung des Todes im Medium, wie in Kapitel 2 diskutiert wurde. Dieser Wunsch nach einem direkten und haltbaren Kontakt findet sich ebenso in der Portraitmalerei, oder dem Umgang mit Fotografien von Verstorbenen, wie später im Film, der Menschen in Bewegung sichtbar und hörbar konserviert. 183 Der ›Glaube‹ an die Fiktion wird in Kapitel 3.1.5 ausführlicher einbezogen. 184 Vgl. Nessel, Sabine: Kino und Ereignis, S. 93.

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Diesen Anspruch nach Präsenz und Echtheit teilt auch Gibson und die Umsetzung ist ihm, zumindest bedingt, geglückt. Walter A. Davis beschreibt dessen Publikum in Death’s Dream Kingdom: »There they sat with buckets full of buttered popcorn, large containers of coke, working men in shirt sleeves with pot bellies beside their even larger Fraus (the McDonald’s generation), tears streaming down their faces, moved as they had not been by any film in memory. Some actually cried out. Others gasped. Repeatedly.«185 Der Leidensweg Christi, dem das Publikum hier bei der Filmrezeption quasi in Echtzeit folgt – ohne sich der Brutalität der Bilder zu verweigern – wird als eben der reale Horror eines Martyriums präsentiert, den ästhetisch abgemilderte Kunstwerke noch unterdrückten und löst entsprechend starke Affekte und Emotionen aus. Die Grenzen zwischen Realität bzw. Zuschauerraum und Filmfiktion verschwimmen und die Zuschauer betrauern zuletzt einen echten Toten, dessen Tortur sie gegenwärtig miterlebt haben. Wie ist diese Überwindung der Zeichenhaftigkeit möglich? Wie in Kapitel 2.2.2 diskutiert wurde, müssen einem die Gesetzmäßigkeiten bildlicher Zeichensysteme vertraut sein, um Bilder zu verstehen und dargestellte Körper zu entschlüsseln. Dieser Prozess verläuft jedoch un- oder vorbewusst und fällt deshalb beinahe mit einer direkten Wahrnehmung im eigenen Leben zusammen. Insbesondere bei Großaufnahmen von Gesichtern, Affektbildern nach Gilles Deleuze,186 ist eine direkte, mimetische Ansteckung möglich, wenn diese beispielsweise großen Schmerz erkennen lassen. Durch die universell verständliche, Kulturen übergreifende Lesbarkeit verschiedener Gesichtsausdrücke, so Gertrud Koch, Noël Carroll folgend, wie auch Kameraperspektiven, die sich Figurenblicken zuordnen lassen, simuliere der Film eine lebensnahe Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, was einen Nachvollzug von Figurenemotionen erleichtere.187 Der »[...] komplexe Transfer von repräsentierten zu erlebten Affekten [...]«188 geschehe so kaum merklich. Wie in Kapitel 2.3.3 mit Gertrud Kochs Nähe und Distanz beschrieben, schaffen die uns ansteckenden Affekte im Gesicht in Großaufnahme so einen intuitiven, vorlinguistischen Zugang, sozusagen hinter den Zeichen. Auch Wunden verweisen indexikalisch auf Schmerz und ggf. Tod, diese Beziehung entschlüsseln wir aber weniger kognitiv als immer bereits phänomenologisch gesehen als in der Welt verortete, körperliche Wesen, die um ihre eigene Verwundbarkeit wissen. Fernab davon nur ein Index innerhalb eines Systems repräsentierender Zeichen zu sein, wie in Kapitel 2.2.2 analysiert wurde, kann angezeigter Schmerz als grundlegender Ausgangspunkt der Überwindung der Zeichenhaftigkeit dienen. Wir können gar nicht anders als auch im Kino leiblich wahrzunehmen.

185 Davis, Walter A.: Death’s Dream Kingdom. The American Psyche Since 9-11, London/Ann Arbor: Pluto Press 2006, S. 25. 186 Vgl. Kapitel 2.3.3 187 Vgl. Koch, Gertrud: »Zu Tränen gerührt – Zur Erschütterung im Kino«, S. 320f. Sie verweist dabei auf: Carroll, Noël: A Philosophy of Mass Art, New York: Oxford University Press 1998, S. 245-290. 188 Koch, Gertrud: »Zu Tränen gerührt«, S. 320.

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Während Edmund Husserls Transzendentalphilosophie von den eigenen Vorstellungen eines Individuums ausgeht, reinem Bewusstsein,189 bezieht Maurice MerleauPonty, den Körper und reale Weltbezüge stärker ein.190 Dies ermöglicht auch die Einbeziehung perspektivischer leiblicher Wahrnehmungsakte in eine Theorie der Filmrezeption.191 Im Sinne Merleau-Pontys schaffen filmische Mittel wie Nahaufnahmen, so Thomas Morsch, einen besonderen Zugang zum Anderen (somit also auch zu dessen Leiden und Sterben): »Wie das Erfassen des Sinns einer Gebärde nach Merleau-Ponty keine Erkenntnisleistung darstellt, sondern ein Verstehen mittels des Körpers, so gilt dies generell für die menschliche Interaktion: ›Durch meinen Leib verstehe ich den Anderen.‹ Dies gilt umso mehr für die filmische Figur, liegt doch das besondere Potenzial des Films gerade darin, das Gestische, Mimische und das gesamte körperliche Verhalten des Menschen unter ein Brennglas zu legen und auf der Leinwand nicht nur zu vergrößern, sondern durch die Expressivität filmästhetischer Verfahren noch zu verstärken.«192

Als in der Welt verortete Wesen nehmen wir diese immer vom jeweiligen Standpunkt aus wahr und wie der Leib einen Ort in der Welt hat, so hat er auch eine Zeit: »Ebenso wie er notwendig ›hier‹ ist, existiert der Leib notwendig ›jetzt‹«,193 so Merleau-Ponty – und selbst noch während der Kinovorstellung, so könnte man ergänzen, fühlt man dies, wenn sich ständig ablösende, eigentlich statische, Bilder Bewegung und Gegenwärtigkeit simulieren und man ihnen dabei mit dem eigenen, gegenwärtigen Leib gegenübersitzt. Folter und Tötungen die in Malerei und Fotografie noch als etwas Stillgestelltes reflektierend betrachtet werden können, vollziehen sich im Film unmittelbar vor und mit dem Zuschauer(leib). »[N]ie kann [der Leib]«, so Merleau-Ponty weiter, »›vergangen‹ werden, und wenn wir außerstande sind, im gesunden Zustande eine lebendige Erinnerung der Krankheit, im reifen Alter eine solche des Leibes aus unserer Kindheit zu bewahren, so sind diese ›Gedächtnislücken‹ nur Ausdruck der Zeitstruktur unseres Leibes.«194 Julian Hanich fasst zusammen: »[...] the ›invariant‹ core that phenomenology tries to uncover does not imply a universal or transcendental subject. This is the major move that led Merleau-Ponty and his existential phenomenology away from Husserl’s transcendental phenomenology which sought to study ›pure‹ conciousness. Existential phenomenology claims that the subject of consciousness and experience is embodied and situated in the life-world. The lived body is always informed and qualified 189 »[Es] werden die Phänomene der transzendentalen Phänomenologie charakterisiert werden als irreal. Andere Reduktionen, die spezifisch transzendentalen, »reinigen« die psychologischen Phänomene von dem, was ihnen Realität und damit Einordnung in die reale Welt verleiht. Nicht eine Wesenslehre realer, sondern transzendental reduzierter Phänomene soll unsere Phänomenologie sein.« Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, S. 4. 190 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 7f. 191 Dies wird in Kapitel 3.1.5 mit den Thesen Vivian Sobchacks ausgeführt. 192 Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 198. 193 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 169. 194 Ebd.

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by the specific historical and cultural context lived in. Arguing otherwise would imply commiting an essentialist fallacy.«195

Nicht nur reines Bewusstsein, sondern auch reine körperliche Empfindungen, losgelöst von vorangegangenen Erfahrungen, dem Geschlecht oder dem Kulturkreis, wie in Kapitel 3.1.3 erläutert, werden damit problematisiert. Dies hat um 1906 auch den Philosophen Theodor Lipps beschäftigt. Dieser beschreibt die Einfühlung in ein Kunstwerk: »Es ›liegt‹ für mich etwas in einem Gegenstande; es liegt darin, allgemein gesagt, eine innere oder seelische Erregung [...] Ein von mir verschiedener sinnlicher Gegenstand ›drückt‹ etwas Innerliches oder Seelisches aus.«196 Urteile dagegen seien keine Gefühlserlebnisse und dürften deshalb nicht Bestandteil einer Einfühlung sein: »Jedermann versteht und billigt es, wenn ich sage, Wahrheit sei nicht Gefühls-, sondern ›Verstandessache‹. Nun wenn wir so sagen, stellen wir den Verstand dem Gefühl, stellen also das Urteilen, Glauben, Meinen u.s.w. oder stellen wir die Erlebnisse, die wir so nennen, den Gefühlserlebnissen als etwas anderes gegenüber.«197 Christiane Voss erläutert: »Assoziative Bezüge zwischen einer Filmhandlung und bereits Bekanntem herzustellen, z.B. zu anderen Filmen und fiktionalen Werken oder auch zu lebensweltlichen Zusammenhängen, fällt für Lipps unter die Kategorie des intellektuellen, nicht mehr ästhetisch einfühlenden Verhaltens [...] Das einfühlende Ich, so ist Lipps zu verstehen, verliert während der hingebungsvollen Versenkung in einen Film z.B. seine eigene Geschichtlichkeit und lebensweltliche Verortung und soll dergestalt durch seine Immersion irrealisiert werden.«198

Das Kunstwerk, so Voss weiter, sei bei Lipps zwar immer zeitlich, räumlich sowie kausal von unserer Wirklichkeit abgetrennt, ein Teil des Betrachters, das »ästhetischideelle Ich«199, das mit anderen, etwa politischen Komponenten des Betrachter-Ichs nichts gemein hat, trete jedoch mit dem Kunstwerk in Verbindung. Damit überschreite der Betrachter auf gewisse Weise sich selbst: »Die gelungene ästhetische Erfahrung als Einfühlung ist am Ende ein mehrfach negativer Akt der Auslöschung von Differenz, Lebensbezügen, Wirklichkeit und Wissen.«200 Für Voss selbst steht allerdings, wie auch für Merleau-Ponty, fest, dass eine vollständige Auslöschung unmöglich ist

195 Hanich, Julian: Cinematic Emotion in Horror Films and Thrillers: The Aesthetic Paradox of Pleasurable Fear, New York/Oxon: Routledge Chapman & Hall 2010, S. 40. 196 Lipps, Theodor: Ästhethik, S. 1. 197 Lipps, Theodor: Ästhethik, S. 2. 198 Voss, Christiane: »Fiktionale Immersion«, in: Koch, Gertrud/Voss, Christiane (Hg.), ›Es ist, als ob‹. Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, München: Wilhelm Fink Verlag 2009, S. 127-138, hier S. 131. 199 Voss, Christiane: »Einfühlung als epistemische und ästhetische Kategorie bei Hume und Lipps«, in: Curtis, Robin/Koch, Gertrud (Hg.), Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Wilhelm Fink Verlag. München 2009, S. 31-47, hier S. 44. 200 Ebd., S. 44/45.

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und wir entsprechend unsere »[...] diesseitige Verortung, Lebenserfahrung und Leiblichkeit auch vor Filmen nicht abstreifen können.«201 Eben dies ermöglicht erst eine körperliche Ebene der Filmrezeption, die intuitiv Bezüge zur echten Welt – damit auch Leiden und Tod – herstellt und deshalb zu einer echten Erfahrung wird, die nicht nur ein bloßer Affekt bleibt.202 Während die vorliegende Arbeit hauptsächlich auf den ästhetischen und medienspezifischen Potentialen der Künste und insbesondere des Films zum Umgang mit dem Tod und seinen Vorstufen aufbaut, lassen sich durchaus empirische Studien hieran anschließen, die unsere körperliche Beteiligung am Leid anderer bzw. an Werken der Kunst mit Messwerten belegen.203 Julian Hanich gibt allerdings zu bedenken, dass zwar physiologische Reaktionen messbar seien, dies einer ästhetischen Erfahrung aber nicht gerecht werde: »[...] the experienced lived body and the scientific physiological body overlap. Objectively measurable transformations of the physiological body – increased heart-rate or sweaty palms – can certainly become obvious in moments of cinematic fear. But the subjectively lived body is at the same time much more than this. When we feel pulled down in sorrow, opened up to the world of joy, constricted in fear we cannot measure this phenomena.«204 Ebenso lässt sich der Tod von außen betrachten, Übergänge vom Leben in den Tod durch medizinische Geräte messen, aber einer Todeserfahrung wird dies nicht gerecht. Dieses Kapitel hat gezeigt, dass bereits mittelalterliche und neuzeitliche Darstellungen der Passion Christi mitunter sehr brutal ausfielen und auf wundenübersähte Christuskörper und Unmengen von Blut zurückgriffen. Dies steht für eine tiefe Blutsymbolik als Teil einer Reinigung der Sünden der Menschheit. Das Opfer Christi sollte von den zeitgenössischen Betrachtern – im besten Fall auch von der Nachwelt – in seinem vollen Ausmaß verstanden werden, deshalb wurde nicht nur ein distanziertes 201 Voss, Christiane: »Fiktionale Immersion«, S. 134. 202 Dies wird in den Kapiteln 3.1.5 und 3.2.3 ausgeführt. 203 Die Studie Pain as Social Glue des Psychologen Bastian Brock hat auf ähnliche Weise wie oben beschrieben Intersubjektivität erschlossen: »Sharing pain [...] is an especially powerful form of shared experience [...] that enhances the salience of the group and promotes bonding, solidarity, and, ultimately, cooperation.« Brock, Bastian /Jetten, Jolanda/Ferris, Laura J.: »Pain as Social Glue: Shared Pain Increases Cooperation«, in: Psychological Science, Vol. 25, Nr. 11 (2014), S. 2079-2085, hier S. 2084, DOI: 10.1177/0956797614545886. Eine weitere Studie hat 2011 ergeben: »[...] sharing the emotions of others recruits neural systems associated with experiencing that emotion oneself. The strength of such shared neural responses between self and other can be modulated by various factors and, recently, has been linked to individual differences in helping behavior.« Hein, Grit et al.: »Skin Conductance Response to the Pain of Others Predicts Later Costly Helping«, in: PloS ONE Vol. 6, Nr. 8 (2011), S. 1-6, DOI: 10.1371/journal.pone.0022759. Selbst auf Gegenstände der Kunst reagieren wir immer stark körperlich. Herzfrequenz und Hautspannung von Besuchern eines Museums konnten direkt mit ihrer emotional-ästhetischen Erfahrung beim Betrachten der Kunstwerke in Verbindung gebracht werden. Tschacher, Wolfgang et al.: »Physiological Correlates of Aesthetic Perception of Artworks in a Museum«, in: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts, Vol 6, Nr. 1 (2012), S. 96-103, DOI: 10.1037/a0023845. 204 Hanich, Julian: Cinematic Emotion in Horror Films and Thrillers, S. 47.

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intellektuelles Verständnis angesprochen, sondern eine ganzkörperliche compassio, ein Mitleiden, das zutiefst somatisch geprägt ist. Die Anreize hierfür, wie das schmerzverzerrte Gesicht oder die offenen Wunden, die indexikalisch auf sein Leid verweisen, erschließen sich auch nicht-religiösen Betrachtern oder Analphabeten, da das Bild weit direkter wirkt als ein Bibeltext, indem es den verletzlichen Körper des Betrachters anspricht. Durch den Nachvollzug des Leids Christi wird nicht nur ein kollektives Schuldgefühl für dessen Opfer geschürt, sondern der zunächst zweidimensionale, lediglich gemalte, in einer fernen Vergangenheit existente Körper wird (bedingt) in eine gegenwärtige Anwesenheit übersetzt, als handle es sich um ein echtes menschliches Gegenüber. Statt einer religiösen Beziehung kann man bei den hier verwendeten Filmbeispielen und der unmittelbaren Anteilnahme des Publikums an filmischen Tötungen, eine ähnliche Vergewisserung der Echtheit des anderen Körpers annehmen. Die unmittelbare Präsenz des anderen, verwundeten Körpers ist dabei weniger an eine perfekte Mimesis der Realität gebunden. Gerade das Übermaß an Blut und Leid ist es ja, das schon bei der Passion Christi, die Realität übersteigend, den Zugang zum leidenden Körper eröffnet. Der Film in seiner Bewegungsfähigkeit, die dynamischen Bilder und auditiven Eindrücke, Nahaufnahmen von Peitschenhieben und Nägeln, die sich in Hände schlagen, müssen umso eindringlicher wirken. Die Nähe zum Tod, alles, was dieser Körper augenscheinlich vor unseren Augen erdulden muss, lässt ihn besonders lebendig erscheinen. Es ist, als habe man es – wenn auch ohne echte Schmerzen – am eigenen Körper miterlebt und sich so dem Endzustand des Todes so weit wie möglich angenähert ohne selbst leiden oder gar sterben zu müssen. Damit bildet das Opfer tödlicher Gewalt ein Gegenstück zur Leiche, die es noch nicht ist. Diese entzieht sich jeglicher Les- und Nachfühlbarkeit, ist zu einer Leerstelle geworden, zu etwas Anderem, das nicht ist wie wir. Durch eine Zuordnung zum Horrorgenre, zum Splatter-Film, werden Filme wie THE PASSION OF THE CHRIST häufig rein negativ bewertet. Eine Übersetzung der Strategien christlicher Kunstwerke in die heutige Zeit mit ihren medialen Möglichkeiten ist damit zum Teil gescheitert. Man muss Gibsons Film aber dennoch zugestehen, dass er ein Publikum somatisch ergreift. Er wirkt gerade deshalb unerträglich, weil er, zumindest zeitweise, funktioniert. Natürlich weiß man stets, dass es sich um einen Film handelt, doch ausgeprägte Empfindungen bringen dieses Wissen zeitweise ins Wanken. Das Barthes’sche »das da, genau das, dieses eine ist’s! und sonst nichts«205 der Fotografie wird damit zu einer fühlbaren, gegenwärtigen Eindeutigkeit. Die vergangene Zweidimensionalität auf der Leinwand in eine gegenwärtige Dreidimensionalität zu kippen, hat auch Christiane Voss in ihrem Leihkörper-Konzept zu fassen versucht, das im folgenden Kapitel diskutiert wird. 3.1.5 Filmische Illusion und der Leihkörper Um weiter herauszuarbeiten, wie der Körper des Anderen im Kipppunkt zwischen Leben und Tod besonders erfahrbar wird und wir so dem unvorstellbaren Tod näherkommen können, wird in diesem Kapitel diskutiert, wie die medienspezifischen

205 Barthes, Roland: Die helle Kammer, S. 12.

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Potentiale des Films eine gewinnbringende Verbindung mit dem empfindsamen Zuschauerleib eingehen können. Dies ermöglicht erst eine Kinoillusion und damit eine Annäherung an den Tod in der Filmrezeption. Theorien zu Fiktion und Illusion werden dabei im Zusammenhang mit den phänomenologischen Thesen Vivian Sobchacks und dem Leihkörper-Konzept Christiane Voss’ diskutiert. Die Bild-Medien weisen seit jeher eine Sehnsucht auf, den repräsentierten Körper und die ihn umgebende Welt fühlbar zu machen, auch losgelöst von religiösen Gefühlen. Gottfried Boehm hält für die Kunst der Renaissance fest, was im Kapitel 2.2.1 ähnlich für die Portraits von Herrschern diskutiert wurde: »Seit Cennino Cennini und Leon Battista Alberti fungiert als Paradebeispiel der Lebendigkeit die Fähigkeit des Künstlers, Abwesendem Gegenwart zu verschaffen. Mehr noch: Totes lebendig erscheinen zu lassen, einem Verstorbenen durch die Darstellung seines Gesichtes ein langes Nach-Leben zu schenken, seiner Lebendigkeit zu gedenken. Alberti nennt das damit verbundene Vermögen in Della Pittura gar eine ›Göttliche Kraft‹«206 Stärker als die Speicherung von Leben, die Bewahrung vor dem geistigen Tod, tritt hier nun die gegenwärtige Präsenz der Person in der Darstellung hervor.207 Auch die lebensechten Porträts im Spätmittelalter oder die üppigen Damen des Barock lassen dies erkennen: Abbildung 12: Rubens, Peter Paul: Boreas entführt Oreithya (1615)

Quelle: Akademie der bildenden Künste, Wien

Rubens’ Boreas entführt Oreithya208 (Abbildung 12) zeigt den personifizierten Nordwind Boreas, mit bedrohlichen dunklen Flügeln, wie er umgeben von mehreren Putten die Nymphe Oreithya mit sich reißt. Mit entschiedenem Blick und muskulösen Armen, hält er ihr fleischiges Gesäß fest gepackt, während sie – umgeben von wallenden Gewändern in leuchtendem Rot – ihm den Körper zuwendet, den Kopf jedoch abgewandt hält. Einen Arm ausstreckend, blickt sie flehentlich gen Himmel. Obgleich es sich um 206 Boehm, Gottfried: »Der Topos des Lebendigen«, S. 97. 207 Vgl. ebd., S. 95. 208 Rubens, Peter Paul: Boreas entführt Oreithya (1615), Öl auf Holz /Eiche. 146 x 140,5 cm, Akademie der bildenen Künste, Wien, Inventarnummer GG-626.

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den gewaltsamen Höhepunkt einer Entführung handelt, spürt man auch die energische Spannung des Augenblicks, die Körperlichkeit und eine Erotik, die sich im echten Leben, in der Andeutung einer bevorstehenden Vergewaltigung, nicht nachempfinden lässt. All dies zeugt einerseits davon, dass ästhetische Auseinandersetzungen mit Gewalt und Tod, allem möglichen Realismus in der Darstellung zum Trotz, stets als etwas Eigenständiges zu betrachten sind, andererseits kündigt sich die komplexe Position des Betrachters an, die weder als rein sadistisch noch empathisch oder masochistisch anzusehen ist, wie in den folgenden Kapiteln ausführlicher untersucht wird. Lange vor dem Starkult um den Film, lassen solche eindrücklichen und detaillierten Werke den unbändigen Wunsch erkennen, die Hürde zwischen Leinwand und menschlicher Realität, zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, Dann und Jetzt oder auch Leben und Tod zu überwinden und den Anderen nicht nur zu sehen, sondern haptisch und überhaupt mit allen Sinnen zu fassen. Unser eigener Körper dient dabei als Ursprung jeglicher Wahrnehmung. Vivian Sobchack untersucht als Vorreiterin somatischer Thesen und auf phänomenologischen Ansichten aufbauend, einen Bezug zwischen wahrnehmendem Zuschauerleib und Film. Unser eigenes visuelles Feld werde durch unser ›Fleisch‹, unseren Körper, hervorgebracht und zugleich eingeschränkt. Dasselbe gelte für den Film, den jeweiligen Bild-Ausschnitt (Frame) und die Leinwand. Die Leinwand als ›Fleisch‹ schaffe erst die Voraussetzung für jegliches Geschehen, für den jeweiligen Ausschnitt, der präsentiert wird und begrenze diesen.209 Unsere eigene körperliche Verfasstheit scheint sich demnach in der Beschaffenheit des Films zu doppeln und deshalb für eine Verbindung beider Wahrnehmungsakte – so auch bezüglich einer Erfahrbarkeit des Tötens/Sterbens im Film – besonders geeignet. Der Filmemacher sei zwar abwesend, der Filmkörper und der Zuschauerkörper jedoch anwesend: »Although the filmmaker’s perceptive activity is represented in his or her absence as histoire, the film’s perceptive and expressive activity is presented by its body’s presence as discours, as an embodied and intentional consciousness inscribing its prereflective and reflective bodily conduct for itself before us.«210 Folglich gibt es bei Sobchack mehrere Instanzen: den Filmemacher als theoretische Person, die durch die Kamera geblickt und den Film aufgenommen hat (das »viewing subject«211), den Film als aufgezeichnetes Medium (das »visible and viewed object«212) und den Zuschauer, der den Film wahrnimmt. Der Filmemacher blickt zunächst durch die Kamera auf die Welt und wählt perspektivisch aus, was der Zuschauer zuletzt wahrnehmen wird. Damit ist intentionales Bewusstsein213 gemeint. Es wird nie nur wahllos aufgezeichnet und es kann immer nur ein Ausschnitt aufgezeichnet werden. Zugleich drückt der Film damit – quasi im Ablauf der Vorführung – etwas aus und schafft Bedeutung, die er an den Zuschauer ›weiterkommuniziert‹. In Anlehnung an Merleau-Pontys sprechende Sprache (parole 209 210 211 212 213

Vgl. Sobchack, Vivian: The Address of the Eye, S. 211. Ebd., S. 217. Ebd., S. 21. Ebd., S. 21/22. Vgl. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, S. 50. »Allgemein gehört es zum Wesen jedes aktuellen cogito, Bewußtsein von etwas zu sein. [Alle Erlebnisse sind] auf dieses Etwas ›intentional bezogen‹.« Ebd., S.64.

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parlante) als leiblichen Akt des Sprechens und gesprochene Sprache (parole parlée) als nicht mehr leiblichen Rest, unterscheidet Sobchack viewing view, den Akt des Wahrnehmens mit der Kamera durch den Filmemacher und viewed view, den vom Zuschauer wahrnehmbaren Film.214 Obwohl es diese raumzeitliche Distanz gibt, bei der alles bereits geschehen ist, wenn für uns der Film beginnt, erleben wir die Vorführung ein ums andere Mal als gegenwärtig und nah. Der abwesende Figurenkörper, der in der Vergangenheit vor der Kamera stand und – etwa im (fiktiven) Todeskampf – aufgezeichnet wurde, wird uns durch den Film als gegenwärtig anwesend präsentiert. Als Zuschauer würden wir den Film(körper), so Sobchack, in uns aufnehmen bzw. uns in ihn hineinbegeben, es komme zu einer raumzeitlichen Überlappung der Wahrnehmungen.215 Für die Unterscheidung von Figuren- und Filmkörper legt Sobchack ein besonderes Augenmerk auf den Kamerablick, der meist nicht genau mit dem Figurenblick zusammenfalle.216 Ausnahmen hierfür, wie Robert Montgomery’s LADY IN THE LAKE217 mit subjektiver Kamera, würden zu einem Gefühl des Unbehagens und des Unglaubens im Zuschauer führen.218 Eine subjektive Perspektive des Sterbens birgt auch keine Einsichten in den Tod, so hat das Beispiel von Bergmans GEFÄNGNIS in Kapitel 2.3.3 gezeigt, in dem Birgitta Carolinas Sterben durch eine subjektive Kameraperspektive mit verschwimmendem Bild und zuletzt Schwarzbild symbolisiert wird. Unsere Wahrnehmung, so Sobchack, falle nie restlos mit der von anderen oder des Films zusammen, sie werde also nie völlig intersubjektiv.219 Damit macht Sobchack die Medialität des Films als dem Zuschauerleib analoge Apparatur für eine Theoriebildung der Filmerfahrung verwertbar und vereint zugleich Technik und Philosophie.220 Unser (auch perspektivisches) Leibsein als Zuschauer, die Summe unserer sinnlichen Wahrnehmungspotentiale, wenn man so will, verläuft parallel zu und ist besonders empfänglich für die technische Verfasstheit des Films, die 214 Vgl. Sobchack, Vivian: The Address of the Eye, S. 50. 215 Vgl. ebd., S. 217. 216 »Thus, only the character’s body is explicit and visible in the character’s subjective selfperception as it is seen and expressed by the enabling perception and expression of the films unseen body. Indeed, as if to avoid any possible confusion and conflict between its material body and the character’s, the film’s body generally situates itself close to but behind the character’s body in what is commonly called an ›over the shoulder‹ shot.« Ebd., S. 226. 217 LADY IN THE LAKE (USA 1947, R: Robert Montgomery). 218 Vgl. Sobchack, Vivian: The Address of the Eye, S. 231. Die subjektive Kameraperspektive als vermeintliche Perspektive des Mörders, statt Sterbenden, wird in Kapitel 3.3.2.1 noch einmal aufgegriffen. HARDCORE HENRY in Kapitel 3.3.3.2 ist ebenfalls in subjektiver Perspektive gehalten. 219 Vgl. Sobchack, Vivian: The Address of the Eye, S. 178. 220 Thomas Morsch betont: »Der wichtige Beitrag von Sobchacks Studie besteht nicht in einer These zur Sinnlichkeit der Kinoerfahrung, sondern darin, auf der Grundlage von MerleauPontys Phänomenologie ein strukturelles Moment filmischer Medialität herausgearbeitet zu haben, das mit dem Aspekt der Verkörperung als Schnittstelle zwischen filmischer Wahrnehmung und körperlicher Existenz verbunden ist.« Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 259.

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Summe seiner Potentiale ein Geschehen nicht nur im Sinne der fotografischen Abbildfähigkeit aufzuzeichnen, sondern in der Vorführung durch filmische Mittel intensiv und immersiv erfahrbar zu machen. Und das obwohl diese abstrahierte, reduzierte, flächige Leinwandwirklichkeit auf den ersten Blick so gar nichts mit dem zu tun hat, was wir aus unserem Leben kennen. Seine Mängel ausgleichend und seine Fülle an wirklichkeitsübertreffenden Effekten würdigend, gehen wir mit dem Film eine raumzeitliche Verbindung ein, die mit einem geteilten Blick nicht ausreichend erfasst ist, sondern alle Sinne involviert. Hierauf aufbauend kann eine Nähe zu Körpern auf der Leinwand und allem, was sie erleben und ggf. bis zum Tod ertragen müssen entstehen, die das echte Leben nicht imitiert, sondern übertrifft, indem Fiktion und Technizität des Films sowie der Körper des Zuschauers eine zweitweise Verschränkung eingehen, die es in der Realität nicht geben kann. In What My Fingers Knew tritt die sinnliche Komponente von Sobchacks Filmtheorie als ein Bestandteil der obigen Ausführungen stärker hervor. In Bezug auf Jane Campions Film THE PIANO221 erläutert sie: »Campion’s film moved me deeply, stirring my bodily senses and my sense of my body. The film not only ›filled me up‹ and often ›suffocated‹ me with feelings that resonated in and constricted my chest and stomach, but is also ›sensitized‹ the very surfaces of my skin – as well as its own – to touch. Throughout the film my whole being was intensely concentrated and, rapt as I was in the world onscreen, I was wrapped also in a body that was achingly aware of itself as a sensuos, sensitized, sensible material capacity.«222

Noch während zu Beginn des Films mit den Augen kein klares Filmbild auszumachen war, sei ihr körperlich, in ihren Fingern, bewusst gewesen, womit sie es zu tun hatte: Hände, die Augen bedecken. Dieses körperliche Verständnis sei ihr erst im Nachhinein kognitiv bewusst geworden. Die typische Bevorzugung des Visuellen (im Film) solle deshalb nicht vergessen lassen, dass wir ganzkörperlich wahrnehmen und Bedeutungen erzeugen.223 Dies bestätigt auch Laura Marks in The Skin of the Film: »It is not accidental that certain experiences are most likely to be ›recorded‹ only in the nonaudiovisual registers of touch, smell, and taste. The fabric of everyday experience that tends to elude verbal or visual records is encoded in these senses. Senses that are closer to the body, like the sense of touch, are capable of storing powerful memories that are lost in the visual.«224 Ein Bild könne sinnliche Erinnerungen wieder hervorrufen.225 Folglich, so auch Robin Curtis, »könnte die Spürbarkeit der Synästhesie beim Film überragend starke somatische Wirkungen bei der Filmrezeption erklären, indem das Medium, das an sich lediglich aus Bildern und Tönen besteht, den Leib des Zuschauers

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THE PIANO (Australien/Neuseeland/Frankreich 1993, R: Jane Campion). Sobchack, Vivian: »What My Fingers Knew«, S. 61/62. Vgl. ebd., S. 63ff. Marks, Laura: The Skin of the Film, S. 130. Vgl. ebd., S. 110.

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als komplexes, sinnliches Kompositum anspricht.«226 In Anbetracht ausufernder Gewaltszenen bis zum Tod im Film ist dies besonders interessant, da diese nicht immer kognitiv begriffen werden, während man sie körperlich erfasst. Dies ebnet den Weg für eine eigenständige körperliche Ebene, auf der man auch dem Tod im Film im Kipppunkt zwischen bewegt und unbewegt, lebendig und tot, begegnen kann. Nicht die besonders ausgeprägte Abbildfähigkeit von Wirklichkeit, sondern die Art, wie der Film sich für das Publikum öffnet und sinnlich zugänglich wird ist hierbei entscheidend. Christiane Voss bestätigt, es gehe nicht um »[...] die attrappenartige Nachahmung eines empirischen Geschehens [, sondern] die Überwertigkeit des Kinogeschehens im Ganzen [...]«227 Das Töten, Sterben und Hinübergleiten in ein nicht erfassbares Nichts des Todes im Film erschließt sich dem Publikum demnach weniger durch eine möglichst realistische Darstellungsweise des Sterbens als eine gezielte Ästhetik der Bildauswahl und Bedeutungsgenerierung. Wie schon in Kapitel 2 angesprochen, ist der Film als dokumentarisches Medium dem fiktionalen Film im Umgang mit dem Tod sogar unterlegen, da er weniger Gestaltungsfreiheiten hat. C. Scott Combs dazu: »How does cinema get dying ›right‹? Even when the footage is clocked at real time and unedited, the ability to replay the footage changes the temporal frame of the original occurence in the way it allows access. We look to fictional scenarios to organize and clarify the end of life, for they certainly have greater recourse to the profilmic [...] It is true the fiction film can draw out or eclipse the death moment, combine various views, and stage registration multiple times [...]«228

Der dokumentarische Film, dagegen Vivian Sobchack, verweise indexikalisch auf das echte Phänomen Tod, der fiktionale Film behandle es nur ikonisch oder symbolisch.229 Die ursprüngliche Echtheit des realen Todes werde somit im fiktionalen Film immer abstrahiert: »In fictional cinema, the representation of death, however graphic, is experienced as abstract – that is, hypothetical or ›irreal‹; it is a character who dies and not the actor who plays him. The nonfictional representation of death in the documentary, however, is experienced as real – even when it is not as graphically displayed as it often is in fictional film.«230 Das ›Irreale‹ erlaube dem Publikum einen gewissen moralischen Spielraum selbst bei Szenen mit expliziter Gewalt.231

226 Curtis, Robin: »Synästhesie und Immersion. Räumliche Effekte der Bewegung«, in: Curtis, Robin/Glöde, Marc/Koch, Gertrud (Hg.), Synästhesie-Effekte. Zur Intermodalität der ästhetischen Wahrnehmung, München: Wilhelm Fink Verlag. München 2010, S. 131-150, hier S. 134. 227 Voss, Christiane: »Filmerfahrung und Illusionsbildung. Der Zuschauer als Leihkörper des Kinos«, in: Koch, Gertrud/Voss, Christiane (Hg.), ...kraft der Illusion, München: Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 71-86, hier S. 78. Die Rolle des spezifisch Filmischen für echte somatische Erfahrungen wird auch im frühen Kino der Attraktionen betont, das in Kapitel 3.3.1 näher behandelt wird. 228 Combs, C. Scott: Deathwatch, S. 21. 229 Vgl. Sobchack, Vivian: »Inscribing Ethical Space«, S. 245. 230 Ebd., S. 241. 231 Vgl. ebd., S. 245.

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Über die Adressierung des Zuschauerkörpers, der unmittelbar am Leiden und Sterben von Filmfiguren beteiligt wird, kann jedoch eine empfundene Echtheit in den fiktionalen Film einkehren, die ikonische und symbolische Ebenen überschreitet. Obgleich man einen fiktionalen Film selten wirklich mit einem dokumentarischen Beitrag verwechseln wird (natürlich existieren auch hier Ausnahmen, so etwa der Film BLAIR WITCH PROJECT (1999)232, wirkt die ausufernde Gewalt bis zum Tod einer Filmfigur in den hier zu behandelnden Beispielen distanzlos echt, teils auch gerade in ihrer Künstlichkeit, dem Einsatz von Schnitten oder Kamerafahrten, was sie besonders schrecklich und für einige Menschen nicht rezipierbar macht. Martin Seel führt allgemein für Kunstwerke im Umgang mit Gewalt aus: »Die Evokation eines menschlichen Grenzfalls stellt zugleich einen ästhetischen Grenzfall dar. Will sie Gewalt zum Ereignis machen, muß die Kunst sich zum Ereignis machen. Will sie einen Ausbruch von Gewalt zeigen, muß sie es zu einer Kulmination ihrer Mittel kommen lassen. Um (buchstäbliche) Gewalt zu zeigen, muß die Kunst auf ihre (metaphorische) Gewalt vertrauen.«233 Dies geschieht besonders eindrücklich in Filmen, die extrem brutale filmische Tötungen präsentieren und dabei mit den Sehgewohnheiten des Publikums brechen. Seel führt im Sinne von Adornos ästhetischer Theorie aus: »Die[...] Kunst besteht vor allem darin, die gewohnten, geläufigen, eingeschliffenen und darum harmlosen Darstellungen von Gewalt zu durchkreuzen. Nur wo die schematisierten Bilder der Gewalt aufgerauht, wo ihre Glätte zerkratzt, wo mit ihrer Kenntlichkeit gebrochen, wo die Eindeutigkeit ihrer Behandlung aufgegeben wird, kann der Einbruch der Gewalt zur Darstellung kommen.«234 Das Kapitel 3.3.4.1 wird hierauf zurückkommen. Diese ›erlebte Wirklichkeit‹ der filmischen Erfahrung bezieht sich zwar meist auf die uns umgebende Wirklichkeit, erzeugt aber durch spezifisch filmische Mittel – und eben nicht zwangsläufig eine realistische ikonische Abbildung – eine besondere Präsenz und Wirkkraft. Gertrud Koch dazu: »Unter ästhetischer Fiktion verstehe ich vorerst diejenigen Fiktionsbildungen, die in besonderer Weise in sich kohärente Gebilde hervorbringen, die Wahrheitsansprüche stellen, die sich nicht aus der Abbildungsfunktion ergeben, sondern die in der Organisation ihres Materials sinnlich wahrnehmbare Perspektiven eröffnen, die mit der Modulierung der Perspektive auf mein Denken/Fühlen einwirken.«235 Obwohl fotografische Medien die Realität abbilden können, sei es weniger diese Abbildfähigkeit, als der fotografische Index, so Koch in Filmische Welten – Zur Welthaltigkeit filmischer Projektionen, der beim Medium Film eine direkte Verbindung zu unserer gegenständlichen Welt schafft, die sich nicht in bloßer Repräsentation erschöpfe: »Vor allem die linguistische Semiotik hat sich strikt gegen diese Annahmen gewandt und auf die prinzipielle Zeichenhaftigkeit aller bildlichen Darstellungen verwiesen. Nicht immer mit guten

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BLAIR WITCH PROJECT (USA 1999, R: Daniel Myrik/Eduardo Sánchez) Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, S. 304. Ebd., S. 306. Koch, Gertrud: »Tun oder so tun als ob? – alternative Strategien des Filmischen«, in: Koch, Gertrud/Voss, Christiane (Hg.), ›Es ist, als ob‹. Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, München: Wilhelm Fink Verlag 2009, S. 139-150, hier S. 141.

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Gründen. Im Anschluß an den Semiotiker Peirce läßt sich durchaus eine Verteidigung des indexikalischen Moments im filmisch/photographischen Bild führen. Vielleicht sollte man mit Ernst H. Gombrich sagen, daß der Film ästhetisch ein Spiel mit Gegenständen und Gegenständlichkeit zuläßt, das stärker auf die physische Seite der Welt verweist, auf ihre Dinghaftigkeit.«236

Statt Gegenstände im Film nur als flächige, fotografische Kopien wahrzunehmen, welche Realität durch Zeichen ersetzt haben, nehmen wir sie als das wahr, was sie sind, so wie wir sie aus unserem Leben kennen. Der Film, so Koch, erstelle jeweils eine Welt, statt nur eine abzubilden237 und schalte diese am Ende wieder ab.238 Die Affekte im Kino sind dabei ebenso echt, wie die im echten Leben und von diesen geprägt. Reinhold Görling führt in Affekt und Politik aus: »Sie prägen die Stimmung, mit der wir durch eine Straße gehen, die Wärme in der wir die eine, die Kälte in der wir vielleicht eine andere Berührung durch einen anderen erfahren. Affekte umhüllen uns nicht wie Watte. Aber sie sind doch gewissermaßen der Stoff und die Kraft, die uns mit unserer Umgebung verbinden. Sie geben den Dingen die Kontur, stellen zu einem ganz großen Teil das her, was wir die Erfahrung der Materialität der Dinge nennen können.«239 Mit unserer ganzkörperlichen, sinnlichen Wahrnehmung der Welt sind wir ihr verbunden, auch während der Filmrezeption. Dies muss auch für den Tod bzw. das Töten und Sterben im Film gelten. Für das intuitive körperliche Verstehen ist es sekundär, ob die Person auf der Leinwand wirklich gestorben ist oder wir es nur mit einer Fiktion zu tun haben, auch wenn ein realer Tod uns natürlich insbesondere auf einer kognitiven Ebene mehr schockieren würde.240 Der Film wird mit allen Sinnen erfasst, wie unser echtes Leben auch und wie wir einen Tötungsakt – ängstlich, schockiert, aufgeregt, fasziniert etc. – als extreme Gewalt, aber nicht den Tod selbst erleben können, entzieht er sich uns parallel dazu letztendlich auch in der Filmrezeption als Andeutung, Symbol, Leiche, als starres Objekt entgegen der Bewegtheit des Films. Vivian Sobchack prägt deshalb für den mit dem Film verbundenen Zuschauer den Neologismus cinesthetic subject.241 Christiane Voss betont an diesem Konzept insbesondere die Möglichkeit »[...] eine starre Subjekt-Objekt-Trennung mit Blick auf das 236 Koch, Gertrud: »Filmische Welten – Zur Welthaltigkeit filmischer Projektionen«, in: Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2016 [2003], S. 162-175, hier S.166/167. 237 Vgl. Koch, Gertrud: »Filmische Welten«, S. 162. 238 Vgl. Ebd., S. 166. 239 Görling, Reinhold: »Affekt und Politik. Zum Verhältnis von Folter und Zukunft«, in: Ders., Die Verletzbarkeit des Menschen. Folter und die Politik der Affekte, München: Wilhelm Fink Verlag 2011, S. 9-46, hier S. 20. 240 Dies trifft sich mit dem anhaltenden Mythos des Snuff-Film-Genres, bei dem die im Film präsentierten Tötungen echt sein sollen. Vgl. bspw. Jackson, Neil et al. (Hg.): Snuff: Real Death and Screen Media, New York/London: Bloomsbury Academic 2016. 241 »We might name this subversive body in the film experience the cinesthetic subject – a neologism that derives not only from cinema but also from two scientific terms that designate particular structures and conditions of the human sensorium: synaesthesia and coenaesthesia. Both of these structures and conditions foreground the complexity and richness of the more general bodily experience that grounds our particular experience of

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Verhältnis von Leinwandgeschehen und Zuschauerposition aufzuheben, sofern der ›cinästhetische Körper‹ gerade als ein dritter Term beides umgreift und dieses Verhältnis als eine reziprok dynamische Relation erfahrbar macht.«242 In dieser Überlappung liegt das Potential einer Gratwanderung zwischen Leben und Tod, Leinwand- und Zuschauerrealität, deren Verbindung erst abreißt, wenn der Tod eingetreten ist, die Erfahrbarkeit endet und die Kamera sich schließlich abwendet. Dies macht auch den Kern von Voss’ Leihkörper-Theorie aus. Es gibt keine zwei getrennten Bereiche von Film- und Zuschauerraum mehr, sondern einen dritten ›Raum‹ der Überlagerung und des Austauschs. Voss’ Theorie ist ein: »[...] philosophieästhetische[r] Ansatz[...], wonach der illudierte Rezipient des Kinosettings im Sinne eines sogenannten ›Leihkörpers des Kinos‹ zum eigentlich ästhetischen Medium des kinematographischen Erfahrungsraums wird. Über kognitiv-affektive Rhythmisierungen von Immersion und Distanzierung im Verhältnis zum Leinwandgeschehen wird ein ästhetischer Leihkörper generiert, der als eine dritte Instanz und ephemere Brückenfunktion zwischen filmtechnischer Konstruktion und empirischem Körper des Rezipienten sowie seiner Umwelt im Kinosetting anzusiedeln ist.«243

Der Zuschauer stelle seinen Körper als Leihgabe zur Verfügung und ›kippe‹ damit die filmische Zweidimensionalität in eine gegenwärtige körperliche Dreidimensionalität.244 Diese Theorie knüpft an die somatischen Thesen Vivian Sobchacks an, betont dabei aber stärker die objektive Raumqualität durch die Zuschauerbeteiligung:245 »Es bleibt zwar der Körper des cinästhetischen Subjekts der ›Leihraum des Filmgeschehens‹, aber er ist tatsächlich ein Raum – eben ein somatischer Bedeutungsraum – und stiftet die dritte Dimension, in die sich das Filmgeschehen sensitiv-affektiv einlagern kann.«246 Nimmt man den Leihkörper-Begriff wörtlich, stellen wir nicht nur unseren Körper zur Verfügung, um raumzeitlich mit dem Filmgeschehen zu überlappen, sondern gehen auch zeitweise eine Verbindung mit den Figurenkörpern selbst ein, allem, was sie erleben und erdulden, wie schon THE PASSION OF THE CHRIST gezeigt hat.247 Als Ersatz für unseren verwundbaren Körper wie die Terrakottastatuen André Bazins, durchleiden Filmfiguren stellvertretend teils Höllenqualen bis zum Tod und ihre Körper entziehen sich erst unserer Erfahrbarkeit, wenn sie nicht mehr sind. Mit dem Ende ihrer Bewegung reißt auch unsere Verbindung zu ihnen ab.

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cinema, and both also point to ways in which the cinema uses our dominant senses of vision and hearing to speak comprehensibly to our other senses.« Sobchack, Vivian: »What My Fingers Knew«, S. 67. Voss, Christiane: »Filmerfahrung und Illusionsbildung«, S. 80. Voss, Christiane: Der Leihkörper, S. 19. Vgl. Voss, Christiane: »Filmerfahrung und Illusionsbildung«, S. 81. Vgl. Voss, Christiane: Der Leihkörper, S. 117. Voss, Christiane: »Filmerfahrung und Illusionsbildung«, S. 81. Diese Verbindung ist aber nicht so festgelegt, wie es die Identifikationen der psychoanalytisch geprägten Filmtheorie andenken. Wir bleiben nicht zwangsläufig an eine Figur gebunden, sondern nehmen den ganzen Film körperlich wahr und entsprechend auch somatische Anreize, wie Kraftakte oder Schmerzen verschiedener Figuren. Vgl. Kapitel 3.2.3

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Möglich ist jegliche Illusion und Zuschauerbeteiligung durch die Kinosituation selbst: Das Publikum befinde sich im Kino, so bereits Christian Metz, in einem Zustand der Immobilität, in einem abgedunkelten und damit reizarmen Kinosaal, »eine[r] Art leichte[m] Schlaf, ein[em] Wachschlaf.«248 Christiane Voss kommt im Rückgriff auf einen Aufsatz von Robert Musil zur Ästhetik des Films249 zu einem ähnlichen Ergebnis: »Durch die Verdunklung des Raumes und die relativ eingeschränkte Beweglichkeit im Kinosessel wird die unmittelbare Umgebung des Kinozuschauers in ihrer lebendigen Wertigkeit vor seinem Bewusstsein abgesenkt. Dadurch kann die Aufmerksamkeit von den Ton-Bildsequenzen absorbiert werden, so dass diese nun in ihrer sicht- und hörbaren Bewegtheit vor dem Bewusstsein des Zuschauers überwertig werden. Die Differenz zwischen der Präsenz des Leinwandgeschehens und der (empirischen) Wirklichkeit bleibt zwar latent wahrnehmbar, wird jedoch im Bewusstsein des Betrachters abgedrängt, zugunsten der projektiv ergänzenden Wahrnehmung des Leinwandgeschehens.«250

Dieses Hineintauchen in die Illusion des Films, verbunden mit echten körperlichen Empfindungen führt dazu, dass man den künstlichen Film als quasi-echt annimmt. Natürlich ist eine Bereitschaft des Publikums die Voraussetzung für eine gelungene Filmrezeption. Die Kinoillusion bleibe nur erhalten, so lange der Film abläuft, in einem Einverständnis, sich auf das Gezeigte ›mit Haut und Haar‹ einzulassen, so Gertrud Koch.251 Nicht mit jedem Film kann man natürlich eine solche enge, immersive Verbindung eingehen. Analog dazu, wie der Tod als Zustand sich unserer Erfahrbarkeit entzieht, ist ein auch ›toter Film‹ ohne Reiz für das Publikum. Christiane Voss dazu: »Ästhetisch misslungen sind tote Artefakte und tote Artefakte sind ästhetisch misslungene [...] Die Anwendung des Begriffspaars lebendig/tot auf ästhetische Entitäten treibt eine antagonistische Spaltung zwischen ihre wirkmächtigen und ihre wirkungslosen Dimensionen in diese selbst ein. Das Lebendige rückt dabei auf die Seite des Wirkmächtigen und das Tote auf die Seite der stummen Wirkungslosigkeit des Artefakts.«252 Im Falle der hier zu behandelnden Filmbeispiele ist gerade die Nähe zumTod in den überbordend blutigen Bildern verschiedenster filmischer Tötungen besonders lebendig und entsprechend wirkmächtig. Voss führt dementsprechend aus: »Ästhetische Lebendigkeit kennt [...] nicht nur ein Leben und einen Tod, sondern derer viele. Damit ist das Ästhetische nicht nur nicht der Polarität oder wechselseitigen Durchdrungenheit von Leben und Tod enthoben, als vielmehr umso tiefer darin eingewebt. Wenn mit dem Ästhetischen die Gradierbarkeit des Lebens und des Sterbens ins Spiel kommt und außerdem das Leben 248 Vgl. Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant, S. 91. 249 Sie verweist auf Musil, Robert: »Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films«, in: Ders., Gesammelte Werke 8. Essays und Reden, Hamburg: Rowohlt Verlag 1978 [1925], S. 1137-1154, hier S. 1140. 250 Voss, Christiane: »Filmerfahrung und Illusionsbildung, S. 77/78. 251 Vgl. Koch, Gertrud: »Müssen wir glauben, was wir sehen?«, S. 53. 252 Voss, Christiane: »Zum Verhältnis von ästhetischer Lebendigkeit und Sterblichkeit«, S. 572.

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selbst ästhetische Facetten aufweist, indem es am Ästhetischen affektiv partizipiert, wird die Schlussfolgerung plausibel, dass im Ästhetischen und nur dort die vielfältigen Dimensionen der Lebendigkeit und die der Sterblichkeit womöglich weniger transzendiert, als viel mehr für uns virtuell vermehrt wird. Über mehr Lebendigkeit und Sterblichkeit zu verfügen und sei das auch nur virtuell und temporär begrenzt der Fall, bedeutet, basale Relativierungsmöglichkeiten sogar auf sogenannte existenzielle Dimensionen des vermeintlich eigenen Lebens bezogen kennenlernen zu können. Eben das ist das Spiel der Kunst mit dem Leben und dem Sterben.«253

Nicht nur reicht dann der Tod ins Leben, wie auch Leinwand- und Zuschauerwelt während der Rezeption ineinanderzugreifen scheinen, nicht nur brilliert der Film gerade in Übergängen und Nuancen, wir haben es auch mit einer unbegrenzten Anzahl von möglichen Lebens- und Todeserfahrungen zu tun, die uns somatisch Echtheit vermitteln und darin Erkenntnisse bergen. Jeder Film besitzt theoretisch die Fähigkeit, eine fiktive Welt so eindrücklich zu präsentieren, dass die Illusion von Realität entsteht254 – eine Illusion, zu deren Bildung der Zuschauer selbst beiträgt. Um dem Film zu ›glauben‹, können wir jederzeit eine Art Pakt ihm eingehen, indem beide Seiten so tun als sei das Gezeigte echt. Christian Metz erläutert: »Es versteht sich von selbst, daß das Publikum nicht auf die diegetische Illusion hereinfällt; es ›weiß‹, daß die Leinwand nichts anderes als eine Fiktion vorführt. Und dennoch ist es für den guten Verlauf der Vorführung äußerst wichtig, daß dieses Trugbild gewissenhaft durchgehalten wird (ansonsten wird der Spielfilm für ›schlecht gemacht‹ erklärt), daß alles in Bewegung gesetzt wird, damit der Betrug wirksam werden kann und einen Schein von Wahrheit erhält (hier treffen wir auf das Problem der Wahrscheinlichkeit).«255

So fallen wir eben doch auf gewisse Weise manchmal auf das Trugbild herein. Jemandem wird beispielsweise im Film Gewalt angetan, er leidet sichtlich und wir als Zuschauer werden von der Folterung, von diesem Leid, wirklich – wenn auch natürlich im Vergleich zum echten Leben abgeschwächt – ergriffen. Gemäß Noël Carrolls Thought Theory nimmt das Publikum die Leinwandrealität als mögliche Realität an, 253 Ebd., S. 580. 254 Vgl. Sobchack, Vivian: The Address of the Eye, S. 31. Bazin selbst dazu: »Grob gesagt, will der Film dem Zuschauer eine möglichst perfekte Illusion der Wirklichkeit verschaffen, unter Berücksichtigung der logischen Erfordernisse der filmischen Handlung und der neuesten technischen Möglichkeiten«. Bazin, André: »Der kinematografische Realismus und die italienische Schule nach der Befreiung«, S. 308. 255 Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant, S. 66. Ähnlich argumentiert auch Christiane Voss und bezieht bereits Affekte mit ein: »Im gelingenden Fall einer Filmbetrachtung schreiben wir dem Geschehen auf der Leinwand eine Form von Wirklichkeit zu, die uns unmittelbar affiziert. Bezieht man an diesem Punkt die Sartre’sche Auffassung von Affekten mit ein, wonach diese eine weniger auf rationalen Gründen als vielmehr auf Eindrücken basierende, eigene Form von Glaubensphänomenen darstellen, so beinhaltet Affizierung durch etwas einen vorübergehenden (nicht automatisch irrationalen) Glauben an das SoSein eines erscheinenden Gegenstandes«. Voss, Christiane: »Filmerfahrung und Illusionsbildung«, S. 72.

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nicht im Hinblick auf ein tatsächliches Eintreffen, sondern als ein ›Was-wäre-wenn.‹256 Entsprechend würden wir das Gezeigte nicht als Realität annehmen, sonst würden wir bei erschreckenden Darstellungen zu Tod und Gewalt eingreifen wollen oder aus dem Kinosaal rennen, aber wir würden eben auch nicht nur so tun als ob, sondern hätten echte Empfindungen.257 Josef Früchtl argumentiert ähnlich wie Carroll: »[Fiktionen] bewirken [...], dass etwas prima facie als wirklich und wahr erfahren wird, das nicht wirklich und wahr ist. Sie haben, kantianisch gesprochen, den Status des ›Als-ob‹. Sie lassen uns an etwas glauben und gehören insofern zur Struktur der Mimesis als makebelieve.«258 Wir werden demnach nicht direkt getäuscht, sondern gehen in der Kinoillusion auf und empfinden echt, obwohl wir wissen, dass das Gezeigte nicht echt ist. Dirk Eitzen beschreibt in The Fun of Fear direkter: »You might suppose that, when watching a horror movie, comfortably ensconced in a padded theater seat with a sack of buttered popcorn in your hand, you are not really afraid. But you are. Galvanized attention, tense muscles, mind focused on the possibility of harm… these are exactly the responses that scary movies produce. It is the idea of danger that triggers the fear.«259 Erst im Nachhinein bleibt Zeit dies zu reflektieren und man muss sich teilweise bewusst in Erinnerung rufen, dass es sich nur um einen Film handelt, wenn die vorgeführten Schrecken zu überwältigend wirken. Julian Hanich dazu: »Somatic empathy is a form of Einfühlung that describes a more or less automatic, but no more than partial parallelism between a character’s and my own body’s sensations, affects or motions. Think of the muscular urge to support a character who is untangling the cables of a ticking time bomb (motor mimicry); the itchiness experienced when looking at a character wearing coarse cotton on bare skin (sensation mimicry); the disgust one experiences upon seeing a fully grossedout character waking up in a freezer full of putrefying body parts, as in the 2006 remake of The Hills Have Eyes (affective mimicry) [...]«260

Gerade die Distanz durch die Leinwand, die stets unterschwellig fühlbare Künstlichkeit, kann den entscheidenden Zugang bieten, um einem repräsentierten Körper so näher zu kommen als wäre er echt. Unlustvolle Themen, wie den Tod, würde man im echten Leben eher meiden, die Distanz der Fiktion sowie der Kinoanordnung, schützt uns aber vor ihnen. Und genau deshalb können wir uns dem Film hingeben, egal was er ›mit uns macht‹ und werden dann mitunter davon überrascht wie bedrohlich nah uns das Geschehen doch kommen kann. Der Mangel der filmischen Zweidimensionalität und zeitlichen Versetzung, so hat dieses Kapitel gezeigt, wird durch den Zuschauer in dessen gegenwärtige körperliche 256 Vgl. Carroll, Noël: »The Nature of Horror«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 46, Nr. 1 (1987), S. 51-59, hier S. 56. 257 Vgl. Carroll, Noël: The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart, S. 12ff. Das Kapitel 3.2.3 wird hierauf zurückkommen. 258 Früchtl, Josef: »Den Glauben an die Welt fiktiv wiederherstellen«, S. 17. 259 Eitzen, Dirk: The Fun of Fear: Horror, Suspense and Halloween. The Society for Cognitive Studies of the Moving Image vom 02.10.2010, http://scsmi-online.org/forum/the-fun-offear-horror-suspense-and-halloween (Abgerufen 22.01.2019). 260 Hanich, Julian: Cinematic Emotion in Horror Films and Thrillers, S. 103/104.

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Dreidimensionalität gekippt, so dass Film und Zuschauer räumlich und zeitlich miteinander verschränkt werden. Statt lediglich eine Illusion von Realität, im Sinne einer mimetischen Abbildung zu bieten, entsteht ein eigenständiger Erfahrungsraum in dem das Publikum das Gezeigte ›glauben‹ kann, so lange die Filmvorführung währt. Filmische Illusion ist dann das, was Film und Zuschauer miteinander schaffen und ihre Wirkung in diesem Sinne real. Thomas Morsch führt aus: »Die somatische Stimulation des immobilen Kinopublikums [etwa] durch [eine] hyperbolische Inszenierung von Geschwindigkeit [...] ist kein Ersatz für eine ›eigentliche‹ körperliche Erfahrung, sondern es ist eine somatische Erfahrung, die durch die Vermittlung eines im Bild verkörperten Ausdrucks zu einer ästhetischen Erfahrung wird. Die körperliche Erfahrung unter den Bedingungen technischer Medialität – und dies trifft nicht nur auf körperliche, sondern ebenso auf emotionale, affektive und intellektuelle Erfahrungen zu – ist keine artifizielle, künstliche, uneigentliche oder abgeschwächte Erfahrung, sondern es handelt sich um eine transformierte Form der Erfahrung, die darum aber nicht weniger real ist. Mediale und ästhetische Vermittlung suspendieren gewisse Aspekte des Körperlichen (z.B. Gefahr, Interaktion, motorische Bewegung) und erlangen gerade dadurch neue Freiheitsgrade in der Inszenierung körperlicher Erfahrung. So wenig diese auf physiologische Effekte zu reduzieren ist, so wenig fungiert sie als Substitut einer außermedialen Erfahrung.«261

Dem Töten und Sterben im Film beizuwohnen ist dann, obgleich das Geschehen fiktiv und die Kinosituation dem echten Leben fern ist, im körperlichen Sinne echt, da wir echte Empfindungen und intuitive Erkenntnisse haben. Was bedeutet dies nun für die Auseinandersetzung mit filmischen Tötungen? Die Erfahrung des leidenden Körpers ist deshalb noch nicht immer eindeutig. Immerhin nimmt man bei Darstellungen von Gewaltakten nie wirklich die Rolle des Täters oder Opfers ein. Man ›schlüpft nicht dauerhaft in jemandes Körper‹. Die folgenden Kapitel sollen deshalb eine sadistischschaulustige oder masochistisch-nachfühlende Perspektive näher beleuchten.

3.2 SADISMUS, MASOCHISMUS UND EMPATHIE IM FILM 3.2.1 Sadismus, psychoanalytische Filmtheorie und der Körper Wie erfahren wir Tötungen im Film und ist diese Erfahrung eher sadistisch oder masochistisch einzuordnen? Dieses Kapitel widmet sich zunächst dem menschlichen Sadismus aus Sicht der psychoanalytisch-poststrukturalistischen Filmtheorie, um hierauf aufbauend den Zuschauerkörper einzubeziehen. In den folgenden Kapiteln werden Masochismus sowie kognitive Ansätze und somatische Empathie bezüglich filmischer Tötungen untersucht. Dieser theoretische Unterbau wird schließlich im Kapitel 3.3 auf konkrete Filmbeispiele angewandt. Bei einem christlichen Sujet, wie Gibsons THE PASSION OF THE CHRIST würde man stets eine compassio mit der leidenden Filmfigur erwarten. Dementgegen wurde Gibsons Film aufgrund seiner exzessiven Folterszenen wiederholt Sadismus vorgeworfen, 261 Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 263.

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Florian Plumeyer rückt ihn in Sadismus und Ästhetisierung gar in die Nähe des torture porn.262 Dieses Subgenre des Horrorfilms legt seinen Fokus auf die ausgedehnte und somatisch nachvollziehbare Folterung von Opfern bis zu deren Tod. Der Filmkritiker David Edelstein hat diese Art Film, insbesondere amerikanische Produktionen wie die HOSTEL-Reihen, deshalb erstmals abfällig als torture porn klassifiziert.263 Plumeyer definiert: »Die ausgestellte Schaulust an den Exzessen unterscheidet [...] den torture porn von allen anderen Filmen mit ähnlichem Sujet, wie etwa Pier Paolo Pasolinis Salò o le 120 Giornate di Sodoma, dessen ›kalter(r), nüchtern-registrierende(r) Stil‹ jegliche Gefälligkeit in der Darstellung eliminiert.«264 Auch THE PASSION OF THE CHRIST sei wie ein Schauprozess inszeniert, so Hermann Kappelhoff und »[d]ie obsessive Fixierung auf die Darstellung der sadistischen Gewalt ist zunächst diesem Inszenierungskonzept geschuldet. Denn dieses Leiden will ganz und gar körperlich erfasst sein. Der Film stellt sich selbst als einen Akt physischer Vergegenwärtigung dar. Dass die Figur, deren sadistischer Folterung wir zusehen, den gleichen physikalischen Gesetzen untersteht, der auch unser Körper unterworfen ist, ist die grundlegende Bedingung dafür. Der Film sucht die Grenze des Ästhetischen auf eine religiöse Erfahrung hin zu überschreiten. Die sadistischen Visionen, leibhaft geworden im Hören und Sehen der Zuschauer, zielen auf ein durchaus reales Schuldbewusstsein.«265

Noch immer an religiöse Schuldgefühle um das Opfer Christi für die Menschheit gekoppelt, überschreitet Gibsons Film dabei dennoch, ähnlich dem Horrorfilm, Darstellungsgrenzen. Betrachtet man die Folterszenen losgelöst von ihren christlichen Bezügen, stehen sie denen des torture porn an Brutalität in nichts nach. Dieser versuche dabei nicht einmal mehr die gezeigte Folter zu legitimieren, sondern Gewalt werde zum Selbstzweck, so Plumeyer.266 Dies ist ungewöhnlich, da Gewalt normalerweise, nach Hannah Arendt, durch einen in der Zukunft liegenden Zweck gerechtfertigt werden müsse, immer instrumental wirke und niemals legitim werden könne.267 Damit wäre man nun auf der Ebene des reinen Sadismus, der Gewalt um der Gewalt willen, zunächst frei von weiterführenden Funktionen und Zielen, wie auch die hier zu untersuchende gegenwärtige, körperliche (Todes-)Erfahrung selbst, die jedoch nicht als reiner Gewaltgenuss anzusehen ist, wie sich zeigen wird. Der Psychiater Richard von Krafft-Ebing beschreibt 1886 in seiner Psychopathia Sexualis erstmals Sadismus und Masochismus. Er erkennt für den Sadismus einen engen Zusammenhang zwischen Liebe und Zorn – beide würden anstreben, sich eines 262 Vgl. Plumeyer, Florian: Sadismus und Ästhetisierung. Folter als kultureller Exzess im Gegenwartskino, Stuttgart: Ibidem Verlag 2011, S.14. Torture porn wird in Kapitel 3.3 eingehender diskutiert. 263 Vgl. Edelstein, David: Now Playing at Your Local Multiplex: Torture Porn. Why has America gone nuts for blood, guts, and sadism?, in: New York Magazine (2006) http://nymag.com/movies/features/15622/(Abgerufen 14.01.2019). 264 Plumeyer, Florian: Sadismus und Ästhetisierung, S. 11. 265 Kappelhoff, Hermann: Realismus, S. 155. 266 Vgl. Plumeyer, Florian: Sadismus und Ästhetisierung, S. 12f. 267 Vgl. Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, München: Piper Verlag 2013 [On violence. 1970], S. 52f.

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anderen Menschen zu bemächtigen, den Erregungszustand zu entladen268 und »auf das Individuum, von dem der Reiz ausgeht, eine möglichst starke Wirkung auszuüben. Das stärkste Mittel dazu ist [...] die Zufügung von Schmerz.«269 Im Zuge der gesunden Sexualität erobere der aktive Mann die passive Frau, im pathologischen Fall könne dies aber bis zur totalen Unterwerfung, Vernichtung und Tötung anwachsen.270 Auch Sigmund Freud sieht eine gewisse männliche Aggression im Zuge der Werbung um eine Frau als biologisch nachvollziehbar an, um deren Widerstand zu brechen: »Der Sadismus entspräche dann einer selbständig gewordenen, übertriebenen, durch Verschiebung an die Hauptstelle gerückten aggressiven Komponente des Sexualtriebes.«271 Die Wurzeln des Sadismus liegen für Freud in einer frühkindlichen, präphallischen Entwicklungsphase: »Durch das Studium der neurotischen Störungen haben wir gemerkt, daß sich im kindlichen Sexualleben von allem Anfang an Ansätze zu einer Organisation der sexuellen Triebkomponenten erkennen lassen. In einer ersten, sehr frühen Phase steht die Oralerotik im Vordergrunde; eine zweite dieser ›prägenitalen‹ Organisationen wird durch die Vorherrschaft des Sadismus und der Analerotik charakterisiert, erst in einer dritten Phase (die sich beim Kind nur bis zum Primat des Phallus entwickelt) wird das Sexualleben durch den Anteil der eigentlichen Genitalzonen mitbestimmt.«272

In Jenseits des Lustprinzips unterscheidet Freud gegeneinander agierende Lebens- und Todestriebe. Während erstere den Sexualtrieben entsprächen,273 würden letztere den Rückgang in einen anorganischen, unbelebten Zustand anstreben.274 Durch eine mangelnde Triebverschmelzung in der genitalen Phase, könne sich Sadismus, statt in den Dienst der Sexualfunktion zu treten, abtrennen und als etwas Destruktives verselbstständigen.275 Der Ursprung des Sadismus läge damit in einer prägenitalen Phase, in der wir – für die somatische Erfahrung filmischer Tötungen interessant – ›ganz Körper sind‹, noch nicht in individuelle Geschlechter unterteilte Subjekte im Sinne Lacans, wie hier noch ausgeführt wird. Die psychoanalytisch-poststrukturalistisch geprägte Filmtheorie konzentriert sich dagegen auf Geschlechterdifferenzen und Machtverhältnisse durch Blicke und klammert damit eine körperliche Ebene des Sadismus im Kino aus. Laura Mulvey, so soll in aller Kürze angeschnitten werden, setzt in ihrem berühmten Text Visual Pleasure and Narrative Cinema von 1975 filmischen Voyeurismus 268 Vgl. Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia Sexualis, Boston: Adamant Media Cooperation 2005 [1886], S.58f. 269 Ebd., S. 59. 270 Vgl. Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia Sexualis, S. 59f. 271 Vgl. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), http://www.psychanalyse.lu/Freud/FreudDreiAbhandlungen.pdf (22.01.2019), S. 20. 272 Ebd., S. 67. 273 Vgl. Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips. Beihefte der internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. II, Leipzig/Wien/Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag GmbH 1920, S. 52. 274 Vgl. ebd., S. 36. 275 Vgl. ebd., S. 52/53.

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und Sadismus miteinander in Verbindung: Das männliche Publikum blicke aus dem abgedunkelten Kinosaal auf die hell erleuchtete Leinwand und dringe damit augenscheinlich in die Privatsphäre der präsentierten weiblichen Figuren ein – zunächst mit der Freude am Sehen selbst, Skopophilie.276 Dies bestätigt auch Christian Metz, der die Kinosituation mit einem Blick durch ein Schlüsselloch vergleicht.277 Damit dieses Kinovergnügen nicht beeinträchtigt bzw. die Kamera nicht als bevormundende, Macht mindernde, Instanz wahrgenommen wird, würden Kamera-, Figuren- und Zuschauerblick, im Sinne der Suture-Theorie, etwa durch Schuss-Gegenschuss, geschickt miteinander verwoben278 und der Zuschauer so mit dem Film ›vernäht‹. Indem der männliche Blick sich nun mit dem des Protagonisten identifiziere, werde der Zuschauer von seiner außenstehenden Position in den Film integriert. Die Kamera werde dadurch verschleiert und wie das Kind im Spiegel, das sich als ideal verkennt, werde man ›getäuscht‹.279 Während das männliche Publikum sich mit dem aktiven Helden gleichsetze, bleibe dem weiblichen nur die Identifikation mit der passiven Opferrolle. Alternativ, so Mulvey in ihren Afterthoughts on ›Visual Pleasure and Narrative Cinema‹, könne der weibliche Zuschauer sich nur durch »trans-sex identification«280 ebenfalls mit dem männlichen Leinwandhelden identifizieren. Dem weiblichen Publikum würde nach dieser Theorie, im Aufzwingen eines männlichen Blickwinkels und in Aberkennung eines weiblichen, indirekt Gewalt angetan.281 Der Genuss des männlichen Publikums 276 Vgl. Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, S. 835f. 277 Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant, S. 60. 278 Die Suture ist die Vernähung des Publikums mit dem Film. Vgl. dazu bspw. Heath, Stephen: »Notes on Suture«, in: Screen. Vol 18. Nr.4 (1977/78), S.48-79; Silverman, Kaja: The Subject of Semiotics, New York: Oxford University Press 1989; Dayan, Daniel: »The Tutor-Code of Classical Cinema«, in: Film Quarterly, Vol. 28, Nr. 1 (1974), S. 22-31. Dies geschieht, indem die verschiedenen Fragmente – also Kameraperspektiven – vom Publikum geistig zu einem homogenen Raum zusammengefasst werden. Auf eine Einstellung, einen Schuss, folgt ein Gegenschuss, der beispielsweise zeigt, dass es augenscheinlich der Protagonist war, der auf ein bestimmtes Ereignis blickte, nicht etwa die Kamera. Der begrenzte Kamerablick und die Kamera selbst werden dadurch, typisch für das klassische Hollywoodkino, verschleiert. Der Anschein entsteht, es handle sich um eine reale, in sich geschlossene Welt. »Wenn die zweite Einstellung an die Stelle der ersten tritt«, so auch Slavoy Žižek, »wird der Abwesende von der Ebene der Aussage auf die Ebene der diegetischen Funktion transferiert.« Žižek, Slavoj: Die Furcht vor echten Tränen. Krzysztof Kieslowski und die ›Nahtstelle‹, Berlin: Volk und Welt Verlag 2001, S. 13. 279 Vgl. Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, S. 836ff. 280 Mulvey, Laura: »Afterthoughts on ›Visual Pleasure and Narrative Cinema‹ inspired by Duel in the Sun«, in: Kaplan, E. Ann. (Hg.), Psychoanalysis and Cinema, London/New York: Routledge 1990, S. 24-35, hier S. 28. 281 Dieser dominierende männliche Blick gegenüber der Frau sei nicht erst im Kino entstanden, so Madeline Harrison Caviness in Visualizing Women in the Middle Ages: »[...] a long cultural tradition has denied women the right to stare, and even denied that women were right to look, precisely because staring is understood as dominating behavior; in other words the proscription performed the ideological work of gender construction. It was reinforced through the Bible, through medieval writings and images, through the versions of

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im aktiven Anblicken der passiven Frau auf der Leinwand sei stets gefährdet durch die von ihr ausgelöste Kastrationsangst.282 Die unheimliche Bedrohung durch die Frau überwinde das männliche Publikum für gewöhnlich – auch im Wechsel – entweder durch eine voyeuristisch-sadistische Entmystifizierung der Frau, die diese (sadistisch) in Besitz nehmen, erniedrigen und bestrafen wolle, oder aber eine (masochistische) Fetischisierung, wie sie häufig mit weiblichen Stars geschehe:283 »[…] voyeurism […] has associations with sadism: pleasure lies in ascertaining guilt (immediatelly associated with castration), asserting control, and subjecting the guilty person through punishment or forgiveness. This sadistic side fits well with narrative. Sadism demands a story, depends on making something happen, forcing a change in another person, a battle of will and strength, victory/defeat, all occuring in a linear time with a beginning and an end. Fetishistic scopophilia, on the other hand, can exist outside linear time as the erotic instinct is focused on the look alone.«284

Das Fetischobjekt, so Deleuze nach Freud,285 ersetze den Mangel der Frau, den fehlenden Phallus.286 Von der Frau als Fetischobjekt, so Mulvey, gehe keine Gefahr mehr aus, da sie ebenfalls zu etwas rein Bildlichem, einem ›perfekten Produkt‹ werde.287 Die Frau solle auf der Leinwand angeblickt werden, aber niemals selbst zur Trägerin des Blicks werden:288

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Freud’s theories that found acceptance in early twentieth century Vienna, and through the modernist films from which Laura Mulvey and others have evolved their theories of the gaze.« Caviness, Madeline Harrison: Visualizing Women in the Middle Ages: Sight, Spectacle, and Scopic Economy, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2001, S. 19. Vgl. Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, S. 840. Die Kastrationsangst ist gemäß Freud auf die Penislosigkeit der Frau zurückzuführen, die der Knabe im Zuge des Ödipuskomplexes als vom Vater kastriert interpretiere und somit das gleiche Schicksal befürchte. Vgl. Freud, Sigmund: Der Untergang des Ödipuskomplexes (1924) [= Sigmund Freud. Gesammelte Werke 1893-1939, Erstveröffentlichung: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. 10, Nr. 3 (1924), S. 245-252], http://www.textlog.de/freudpsychoanalyse-untergang-oedipuskomplex.html (Abgerufen 22.01.19). Vgl. Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, S. 840. Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, S. 840. Vgl. Freud, Sigmund: »Fetischismus«, in: Almanach der Psychoanalyse, Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1927, S. 17-24. Deleuze, Gilles: »Coldness and Cruelty«, in: Deleuze, Gilles/Sacher-Masoch Leopold, Masochism: Coldness and Cruelty & Venus in Furs, New York: Zone Books 1989 [Le Froid et le Cruel, 1967], S. 31. Für gewöhnlich handle es sich um das letzte Objekt, das der Knabe vor der Entdeckung der Penislosigkeit der Frau gesehen hat, eher ein eingefrorenes Bild, als ein Symbol – etwas Unbewegtes, zu dem man in der Bewegung, die unheilsame Entdeckungen ausmachen, zurückkehren könne. Vgl. Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, S. 841. Vgl. ebd., S. 834.

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»In a world ordered by sexual imbalance, pleasure in looking has been split between active/male and passive/female. The determining male gaze projects its phantasy on the female figure which is styled accordingly. In their traditional exhibitionist role women are simultaneosly looked at and displayed, with their appearance coded for strong visual and erotic impact so that they can be said to connote to-be-looked-at-ness. Women displayed as sexual object is the leit-motif of erotic spectacle: from pin-ups to strip-tease, from Ziegfeld to Busby Berkely, she holds the look, plays to and signifies male desire.«289

Ein möglicher Sadismus des weiblichen Publikums wird damit im Grunde von vornherein ausgeschlossen – die Erfahrung filmischer Tötungen lässt sich auf diese Weise nicht geschlechterübergreifend untersuchen – der Fokus liegt stets auf dem männlichen Blick. Der Körper in der psychoanalytisch-poststrukturalistischen Filmtheorie unterliegt entsprechend einer stark geschlechterkonzentrierten, wie auch zeitlichen Struktur – dem Weg der Subjektwerdung vom Kind zum ›fertigen‹ Erwachsenen innerhalb der symbolischen Ordnung, bzw. als Filmzuschauer in frühkindliche Phasen zurück290 – und wird damit nur sehr theoretisch erfasst. Die Zuschauer werden nicht als gegenwärtig empfindsame, ganzkörperliche Rezipienten aufgefasst, sondern auf eher passive Blicke reduziert, über sie definiert und damit gewissermaßen entmündigt. Die Filmwissenschaftlerin Jenny Chamarette beschreibt demgemäß in Phenomenology and the Future of Film: »In privileging the unconscious, the gaze, performance, signification and desire, psychoanalytic film theory posits subjectivity with relation to the cinema in a somewhat sedimented hierarchy of self and other [...] psychoanalysis has developed from a reliance upon temporal linearity in the development of the self: from the helpless infant to the mature adult. Such a dependence upon the infant body, rather than on the habitual body, all to often invokes a disconnect between the lived body of the psychoanalytic theorist, and the conceptual body through which this theory constructs its analysis.«291

Wie könnte man nun den Körper in eine Theorie zum Kinosadismus einbringen? Wo liegt die körperliche Ebene im sadistischen Beiwohnen filmischer Tötungen? Ein erneuter Ansatz im Vorsymbolischen, Prägenitalen, scheint hilfreich: Bei Lacan gibt es bereits das Konzept einer vorsymbolischen, paradiesischen Mutter-Kind-Einheit, einer reinen jouissance, die das sprechende Subjekt jedoch nach dem Eintritt in die symbolische Ordnung nie mehr erreichen kann.292 Jouissance ist damit der Sprache 289 Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, S. 836. 290 »In der Regressionshypothese schimmert ein bewährter Topos der bürgerlichen Kritik am Kino durch: Der Vorwurf der Infantilität des Mediums, d.h. der Infantilisierung des Publikums durchs Medium.« Hediger, Vinzenz: »Des einen Fetisch ist des andern Cue. Kognitive und psychoanalytische Filmtheorie. Lehren aus einem verpassten Rendezvous«, in: Wulff, Hans-Jürgen Wulff/Sellmer, Jan (Hg.), Nach der kognitiven Wende?, Marburg: Schüren Verlag 2002, S.41-58, hier S. 46. 291 Chamarette, Jenny: Phenomenology and the Future of Film. Rethinking Subjectivity beyond French Cinema, Hampshire/New York: Palgrave Macmillan 2012, S.43. 292 »Die Vorstellung einer unbegrenzten jouissance [...]«, so Tim Caspar Boehme in Ethik und Genießen, entspreche »der Inzestphantasie der sexuellen Vereinigung mit der Mutter, die

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vorangestellt bzw. entgegengesetzt, etwas sehr Körperliches.293 Sie bedeutet nichts, dient keinem Zweck und findet sich entsprechend bei Lacan im schwer zu fassenden Realen. Bruce Fink führt in Das Lacansche Subjekt aus: »Das Reale ist zum Beispiel der Körper eines kleinen Kindes, ›bevor‹ die symbolische Ordnung es in seine Gewalt bekommt, bevor es der Sauberkeitserziehung ausgesetzt und über die Dinge des Lebens unterrichtet wird. Im Verlauf der Sozialisation wird der Körper zunehmend durch Signifikanten geschrieben oder überschrieben; Lust wird in bestimmten Zonen lokalisiert, während andere Zonen durch das Wort neutralisiert und zur Zustimmung zu sozialen und Verhaltensnormen gedrängt werden. Indem wir Freuds Vorstellung der polymorphen Perversion auf die Spitze treiben, können wir den Körper des Kindes als eine einzige ununterbrochene erogene Zone betrachten, in der es keine privilegierten Zonen gibt, keine Stellen, auf die die Lust von vornherein begrenzt ist.«294

Alain Juranville argumentiert in Lacan und die Philosophie ähnlich: »Das Genießen ist Körper durch und durch [...]«295 Tim Caspar Boehme erläutert in Ethik und Genießen: »Die Inzestphantasie selbst hat zwar einen imaginären Status, doch ihr Objekt ist der Körper. Jouissance als eine Qualität des Körpers kann nun insofern Unbegrenztheit für sich beanspruchen, als der genießende Körper nicht von Sprache begrenzt wird [...] Lacans Antwort auf die Frage, warum die vorsprachliche jouissance unbegrenzt ist, scheint demnach zu lauten, daß der Körper, definiert als genießende Substanz, nicht anders gedacht oder erfahren werden kann als etwas, das genießt, und daß diese jouissance nur durch die Kastration begrenzt wird. Ohne Sprache beziehungsweise symbolische Ordnung scheint es für den Körper kein Hindernis zu geben, das ihn in seiner Eigenschaft als genießende Substanz beeinträchtigen könnte. Die Unbegrenztheit der jouissance scheint daher für Lacan nahezu synonym mit reiner, das heißt unkastrierter Körperlichkeit.296

Der Eintritt des Kindes in die symbolische Ordnung im Zuge des Spiegelstadiums stelle damit immer eine Kastration dar, einen Verzicht auf einen Teil der jouissance,

293

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in der ursprünglichen Mutter-Kind-Einheit angelegt zu sein scheint. Diese inzestuöse Beziehung wird verhindert durch die Intervention des Signifikanten, dem in dieser Konstellation der Vater entspricht.« Boehme, Tim Caspar: Ethik und Genießen. Kant und Lacan, Wien: Tutoria + Kant Verlag 2005, S. 91. Dementgegen sehe Merleau-Ponty Sprache als eine Fortsetzung unserer leiblichen Verortung in der Welt und deren Wahrnehmung, keinen Gegensatz dazu, so Thomas Morsch. Vgl. Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 169. Fink, Bruce: Das Lacansche Subjekt. Zwischen Sprache und Jouissance, Wien: Tutoria + Kant Verlag 2006 [The Lacanian Subject. Between Language and Jouissance. 1995], S. 46. Juranville, Alain: Lacan und die Philosophie, München: Klaus Boer Verlag 1990 [Lacan et la philosophie. 1984], S. 286. Boehme, Tim Caspar: Ethik und Genießen, S. 94/95.

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für Männer wie Frauen, so Bruce Fink.297 Entsprechend leidvoll, so der Psychoanalytiker Peter Widmer, sei diese Trennung von der Mutter für das Kind, da sie es an den Tod gemahne.298 Ekaterina Vassilieva-Ostrovskaja macht in Childhood, Violence and death in the Cinema statt einer Kastration gar eine Tötung, einen symbolischen Mord aus, der dem Kind widerfahre.299 Wo liegt der Zusammenhang zwischen diesem vorsymbolischen Körper der jouissance und (Kino-)Sadismus? Das Begehren bei Lacan wird in der Folge immer durch die symbolische Ordnung limitiert.300 Es strebt zwar auf das (körperliche) Genießen, jouissance, hin, wird jedoch nie die Gesetze und Normen der symbolischen Ordnung überschreiten.301 Jouissance dagegen, so führt der Soziologe Andreas Reckwitz aus, ist ein: »[...] Mehr an Lust, das mit Schmerz verbunden ist und das Lacan als ein transgressives Genießen umschreibt. Im Unterschied zum bloßen Lustempfinden [...], welches sich das Subjekt durch sein im Rahmen der symbolischen Ordnungen gelenktes Begehren verspricht und das daher immer moderiert bleibt, ist der starke Affekt der ›jouissance‹ nur im Überschreiten der symbolischimaginären Ordnungen, somit in den unerlaubten Symptomen des Realen zu haben.«302

Das Subjekt werde demnach durch den Signifikanten konstituiert, es sei ihm unterworfen, so Juranville.303 Jouissance dagegen ist nicht verbalisierbar, da sie nicht der symbolischen Ordnung angehört. Außerhalb des semiotisch Erfassbaren ist auch der Tod als unergründliches Phänomen verortet. Jouissance beinhalte entsprechend die 297 »Kastration hat mit der Tatsache zu tun, dass wir an einem bestimmten Punkt auf einen Teil unserer jouissance verzichten müssen. Die direkte Folgerung daraus ist, dass Lacans Begriff der Kastration sich im Wesentlichen auf den Verzicht auf jouissance und nicht auf den Penis konzentriert und dass er sowohl auf Männer als auch auf Frauen zutrifft, insofern sie einen Teil ihrer jouissance ›entfremden‹ (im marxistischen Sinne des Wortes).« Fink, Bruce: Das Lacansche Subjekt, S. 132. 298 »Der Eintritt in die Sprache ist mit Leiden verbunden [...] Das Kind wendet sich demonstrativ von den anderen ab und pocht auf Autonomie, andererseits verzweifelt es am Alleinsein, das an den Tod gemahnt. Dadurch, daß es sich als getrennt von den anderen wahrnimmt, erfährt es sich als sterblich für die andern. So wie die andern für es, könnte es selber für die andern nicht mehr da sein.« Widmer, Peter: Subversion des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk, Wien: Turia und Kant Verlag 2007 [1997], S. 35. 299 Vassilieva-Ostrovskaja, Ekaterina: Childhood, Violence and death in the Cinema: Brezhnevism as Aesthetics, Tallinn : Estonian Academy of Arts 2008, S. 315-329, hier S. 315. http://www.eki.ee/km/place/pdf/kp6_22_vassilieva.pdf (Abgerufen: 22.01.19). 300 »Der Vater, der Name-des-Vaters, stützt die Struktur des Begehrens mit der des Gesetzes [...]« Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 41. 301 In Anlehnung an das Lustprinzip Sigmund Freuds stellt Lacan fest: »Lust, das ist, wodurch die menschliche Skala in ihrer Reichweite limitiert ist – das Lustprinzip ist Prinzip der Homöostase. Das Begehren dagegen ist das Eingezirkelte, das sein festes Verhältnis findet, seine Grenze, und sich in der Beziehung auf diese Grenze behauptet als Begehren, im Übertreten der Schwelle, die das Lustprinzip setzt.« Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 37. 302 Reckwitz, Andreas: Subjekt, Bielefeld: transcript Verlag 2008, S. 66. 303 Juranville, Alain: Lacan und die Philosophie, S. 64.

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Akzeptanz des Todes,304 einen aggressiven Trieb,305 so Lacan, ähnlich dem Todestrieb bei Freud. Das einfache Lustempfinden wäre dann gut, jouissance aber böse.306 Das Transgressive der jouissance kann als ein Streben auf den Tod hin verstanden werden, der im Leben (wie auch im Film), nie restlos erreicht werden kann, denn, so Boehme, jouissance ist »[...] letztlich dem toten Subjekt vorbehalten: ›Der Genuß, nach dem alles Lebende strebt, ist der Tod.‹ Sein Begehren realisiert zu haben, kann laut Lacan nur heißen, es ›am Ende realisiert zu haben‹, was ein ›Übergreifen des Todes auf das Leben‹ bedeutet.«307 Innerhalb der symbolischen Ordnung, den Reglementierungen der Gesellschaft, kann jouissance nur »zwischen den Zeilen« existieren, so Boehme, sie ist »von der sprachlichen Ordnung abhängig [...], sofern sie nur da möglich ist, wo die Sprache ihr, um in Lacans Bild zu bleiben, Raum läßt. Da die sprachliche Ordnung alle Bereiche des menschlichen Lebens umfaßt, gibt es keine sprachfreien Orte für die jouissance, sondern nur Zwischenräume innerhalb dieser Ordnung [...]308 Auch wenn Lacan den Körper so nur sehr theoretisch, aus der Perspektive der Sprache erfasst,309 kann das Streben nach jouissance als das nach ungehinderter Körperlichkeit, starken Affekten, verstanden werden, was jedoch als etwas Destruktives, Regelverletzendes, eben auch dem (gewaltsamen) Tod gefährlich nah kommt: Das sadistische Begehren, so der Psychologe Christoph Braun, beschreibe gemäß Lacan eine Teilung eines Opfers in ein Subjekt und das Leiden eines Körpers: »Die die perverse Überschreitung kennzeichnende Gewalt ist nötig, um aus der in die symbolische Ordnung eingewobenen Existenz das Reale herauszupressen. Während der Masochist sich diese Gewalt selbst zufügt und daraus Lust zieht, wird im Sadismus der Schmerz zu existieren auf den anderen am Platz des Subjekts verworfen [...] Entsprechend gilt das sadistische Begehren diesem Schmerz als Manifestation des Realen.«310 Körperlichem Genuss auf Kosten anderer kommt bereits beim Namensgeber des Sadismus, dem Marquis de Sade, eine entscheidende Bedeutung zu, so Lindsay Anne Hallam in Screening the Marquis de Sade: 304 Lacan, Jacques: The Ethics of Psychoanalysis, S. 189. 305 Lacan, Jacques: The Ethics of Psychoanalysis, S. 209. In den Vier Grundbegriffen der Psychoanalyse erläutert Lacan: »[...] der Weg des Triebs ist die einzige Form, in der dem Subjekt ein Überschreiten in Bezug auf das Lustprinzip gestattet ist.« Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 192. 306 Lacan, Jacques: The Ethics of Psychoanalysis, S. 184ff. 307 Boehme, Tim Caspar: Ethik und Genießen, S. 90. 308 Ebd., S. 85. 309 Dasselbe gilt für Julia Kristeva, die mit dem (weiblichen) Semiotischen eine weitere Ebene des Vorsprachlichen vor Lacans (männlichem) Symbolischen ausmacht. Vgl. o. A.: Fortsetzung Julia Kristeva, http://www.philosophinnen.de/kristeva.html (Abgerufen 23.01.2019). Hierbei geht Kristeva ebenfalls von der Sprache aus, um auf einen eher theoretischen Körper zurück zu gehen, was diesen abstrahiert. Dies, so auch Thomas Morsch, diene hauptsächlich einer Abgrenzung zum Sprachlichen. Der Körper stehe hier für einen Verlust an Identität, Distanz etc., nicht für einen Gewinn an Körperlichkeit. Vgl. Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 39ff. 310 Braun, Christoph: Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin: Parados Verlag 2007, S. 185.

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»The body is the central notion in Sade’s philosophy, as it is the thing through which his ideas are expressed. In fact, in Sade’s thought there can be no ideas without the body. Sade’s basic principle is that we are all isolated beings, that our bodies are all that we have. Therefore we need strive only to fullfill our own bodily needs and desires, no matter the cost or imposition on others. Thus, he devotes no thought to the relationship between the body and the society at large; for him, only the selfish pursuit of pleasure is important.«311

Wolfgang Sofsky beschreibt dementsprechend den wahren Fall des Serienmörders Gilles de Rais, der gemeinsam mit Komplizen und Bediensteten unzählige Kinder entführte und tötete und 1440 vor dem Inquisitionsgericht ein umfassendes Geständnis über seine Taten ablegte: »[E]ntweder trennten sie den Kopf vom Leib mit langen oder kurzen Dolchen und mit Messern, oder sie schlugen gewaltsam mit einem Stock oder anderen quetschenden Gegenständen auf den Kopf, oder sie hingen sie an einer Stange oder an einen Haken in seinem Zimmer auf und strangulierten sie; und während sie starben, beging er an ihnen das sodomitische Laster [...] Die toten Kinder beschlief er, und welche die schönsten Köpfe und die schönsten Gliedmaßen hatten, ließ er zur Schau stellen und ihren Leichnam grausig öffnen, wobei er sich am Anblick ihrer inneren Organe delektierte; und sehr oft, wenn besagte Kinder starben, setzte er sich auf ihren Bauch und fand Vergnügen daran, sie so sterben zu sehen [...]«312

Dies lässt de Rais wie einen Sade’schen Libertin erscheinen, der sich, so Hallam, durch die völlige Abwesenheit von Mitgefühl auszeichne. Apathisch gegen das Leid seiner Opfer zähle nur sein eigenes (körperliches) Vergnügen und da er im Grunde nichts empfinde, läge dieses Vergnügen im Wissen ein Tabu zu überschreiten und etwas zutiefst Böses zu tun ohne eine wie auch immer geartete Reue zu verspüren.313 Während de Rais seine Taten genoss, dürfte es für die meisten Menschen unerträglich sein, die obigen Zeilen zu lesen. Selbst noch im Film möchte man meist Unschuldige nicht leiden sehen. Kann man jedoch, wie de Rais, sein Mitgefühl und seine Moral ausblenden, lässt sich hier nicht nur eine Überschreitung gesellschaftlicher Tabus, sondern auch die von Körpergrenzen ausmachen. Es handelt sich um eine Lust an Körpern – nicht nur am Sehen, sondern am Zerlegen, Fühlen, Riechen und damit besser verstehen, wie schon für den Zombiefilm in Kapitel 2.1.2 angesprochen wurde. Dies ermöglicht damit auch eine, wenn auch perverse, Nähe zum Tod (des anderen). Sade habe seine Gewaltfantasien, so Hallam, allerdings vorwiegend fiktional, in textueller Form, ausgelebt.314 Die besondere Freiheit des Sadismus ist damit häufig einerseits direkt an körperliche, andererseits an fiktionale Erfahrungen gebunden, wie sie in dieser Arbeit im Vordergrund stehen. Melanie Ulz erkennt passend hierzu in Pain and Pleasure:

311 Hallam, Lindsay Anne: Screening the Marquis de Sade. Pleasure, Pain and the Transgressive Body in Film, Jefferson, N.C.: McFarland & Company 2012, S. 5. 312 Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, S. 45. 313 Vgl. Hallam, Lindsay Anne: Screening the Marquis de Sade, S. 7. 314 Vgl. Ebd.

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»[D]as inflationäre Aufkommen von Gewalt und Folter im Kontext von pornografischer Literatur im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert [ging] mit der zunehmenden Nichtakzeptanz von Schmerz einher[...] In der Medizin kamen erste Anästhetika zum Einsatz, Krankheiten wurden heilbar, Seuchen wie die Pest rückten in ferne Länder; insgesamt wurden Schmerz und Leid nicht mehr als unabwendbar angesehen. Weil Schmerzen nicht mehr als quasi naturgegeben empfunden wurden, sondern nun als abwendbar galten, fand eine Umdeutung statt, die den Schmerz in die Nähe des Obszönen rückte, ihn zunehmend tabuisierte und dadurch für die Pornografie interessant werden ließ.«315

Das Erzeugen, Erdulden – oder zumindest Beiwohnen – der intensiven Körpererfahrung von Schmerz bis zum Tod unterläuft damit die Gesetze und Tabus der symbolischen Ordnung. Großer Schmerz ist aber auch etwas zutiefst Körperliches, weil er sich dem ›Sagbaren‹ entzieht, einem anderen nicht mitgeteilt oder zugänglich gemacht werden kann. Wenn der Tod, oder hier der im Schmerz fühlbare Körper, aus der Gesellschaft verschwinden, so hat sich bereits in Kapitel 2 angekündigt, tauchen sie an anderer Stelle wieder auf. Dies scheint sich auch für den Film zu bewahrheiten. Der Folterer im torture porn, so Florian Plumeyer, versuche sich den Körper des Opfers ebenfalls anzueignen. Dieses sei ihm hilflos ausgeliefert. Die Macht zeige sich im gewaltsamen Öffnen des Körpers.316 Das sadistische Begehren des Publikums angesichts filmischer Tötungen ist augenscheinlich ebenso auf diese Erfüllung ausgerichtet, eine Kontrolle und einen Genuss des Figurenkörpers, was im Grunde unerfüllt bleiben muss. Metz dazu: »Im Kino ist [alles] nur in effegie vorhanden, von vornherein unerreichbar, an einem grundlegend anderen Ort, unendlich begehrenswert (nie besitzbar), auf einem anderen Schauplatz, dem Schauplatz der Abwesenheit, die aber das Abwesende bis ins Detail veranschaulicht und es dadurch, jedoch über andere Wege, anwesend werden läßt.«317 Immer ausgeprägtere Gewalt bis zum Tod des Opfers auszuleben oder auch als Publikum scheinbar gegenwärtig und unmittelbar mitzuerleben ist damit immer auch ein Versuch, den anderen, wie den eigenen Körper, gegenwärtig und unmittelbar zu erfahren.318 Das Beispiel von Mel Gibsons THE PASSION OF THE CHRIST hat bereits gezeigt, wie ein Übermaß an Blut und Leid den abwesenden Figurenkörper in eine (im Zuschauerkörper) fühlbare Anwesenheit wandeln kann, also eine mehrfache Grenzüberschreitung – von Gewalttabus, Körpergrenzen und der von Leinwand- und Zuschauerwelt – bedeutet. Während einer Folterung, so Gabriele Schwab, bestehe ein »moralisches Vakuum«319, in dem der Täter sein Opfer nicht zwangsläufig töte, sondern durch dessen 315 Ulz, Melanie: »Pain and Pleasure. Sexualisierte Gewalt in der britischen Antisklavereidebatte um 1800«, in: Pawlak, Anna/Schankweiler, Kerstin (Hg.), Ästhetik der Gewalt – Gewalt der Ästhetik, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2013, S. 151-163, hier S. 157. 316 Vgl. Plumeyer, Florian: Sadismus und Ästhetisierung, S. 67. 317 Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant, S. 59. 318 Dies wird in Kapitel 3.3.3.2 in Zusammenhang mit dem Actionfilm ausgeführt. 319 Schwab, Gabriele: »Tödliche Intimität. Zur Psychologie der Folter«, in: Görling, Reinhold (Hg.), Die Verletzbarkeit des Menschen. Folter und Politik der Affekte, München: Wilhelm Fink Verlag 2011, S. 63-83, hier S. 68.

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Folter einen »Mord der Seele[, ein] aktive[s] Töten des Selbst«320 erzeuge, wie die Beispiele für Vergewaltigungen als Vorstufen von Tötungen in Kapitel 3.3.4.1 ausführen werden. »In der Regression zur absoluten kindlichen Abhängigkeit«, so Schwab weiter, »findet sich das Opfer mit dem Folterer in einem tödlichen Übergangsraum, in dem die Grenzen zwischen Selbst und Anderem gewaltsam außer Kraft gesetzt werden und Folterer und Gefolterter in eine maligne Symbiose eintreten. Während der Folterer dabei die Teile seines Selbst abspalten muss, die menschliche Werte und Mitgefühl verkörpern, muss er paradoxerweise genügend Empathie bewahren, um sich den Zugang zum intimen Wissen um die Verletzbarkeit des Opfers zu erhalten.«321 Eben dies gilt auch für den Filmzuschauer als Leihkörper, für den die Grenzen zwischen Filmgeschehen und Zuschauerraum angesichts filmischer Folterungen bis zum Tod des Opfers als tödlicher Übergangsraum verschwimmen können, der sich aber von einer (somatischen) Empathie mit dem Opfer auch distanzieren kann. Schwab beschreibt analog zur Zuschauerposition die des Kindes in Freuds Ein Kind wird geschlagen:322 »Die Phantasie des Kindes, das als stummer Zeuge dem Schlagen eines anderen Kindes beiwohnt, enthüllt eine beängstigende Mobilität der Subjektposition: In seiner Vorstellung kann das Kind seine Identifikationsposition vom Kind, das geschlagen wird, zum Vater der schlägt, und schließlich zum Kind, das der Szene angsterfüllt beiwohnt, wechseln. Zeuge zu werden in einer Situation, in der ein Mensch in einer Machtposition einen anderen durch willentliches Zufügen von Schmerz verletzt und damit die Verwundbarkeit von Körper, Geist und Seele demonstriert, löst komplexe Reaktionen und wechselnde Identifikationen aus. Während die Identifikation mit dem Angreifer als defensive Position die eigene Verwundbarkeit abwehrt, kann sie auch mit insgeheimer Lust besetzt werden, so dass Horror und Faszination zusammenfallen.«323

Über das ausgedehnte Leid des Opfers kommt der Zuschauer demnach dem Tod, etwa im Zuge von sichtbarem Schmerz und Angst eines Todeskampfs, durch somatische Empathie fühlbar nah. In einem Spiel von Nähe und Distanz kann er aber auch, wie der Sadist, (zeitweise) sein Mitgefühl abspalten.324 Wenn man gegenüber Folter und Tötungen im Film Faszination empfindet, muss also schon eine Distanzierung stattgefunden haben. Der Genuss des Sadisten speist sich ebenfalls aus dem Wissen um das Leiden seines Opfers. Nur weil er dessen Schmerz versteht, selbst einen verletzlichen Körper hat, wird die Folter für ihn zu etwas Erhebendem: Er zwingt durch Gewalt bis zum Tod alles spürbare Leben aus seinem Opfer heraus. Andernfalls wäre die Distanz zu groß, wie taub blieben sowohl der Sadist als auch der Zuschauer allem äußerlich, wie in Kapitel 3.1.5 für den ›toten Film‹ beschrieben wurde, der als ästhetisch misslungenes Artefakt keine Wirkmächtigkeit besitzt. Die Position des Zuschauers fällt damit nicht eindeutig mit der des Täters oder Opfers zusammen. Die für den Sadismus nötige Distanzierung vom nachvollziehenden 320 Ebd. 321 Schwab, Gabriele: »Tödliche Intimität«, S. 68/69. 322 Freud, Sigmund: »Ein Kind wird geschlagen. Beitrag zur Kenntnis der Entstehung sexueller Perversionen«, in: Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse. Bd. 5 (1919), S. 151-172. 323 Schwab, Gabriele: »Tödliche Intimität«, S. 64. 324 Wie das funktioniert, wird in Kapitel 3.3.2.2 anhand von Ekel und Schock diskutiert.

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Körper zum äußerlichen Blick in der Filmrezeption ist immer auch ein Selbstschutz des Zuschauers und findet meist im Wechsel mit einer größeren Nähe zum Leid des Opfers statt, die Rolle des Zuschauers ist somit komplex. Julia Bee beschreibt diese in Folterszenen und Narration im Film: »[Die] Folter [kann] auf der Handlungsebene delegitimiert oder auf der emotionalen Ebene als schrecklich erlebt werden und dennoch auf der Ebene der Affekte, also jenseits einer kategorisierbaren Zuordnung von Emotionen, als intensiv, spannend und bindend erlebt werden.«325 Dies wird sich etwa für das Filmbeispiel MARTYRS in Kapitel 3.3.2.2 bewahrheiten, in dem man über weite Teile mit dem Opfer leidet, dem Tod nah, und doch am Ende wie die Täter erfahren will, ob die Tortur Erkenntnisse über ein Leben nach dem Tod liefern könnte. Eben weil das Opfer – und man selbst vermeintlich mit ihm – so viel durchlitten hat, dem Tod so nah gekommen ist, hat man sich diese Antwort gewissermaßen verdient. Der Sadist bei Lacan handelt nie schlicht um der Gewalt willen. Er ist dem Willen des Anderen unterworfen, dem »will to jouissance«326, gibt also Verantwortung ab. Ähnlich deckt auch Hannah Arendt die Banalität des Bösen auf, indem sie untersucht wie Täter (im Nationalsozialismus) extreme Gewalttaten und Tötungen wie gewöhnliche Pflichten des Alltags ausführen konnten.327 Das Kant’sche Gesetz, der kategorische Imperativ »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde,«328 wird von Lacan umgedeutet zu: »›I have the right to enjoy your body‹, anyone can say to me, ›and I will exercise this right without any limit to the capriciousness of the exactions I may wish to satiate with your body.‹«329 Jeder hat demnach das Recht uneingeschränkt den Körper des anderen zu genießen. Das Kant’sche Gesetz erscheine damit, so Slavoj Žižek, als sadistisches Über-Ich, der jouissance nachzugeben stimme für Lacan mit der Pflichterfüllung bei Kant überein.330 Als Kinozuschauer befindet man sich in der seltsamen Position, dem Blutvergießen auf der Leinwand überlebensgroß beizuwohnen, ohne eingreifen zu können – oder müssen. Machtgefühle und Grausamkeit des Sadisten, so schon Krafft-Ebing, seien

325 Bee, Julia: »Folterszenen und Narration im Film«, in: Görling, Reinhold (Hg.), Die Verletzbarkeit des Menschen. Folter und die Politik der Affekte, München: Wilhelm Fink Verlag 2011, S. 193-211, hier S. 193. 326 Lacan, Jacques: »Kant with Sade«, S. 774. 327 In dem Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem begründete dieser seine Taten ebenfalls damit, er habe nur Befehle befolgt. Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München/Zürich: Piper Verlag 2011 [1964], S. 94ff. 328 Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten, (= Akademieausgabe von Immanuel Kants gesammelten Werken, Band IV), 1785, S. 421, https://korpora.zim.uni-duisburgessen.de/kant/aa04/421.html (Abgerufen 23.01.2019). 329 Lacan, Jacques: »Kant with Sade«, S. 648. 330 »Lacan's point is that if gratifying sexual passion involves the suspension of even the most elementary ›egotistic‹ interests, if this gratification is clearly located ›beyond the pleasure principle‹, then, in spite of all appearances to the contrary, we are dealing with an ethical act, then his ›passion‹ is stricto sensu ethical.« Žižek, Slavoj: Radical Evil as a Freudian Category. http://www.lacan.com/zizlovevigilantes.html (Abgerufen 23.01.2019).

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häufig an das Bedürfnis gekoppelt, Blut zu vergießen.331 Der Film versetzt den Zuschauer gewissermaßen in die Position des Lacan’schen Anderen für den gefoltert wird, schließlich wird der Film für ihn vorgeführt.332 Der Film(emacher) wäre dann als Folterknecht das Instrument, das für den Zuschauer die Folterung durchführt.333 Er würde somit im Sinne der jouissance seine Pflicht erfüllen und dadurch Verantwortung abgeben, da es der Zuschauer ist, der die Folter sehen will.334 Im selben Zuge ist die Rezeption extrem gewaltsamer filmischer Tötungen aber auch für den Zuschauer eine sehr durchwachsene Lust, die er in der Regel nicht wirklich genießen kann. Damit würde umgekehrt der Film zum Lacan’schen Anderen und wir würden unsere Pflicht erfüllen, indem wir nicht den Kinosaal verlassen, obwohl das Geschehen uns teilweise mitfoltert. Von einem reinen Sadismus kann hier schon nicht mehr die Rede sein. Man nähert sich, im Gegenteil, Masochismus an, auch wenn die beiden Positionen sich nicht ohne weiteres austauschen lassen, wie das folgende Kapitel zeigen wird. Gerade der Film eröffnet damit einen Erfahrungsraum, der von moralischen Vorstellungen und gesellschaftlichen Reglementierungen befreit ist, wenn wir seinem Geschehen auch nicht so apathisch folgen wie ein Sade’scher Libertin sondern häufig genau gegenläufig empfinden.335 Hierin liegt das Potential für einen Genuss am (Zuschauer-)Körper selbst, der im Wechsel von Nähe und Distanz zu anderen Körpern und deren gewaltsamen Tod fühlbar hervortritt als ebenso empfindsam, verletzlich und eben auch sterblich. Diese körperliche Ebene erlaubt einen Zugang zum Figurenkörper auf der Leinwand, der weniger stark an Blicke und Geschlechterdifferenzen gebunden ist als von der psychoanalytischen Filmtheorie postuliert.336 Dies stellt eine Erweiterung zum bereits diskutierten ambivalenten Verhältnis zum für jeden Menschen unumgänglichen Tod dar. Es geht dann – wieder im Umweg über den Körper des anderen – um eine somatische Erfahrung eben des verletzlichen, vergänglichen Körpers aus dem wir selbst bestehen. Anführen lassen sich hier die Schaulust bei Unfällen, die 331 Vgl. Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia Sexualis, S. 71ff. 332 Vom Eintritt in die symbolische Ordnung an nimmt das Subjekt bei Lacan sich von außen, durch den Blick des Anderen, wahr, konstituiert sein Ich durch Außenperspektiven und sucht in seinem Begehren, das nach Lacan immer das Begehren des Anderen ist, dessen Bestätigung und Anerkennung. Vgl. Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 247. 333 Ein sadistischer Folterknecht, so Lacan, werde im extremsten Fall des Sadismus zum reinen Instrument, das sein Handeln dennoch genießt. Vgl. Lacan, Jacques: »Kant with Sade«, in: Ders., Ècrits. The First Complete Edition in English, New York/London: W. W. Norton & Company 2006 [1989], Lacan, Jacques: »Kant with Sade«, in: Ders., Ècrits. The First Complete Edition in English, New York/London: W. W. Norton & Company 2006 [1989], S. 645-669, hier S. 774. 334 Der dabei empfundene Genuss, jouissance, sei, so Slavoj Žižek, immer ein fragwürdiger Genuss, es handle sich um eine schmerzhafte Pflichterfüllung für den Anderen, nie einfache Lust. Vgl. Žižek, Slavoj: Lacan. Eine Einführung, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2008. [How to read Lacan, 2006], S. 107. Der Sadist bei Lacan sehe sich als bloßes »Instrument der höheren historischen Notwendigkeit.« Ebd., S. 139. 335 Dies wird in Kapitel 3.3.4.1 wieder aufgegriffen. 336 Dennoch bleiben Unterschiede der Geschlechter zum Teil auch für einen somatischen Ansatz relevant, wie das Kapitel 3.3.2 ausführen wird.

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Faszination an Autopsien in Fernsehkrimis, detailreiche Leichenbeschreibungen in Kriminalromanen und natürlich der fiktionale Film selbst. Es handelt sich dabei meist weder um einen reinen Sadismus, noch herrscht nur Mitgefühl vor, sondern Mischempfindungen, die eine durchwachsene ›Freude‹ bereiten, eine Anteilnahme am Leid des anderen aber nicht ausschließen, wie bereits Edmund Burke im Zuge seiner Diskussion des Erhabenen erkannt hat: »If [sympathy] was simply painful, we would shun with the greatest care all persons and places that could excite such a passion; as, some who are so far gone in indolence as not to endure any strong impression actually do. But the case is widely different with the greater part of mankind; there is no spectacle we so eagerly pursue, as that of some uncommon and grievous calamity; so that whether the misfortune is before our eyes, or whether they are turned back to it in history, it always touches with delight. This is not an unmixed delight, but blended with no small uneasiness.«337

Das Opfer erlebe bereits den Schmerz der Folterung als Vorahnung des Todes, so Gabriele Schwab.338 Ebenso kann für den Zuschauer die Überfrachtung durch die (Bilder-)Gewalt filmischer Tötungen zu einer Annäherung an eine Todeserfahrung werden. Die Unmittelbarkeit der filmischen Eindrücke, gekoppelt mit erschreckenden Inhalten macht eine solche Grenzüberschreitung möglich. Dies wurde in Kapitel 2.1.2 bereits für den abjekten Kadaver angesprochen, der nicht innerhalb der symbolischen Ordnung über den Tod nachdenken lässt, sondern gleichermaßen aus dem Realen hervorbricht, um den Betrachter eines Bildes oder Zuschauer eines Films identitätsgefährdend zu überwältigen. Solche starken Affekte, die die Unterscheidung von Leinwandgeschehen und Zuschauerraum zeitweise fast unmöglich machen, lassen sich auch für extrem brutale filmische Tötungen ausmachen. Patricia MacCormack erkennt entsprechend: »Images of gore and those that emphasize the (always corporeally) oriented abject force the spectator to make a choice: face the abject and lose the ego or turn away and lose the abject, which is the mortal and visceral inevitability of the flesh that the ego repudiates, the flesh that sickens and kills the ego but where jouissance resides.«339 Das Kino wandelt sich in diesem Fall sozusagen vom Imaginären zum traumatischen Realen, das den sicheren Alltag, die Leinwand wie auch das reine Kinovergnügen des Zuschauers verletzend durchbricht. Anders als bei gewaltsamen Tötungen der Malerei oder Fotografie, wird die Wirkung verdoppelt: Sie entsteht einerseits auf der Bildebene die Schreckliches präsentiert, andererseits durch die Dynamik der lebensnahen, audiovisuellen filmischen Eindrücke selbst. Keine noch so grausame Fotografie, geschweige denn Malerei, könnte denselben überwältigenden Effekt erzeugen. Man erhält hier zwar die körperliche Erfahrung, die man begehrt hat, den Film, den man sich ausgesucht hat, aber in ihrer Unkontrollierbarkeit ist diese 337 Burke, Edmund: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, S. 46. 338 Vgl. Schwab, Gabriele: »Tödliche Intimität«, S. 70. 339 MacCormack, Patricia: »Julia Kristeva«, in: Colman, Felicity (Hg.), Film, Theory and Philosophy. The Key Thinkers, London/New York: Routledge 2014 [2009], S. 276-285, S. 282.

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jouissance ein Genuss und eine Qual zugleich. Linda Williams bemerkt dementsprechend bezüglich der bodygenres Horrorfilm, Melodrama und Porno: »What seems to bracket these particular genres from others in an apparent lack of proper esthetic distance, a sense of over-involvement in sensation and emotion.”340 Eine immer wieder eintretende Distanzierung während der Rezeption ermöglicht nicht nur den sadistischen Blick, sondern bewahrt den Zuschauer auch vor einer völligen Überwältigung durch die filmische Folter, ähnlich einer Tötung. Ein Beispiel für eine solche durchwachsene Filmrezeption bietet Stanley Kubricks A CLOCKWORK ORANGE: Dieser führe nicht nur im Film die Kinosituation selbst vor, sondern wende die typische Kinosituation psychoanalytischer Ausrichtung des Zuschauers im abgedunkelten Saal gegen ihn, so Thomas Elsaesser in Screen Violence.341 Zu einer Vergewaltigungsszene, in der das Geschehen im Bild und die musikalische Begleitung einander zuwiderlaufen bemerkt er: »The scene in which the relaxed identification jack-knifes and freezes the laughter comes when Alex rapes the wife of the writer while doing the song-and-dance routine from Gene Kelly's Singin' in the Rain. The apparently incongruous dis-juncture between action and song, image and sound is pushed to an extreme where an uncanny recognition obtrudes itself on the spectator who suddenly discovers an unexpected congruence. The scene delves deeply into the nature of cinematic participation and the latent aggression which it can mobilize with impunity: what happens is that before one's eyes an act of brutal violence and sadism is fitted over and made to ›rhyme‹ with a musical number connoting a fancy-free assertion of erotic longing and vitalist joie de vivre.«342

Die Szene ist damit einerseits zu realistisch, um erträglich zu sein, andererseits auch sehr filmisch, indem sie auf unschuldige Tanzfilme anspielt und diesen widerspricht. Es entsteht eine Dissonanz, da man unfreiwillig beteiligt wird und dadurch unwillentlich eine groteske Komplizenschaft mit dem Film/der Handlung eingeht. Nah dem schmerzhaften Genuss der jouissance, entzieht sich das erst für den Zuschauer präsentierte Filmgeschehen dessen Kontrolle und die schützende Leinwand wird in der starken Beteiligung ›brüchig‹. Diese somatische Erfahrung als quasi-vorsymbolischer Körper343 ist allem vorangestellt, weil wir solche Dissonanzen spüren, noch ehe weitere unbewusste Ebenen greifen oder wir sie kognitiv verstehen. Dieses Kapitel hat die Blickkonstellationen der psychoanalytischen Filmtheorie vorgeführt und um einen körperlichen Ansatz erweitert. Das männliche Publikum bildet nach psychoanalytisch geprägter Auslegung eine vermeintlich mächtige Instanz, die vom dunklen Kinosaal aus unbemerkt das helle Geschehen auf der Leinwand verfolgt. Laura Mulveys Annahme einer ausschließlich maskulin, wie auch heterosexuell 340 Williams, Linda: »Film Bodies. Gender, Genre, and Excess«, S. 27. 341 Elsaesser, Thomas: Screen Violence: Emotional Structure and Ideological Function in A Clockwork Orange, 1976, S. 8, http://www.thomas-elsaesser.com/images/full_texts/elsaesser-screen%20violence%20a%20clockwork%20orange.pdf (Abgerufen 23.01.2019). 342 Ebd., S. 8/9. 343 Und doch ist es eben ein informierter Körper, ein lived body, der immer schon mit der Lebenswelt des Zuschauers in Kontakt steht, was aus einem reinen Erleben erst eine Erfahrung macht.

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ausgerichteten Kinorezeption, ist in der Folge vielfach widersprochen worden.344 Derart auf Blicke reduziert, erhält der Körper als erfahrende Instanz einer Auseinandersetzung mit dem Töten und Sterben im Film keine Berechtigung. Analog zum bereits beschriebenen Weg durch die Codierungen der Bildmedien hindurch auf den echten Christuskörper zu, der direkt und als echt wahrgenommen wird, muss man nun gewissermaßen den Weg durch die symbolische Ordnung hindurch, hin zu einer ursprünglichen, unstrukturierten, Körpererfahrung gehen. Der Körper bei Lacan lässt sich jedoch nur aus der Perspektive der Sprache im durchscheinenden Realen erahnen, denn für ihn steht selbst das Kind immer schon im Verhältnis zum Symbolischen, noch bevor es in die symbolische Ordnung eintritt und bereits »das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache.«345 Nurmehr in den Freiräumen der symbolischen Ordnung kann dieser Körper ansatzweise erfahren werden, der als phänomenologischer Leib erst den Ausgangspunkt für jeglichen (filmischen) Genuss, für jegliche (ästhetische) Erfahrung, darstellt. Der Körper als zentrales erfahrendes Medium der Filmrezeption ist dagegen weniger zeitlich hierarchisiert, als ein Erfahrungsspeicher, der immerzu, im gegenwärtigen Wahrnehmen zuvor Erlebtes intuitiv einbringt. Insofern haben die bisherigen Kerntheorien – so auch kognitiver Schule, wie das Kapitel 3.2.3 behandeln wird – den echten Körper als Leib verleugnet und als Ausnahmephänomen ins Abseits geschoben, obwohl unsere alltägliche Erfahrung uns eines Besseren belehrt, da wir immerzu ganzkörperlich mit unserer Umgebung interagieren. Wie das Phänomen Tod gemäß Kapitel 2 im Medium selbst verborgen lag – in seiner Indexikalität, die auf vergangenes Leben verweist, der Speicherbarkeit, dem Ablauf der Filmrealität, dem Wendepunkt zwischen Bewegung und Stillstand der Bilder – ist auch die Nähe zum gewaltsamen Tod eng verbunden mit der Technik des Films. Aus den technischen Gegebenheiten des Films, so Karl Ossenagg, würden erst seine ästhetischen Potentiale resultieren: »Der Film selbst ist gewalttätig kraft des inneren Organisationsprinzips, welches ihn technisch und ästhetisch definiert: Das Prinzip der Montage. ›Durch die Montage vermag der Film alles: Zusammenhänge zu zerreißen und Wahrnehmungen zu begründen, Widersprüche zu versöhnen und Konsistentes zu zerschlagen, Harmonien aufzusprengen und Gegensätze aufzuheben‹ [...] Der Film in seiner Wirkästhetik wird also nicht bestimmt durch seine einzelnen Bestandteile, sondern durch die filmästhetische Organisation, die das strukturelle Verhältnis der einzelnen Elemente zueinander festlegt und die dem Film so zu seiner ihm eigenen Sprache verhilft.«346 344 Neben E. Ann Kaplans »Is The Gaze Male?« bspw. in Silverman, Kaja: »Masochism and Male Subjectivity«, in: Penley, Constance/Willis, Sharon (Hg.), Male Trouble, Minneapolis: University of Minnesota Press 1993 [1980], S. 33-66; Lauretis, Teresa de: Alice Doesn’t. Feminism, Semiotics, Cinema, Bloomington: Indiana University Press 1984; Dyer, Richard: »Don’t look now. The instabilities of the male pin-up«, in: Ders., Only Entertainment, London/New York: Routledge 2002 [1982], S. 122-137. 345 Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 26. Das Kapitel 3.3.1 wird sich ausführlicher mit Geschlechterrollen befassen, es diskutiert anhand konkreter Filmbeispiele, wie die somatische Erfahrung im Horrorfilm psychoanalytische Auffassungen unterlaufen könnte. 346 Ossenagg, Karl: »Der wahre Horror liegt im Blick«, S. 55/56.

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Gerade im Filmschnitt und in filmischen Ausschnitten von Körpern liegt damit, wie schon in Kapitel 3.1.1 erwähnt, eine Gewalttätigkeit, indem die Handlung, wie auch Figurenkörper ›zerstückelt‹ werden. Der Körper werde so fragmentiert und Tote mitunter gänzlich aus der filmischen Welt geschnitten, so Karla Oeler.347 Lindsay Anne Hallam erkennt in den Nahsichten auf Körperteile sadistische Gewalt: »The body of the victim [...] is thus fragmented; attention is paid rather to the different parts of the body violated and opened. Just as the close-up dissects and fragments the body, with the frame of the picture cutting out the body around it, so too in Sade there is no focus on the person as a whole.«348 Interessanterweise ist der Fokus auf Ausschnitte von Körpern aber zeitgleich Ausgangspunkt für mitfühlende und masochistische Anteilnahme sowie allgemein eine somatische Beteiligung am Film.349 Der Körper- und Psychotherapeut Uwe Christian Dech dazu: »Es ist diese somatische Empathie, die den Kinogänger auch dazu führt, sich selbst in die Figur eines Helden zu inkorporieren [...] Gerade die Hände einer Figur in Großaufnahme ermöglichen dem Kinogänger, sich für das Handeln einer Figur zu öffnen, weil sich ihm über diese vorbewusste Information das intuitive Verständnis der Geschichte eröffnet. Dabei ist somatische Einfühlung sogar in solche Tätigkeiten möglich, die wir selbst noch nie ausgeführt haben, weil wir über ein großes Repertoire an Eigenerfahrung verfügen.«350

Ebenso verhält es sich, so hat das Kapitel 3.1.4 zur Passion Christi gezeigt, mit der Nahsicht auf Wunden und den sich unter Peitschenschlägen windenen Körper, die einem in den eigenen verwundbaren Körper zu fahren scheinen. Dies zeigt wie ambivalent unser Verhältnis zum filmisch Präsentierten ist, insbesondere gilt das, so wird sich auch in Verbindung mit Masochismus zeigen, für Darstellungen von tödlicher Gewalt. In einer Kinosituation die nicht von Regression und Selbstvergessenheit, sondern unmittelbarer leiblicher Wahrnehmung ausgeht, kann reiner Sadismus durch eine ganzkörperliche Erfahrung ersetzt werden, die vielschichtiger ist als ein Voyeurismus der Filmfiguren objektiviert. Gerade der Film, der in seiner dynamischen, visuellauditiven Eindrücklichkeit – Kamerafahrten, Zooms und Special Effects – die Realität zu überschreiten im Stande ist, stellt das ideale Medium dar, um den Körper in besonderer Weise erfahrbar zu machen. Fiktive Leinwandwelten werden dann nicht nur vorgeführt, wie in statischen Bildern, sondern am und mit dem Zuschauerkörper verlebendigt, gerade in Szenen, die den verwundeten Körper betreffen und sich dem Tod annähern. In der Konfrontation mit dem verletzten Körper in Todesgefahr rückt der

347 Vgl. Oeler, Karla: A Grammar of Murder, S. 36. Vgl. dazu auch Kapitel 3.3.3.1 zu den unsichtbaren Toden der Antagonisten im Actionfilm der 1980er. 348 Hallam, Lindsay Anne: Screening the Marquis de Sade, S. 41/42. 349 Dies haben bereits die Großaufnahmen in Ingmar Bergmans DAS SIEBENTE SIEGEL gezeigt, die nicht nur eine ›Begegnung‹ mit dem Tod an den Gesichtern der Figuren ablesen lassen, sondern den Zuschauer auch durch die gequälte Mimik an ihrem Leid teilhaben lassen. 350 Dech, Uwe Christian: Der Weg in den Film: Stufen und Perspektiven der Illusionsbildung, Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 169.

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universelle, uns allen seit jeher eigene, ›natürliche‹ Körper an sich, seine Verletzlichkeit und Sterblichkeit, in den Vordergrund. Dies lässt sich jedoch nicht als reiner Sadismus oder auch Masochismus auszeichnen, wie das folgende Kapitel weiter ausführen wird. 3.2.2 Masochismus und Opferinszenierung Dieses Kapitel stellt der sadistischen Filmrezeption die masochistische gegenüber. Während beim Sadismus in der psychoanalytisch geprägten Filmtheorie hauptsächlich das Blicken im Vordergrund steht, geht es bei Theorien zu Masochismus meist um die Erwiderung dieses Blicks und die Frau, die nun den Mann unterwirft. Losgelöster von diesen Blickkonstellationen, erlauben Distanz und Nähe zum Geschehen als eher sadistischer Blick im Wechsel mit dem masochistischen Nachvollzug, die Annäherung an eine filmische Todeserfahrung, die einen (wenn auch durchwachsenen) Genuss darstellt. Beide gründen sich auf eine intuitive somatische Empathie mit dem Opfer, der Masochismus eröffnet als distanzlose Überfrachtung durch den Film eine stärkere Nähe zum Tod, kann aber meist nur im Wechsel mit einer Distanzierung ertragen werden. Die Gewalt erfahrende Figur selbst tritt in den Künsten, wie im Film, mal als Märtyrer, mal als Masochist oder auch als unfreiwilliges Opfer auf. Die Empfindungen des Publikums fallen nicht zwangsläufig mit der jeweiligen Position zusammen. In dieser schwankenden Multiperspektivität von Täter, Opfer und Zeugen erhalten wir das von Christiane Voss beschriebene Mehr an Lebendigkeit und Sterblichkeit im Film.351 Gerade die Instabilität der Positionierung, die sich weder als reiner Sadismus noch Masochismus festmachen lässt, noch einer Figur zugehörig bleibt, so wird auch die ›körperlose‹ Kamera in IRRÉVERSIBLE in Kapitel 3.3.4.1 zeigen, birgt vielschichtige Erfahrungsmodi des Leidens und Sterbens im Film. Zunächst befinden wir uns augenscheinlich in einer Sackgasse, bei der wir dem Sadismus nicht entkommen können, da wir als Zuschauer nie selbst von bildlichen oder filmischen Tötungen betroffen sind, sondern nur als deren Zeugen auftreten. Bei der Abbildung eines Körpers lässt sich selbst dann, wenn eine nachfühlende Rezeption erwünscht ist, ein sadistischer Voyeurismus nie ausschließen. Diese Distanzierung im allem äußerlichen Blick führt auch zu einer Entfernung von einer möglichen Todeserfahrung im Nachvollzug des Leidenswegs vom Leben zum Tod. Parallel zu den in Kapitel 3.1.2 angesprochenen Malereien und Lynchfotografien zu Zeiten der Sklaverei, setzten auch die Gegner der Sklaverei, die Abolitionisten, gezielt Bildnisse ein. Afrikanische Sklavinnen seien hier auf eine Weise in Szene gesetzt worden, die Mitgefühl in den Betrachtern wecken sollte – ähnlich der beabsichtigten christlichen compassio – und doch hätten sie zugleich eine Schaulust in den Betrachtern befriedigt, so Melanie Ulz: »Die Strategie der Abolitionisten scheint verständlich im Kontext der Zeit, sah man doch die Abschaffung des Sklavenhandels nur erreichbar, indem man an die empathischen Gefühle des Einzelnen – an die passions – appellierte. Gleichzeitig etablierte die abolitionistische Darstellung von subordinierten, leidenden Sklavinnen und Sklaven [...] eine Bildrhetorik der Hierarchisierung, die Schwarze unterordnete

351 Vgl. Kapitel 3.1.5

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und auf die Rolle des passiven, hilflosen Opfers festlegte.«352 Das Potential für einen faszinierten Sadismus im Betrachter finde sich insbesondere angesichts der bildlichen Auspeitschung der beinahe unbekleideten Sklavinnen: »[...] der (voyeuristische) Blick auf den gequälten Körper sowie auf den Peiniger scheint grundlegender Bestandteil, gleichsam die Bedingung dieses Rituals – unabhängig von seinem Kontext – zu sein. Selbst da, wo sie nur im Bild wiederholt wird, zielt die Flagellation bei den Betrachtenden auf spezifische Formen der Erregung, je nachdem ob diese fasziniert hinsehen oder sich entsetzt abwenden.«353

Die hier ersichtliche Verwandtschaft von bildlicher Gewalt und Pornografie mag nicht überraschen. Susan Sontag erläutert: »It seems that the appetite for pictures showing bodies in pain is as keen, almost, as the desire for ones that show bodies naked. For many centuries, in Christian art, depictions of hell offered both of these elemental satisfactions.«354 Alle Bilder, die die Verletzung eines attraktiven Körpers zeigen, seien auf gewisse Weise pornografisch, doch selbst eigentlich Abstoßendes könne hier ansprechend wirken.355 Wie beim Pornofilm gelte auch die Zurschaustellung von Körpern im Horrorfilm als ›geschmacklos‹, so Steven Shaviro, aber beide würden damit eben genau die gesellschaftlich am wenigsten akzeptierten Begehren ansprechen.356 Florian Plumeyer erkennt für den Splatter- wie auch Pornofilm:357 »[Beide] Genres zielen vor allem darauf, den affektiven Charakter von Körperreaktionen darzustellen bzw. dieselben bei den Zuschauern herbeizuführen. Genauso wie es das zentrale Problem des Pornofilms ist, das ›visuelle Wissen weiblicher Lust darzustellen‹, geht es dem Horror- und Splatterfilm vornehmlich darum, den Schmerz, den die Figuren empfinden, filmisch zu kodieren.«358 Pornografie, so Gertrud Koch, befriedige eine voyeuristische Lust, heimlich und möglichst unerkannt,359 wie es sich an die Thesen Laura Mulveys anschließen lässt. In Netzhautsex – Sehen als Akt führt Koch aus, die häufige Abwertung pornografischer Medien, richte sich immer auch gegen das Somatische der Sexualität selbst. Im »[...] Kino, das zum Lachen, zum Weinen und Schaudern geführt hat, das im Dunkeln und in der Anonymität den Körper des Publikums zu einer anderen Leinwand macht, zu einer Landkarte der somatischen Affekte [habe] die Pornographie, die visuelle Zote, 352 Ulz, Melanie: »Pain and Pleasure«, S. 153. 353 Ebd., S. 152. 354 Sontag, Susan: Regarding the Pain of Others, New York: Picador. Farrar, Straus and Giroux 2003, S. 41. 355 Vgl. ebd., S. 95. 356 Vgl. Shaviro, Steven: The Cinematic Body, S. 100. 357 Denselben Ansatz hat Linda Williams im Zuge der body genres Horror, Porno und Melodram noch weiter vertieft. Dies wird in Kapitel 3.3.2 im Zusammenhang mit dem Slasherfilm eingehender diskutiert. 358 Plumeyer, Florian: Sadismus und Ästhetisierung, S. 54. Plumeyer stützt sich dabei auf die Arbeit Linda Williams zu body genres, die in Kapitel 3.3.2.1 noch eigens thematisiert wird. 359 Vgl. Koch, Gertrud: Was ich erbeute sind Bilder. Zum Diskurs der Geschlechter im Film, Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld Verlag 1989. [Dissertation Universität Frankfurt am Main 1988], S. 99.

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von Anfang an einen festen Platz [...] Das Sehen selber wird im Kino sexualisiert und als Schaulust genossen.«360 Dazu erkennt sie eine Verbindung von Sexualität und Aggression in der Direktheit und dem Festhalten der Dinge auf der Leinwand durch den Kamerablick.361 Eine, zumindest zum Teil, sexuell motivierte sadistische Schaulust scheint demnach bei der Betrachtung von Darstellungen leidender (weiblicher) Körper, selbst oder gerade in der Aussicht ihres Todes, unvermeidbar.362 Wie der Sadismus wird auch der Masochismus in der Filmtheorie zunächst im Spiel von Macht und Ohnmacht über Blicke verhandelt. Der typischen Objektivierung der Leinwandfrau nach Mulvey stehen – so wieder in aller Kürze – insbesondere die Thesen zu Masochismus Gaylyn Studlars entgegen. Studlar erkennt für von Sternberg/Dietrich-Filme: »Die Frau sieht den Zuschauer in diesen Filmen direkt an, ungeachtet des unausgesprochenen filmischen Gesetzes, das die illusionsbrechende Konfrontation mit solchen Blicken verbietet. Dieser Akt ist der Erwiderung des Blickes durch die mächtige orale Mutter verwandt, mit dem sie ihre Gegenwart und Macht behauptet. Der masochistische Blick führt zur Unterwerfung des Mannes unter die Frau und nicht zu seiner Kontrolle über sie.«363 Die durch den Vater strukturierte und beherrschte symbolische Ordnung werde im Masochismus unterlaufen, indem die Rolle der Mutter betont wird und auch der Masochist nicht die ihm zugedachte Rolle einnimmt, so Deleuze.364 In der Kinosituation gibt der wieder als männlich determinierte Zuschauer entsprechend seine voyeuristische Macht und Kontrolle auf. Schon Freud stellt für den männlichen Masochisten fest: »Hat man [...] Gelegenheit, Fälle zu studieren, in denen die masochistischen Phantasien eine besonders reiche Verarbeitung erfahren haben, so macht man leicht die Entdeckung, daß sie die Person in eine für die Weiblichkeit charakteristische Situation versetzen, also Kastriertwerden, Koitiertwerden oder Gebären bedeuten.«365 Theodor Reik relativiert die unterwürfige, passive Haltung des masochistischen Mannes, die für Freud als typisch weiblich galt366 und räumt ein, Frauen würden für gewöhnlich nicht nach dem »Erdulden von Schmerzen, Gepeitschtwerden, Gefesseltwerden, Demütigungen und Erniedrigungen«367 streben. Es handle sich daher weniger um »einen Ausdruck des

360 Koch, Gertrud: »Netzhautsex – Sehen als Akt«, in: Keilbach, Judith/Morsch, Thomas (Hg.), Gertrud Koch. Zwischen Raubtier und Chamäleon. Texte zu Film, Medien, Kunst und Kultur, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2016, S. 247-255, hier S. 251. 361 Vgl. ebd., S. 253. 362 Extreme Gewaltdarstellungen jedoch, so wird insbesondere das Kapitel 3.3.2.2 zeigen, können diese Schaulust unterwandern. 363 Studlar, Gaylyn: »Schaulust und masochistische Ästhetik«, S.35. 364 Vgl. Deleuze, Gilles: »Coldness and Cruelty«, S. 61 ff. 365 Freud, Sigmund: Das ökonomische Problem des Masochismus: Der feminine Masochismus [= Sigmund Freud. Gesammelte Werke 1893-1939, Erstveröffentlichung: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. 10, Nr. 2 (1924), S. 121-133], http:// www.textlog.de/freud-psychoanalyse-feminine-masochismus.html (Abgerufen 23.01.19). 366 Vgl. dazu auch Freud, Sigmund: »Ein Kind wird geschlagen«, S. 151-172. Ähnlich argumentiert auch die Freud-Schülerin Helene Deutsch: Vgl. Deutsch, Helene: Psychologie der Frau. 2 Bände, Stuttgart/Bern: Hans Huber Verlag 1948 und 1954. 367 Reik, Theodor: Aus Leiden Freuden, London: Imago Publishing Co. 1940, S. 196.

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weiblichen Wesens als dessen Parodie oder Karrikatur.«368 Doch auch Reik sieht, wie Freud vor ihm, den Masochismus als eine mildernde Strafe an, die die Kastration durch den Vater ersetze369 und in der masochistischen Phantasie mit der strafenden Frau, eine Mischfigur aus Vater und (begehrter jedoch im Ödipuskomplex verlorener) Mutter bilde.370 Deleuze dagegen, so Studlar, betone die Mutterrolle selbst, liebend und strafend, die in der masochistischen Phantasie nicht nur ein verstecktes Substitut für den Vater darstelle. Im Masochismus verbinde sich die empfundene Fülle der Mutter mit einem Bedürfnis Leid zu erfahren. Entgegen Freuds Auffassung des Penisneids erfahre der Masochist die Mutter nicht so als ob ihr etwas fehle.371 Das Frauen-Ideal im Masochismus verfüge kühl und schön über den masochistischen Mann, so Deleuze.372 Der Masochist wolle Schmerz erleiden, weil er Schuldgefühle empfinde, so Studlar, jedoch nicht weil er die Mutter begehre, sondern weil er dem Vater ähnlich sei. Den Vater sowie die Ähnlichkeit mit ihm wolle er somit negieren, nicht von ihm bestraft werden.373 Der masochistische Triumph über den Vater ist demnach die Unterwerfung durch die Frau. Der Masochist wolle die Frau nicht besitzen oder zerstören, sondern zu einem asexuellen Ideal erheben.374 Im Masochismus sind die Geschlechterrollen demnach nicht so klar festgelegt, wie in den vorangegangenen Theorien zu Sadismus. Nach Deleuze kann man, im Idealfall, (bisexuell) beide Geschlechter einnehmen und die Phallus-Konzentration, sowie den Dualismus von Anwesenheit/Mangel und aktiv/passiv damit aufheben.375 Auch wenn das gemäß Mulvey typisch patriarchale Verhältnis umgekehrt wird, indem die Frau im Kino zurückblickt bzw. der Mann der Frau unterworfen ist, bleibt dies die Ausnahme und die Frau als Zuschauerin bekommt zudem noch immer keinen festen Platz. Die 368 Reik, Theodor: Aus Leiden Freuden, S. 197. Widerspruch gegen die Thesen Freuds gab es auch schon vor Reik, vgl. bspw. Horney, Karen: »The flight from womanhood: The masculinity-complex in women, as viewed by men and by women«, in: International Journal of Psychoanalysis. Vol 7 (1926), S. 324-339; Jones, Ernest: »Die erste Entwicklung der weiblichen Sexualität«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse Vol. 14 (1928), S. 11–64; Klein, Melanie: »Frühstadien des Ödipuskonfliktes«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse Vol. 14 (1928), S. 65–77. 369 Vgl. ebd., S.26f. 370 Vgl. ebd., S. 27/28. 371 Vgl. Studlar, Gaylyn: In the Realm of Pleasure. Von Sternberg, Dietrich and the Masochistic Aesthetic, New York/Oxford: Columbia University Press 1993 [1988], S. 15. 372 »The function of the masochistic ideal is to ensure the triumph of ice-cold sentimentality by dint of coldness; the coldness is used here, as it were, to supress pagan sensuality and keep sadistic sensuality at bay […] under the cold remains a supersensual sentimentality buried under the ice and protected by fur; this sentimentality radiates in turn through the ice as the generative principle of new order, a specific wrath and a specific cruelty. The coldness is both protective milieu and medium, cocoon and vehicle: it protects supersensual sentimentality as inner life, and expresses it as external order, as wrath and severity.« Deleuze, Gilles: »Coldness and Cruelty«, S.52. 373 Vgl. Studlar, Gaylyn: »Schaulust und masochistische Ästhetik«, S. 18. 374 Vgl. Studlar, Gaylyn: In the Realm of Pleasure, S. 20ff. 375 Vgl. ebd, S. 32 und Deleuze, Gilles: »Coldness and Cruelty«, S. 67f.

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Filmwissenschaftlerin Heide Schlüpmann hält fest: »Wie sich das weibliche Verhältnis zur ›grausamen Frau‹ bestimmt, bleibt ungeklärt, schon gar, wie die Sehnsucht nach dem strafenden Vater zu begreifen ist. Feststellen lässt sich allein, daß die männlich konzipierte masochistische ›Welt‹ die rigide Geschlechterpolarität und Rollenzuschreibung aufhebt und so durchlässig wird für den weiblichen Blick.«376 Mary Ann Doane bemerkt in Film and the Masquerade das weibliche Publikum müsse im Kino stets wie ein Transvestit zwischen einer weiblichen und einer männlichen Position wechseln, eine Identifikation mit einer weiblichen Figur bedeute letztendlich beinahe immer eine passive oder masochistische Positionierung, die mit dem aktiven männlichen Helden dagegen eine Maskulinisierung analog zu Laura Mulveys trans-sex-Identifikation.377 Gertrud Koch plädiert dagegen für eine Existenz und Berechtigung weiblicher Schaulust,378 die im Präödipalen beheimatet sei und sich nicht auf Objektivierungen, voyeuristische Macht und Kontrolle des Ödipalen gründe. Auch Gaylyn Studlar betont dementsprechend die Auflösung der Phallus-Konzentration im Masochimus: »Insbesondere wenn wir unsere Aufmerksamkeit eher auf die präödipale, als die ödipale Stufe der Entwicklung richten, können wir uns aus der Sackgasse befreien, in die wir unter anderem durch Laura Mulveys Arbeit zur Schaulust geraten sind. Wir können einen Punkt erreichen, an dem sich uns filmspezifische Zuschauerlüste erschließen, die unabhängig von Kastration, Geschlechtsunterschied und weiblichen Phallusmangel sind.«379 Wie schon im vorangegangenen Kapitel zum Sadismus angesprochen, erlaubt eine Theorie, die dem Körper in der Filmrezeption mehr Bedeutung beimisst, analog zu einem Ansatz im Präödipalen oder Vorsymbolischen, die Untersuchung einer intuitiven Reaktion auf das Filmgeschehen, die noch nicht zwangsläufig weiterführenden Strukturen wie unbewussten Begehren und Geschlechterdifferenzen unterliegt. Statt weiter in Blickkonstellationen und Machtverhältnissen verhaftet zu bleiben, wird der gesamte Körper als Erfahrungs- und Sinnstiftungsinstanz mit einbezogen. Der Zuschauerkörper wird bei der Filmrezeption natürlich über den voyeuristischen Kamerablick ins Filmgeschehen eingeführt, ohne aber ein reiner Blick zu bleiben. Bereits bei Robert Vischer, dem Begründer der Theorie der Einfühlung, habe, so Juliet Koss in Über die Grenzen der Einfühlung, in der Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk nicht allein der Sehsinn im Vordergrund gestanden, sondern die synästhetische Gesamterfahrung. Während man sich in der ästhetischen Erfahrung verliere, würden die eigenen körperlichen Reaktionen einem das eigene Selbst zugleich bewusst machen.380 Jeder Wahrnehmungsakt, so auch schon die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys, ist damit leiblich verortet. So entstehe eine Art innerer Bewegung, so Scott Curtis in Einfühlung und die frühe deutsche Filmtheorie: »Unsere 376 Schlüpmann, Heide: »Queen Kelly«, in: Gramann, Karola/Koch, Gertrud/Schlüpmann, Heide (Hg.), Frauen und Film. Heft 39. Masochismus, Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld Verlag/Roter Stern 1985, S. 40-48, hier S.42. 377 Vgl. Doane, Mary Ann: »Film and the Masquerade, S. 80. 378 Vgl. Koch, Gertrud: Was ich erbeute sind Bilder, S. 127. 379 Studlar, Gaylyn: »Schaulust und masochistische Ästhetik«, S.15. 380 Vgl. Koss, Juliet: »Über die Grenzen der Einfühlung«, in: Curtis, Robin/Koch, Gertrud (Hg.), Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Wilhelm Fink Verlag 2009, S. 105-126, hier S. 110.

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Projektion in das Werk hinein – wie unsere körperliche Reaktion auf das Werk – hängt von einer Imaginationshandlung ab, die sicherstellt, dass die ästhetische Erfahrung im Reich der ›höheren‹ Funktionen verbleibt. Die Bewegung des Auges leitet den Prozess ein, doch in unserer Reaktion ist jegliche Bewegung virtuell, nicht real.«381 Kommt es zu realer, äußerlicher Bewegung des Körpers, so befinde man sich, nach Theodor Lipps, nicht mehr im Bereich des Ästhetischen. Die Verbindung von ästhetischer Erfahrung und somatischen Reaktionen sei jedoch – entgegen Lipps – insbesondere in der Filmrezeption gegeben. Die zeitweilige Selbstvergessenheit während einer ästhetischen Erfahrung könne gerade zu unwillkürlichen körperlichen Reaktionen führen.382 Entgegen dem eher distanzierten Sadismus im Film, wird man dabei immer wieder von den Eindrücken filmischer Folter und Tötungen überwältigt. Steven Shaviro hat dies, wie Gaylyn Studlar,383 als Masochismus ausgezeichnet. Anders als Studlar erkennt er in diesem Masochismus keinen Schutzmechanismus gegen Urängste, wie die Trennung von der Mutter, sondern gerade eine Hingabe an den Kontrollverlust im Kino.384 Wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben, nähert man sich hier einer Todeserfahrung im Kino an. Shaviro: »What inspires the cinematic spectator is a passion for that very loss of control, that abjection, fragmentation, and subversion of self-identity that psychoanalytic theory so dubiously classifies under the rubrics of lack and castration.«385 Die technische Verfasstheit des Films, seine Präsenzbehauptung, mit der einem das Leiden und Sterben von Figuren auf den Leib rückt, ist eng verknüpft mit dieser Erfahrung und zeitweise von weiterführenden Neigungen losgelöst. Patricia MacCormack hält für Zuschauer und Filmbild fest: »Spectator jouissance orients and is oriented by the signification of enfleshed subject and the corporeal materiality of images: not reflections or representations of reality but creators of materially affective realities [...] Reading is prevented if a language is not known to the reader, whereas a visual language, while always different in disparate cultures and countries, is ubiquitously resonant with the way speaking subjectivity is apprehended through the flesh.«386

Wirklich separiert bestimmbar wird die körperlich Ebene der Filmwahrnehmung nur in Momenten des Verlusts weiterführender kognitiver Bedeutungskonstitutionen, einem Zustand bedingter zeitweiliger Selbstaufgabe zugunsten einer reinen Sinnlichkeit. Ganz ähnlich beschreibt Martin Seel das Rauschen bei ästhetischen Erfahrungen, das einer Todeserfahrung bzw. jouissance außerhalb semiotischer Systeme nahesteht:

381 Vgl. Curtis, Scott: »Einfühlung und die frühe deutsche Filmtheorie«, S. 92. 382 Vgl. ebd., S. 94 ff. 383 »[...] cinematic pleasure is much closer to masochistic pleasure than to the sadistic, controlling pleasure commonly associated with spectatorship in modern film theory.« Studlar, Gaylyn: In the Realm of Pleasure, S. 9. 384 Vgl. Shaviro, Steven: The Cinematic Body, S. 58f. 385 Ebd., S. 56. 386 MacCormack, Patricia: »Julia Kristeva«, S. 277.

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»Im Vernehmen des Rauschens geben wir unser Bestimmen preis; wir bestimmen uns auf ein Nichtbestimmen hin. Wir erfahren nicht länger, wie es bei Kant gedacht ist, unsere Bestimmbarkeit durch uns, wir begegnen der Wirklichkeit in einem temporären Verzicht auf diese Bestimmbarkeit unserer selbst und der Welt. Wir geben es auf, das Phänomen zu bestimmen, wir geben es auf, uns dem Phänomen gegenüber zu bestimmen. Wir geben uns auf, soweit wir dadurch bestimmt sind, uns behauptend und bestimmend und beherrschend gegenüber der Welt zu verhalten. Alles Interesse am Rauschen rührt aus einer Lust an der Selbstpreisgabe her.«387

Wie bereits in Kapitel 3.1.4 mit Theodor Lipps beschrieben, können wir unser Verhaftetsein im eigenen Körper und der Welt, verbunden mit vorangegangenen Erfahrungen, nicht gänzlich abstreifen. Das gespeicherte Wissen um Sinneseindrücke und Zusammenhänge vertieft und verlebendigt erst die Filmerfahrung. Für eine wirkliche ästhetische Erfahrung, die nicht nur physische Reaktion bleibt oder totale Selbstvergessenheit nach psychoanalytischer Auffassung bedeutet, kommen dabei zu den immersiven, eher affektiven, auch sinnstiftende körperliche und kognitive Ebenen hinzu.388 Julian Hanich beschreibt dies: »During the straightforward activity of watching a film [...] the movie is the prime intentional object (with my lived body and the audience mostly at the periphery); during the reflective activity of phenomenological reporting, the past experience itself becomes the focus of attention. This reflection after the fact is possible only because I was not unaware or unconscious of these experiences.«389 Bei Tötungen und extremer Gewalt im Film begreifen wir das Geschehen demnach häufig körperlich, ehe wir es kognitiv erfassen können. Weil der Zuschauerkörper als lived body immer bereits zeitlich, kulturell und von persönlichen Erfahrungen geprägt ist, sei die somatische Empathie bei vorstellbaren Verletzungen, wie Messerschnitten, größer als etwa bei Pistoleneinschüssen, so Hanich.390 Im Rauschen ist die Unmittelbarkeit der augenblicklichen Erfahrung überwertig und lässt weitere Ebenen in den Hintergrund rücken. So besteht in erster Instanz im engen Sinne auch kein Sadismus oder Masochismus, sondern der Körper selbst ist schlicht hervorgehoben und besonders lebendig. Hans Ulrich Gumbrecht beschreibt solche intensiven ästhetischen Situationen ganz ähnlich – wenn auch weniger Körperkonzentriert: »In solchen Augenblicken liegt nichts Erbauliches, keine Botschaft, nichts, was wir lernen könnten – und deshalb nenne ich sie ›Augenblicke der Intensität‹. Denn was wir empfinden, ist vermutlich nicht mehr als ein besonders hohes Aktivitätsniveau einiger unserer angeborenen kognitiven, emotionalen und vielleicht sogar physiologischen Vermögen«391 Gumbrecht weiter: »Die Wahl des Wortes ›Intensität‹ bestätigt, daß das, was ästhetisches Erleben ausmacht, vor allem quantitativer

387 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, S. 235. 388 Die Reduzierung auf eine körperliche Ebene als zeitweise sogar einzig möglicher Zugang zum Filmgeschehen wird in Kapitel 3.3.2.2 anhand von Filmausschnitten aus dem New Extremity Horrorfilm konkretisiert. 389 Hanich, Julian: Cinematic Emotion in Horror Films and Thrillers, S. 38./39. 390 Ebd., S. 106. 391 Gumbrecht, Hans Ulrich: »Epiphanien«, in: Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2016 [2003], S. 203-222, hier 204/205.

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Natur ist: Außerordentliche Herausforderungen ermöglichen außerordentliche Leistungen unseres Körpers und unseres Geistes [...] ›sich verlieren‹ [...] entspricht dem Strukturelement der Insularität, dem Moment des Abstands von der Alltagswelt, welches Bestandteil der Situation ästhetischen Erlebens ist [...] ausgerichtet [...] auf die erregende Wirkung spezifischer Erlebnis-Gegenstände.«392 Ein Wechsel von somatisch-affektiven zu eher reflektierend-kognitiven Ebenen ist damit zugleich ein Wechsel zwischen räumlicher Nähe und Distanz, unmittelbarer raumzeitlicher Gegenwärtigkeit und einer (bedingten) Lösung von der Struktur des Films, die auch ein Zurück- und Vorausschauen zulässt. Es ist ein wechselndes sich-im-Filmgeschehen verlieren und sich-Wiederfinden, wobei eben auch die körperliche Ebene nicht automatisch einen totalen Ich-Verlust bedeutet, sondern als ein ›körperliches Verstehen‹ eine eigene Bedeutungsschicht annehmen kann. Das Kapitel 3.2.3 wird hierauf zurückkommen. Das Kino-Rauschen sieht Seel insbesondere im Actionfilm erfüllt, mit: »[...] Sequenzen, in denen der Klang-Bildraum des Kinos von einem visuellen und akustischen Geschehen erfüllt ist, in dem sich nichts einzelnes mehr ausmachen läßt. Dieses Rauschen nimmt vor allem dann überhand, wenn Feuerwaffen und Explosivstoffe der unterschiedlichsten Art – von der Handgranate bis zum atomaren Sprengstoff – ihr Werk verrichten [...] Der Schwund eindeutig identifizierbarer Gestalten und Formen wird zum Normalzustand dieses Kinos, das ebenso sehr ein Rauschkino wie ein Erzählkino ist. Ein reiner amerikanischer Actionfilm steuert fast immer auf Unübersehbarkeitszustände zu [...]«393 Auch die teils extreme Gewalt filmischer Tötungen, die einem durch die filmische Inszenierung so nah kommt als könne sie einen wirklich verletzen, kann durch ein inhaltlich-formales Zusammenspiel zu einem Rauschen werden, wie insbesondere das experimentelle französische Körperkino in Kapitel 3.3 zeigen wird. Die Narration, so Thomas Morsch, bilde jeweils den Rahmen, der ein reines Rauschen, völlige Orientierungslosigkeit verhindere.394 Laura Marks wählt Videofilme abseits des Mainstream, um eine (haptische) Alternative zum sadistischen Voyeurismus im Pornofilm aufzuweisen, ohne dabei aber direkt Masochismus zu thematisieren: Für die Erotik dieser Werke müsse der Zuschauer Kontrolle abgeben, da er nicht alles sehen könne. Er müsse selbst die Lücken schließen und verliere durch die extreme Nähe zum Geschehen das Gefühl vom Videobild getrennt zu sein. Ganz unabhängig von ihrem Inhalt, aus ihrer reinen Medialität heraus, könnten haptische Bilder deshalb erotisch sein.395 Der Pornofilm eignet sich für gewöhnlich Körper an, indem er alles von ihnen zeigt, sie benutzt und objektiviert. Haptische Pornografie dagegen »[...] would invite a very different way of engaging with the image. The haptic image indicates figures and then backs away from representing them fully – or, often, moves so close to them that for that reason they are no longer visible. Rather than making the object fully available to view, haptic cinema puts the object into question, calling on the viewer to engage in its imaginative construction. Haptic images pull the viewer close, too close to see properly, and this

392 393 394 395

Ebd., S. 209. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, S. 247/248. Vgl. Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 230. Vgl. Marks, Laura: Touch, S. 13.

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itself is erotic.«396 Diese Orientierungslosigkeit angesichts filmischer Bilder ermöglicht eine stärker materielle Ebene, die eine Narration überschreitet. In dem Spiel mit dem, was der Zuschauer sehen darf und was nicht, liegt ein Masochismus, da die Herauszögerung dessen, was der Zuschauer sich jeweils wünscht, nach Deleuze die dem Masochismus übliche Spannung erzeugt. In seiner Theorie bleibt dies auf die kühle Frau beschränkt, die den Mann straft. Bezogen auf die literarischen Werke von Leopold von Sacher-Masoch, dem Namensgeber des Masochismus, bemerkt Deleuze: »It is no exaggeration to say that Masoch was the first novelist to make use of suspense as an essential ingredient of romantic fiction. This is partly because the masochistic rites of torture and suffering imply actual physical suspension (the hero is hung up, crucified or suspended), but also because the woman torturer freezes into postures that identify her with a statue, a painting or a photograph. She suspends her gestures in the act of bringing down the whip or removing her furs [...]«397

Auch Theodor Reik spricht der Suspense eine gewichtige Rolle im Masochismus zu. Es gehe darum, die »[...]Vorlust zu verlängern [und] die Endlust zu vermeiden [...] weil ihr Auftreten mit Angst verbunden ist.«398 Diese Angst bezieht sich bei Reik noch auf die drohende Kastration.399 Eine Auflösung der Anspannung sei daher nicht erwünscht,400 in der angespannten Erwartung trete »an Stelle der Lust, die von Angst begleitet wird, [...] Angst, die Lust bringt.«401 Dabei werde eine Unlust aktiv herbeigeführt, die eine abgemilderte Version, der letztendlichen, gefürchteten, passiv zu ertragenden, Unlust darstelle.402 Ein Wechsel zwischen Wunscherfüllung und zeitweiliger Verweigerung dieser Form der Sinnlichkeit lässt sich auch für das Filmbild ausmachen: Wenn Bilder, Bewegungen und Sounds im haptischen Kino, durch den Zuschauerblick eingeführt, synästhetisch seine weiteren Sinne ansprechen, geht es im Spiel des Films damit, was das Publikum sehen darf/muss und was nicht, auch darum, wie der Figurenkörper sozusagen aus der Leinwand hervortritt (oder versteckt wird) und für den Zuschauerkörper sinnlich erfahrbar wird. Tödliche Gewalt im Film, die explizit zur Schau gestellt wird, kann zu einer beinahe unerträglichen, da zu realen Erfahrung werden, bei der der Tod nicht nur für das Filmopfer, sondern auch den Zuschauer Erlösung bringt. Der Einsatz der Kamera ist hierbei, wie schon bei Marks, entscheidend, da sie einen sadistischen Voyeurismus etwa durch extreme Nähe zum Opfer, wie das Beispiel von THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE in Kapitel 3.3.2.1 zeigen wird, oder eine unangenehm nüchterne Perspektive, wie bei IRRÉVERSIBLE in Kapitel 3.3.4.1, unterlaufen kann. Bei Marks wird bereits deutlich, wie die Filmerfahrung in dieser körperzentrierten Ausrichtung teils losgelöster von ihren Inhalten wird und die Medialität des Films selbst 396 397 398 399 400 401 402

Marks, Laura: Touch, S. 16. Deleuze, Gilles: »Coldness and Cruelty«, S. 33. Reik, Theodor: Aus Leiden Freuden, S. 64. Vgl. ebd., S.131f. Vgl. ebd., S. 65. Ebd., S. 68. Vgl. Ebd., S. 72ff.

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mehr in den Vordergrund rückt – als Medium, das im Zusammenspiel mit dem Zuschauer Erfahrungen generieren kann, nicht als bloßes Instrument das Körper (sadistisch) vorführt. Dies lässt sich allerdings mit Inhalten koppeln und gerade ein Themenbereich wie das Töten im Film wird damit intensiv erfahrbar, nicht als ein sanftes Streicheln, wie es bei Marks anklingt, sondern diesmal mit aller Wucht eines (cinematographisch transformierten) Gewaltaktes. Die Rolle des Zuschauers wird, über die gesamte Überwertigkeit des Filmgeschehens hinaus, noch komplexer als im vorangegangenen Kapitel beschrieben, da die Position der filmischen Opfer variiert. Der Masochist, so Lindsay Anne Hallam, suche sich seinen Folterer aus – das Kinopublikum, so könnte man hier anfügen, seinen Film – er verhandle vorab klar, was erlaubt sei und was nicht und werde nie zum hilflosen Opfer.403 Das Opfer dagegen sei ausgeliefert und werde benutzt: »In fact, the masochist has as much, or even more, control over the situation as his/her partner. The victim, on the contrary, is seen by the perpetrator not as an equal but as a thing to be exploited. The body of the victim is thus a consumable product, something to be used and then discarded.«404

Sadismus und Masochismus lassen sich entsprechen nicht wie einander gegenüberliegende Seiten betrachten, wie auch Deleuze und Studlar betonen.405 Der Sadist hält sich nicht an Verträge, sondern objektiviert sein Opfer. Auch das, was sich vor dem Publikum als Film entfaltet, trifft in seiner ausgedehnten Grausamkeit nicht immer dessen Erwartungshaltung. Der Zuschauer, der Tötungsszenen rezipiert, ist damit – neben möglichen sadistischen Anteilen – zunächst ein Masochist, der sich einen Film ausgesucht hat und sich ihm freiwillig ›ausliefert‹, was auch geschieht. Leidet und stirbt eine Filmfigur für einen bestimmten Zweck, wie in THE PASSION OF THE CHRIST, erhält dieses Leid als ein Martyrium einen Sinn. Das unmittelbar somatisch nachvollzogene Leid würde so auch kognitiv eine Berechtigung bekommen, die in einem Hin und Her von direkter Anteilnahme und Reflexion, die Illusion aufrechterhält. Selbst wenn die betroffene Filmfigur ihr Leiden nicht genießen mag, kann der Zuschauer, da er nicht selbst Schmerzen erleidet, dieses noch masochistisch genießen oder sich in einer seltsamen Zwischeninstanz zwischen Sadismus und Empathie bewegen, wie es für Pascal Laugiers MARTYRS in Kapitel 3.3.2.2 diskutiert wird. Schon Sebastiano del Piombos Martyrium der Heiligen Agatha von 1520406 (Abbildung 13) zeigt seine Hauptfigur nicht nur ebenfalls für sadistische Blicke entblößt, sondern ihr Martyrium ist in der Malerei stark abgemildert.

403 Hallam, Lindsay Anne: Screening the Marquis de Sade, S. 168. 404 Ebd., S. 111. 405 Vgl. Deleuze, Gilles: »Coldness and Cruelty«, S. 65ff und Studlar, Gaylyn: In the Realm of Pleasure, S. 23. 406 Del Piombo, Sebastiano: Martyrium der Hl. Agatha (1520), Öl auf Holz. 127 × 178 cm, Palazzo Pitti, Florenz.

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Abbildung 13: Sebastiano del Piombo: Martyrium der Hl. Agatha

Quelle: Gallerie degli Uffizi, Florenz

Gezeigt wird der Moment unmittelbar vor der Folter,407 in der Agatha auf brutale Weise die Brüste abgeschnitten werden sollen, weil sie den Statthalter Quintian auf Grund ihrer christlichen Tugendhaftigkeit zurückgewiesen hatte.408 Die Brüste Agathas sind bereits mit Zangen gefasst und »im Vordergrund des Bildes [verfolgt] der abgewiesene heidnische Freier die Folterung der Heiligen [...] Das Opfer erträgt die Folter mit einem verklärten Gesichtsausdruck, der Spuren hingebungsvoll beseelter Erhöhung erkennen lässt«,409 so die Religionswissenschaftlerin Almut-Barbara Renger. Blut und Wunden, die eigentliche Folterung, werden ausgespart. Anne-Rose Meyer erläutert: »Auf den Akt der Brustabtrennung weist bei Piombo nur das Messer in der rechten unteren Bildecke hin. Gerade in seiner Darstellung lässt sich das Martyrium deswegen als schöner Gegenstand für die bildende Kunst verteidigen.«410 407 Mittel wie ihre zentrierte Stellung, die hell-dunkel-Kontraste, die sie weiter in den Fokus setzen oder ihre Schönheit im Kontrast zu ihren Folterern, sollen eine Opfer-Täter-Verschiebung, wie in Kapitel 3.1.2 für antike Vasenmalereien beschrieben, unterbinden. Der Gewalt abmildernde Fokus auf den Moment unmittelbar vor der Tat erleichtert dennoch den Zugang für einen sadistischen Blick. 408 Vgl. Keller, Hiltgart L.: Lexikon der Heiligen und biblischen Gestalten. Legende und Darstellung in der bildenden Kunst, Stuttgart: Philipp Reclam junior 2010 [1968], S. 32. 409 Renger, Almut-Barbara: »›Oh wie süß kann doch Vergeltung sein‹ Vom Sieg weiblichen Schweigens über männliche Tyrannis in expressionistischer Sicht auf einen antiken Stoff: Gewalt und Gegengewalt in Alfred Brusts Einakter Leäna«, in: Hilbig, Antje/Kajatin, Claudia/Miethe, Ingrid (Hg.), Frauen und Gewalt. Interdisziplinäre Untersuchungen zu geschlechtsgebundener Gewalt in Theorie und Praxis, Würzburg: Königshausen und Neumann Verlag 2003, S. 119-132, hier S. 129. 410 Meyer, Anne-Rose: Homo Dolorosus, S. 224. Ästhetisch schön können gemäß Susan Sontag selbst noch Fotografien des ›Ground Zero‹ wirken, der Stelle, an der einst das World Trade Center stand. Fotografien, die Leiden zeigen, so sei deshalb häufig gefordert worden, sollten nicht schön sein, da sie sonst die Aufmerksamkeit von einem leidenden Subjekt hin zum Medium selbst ziehen würden. Vgl. Sontag, Susan: Regarding the Pain of Others, S. 76f.

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Durch die Abmilderung in der Darstellung lässt sich aus masochistischer Sicht ein selbstbestimmtes Ideal erkennen, eine Stellvertreterin, deren Qualen man (eben auch geschlechtsübergreifend) am eigenen Leib nachvollziehen kann, ohne sie in ihren – den ästhetisch-ruhigen Anschein womöglich doch übersteigenden Ausmaßen – erleben zu müssen. So lässt sich das Leid Agathas, im Hinblick auf ihre himmlische Entlohnung rechtfertigen und ästhetisch entschärft verklären. »Das psychologische Missverständnis des Masochisten«, so Reik »wenn man es so nennen darf, ist das Geniessen von Leid und Entwürdigung, das er der Frau als Sexualbefriedigung zuschreibt. Ich erinnere hier an den Patienten, der beim Anblick mittelalterlicher Märtyrerbilder sexuelle Erregung fühlte und sich in seinen masochistischen Phantasien mit ihnen identifizierte.«411 Bei überbordender Gewalt und unfreiwilligen Opfern, die erkennund nachfühlbar leiden, wird eine solche Rezeption allerdings erschwert, zumal wenn sich diese Folter quasi-gegenwärtig in Bild und Ton einer Filmvorführung vollzieht. Zu nah kommt einem der gequälte Körper – der Moment zuvor der Malerei wird zu einem gegenwärtigen Vollzug von der ersten Verletzung bis zum Tod des Opfers, in dem zudem kein Sinn mehr zu finden ist. Das Publikum muss dies aushalten oder verweigert sich gegebenenfalls dem Film. Folterungen sind ursprünglich Teil von Kriegsverhören oder aber Strafe für Verbrechen. Michel Foucault fasst in Überwachen und Strafen für Letztere zusammen: »[...] von der Folter bis zur Hinrichtung hat der Körper die Wahrheit des Verbrechens hervorgeholt und wiederholt. In einem Ritual von Prüfungen legt er das Geständnis ab, daß das Verbrechen stattgefunden hat, stößt er das Bekenntnis hervor, daß er selbst es begangen hat, bekundet er, daß er die Spuren des Verbrechens an sich trägt, erduldet die Operation der Züchtigung und trägt ihre Wirkungen zur Schau.«412 Bei unschuldigen Film-Opfern, wie sie die New Extremity Beispiele in Kapitel 3.3 präsentieren werden, erscheint ihre Qual deshalb sinnlos, weil sie kein Verbrechen begangen, keine Information preiszugeben oder Geständnis abzulegen haben. Sie sind meist willkürlich gewählt und sollen ausschließlich bis zum Tod gequält werden. Dazu geht Foucault, so Catherine Shelton, von einer »Konzeption des Körpers als einem Objekt der Disziplinar- und Machttechniken [aus], deren Effekte und Praktiken an ihm sichtbar werden«413 und eben »[...] nicht vom Körper als Leib, als dem Ort der sinnlichen Erfahrung der Welt und als dem Sitz der Empfindungen und Gefühle [...]«414 Der Filmzuschauer wird dementgegen in seiner unmittelbaren leiblichen Beteiligung an dem Leid, das er hautnah an anderen Leibern miterlebt, selbst vom Masochisten zum unwilligen Opfer, obwohl seine Position nie direkt mit der der Filmfigur zusammenfällt. Der Film bzw. Filmemacher wird zum Täter, der den Zuschauer quält. Folgt der Zuschauer dennoch weiterhin dem Filmgeschehen, nähert er sich einer sadistischen Komplizenschaft sowie wieder Masochismus an, wird scheinbar wirklich von den Ereignissen ›verwundet‹, die zuvor durch die Fiktion und Kinoanordnung fern schienen, allerdings aus freien Stücken. 411 Reik, Theodor: Aus Leiden Freuden, S. 203. 412 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2015 [Surveiller et punir. La naissance de la prison. 1975], S. 62/63. 413 Shelton, Catherine: Unheimliche Inskriptionen, S. 70. 414 Ebd.

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Dieses Kapitel hat gezeigt, wie die masochistische Ästhetik im Kino das Verhältnis von aktiv blickendem Mann und passiv angeblickter Frau psychoanalytisch geprägter Filmtheorien umkehren kann und geschlechterübergreifende Identifikationen zumindest bedingt möglich werden. Eine leidende Märtyrerin wie die Heilige Agatha steht für ein verklärtes, schönes Leiden, mit dem man sich masochistisch identifizieren kann. Gerade das Herauszögern ihrer Qualen, das sie zu einem schönen Kunstgegenstand macht, spricht dabei für eine masochistische Ästhetik, die das Endziel hinausschiebt. Bei Tötungen im Film, die Abläufe – nicht Momente davor – schildern, liegt der Masochismus im Ertragen der Folter bis zu ihrem Ende, teils sogar in Echtzeit, wie Gaspar Noés IRRÉVERSIBLE in Kapitel 3.3.4.1 zeigen wird. Wichtiger als körperlicher Schmerz, den man im Kino nicht wirklich nachfühlen muss, erscheint für kinematographischen Masochismus die Aufgabe von Kontrolle innerhalb zuvor verhandelter Handlungsräume – so wäre auch der ›Vertrag‹ zwischen Zuschauer und Film ein masochistischer. Man wählt seinen Film aus, doch der Film gibt letztendlich vor, was man sehen darf und muss. Gaylyn Studlar vertritt entsprechend die These die Kinosituation sei eher masochistisch als sadistisch. Innerhalb dieses Vertrags zwischen Zuschauer und Film kann man sich selbst dem Tod hingeben, denn ganz gleich was im Film geschieht oder wie nah es einem kommt, als Zuschauer wird man nicht sterben. Die masochistische Figur ist vom hilflosen Opfer abzugrenzen, das zu keinem Zeitpunkt Kontrolle oder gar ein Mitspracherecht hat und als etwas weiter unten Stehendes einem Täter ausgeliefert ist. Anders auch als beim Märtyrer, der häufig ästhetisch schön in Bildnissen dargestellt wird und für eine größere Sache leidet, freiwillig Schmerzen und selbst den Tod auf sich nimmt, statt seine Ideale zu verraten, liegt im Leiden von Opfern keinerlei Sinn. Aus sadistischer Sicht kann man mit ihnen verfahren wie man möchte, ohne Schuldgefühle zu empfinden, ganz so als wären sie keine Menschen. So verfährt auch das Kino selbst als Apparatur, die mechanisch Leiden vorführt, sowie der Kinozuschauer, der sich teils von einer empfundenen Komplizenschaft oder zu starken Empfindungen distanzieren kann, weil das Gezeigte nicht echt ist. Immer wieder vermittelt der Film Leiden über Mimik oder gekrümmte Körper, Blut und Wunden. Das Publikum, niemals fähig einzugreifen, aber dennoch auf unheimliche Weise näher am Geschehen als ein einfacher Zeuge, ist damit in einer ständig wandelbaren, komplexen Situation: Es muss nicht eingreifen, es kann nicht eingreifen, es empfindet intensiv und widersprüchlich. Die Filmerfahrung wechselt ständig zwischen Distanz und Nähe zum Filmgeschehen, ohne im psychoanalytischen Sinn wirklich sadistisch oder masochistisch zu bleiben, da die ambivalente somatische Erfahrung selbst im Vordergrund steht. Schaulust spielt im Kino natürlich immer eine Rolle, aber auch nachfühlende Körpersensationen sind nicht zu unterschätzen, die Präsentation des verletzten Körpers, dem man mit seinem eigenen verletzlichen Körper gegenübersteht. Hier haben sadistische Allmachtsphantasien allenfalls einen Anteil. Die direkte körperliche Reaktion auf präsentierte Qualen, so Steven Shaviro, sei häufig eine Mischung aus Lachen, Angst und Abscheu.415 Die Leihkörper-Theorie von Christiane Voss spricht ebenfalls weniger für einen persönlichen Sadismus in der Kinorezeption als einen eher neutralen, dem Film zur Verfügung gestellten Leihkörper, der damit etwas Neues, Eigenständiges mit dem Film bildet: 415 Vgl. Shaviro, Steven: The Cinematic Body, S. 101.

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»Sobald das Leinwandgeschehen derart in Erfahrungshaftigkeit transformiert ist, gehört das, was im Vollzug dieses Prozesses empfunden und empfindend verlebendigt wird, streng genommen nicht mehr nur den Wünschen und Neigungen oder biographischen Erfahrungen des Betrachters an. Als somatisch-transformierender Bestandteil des Kino- und Filmsettings wird der Leihkörper eigenständig und das narrative und außernarrative Filmgeschehen vorübergehend zu seiner explizierbaren Wirklichkeit.«416

Demnach würden wir alles, was der Film uns anbietet, annehmen, ganz gleich wie wir es persönlich bewerten. Wir lassen uns von ihm überrollen, somatisch ergreifen und sehen sozusagen ›was es mit uns macht‹. Die (masochistische) Überwältigung durch filmische Eindrücke führt zu einem nach ästhetischen Theorien der Einfühlung kurzweilig selbstvergessenen Zustand,417 nach dem Konzept des Abjekts Kristevas einem Identitätsverlust.418 Entsprechend den indirekteren ›Todesbegegnungen‹ in Kapitel 2 handelt es sich auch um eine gefühlte Todesnähe. Die variable Positionierung des Zuschauers im Angesicht filmischer Folterungen und Tötungen, der zwischen Täter, Opfer und Zeugen springen kann und auch von Kamerafahrten und auditiven Eindrücken ergriffen wird – ebenso wie die wechselnde Positionierung von Täter und Opfer, hier Märtyrer, Masochist oder bloßes Gewaltopfer –, ermöglicht eine Annäherung an den Tod, die im echten Leben nicht möglich wäre. Die Erfahrung vollzieht sich zwar jeweils an einem (Zuschauer-)Körper und orientiert sich in den hier verwendeten Filmbeispielen stark am Leid von Opfern, steht aber insgesamt mit einer Vielzahl von Körpern im Austausch. Dies gilt insbesondere, wenn die Rollen von Täter und Opfer im Film verschwimmen. Ohne deshalb ›echte Empathie‹ zu unterstellen, ermöglicht somatische Empathie einen intuitiven Zugang zum gewaltsamen Tod, der selten eine subjektive (Kamera-)Perspektive beansprucht. Häufiger nähert sich der Film dem Tod durch eine Vermehrung von Außenperspektiven – eine beinahe zeitgleiche Erfahrung der Position von Täter-, Opfer und Zeugen im Bilderrausch eines Tötungsakts. Dies ist mit der Annahme einer psychoanalytischen Identifikation mit dem Kamerablick als Figurenblick nicht, oder nur sehr bedingt vereinbar, wie das folgende Kapitel und das Kapitel 3.3.2.1 präzisieren werden. Die jouissance im überbordenden Gewaltakt einer Tötung mag sich für den Sadisten-Täter auf der Leinwand in einem unkontrollierten Blutrausch entladen, das Kinopublikum wird diesen aber nie direkt als Täter oder Opfer, sondern immer nur als Rausch der Bilder erleben, als Distanzverlust zwischen ihm und dem Leinwandgeschehen, den es letztendlich nie kontrollieren kann, sondern ihm ausgeliefert ist, ohne Einfluss nehmen zu können. Laura Wilson beschreibt in Spectatorship, Embodiment and Physicality in the Contemporary Mutilation Film demgemäß die häufig langgezogenen Folterszenen im New Extremity Kino: »In contrast to any reputation these films have of being particularly sadistic, the spectatorship of the first stage of assault, which is always the longest stage, is clearly masochistic. The victims of torture, whether male or female, are not held within the mastery of the gaze as the spectator arises from the

416 Voss, Christiane: Der Leihkörper, S. 118. 417 Vgl. Curtis, Scott: »Einfühlung und die frühe deutsche Filmtheorie«, S. 94. 418 Vgl. Kristeva, Julia: Powers of Horror, S. 4.

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viewer’s physicality through anxiety and pain.«419 Damit, so wird das Kapitel 3.3.2 anhand von Beispielen aus dem Horrorfilm ausführen, kann in der filmischen Todesnähe unter Einbezug einer somatischen Ebene der Rezeption nicht nur das Verhältnis von Sadismus und Masochismus neu verhandelt werden, sondern ebenso das der Geschlechterrollen im Kino. Natürlich sucht man sich seinen Film selbst aus und hat bei einem Horrorfilm schon zu Beginn eine andere kognitive Erwartungshaltung als bei einem Drama,420 aber in jedem Fall gibt man in der Kinosituation Kontrolle ab und lässt sich von allerlei Mischformen von Affekten erfassen, ohne in diesem Moment kognitiv zu verstehen, wie sie sich einordnen lassen. Das Publikum wähnt sich in der dynamischen Überfrachtung von Bildern brutaler filmischer Tötungen trotz der schützenden Leinwand teils in Todesgefahr, während es natürlich unterschwellig weiß, dass dies nicht möglich ist. Wie spielen Körper und Geist hier zusammen? 3.2.3 Empathie, Gehirn und Körper In der Empathie mit Filmfiguren liegt – neben einer Loslösung von psychoanalytisch geprägten Theorien zu Identifikationen mit Figuren – das Potential der Verbindung kognitiver und somatisch geprägter Ansätze, um der Erfahrung filmischer Tötungen näher zu kommen. Empathische Reaktionen des Publikums, etwa auf körperliche Schmerzen anderer, sind dabei im Gehirn direkt messbar und zeigen sich auch durch unmittelbare somatische Mimikry, wie dem leidvollen Verziehen des Gesichts. Der empfindsame Körper ist, wie das Kapitel 3.2.1 gezeigt hat, innerhalb psychoanalytisch-poststrukturalistisch geprägten Theorien kaum zu bestimmen. Eine Erfahrung filmischer Tötungen bzw. extremer Gewalt bis zum Tod erscheint durch die Machtverhältnisse von Blicken noch nicht erfasst. Dasselbe gilt für die kognitive Filmtheorie. Diese »behandelt das Filmbild [...] als Träger von cues, [...] Schlüsselreizen, die den Prozess der Informationsverarbeitung speisen und Aktivitäten wie Hypothesenbildung, Antizipation und die Konstruktion von Situationsmodellen steuern,«421 so der Filmwissenschaftler Vinzenz Hediger. Insbesondere im postklassischen Kino und Filmen in dessen Folge422, angesichts der unzensierten Gewalt filmischer Tötungen, scheitern die neoformalistischen Schemata allerdings zunehmend, da das filmische Material sich der Erwartungshaltung des Publikums entgegenstellt und es auf anderer, sinnlicher Ebene anspricht.

419 Vgl. Wilson, Laura: Spectatorship, Embodiment and Physicality in the Contemporary Mutilation Film, Houndsmills, NY: Palgrave Macmillan 2015, S. 33. 420 Heinz Peter Preusser dazu: »[...] allein die Genrekonvention und entsprechende Erwartungshaltungen orientieren den Rezipienten und strukturieren die Affekte, die dessen Körper ergreifen [...]« Preusser, Heinz Peter: »Sinnlichkeit und Sinn im Kino«, S. 15. Dies ist aber noch kein Garant für bestimmte Zuschauerreaktionen, so kann das Publikum anders empfinden, als vom Film(emacher) intendiert, der Film selbst kann mit Sehgewohnheiten brechen etc. 421 Hediger, Vinzenz: »Des einen Fetisch ist des andern Cue«, S. 47. 422 Das postklassische Kino wird in Kapitel 3.3.1 näher definiert und in einen historischen Kontext gesetzt.

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Dieser Bruch mit Tabus und Konventionen steht häufig der kognitiven Erwartungshaltung des Publikums entgegen. Die Handlung verläuft nicht so, wie sie es für gewöhnlich tut oder wird durch ausgedehnte Gewaltszenen am Fortlauf gehindert. Ausufernde Gewalt oder das Verharren der Kamera auf blutigen, verletzten Körperteilen sind für ein Verständnis der Handlung nicht notwendig, eine Andeutung wäre ausreichend. Dies eröffnet aber eine besonders sinnlich wahrnehmbare Ebene. Es handelt sich gemäß Kristin Thompson um exzessive Elemente: »Excess is not only counternarrative; it is also counterunity. To discuss it may be to invite the partial disintegration of a coherent reading. But on the other hand, pretending that a work is exhausted by its functioning structures robs it of much that is strange, unfamiliar, and striking about it. If the critic’s task is at least in part to renew and expand the work’s power to defamiliarize, one way to do this would be precisely to break up old perceptions of the world and to point up its more difficult aspects.«423

Exzessive Elemente würden im klassischen Hollywoodfilm noch möglichst unterdrückt,424 so erläutert Thompson, fänden im postklassischen Film aber immer häufiger Anwendung, wie das Kapitel 3.3.1 ausführen wird.425 Catherine Shelton bemerkt dazu: »[...] das filmische Material, ob Bild oder Ton, verfügt über einen scheinbar irreduziblen Überschuss an Bedeutung oder Bedeutungsmöglichkeiten. Daher ist entscheidend, in welchem Maß und mit welchen Mitteln der filmische Exzess, i.e. die überbordende Fülle von Bild und Ton, durch die Anbindung an die narrative Struktur eingeebnet oder funktionalisiert wird. Die narrative Organisation des klassischen Films zielt gerade darauf ab, das Moment des Exzesses stets zurückzudrängen und so weit als möglich zu reduzieren. Exzessive Momente im Film treten also immer in Relation zu der jeweilig gegebenen filmischen Struktur auf, sie lassen sich nicht ohne Rückgriff auf den filmischen Kontext bestimmen.«426

423 Thompson, Kristin: »The Concept of Cinematic Excess«, S. 134. 424 Ebd., S. 131. 425 Thompson bezieht sich in ihrem Text auf ähnliche Untersuchungen bei Roland Barthes, den antinarrativen stumpfen Sinn – vgl. Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1990, vgl. dazu außerdem Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 25f. – und Stephen Heath. Heath bemerkt in Film and System, analog zum Lacan’schen Realen, das in den Zwischenräumen der symbolischen Ordnung zu finden ist: »[...] just as narrative never exhausts the image, homogeneity is always an effect of the film and not the filmic system, which is precisely the production of that homogeneity. Homogeneity is haunted by the material practice it represses [...] narrative can never contain the whole film which permanently exceeds its fictions [...] ›Filmic system‹, therefore, always means at least this: the ›system‹ of the film in so far as the film is the organisation of a homogeneity and the material outside inscribed in the operation of that organisation as its contradiction.« Heath, Stephen: »Film and System: Terms of Analysis Part I«, in: Screen Vol. 16, Nr. 1 (1975), S. 7-77, hier S. 10. 426 Shelton, Catherine: Unheimliche Inskriptionen, S. 162.

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Thomas Morsch bestätigt: »Im postklassischen Kino des Spektakels haben sich die ehedem als exzessiv inkriminierten Elemente des Filmischen vom Primat der Narration gelöst [...] In diesen Inszenierungsformen rückt eine somatische Adressierung der Zuschauer ins Zentrum.«427 Um eine körperliche Beteiligung des Publikums zu garantieren, ist die Inszenierung von Tötungen mit exzessiver Gewalt, die die Narration und bloße Andeutungen überschreitet, demnach ein gewinnbringendes Mittel, wie die Filmbeispiele in Kapitel 3.3 ausführen werden. Der Exzess ist der jouissance nah in dem Sinne, dass er gegebene Strukturen, wie den filmischen Text, überschreitet und sich der Kontrolle, einer klaren Bedeutung, entzieht. Er kann für sich genommen nicht existieren, sondern taucht – wie die jouissance innerhalb der Struktur der symbolischen Ordnung – eingewoben in die Narration, doch als etwas ihr nicht (notwendig) Zugehöriges, auf. Exzessive Elemente benennen zu wollen, ist demnach nicht immer einfach, da Filmerfahrungen immer zum Teil subjektiv bleiben und eine klare Trennung von ›Notwendigem‹ und ›Überschuss‹ unmöglich erscheint. Jouissance, so Patricia MacCormack »[is] not bound within the text as the work but come[s] from between the text and reader relation, as process.«428 Ebenso kann ein Zuschauer ein exzessives Element erfassen, das einem anderen verborgen bleibt. Ähnlich dem punctum bei Barthes,429 entsteht dann aus dem Werk heraus eine Adressierung des Zuschauers, bzw. dieser fühlt sich adressiert. Entsprechend wirkt auch der Exzess nicht für jeden Zuschauer gleichermaßen. Manche mag er ›treffen‹ oder sie gar ›verwunden‹, wie die überbordende Gewalt filmischer Tötungen es teils vermag, andere bleiben davon recht unberührt. Thomas Morsch spricht ebenfalls vom punctum als etwas Exzessivem, das die übliche Narration übersteigt: »Auch der Film kennt ein zufälliges und unberechenbares punctum, wenn sich zum Beispiel der Blick an ein Detail heftet oder die Präsenz eines Körpers, eine das narrative System überschreitende, kontingente und materielle Physis, plötzlich unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es hieße jedoch die künstlerische Produktion zu unterschätzen, würde man nicht berücksichtigen, dass solche Momente der Intensität, der Erschütterung des Subjekts und der ›Widerständigkeit gegen die Lesbarkeit‹ auch Teil einer kalkulierten Affektlogik der ästhetischen Medien sein können.«430

Dies gilt auch für Inszenierungen von Tötungen in Filmen, die beabsichtigt Reaktionen im Publikum auslösen sollen. Das kognitive studium steht in jedem Fall einer nacherzählbaren Handlung, der Reflexion über den Tod oder auch dem Einbringen von Genrewissen näher. Dies wird durch schwer verbalisierbare, exzessive filmische Elemente, die den Zuschauer ähnlich dem punctum unmittelbar somatisch wie auch emotional treffen, zu einem Filmganzen komplementiert. Während es sich über das studium nachfolgend sprechen lässt, muss das punctum augenblicklich erlebt werden. Der Film, der ausufernde Gewalt bis zum Tod nicht nur mimetisch nachahmen kann, wie die Malerei, sondern indexikalisch auf diese Geschehnisse verweist und somit 427 Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 26. 428 MacCormack, Patricia: »Julia Kristeva«, S. 276. 429 Vgl. Kapitel 2.2.2 Für Barthes selbst, so wurde hier angesprochen, kann in der Flüchtigkeit von Filmbildern allerdings kein punctum existieren. 430 Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 22.

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Echtheit suggeriert, wie die Fotografie, stellt so in der gegenwärtig wirkenden Bewegung (gekoppelt noch mit auditiven Eindrücken) für den Zuschauer eine bislang unübertroffene Unmittelbarkeit in der Wahrnehmung des Tötens und Sterbens her. Dennoch bleibt der Exzess eine Randerscheinung in der kognitiven Filmtheorie. Während die psychoanalytisch geprägte Filmtheorie den Zuschauer in einem Traumzustand frühkindlicher Entwicklungsphasen verortet, gibt ihm der Neoformalismus bereits seine bewusste Entscheidungsfreiheit wieder, kann sich jedoch schwer von diesen kognitiven Modellierungen lösen, denen alles unterstellt zu sein scheint, wie dieses Kapitel noch ausführen wird. Theorien streng phänomenologischer Ausprägung nun, geben dem Körper selbst und einer unmittelbaren Wahrnehmung (etwa gewaltsamer Tötungen) vor weiterführenden bewussten oder unbewussten Mechanismen mehr Gewicht, laufen aber Gefahr in dieser unmittelbaren Wahrnehmung – ohne Erkenntnisse – gefangen zu bleiben.431 Thomas Weber fasst in Import Export (2007). Kinoerfahrung zwischen Aisthesis und Neuer Soziologie zusammen: »Während der Kognitivismus vor allem die distinkten, das heißt diskreten Bedeutungen anvisiert, die sich aus der formalen Gestaltung und mithin auch aus dem Abgleich mit Vorerfahrungen und durch ›Mustererkennung‹ ergeben, die für die menschliche Orientierung eine zentrale Rolle spielen, geht es der Phänomenologie eher um die Frage des unmittelbaren Erlebens. Während der Kognitivismus blind gegenüber Szenen zu sein scheint, die keine klare Bedeutung und eine primär atmosphärische Funktion haben, scheint die Filmphänomenologie nicht zu realisieren, dass auch korporale Erfahrungen durchaus signifikante, also bedeutungstragende Muster bilden können.«432

In einer somatisch fundierten ästhetischen Filmerfahrung wie sie hier untersucht wird, besteht entsprechend eine einvernehmliche Filmillusion zwischen Zuschauer und Film,433 sofern das Publikum die Rezeption selbst bei negativen Erfahrungen wie brutalen filmischen Tötungen nicht abbricht. Nur so lässt sich eine gegenwärtige Todeserfahrung bis zum Endpunkt des Todes ausmachen, die sich nicht in Voyeurismus und Machtverhältnisse psychoanalytischer oder Reflexionen über den Tod kognitiver Ausrichtung erschöpft. Das Publikum liefert sich dem Filmgeschehen sozusagen freiwillig aus, weil es sich davon eine lohnende gegenwärtige Erfahrung erhofft.434 Dabei verliert es sich nicht völlig im Filmgeschehen, wie die psychoanalytisch geprägte Filmtheorie argumentiert435, es erlebt den Film im ersten Schritt gegenwärtig, im Sinne

431 Vgl. dazu auch Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S. 133. 432 Weber, Thomas: »Import Export (2007). Kinoerfahrung zwischen Aisthesis und Neuer Soziologie«, in: Preusser, Heinz Peter (Hg.), Sinnlichkeit und Sinn im Kino. Zur Interdependenz von Körperlichkeit und Textualität in der Filmrezeption, Marburg: Schüren Verlag 2015, S. 216-237, hier S. 220. 433 Vgl. Kapitel 3.1.5 434 Worin der Mehrwert der Rezeption von unlustvollen Themen rund um den Tod liegen könnte, diskutiert das Kapitel 4. 435 Anders als in der psychoanalytischen Filmtheorie ist der Zuschauer aktiv, wie auch die kognitive Filmtheorie annimmt. Julian Hanich dazu: »The[...] deliberate bodily responses underscore that we are not hypnotized, dreaming or hallucinating, but actively answer the

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phänomenologischer Thesen436 – noch nicht antizipierend und kombinierend, wie wiederum neoformalistische Theorien es für den Zuschauer im klassischen Hollywoodkino beschreiben437 – ohne jedoch eine (auch körperliche) Sinnstiftung deshalb auszuschließen. Den Tod erfahren kann man im Film dann, wenn schon nicht in seinem abgeschlossenen Zustand, insbesondere im Vollzug brutaler Tötungsakte, insofern ihre medial vermittelte Direktheit sich auf eben dieser schwer verbalisierbaren somatischen Ebene entfaltet. Ziel einer neuen, somatisch zentrierten Theorie ästhetischer Erfahrung muss es dann sein, die Wertgehalte einer körperlichen Erfahrung an sich zu bestimmen, die weder nur Mittel zum Zweck für eine doch vorwiegend kognitive Bestimmung ist, noch ›leeres‹ körperliches Wahrnehmen im Sinne eines reinen Empfindens, sondern ein eigenständiges körperliches Erkennen abseits der Sprache.438 Unbewusste und bewusst konstruierende Anteile der Filmrezeption können dann, statt durch rein somatische Thesen ersetzt zu werden, ›aus dem Körper heraus‹ betrachtet werden, wie es Thomas Morsch gefordert hat.439 Schon Siegfried Kracauer bemerkt in seiner Theorie des Films: »Ich gehe von der Annahme aus, daß Filmbilder ungleich anderen Arten von Bildern vorwiegend die Sinne des Zuschauers affizieren und ihn so zunächst physiologisch beanspruchen, bevor er in der Lage ist, seinen Intellekt einzusetzen [...] Es ist, als ob sie ihn durch ihre bloße Gegenwart dazu drängten, sich unreflektiert ihre unbestimmbaren und oft amorphen Formen zu assimilieren

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movie’s emotional challenge. We actively undertake measures to stop (or lessen) an immersive experience that is threatening to become unpleasant.« Hanich, Julian: Cinematic Emotion in Horror Films and Thrillers, S. 71. Vgl. dazu Kapitel 3.3.2.2 Man geht, so schon Husserl, »auf die Sachen selbst zurück[...]«, vor jeglichen Kodierungen und Interpretationen. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, S. 35. Vgl. dazu auch Sobchack, Vivian: The Address of the Eye, S. 8ff. Dies ist genau gegenläufig zum neoformalistischen Ansatz, der den Film hauptsächlich in der Narration verwirklicht sieht. David Bordwell dazu: »A film’s story does not simply shine forth; as viewers, we construct it on the basis of the plot, the material actually before us. The classical guidelines for this construction are [...] principles of causality and motivation [...] A film’s plot usually makes those guidelines applicaple by transmitting story information. This aspect of plot I shall call narration.« Bordwell, David. »Classical narration«, in: Bordwell, David/Staiger, Janet/Thompson, Kristin (Hg.), The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960, New York: Columbia University Press 1985, S. 24-41, hier S. 24. Moldenhauer dazu: »Erfahrungen sind nicht zwangsläufig mit einem bewussten Deutungsakt verbunden. Sie gehen in das Individuum ein, bilden Dispositive, die sein Verhältnis zur Außenwelt präformieren und konstituieren ein Weltwissen, auf das intuitiv zurückgegriffen werden kann. Dieses implizite Wissen wurzelt im körperlichen Erleben und braucht nicht verbalisiert zu werden, um wirksam zu werden. Erst mit der Loslösung des Erfahrungsbegriffs vom Moment der Reflexion wird Filmwahrnehmung als ein spezifischer Modus ästhetischer Erfahrung fassbar, der eine Alternative zum begrifflich vermittelten Wissen bedeutet.« Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S.136. Vgl. Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 7.

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[...] seinem ganzen Wesen nach besteht [der Film] aus einer Folge immer wechselnder Bilder, die zusammengenommen den Eindruck einer fließenden, ununterbrochenen Bewegung erwecken [...] Bewegung ist das A und O des Mediums. Nun scheint ihr Anblick einen ›Resonanz-Effekt‹ zu haben, der im Zuschauer kinästhetische Reaktionen wie zum Beispiel Muskelreflexe, motorische Impulse und ähnliches auslöst. Jedenfalls wirkt objektive Bewegung physiologisch stimulierend.«440

Er spricht von »organische[n] Spannungen, namenlose[n] Erregungen«441 und, der Theorie Gilbert Cohen-Séats folgend,442 von einem »Strudel schockartiger Emotionen [...] dem ›geistigen Schwindelgefühl‹ [...] dem ›physiologischen Sturm‹ [...]«443 Im Anschluss argumentiert er jedoch im Sinne psychoanalytisch geprägter Filmtheorien, das Ich des Zuschauers trete im Kino zurück, er löse sich auf und vergesse sich angesichts des Leinwandgeschehens und eben dieses Selbstvergessen in der Bilderflut suche er.444 Die vollständige Selbstvergessenheit ist jedoch auch aus Sicht phänomenolischer Thesen unmöglich, Vivian Sobchack betont wir seien uns als Filmzuschauer, anders als das Kind im Spiegelstadium, bewusst, dass das was wir sehen ein Film ist. Ebenso seien wir uns dem Akt des Sehens bewusst:445 »We are competent visual performers, capable of seeing not only as subjects of consciousness but also of making our own acts of vision objects of consciousness.«446 Der Körper tritt während der Rezeption, im Gegenteil, immer wieder merklich in den Vordergrund. Die sinnliche Komponente von Kracauers Argumentation ist als ein Wert in sich dennoch interessant, wie das Kapitel 4 wieder aufgreifen wird. Auch gemäß Steven Shaviro reagieren wir im Kino zuallererst auf die bewegten Bilder selbst, sie seien vielmehr Ereignisse als Repräsentationen.447 Ebendies macht die Direktheit filmischer Erfahrungen aus, die dem Publikum weniger eine reflexive, als gegenwärtig zuteilwerdende Auseinandersetzung mit den Übergängen zwischen Leben und Tod ermöglichen. Sabine Nessel führt aus: »Im Unterschied zu Theorien, die das ursprünglich fotografische Filmbild, ausgehend von seiner Abbildqualität, denken (Bazin), oder solchen, die den Zeichencharakter betonen (Metz), wird der Ereignischarakter des Films jenseits von Repräsentation und Sprache herausgestellt. Die strukturalistische Losung, daß es kein Außerhalb der Sprache und des Diskurses gebe, prägt die unterschiedlichen Theorien und Schriften zum Film, die im Umkreis der Arbeiten von Christian Metz ab den sechziger Jahren entstehen. Ein ebensolches Außerhalb der Sprache und Repräsentation ist es nun gerade, das Shaviro interessiert

440 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films, S. 216. 441 Ebd., S. 217. 442 Kracauer verweist auf Cohen-Séat, Gilbert: Essai sur les principes d’une philosophie du cinéma. I. Introduction générale: Notions fondamentales et vocabulaire de filmologie, Paris: Presses universitaires de France 1946, S. 154f. 443 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films, S. 217. 444 Vgl. ebd., S. 218. 445 Vgl. Sobchack Vivian: The Address of the Eye, S. 51. 446 Ebd., S. 52. 447 Vgl. Shaviro, Steven: The Cinematic Body, S. 23f.

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[...]«448 Der unbegreifliche Tod wird dann, zumindest in seinen bewegt-gegenwärtigen Übergängen, vom Publikum – obwohl innerhalb der Fiktion einer künstlichen Apparatur – insbesondere in eben diesem ›Außerhalb‹, als Exzess bzw. zwischen den Zeichen wie die jouissance, als etwas körperlich-Wirkliches, erlebt. Der Film, so Shaviro entsprechend, zeige immer etwas, bevor er etwas sage und der Zuschauer nehme dies wahr, erst im Anschluss werde das Gezeigte kognitiv weiterverarbeitet oder unbewusste Ebenen würden greifen.449 Shaviro weiter: »The disjunction between speech and image reflects the incapacity of language (metaphor and metonymy) to abolish and replace appearance (the literal). Apart from all speech, or at its limit, the image subsits, a trace or residue, alien to the process of signification. Filmmakers have frequently called attention to the radical potentialities of the nonsignifying image, as have theorists who have gotten beyond the simplistic binary opposition between Bazinian realism and Metzian semiotics.«450

Dem Töten, Sterben oder Totsein nur mit Worten (bzw. durch eine Narration) begegnen zu wollen oder diese durch Zeichen im Bild bannen zu wollen, wie die Personifizierungen des Transi und Skelettmanns, ist ebenso immer schon zum Scheitern verurteilt, da es dem Ausmaß möglichen Leids, der Todesangst oder dem Nichts des endgültigen Todes niemals gerecht werden kann. Nur das unmittelbar Gegebene, das intuitiv erfasst wird, bleibt mehrdeutig genug, um eine augenblickliche, echte Empfindung bzw. ein körperliches Erkennen des Todes zu ermöglichen. Mit der Loslösung der Bilder von ihren Referenzobjekten nimmt Shaviro dem Zuschauer zwar einerseits Bezüge zu einer vorfilmischen Welt ›hinter den Bildern‹, wie mit Gertrud Koch in Kapitel 3.1.5 ausgeführt wurde, andererseits macht er das Filmgeschehen selbst für eine unmittelbare somatische Erfahrung fruchtbar, die direkter erfolgt als psychoanalytisch-poststrukturalistische oder auch kognitive Theorien postulieren. Direkte Erfahrung und Referenz zur echten Lebenswelt müssen sich jedoch nicht auschließen.451 Dies ist auch für die (Film-)Erfahrung des gewaltsamen Todes

448 Nessel, Sabine: Kino und Ereignis, S. 39. Shaviro, so Nessel, hebe die visuelle Dimension, die Bildhaftigkeit selbst hervor und stelle diese, wie Kracauer, dem Intellekt voran. Anders als Kracauer beziehe er aber nicht die realen Bedingungen der Kinovorführung ein und gehe auch nicht wie dieser von einem Realitätseindruck des Films aus, der für ihn eine Erweiterung der Fotografie und ihrer Indexikalität darstelle. Vgl. ebd., S. 40ff. 449 Vgl. Shaviro, Steven: The Cinematic Body, S. 28ff. 450 Ebd., S. 29. 451 In Zwischen Ding und Zeichen versöhnen Gertrud Koch und Christiane Voss diese beiden Bereiche von direkter Erfahrung und Referenz, indem sie eine Doppelfunktion filmischer Bilder betonen: »Auf der einen Seite stößt sich ästhetische Erfahrung von den Gewissheiten der Lebenswelt ab, indem sie deren Vergegenständlichungen in eine semiotisch auslegbare Dinghaftigkeit transportiert. Die ästhetische Dinghaftigkeit ist an sich selbst erfahrbar, kann aber auch z.B. symbolisch auf die Lebenswelt zurückverweisen. Auf der anderen Seite konkretisiert sich ästhetische Erfahrung im direkten Verhältnis zu autonomen, fiktiven Welten, wie sie allererst im Werk aufgestellt und durch es evoziert werden. Insofern nun die empirische Welt im Lichte einer möglichen, rein ästhetischen Welt

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entscheidend: In Kapitel 3.1.1 wurden bereits die Erinnerungsbilder Henri Bergsons angesprochen, der die Leistung des Bewusstseins bei gegenwärtigen Erfahrungen betont: »In jedem Augenblick ergänzen [Erinnerungsbilder] die gegenwärtige Erfahrung, indem sie sie durch die bereits erworbene Erfahrung bereichern [...]«452 Nach Laura Marks würde eher das Körpergedächtnis greifen, all die sinnlichen Wahrnehmungen, die man bisher im Körper ›gespeichert‹ hat und die durch die Konfrontation mit Filmbildern reaktiviert werden.453 Kracauer argumentiert ähnlich und kommt dabei Christiane Voss’ Leihkörper nah, jedoch eher zugunsten einer Sinnlichkeit als einer objektiven Raumerzeugung: »[...] der Film [registriert] nicht nur physische Realität, sondern enthält auch sonst verborgene Wirklichkeitsbereiche, darunter räumliche und zeitliche Konfigurationen, wie sie mit Hilfe filmischer Techniken und Tricks von den Gegebenheiten abgeleitet werden können. Entscheidend ist hier, daß diese Entdeckungen [...] zusätzliche Ansprüche an die physiologische Konstitution des Zuschauers stellen. Die unbekannten Formen, denen er begegnet, wenden sich weniger an sein Denkvermögen als an seine organische Reaktionsfähigkeit. Dadurch, daß sie seine eingeborene Neugierde wecken, locken sie ihn in Dimensionen, in denen Sinneseindrücke den Ausschlag geben.«454

Wie der Kinozuschauer verschiedene Kameraeinstellungen zu einem homogenen Ganzen ergänzt,455 kann er als Leihkörper unmerklich das, was er aus der physischen Realität kennt, auf den Film übertragen und Mängel und Lücken damit schließen. Ein flüchtiges Phänomen wie der Tod, der sich in Gefahren oder Verletzungen ankündigt, aber letztendlich doch entzieht, liegt dementsprechend nicht nur in der Medialität des Films selbst verborgen, wie es Kapitel 2 stark gemacht hat, sondern kommt dem Zuschauer auch durch sein eigenes Zutun während der Filmrezeption näher: Indem er das, was er kennt, mit dem, was ihm unbekannt ist verbindet, die Unzulänglichkeiten des (vergangenen zweidimensionalen) Films mit seiner eigenen gegenwärtigen Körperlichkeit ausgleicht und dabei noch etwa die aufgerissene Haut eines sterbenden Gewaltopfers mit seiner eigenen verwundbaren Haut nachvollzieht. Indem er körperliche Anstrengungen und Angst unmittelbar und intuitiv begreift, als ein Spiel mit einer

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betrachtet werden kann und umgekehrt, ist ästhetische Erfahrung auch eine Vermittlungsinstanz eigener Art. Ästhetische Erfahrung ist demnach nicht nur auf konstruierendrekonstruierende Weise auf Welt und/oder Fiktion bezogen; sie ist zugleich selbst auch verkörperlichtes Medium der Vermittlung von Welt und Fiktion.« Koch, Gertrud/Voss, Christiane: »Vorwort«, in: Dies., Zwischen Ding und Zeichen. Zur ästhetischen Erfahrung in der Kunst, München: Wilhelm Fink Verlag 2005, S. 9-12, hier S. 11/12. Bergson, Henri: »Von der Selektion der Bilder für die Vorstellung – Die Rolle des Körpers«, S. 72/73. Mit haptic visuality beschreibt Marks den Akt des Sehens beim Film, bei dem weitere Sinne, insbesondere die Taktilität, mit angesprochen werden. Zusätzlich könne es, wie in Kapitel 3.2.2 beschrieben, auch haptic images geben, mit denen der Film gezielt diese Art der Rezeption fördere. Vgl. Marks, Laura: Touch, S. 2f. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films, S. 217. Vgl. Kapitel 3.2.1

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Erfahrbarkeit bis zum endgültigen Tod, wird ihm der Tod annähernd zugänglich. Wie lässt sich dies mit der kognitiven Filmtheorie verbinden? Während in der psychoanalytisch geprägten Filmtheorie sadistische und masochistische sexuelle Begehren im Vordergrund stehen, die über Blickkonstellationen verhandelt werden, beziehen sich Theorien in der Folge des zunächst noch eher kühlkognitiven Neoformalismus auf Zuschauer-Emotionen.456 Murray Smith bemerkt in Engaging Characters, man behandle Filmfiguren wie Personen, »[...] a mimetic act, bringing both the person schema and culturally specific role-schemata [...] into play.«457 Im Umgang mit Figuren wende der Zuschauer vorheriges Wissen und eigene Erfahrungen mit anderen fiktiven oder realen Personen an.458 Nur so könne man sich auf die Geschichte und ihre Figuren einlassen. Man müsse jedoch nicht, gemäß einer psychoanalytischen Identifikation, ›zur Figur werden‹, um ihr nah zu sein.459 Auch Noël Carroll spricht sich gegen eine Identifikation mit Figuren aus: »[T]he audience gives every indication that it knows that it is not the protagonist [...] When the heroine is splashing about with abandon as, unbeknownst to her, a killer shark is zooming in for the kill, we feel concern for her. But that is not what she is feeling. She’s feeling delighted.«460 Diese Trennung der Perspektiven macht häufig einen besonderen Reiz aus, weil der Zuschauer mehr weiß als die Figur und so – auch mit somatischen Sinne – Spannung erzeugt wird, wie das Beispiel von THE SILENCE OF THE LAMBS in Kapitel 3.3.2.1 zeigen wird. Sympathie und insbesondere Empathie mit Figuren bleiben dabei nicht fest an diese gebunden und ermöglichen dem Publikum so einen laufenden Perspektivwechsel, wie schon in Kapitel 3.2.1 diskutiert wurde. Christine Noll Brinckmann dazu: »Meistens bleiben weder Sympathie noch Empathiebereitschaft während eines ganzen Films konstant auf dieselbe Figur gerichtet. Empathie kann sehr schnell hin- und herflottieren zwischen 456 Vinzenz Hediger dazu: »Stand im Zentrum der psychoanalytischen Theorie noch ein Konzept wie Begehren, so ist die kognitive Filmtheorie erst in ihrer jüngeren Entwicklung so weit gekommen, die emotionalen Anteile des Filmerlebens in ihren Modellen mit zu erfassen. Bordwells These, das Filmverstehen lasse sich ohne Berücksichtigung der emotionalen Anteile des Filmerlebens beschreiben, ist noch die eines ›kalten‹ Kognitivsten, eines Theoretikers also, der letztlich davon ausgeht, dass Emotionen für Informationsverarbeitungsprozesse nicht von entscheidender Bedeutung sind.« Hediger, Vinzenz: »Des einen Fetisch ist des andern Cue«, S. 48. 457 Smith, Murray: Engaging Characters, S. 54. 458 Hier kommen auch Stereotype zum Tragen, wie sie im Zuge der Körpersemiotik in Kapitel 3.1.3 diskutiert wurden: »The effects of iconography range from very general assumptions embedded within cultures regarding, for example, racial types, through to implications specific to particular genres, cycles, even individual texts. For example, as Eisenstein suggests, we still use terms and iconography which have their origins in discredited sciences like physiognomy [...] The concomitant stereotypical iconography of race, used to represent blacks, Native Americans, and other minorities, persisted in Hollywood films until at least the 1960s [...] Whether we consciously assent to the moral associations of iconography or not, they are part of the ›automatized‹ level of filmic comprehension.« Ebd., S. 192. 459 Vgl. ebd., S. 96. 460 Carroll, Noël: The Philosophy of Horror or Paradoxes of the Heart, S. 90.

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verschiedenen Akteuren, kann eine ganze Situation mehr oder weniger diffus betreffen (dann sollte man von ›atmosphärischer Partizipation‹ sprechen), kann tatsächlich exklusiv einer bestimmten Figur vorbehalten sein oder plötzlich auf eine andere überspringen, sozusagen im Lauf das Pferd wechseln [...]«461

Die verschiedenen Ebenen von Empathie sind bei der Filmrezeption, nach Noll Brinckmann, komplex miteinander verflochten: wir seien in der Lage sowohl nachzuvollziehen, was eine Figur empfindet, als auch eigene Empfindungen hierzu zu entwickeln. Diese können, damit auch Empathie und Sympathie, miteinander in Konflikt treten. Dazu können wir verstehen, was andere Figuren gegenüber der ersten empfinden.462 Dies ermöglicht demnach auch eine Mehrperspektivität auf den gewaltsamen Tod bzw. das Töten und Sterben in der Filmrezeption. Der Bruch kognitiver Filmtheorien mit der lange dominierenden psychoanalytisch geprägten These einer Figuren-Identifikation, ist dabei nicht unkritisch zu betrachten. Gemäß Torben Grodal führt dies häufig zu einer Distanzierung, die eine direkte, immersive Beteiligung des Publikums in Abrede stelle, da dies einer psychoanalytischen Identifikation zu nah komme: »Thus observer theories often give impoverished descriptions of the film viewer’s experience, focusing mainly on emotions such as pity, admiration, or fear for the protagonist – emotions shaped by the viewer’s distanced relationships to other people. They implicitly rule out feelings arising from the viewer’s own immersed experience of first-person emotions such as love and fear.«463 Dennoch erleichtert die Loslösung von psychoanalytisch geprägten Theorien die Einbeziehung neuer Erkenntnisse aus anderen Fachrichtungen und damit eine Erweiterung der Debatte. Die stärkere Berücksichtigung somatischer Anteilnahme kann dazu beitragen, die Lücke zwischen psychoanalytischer Identifikation und eher distanzierter Zuschauerbeteiligung in kognitiven Theorien zu schließen, da das Publikum direkt, ganzkörperlich, an der filmischen Welt und den Erfahrungen ihrer Figuren beteiligt ist, ohne sich jedoch mit ihnen zu identifizieren. Eine Abwendung von der Annahme einer direkten Identifikation mit einer Filmfigur kann zugleich den Zugang des Publikums zu filmischen Tötungen erklären, ohne unmittelbar an Sadismus/Masochismus oder gar eine eigene Gewaltbereitschaft gekoppelt zu sein, da man für das Handeln der Figur keine Verantwortung trägt. Jens Eder bemerkt in Imaginative Nähe zu Figuren: »Man kann die Wahrnehmung von Figuren teilen, deren Gefühle man nicht zu erahnen vermag; man kann mehr wissen als Figuren, deren Interessen man teilt; man kann sogar mit Figuren

461 Noll Brinckmann, Christine: »Die Rolle der Empathie oder Furcht und Schrecken im Dokumentarfilm«, in: Brütsch, Matthias /Hediger, Vinzenz /von Keitz, Ursula /Schneider, Alexandra/Tröhler, Margrit (Hg.), Kinogefühle. Emotionalität und Film, Marburg: Schüren Verlag 2005, S. 333-360, hier S. 339. 462 Vgl. Noll Brinckmann, Christine: »Die Rolle der Empathie oder Furcht und Schrecken im Dokumentarfilm«, S. 336ff. 463 Grodal, Torben: Embodied Visions, S. 182.

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empathisieren, deren Werte man ablehnt. Ein Zuschauer kann abwechselnd die Wahrnehmungsperspektive eines idealisierten Helden und eines sadistischen Mörders einnehmen, kann ihre Ziele gegensätzlich bewerten und sich dennoch keinem von beiden wirklich nahe fühlen.«464

Murray Smith bringt bereits kognitive und somatische Thesen einander näher, bevorzugt aber noch immer die kognitive Ebene. Das Alignment, grob übersetzt die Angleichung an die Figur, besage wie viel Information wir bekommen, wie sehr unser Wissen als Publikum durch das Wissen einer Figur vorgefiltert werde. Es handelt sich also um ein eher kognitives Element. Allegiance dagegen, unser Zugehörigkeitsgefühl zu einer Figur, stehe für unsere moralische Bewertung dieser. Dies schließe kognitive, wie auch affektive Bewertungen ein.465 Während wir bei Sympathie eine Person oder Filmfigur moralisch bewerten, erkennen wir bei Empathie – insbesondere somatischer Empathie, unmittelbaren körperlichen Reaktionen, etwa auf das Leiden eines Opfers – die Empfindungen eines anderen unabhängig von solchen Bewertungen an. Julian Hanich bestätigt: »[...] somatic empathy does not demand strong character allegiance [...] In fact, it works in connection with figures never encountered before in the film; even animals or cartoon characters can be objects of somatic empathy.«466 Damit kann der Körper gerade als Basis auch für kognitive Prozesse und Informationsverarbeitungen angesehen werden, statt eine somatische Theorie streng von einer kognitiven zu trennen. Torben Grodal dazu: »Our embodied brains shape our experience of film, and central features of the film experience and film aesthetics are determined by the basic architecture of the brain and the functions it has evolved to serve. We watch movies with our eyes and ears, and our senses have not evolved in order to be abstract processors of information, but to provide information as background for motor actions that can implement the preferences of our embodied brains – preferences that are expressed in our emotions. As Merleau-Ponty [...] was the first to point out, our intentionality is founded on the way in which our motor system is directed toward acting in and on the world.«467

Eine direkte Verbindung von Gehirn und Körper wird auch in der Diskussion von Spiegelneuronen468 gesucht, die häufig als entscheidende Hirnregion für Empathie ausgemacht werden.469 Die Neurowissenschaftler Claus Lamm und Jasminka Majdandžić 464 Eder, Jens: »Imaginative Nähe zu Figuren«, in: Montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation. Figur und Perspektive, Vol.1 (2006), S. 135160, hier S.148. 465 Vgl. Smith, Murray: Engaging Characters, S. 83f. 466 Hanich, Julian: Cinematic Emotion in Horror Films and Thrillers, S. 103. 467 Grodal, Torben: Embodied Visions, S. 145. 468 Der Italiener Giacomo Rizzolatti und sein Team konnten 1992 nachweisen, dass Neuronen im Großhirn von Makaken sowohl reagierten, wenn der betreffende Affe eine Handlung selbst ausführte, als auch wenn ein anderes Individuum beim Ausführen einer Handlung beobachtet wurde. Dies führte zu allerlei Spekulationen über das menschliche Gehirn. Vgl. Rizzolatti, G. et al.: »Understanding motor events: a neurophysiological study«, in: Experimental brain research, Band 91, Nr. 1 (1992), S. 176–180. 469 Vgl. Ramachandran, V. S.: The Tell-Tale Brain. A Neuroscientist’s Quest For What Makes Us Human, New York/London: W. W. Norton & Company 2011, S. 124.

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betonen allerdings, dass der Bereich im menschlichen Gehirn, in dem man Spiegelneurone annimmt, zwar aktiviert sei, wenn man etwa beobachte, wie sich ein anderer Mensch verletzt, es handle sich dabei aber um ein rein motorisches Phänomen, das keine emotionale Reaktion nach sich ziehen müsse.470 Gregory Hickok erläutert in The Myth of Mirror Neurons, eine Beschädigung der entsprechenden Hirnregion führe nicht zu einem Verlust des Verständnisses der Handlungen anderer.471 Dementsprechend benötige man auch keine motorische Resonanz, um Empathie zu empfinden, so auch Lamm und Majdandžić.472 Löst man sich jedoch von der exklusiven Fokussierung auf Spiegelneurone und erkennt weitergefasste Systeme im Gehirn an, ist insbesondere die Arbeit Tania Singers aufschlussreich für Zusammenhänge zwischen dem Empfinden und reinen Beobachten von Leiden und Schmerz. In einer Studie von 2004 zu Schmerz und Empathie hält sie fest, es würden dieselben Bereiche im Gehirn aktiviert, wenn man selbst oder eine geliebte Person im selben Raum Schmerz erfahre. Dies umfasse die affektiven, nicht jedoch die sensorischen Anteile der Gesamtmatrix von Schmerz und könne durchaus als die Grundlage von Empathie angesehen werden.473 Das Kapitel 3.1.4 zur Passion Christi hat bereits gezeigt, dass man bei ästhetischen Erfahrungen, im Anbetracht körperlichen Leids in Gemälden und Filmen, natürlich nicht direkt empfindet, was die betroffene Figur (vermeintlich) empfindet. Ein intuitives Verständnis ihres Leidens und eine affektive Reaktion darauf, sind deshalb aber nicht ausgeschlossen. Die Rolle unseres empfindsamen, in der Welt verorteten Leibs nach Merleau-Ponty wird dementsprechend in den Kognitionswissenschaften heute auch im Zuge der Embodied Cognition verhandelt. Diese, so Hickok, werde von einigen Wissenschaftlern gar als ›Postkognitivismus‹ aufgefasst und betrachte jegliche Kognition aus der Perspektive des Körpers, bzw. untersuche das Zusammenspiel sinnlicher und motorischer Systeme mit unserem rationalen Denken.474 Michele Guerra bestätigt in Modes of Action at the Movies, or Re-thinking Film Style from the Embodied Perspective: »[...] meaning-making processes are not confined to the domain of the cognitive, but grow out of the bodily and pre-cognitive contact between us and the work of art [...] it is thanks to cognitive neuroscience that matters like attention, emotion, and most of all motor cognition have entered and implemented the debate on cinema, offering in some cases new and surprising insights about film experience, and in other cases recovering and making clearer theoretical questions already

470 Lamm, C./Majdandžić, J.: »The role of shared neural activations, mirror neurons, and morality in empathy - A critical comment«, in: Neuroscience research. Band 90 (2015), S. 15– 24, hier S. 19. 471 Vgl. Hickok, Gregory: The Myth of Mirror Neurons. The Real Neuroscience of Communication and Cognition, New York/London: W. W. Norton & Company 2014, S. 6. 472 Vgl. Lamm, C./Majdandžić, J.: »The role of shared neural activations, mirror neurons, and morality in empathy«, S. 19. 473 Vgl. Singer, T. /Seymour, B./O'Doherty, J. et al: »Empathy for Pain Involves the Affective but not Sensory Components of Pain«, in: Science, Vol. 303, Nr. 5661 (2004) S. 11571162, hier S. 1161, DOI: 10.1126/science.1093535. 474 Vgl. Hickok, Gregory: The Myth of Mirror Neurons, S. 121ff.

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raised within French filmology, ecological and cognitive film theory, and film phenomenology.«475

Der Film binde den Zuschauerkörper an den phänomenologischen Filmkörper und ermögliche so eine Art Identifikation mit diesem, die kognitive Skripte aktiviere, die wiederum einen Nachvollzug der Motivationen und Emotionen von Figuren erlauben würden.476 Entsprechend habe auch Merleau-Ponty für das Kino das »präreflexive Primat der Wahrnehmung«477 stark gemacht, so Chris Tedjasukmana: »[Wir] nehmen [...] als Zuschauer_innen die[...] entgrenzte Zeit in der mechanischen Verlebendigung des Kinos immer im Modus der Aktualität wahr [...] In der wechselseitigen Durchdringung von filmischem Geschehen und Zuschauerkörper öffnen und eröffnen sich [...] vergangene[...] Problemzusammenhänge den aktuellen Situationen, mit denen sie verwoben werden.«478 In eben dieser engen Verbindung liegt das besondere Potential der im Film unmittelbar mitempfundenen, widerständigen Lebendigkeit in körperlichen Ausnahmezuständen und Anstrengungen bis zum Tod. Diese aufwühlende Thematik wird durch die Technik des Films weiter erhöht und reißt den Zuschauer in einen Strudel, in dem sie seinen eigenen Körper gleichermaßen mit aufrüttelt. Komplexere Gefühle, wie Empathie als nicht mehr nur somatische Reaktion, sondern körperlich-geistige Emotion, sind natürlich weiterreichend als einfache somatische Automatismen, wie ein Aufschrecken. Tania Singer dazu in Empathy and compassion: »Empathy makes it possible to resonate with others’ positive and negative feelings alike – we can thus feel happy when we vicariously share the joy of others and we can share the experience of suffering when we empathize with someone in pain. Importantly, in empathy one feels with someone, but one does not confuse oneself with the other; that is, one still knows that the emotion one resonates with is the emotion of another. If this self-other distinction is not present, we speak of emotion contagion, a precursor of empathy that is already present in babies. While shared happiness certainly is a very pleasant state, the sharing of suffering can at times be difficult, especially when the self-other distinction becomes blurred.«479

Kognitive Prozesse ermöglichen somit die Unterscheidung zwischen einem selbst und einem leidenden Anderen und verhindern, dass wir durch emotionale Ansteckung unmittelbar körperlich affiziert werden als wären wir selbst betroffen. Jorge Armony und Patrik Vuilleumier beschreiben emotionale Ansteckung, im Cambridge Handbook of Human Affective Neuroscience: »Emotional contagion goes one step further than mimicry in that the automatic imitation and synchronization of displayed emotions –

475 Guerra, Michele: »Modes of Action at the Movies, or Re-thinking Film Style from the Embodied Perspective«, in: Coëgnarts, Maarten/Kravanja, Peter (Hg.), Embodied Cognition and Cinema, Leuven: Leuven University Press 2015, S. 139-154, hier S. 143. 476 Vgl. Guerra, Michele: »Modes of Action at the Movies«, S. 145. 477 Tedjasukmana, Chris: Mechanische Verlebendigung, S. 141. 478 Ebd., 201. 479 Singer, Tania/Klimecki, Olga M.: »Empathy and compassion«, in: Current Biology. Vol. 24, Nr. 18 (2014), S. 875-878, hier S. 875.

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whether at the level of facial expressions, vocalizations, postures, or movements – result in a convergence in the actual emotional experience [...]«480 So könne der Anblick körperlichen Leidens, über eine direkte körperliche Reaktion hinaus, zu einer empathischen Bedrängnis (empathic distress) führen, bei der man sich entzieht, um sich selbst vor den negativen Emotionen zu schützen.481 Dies kann in ein Verlassen des Kinosaals oder Anhalten der DVD resultieren, wenn die Gewalt einer vorgeführten Tötung zu eindringlich wirkt. Die Grenze zwischen einem selbst und dem Filmgeschehen, von Fiktion und Realität, Dort und Hier, verwischt dann teilweise und eben das wird als unerträglich erlebt. Mitgefühl dagegen, als ein »feeling for and not feeling with the other«,482 führe zu einer stärkeren Unterscheidung zwischen einem selbst und dem anderen. Statt ohnmächtig ausgeliefert zu sein, bestünden dann etwas distanziertere Gefühle wie Sorge und das Bedürfnis zu helfen.483 Die New Extremity Filme in Kapitel 3.3, so wird sich zeigen, unterbinden diese Möglichkeit einer Distanzierung und Bewertung der Situation teilweise und verschwischen Körpergrenzen zwischen Filmfigur und Zuschauer, sowie Leinwand- und echter Welt. Ed Tan erkennt entsprechend in Emotion and the Structure of Narrative Film auf der Arbeit des Psychologen Nico Frijda aufbauend für Emotionen im Kino einen (umgewandelten) intentionalen Handlungsimpuls: »There may also be a nonvirtual action tendency (e.g., to help a victim), but this is transformed into a virtual action, an imagination, say, or a desire, so that it does not actually require action. Nevertheless, a feeling is not necessarily experienced any less intensely than the corresponding emotion with a genuine action tendency. We are still dealing here with true emotions: there is a surface concern involved, and the core components of the situational meaning are present. The action tendency can be virtual and still contribute to the intensity of the emotional experience.«484

Unsere Emotionen und somatischen Impulse während der Filmrezeption sind demnach echt, auch wenn wir nicht handeln (können) wie im echten Leben. Was bei David Bordwell noch der cognitive concern war, die Beantwortung aller aufgeworfenen Zuschauerfragen am Ende des Films, wird durch Ed Tan zum emotive concern erweitert, Wünschen und Vorstellungen des Zuschauers, die üblicherweise zum Ende des Films hin erfüllt werden.485 Doch weder kognitiv, noch affektiv wird man immer vom Film 480 Armony, Jorge/Vuilleumier, Patrik: The Cambridge Handbook of Human Affective Neuroscience, Cambridge: Cambridge University Press 2013, S.535/536. 481 Vgl. Ebd, S. 536. 482 Singer, Tania/Klimecki, Olga M.: »Empathy and compassion, S. 875. 483 Vgl. Armony, Jorge/Vuilleumier, Patrik: The Cambridge Handbook of Human Affective Neuroscience, S. 536f. 484 Tan, Ed: Emotion and the Structure of Narrative Film, S. 75. 485 »The cognitive concern corresponds broadly to the assimilation of the action observed, into a canonic narrative structure. That structure is determined largely by typical causal relationships between successive parts of the action. Completion of an unambiguos canonic narrative structure satisfies cognitive curiosity [...] The affective concern is an end state of the fictional world that corresponds (a) the sympathies of viewers and (b) their values. The sympathetic protagonist gains the person or thing she wants and has been striving for, while the unsympathetic character gets nothing or is punished.« Ebd., S. 96.

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belohnt. Vorstellungen und Wünsche des Publikums bleiben mitunter unerfüllt, so dass eine hinreichende Motivation den Film bis zum Ende anzusehen bei negativen Themen wie der ausgeprägten Gewalt der New Extremity Filme nicht immer erkennbar ist. Deshalb müssen weitere Anteile beteiligt sein, Gratifikationen, die negative Themen dennoch für ein Publikum attraktiv machen, selbst wenn am Ende des Films keine ausgleichende Gerechtigkeit auftritt. Dies wird in Kapitel 4 noch einmal aufgegriffen. Dieses Kapitel hat gezeigt, dass die Nähe zu Figuren nicht an direkte Identifikationen gebunden bleiben muss, wie noch von psychoanalytisch geprägten Theorien postuliert. Wir sind stattdessen auf komplexe Weise, körperlich und geistig, mit dem Filmgeschehen verstrickt. Auch eigene Erfahrungen, Bewertungen und die Atmosphäre des Films als Ganzes spielen dabei eine Rolle. Was wir aus unserer Lebenswelt kennen, dient der Ergänzung und Vervollständigung dessen, was der Film uns nur in Andeutungen bieten kann, indem wir ihn, Christiane Voss’ Leihkörper-Theorie folgend, durch unseren eigenen Körper in eine gegenwärtige Dreidimensionalität übersetzen. Auch unsere eigene Sinnlichkeit und Verletzlichkeit kommt zum Tragen und wir begreifen durch diese erst das Filmgeschehen und nähern uns mit dem, was wir aus unserem physischen Leben kennen selbst noch der Unbegreiflichkeit des Todes an. Dort wo er uns im Film nicht als Andeutung, Sensen- oder Skelettmann begegnet, sondern unmittelbarer als verwesende Leiche oder stark verletztes Gewaltopfer, erschließt er sich uns im gelungenen Fall intuitiv somatisch. Die Unmittelbarkeit seiner Bilder ist nach Shaviro das, was den Film in besonderer Weise auszeichnet. Er befindet sich darin ›außerhalb‹ semiotischer Systeme, wie der Tod selbst. Alles was (gerade) noch bewegtes Leben ins sich trägt, hat das Potential uns als eine Art Nahtoderfahrung gekoppelt mit der Bewegung des Films zu überwältigen, ohne dass wir es je vollständig kognitiv begreifen oder verbalisieren können. Der Exzess, sei es exzessive Gewalt oder ein Mehr in den formalen Gestaltungsmitteln des Films, kann dabei zusätzlich auf den Zuschauerkörper einwirken und die Filmerfahrung intensivieren, wie etwa die Arbeit zu body genres von Linda Williams zeigt, die das Kapitel 3.3.2 wieder aufgreifen wird. Über die streitbare Bedeutung einzelner Spiegelneuronen hinaus gilt es inzwischen als erwiesen, dass bestimmte Bereiche im Gehirn sowohl aktiviert werden, wenn wir selbst Schmerz erfahren, als auch den Schmerzen anderer beiwohnen. Dies spricht für ein intuitives körperliches Verständnis des Leids von anderen vor jeglichen kognitiven Bewertungen von Situationen oder auch Filmnarrationen und zeigt sich auch in unmittelbaren Mimikry wie schmerzlich verzogenen Gesichtern, obgleich man selbst vom Schmerz der Figur verschont bleibt. Es schließt aber dennoch sadistische Anteile nicht aus, wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben. Auch wenn die Auffassungen von Körpern sich innerhalb der großen Filmtheorien nicht einfach austauschen lassen, kann man eine somatische Filmerfahrung durchaus psychoanalytisch oder kognitiv geprägten Filmtheorien als Ausgangspunkt voranstellen, im Sinne eines empfindsamen Körpers, der Medium jeglicher unbewussten und bewussten Wahrnehmungen und weiterführenden Prozesse ist. Die folgenden Kapitel nun versuchen dem widerständigen Genuss einer ästhetischen Erfahrung im Anbetracht filmischer Tötungen anhand konkreter Filmbeispiele näherzukommen.

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3.3 TÖTUNGEN IM POSTKLASSISCHEN UND NEW EXTREMITY KINO 3.3.1 Exkurs: (Post-)Klassisches Kino, New Extremity und Genres Den gewaltsamen Tod im Zuge filmischer Tötungen mitzuerleben vermag der Zuschauer auf Grund einiger filmhistorischer Gegebenheiten, wie der Abschaffung der Zensur. Hieraus konnten das postklassische Hollywoodkino und das europäische New Extremity Kino erst entstehen, die in den Folgekapiteln im Fokus stehen. Deshalb ist zunächst eine filmhistorische Einordnung vom klassischen hin zum postklassischen Kino notwendig, das dem New Extremity Kino u.a. den Weg ebnete. Auch zu den für diese Untersuchung gewählten Genres Horror, Action und Drama sind einige Vorbemerkungen nötig. Was unterscheidet klassisches und postklassisches Hollywoodkino? Hierzu muss man die historischen Bedingungen in Hollywood einbeziehen: Im sogenannten vertikalen Studiosystem zwischen 1920 und 1940 kontrollieren noch Studios wie MGM486 sowohl Produktion als auch Vertrieb und Aufführung.487 Zu den größten Stars dieser Zeit zählen Katharine Hepburn, Clark Gable, Greta Garbo oder Humphrey Bogart, einer der erfolgreichsten Filme ist GONE WITH THE WIND (1939).488 Der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg 1941 hat ebenso Auswirkungen auf die Filmindustrie, wie die Auflösung des herkömmlichen Studiosystems durch »[...] ein Gerichtsurteil, das die Studios zwingt, die vertikale Integration aufzugeben und sich von ihren Kinoketten zu trennen. Das Urteil des Supreme Court (Paramount decision) von 1948 stellt – wie die HUAC-Anhörungen – den Schlusspunkt einer Entwicklung dar, die in den 1930er Jahren begonnen hatte, aber durch die New Deal-Gesetze und den Krieg unterbrochen worden war. Jetzt hat der Kampf gegen die monopolartige Stellung der Studios Erfolg, und das Urteil leitet einen Prozess ein, bei dem die Studios – auch durch die zunehmende Konkurrenz durch das Fernsehen und das veränderte Freizeitverhalten in der Nachkriegsgesellschaft – bis in die 1960er Jahre an Einfluss verlieren werden. Unabhängige Produktionsgesellschaften, häufig von Veteranen des Studiosystems wie Hal Wallis gegründet, bereichern ein Produktionsumfeld, das differenzierter und flexibler wird [...]«489

Historische Ereignisse und Rahmenbedingungen beeinflussen damit immer den Aufbau und die Ästhetik des Hollywoodfilms. Dasselbe gilt für den ‚Produktionsmodus‹,

486 Eines der ›Big Five‹-Studios neben RKO, Paramount, Warner Bros. und Twenthieth Century Fox. Vgl. Langford, Barry: Post-classical Hollywood. Film Industry, Style and Ideology since 1945, Edinburgh: Edinburgh University Press 2010, S. 5. 487 Vgl. Decker, Christoph: »Der Amerikanische Film«, in: Ders., Visuelle Kulturen der USA: Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika, Bielefeld: transcript Verlag 2010, S. 161-238, hier S. 165. 488 GONE WITH THE WIND (USA 1939, R: Victor Fleming) 489 Decker, Christoph: »Der Amerikanische Film«, S. 201.

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das Zusammenspiel aus Regie, Kamera, Schauspiel und Musik, abhängig von der Herkunft (Studioproduktion oder alternatives Filmprojekt) und dem Budget des Films.490 Parallel zum kommerziellen Hollywood-Blockbuster mit seinem Starkult und dem Merchandising,491 beginnt nach dem Krieg eine Suche nach neuen Ausdrucksformen. Dies geschieht, so Christoph Decker in Der amerikanische Film, sowohl seitens einer filmischen Avantgarde, etwa Maya Deren oder später Stan Brakhage, als auch der großen Studios, um Regisseure wie William Wyler, der Kriegserlebnisse und daraus resultierende psychische Probleme in THE BEST YEARS OF OUR LIVES (1946)492 in einem neuen Realismus schildert.493 Der pessimistische Film Noir494 zeigt in den 1940er und 1950er Jahre mit seinen vielschichtigen Figuren, der Dunkelheit und den Kontrasten, die »[...] obsessivzerstörerische ›Schattenseite‹ des amerikanischen Traums. Zwar kennzeichnet die sadistische Lust an individuell ausgeübter Gewalt bereits das Gangstergenre oder den Gefängnisfilm der frühen 1930er Jahre, doch mit dem Film Noir wird der Gewaltakt aus sozial deklassierten Milieus herausgelöst, psychologisiert und häufig als sekundäres Symptom einer tiefer liegenden, destruktiven Abhängigkeit oder Pathologie charakterisiert [...]«495 Hier zeichnen sich, neben den immer aufwendigeren, hoch budgetierten Produktionen des Blockbusters mit somatisch eindrücklichen Special 490 Vgl. ebd., S. 165. 491 Der Profitverlust in der Nachkriegszeit, auch auf Grund des sich verbreitenden Fernsehangebots, veranlasste die großen Studios, mit hoch budgetierten Filmen kalkuliert hohe Einnahmen zu erzielen: »The studios interpreted these figures [gemeint sind die Ticketverkaufszahlen großer Produktionen Ende der 40er und Anfang der 50er] to mean that in an era of occasional rather than habitual filmgoing, the right kind of pictures, promoted properly, could transcend the medium to become exciting ›must see‹ events commanding exceptional public interest. As expensive as such films were, their box office performance proffered a clear lesson: spend big to win big.« Langford, Barry: Post-classical Hollywood, S. 34. 492 THE BEST YEARS OF OUR LIVES (USA 1946, R: William Wyler). 493 Vgl. Decker, Christoph: »Der Amerikanische Film«, S. 203. 494 Die Zugehörigkeit von Filmen zum Film noir ist schwer zu bestimmen. David Bordwell führt aus: »Issues of transgression and subversion, stylization and realism, foreign influence and domestic genre intersect in that body of work known as film noir. It is an extraordinarily amorphous body; critics have defined it as a genre, a style, a movement, a cycle, even a tone or mood [...] From the start [...] the American films noir were defined chiefly by their difference from the mainstream Hollywood product [...] we inherit a category constructed ex post facto out of a perceived resemblance between continental crime melodramas and a few Hollywood productions. As a result, ›film noir‹ has functioned not to define a coherent genre or style but to locate in several American films a challenge to dominant values. It is not a trivial description of film noir to say that it simply indicates particular patterns of nonconformity within Hollywood. This is why films of many different sorts can be considered to belong to ›film noir‹.« Bordwell, David: »The bounds of difference«, in: Bordwell, David/Staiger, Janet/Thompson, Kristin (Hg.), The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960, New York: Columbia University Press 1985, S. 70-84, hier S. 74. 495 Decker, Christoph: »Der Amerikanische Film«, S. 204.

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Effects, bereits neue, die Narration wieder zugunsten einer stärkeren Visualität überschreitende Ausdrucksformen und ein erhöhter Realismusanspruch ab, die, parallel entstehend, für den postklassischen Film und seinen Umgang mit gewaltsamen Tötungen wichtig werden. Hollywood bleibt außerdem nicht isoliert, sondern wird zunehmend von der Arbeit internationaler Filmemacher beeinflusst. Das goldene Zeitalter des asiatischen Films in den 1950ern, insbesondere das japanische Kino, wie Akira Kurosawas RASHŌMON (1950)496 und SEVEN SAMURAI (1954)497 oder Ishirō Hondas GODZILLA (1954),498 haben großen Einfluss auf das postklassische Hollywoodkino.499 Ab den späten 1950er und frühen 1960er Jahren wirken auch die New French Wave bzw. Nouvelle Vague um François Truffaut und Jean-Luc Godard, die der klassischen Hollywoodnarration radikal entgegen steht,500 der italienische Neorealismus um Filmemacher wie Federico

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RASHŌMON (Japan 1950, R: Akira Kurosawa). SEVEN SAMURAI (Shichinin no samurai, Japan 1954, R: Akira Kurosawa). GODZILLA (Gojira, Japan 1954, R: Ishirō Honda) Vgl. Needham, Gary: »Japanese Cinema and Orientalism«, in: Eleftheriotis, Dimitris/Needham, Gary (Hg.), Asian Cinemas: A Reader And Guide, Honolulu/Edinburgh: University of Hawaii Press/University of Edinburgh Press 2006, S. 8-16. 500 »Die Filme der Nouvelle Vague bringen eine Ästhetik der Medienumbrüche und Reflexionen, der Ambivalenzen und des Spiels hervor. Sie weisen auf eine [...] Kunst der Abweichung und der Überschreitung, die mit konventionellen Rezeptionsweisen und Wahrnehmungsmodi bricht und den Blick auf neue Spielformen des Körpers, des Kinos, des Realen lenkt.« Winter, Scarlett/Schlünder, Susanne: »Einleitung: Körper, Ästhetik, Spiel – Kondensationsmomente einer filmischen écriture der Nouvelle Vague«, in: Dies., Körper, Ästhetik, Spiel – Kondensationsmomente einer filmischen écriture der Nouvelle Vague, München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 7-13, hier S. 8. Der Einfluss der Nouvelle Vague erhält sich bis heute: »The French New Wave movement has maintained a lasting influence over international film production. In contemporary film, we see many of the same stylistic techniques and thematic tendencies that were used by New Wave directors like Godard, Rivette, Truffaut, and Chabrol. These techniques include long and continuos takes, jump cuts, natural lightning, improvised dialogue and/or plot, and direct sound recording. Common themes include personal drama (relationships, personal crises, etc.) and character types such as antihero, loners, as well as antiauthoritarian and marginalized figures. The films of international contemporary directors such as Quentin Tarantino, Wong Kar Wai, Wes Anderson, Jean-Pierre Jeunet, Thomas Vinterberg, and Lars von Trier use many of the same production techniques, themes and character types seen in the French New Wave films of the 1950s and 1960s; a testament to the power and influence of this crucial cinematic movement.« DiMare, Philip C.: Movies in American History: An Encyclopedia. Band 1, Santa Barbara: ABC-Clio 2011, S. 958. Die Nouvelle Vague wiederum wurde teilweise vom amerikanischen Film Noir beeinflusst, die Bewegung geht also stets in beide Richtungen. Vgl. Mejcher, Yvonne: Film Noir and New Wave (An Analysis of the Impact of the American Film Noir on the French New Wave Movement.), Hamburg: Elbufer Verlag 2001. [Zugl.: New York, Univ., Diss., 1994 u.d.T.: Mejcher, Yvonne: Is it just by chance that Belmondo pays tribute to Bogart in a Paris street in 1959?].

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Fellini501 oder aus Schweden das Kino Ingmar Bergmans, auf die weitere Filmentwicklung in Amerika ein. Auch das Kunstkino, so der Filmwissenschaftler Barry Langford, löse sich meist nicht völlig von narrativen Strukturen: »Certainly [...] narrative is a fundamental dimension both of the international art cinema of Fellini, Bergman, Kurosawa, Visconti, etc., and indeed of most European New Wave filmmakers including Godard [...] until 1967. What differentiates these films from classic Hollywood is not the presence or absence of narrative as a fundamental ›ground‹, but the extent to which assumptions about narrative form and direction shape the architecture of the film as a whole.«502

Diese Einflüsse internationaler Produktionen hätten Filmemacher in Hollywood, so David Bordwell, in ihre Arbeit aufgenommen, ohne aber den klassischen Stil deshalb je völlig aufzugeben:503 »Like the European art film, the ›new Hollywood‹ film is sharply aware of its relation to the ›old Hollywood‹: DePalma’s rehashes of Hitchcock, Lucas’s use of Warners’ war films and Universal serials as prototypes for Star Wars, remakes of serials [...] and cartoons [...]«504 Dennoch lässt sich nicht in Abrede stellen, dass das postklassische Kino an verschiedenen Stellen mit den bisherigen Konventionen bricht. Faktoren wie das Umfeld der Nachkriegszeit,505 die Notwendigkeit angesichts des sich rasant verbreitenden Fernsehens konkurrenzfähig zu bleiben und insbesondere die Abschaffung der Zensur, die es erlaubte fortan Sex und Gewalt eindeutig zu präsentieren, mussten die Filmästhetik – und damit auch Sehgewohnheiten und Wirkungsweisen – radikal verändern. Statt dem ›Production Code‹ (oder Hays Code506), ein Kodex bezüglich einer moralisch vertretbaren Darstellung von Gewalt oder Sex, wird 1968 ein ›rating system‹ eingeführt, das Empfehlungen für Altersklassen ausspricht und damit die Darstellung selbst

501 »I vitelloni is Fellini’s first film with international distribution. It was huge in Argentina and had a good run in France, as well as in the United States [...] Filmmakers all over the world look to it as a model [...] like Martin Scorcese’s Mean Streets (1973), George Lucas’s American Graffiti (1974), and Joel Schumacher’s St. Elmo’s Fire (1985), as well as many others.« Kezich, Tullio: Federico Fellini: His Life and Work, London: I.B.Tauris & Co. Ltd. 2007, S. 137. 502 Langford, Barry: Post-classical Hollywood, S. 150. 503 Vgl. Bordwell, David: »The bounds of difference«, S. 72. 504 Bordwell, David/Staiger, Janet: »Since 1960: the persistance of a mode of film practice«, in: Bordwell, David/Staiger, Janet/Thompson, Kristin (Hg.), The Classical Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960, New York: Columbia University Press 1985, S. 367-377, hier S.374/375. 505 Hinzu kommen die Auswirkungen des Kalten Krieges und gesellschaftliche Ängste vor dem Kommunismus oder einem bevorstehenden Atomkrieg. Adam Rockoff dazu: »In the 1950s, the public’s paranoia over Communism and atomic energy was manifested in countless science fiction films about alien invaders and mutant creatures.« Rockoff, Adam: Going to Pieces, S. 26. 506 Vgl. dazu auch Langford, Barry: Post-classical Hollywood, S.13f.

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nicht mehr weiter reglementiert.507 Dies eröffnet den Weg für uneingeschränkte Gewaltdarstellungen in allen denkbaren Ausführungen, was Ausgangspunkt für die hier zu untersuchenden Wirkungsweisen ist.508 Christoph Decker dazu: »[Das Kino] besitzt seit der Lockerung des Production-Code-Verbots, Verbrechen explizit zu zeigen, keine negative Ästhetik mehr – keine Ästhetik des Indirekten, Angedeuteten oder Unzeigbaren. Dadurch gerät jede Sichtbarkeit in den Strudel des visuellen Tabubruchs: Faszination vermischt sich mit Ekel oder Erschütterung und treibt die Darstellungsgrenzen an ihren nächsten Punkt. Dieses ambivalente Oszillieren zwischen Grausamkeit, Lust und Vergnügen wird in Stanley Kubricks A Clockwork Orange von 1971 als ultimative Kinosituation vorgeführt [...]«509

Im postklassischen Kino ist folglich beinahe alles erlaubt, Filmemacher konnten relativ frei agieren und sich so als Autoren einen Namen machen.510 Neben teils drastischen Gewaltdarstellungen sind, gemäßCatherine Shelton, – ganz im Sinne der Ausführungen zum filmischen Exzess in Kapitel 3.2.3 – typisch für den postklassischen (Horror-)Film: »das Moment des Spektakulären (oder Sensationellen) und das Konzept des filmischen Exzesses, das diesem Genre in besonderem Maße eignet und welches letztlich mit einer Schwächung der filmischen Narrations- und Organisationsformen einhergeht, wie sie vom klassischen Film formuliert werden.«511 Der Film verweist dadurch auch wieder mehr auf sich selbst, die Spektakel, die er generieren kann, statt auf eine von ihm kopierte Realität. Damit steht das postklassische Kino, wie auch internationale New Extremity-Filme nach ihm, dem frühen Kino der Attraktionen wieder näher, das dem klassischen Hollywoodfilm voranging. Dieses steht gemäß Tom Gunning – und das ist für die vorliegende Untersuchung besonders interessant – für eine Filmerfahrung, die in den medienspezifischen Potentialen selbst begründet ist und gerade nicht nur Realität kopiert:

507 Vgl. Decker, Christoph: »Der Amerikanische Film«, S. 210. 508 Dies wiederum ist eng verbunden mit dem Körper: »Besonders auffallend und nachdrücklich [...] befasst sich gerade der postklassische Horrorfilm mit Körperlichkeit [...] er [lässt] vornehmlich den versehrten, zerstückelten, verwesten oder monströs mutierten Körper sichtbar werden.« Shelton, Catherine: Unheimliche Inskriptionen, S. 9. 509 Decker, Christoph: »Der Amerikanische Film«, S. 229. 510 »According to film historians, the short-lived ›youthquake‹ phenomenon that began in 1969 with the unexpected sucess of Easy Rider was the first sign that Hollywood was changing significantly. Then came the mainstream success of the ›movie brats‹ – most centrally, Francis Ford Coppola, Steven Spielberg, George Lucas, Brian DePalma, Martin Scorcese, and Peter Bogdanovich [...] Several directors in this generation had film school education and were well aware of the auteur theory and of film history in general. They aspired to become auteurs themselves, working within the industry but at the same time consciously establishing distinctive artistic personas.« Thompson, Kristin: Storytelling in the new Hollywood. Understanding Classical Narrative Technique, Cambridge/London: Harvard University Press 1999, S. 2. 511 Shelton, Catherine: Unheimliche Inskriptionen, S. 123.

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»[...] the cinema of attractions directly solicits spectator attention, inciting visual curiosity, and supplying pleasure through an exciting spectacle – a unique event, whether fictional or documentary, that is of interest in itself. The attraction to be displayed may also be of a cinematic nature, such as [...] early close-ups [...], or trick films in which a cinematic manipulation (slow motion, reverse motion, substitution, multiple exposure) provides the film’s novelty [...]«512

Direkte Zuschauerreaktionen, wie Schock oder Überraschung, sind damit entscheidender als eine durchdachte Narration oder psychologisch nachvollziehbare Motive der Figuren. Diese unmittelbaren somatischen Effekte stehen deshalb einer neoformalistischen Auffassung des Zuschauers entgegen, die kognitive Leistungen betont. Das Publikum wird vielmehr blitzartig ergriffen. Anders als beim klassischen Hollywoodfilm, wird der Zuschauer im Kino der Attraktionen auch anerkannt und nicht für die Erhaltung der Fiktion ausgeschlossen. Die ersten Aufführungen, so Christoph Decker, finden auf Jahrmärkten oder in Vaudeville-Theatern513 statt, als Teil von Spektakeln für die »[...] ›niederen‹ Schichten [...], die vom Vergnügen kultureller Eliten ausgeschlossen [waren]. Das Komische in seiner derben und vulgären Spielart sowie die hyperbolischen Affekte des populären Melodramas, kurz, die starke Körperlichkeit der Darstellung sind eine Folge dieser Anfänge.«514 Die Künstlichkeit des Films und seine Fähigkeit Dinge zu zeigen, hervorzuheben und in etwas Neues zu transformieren, ermöglichen erst eine ›Begegnung‹ mit dem Tod, wie Kapitel 2 gezeigt hat. Hier erlauben sie nun eine direkte Zuschaueradressierung, die nicht streng an eine kognitiv nachvollziehbare Handlung, psychoanalytische Identifikationen oder auch nur Sympathien mit Figuren gebunden bleibt. Diese Potentiale des Kinos der Attraktionen, das sich von Narration und reiner Mimesis der Wirklichkeit befreit, um die filmischen Möglichkeiten selbst vorzuführen, werden in einigen postklassischen Produktionen wieder aufgegriffen. Gunning dazu: »Clearly in some sense recent spectacle cinema has reaffirmed its roots in stimulus and carnival rides, in what might be called the Spielberg-Lucas-Coppola cinema of effects.«515 Während es im Kino der Attraktionen um Affizierungen und Körperlichkeit geht, widmen sich Filme ab 1907 verstärkt narrativen Strukturen und nähern sich so dem klassischen Hollywoodkino an,516 das neoformalistische Theorien bevorzugen, vom Stummfilm zum Tonfilm ab Ende der 1920er. Das Spektakuläre des Kinos der Attraktionen verschwindet jedoch nie ganz und gewinnt im postklassischen Kino und Filmen in seiner Folge wieder zunehmend an Bedeutung. Thomas Elsaesser dazu: »[D]igitale Trickeffekte, neues Sounddesign und eine an Vergnügungsparks und Achterbahnfahrten erinnernde körperliche Affizierung der Zuschauer [typisieren] die Ästhetik des zeitgenössischen Hollywood am stärksten [...] und [...] gewaltsamer Tod und expliziter Sex aus

512 Gunning, Tom: »The Cinema of Attractions. Early Film, Its Spectator and the AvantGarde«, in: Elsaesser, Thomas/Barker, Adam (Hg.), Early Cinema. Space, Frame, Narrative, London: BFI Publishing 1990, S.56-62, hier S. 58. 513 Vgl. Ebd., S. 59f. 514 Decker, Christoph: »Der Amerikanische Film«, S. 177. 515 Gunning, Tom: »The Cinema of Attractions«, S. 61. 516 Vgl. Decker, Christoph: »Der Amerikanische Film«, S. 178.

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dem B-Film (und der Pornografie) [sind] in das Zentrum des Mainstreams gewandert [...] Zusammengenommen haben diese sensorischen Stimuli und thematischen Schwerpunkte die Art verändert, wie Filme gestaltet und Plots visualisiert werden, mit dem Ergebnis, dass sie vom Publikum anders interpretiert (oder benutzt) werden. ›Spektakel‹ heißt in diesem Zusammenhang, dass solche Filme ›erfahren‹ und nicht gesehen werden, dass sie einen Fantasie-Raum anbieten, den man ›bewohnen‹ kann, und eben kein Fenster zur Wirklichkeit öffnen, sondern jeden ›Rahmen‹ sprengen. Die gesteigerte Bedeutung von direktem Sinnesreiz und emotionalem Kontakt ließe darauf schließen, dass Geschichtenerzählen nicht mehr so wichtig ist wie in der Periode des sogenannten klassischen Stils.«517

Auch das New Extremity Kino der 2000er Jahre lässt sich hieran anschließen: Ausgehend vom New French Extremity Kino518 entwickeln sich in den 2000er Jahren in ganz Europa Filme, die explizite Gewalt- und Sexszenen zeigen und mit jeglichen Tabus und Konventionen brechen.519 Für den Filmkritiker David Edelstein macht dies Filme wie die HOSTEL-Reihen zu torture porn.520 Andere, wie der Filmwissenschaftler Adam Lowenstein, verteidigen sie: »It [is] my contention that ›torture porn‹ does not exist, that a far more useful concept to work with is ›spectacle horror‹: the staging of spectacularly explicit horror for purposes of audience admiration, provocation, and sensory adventure as much as shock or terror, but without necessarily breaking ties with narrative development or historical allegory. Spectacle horror’s ›loudness‹ as a mode of direct, visceral engagement with viewers distinguishes it from ›quieter‹ forms of what we might call ›ambient horror‹, but this distinction should not mandate the negative value judgements that structure torture porn as a category.«521

517 Elsaesser, Thomas: Hollywood heute, S. 56. 518 Der Begriff geht auf einen Aufsatz des Filmkritikers James Quandt zurück: Vgl. Quandt, James: »Sex and Violence in Recent French Cinema«, in: Horeck, Tanya/Kendall, Tina (Hg.), The New Extremism in Cinema: From France to Europe, Edinburgh: Edinburgh University Press 2011 [2004], S. 18-28. 519 Doch nur in Frankreich kann man von einer Bewegung sprechen: »France is the den of this movement, and the directors associated with it are François Ozon, Gaspar Noé, Catherine Breillat, Bruno Dumont, Claire Denis, Patrice Chereau, Bertrand Bonello, Marina de Van, Leos Carax, Philippe Grandrieux, Jean-Claude Brisseau, Jacques Nolot, Virginie Despentes and Coralie Trinh Thi, and Alexandre Aja. A similar tendency towards the aesthetic exploration of violence is discernible in other European authors, such as Lars Von Trier and Fatih Akin, but only in France do we have something comparable to a movement.« Bogdan, Christina: New French Extremity: An Exigency for Reality. Notes on Metamodernism, August 2012, http://www.metamodernism.com/2012/08/14/new-frenchextremity-an-exigency-for-reality/(23.01.2019). 520 Vgl. Kapitel 3.2.1 521 Lowenstein, Adam: »Spectacle horror and Hostel: why ›torture porn‹ does not exist«, in: Critical Quarterly. Vol. 53, Nr. 1 (2011), S. 42-60, hier S. 42.

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Das French New Extremity Kino, obwohl nicht minder brutal wie der amerikanische torture porn, wurde von Anfang an wohlwollender aufgenommen als dieser.522 Seine Wurzeln berücksichtigend, wurde es von dem Filmkritiker Jonathan Romney in die Nähe des Kunstkinos gerückt: »[There is] a long French tradition of artistic and social dissent, in cinema, literature and art alike: a continuous thread running through the Enlightenment, the Revolution, Romanticism and Surrealism. In cinema, it was Surrealism that inaugurated the school of extremity, with two Spanish visitors, Luis Buñuel and Salvador Dalí, kickstarting the poetic strain of art-horror in the eyeslashing sequence of Un Chien Andalou (1929).«523

Weitere Einflüsse seien im Kino Jean-Luc Godards und – hier wird erneut der internationale Austausch deutlich – dem body horror David Cronenbergs zu suchen, der Kunst Gustave Courbets, den Werken des Marquis de Sade oder der Philosophie Georges Batailles.524 Martine Beugnet benennt das New French Extremity Kino entsprechend wertfreier cinema of sensation und betont dessen Fokus auf Körperlichkeit und seine eigene Materialität, wie auch auf das sinnliche, verkörperte Verständnis von Realität. Der teils drastische Umgang mit (tödlicher) Gewalt und Sex, so Beugnet, rücke die Kinoerfahrung allerdings schnell in den Bereich des Abjekten.525 Tanya Horeck und Tina Kendall sehen als kennzeichnend für diese Filme außerdem die Überschreitung von Genregrenzen, die Kombination von Kunstkino und Schocktaktiken, schockierende Akte, etwa Vergewaltigung, Nekrophilie und Selbstverletzung, wie auch Techniken, die die sensuelle und affektive Aufmerksamkeit des Publikums ansprechen und intellektuelle und viszerale Reaktionen verbinden.526 Europäische Filme würden insgesamt – noch vor den Extremity-Strömungen – so Wendy Ellen Everett in European Film and the Quest for Identity, soziale und politische Dilemmas beleuchten und in einem stetigen Dialog miteinander stehen:527 »European films frequently adopt a sceptical view of society and the establishment, and their ironic gaze frequently seeks to provoke, challenge and disturb [...] Importantly, the critical gaze 522 Selbstverständlich finden sich aber auch hier Gegenstimmen, die die ausufernde Gewalt nicht nachvollziehen können oder die dahinter zurücktretende Handlung bemängeln, bspw. Ebert, Roger: High Tension, 9. Juni 2005, http://www.rogerebert.com/reviews/high-tension-2005 (Abgerufen 23.01.2019) oder Elley, Derek: Review: Trouble Every Day, in: Variety vom 14. Mai 2001. http://variety.com/2001/film/reviews/trouble-every-day1200468352/(Abgerufen 23.01.2019). 523 Romney, Jonathan: »Le sex and violence«, in: The Independent vom 12. September 2004, https://www.independent.co.uk/arts-entertainment/films/features/le-sex-and-violence546083.html (Abgerufen 18.01.2019). 524 Vgl. ebd. 525 Vgl. Beugnet, Martine: Cinema and Sensation. French Film and the Art of Transgression, Edinburgh: Edinburgh University Press 2007, S. 32. 526 Vgl. Horeck, Tanya/Kendall, Tina: »Introduction«, S. 3. 527 Everett, Wendy Ellen: »European Film and the Quest for Identity«, in: Dies., European Identity in Cinema, Bristol/Portland: Intellect Books 2005 [1996], S. 7-14, hier S. 9.

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of European film is as likely to be directed inwards upon subjective landscapes as outwards upon society and, marked by the climate and uncertainty that has for long dominated Europe, filmic narratives frequently interrogate the nature of reality, identity and memory.«528

Das extreme europäische Kunstkino werde entsprechend von Filmemachern wie Filmkritikern anders vermarktet bzw. öffentlich diskutiert, so Mattias Frey in Extreme Cinema:529 »Although extreme cinema shares substantial narrative and aesthetic devices with (torture) porn, both its creators and many critics attempt to differentiate the projects [...] Extreme cinema, a subset of art cinema that uses and exaggerates strategies of popular, cult and exploitation movies, depends on this image of difference in order to be seen as legitimate and distinguish itself from these other forms.«530 In diesem Sinne würde das Kunstkino auf dieselben Effekte setzen, wie auch der torture porn – das Publikum zu schockieren und zugleich durch die Grenzüberschreitungen anzuziehen – und dies nur durch eine andere Kontextualisierung rechtfertigen. Dies wurde ähnlich schon in Kapitel 3.1.4 zu THE PASSION OF THE CHRIST und seinen Vorbildern aus der Malerei diskutiert. Die Extreme dieser Filme wären dann kein Erproben des Transgressiven durch die Kunst, sondern reines Kalkül der Filmemacher, die so immer wieder aufs Neue ein Publikum fänden.531 Auch wenn fragwürdig ist, ob Filme wirklich immer extremer werden müssen, ob die teils überbordende Gewalt filmischer Tötungen eine Berechtigung haben und je wirklich zur Kunst werden kann, erreichen sowohl der torture porn, als auch der europäische New Extremity Film das Publikum auf eine direkte und intensiv körperliche Weise, die während der Rezeption die Kategorien von Realität und Fiktion entgleiten lässt. Allein dies bündelt als eine neue, ästhetische Todeserfahrung Potentiale, die untersuchenswert erscheinen. Auch die Genres Horror, Action und Drama haben jeweils eine eigene Geschichte: Horrorfilme sind etwa so alt wie das Kino selbst.532 Frühe Werke wie der französische LE MANOIR DU DIABLE (1896)533, der schwedische KÖRKARLEN (1921)534 oder die deutschen Produktionen DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920)535 und NOSFERATU (1922)536 hatten teils großen Einfluss auf spätere internationale Produktionen. Das amerikanische Kino der 1930er kann jedoch als Ausgangspunkt des Horrorfilms angesehen werden, insofern als »the early 1930s marked the point where the term ›horror‹ became understood – by the industry, by critics, by audiences – as designating a particular type [...] of film, with the recognition of this term apparent not just in America 528 529 530 531 532 533

534 535 536

Ebd., S. 12. Vgl. Frey, Mattias: Extreme Cinema, S. 16ff. Ebd., S. 21. Vgl. Ebd., S. 205. Vgl. hierzu Prince, Steven: »Introduction: The Dark Genre and Its Paradoxes«, in: Ders., The Horror Film, Piscataway, N.J.: Rutgers University Press 2004, S. 1-14, hier S. 1. LE MANOIR DU DIABLE (Frankreich 1896, R: Georges Méliès). Den Film gibt es unter Méliès, Georges: The Haunted Castle, https://archive.org/details/The_Haunted_Cas tle_1896 (Abgerufen 23.01.2019). KÖRKARLEN (Schweden 1921, R: Victor Sjöström). DAS CABINET DES DR. CALIGARI (Deutschland 1920, R: Robert Wiene). NOSFERATU (Deutschland 1922, R: Friedrich Wilhelm Murnau).

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but in other countries where American films were distributed.«537 Vorangegangene Filme wurden lediglich rückwirkend zum Horrorgenre gezählt. Interessant ist hierbei, wie das amerikanische und das europäische Kino sich von Anfang an beeinflusst haben, so etwa das Weimarer Kino den amerikanischen Film Noir und Horrorfilm.538 Der hier zu behandelnde Slasherfilm erlebt seine Hochzeit in den 1970ern und frühen 1980ern und handelt einzig und allein von der seriellen Tötung einer Gruppe Jugendlicher durch einen bösen bzw. wahnsinnigen Killer. Er feiert damit das Töten an sich und folgt sich wiederholenden Strukturen, die eine ausgefeilte Handlung zugunsten von Spektakeln zurücktreten lassen. Seit seinen Anfängen ist er außerdem eng verbunden mit einer Geschlechterdebatte. Linda Badley dazu in Film, Horror, and the Body Fantastic: »Feminists have found horror film the particular enemy of women, and it is easy to see why. In a noted statement of 1981, Roger Ebert censured the ›slasher‹ film for taking the point of view of an anonymous male predator and for victimizing women (›Why Movie Audiences‹). And since the late 1970s, horror has been popularly equated with the slasher. Originating with John Carpenter’s Halloween (1978) and followed by films such as Prom Night, Friday the 13th, and Nightmare on Elm Street, the slasher pared horror down to its essentials: a killer (psychosexually ›disturbed‹ and posessing a phallic weapon), a victim or victims (mostly female), and blood [...] Plot in the usual sense was unnecessary. The woman was identified, stalked, and brought down by a villain who functioned as an enforcer of patriarchal law.«539

Diese Sichtweise soll hier in einer Verlagerung von einer psychoanalytisch geprägten Auffassung hin zu einer somatischen Anteilnahme des Publikums untersucht werden. Die somatische Beteiligung könnte die herkömmlichen Blickkonstellationen von männlich/aktiv und weiblich/passiv unterlaufen. Geschlechterverhältnisse werden außerdem im darauffolgenden Kapitel im Hinblick auf das New Extremity Kino der 2000er Jahre in den USA und Europa untersucht, das durch die Zurschausstellung extremer Gewalt- und Tötungsakte nur noch einen somatischen Zugang fernab von geschlechtsspezifischen Identifikationen erlaubt. Dieser ›Rückgang auf den Körper‹ wiederum ermöglicht eine Art Körperphilosophie, deren Erkenntnisse auf diesem direkten Erleben des filmischen Geschehens beruhen. Die Zombies in Kapitel 2.1.2, die dem Splatterfilm zugeordnet werden können,540 aber teilweise auch als eigenständiges Genre angesehen werden, haben bereits reale 537 Hutchings, Peter: The Horror Film, Essex: Pearson Education Ltd. 2004, S.9. 538 Vgl. Busche, Andreas: Das Cabinet des Dr. Caligari und der Expressionismus, in: Kinofenster. Das Online-Portal für Filmbildung vom 03.02.2014, http://www.kinofenster.de/film-des-monats/archiv-film-des-monats/kf1402/das-cabinet-des-dr-caligari-undder-expressionismus/(Abgerufen 23.01.2019). 539 Badley, Linda: Film, Horror, and the Body Fantastic, Westport, Conneticut/London: Greenwood Press 1995, S. 102. 540 »[...] eine Form des Horrorfilms, die die Materialität und Medialität des Körpers und damit die Sichtbarkeit von Gewalt, die Ästhetik der Wunde, zentral setzt. Die film- und kameratechnische Zerstückelung des Körpers in Schnitt und Ausschnitt wird in die sichtbare Fragmentierung des Körpers durch das Aufschneiden und Zerteilen mit scharfen oder spitzen Gegenständen übersetzt. Die Kamera verfolgt das Mord- und Schlachtinstrument, wie

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historische Ereignisse für die Entwicklung bestimmter Horrorfilmhandlungen und – ästhetiken nahegelegt. Stephen Prince führt aus: »One can analyze horror films in terms of these periods or moments, just as one can do with Westerns or gangster movies. But, unlike those genres, horror also goes deeper, to explore more fundamental questions about the nature of human existence, questions that, in some profound ways, go beyond culture and society as these are organized in any given period or form.«541 Es werden demnach im Horrorfilm nicht nur gesellschaftliche Strukturen und gegenwärtige Krisen thematisiert, sondern man gelangt so auch zu philosophischen Überlegungen, wie dem grundlegenden Wesen des Menschen. Fragen danach, was gesellschaftlich konstruiert und was naturgegeben ist, wie gut oder schlecht wir als Menschen sind, wie empathisch oder egoistisch, wie stark unser Überlebenswille ist, werden narrativ durchgespielt und an Körpern grausam ausgetestet. Diese Körper werden so auch für ein Publikum somatisch erfahrbar. Über die Körpererforschung, -zerstörung und -ausweidung werden nicht nur tiefliegende Ängste, wie die vor dem Tod verkörpert, sondern es kann eine somatisch erfahrene Erkenntnis gewonnen werden, die sich über das rein kognitive Verfolgen des Geschehens nicht erschließen ließe. Die Wurzeln des Actionfilms liegen im Abenteuerroman, wo gewöhnlich ein Held oder eine Gruppe Hindernisse und Gefahren überwinden müssen, um eine wichtige und moralische Mission zu erfüllen.542 Der Actionfilm steht schon seinem Namen nach für Aktion. Die bereits in Kapitel 2 zur Zeichentheorie entscheidende Bewegung des Films gehört ebenso zu ihm, wie die Körper in Kapitel 3. Die Bewegung dient dabei eher einer Zurschaustellung dieser Körper in Aktion als dazu, eine tiefgreifende Handlung in Gang zu setzen. Gewalt und hyperbolische Special Effects sind die Essenz des Actionfilms. Darin kann er, wie der Slasherfilm, auf das Kino der Attraktionen zurückgeführt werden. Theresa Webb und Nick Brown analysieren in The Big Impossible: Action-Adventure’s Appeal to Adolescent Boys: »The action-adventure genre as we know it today emerged in the early 1980s. For many critics the exact year was 1982, when Rambo: First Blood was released. The genre’s dominant structural codes include brilliant mise-en-scene, hyperbolic action, and fast-moving stories accelerated by rapid editing. Accentuated, hard-edged dramaturgy and fast-paced editing generate action’s characteristic dramatic tension and discourage any sort of reflection during the viewing experience.«543

Wie beim Slasherfilm, ist damit auch im Actionfilm eine direkte somatische Beteiligung relevanter als die Handlung selbst. Auf den Körperkult in den 1970ern in Martiales in das Körperinnere eindringt und Blut, Hirn und Eingeweide hervorholt. Der Körper tritt im Splatterfilm aus dem abstrakten Medium der Schrift heraus und in das Reale der bewegten Bilder ein.« Meteling, Arno: Monster: zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm, Bielefeld: transcript Verlag 2006, S. 72. 541 Prince, Steven: »Introduction«, S. 2. 542 Vgl. Donovan, Barna William: Blood, Guns And Testosterone. Action Films, Audiences, And a Thirst For Violence, Lanham/Toronto/Plymoth: The Scarecrow Press 2010, S. 40. 543 Webb, Theresa/Browne, Nick: »The Big Impossible: Action-Adventure’s Appeal to Adolescent Boys«, in: Schneider, Jay (Hg.), New Hollywood Violence, Manchester/New York: Manchester University Press 2004, S. 80-99, S. 81.

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Arts-Filmen um Bruce Lee544 folgten die Hard Bodies in den 1980ern, die in dieser Untersuchung im Vordergrund stehen, mit Body-Building-Stars wie Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone. Dem gegenüber steht der schmächtigere ›Jedermann‹, wie Bruce Willis in der DIE HARD-Reihe. In jedem Fall tragen die Protagonisten den typischen Kampf von Gut gegen Böse aus, ein ideologisches Ich gegen den anderen. Webb und Brown dazu: »The genre’s narrative stripes are [...] shown in a nearly obligatory set of story elements: the heroes are largely invulnerable and embody Herculean strength; the stories are Manichean, laying out the forces of good and evil in simple, broad brushstrokes; the hero usually has to work outside the protection of the law, often becoming an outlaw in order to do the work of the good; the villain’s violation of the laws of humanity justifies his eventual extermination by the hero; the stories are strictly fictional and always have a happy ending.«545

Diese klaren Seiten von Gut und Böse werden nicht nur über die Handlung, sondern auch die Bildebene ausgetragen, auf der man den Protagonisten-Helden im Verlauf des Films zunehmend versehrt, Schmerzen erleidend, dem Tod nah, aber unerbittlich stark begleitet, während das Leiden und Sterben der Antagonisten außerhalb der Bildebene stattfindet, wie anhand von Filmausschnitten diskutiert wird. Diese klaren Positionen verschwimmen jedoch insbesondere in den 2000er Jahren und eröffnen – wieder anhand des Körpers – neue Potentiale. In den gewählten Beispielen RAMBO, THE RAID 2: BERANDAL und HARDCORE HENRY, wird der Status des Protagonisten als guter Held in Frage gestellt, indem sein gewaltsames Morden sichtbar und teils brutaler als nötig wird, außerdem bekommt man insgesamt Zugang zu ›böser Gewalt‹. Das Drama zuletzt, ursprünglich aus religiösen Ritualen im antiken Griechenland entstanden und in der Folge insbesondere im Theater für ein Publikum weiterentwickelt,546 ist als Filmgenre besonders schwer zu fassen: »The original Greek meaning was simply ›to do‹, but in modern English usage it generally indicates the performance of a fictional narrative. In this sense, drama may be understood to mean the staging and enactment of fictional events for an audience.«547 Demnach könnte jeder Film als Drama eingestuft werden, in anderen Definitionen wird die Nähe zur aristotelischen Tragödie und deren erwünschte kathartische Wirkung auf das Publikum548 hervorgehoben: »In cinema, the tragic form has been absorbed by drama or 544 Vgl. dazu auch Donovan, Barna William: The Asian Influence on Hollywood Action Films, Jefferson/London: McFarland & Company 2008. 545 Webb, Theresa/Browne, Nick: »The Big Impossible«, S. 81. 546 Vgl. Gwenllian Jones, Sara: »drama«, in: Pearson, Roberta/Simpson, Philip (Hg.), Critical Dictionary of Film and Television Theory, London/New York: Routledge 2000, S. 203205, hier S. 204. 547 Ebd., S. 203. 548 »Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei die formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.« Fuhrmann, Manfred (Hg.): Aristoteles Poetik, S. 19.

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melodrama, terms that describe a story that deals with dark subjects – death, crime, catastrophic relationships, emotional or financial failure [...]«549 Die Essenz des Dramas, so legt W.T. Price in The Technique of the Drama 1892 fest, sei die Wahrheit, das echte Leben, komplexe Beziehungen der modernen Gesellschaft.550 Im Folgenden wird untersucht, wie die Gesellschaft sich durch (tödliche) Gewalt gegen das Individuum richtet, das von der Norm abfällt, bzw. wie das Individuum sich durch todesnahe Selbstverletzung gegen die Gesellschaft und ihre Normen zur Wehr setzt. Hierbei wird insbesondere die ›körperliche Wahrheit‹ zum Tragen kommen, für jedermann nachfühlbar und damit die reine Narration überschreitend. Abschließend soll geklärt werden, wieso wir Filme rund um den Tod und selbst noch brutale filmische Tötungen rezipieren, worin hier ein Genuss liegen könnte, der doch kein Äquivalent im echten Leben kennt. 3.3.2 Horror und Geschlechtergrenzen 3.3.2.1 Der Slasherfilm der 1970er Dieses Kapitel widmet sich dem amerikanischen Slasherfilm der 1970er mit dem Schwerpunkt Geschlechterrollen. Über psychoanalytisch geprägte Theorien sowie neoformalistische Gegenentwürfe hinaus, soll untersucht werden, inwiefern ein somatischer Zugang zum Filmgeschehen Körpergrenzen, damit auch Geschlechter, überwinden könnte. Dies wird im folgenden Kapitel, zum New Extremity Horrorfilm der 2000er Jahre weiter ausgebaut. Der Slasherfilm steht in der Tradition des zwischen 1897 und 1962 in Paris erfolgreichen Grand Guignol Theaters,551 so Adam Rockoff: »The Theater of the Grand Guignol was the earliest modern antecendent of the slasher film. It was one of the first venues to recreate fictional atrocities for their own sake on a grand scale. At different times during its 65-year history, it was both the sanctuary of the lower class and the curiosity of the elite. The Grand Guignol was like nothing the world had ever seen, a theater which embraced not the beauty and sanctity of life, but the horror, fear and agony of death.«552

549 Santas, Constantine: Responding to Film: A Text Guide for Students of Cinema Art, Chicago: Burnham Inc. Publishers 2002, S. 31. 550 Vgl. Price, W.T.: The Technique of the Drama: A Statement of the Principles Involved in the Value of Dramatic Material, in the Construction of Plays, and in Dramatic Criticism, New York: Brentano’s Publishers 1892, S. 4. 551 Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs kündigten schließlich das Ende des lange florierenden Grand Guignol an, da der Horror der Wirklichkeit erstmals den der Fiktion überstieg: »In an interview conducted immediately after the Grand-Guignol closed in 1962, Charles Nonon, its last director, explained: ›We could never compete with Buchenwald. Before the war, everyone believed that what happened on stage was purely imaginary; now we know that these things – and worse – are possible.‹« Peiron, Agnes: House of Horrors, http://www.grandguignol.com/history.htm (Abgerufen 23.01.2019). 552 Rockoff, Adam: Going to Pieces, S. 24.

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Der Slasherfilm ist damit ausschließlich Angst und Tod gewidmet, setzt dabei aber dafür – anders als das New Extremity Kino in den USA und Europa nach ihm – noch auf kurze, schockartige Affekte, die einer tieferen empathischen Anteilnahme ein rein körperliches Spektakel vorziehen. Auf psychoanalytischer Ebene, so Florian Plumeyer, identifizieren wir uns im torture porn – das gilt auch bereits für den Slasherfilm – nicht, Laura Mulveys Thesen entsprechend, mit einem mächtigen, aktiven Helden auf der Leinwand, sondern einem ohnmächtigen Opfer-Protagonisten.553 »In slasher films«, so auch Linda Williams, »identification with victimization is a roller-coaster ride of sadomasochistic thrills.«554 Man nimmt als Zuschauer weder exakt die Rolle des Täters, noch seiner Opfer ein, sondern steht in einem seltsamen Wechselverhältnis, in dem man somatisch mit den Opfern leidet und gleichzeitig deren Flucht und letztendliches Erliegen bejubelt. Wie ist dies möglich und wie werden im Slasherfilm durch Gewalt Körper- und damit auch Geschlechtergrenzen überwunden? Sadismus und Masochismus schwanken bei der Rezeption von Gewaltbildern, so haben die vorangegangenen Kapitel gezeigt. Sadismus fußt gerade auf dem (leiblichen) Wissen um die Qualen des Opfers, die visuell ausufernd angezeigt werden. Somatische Empathie bindet den Zuschauer ans Filmgeschehen, wie auch Leid des Opfers an, wo das Leid bzw. die Todesbedrohung zu groß wird, distanziert er sich aber von diesem, wie das folgende Kapitel noch anhand von Ekel und Schock ausführen wird. Das Kippverhältnis liegt demnach in der körperlich fundierten Filmerfahrung selbst, die weniger eindeutig gelagert ist, als die Positionierung von Täter und Opfer im realen Leben: Weil man einen Körper hat, versteht man die eindrücklichen Hinweise auf körperliches Leid intuitiv durch somatische Empathie – man schreit auf, zuckt zusammen oder verzerrt das Gesicht als werde man durch das Geschehen selbst verletzt. Dazu liegt eine Art Masochismus vor, da man von den Ereignissen immer wieder angeekelt, schockiert oder verängstigt ist, aber dennoch – quasi durch die vorgehaltene Hand blickend – weiterhin verfolgt was passiert. Weil man eben nicht wirklich Schmerz empfindet, nicht wirklich nachfühlen muss, was dem Opfer widerfährt, kann man darüber hinaus auch eine Form von sadistischem Genuss empfinden, bei dem man dem Handeln des Täters folgt, ohne selbst identifikatorisch zum Täter zu werden. Er ist immerhin, neoformalistisch argumentiert, die Figur, die die Handlung vorantreibt, während alle anderen nur auf ihn reagieren. Nähe und Distanz wechseln auch im Sinne einer eher affektiven und dann wieder eher distanziert-kognitiven Rezeption, die Distanz darf aber nie zu groß werden, wie für den wirkungslosen, ›toten Film‹ beschrieben wurde. Dies gilt auch für das Katz-und-Maus-Spiel des Slasherfilms. Im gelungenen Fall möchte man als Zuschauer erfahren, was der Täter als nächstes tun wird und gleichzeitig vom Sitz aufspringend den ahnungslosen Opfern auf der Leinwand zurufen, sie sollten sich in Sicherheit bringen. Mit zunehmender Nähe zum Filmgeschehen, so wird das New Extremity Kino zeigen, werden die aufwühlenden Empfindungen schrittweise auf die Spitze getrieben und die erzwungene Zeugenschaft der Kinosituation wird selbst zur lebensbedrohlichen Folter für den Zuschauer. Er kommt dem Tod durch das Leiden und Sterben von Filmfiguren so nah, Filmgeschehen und Zuschauerraum überlappen so stark, dass er dies (fast) nicht aushalten kann. 553 Vgl. Plumeyer, Florian: Sadismus und Ästhetisierung, S. 195. 554 Williams, Linda: »Film Bodies. Gender, Genre, and Excess«, S. 7.

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Für eine intensive somatische Erfahrung von gewaltsamen Tötungen im Slasherfilm muss im ersten Schritt wieder, wie bei der Passion Christi, ein leidender Körper in Szene gesetzt werden, dessen Schmerz durch übermäßiges Blut und offene Wunden angezeigt wird. In FRIDAY THE 13TH sieht man dementsprechend Jack (Kevin Bacon) nach dem Sex mit seiner Freundin Marcie (Jeannine Taylor) allein in einer Hütte in einem Camp auf dem Bett liegen. Plötzlich bohrt sich ein Pfeil von unten durchs Bett und durch seine Kehle. Eine Unmenge von Blut sprudelt hervor, während er die Augen überrascht aufreißt und verzweifelt würgt (TC 00:41:08-00:41:18). Einige erschreckte Zuschauer dürften diese haptischen Bilder unbewusst verleiten, sich an den Hals zu fassen, oder immerhin ein unangenehmes Gefühl in der Kehle zu verspüren. Seine Freundin Marcie wird kurz darauf in den Toilettenräumlichkeiten mit einer Axt im Kopf zu Boden gleiten (TC 00:44:53-00:45:04). Der Tod beider – verursacht durch brutale, eindrückliche Gewalt – ist damit gewiss. Ein erneuter Blick auf den Pornofilm zeigt Parallelen: Wie beim Horrorfilm, der für eine Körpererfahrung die Zweidimensionalität, die Abwesenheit der dargestellten Körper, wie auch die Unterrepräsentation der Sinne neben dem des Sehens, überwinden muss, besteht auch im Pornofilm ein Mangel, will er doch den lustvollen Körper möglichst unmittelbar erfahrbar machen. »Die Lust der Frau« so Gertrud Koch: »wird im wahrsten Sinne des Wortes ›markiert‹ von äußeren Zeichen, sichtbar ist im pornografischen Film nur der Penis, und diesem wird die Last des Lustbeweises aufgebürdet. Kaum ein Koitus, der nicht damit beendet wird, daß der Penis auf der Frau ejakuliert. Die Fülle des Spermas [Anm. L.R.: im Horrorfilm wäre dies das Blut] wird so [...] Zeichen eines Mangels, eines Mangels an Darstellbarkeit. Dennoch scheint der Anblick des ejakulierenden Penis für die männlichen Zuschauer lustvoll zu sein, denn für sie ist es das Zeichen der Unversehrtheit, die Versicherung, dass die als unersättlich und gefährlich vorgestellte Vagina ihr Opfer unbeschädigt wieder hat ans Licht gelangen lassen. Die Wahl der naturalistischen Darstellungsform hat im pornografischen Film also auch den Sinn, sinnliche Gewissheit in Bezug auf die Unkastriertheit zu gewähren, dafür wird die Lust der Frau geopfert, die den Orgasmus markieren muß, wenn der Penis bereits nicht mehr in ihr ist.«555

Die Flüssigkeiten der body genres, so Linda Williams, im Porno das Sperma, im Horrorfilm die Fülle an Blut,556 markieren körperliche Zustände, die wiederum somatische Reaktionen – Lust bzw. Orgasmen im Pornofilm und Zusammenzucken, Zittern etc. im Horrorfilm – im Zuschauer hervorrufen sollen.557 Im Horrorfilm kann man durch die Fülle an Blut, umgekehrt zu Gertrud Kochs Ausführungen zum Pornofilm, gerade das volle Ausmaß der Körperzerstörung nachfühlen, von dem man – dem Figuren- wie auch gesamten Filmkörper äußerlich – sonst abgetrennt wäre. Der New Extremity Horrorfilm präsentiert die Qualen der Opfer entsprechend nicht mehr kurz und schockartig, wie der Slasherfilm, sondern unangenehm in die Länge gezogen. Das Übermaß in der Darstellung steht damit einerseits für eine Art Spiel, ein Spektakel im Sinne des Kinos der Attraktionen, bei dem gezielt Zuschauerreaktionen erzeugt werden sollen. 555 Koch, Gertrud: Was ich erbeute sind Bilder, S. 120. 556 Im Melodrama wären es die Tränen. Vgl. Williams, Linda: »Film Bodies. Gender, Genre, and Excess«, S. 5f. 557 Vgl. ebd, S. 4f.

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Es garantiert aber andererseits eben erst die somatische Anteilnahme des Publikums, ein körperliches ›Verstehen‹ und für-›echt‹-Befinden, so hat bereits das Kapitel 3.1.4 zu THE PASSION OF THE CHRIST gezeigt. Eine dezentere Darstellung hätte dies vielleicht nicht erreicht. Der dem Koitus analoge Einsatz von Messern, die im Slasherfilm ersatzweise in Fleisch eindringen, die Eroberung kreischender Frauen, die vor Mördern davonlaufen, um ihnen letztendlich doch zu erliegen, gebunden an eine Pseudomoral, die das ›leichte Mädchen‹ für seine Unsittlichkeit bestraft, wurden insbesondere von Carol J. Clover diskutiert. Junge Frauen, wie auch Männer, so Clover, müssten im Slasherfilm für frei ausgelebte Sexualität mit dem Leben bezahlen.558 Das zeigt sich etwa für Bob (John Michael Graham) und Linda (P.J. Soles) in HALLOWEEN, die nach dem Liebesspiel vom Killer Michael (Nick Castle) mit einem Messer an die Wand gepinnt bzw. mit einem Telefonkabel erdrosselt werden (TC 00:59:27-01:09:14), oder narrativ eindeutiger bei dem getöteten Liebespaar am Anfang von FRIDAY THE 13TH (TC 00:02:4200:05:01): Später wird man erfahren, dass der Tod eines Jungen, der vor Jahren ertrank, weil zwei Aufseher miteinander schliefen, statt auf ihn zu achten, der Auslöser für die Serientötungen war (TC 01:13:52-01:15:50). Der Tod von Männern im Slasherfilm, so Clover weiter, werde aber häufiger aus einer Distanz gezeigt – oder gar außerhalb des Bildes gesetzt,559 der von Frauen dagegen aus Nahsicht, detaillierter und ausführlicher:560 »On the face of it, the relation between the sexes in slasher films could hardly be clearer. The killer is with few exceptions recognizably human and distinctly male; his fury is unmistakeably sexual in both roots and expression; his victims are mostly women, often sexually free and always young and beautiful ones. Just how essential this victim is to horror is suggested by her historical durability. If the killer has over time been variously figured as shark, fog, gorilla, birds, and slime, the victim is eternally and prototypically the damsel. Cinema hardly invented the pattern. It has simply given visual expression to the abiding proposition that, in Poe's famous formulation, the death of a beautiful woman is the ›most poetical topic in the world‹.«561

Die meist männlichen Killer im Slasherfilm mit prototypischen weiblichen Opfern würden häufig ein asexuelles, beinahe kindliches Verhalten aufweisen562 und Sexualität werde durch Gewalt ersetzt.563 Dies lässt sich etwa bei der unheimlichen Figur Leatherface in THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE erkennen, dessen Gesicht und 558 Vgl. Clover, Carol J.: Men, Women and Chainsaws, S. 199. Adam Rockoff widerspricht dieser gängigen These: »The truth is that in the slasher film, both ›good‹ girls and ›bad‹ girls are killed with equal gusto. The fact that this usually occurs after sex is less a comment on morality than a simple exploitation technique used to titillate the audience by giving them a liberal, and much appreciated, dose of nudity.« Rockoff, Adam: Going to Pieces, S. 14/15. 559 So bestätigt auch Sarah Hagelin. Vgl. Hagelin, Sarah: Reel Vulnerability, S. 15. 560 Vgl. Clover, Carol J.: Men, Women and Chainsaws, S. 33ff. 561 Ebd., S. 42. 562 Vgl. ebd., S. 27f. 563 »Actual rape is practically nonexistent in the slasher film, evidently on the premise [...] that violence and sex are not concomitants but alternatives [...]« Ebd., S. 29.

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mögliche Regungen den ganzen Film über hinter Masken verborgen bleiben, meist aus menschlicher Haut gefertigt: Er ergreift Pam (Teri McMinn), ein weibliches – kreischendes und sich vergeblich wehrendes – Opfer und schleift sie grob und unerbittlich in seine Küche, um sie dort an einen Fleischerhaken zu hängen (TC 00:36:38-00:37:33). Zum Ende des Films hin weicht er jedoch unterwürfig vor dem Patriarchen seiner Familie zurück wie ein Kind (TC 01:00:52-01:01:50). Obwohl man den eigentlichen Gewalthöhepunkt zu Pams Ermordung nicht sieht, fällt die Leerstelle kaum auf. Benjamin Moldenhauer dazu: »Pam wird an einen Fleischerhaken gehängt, das Bild der Wunde aber bleibt ausgespart. Wir sehen die Spitze des Hakens im Close-up, das um sich schlagende Mädchen, das hochgehoben wird, dann noch einmal eine kurze Einstellung auf den Haken und schließlich wie der Körper aufgehängt wird. Das Bild geht mit einer hastig eingeschnittenen Totalen auf Abstand in dem Moment, in dem die Haut verletzt wird; der Mund nun noch wie im Schrei geöffnet, aber stumm.«564

Wie sich hier zeigt, müssen derartige Leerstellen, in der Tradition der Duschszene in Hitchcocks Psycho, dem Schrecken sowie einer somatischen Beteiligung keinen Abbruch tun.565 Schon der Titel des Films suggeriere extreme Brutalität, so Adam Rockoff. Deshalb falle auch kaum jemandem auf, dass in THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE nicht ein einziges Mal eine Kettensäge auf menschliche Haut trifft.566 Die vermeintliche Bevorzugung weiblicher Körper für den Gewalt- und Tötungsakt spricht dabei abermals für einen voyeuristisch-sadistischen Genuss im Sinne Laura Mulveys. Die weiblichen Opfer im Slasherfilm zeichnen zudem das Bild einer schwachen, hilflosen Frau, ein gesellschaftlicher Mythos, so Sara Hagelin in Reel Vulnerability, der über die fortwährende Zurschaustellung des leidenden weiblichen Körpers in unzähligen Bildern weitergetragen werde.567 Dies betont erneut den semiotischen Körper und seine Funktion in Gesellschaften. Die schöne Leiche der Frau, so auch die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen, verhandle immer Kulturnormen: »Weil sie als ›das Andere‹ kodiert wird, steht die Frau im Kulturdiskurs des Abendlandes immer für Extreme – das extrem Gute, Reine, Hilflose oder das extrem Gefährliche, Chaotische, Verführerische, für die Heilige oder die Hure, für Maria oder Eva. Als solche dient sie einer Dynamisierung der Gesellschaft, die mit der Tilgung der Frau enden muß. Die Opferung der reinen Frau kann vordergründig einer Gesellschaftskritik dienen, indem an ihr, als der Verkörperung einer profanisierten Form Christi, gezeigt wird, daß die Reinen in dieser Welt nicht überleben, dabei aber die weltliche Schuld dennoch auf sich nehmen können. Die Opferung der gefährlichen Frau hingegen stellt die Ordnung, die durch ihre Gegenwart kurzfristig aufgehoben wurde, wieder her und bändigt die Ängste wie auch die gefährlichen Phantasien, die sie auslöste. In beiden Fällen wird die Norm bestätigt und erhalten.«568

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Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S. 194/195. Das Kapitel 3.3.2.2 wird dies wieder aufgreifen. Vgl. Rockoff, Adam: Going to Pieces, S. 57. Hagelin, Sarah: Reel Vulnerability, S. 3. Bronfen, Elisabeth: »Nachwort«, S. 379.

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Abgebildeten Körpern werden, so hat das Kapitel 3.1.3 diskutiert, immer Bedeutungen eingeschrieben und über weitere Darstellungen teils zunehmend fixiert. Über kodierte Bedeutungen und die objektivierenden Blicke psychoanalytischer Theorien hinaus, gewähren brutale Körperverletzungen und Tötungen im Film aber – in ihrem den Zuschauer aufwühlenden Ablauf – auch einen somatischen Zugang. Darin unterscheiden sie sich von den stillgestellten Todesdarstellungen in Kapitel 2, wie auch der schönen Leiche bei Elisabeth Bronfen. Das Spannungsverhältnis besteht im Übergang von Leben zu Tod – von Bewegung zu Stillstand – im heftigen sich-Wehren und ums-Überleben-Kämpfen. In dieser Verlagerung vom Bild, von der Oberfläche, zur Erfahrung dieses Körpers, liegt auch ein Potential für einen Wechsel der Geschlechter(rollen), das sich zum Teil gerade auf diese kollektiven Vorstellungen zur Frau gründet: Die von Clover angesprochene ›Damsel (in distress)‹ ist ein klassisches Motiv der Kunst und Literatur, wie bereits die in Kapitel 2.1 diskutierten Beispiele für Todesdarstellungen. Es handelt sich um das Stereotyp einer schönen, meist jungfräulichen, hilflosen Frau, die durch einen Helden vor einem Schurken oder Ungeheuer gerettet werden muss.569 Clover dazu: »Angry displays of force may belong to the male, but crying, cowering, screaming, fainting, trembling, begging for mercy belong to the female. Abject terror, in short, is gendered feminine, and the more concerned a given film with that condition—and it is the essence of modern horror—the more likely the femaleness of the victim.«570 Diese in den Körper eingegangenen Verhaltensweisen und Vorurteile, die als Bedeutungsebene hinzukommen erinnern an den (vergeschlechtlichen) Habitus Bourdieus in Kapitel 3.1.3. Auch die Stilisierung von Männern zu Helden ist natürlich weit älter als der Film. Es handelt sich abermals um ein Ideal, dem der Anschein von Natürlichkeit verliehen wird, das sich jedoch – im Gegenteil – durch performative Akte immer wieder aufs Neue selbst bestätigen muss. Daniel O’ Brien führt in Classical Masculinity And the Spectacular Body on Film aus: »Western European concepts of masculine perfection can be dated back to the eighteenth century, drawing inspiration, like the peplum, from the classical world centered on ancient Greece [...] or rather surviving artefacts of this culture (or copies thereof) and what they were taken to represent [...] a timeless sense of beauty, proportion, harmony, and balance derived from nature [...] Thus the classical masculine ideal is also the true masculinity. While the body is a crucial component in constructing ideas of masculinity, the process of construction is open to question and challenge [...] The very notion of acting like a man, in order to comply with accepted notions of masculinity, should underline its status as an act [...] the presentation or representation of masculinity always carries an element of performance or display, rather than being mere biological or genetic programming that simply ›comes naturally‹. This performance is usually in compliance with – and furtherance of – the prevailing norms determined, upheld and perpetuated by patriarchal societies.«571

569 Vgl. Fleischmann, Alice: Frauenfiguren des zeitgenössischen Mainstreamfilms. A Matter of What’s In the Frame and What’s Out, Wiesbaden: Springer Verlag 2016. [Dissertation Universität Leipzig 2015], S. 340ff. 570 Clover, Carol J.: Men, Women and Chainsaws, S. 51. 571 O’Brien, Daniel: Classical Masculinity And the Spectacular Body on Film, S. 10/11.

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Die visuelle, bildsemiotische, Ebene steht damit wieder, analog zur Laokoongruppe, für eine Reihe von Tugenden, die der Held aber aktiv handelnd immer aufs Neue unter Beweis stellen muss. Beinahe stillgestellt wie antike Statuen ertragen deshalb die Protagonisten im Actionfilm stoisch Schmerz und Todesbedrohung, so wird das Kapitel 3.3.4 zeigen. Sie leiden gerade so sehr, dass der Zuschauer nachvollziehen kann, wie viel sie auszuhalten fähig sind und lassen auch im aktiven Ausüben von tödlicher Gewalt körperliche Kraft und Anstrengung erkennen, die die stille Fassade nur kurzzeitig durchbrechen. Frauenfiguren dagegen zeigen häufig gerade ausgeprägte körperliche Reaktionen auf Geschehen, meist passiv ausgeliefert, aber dabei sehr lebendig. Hier wird das Stereotyp der Frau als Opfer bedient, das ganz andere Zuschauerreaktionen nach sich zieht als der männliche Held oder auch die gefährliche Frau, wie oben von Elisabeth Bronfen angesprochen.572 Die visuellen und auditiven Hinweise auf Angst und großes körperliches Leid der Leinwandfrau gewähren einen somatischen Zugang auf sadistischer, aber eben auch masochistischer Seite, sowohl für weibliche, wie auch männliche Zuschauer. Einerseits kann man wieder eine voyeuristisch-sadistische bzw. erotisch-körperliche Erfahrung annehmen. Andererseits muss man die in die Länge gezogenen Qualen, den Kampf ums Überleben, die Verletzung und voranschreitende Zerstörung ihrer Körper, bis sie endlich vom Tod erlöst werden, auch aushalten. Carol J. Clover argumentiert zunächst geschlechterübergreifend somatisch: »The willingness and even eagerness (so we judge from these films' enormous popularity) of the male viewer to throw in his emotional lot, if only temporarily, with not only a woman but a woman in fear and pain, at least in the first instance, would seem to suggest that he has a vicarious stake in that fear and pain. If it is also the case that the act of horror spectatorship is itself registered as a ›feminine‹ experience—that the shock effects induce bodily sensations in the viewer answering the fear and pain of the screen victim—the charge of masochism is underlined. This is not to say that the male viewer does not also have a stake in the sadistic side; narrative structure, cinematic procedures, and audience response all indicate that he shifts back and forth with ease.«573

Dennoch bleibt Clover an psychoanalytische Theorien gebunden und sucht nun nach einer Antwort auf die Frage, wie das männliche Publikum sich mit weiblichen Figuren identifizieren könne bzw. welche Figur die besten Identifikationspotentiale biete. So gelangt sie in ihrer Analyse zum Final Girl, der stets weiblichen Hauptfigur, die sich erfolgreicher als männliche Nebenfiguren durchsetze, die letzten zehn bis zwanzig Minuten des Films in einer Klimax ums Überleben kämpfe und letztendlich entweder

572 Die gefährliche Frau, oder, bei Barbara Creed ähnlich, die monströse Frau, ist eine Filmfigur, die, so Creed Julia Kristeva folgend, durch ihre abjekte weibliche Körperlichkeit – Hinweise auf Menstruationsblut, weibliche Sexualität oder Geburt – die männliche symbolische Ordnung in Frage stelle. Vgl. Creed, Barbara: The Monstruos-Feminine, S. 38. Dies wird in Kapitel 3.3.4.2 im Zusammenhang mit dem Film DANS MA PEAU noch einmal aufgegriffen. 573 Clover, Carol J.: Men, Women and Chainsaws, S. 61/62.

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gerettet werde oder selbst den Killer töte.574 Sie sei stets ein anständiges, strebsames, nicht sexuell aktives Mädchen und »[...] boyish, in a word. Just as the killer is not fully masculine, she is not fully feminine—not, in any case, feminine in the ways of her friends. Her smartness, gravity, competence in mechanical and other practical matters, and sexual reluctance set her apart from the other girls and ally her, ironically, with the very boys she fears or rejects, not to speak of the killer himself. Lest we miss the point, it is spelled out in her name: Stevie, Marti, Terry, Laurie, Stretch, Will, Joey, Max.«575

Die asexuelle Unmännlichkeit des Killers werde zum Ende hin nicht aufgehoben, sondern durch den Sieg des Final Girl, der Tötung des Killers, als Akt der Kastration zu Ende geführt. Die typische psychoanalytische Kastrationsbedrohung durch die Leinwandfrauen werde nicht, wie im Pornofilm, durch eine Fetischierung, sondern entweder durch die Auslöschung der Frau – wie im Falle der früheren Opfer – oder eine Maskulinisierung, wie beim Final Girl selbst, abgewendet:576 »The Final Girl is, on reflection, a congenial double for the adolescent male. She is feminine enough to act out in a gratifying way, a way unapproved for adult males, the terrors and masochistic pleasures of the underlying fantasy, but not so feminine as to disturb the structures of male competence and sexuality. Her sexual inactivity, in this reading, becomes all but inevitable; the male viewer may be willing to enter into the vicarious experience of defending himself from the possibility of symbolic penetration on the part of the killer, but real vaginal penetration on the diegetic level is evidently more femaleness than he can bear.«577

Die psychoanalytische Identifikation mit einem aktiven männlichen filmischen Stellvertreter durch das männliche Publikum wird also augenscheinlich auf eine Identifikation mit einer weiblichen Figur verlagert, die gerade noch weiblich genug ist, um weiterhin in ihrer ängstlichen Schwäche masochistischen Genuss im Publikum auszulösen, wie die weiblichen Opfer vor ihr. Gleichzeitig erscheint sie männlich genug, um das männliche Publikum nicht in seiner Männlichkeit zu gefährden. Statt einer starken Frauenfigur ist sie für Clover doch nur ein versteckter Mann. Die Gefahr eines im Grunde homoerotischen trans-sex-Koitiertwerdens der masochistischen Phantasie wird durch die Abstinenz des Final Girl ausgehebelt. Das weibliche Publikum wird dabei erneut ausgeklammert, da Clover für den Slasherfilm ein junges, vorwiegend männliches Publikum postuliert.578 Barbara Creed geht zunächst mit Clover bezüglich Kastrationsängsten konform:

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Vgl. Clover, Carol J.: Men, Women and Chainsaws, S. 35f. Ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 50. Clover, Carol J.: Men, Women and Chainsaws, S. 51. Der Filmwissenschaftler Markus Stiglegger hält dagegen in einem Interview selbst noch für den torture porn mit seinen sehr viel ausgeprägteren Gewaltdarstellungen fest: [...] Dass extrem viele Frauen diese Filme sehen, dass es einen ganz hohen Anteil von weiblichen Zuschauern gibt, die sich Filme ansehen, in denen ganz explizit Folter zu sehen ist. Und

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»The slasher film deals specifically with castration anxieties, particularly with the male fear of castration. The image of woman’s cut and bleeding body is a convention of the genre […] Freud drew attention to the way in which some men enact on woman’s body a symbolic form of castration. For instance, the fetishist might cut off a woman’s hair ›to carry out the castration which he disavows‹ […] Symbolic castration appears to be part of the ideological project of the slasher film. Due to the development of special effects, it is now possible to show woman’s symbolic castration in graphic detail.«579

Doch Creed widerspricht Clover bezogen auf den versteckten Mann im Final Girl, die Frau werde nicht entweder ausgelöscht, wie frühe Opfer, oder maskulinisiert wie das Final Girl. Jedes weibliche Opfer werde schnell durch das nächste – auch männliche – Opfer abgelöst, so dass die Kastrationsbedrohung niemals wirklich enden würde. Das blutige Zelebrieren von Verstümmelungen und Tötungen erhalte derartige Ängste gerade am Leben. Doch noch stärker als in der Rolle der Kastrierten entstünden diese Ängste durch die Frau als Kastrierende: »The slasher film actively seeks to arouse castration anxiety in relation to the issue of whether or not woman is castrated. It does this primarily by representing woman in the twin roles of castrated and castrator, and it is the latter image which dominates the ending in almost all of these films.”580 Diese gefährliche Frauenrolle findet sich, so schon Bronfen, ebenfalls bereits vor dem Film in der Literatur- und Kunstgeschichte, so etwa in der Verbildlichung des biblischen Textes zu Judith enthauptet Holofernes von Caravaggio581 (1598/1599), in dem die schöne Israelitin den Heeresführer als symbolische Kastration brutal enthauptet, statt sich ihm hinzugeben. Auch Adam Rockoff spricht sich gegen versteckte Geschlechter und die Möglichkeit einer Identifikation aus, bei der das männliche Publikum sein Gesicht wahren könne und attestiert dem Final Girl im Slasherfilm stattdessen publikumsgefällige Attribute wie Stärke und Kompetenz. Das Final Girl trage außerdem ebenso häufig typisch weibliche Namen, wie männlich anmutende.582 Bewegt man sich von einer psychoanalytischen hin zu einer somatischen Auslegung, kann man zunächst festhalten, dass man sich dem erkennbaren Schmerz einer Figur, ganz unabhängig von ihrem Geschlecht wie auch etwaigen Identifikationen, auf Grund somatischer Empathie kaum entziehen kann. Julian Hanich dazu: »[S]ince it is such an abrupt and reflex-like response somatic empathy has a compulsory quality: we

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zwar deutlich. Wer die Filme kennt, wird ja wissen: Da werden Finger abgeschnitten, alles in Nahaufnahme. Das ist ein interessantes Phänomen [...] Das sind ja Filme, die sinnlich erfahrbar sind, die mit Musik und mit diesen drastischen Bildern versuchen, uns auf unsere existentielle Körperlichkeit zurückzuwerfen. Und das funktioniert möglicherweise auch gerade, weil viele, aber bei weitem nicht alle dieser Opfer Frauen sind, auch bei weiblichen Zuschauern.« Suchsland, Rüdiger: Extrem viele Frauen sehen diese Filme. Zur Konjunktur der Folter in Hollywood, 20.06.2007, http://www.heise.de/tp/artikel/25/25537/1.html (Abgerufen 23.01.2019). Creed, Barbara: The Monstruos-Feminine, S. 125. Ebd., S. 127. Caravaggio: Judith enthauptet Holofernes (1598/1599), Öl auf Leinwand, 145 x 195 cm. Palazzo Barberini, Rom. Vgl. Rockoff, Adam: Going to Pieces, S. 13f.

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can hardly avoid it.«583 Obwohl dies natürlich nicht eigenen Schmerzempfindungen gleichkomme, würden doch die jeweiligen eigenen lokalen Körperregionen in Anbetracht des Leinwandgeschehens zeitweise in den Vordergrund treten, so Hanich.584 Statt sich weiterhin auf Kastrationsängste zu fixieren kann man auch, wie in den Kapiteln 3.2.1 und 3.2.2 zu Sadismus und Masochismus diskutiert wurde, den ganzen (quasi-vorsymbolischen) Körper in den Fokus nehmen. Weil ein Opfer im Slasherfilm das andere ablöst, wie von Creed angesprochen, setzt sich nicht nur die Kastrationsbedrohung immer weiter fort, sondern geschlechterübergreifend die Bedrohung für den gesamten Körper des Zuschauers. Er wähnt sich in Todesgefahr, weil er so unmittelbar miterlebt, was den Filmopfern widerfährt, weil Leinwand- und Zuschauerraum im Sinne des Leihkörper-Konzepts als tödlicher Übergangsraum überlappen. Wie hier einführend beschrieben wurde, kann sich das Publikum noch zeitweise distanzieren und damit auf eine eher sadistische Positionierung wechseln, dabei etwa auch über das Leid der Opfer lachen, vor dem es geschützt ist. Je größer die Nähe zum Filmgeschehen jedoch empfunden wird, desto bedrohlicher nah kommt einem der gewaltsame Tod. Will man nun distinkte Geschlechter für die Filmerfahrung verwertbar machen, muss man zunächst das Geschlecht und die Geschlechterrolle unterscheiden:585 Frauen sind biologisch gesehen augenscheinlich wirklich schmerzempfindlicher als Männer,586 den Schmerz eines anderen Menschen kann man jedoch ohnehin nicht nachfühlen, weder in der Realität, noch im Kino. Entscheidender ist deshalb ihre schon angesprochene gesellschaftliche Rolle. Sie gelten, gemäß Sarah Hagelin, häufig als hilfloser und vom Schutz durch Männer abhängig:587 »Our culture, politics, and academic criticism remain troublingly invested in a story of female fragility, a story based on a few key assumptions: women, children, and nonmasculine men are the victims of male violence, female injury demands society’s retribution, and pain renders the victim of violence helpless.«588 Anders als beim typischen Rollenbild von Männern, ist es deshalb bei Frauen gesellschaftlich akzeptiert, die eigene Verwundbarkeit öffentlich zu zeigen. Dementsprechend fallen auch viele Darstellungen von weiblichen Opfern aus. Linda Williams führt bereits für die Lust der Frau im Pornofilm aus:

583 Hanich, Julian: Cinematic Emotion in Horror Films and Thrillers, S. 104/105. 584 Vgl. ebd., S. 104. 585 Hilge Landwer bemerkt in Generativität und Geschlecht, wie ähnlich schon in Kapitel 3.1.3 zu Körpersemiotik dikutiert wurde, es existiere eine biologische Differenz zwischen Männern und Frauen, diese werde aber kulturell verstärkt. Beide Seiten würden leicht verwischen und als selbstverständlich und naturgegeben aufgefasst. Vgl. Landweer, Hilge. »Generativität und Geschlecht. Ein blinder Fleck in der sex/gender-Debatte«, in: Koch, Gertrud. (Hg.), Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995, S. 93-119, hier S. 95. 586 Vgl. Sorge, Robert E. et al: »Different immune cells mediate mechanical pain hypersensitivity in male and female mice«, in: Nature Neuroscience, Vol. 18 (2015), S. 1081-1083, DOI: 10.1038/nn.4053. 587 Vgl. Hagelin, Sarah: Reel Vulnerability, S.11. 588 Ebd., S. 3.

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»[E]ven when the pleasure of viewing has traditionally been constructed for masculine spectators, as is the case in most traditional heterosexual pornography, it is the female body in the grips of an out-of-control ecstasy that has offered the most sensational sight. So the bodies of women have tended to function, ever since the eighteenth-century origins of these genres in the Marquis de Sade, Gothic fiction, and the novels of Richardson, as both the moved and the moving. It is thus through what Foucault has called the sexual saturation of the female body that audiences of all sorts have received some of their most powerful sensations [...]«589

Auch im gewaltsamen Tötungsakt kann demnach das ausufernd erkennbare Leid der Leinwandfrau somatische Potentiale – bzw. den Zugang zum leidenden Körper – in besonderem Maße eröffnen, als erschließe sich dadurch ein Mehr an Leid, das ihn noch eindringlicher fühlbar macht. Kristin Thompson analysiert demgemäß den Showdown in THE SILENCE OF THE LAMBS, in dem die Hauptfigur Clarice (Jodie Foster) dem Mörder Jame »Buffalo Bill« Gumb (Ted Levine) in seinen dunklen Keller folgt: »Clarice’s search through the cellar provides an indication of the advantages the film derives from having a female protagonist in a genre role previously usually played by men. Foster can make Clarice’s terror quite palpable for the audience. It is hard to imagine Clint Eastwood or Sylvester Stallone playing the situation with anything but aggressive confidence, tinged with caution. Clarice’s bravery in going into the cellar despite her fear is thus emphasized, and the film exploits the situation by keeping Gumb’s location a mystery until well into the scene. When Gumb does reappear, there is an abrupt shift to his point of view through the night-vision goggles. In a sense, this is the old cliché of the killer’s viewpoint on the female victim. Yet here it primarily functions to allow us to see Clarice in the dark. We are so tied to her at this point that we are hardly likely to switch to identifying with Gumb.«590

Clarices nachfühlbare, angespannte Angst steht hier im Kontrast zu ihrem unwilligen, aber mutigen Vorrücken durch den dunklen Raum. Ebenso kann man es somatisch erfassen, wenn die Perspektive wie von Thompson beschrieben auf Gumb wechselt, denn, so Vinzenz Hediger: »Angst entsteht, wenn der Gegenschuss ausbleibt und nicht preisgegeben wird, wer da blickt [...] Angst ist das Moment der Negativität, sie verlangt nach Aufhebung durch die Wiederherstellung der Erfahrung der Fülle. Tatsächlich aber ist mit der Angst, die die Subjektive des Monsters auslöst, auch eine gewisse Lust verbunden, eine komplexe Form der Angstlust, die wohl nicht zuletzt mit der Doppelung der Perspektive zusammenhängt.«591 Es lässt sich eine Bedrohung fühlen, die visuell umgekehrt, gerade durch den Bedrohenden, vorgeführt wird, während man als Zuschauer wie immer selbst in Sicherheit ist. Die Auffassung der erkennbar schwachen, ängstlichen Frau wird gewissermaßen gegen den Zuschauer ausgespielt, weil sich Clarice dennoch in den dunklen Keller begibt und so ihren eigenen, wie auch den Zuschauerempfindungen, zuwiderhandelt. Hier geht es um Angst und Spannung, nicht Schmerz, doch der somatische Zugang zum schmerzenden Körper der Leinwandfrau ist ebenfalls auf Grund gesellschaftlicher Erwartungshaltungen 589 Williams, Linda: »Film Bodies. Gender, Genre, and Excess«, S. 4. 590 Thompson, Kristin: Storytelling in the new Hollywood, S. 128. 591 Hediger, Vinzenz: »Des einen Fetisch ist des andern Cue«, S. 52.

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gegenüber Frauen bzw. insbesondere ihre stereotype Darstellungsweise – Angst, Weinen, Schreien, Jammern, Zittern, Flehen – für Zuschauer beider Geschlechter erleichtert. Thomas Elsaesser und Malte Hagener erkennen für THE SILENCE OF THE LAMBS insgesamt einen Übergang vom Blick zur Haut, also sinnlicher Erfahrbarkeit, wenn auch noch vorwiegend angedeutet: »Verschiebt man [...] die theoretische Aufmerksamkeit vom Blick zur Haut, so ließe sich auch sagen, der Film signalisiere einen Wechsel der Paradigmen: Buffalo Bill wird bekanntlich vom pathologischen Verlangen angetrieben, sich in die Haut eines anderen zu kleiden. Insofern ist das Motiv der ›Haut‹, des Häutens und Zusammennähens, des Sich-Einwickelns und Verpuppens, des Sich-Verwandelns und Neu-Entwerfens nicht weniger zentral als das der Augen und der Blicke. THE SILENCE OF THE LAMBS kann somit als ein Film des Übergangs verstanden werden, in dem das Paradigma des Auges jenem der Haut gegenübergestellt wird.«592 Während der Mörder Gumb noch dem Missverständnis unterliegt, den, so Claudia Benthien, ›hässlichen‹ Männerkörper durch die ›schöne‹ weibliche Haut wandeln zu können,593 ist der Zuschauer allein durch seine eigene Sinnlichkeit zu Geschlechter entgrenzenden Erfahrungen fähig, weg vom psychoanalytischen Blick auf die Filmfigur, hin zum geschlechterübergreifenden Kontakt mit ihr. Claudia Benthien führt für filmische Grenzüberschreitungen der Haut aus: »Daß gerade anhand der Haut die [...] Auflösung zwischen Intern und Extern immer wieder verdeutlicht wird, liegt zum einen darin begründet, daß die Haut historisch als finale Grenze des Selbst bestimmt wurde, zum anderen als das Sinnesorgan, welches am stärksten leiblich und am wenigsten entrinnbar ist. Aber auch die anderen Sinne sind in diesen Auflösunggsprozeß einbezogen, so daß sie nicht länger als Distanzsinne zu begreifen sind.«594 Die Konfrontation mit der brutalen Gewalt filmischer Tötungen ist für eine solche Grenzüberwindung in der Rezeption nicht zwingend notwendig, aber hilfreich: In THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE wird Sally (Marilyn Burns) gefesselt und geknebelt, mit einem Sack über dem Kopf, ins Haus der Mörderfamilie geschleift und dort an einen Stuhl gebunden, wo der Sack gelüftet wird (TC 01:06:08-01:07:09). Die Ausweglosigkeit ihrer Lage und die Ungewissheit, was als Nächstes geschehen wird, sind geschlechterübergreifend nachfühlbar. In der Folge wird sie jedoch, dem Stereotyp des weiblichen Opfers nachkommend, schreien, weinen, flehen und verhandeln und die Kamera kommt ihrer Pein dabei so nah wie nur möglich, indem sie auf ihr verstörtes, tränenverlaufenes Gesicht und zwischenzeitlich nur noch auf ein einzelnes, angstgeweitetes Auge zoomt (TC 01:07:34-01:15:02, Abbildung 14).

592 Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, S. 144. 593 Vgl. Benthien, Claudia: Haut, S. 106. 594 Benthien, Claudia: Haut, S. 275.

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Abbildung 14: Sallys angstgeweitetes Auge

Quelle: The Texas Chainsaw Massacre, TC 01:14:48, Dark Sky Films/MCMLXXIV by Vortex, Inc.

Benjamin Moldenhauer kommentiert die Szene: »Die körperliche Grenzüberschreitung findet ihre Entsprechung ein weiteres Mal in der Kamerabewegung. Die Kamera umkreist Sally aus nächster Nähe, um dann aus einer von oben gefilmten Halbtotalen ihre angsterfüllten Augen zu zeigen. Dann rückt das Gesicht in eine extreme Nähe, in der es nicht mehr als Ganzes, sondern nur noch segmentiert zu sehen ist. Dieser Distanzverlust lässt die Wehrlosigkeit spürbar werden. Damit ist nicht impliziert, dass der Zuschauer mit dem ›Blick‹ der Kamera identifiziert sei, in dem Sinne, dass er ihn als seinen eigenen imaginieren würde. Vielmehr unterläuft die Bildgestaltung in The Texas Chainsaw Massacre gerade jedes etwaige Omnipotenzgefühl, das in der These von der primären Identifikation mit dem Kamerablick unterstellt wird. Der Rezipient wird nicht seiner selbst versichert, stattdessen wird ihm etwas sehr nahe gebracht, das er eigentlich nicht sehen und empfinden möchte.«595

Die Gewalt des Mediums Film liegt damit – so wird hier erneut deutlich – mindestens ebenso sehr in den medienspezifischen Potentialen, wie den erschreckenden Inhalten, die es auf der Handlungsebene entfaltet. Was Sally widerfährt, widerfährt, zumindest zeitweise, auch dem Publikum, es ist den Tätern ausgeliefert. Die Wirkmächtigkeit der Darbietung von Folter und Tötungen, bei der Inhalt und Art der Darbietung gekoppelt sind, untergräbt nach der Argumentation Moldenhauers, etwa durch extreme Nahaufnahmen, das Omnipotenzgefühl des Zuschauers in der Kinosituation. Der sadistische Blick der Kamera/des Zuschauers wird damit zum Instrument für einen masochistischen Nachvollzug, sofern man die Rezeption nicht abbricht.596 Die Orientierungslosigkeit durch die extreme Nähe der Kamera, wie schon bei Marks, hier die absolute Konzentration auf den Körper und die Angst in den Augen des Opfers, die den Bildraum einnehmen, lassen im wörtlichen Sinne keinen Raum für irgendetwas anderes. Dies begünstigt damit auch eine somatische statt rein kognitive Anteilnahme, die sich in Verunsicherung, Angst, Unwohlsein, Anspannung etc. vollzieht, ohne klare Schlüsse zu erlauben.

595 Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S. 197. 596 Vgl. Kapitel 3.2.2

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Die psychoanalytisch geprägte Auffassung eines subjektiven Kamerablicks als sadistischen Blick bzw. Identifikation mit dem Killer ist entsprechend angezweifelt worden. Carpenters HALLOWEEN beginnt ebenfalls mit einer subjektiven Kameraperspektive. Man weiß zunächst nicht, wessen Sicht man einnimmt. Man sieht durch eine verwackelte Handkamera ein Haus von außen und blickt mit ihr durch ein Fenster. Innen sieht man eine junge Frau und einen jungen Mann, die sich küssen. Sie albern mit einer Clownsmaske herum, rennen nach oben und löschen das Licht. Als der Mann gegangen ist, betritt die Person, mit der wir blicken, das Haus, greift sich ein Messer und begibt sich nach oben. Sie geht auf die junge Frau zu, die sich beinahe nackt am Spiegel sitzend die Haare kämmt und greift sich die Clownsmaske vom Boden. Die junge Frau ruft vorwurfsvoll ›Michael‹, da sticht er auf sie ein. Durch die Clownsmaske ist der Gewaltakt nur andeutungsweise zu sehen, man sieht nur etwas Blut auf nackter Haut und das aufblitzende Messer. Schwerer atmend geht Michael die Treppe herunter und aus dem Haus, wo er auf ein mit dem Auto ankommendes Ehepaar trifft. Auch der Mann nennt verwundert seinen Namen und zieht ihm die Clownsmaske vom Gesicht. Nun sieht man in Außenperspektive einen kleinen Jungen, das blutige Messer noch in der Hand. (TC 00:02:22-00:07:00). Trotz der gängigen Auslegung als Killer-/Kamerablick ist, so Adam Rockoff im Sinne neoformalistischer Thesen, der Grund für diesen Kameraeinsatz »[...] not to become the ›eyes‹ of the killer, but to ›fragment the visual field and make the killer’s exact position within the film’s space unidentifiable.‹ This subjective view allows audiences to feel involved in the ›game‹ of the slasher – the major points of which are figuring out just who and where the killer is, and when and how he will strike – heightening both their enjoyment and excitement.«597 Auch Murray Smith, sieht in der subjektiven Kameraperspektive weniger eine Identifikation verwirklicht, als die an die Narration gebundene Vorgabe des Films, wie viel der Zuschauer zu einem bestimmten Zeitpunkt sehen bzw. wissen darf.598 Somatische Theorien gehen auch über die Narration und kognitive cues hinaus, hin zu uneindeutigen somatischen Ahnungen, wie sie Vivian Sobchack in What My Fingers Knew beschrieben hat.599 In ihrem Beispiel ist das Sichtfeld völlig verdeckt, doch somatisch lässt sich bereits etwas erahnen, das noch nicht kognitiv bewusst ist. Statt immer nur von außen zu blicken, sind wir demnach mit dem ganzen Körper mit dem Film verstrickt, selbst oder gerade in Momenten, in denen unser Sichtfeld eingeschränkt ist. Ein dem ähnliches Beispiel für den Slasherfilm ist der Anfang von THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE: Hier hört man Spatenstiche und Atmen, während das Bild noch schwarz ist, zwischendrin leuchten blitzartig Bilder auf, die Ausschnitte eines grotesken toten Körpers offenbaren, ehe das Bild nun erhalten bleibt und eine gesamte Leiche zeigt. Eine Stimme aus dem Off schildert Details zu den Geschehnissen und die Anfangstitel setzen ein (TC 00:01:07-00:03:29). Man weiß als Zuschauer zunächst noch nicht, worum es geht, aber die körperliche Tätigkeit des Grabens und die starke Assoziation zum Thema Tod – erst auditiv, dann auch visuell angezeigt – schaffen bereits ein bedrohliches Gefühl.

597 Rockoff, Adam: Going to Pieces, S. 15. 598 Smith, Murray: Engaging Characters, S.83ff. 599 Vgl. Kapitel 3.1.5

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FRIDAY THE 13TH greift die subjektive Kameraperspektive von HALLOWEEN auf – der Mord an dem Paar zum Auftakt des Films entspricht fast 1:1 dem in HALLOWEEN – er verlegt seine Morde aber bis zum Showdown des Films in diese Sichtweise und enthüllt erst dann die Identität des Killers. Dadurch spielt FRIDAY THE 13TH mit der unbewussten Erwartungshaltung des Publikums, die durch vorangegangene Slasherund allgemein Horror-Filme geprägt ist. Die Jagd des lange unbekannten Killers auf die Jugendlichen wird zum Spiel, in dem sie auf alle erdenklichen Arten getötet werden. Entgegen Clover sieht man nicht nur weibliche Figuren, sondern auch männliche in Nahaufnahme sterben und der Killer entpuppt sich zuletzt als Frau. Barbara Creed erkennt in dieser die bedrohende, kastrierende Mutter frühkindlicher Entwicklungsphasen, der in ihren Augen in psychoanalytischen Theorien bis dato zu wenig Aufmerksamkeit widerfuhr.600 Es dient allerdings auch dazu, einen neuen Twist im Slashergenre zu erzeugen, da man einen Mann erwartet hat und die biedere, mütterliche Mörderin nicht ins Bild passt. Bis zuletzt weiß man auch nicht, wer das Final Girl ist, da dieses nicht so klar herausgearbeitet wird, wie Laurie (Jamie Lee Curtis) in HALLOWEEN. Die, die wir in FRIDAY THE 13TH zunächst für das Final Girl halten, Annie (Robbi Morgan), wird sterben, noch ehe sie das Camp erreicht. Dies führt zu einer Verunsicherung des Publikums, da jeder sterben könnte, selbst die vermeintliche Protagonistin. In der Szene wird außerdem die starke Wirkung der subjektiven Handkamera auf unheimliche Weise bewusst: Annie trampt und wird mitgenommen, man sieht den Fahrer jedoch nicht, nur wieder seinen Blick auf sie. Auf Grund der Sehgewohnheiten rechnet man mit einem Mann. Er fährt nicht den Weg zum Camp hinauf, sondern weiter die Straße entlang. Sie bekommt es mit der Angst zu tun, was wir wieder aus seiner Perspektive sehen. Schließlich springt sie aus dem fahrenden Auto und verstaucht sich dabei den Knöchel, sie flieht durch den Wald. Wir können nicht sicher sein, ob nur die Kamera blickt oder wir mit dem Mörder blicken. Wir wissen nicht, wo oder wie nah er ihr schon ist. Schließlich tauchen zwei Füße vor ihr auf, er hat sie entdeckt, ein Messer blitzt auf und wieder aus seiner Perspektive sehen wir, spüren wir, während sie ihn anfleht, wie er ihr die Kehle durchschneidet. Blut tritt aus, ehe überblendet wird. (TC 00:18:2100:21:33). Wie bereits durch die Sicht einschränkende Clownsmaske in der Eröffnungsszene von HALLOWEEN, wird durch die Verletzung des Knöchels Spannung erzeugt, sowie, damit verbunden, ein somatischer Effekt, der in der Behinderung der Handlungsfreiheit liegt.601 Wir sind ganzkörperlich am filmischen Geschehen beteiligt, doch wir können nicht uneingeschränkt sehen, was Michael tut, auch wenn wir den Impuls verspüren die Maske weg zu reißen, um alles vollständig wahrzunehmen – oder auch das Licht anzuschalten, wenn die Filmfiguren sich durch halbdunkle Häuser bewegen. In FRIDAY THE 13TH nun spüren wir den Impuls zu fliehen, auch ohne uns mit Annie zu identifizieren, von der wir kaum etwas erfahren haben. Wir wissen um den Schmerz und die Bewegungseinschränkung eines verstauchten Knöchels. Wir spüren die Nähe 600 Vgl. Creed, Barbara: The Monstruos-Feminine, S. 126. Die kastrierende Mutter bildet bei Creed das Gegenstück zur sonst üblicherweise angenommenen Kastrationsbedrohung durch den Vater. Vgl. ebd., S. 89. 601 Dies lässt sich an die Ausführungen von Christine Noll Brinckmann zur somatischen Empathie bei Hitchcock in Kapitel 3.1.2 anschließen.

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des Mörders/Todes, erwarten diesen und können Annie nicht retten. In diesen Einschränkungen liegt eine Art (zutiefst somatisch geprägter) Masochismus. Der (lebendige) Drang zur Bewegung, wo die Figuren nicht dazu fähig sind, muss dabei von vornherein blockiert bleiben: wir könnten vom Kinositz aufspringen, auf die Leinwand zulaufen oder den Figuren warnend zurufen, doch es würde uns nichts nutzen. Wir sind dem Kamerablick, der körperlichen Einschränkung von Figuren sowie dem gesamten Filmgeschehen – auch somatisch – ausgeliefert. Deshalb bleiben wir meist still sitzen und unterdrücken mental, was somatisch mit uns geschieht. Dies stellt eine ambivalente Lust dar, eine jouissance-artige Erfahrung, gekoppelt mit der Angst selbst, die man beim Horrorfilm zu genießen weiß. Die Tötungen im Slasherfilm, so hat dieses Kapitel gezeigt, können zwar sehr brutal ausfallen, doch insgesamt geht es mehr um das Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Killer und seinen Opfern. Der Moment des Mordes birgt beinahe etwas Kathartisches, denn hier ist die Hetzjagd zu Ende, auf diesen Augenblick hat das Publikum gewartet und kann jubelnd aufschreien, eher erleichtert als triumphierend, denn wie bei Transi und Skelett ist der Übergang erschreckender und somatisch ergreifender als der Endzustand. Die Spannung wird ein ums andere Mal im ekeligen Höhepunkt entladen, die Fülle an Blut oder die Variation der Waffen zelebrieren dabei die Körperzerstörung, wie schon die Abtrennungen der Gliedmaßen und Ausweidungen des Körperinneren im Zombiefilm. In den immer ähnlichen Strukturen des Slasherfilms und der recht oberflächlichen Darstellung der Opfer besteht keine Notwendigkeit für ›echte‹ Empathie. Der Rückgang einer psychologisch schlüssigen Handlung mit klar ausformulierten Charakteren erlaubt eine Bevorzugung somatischer Anteile wie Anspannung, Angst und einer Art freudigem, beinahe kindlichen Ekel. Dies gilt geschlechterübergreifend, adressiert unser aller verletzliche, sterbliche Körper im Angesicht der Verletzung anderer und deren Tod und bleibt nicht auf psychoanalytische Theorien zu Identifikationen und Kastrationsängsten beschränkt. Die Frau als Opfer bzw. Final Girl ist für eine somatische Anteilnahme zunächst erstrebenswerter, nicht weil sie biologisch eine Frau ist und das männliche Publikum damit feminisiert würde, sondern weil sie als verwundbarer aufgefasst wird und insbesondere häufig merklicher leidet, was die somatische Anteilnahme des Publikums intensiviert. Dies gilt auf dieselbe Weise für männliche Figuren, die ihre Empfindungen stärker zeigen, wie das folgende Kapitel ausführen wird. Es bleibt also nicht streng an Geschlechter gebunden. Wie das Übermaß an Blut im Slasherfilm eine somatische Anteilnahme garantieren soll, gilt das auch für ein Übermaß an präsentiertem Leid durch Tränen, Verzweiflung und Schmerzensschreie. Linda Williams bemerkt entsprechend zu den body genres: »We feel manipulated by these texts – an impression that the very colloquialisms of ›tear jerker‹ and ›fear jerker‹ express – and to which we could add pornography's even cruder sense as texts to which some people might be inclined to ›jerk off.‹«602 Der Einsatz der Kamera – etwa extreme Nahaufnahmen, so hat das Beispiel von THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE gezeigt, können den Eindruck noch verstärken, dasselbe gilt für Soundeffekte. Das männliche Publikum muss ein Final Girl demnach gar nicht erst zu einem versteckten Mann transformieren, um sich mit diesem zu identifizieren, da eine solche

602 Williams, Linda: »Film Bodies. Gender, Genre, and Excess«, S. 5.

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Identifikation gar nicht stattfindet, wie auch der von Thompson beschriebene Perspektivenwechsel der Kamera in THE SILENCE OF THE LAMBS bestätigt: Eine somatische Anteilnahme,603 die durch Außenperspektiven auf Mimik, Körperhaltung etc. herbeigeführt wird, kann augenscheinlich Laura Mulveys voyeuristischem Blick des Killers bzw. männlichen Publikums entgegenstehen. Sie unterläuft diesen, da wir selbst beim Wechsel zum Point of View des Mörders Gumb an Clarice gebunden bleiben. Es mag noch immer ein sadistisch-masochistisches Wechselspiel stattfinden, aber die (somatische) Anteilnahme an Clarices Schicksal überwiegt in diesem Moment, für ein weibliches, wie auch männliches Publikum. Die fühlbare, wie auch kognitive (An-)Spannung wird eher noch erhöht, indem wir sehen, was Gump sieht, Clarice jedoch nicht, ohne sie dabei warnen zu können oder aber je identifikatorisch seine Position einzunehmen. Die Figur des Final Girl bietet ein besonderes Erfahrungsspektrum zwischen körperlichem Leiden, gekoppelt mit Todesangst, und letztendlich überlegener Stärke und Überleben. Hier entlädt sich auch endlich die ohnmächtige somatische (wie auch kognitive, da als Frustration empfundene) Blockierung des Publikums, da das Final Girl ausführt, wozu die anderen Figuren in ihrer ausweglosen Flucht nicht fähig waren: Es tötet den Killer. Das Final Girl überwindet nicht nur den im Killer personifizierten Tod, sondern besiegt ihn häufig eigenhändig, mit letzter Kraft und unter einer nachvollziehbaren, großen psychischen wie physischen Anstrengung. Nun ist die symbolische Ordnung, mit Gerechtigkeit und Frieden, wiederhergestellt, wie es auch der Actionheld der 1980er vermag. Die Lösung der Anspannung am Ende von Slasherfilmen – ebenso wie der häufige Hinweis darauf, dass der Mörder doch nicht erlegen ist und es eine Fortsetzung geben wird – gehören zum typischen, somatisch fundierten, Spiel des Slasherfilms. Wie gehen New Extremity-Horrorfilme der 2000er Jahre mit dem Potential somatischer Anteilnahme um und wie thematisieren sie Geschlechterrollen? 3.3.2.2 Der New Extremity Horrorfilm der 2000er Geschlechtergrenzen und Körper lassen sich auch für den New Extremity Horrorfilm diskutieren. Durch die ausgedehnteren, sehr drastischen Folter- und Tötungsszenen, wird hier eine somatische Beteiligung des Publikums in noch stärkerem Maße ermöglicht (bzw. erzwungen) als beim Slasherfilm. Hier wird das Potential der Kopplung filmischer Mittel und extremer Inhalte besonders deutlich, da nicht nur die Differenz von Geschlechtern, sondern auch die von Realität und Fiktion, Zuschauerraum und Leinwandwelt, zeitweise einbricht. In Kapitel 2.1.2 wurde bereits diskutiert, dass abjekte Figuren, wie der Zombie, durch ihr erschreckendes Äußeres und die damit verbundene Todeserkenntnis zu einem Distanz- und Identitätsverlust des Publikums führen können. Dasselbe gilt für Tötungen mit extremer Gewalt. Filmische Großaufnahmen, Schnitte und auch gezielt eingesetzte auditive Eindrücke, können diesen Effekt noch verdoppeln. Im gelungenen Fall spielen für die direkte, somatisch fundierte Beteiligung am Filmgeschehen Geschlechtergrenzen im Grunde keine Rolle

603 Natürlich kann hier neben einer somatischen Erfassung der Angst und Anspannung auch Sympathie mit Clarice eine Rolle spielen.

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mehr. Das Leid der Opfer wird nicht nur nachvollziehbar, sondern überwältigt den Zuschauer regelrecht. Die zwei Geschlechter werden in den folgenden Filmbeispielen direkt thematisiert. Die Körper auf der Leinwand werden aber mitunter so geschunden, ihre Identität so gewaltsam ausgelöscht, dass der einzig mögliche Zugang zum Film, geschlechtsunabhängig, ein somatischer wird. Unser verwundbares Fleisch reagiert demnach automatisiert auf das wunde Fleisch, das uns präsentiert wird. Eli Roths HOSTEL setzt seinen Fokus auf den Überlebenskampf männlicher Figuren und stellt eine männliche Vorherrschaft gleichzeitig in Frage. Die Kulturwissenschaftlerin Maisha Wester stellt für diesen fest: »Roth’s mocking portrayal of the psychotic patriarch and equally monstruos heroine suggests that all become villainous through participation in capitalist economy.«604 In HOSTEL können reiche Männer und Frauen605 in einer Kleinstadt in der Slowakei dafür zahlen, Menschen zu foltern und töten. Wer es sich leisten kann, erhält damit Macht, unabhängig vom Geschlecht.606 Hier zeigt sich auch erneut die Angst vor dem Unbekannten, der unheimlichen, fremdsprachigen Kleinstadt irgendwo in der osteuropäischen Provinz. Junge, gutaussehende Frauen ködern unwissende männliche Touristen, wie die Protagonisten Josh (Derek Richardson), Paxton (Jay Hernández) und Oli (Eyþór Guðjónsson), in ein leeres Fabrikgebäude, wo diese Höllenqualen erleben und sterben müssen. Damit kippt die anfängliche Vorstellung der drei von leichten slowakischen Frauen, über die sie frei verfügen können, ins Gegenteil. »Fucking whore... fucking bitch« schreit Paxton entsprechend der jungen Frau entgegen, die ihn und zuvor seine Freunde offensichtlich ausgeliefert hat. Doch sie lacht nur und entgegnet: »I get a lot of money for you ... and then make you my bitch.« Daraufhin wird er von zwei Männern gepackt, die ihn mitschleifen, seine Hände versuchen vergeblich, sich an den Wänden festzukrallen, was man im eigenen Körper, den Fingerspitzen und -nägeln, nachfühlen kann, bis hin zu einer feuchten Kühle, die man synästhetisch in den Kellerräumen mitzufühlen glaubt. Er wird vorbei an offenen Türen gezogen, die andere Folteropfer offenbaren und ihn sowohl sein Schicksal, als auch das Ausmaß der organisierten Foltermaschinerie, erkennen lassen. Schließlich wird er an einen Stuhl gefesselt und in einem dunklen Raum zurückgelassen (TC 00:54:08-00:56:47). Hier doppelt sich die Zuschauersituation, da der Film als Medium in unbegrenztem Ausmaß und zu serieller Wiederholung fähig, entsprechend dem ›will to jouissance‹ in Kapitel 3.2.1, für den Zuschauer foltert und tötet. Max Horkheimer und Theodor Adorno haben die Sade’sche Phantasie in ihrer Dialektik der Aufklärung ganz ähnlich geschildert und dabei mit Faschismus in Beziehung gesetzt: Anders als Lacan sehen 604 Wester, Maisha: »Torture Porn and Uneasy Feminisms: Rethinking (Wo)men in Eli Roth’s Hostel Films«, in: Grant, Barry Keith (Hg.), Dread of Difference. Gender and the Horror Film, Austin: University of Texas Press 2015 [1996], S. 305-326, S. 306. 605 Die ebenbürtige Rolle vermögender Frauen wird erst in HOSTEL: PART II (USA 2007, R: Eli Roth) klar herausgestellt. 606 »Men’s positions in both films articulate the ways that capitalism undermines the privilege associated with patriarchy. While the marketplace is still a space overwhelmingly identified with masculine gestures, it is also accessible to women, thanks to a focus on capital rather than gendered bodies. In a positive light, Roth’s grotesque market defines bodies as equally objectifiable regardless of gender and consequently negates gender roles, ideology, and hierarchy.« Wester, Maisha: »Torture Porn and Uneasy Feminisms«, S. 317.

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sie den Sade’schen Libertin als nicht mehr in seinem Denken und Handeln durch eine Obrigkeit, wie dem ›will to jouissance‹, bevormundet an, sondern vernünftig im Sinne der Aufklärung.607 Er habe sich gemäß Kant aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit [befreit und] sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen [bedient].«608 Für Horkheimer und Adorno steht der Faschismus damit »[e]ntgegen dem kategorischen Imperativ [Immanuel Kants] und in desto tieferem Einklang mit der reinen Vernunft [...]«609 Wie der Sade’sche Libertin folge man letztendlich immer Eigeninteressen und dem Prinzip der Selbsterhaltung: dieser stelle sich über andere.610 Die Vernunft, so Horkheimer/Adorno, erscheine als das »[...] Organ der Kalkulation, des Plans, gegen Ziele [...] neutral [...] Die eigene architektonische Struktur des kantischen Systems kündigt wie die Turnerpyramiden der Sadeschen Orgien und das Prinzipienwesen der frühen bürgerlichen Logen – ihr zynisches Spiegelbild ist das strenge Reglement der Libertingesellschaft aus den 120 Journées – die vom inhaltlichen Ziel verlassene Organisation des gesamten Lebens an. Mehr noch als auf den Genuß scheint es in solchen Veranstaltungen auf seinen geschäftigen Betrieb, die Organisation anzukommen, wie schon in anderen entmythologisierten Epochen, dem Rom der Kaiserzeit und der Renaissance wie dem Barock, das Schema der Aktivität schwerer als ihr Inhalt wog.«611

Reue und Mitleid seien demnach unvernünftig,612 die privaten Laster bei Sade hätten die öffentlichen der totalitären Ära vorweggenommen und »die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrien zu haben, [habe] den Haß entzündet, mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute noch verfolgen. Anders als der logische Positivismus nahmen beide die Wissenschaft beim Wort.«613 HOSTEL zeichnet nun ein ebenso negatives Bild vom Menschen und präsentiert ein emotionslos durchgeplantes Foltersystem, an die Stelle des Faschismus ist allerdings der reine Kapitalismus getreten, in dem die einen konsumieren und die anderen konsumiert werden. Hier lässt sich eine Parallele zu den Malls der Zombiefilme in Kapitel 2.1.2 erkennen, die ebenfalls eine Form der Konsumkritik darstellten. Die Gesellschaft richtet sich demnach in beiden Fällen, so könnte man dies interpretieren, selbst zugrunde. Wer es sich leisten kann – das hat sich seit den Pesttoden im Mittelalter nicht geändert – bleibt dabei am längsten am Leben. 607 Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988 [1944], S. 88. 608 Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Berlinische Monatsschrift, 1784, Nr. 12 (1784), S. 481-494, hier S. 481, http://www.deutschestextar chiv.de/book/view/kant_aufklaerung_1784?p=17 (Abgerufen 18.01.19). 609 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, S. 93. 610 Sie definieren ihn: »Seine Prinzipien sind die der Selbsterhaltung. Unmündigkeit erweist sich als das Unvermögen, sich selbst zu erhalten. Der Bürger in den sukzessiven Gestalten des Sklavenhalters, freien Unternehmers, Administrators, ist das logische Subjekt der Aufklärung.« Ebd., S. 90. 611 Ebd., S. 95. 612 Vgl. ebd., S. 108. 613 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, S. 127.

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HIGH TENSION beginnt – nach einer kurzen Szene vor einer Kamera – ähnlich wie THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE auf einer einsamen Landstraße. Die schwer verwundete Marie (Cécile De France) gelangt von einem Wald an eine Straße, wo sie ein Auto anhält, um gerettet zu werden (TC 00:01:12-00:03:20). Anschließend sieht man eine Rückblende davon, was ihr widerfahren ist: Die Freundinnen Marie und Alex (Maïwenn) besuchen gemeinsam Alex’ Familie. Dieser alltägliche Vorlauf wird bald darauf von Le Tueur (Phillipe Nahon), wörtlich übersetzt dem Killer, unterbrochen, der brutal Alex’ gesamte Familie tötet – während Marie sich erst in ihrem Zimmer und dann im Wandschrank versteckt und das Geschehen beobachtet. Anschließend entführt er Alex in einem alten Lieferwagen (TC 00:21:40-00:43:24). Auch Pascal Laugiers MARTYRS beinhaltet einen solchen Blutrausch, in dem eine ganze Familie systematisch ausgelöscht wird. Hier tötet Lucie (Mylène Jampanoï), traumatisiert von ihren Foltererfahrungen durch eine geheime Gesellschaft, die durch die Folterung (unfreiwilliger) Märtyrer das Leben nach dem Tod erforschen will, eine vierköpfige Familie mit einer Schrotflinte. In den Eltern hatte sie ihre Folterer wiedererkannt. (TC 00:11:45-00:14:51). Anders als die Killer des Slasherfilms oder Le Tueur in HIGH TENSION, geht sie zögerlich und sichtlich verstört über ihr eigenes blutiges Handeln vor, dabei zwischen Hass und Zuneigung für ihre Opfer schwankend. Dies hat mit dem brachialen, emotionslosen Töten der männlichen Killer nichts mehr gemein und bricht damit auch den typischen, beruhigenden Dualismus von Gut und Böse auf, wie das Kapitel 3.3.3 für den Actionfilm ausführen wird. Lucie wird dadurch menschlich und ihre schmächtige Gestalt, ihr eigenes sichtliches Leiden und das Blutbad, das sie dennoch anrichtet, erhöhen durch eine fühlbare Dissonanz die Drastik der Szene. Alle drei Filme haben das Potential durch die extreme Gewalt ihrer Tötungen zu einer Überwältigung des Publikums zu führen, das sich geschlechterübergreifend einer Todeserfahrung nah und selbst verwundet fühlt. HIGH TENSION scheint zunächst der altbewährten Struktur des Slasherfilms von gut und böse, Killer und Final Girl, zu folgen. Das Final Girl scheint sich hier in Alex als einziger Überlebenden ihrer Familie und insbesondere Marie aufzuteilen, die aktiv versucht, den Killer zu bezwingen und ihre Freundin zu retten. Für diese starke Frauenrolle erhält sie keine männliche Unterstützung. In einer langgezogenen, brutalen und sichtbar kräfteraubenden Szene schlägt Marie auf Le Tueurs Kopf ein und erstickt ihn zuletzt mit einer Plastikfolie, bis er sich endlich nicht mehr zur Wehr setzt, endlich tot ist (TC 01:09:24-01:12:42). Damit erscheint Marie als Final Girl-Heldin. Diese Annahme wird sich später als unwahr erweisen, denn das New Extremity Kino kennt keine klaren Seiten mehr. Nachdem das Publikum Marie durch den gesamten Film gefolgt ist – mit dem üblichen Kontrast zwischen dem rohen, massigen Körper des männlichen Killers und dem schwächeren und verwundbaren weiblichen Körper des Final Girl, das ihn dennoch zuletzt bezwingt – offenbart sich am Schluss, dass Marie sowohl die Heldin, als auch das Monster war. Sie hat in Folge einer gespaltenen Persönlichkeit die ganze Zeit über gegen sich selbst gekämpft und der männliche Killer existiert gar nicht. (TC 01:13:28-01:22:27). Damit besitzt Marie weibliche, wie auch männliche Anteile, wie Carol Clover sie dem Final Girl zugesprochen hat, auf sehr direkte Weise – sie vereint beide Geschlechter, wie auch die Seiten von Gut und Böse, Protagonist und Antagonist – verliert aber dadurch ebenfalls die dem Final Girl typische Unschuld.

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Ihr Wahn lässt sich psychoanalytisch interpretieren, wie von Alexandra West in Fille Finale: The Final Girl in New French Extremity diskutiert: »Unable to cope with homoerotic desires, she manifests a hulking male figure to carry out her secret desires of destroying everything and everyone that could possibly keep her and Alex apart«614, dient aber aus neoformalistischer Sicht auch schlicht der Irreführung des Publikums, das, den cues der Narration folgend, nicht zum richtigen Ergebnis kommen konnte, weil es unwissentlich der verzerrten Weltwahrnehmung Maries nachging. Sie war damit nie das Final Girl, diese Rolle kommt allein Alex zu. Marie erwacht nicht aus ihrem Wahn und Alex gelingt es auch nicht, sie zu töten. Zuletzt wird sie in eine Anstalt eingewiesen (TC 01:22:27-01:23:08). Der Tod hat somit das Leben durchsetzt und die beiden getrennten Seiten werden nicht wieder errichtet, Marie bleibt eine Bedrohung für das Leben von Alex, wie auch den Zuschauer, der keine somatische Auflösung oder narrative Schließung erhält. Die (symbolische) Ordnung werde, anders als im Slasherfilm, nicht wiederhergestellt, so West: »Marie and Alex’s worlds have both been irrecoverably altered. Alex, in that she has lost her family, and Marie, in that she has completely broken with reality. In previous incarnations of the slasher, Marie would have subdued Le Tueur, possibly saved Alex and been able to revert to her previous feminine state. This lack of cohesion to previously understood tropes of the genre makes it harder to read. The chaotic nature of the film mixed with the completely illogical ending of the film renders it as only understandable through complete subjectivity. In order to make sense of the film, we must try to understand a schizophrenic mind because, logically, the events of the film could not have occurred in the way the audience sees them [...] Although, through the transference of the role of Final Girl to Alex we lack resolve for Marie’s character who manages to survive but has not forgotten Alex. We understand that the nightmare of the film has not ended. While the (archetypal?) monster may continue on in other iterations of the slasher film, it is a rare film indeed that shows us that the monster was our guide through the film, cloaked our understanding of the world of the film and eventually triumphed through survival and rejection of the world order.«615

Obwohl man die Brutalität Le Tueurs unmittelbar am eigenen Leib miterlebt hat, seine Grobheit und Kraft, seine Unerbittlichkeit, die mit dem zarten Körper Maries nichts gemein zu haben scheinen, war alles nur eine Illusion. Kognitive und somatische Elemente greifen somit ineinander, da man durch diese kognitive Täuschung sozusagen seinen eigenen Empfindungen nicht mehr trauen kann. Man hat somatisch mit Marie gelitten, ihre Anstrengungen nachempfunden, die unmögliche Aufgabe zu erfüllen Alex zu retten und Le Tueur zu vernichten. Damit war der Verlauf der Ereignisse für das Publikum nicht nur kognitiv, sondern auch somatisch so echt, wie für Marie in ihrem Wahn. Die psychoanalytische Fragestellung Clovers, nach einer Identifikation des männlichen Publikums mit einer weiblichen Hauptfigur wurde im vorangegangenen Kapitel zugunsten einer unmittelbaren somatischen Empathie mit den Figurenkörpern verlagert, die geschlechtsübergreifend erfahrbar sind. Die Geschlechterthematik ist in HIGH TENSION nun, anders als es zunächst den Anschein hatte, weit 614 West, Alexandra: »Fille Finale: The Final Girl in New French Extremity«, in: Off-Screen. Volume 18, Nr. 6-7 (2014), http://offscreen.com/view/fille-finale (Abgerufen 24.01.2019). 615 Ebd.

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weniger relevant als die Frage nach Wirklichkeit und Illusion, der Welt, die man als echt wahrnimmt und der, die man sich lediglich konstruiert. Beide, Wirklichkeit und Illusion, können sich gleichermaßen echt anfühlen. Damit geht HIGH TENSION über Genrekonventionen und entsprechende Geschlechterrollen hinweg zum filmischen Potential selbst, uns Dinge glauben zu machen, somatisch erfahrbar, als wären sie echt. Wir haben die Tode im Film hautnah miterlebt und wurden doch über das Verhältnis von Täter und Opfer getäuscht. HOSTEL und MARTYRS verhandeln die Geschlechterthematik jeweils auf ihre Weise: In HOSTEL beginnt die erste Folterszene, wie bereits der Slasherfilm, mit einer subjektiven Kameraperspektive, diesmal der des Opfers, statt Täters. Das Blickfeld ist stark eingeschränkt, man sieht nur einen winzigen Ausschnitt, der sich mit der Bewegung des Kopfes bzw. der Kamera verändert und einen Keller offenbart, einen zerbrochenen Spiegel, eine alte Lampe, Folterinstrumente auf einem Tisch. Neben dieser Spannung erhöhenden Einschränkung der Sicht – eine Blockierung wie bei Michaels Maske in HALLOWEEN, die man nicht aus dem Sichtfeld ziehen konnte – treten auditive Eindrücke stärker hervor. Man hört das nervöse Atmen der Person, deren Perspektive man augenscheinlich teilt. Dies verstärkt die somatische Beteiligung, während man sich kognitiv noch nicht erklären kann, was geschieht. Man ist mit ausgeliefert, fühlbar in Lebensgefahr. Der Kopf/die Kamera bewegt sich schneller hin und her, um den Raum zu erschließen. Ein zuvor im Film eingeführter holländischer Geschäftsmann betritt mit Mundschutz und einer Fleischerschürze den Raum durch eine knarzende Tür. Nun wechselt die Kamera auf eine Außenperspektive und man sieht Josh mit einem Sack auf dem Kopf dasitzen (Abbildung 15). Abbildung 15: Josh mit Sack über dem Kopf

Quelle: HOSTEL, TC 00:39:25, Screen Gems/Lions Gate Films Inc.

Hierbei handle es sich um einen direkten Verweis auf die Bilder der Gefangenen von Abu Ghraib, so Adam Lowenstein. Damit kehre sich das ursprüngliche Verhältnis um, weil nun Amerikaner gefoltert würden, statt selbst als Folterer aufzutreten.616 Durch 616 Vgl. Lowenstein, Adam: »Spectacle horror and Hostel, S. 51. Auch Aaron Michael Kerner erkennt in Torture Porn in the Wake of 9/11: »[...] the [...] object in the thematics of Hostel is the United States’ dirty business in the ›war on terror‹ – the abuses that are intended to stay hidden from view.« Kerner, Aaron Michael: Torture Porn in the Wake of 9/11: Horror,

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künstliche filmische Mittel könne das Publikum so reale menschliche Geschichte körperlich erfahren. Bereits das Kino der Attraktionen, das zu schockieren und affizieren wusste, damit auf echte Reaktionen im Publikum setzte, habe auf diesen Effekt gezielt: »[This] invites the possibility of feeling the past as an embodied experience. This ›return of history through the gut‹ points toward a largely unacknowledged historical underside to the cinema of attractions, one where spectacle does not necessarily halt at sensation alone but opens out toward history.«617 Der fiktive Film kann somit durch ein Wiederaufgreifen einer aus den Medien bekannten Motivik (der Folter), zumal nun eindrücklicher in der bewegten visuell-auditiven Direktheit als eine Fotografie, reale Geschehnisse verlebendigen und so für ein Publikum unmittelbar somatisch erfahrbar machen,. Doch auch ohne den Verweis auf Abu Ghraib zu verstehen, funktioniert der Film: Nachdem der Sack von seinem Kopf gelüftet ist, fährt die Kamera weiter zurück, Josh ist nur in Unterwäsche gekleidet an einen Stuhl in einem düsteren Kellerabteil gekettet, völlig wehrlos und ausgeliefert und schreit nun wer der Mann sei und was das alles solle. Er fleht, weint und verhandelt, während der Mann schweigend seine Folterinstrumente sortiert. HOSTEL präsentiert männliche Körper, wo sonst häufig weibliche dem Zuschauerblick ausgesetzt sind. Die Geschlechtergrenzen verschwimmen, weil die männliche Figur Josh sich nicht heroischer verhält als weibliche es für gewöhnlich tun, sondern ihre Angst und ihren Schmerz offen zeigt. Hier ließe sich – analog zur Theorie Clovers – wieder ein versteckter Geschlechterwechsel annehmen, bei dem Josh zur Frau wird, als Mann aber Identifikationspotentiale für das männliche Publikum aufrechterhält. Er ist jedoch weniger durch eine spezifische Geschlechterrolle verwundbar, sondern eher als Teil einer Generation, die behütet in westlichen Gesellschaften aufgewachsen ist und der Krieg und Folter, unabhängig vom Geschlecht, fremd sind. Dies hat er mit einem Großteil des Publikums gemein. Diese Ähnlichkeit des Publikums zum Ersatzkörper der Figur, die für es leiden und sterben wird, ist damit sehr groß, was dessen Beteiligung deshalb noch stärker macht, wie in Kapitel 3.1.3 diskutiert wurde. Der nette und feinsinnige Josh ist völlig schuldlos in diese Situation geraten und ist, beinahe kindlich, sichtlich fassungslos über sein Schicksal, was die Situation schwer zu ertragen macht. Er rüttelt verzweifelt an den Hand- und Fußschellen und man erhält, gleichermaßen mitausgeliefert, den somatischen Eindruck von kaltem Metall auf nackter Haut, das hart in diese einschneidet. Mit einer Bohrmaschine bohrt ihm der Mann schließlich unerbittlich ins Bein, Josh schreit lauthals, aber die Kamera zeigt leere Gänge, in denen ihn niemand hören wird. Kameraschnitte auf eine Schweißerbrille an der Wand und weitere Werkzeuge werden von der Tonebene des schreienden Josh begleitet. Es zeigt sich: Ist der leidende Körper etabliert, wurden die Folterinstrumente präsentiert, müssen wir die Gewalt nicht direkt sehen, die ihm angetan wird, sondern diese kann in die Tonebene verlegt werden und tut der Intensität der Erfahrung dennoch keinen Abbruch. Wir müssen die Szene trotzdem in voller Länge ertragen. Die Macht der auditiven Ebene ist der visuellen beinahe ebenbürtig und der Film übersteigt die

Exploitation, and the Cinema of Sensation, New Brunswick, N.J./London: Rutgers University Press 2015, S. 3. 617 Lowenstein, Adam: »Spectacle horror and Hostel«, S. 49.

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Eindrücke von Malerei und Fotografie damit nicht mehr nur durch seine Bewegungsfähigkeit.618 Schmerzensschreie von filmischen Opfern würden ebenso einen intuitiven Bezug durch somatische Empathie erzeugen, wie (haptische) Bilder, so Laura Wilson: »[The scream] is [...] another way to create a strong identification between spectator and victim, and to confuse the notions of spectator and viewer. Music theorist Arnie Cox hypothesises in his article ›The Mimetic Hypothesis‹ that ›part of how we understand... human-made sounds is in terms of our own experience of making the same or similar‹ [...] The screams [...] generate physicality through an understanding of an embodied mode of being in the world.«619

Schmerzensschreie werden damit zu einer weiteren Ebene der intuitiven filmischen Todeserfahrung. Gleichzeitig bedeutet das, dass es kein Entkommen vor der Folter gibt, selbst wenn man die Augen verschließen möchte. Dasselbe gilt natürlich für die Geräusche von Folterinstrumenten, die in Fleisch eindringen, meat sounds, wie sie Kerner und Knapp benennen.620 Die Aussparung der Bildebene soll uns nicht etwa schonen, sondern lediglich unsere Phantasie anregen und vor einer möglichen Abstumpfung wie bei der ausgedehnten Folterung in THE PASSION OF THE CHRIST bewahren. Karl Ossenagg führt aus: »Während ein Bild die Phantasie des Zuschauers immer einschränkt, lässt der Ton die Wahl, sich sein Bild vorzustellen. Durch die Verweigerung der Bilder werden wir dazu gezwungen, uns den Akt in unserer eigenen Vorstellung auszumalen. In Distanz zu gehen ist nun nicht mehr möglich, urplötzlich sehen wir uns mit den eigenen Empfindungen konfrontiert [...] Indem wir uns unseres Blickes und unserer Gefühle bewusst werden, sind wir gezwungen, Verantwortung für unsere Empfindungen zu übernehmen. Unser moralisches Empfinden wird provoziert, wir werden zum Gewissen des Bildes.«621

Josh bittet den Mann, ihn gehen zu lassen, woraufhin dieser ihm die Achillessehnen mit einem Skalpell durchschneidet, während die Kamera Joshs schreiendes Gesicht zeigt, der den Schmerz kaum auszuhalten scheint. Obwohl man nicht viel sieht, ist die Szene auch als Zuschauer schmerzlich nachvollziehbar und man konzentriert sich auf die eigene Körperregion. Nun löst der Mann ihm die Hand- und Fußschellen, öffnet die Tür und sagt ihm, er könne gehen. Josh versucht es und man sieht in Nahaufnahme, wie ihm die Füße an den Schnittstellen wegknicken und er auf den Boden fällt. Auch

618 Alison Walker untersucht in Living Narrative(s) tiefergehend den Einfluss von Filmsound auf den Zuschauerkörper. Vgl. Walker, Alison: Living Narrative(s): Cinematic Corporeality, Sonicity and Negotiating the Cinesomatic Experience, Sidney: Macquarie University 2015, http://hdl.handle.net/1959.14/1089314 (Abgerufen 24.01.2019). 619 Wilson, Laura: Spectatorship, Embodiment and Physicality in the Contemporary Mutilation Film, S. 38. 620 »These sounds amplify the images that the films do show, and they provide evidence for the violent imagery that the film withholds. Thus, we might think of these fleshy noises as ›meat sounds‹, to borrow from Linda William’s discussion of ›meat shots‹ in early pornographic stag films.« Kerner, Aaron Michael/Knapp, Jonathan L.: Extreme Cinema, S. 33. 621 Ossenagg, Karl: »Der wahre Horror liegt im Blick«, S. 68.

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wenn kaum ein Zuschauer eine vergleichbare Verletzung je selbst erlebt hat, fährt einem diese Szene unerträglich in den Körper. Geschlechter werden irrelevant, da das Opfer auf Ausschnitte seines Körpers, hier durchgetrennte Achillessehnen, reduziert ist, die übergeschlechtlich als verwundbar bekannt sind. Hier findet sich zudem wieder die Blockierung der Opfer des Slasherfilms, die dem Killer auf Grund einer Verletzung nicht entkommen können. Ihre Ohnmacht und die durch die Verletzung unterbundene Fluchtbewegung übertragen sich direkt auf den Zuschauer, der in diesem ausgelieferten Leid bereits eine Todesnähe spürt. Josh robbt mit letzter Kraft zur offenen Tür, aber zuletzt stellt der Mann sich ihm wieder in den Weg. Er schleift ihn an den Haaren vor einen kaputten Spiegel, wo er ihm schließlich die Kehle durchschneidet und ihn (wie auch den Zuschauer) dabei zusehen lässt (TC 00:38:42-00:43:36). Auch Lucies Freundin Anna (Morjana Alaoui) in MARTYRS findet sich als willkürliches Opfer der geheimen Gesellschaft angekettet in einem halbdunklen Raum auf einem Stuhl sitzend wieder. Sie kämpft verzweifelt schreiend, aber auch nachfühlbar energisch und wütend – damit stärker als Josh – gegen ihre Ketten an. Es wird schwarz überblendet, dann sieht man sie auf dem Boden liegend erwachen. Als Zuschauer hat man, wie Anna, kein Zeitgefühl mehr. So kauert sie in der Dunkelheit, endlos wartend, im Ungewissen und eine zunehmend beklemmende Stimmung breitet sich aus, obwohl ihr noch keine direkte Gewalt angetan wurde. Wieder wird schwarz überblendet, es könnten Stunden oder Tage vergangen sein. Anna ist damit schon einer Toten gleich, ihr Leben auf ein reines Existieren reduziert. Endlich kommt eine Frau und verabreicht ihr schweigend Essen. Die Täter sind hier nicht mehr nur Männer und das schnelle Aufschlitzen durch den Slasherfilm-Killer ist einer endlosen, ausweg- und sinnlosen Gefangenschaft gewichen, bei der der Tod eher eine Befreiung darstellen würde. In einen Eimer urinierend, ohne sich reinigen zu können, ist Anna ausgeliefert wie ein Tier. Wieder wird überblendet und Zeit ist vergangen. Ein Mann löst ebenfalls schweigend Annas Ketten, richtet sie auf und schlägt ihr ins Gesicht. Anna versucht zu fliehen, doch er hält sie auf. Er schlägt und tritt sie nieder bis sie ohnmächtig liegen bleibt. (TC 01:05:20-01:12:37) Anna nimmt keine typisch schwache Frauenrolle ein, verhandelt und fleht nicht wie Josh, sie kämpft einzig ums Überleben. In der ganzen Szene wird nicht gesprochen, der Film ist ausschließlich auf das körperliche Ausgeliefertsein selbst konzentriert. In den darauffolgenden Szenen wird Anna schließlich unermessliche körperliche Qualen erleiden und sich so schrittweise mit dem Zuschauer dem Tod annähern. In den Aneinanderreihungen von Gewalt- und Tötungsszenen in New Extremity Filmen kann man oft kaum von einer wirklichen Handlung sprechen. Der Film ist jeweils fast völlig auf schmerzliche audiovisuelle Eindrücke reduziert. Das Potential dieser überbordenden, todbringenden Gewalt liegt aber in den somatischen Erfahrungen selbst, die nicht immer an die Narration gebunden bleiben. Adam Lowenstein hebt hierfür eine Szene aus HOSTEL hervor: Auf seiner Flucht als Geschlechter umkehrender Final Boy,622 versucht Paxton, versteckt in einem Wagen voller Leichenteile – ehemalige Menschen, die jetzt nur noch Teile von Körpern für die Müllhalde sind – zu entkommen, den ein Hausmeister schiebt. Der Wagen wird jedoch von einer herabfallenden Hand blockiert. (TC 01:04:45-01:06:03): 622 Er stellt allerdings kein wirkliches männliches Pendant zum Final Girl dar, da er sexuell aktiv ist und männlicher und mutiger präsentiert wird, als etwa der feinsinnige Josh.

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»In two separate close-ups, [...] from a perspective perceptually impossible for Paxton (or the janitor), Roth shows the wheel ramming against the hand [...] The janitor then scoops up the hand and, oblivious to Paxton’s presence, tucks it in right beside Paxton’s sickened face. The spectacle of the hand is an attraction. Its presentation to the audience emphasises the sheer visual curiosity and visceral sensation aroused by the macabre image of a severed hand in all its carnality. The hand against the wheel and the hand against Paxton’s face do not advance the plot or enhance psychological character development. Instead, the audience is directly addressed by the cinema showman’s presentation of the spectacle itself, a flamboyantly theatrical invitation to admire the cringingly lifelike detail of the special effect, to giggle at the chutzpah of the director, and to do precisely what a rigidly literal identification with Paxton would not allow: scream or groan in an outburst of gleefully grossed-out pleasure. In this way, the attraction moves beyond identification with characters inside the film and outward to the spectator of the film.«623

Dies erinnert an den Exzess bei Kristin Thomson, der die eigentliche Narration übersteigt. Lowenstein sieht darin eine karnevaleske Funktion, ein dem Kino der Attraktionen ähnliches Spiel mit dem Publikum erfüllt, bei dem der Filmemacher das Publikum adressiert als wolle er fragen, ob es aushalten könne, was er ihm zeigt, ob es sich nicht ekle, ob das nicht letztendlich sei, was es habe sehen wollen.624 Wie durch die Freeze Frames in Kapitel 2.3.2 entsteht so, wenn auch weniger auffällig, etwas, das den Verlauf der Handlung unterbricht und eine eigene Ebene bildet, eine Zuschaueradressierung aus dem Film heraus – abgetrennt von der Handlung, wie die Hand vom Körper. Insgesamt setzt HOSTEL durch den Einsatz von Musik und die Zurschaustellung von Folterungen wie der Joshs mit den durchgetrennten Achillessehnen oder des eitrigen, herabhängenden Auges einer jungen Frau, das mit einem Bunsenbrenner bearbeitet wurde (Paxton begegnet ihr auf seiner Flucht, TC 01:14:27-01:15:43), auf solche Spektakel. Hier erhält sich, bei aller überbordenden Gewalt, noch immer die Freude am Ekelhaften und Schockhaften des Slasherfilms. Ekel adressiert das Publikum zunächst als etwas Echtes direkt somatisch, wie von Winfried Menninghaus beschrieben: »Mendelsohn und Kant hatten die Empfindung des Ekels als eine ›dunkle‹ Empfindung bestimmt, die so kategorisch ein ›Wirkliches‹ indiziert, daß sie die Unterscheidung von ›wirklich‹ und ›eingebildet‹ – und damit die Bedingung ästhetischer Fusion – durchschlägt: es ekelt mich, also erfahre ich etwas als unbedingt wirklich (und nie als Kunst).«625 Und, das ist für eine somatische Anteilnahme entscheidend: »Ästhetische Täuschung verwirrt die Unterscheidung von Kunst und Wirklichkeit, Ekel läßt sie kollabieren.«626 Damit ist man mit einer völligen Distanzlosigkeit konfrontiert, wie sie Linda Williams auch für die sexuelle Erregung im Porno oder das Weinen im Drama ausgemacht hat. Sowohl ein ekelerregendes Objekt, als auch der Anblick einer Figur, die sich sichtbar ekelt, so Julian Hanich, könnten unseren Körper ergreifen, was in ein angewidertes Schütteln, Wegsehen, Würgen oder schlimmsten Fall Erbrechen resultieren könne.627 623 624 625 626 627

Lowenstein, Adam: »Spectacle horror and Hostel«, S. 46. Vgl. ebd., S. 47. Menninghaus, Winfried: Disgust, S. 18. Ebd., S. 63. Vgl. Hanich, Julian: »Dis/Liking Disgust«, S. 293f.

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Wie schon der Anblick des verwesenden Transi/Zombie ist man abseits kognitiver Sinnstiftungen augenblicklich leiblich erschüttert, als verletze einen das Filmgeschehen. Die Todeserkenntnis in der Konfrontation mit dem Kadaver wird von der mit der offenen oder eitrigen Wunde abgelöst, die ebenso die Grenzen zum eigenen sterblichen/verwundbaren Körper überschreitet. Man kann dabei aber auch von der Wirkmächtigkeit dieser Erfahrung fasziniert sein. Um dies in irgendeiner Form genießen zu können, muss eine Distanzierung zum Filmgeschehen stattfinden. Hanich: »Similar to the frightened spectator of horror films and thrillers, the disgusted viewer balances on a thin line: she tends to be fascinated and nauseated, to probe the object and to shun it, to look and to look away. While potentially immersed in the filmic world, the viewer is always on the verge of turning her head. Once she disposes of the disgusting object by looking away, she partly (and sometimes fully) cuts her intertwinement with the film – she is literally grossed-out of the film by the film’s disgusting object. The viewer might still hear the sounds that spark her imagination, but she does not see the moving images anymore.«628

Ausgelöst durch diesen distanzlosen Ekel entsteht gerade eine Distanz zum Schrecken der Ereignisse, zum Leiden der Opfer selbst. Ed Tan führt aus: »Disgust is an emotion that is nearly always nonempathetic: watching a torture scene fills the viewer not only with empathetic pity for the individual being tortured and loathing for the torturer but also revulsion for the action and all its visual details as such. Spectacle in film is, as the term implies, appealing, simply because it is largely divorced from the fate of the protagonists. And there is a great deal of spectacle in films because the medium itself is spectacular.«629

Ekel im Film kann demnach vor einer Gleichsetzung des Opfers mit einem selbst oder zu viel Mitgefühl schützen, wie schon für den Kadaver beschrieben wurde. Dies ermöglicht außerdem Sadismus, wie in Kapitel 3.2.1 diskutiert wurde. Das Geschehen, das einem als etwas so Körperliches, ›Wirkliches‹, zunächst in Form von Angst und Unwohlsein nah kam, wird im Höhepunkt des Ekels als etwas Abjektes verworfen. Xavier Aldana Reyes dazu: »The abject, that which endangers the self, is expelled (abjected) and thus its threat reduced or contained.«630 Der Identitätsverlust ist abgewehrt, die symbolische Ordnung wiederhergestellt, indem der Zuschauer sich aus der Verstrickung mit dem Film löst – die in der vorliegenden Argumentation eben eine direkte, affektiv-somatische und keine frühkindlich-regressive ist – und sich seiner selbst und seiner Umgebung bewusst wird. Er muss nicht leiden wie das Opfer, er wird nicht sterben, so nah ihm das Geschehen auch gekommen war. Er ist der Leinwand wieder äußerlich, hält sich schützend die Hände vors Gesicht, schreit auf oder lacht, gerne im Austausch mit anderen Zuschauern, denen es ähnlich ergeht. Hier liegt der Genuss am Spektakel verborgen, das derart Unerhörtes in dieser schonungslosen Nähe vorführt, so blutig-glitschig, dass man es synästhetisch erfassen

628 Ebd., S. 298. 629 Tan, Ed: Emotion and the Structure of Narrative Film, S. 83. 630 Reyes, Xavier Aldana: Horror Film and Affect. Towards a Corporeal Model of Viewership, New York/Oxon: Routledge 2016, S. 32.

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kann. Auf die erste, die Leinwand durchdringende Nähe folgt im Ekel eine Distanzierung, die auch dem Erhabenen bei Edmund Burke ähnlich ist, da man eben nicht selbst zum Opfer wird, sondern sich augenblicklich in die Realität des Kinosaals retten kann, ehe man erneut in den Sog des Films gerät und immer so fort im Wechsel.631 Laura Wilson erkennt für die Distanzierung, die auf den (körperlichen) Distanzverlust folgt: »The position of the victim that constituted both an immersive spectatorship and corporeality of the viewer is now in the process of objectification. The viewer, who was previously positioned at the collapse of a sadistic and masochistic gaze, now moves to a distanced position as the body on the screen is objectified as a result of mutilation. The victim’s wounds, severed limbs and expelled waste now lie under the scrutiny of the gaze that inhibits affective responses.«632

Ähnlich verhält es sich mit dem Schock: Die Überwältigung durch das Filmbild gekoppelt mit seinen brutalen Inhalten als intensive Todesnähe, wie in Kapitel 3.2.2 beschrieben und wie sie Laura Wilson als Kipppunkt von Sadismus und Masochismus auszeichnet, kann das Publikum auch in einen Schockzustand versetzen. Statt diesen als bloße körperliche Reaktion aufzufassen, macht Thomas Morsch eine ästhetische und letztlich auch raumzeitliche Ebene aus: »Der Schock als Epiphanie einer Ästhetik des Schreckens ist nicht lediglich ein wirkungsästhetischer Aspekt unter anderen, sondern Signatur der modernen Autonomie der Kunst [...] Im Schock zieht sich die Zeit auf einen Punkt, einen isolierten Augenblick zusammen. Es handelt sich um eine strukturelle Unvermitteltheit, in der die moderne Ästhetik der Kontinuität des Zeitbewusstseins eine Absage erteilt.«633 Statt etwa nur eine unterschwellige (Todes-) Bedrohung fühlbar zu machen, fährt einem der Schock damit punktuell in den Körper und erhöht die Aufmerksamkeit, so etwa im Beispiel mit den durchgetrennten Achillessehnen, die Josh wegknicken lassen und endgültig ausliefern. Benjamin Moldenhauer: »Das körperliche Empfinden des mit ästhetischen Mitteln evozierten Schocks wird von einer Inszenierung hervorgerufen, die etwas zeigt, das so nicht gezeigt werden dürfte, und der der Zuschauer (noch) keine adäquaten Verarbeitungsweisen entgegenzusetzen hat.«634 Der kurzzeitig einzig mögliche Zugang ist dann ein Körperlicher. Es ist eine erzwungene ›Kommunikation‹ zwischen Körpern, der sich das Publikum nicht entziehen kann. Die Leinwand kollabiert augenblicklich, ähnlich wie beim Ekel, und es gibt nichts anderes mehr als dieses Geschehen und den eigenen Körper. Wir werden regelrecht wachgerüttelt, das Herz schlägt schneller und während wir unseren Körper spüren und die eigene Reaktion bemerken, fallen wir zwar kurz

631 »[...] depending on the intensity and the frequency of the gross-out scenes as well as the idiosyncratic dispositions of the audience members, disgusting movies can initiate quick vacillating back-and-forth movements between moments of extricating revulsion and periods of immersion, between being pushed away by the movie and being pulled into it.« Hanich, Julian: »Dis/Liking Disgust«, S. 299. 632 Wilson, Laura: Spectatorship, Embodiment and Physicality in the Contemporary Mutilation Film, S. 128/129. 633 Vgl. Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 238. 634 Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S. 264/265.

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aus der filmischen Illusion,635 aber nur um nun häufig, wie verwundet, noch empfänglicher für ihre Darbietung zu sein. Beide, Ekel und Schock, stellen Modi erhöhter Aktivität dar, wie mit Hans Ulrich Gumbrecht in Kapitel 3.2.2 beschrieben. Nicht nur die Leinwand, sondern auch Körper- bzw. Geschlechtergrenzen werden hier durchlässig. Der Zuschauerkörper wird in dieser Kollision der Leinwand, der unerwarteten Attacke, geschlechtsübergreifend besonders lebendig. Der Magen ist aufgewühlt, das Herz schlägt schneller, aber man ist mit dem Leben davon gekommen. Die wild zusammengeworfenen Körperteile auf dem Wagen, auf dem sich Paxton versteckt, lassen zudem keine Zuordnung zu Geschlechtern mehr zu. Auch die Hand selbst ist nicht mehr ihrem früheren Besitzer zuzuordnen. Durch überbordende Gewalt verliert sich die Identität eines Menschen und damit auch die Zuordnung zu Geschlechtern. Teile von Körpern oder auch entstellende Verwundungen reduzieren ehemalige Personen, Subjekte im Sinne Lacans, auf bloßes Fleisch. Elaine Scarry erkennt Ähnliches für die Nationalitäten extrem verwundeter Soldaten: »Die Entleerung des Körpers von allem kulturellen Gehalt gilt [...] für die Verwundung, denn nichts von dem, was einmal das Gesicht eines jungen Mannes war, nichts am aufgerissenen Oberkörper eines Menschen macht die Verwundung zu einer nordvietnamesischen, deutschen, argentinischen oder israelischen.«636 Die ehemalige Körpersemiotik, die Differenzen im Aussehen und der Bewertung von Körpern erzeugte, wird damit gewaltsam aus Körpern herausgeschlagen. Auch für den Zuschauer im New Extremity Kino verwischen die Unterschiede zwischen ihm selbst und dem leidenden Opfer im Verlauf des Films und mit der Häufung extremer Gewalt- und Tötungszenen, zunehmend, damit auch die von Leben (der Zuschauerwelt) und Tod (der Leinwandwelt). Während die somatische Anteilnahme zunächst der intuitive Ausgangspunkt weiterer Bewertungen war, wird sie im Voranschreiten des Films der zum Teil einzig mögliche Zugang. Wie das Folteropfer im Film wird man auf reines Fleisch reduziert, das widerwillig aber schutzlos ausgeliefert, völlig vom Geschehen ergriffen wird. Die Distanz zum Film ist zeitweise ebenso ausgelöscht, wie die Unterscheidung von Fiktion und Realität. Man wird wirklich mit dem Opfer gequält, wähnt es/sich in Todesgefahr, ganz gleich, ob der Film nur Fiktion ist. MARTYRS treibt dies auf die Spitze: Auch Anna wird zunehmend ihrer (Geschlechts-)Identität beraubt. Erst werden ihr die Haare geschnitten, später der Kopf rasiert und so verliert sie typisch weibliche Attribute. Sie wird permanent geschlagen, um sie psychisch und körperlich zu brechen. Durch weitere Überblendungen, die das Zeitgefühl für Anna und den Zuschauer stören, entsteht so eine Orientierungslosigkeit, die nur noch Raum für Annas unbegrenzten Schmerz lässt. Die Frau, die ihr das Essen bringt, wäscht sie nun auch, mitleidlos und geschäftig, als handle es sich um eine alltägliche Arbeit.637 Annas Blick wird immer leerer, sie vegetiert nur noch dahin und lässt Fütterungen, Schläge bis zur Bewusst635 Julian Hanich dazu: »In cinematic shock [...] the lived body stands out and briefly relegates the film to the peripheral background: we gain awarenness – a strong awareness-of-ourselves as embodied viewers – and consequently cannot fully devote attention to what happens on the screen.« Hanich, Julian: Cinematic Emotion in Horror Films and Thrillers, S. 38. 636 Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz, S. 177. 637 Hier besteht eine erneute Parallele zu Hannah Arendts Banalität des Bösen.

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losigkeit und das endlose Warten über sich ergehen. Ihr von den Schlägen aufgequollenes Gesicht und der dürre, geschundene Körper, sind eine einzige Wunde. Zuletzt wird sie auf ein Gestänge geschnallt und gehäutet, was ihr endgültig jegliche Identität nimmt (TC 01:12:37-01:25:24). Damit bricht der Film das letzte Tabu, das der hautlosen Frau. Claudia Benthien dazu: »[W]eibliche Hautlosigkeit [gilt als] undenkbar [...], eine Kenntnis davon sogar als ›gefährlich‹ [...] Die entsetzliche hautlose Frau, die nun möglicherweise durch alle glattleibigen weiblichen Skulpturen, Gemälde und Zeichnungen hindurchschimmern wird, gefährdet das Bild vom Selbst und vom anderen (dem ›schönen‹ Geschlecht) von Grund auf. Eine derartige ›Entsublimation‹ [...] des weiblichen Körpers ist irreversibel. Die enthäutete Frau, dies scheint das durchgehende Muster zu sein, ist keine Frau mehr. Weiblich ist nur der schlammig-dunkle Nährboden in den Tiefen des Leibes oder die glatte, schöne Hüllen-Fassade, die diesen Leib umgibt, nicht jedoch die kraftvoll-vitale, aber profane Zwischenschicht aus Muskeln und Gewebe.«638

In der Argumentation der monströsen Frau wird Anna somit bedrohlich für die (männliche) Identität, ihr Anblick ist abjekt und übersteigt alles, was man bisher kannte. Aber gleichzeitig ist ihr Körper geöffnet und in seiner Versehrtheit gewaltsam zugänglich für beide Geschlechter. Die Tortur Annas bis hierhin ist unerträglich, obwohl sie in weiten Teilen des Films ›nur‹ geschlagen wird, während die Opfer in HOSTEL auf weit kreativere und blutrünstigere Weise gefoltert werden. Doch genau darin liegt ein Realismus fernab jeder Effekthascherei, der einem als Zuschauer immer weiter in den eigenen Körper einzudringen scheint, je länger man ihr zunehmend geschundenes Äußeres erblicken muss. Weg von den Spektakeln abgetrennter Hände, bleibt dem Zuschauer keine Ebene der Distanzierung mehr. Die Haut ist zuletzt abgezogen, wie die trennende Leinwand. Am Ende des Films hängt Anna wie gekreuzigt da, gehäutet, blutig, den Blick gen Himmel gerichtet wie Agatha und andere Märtyrer vor ihr, jedoch fernab von deren idealisiertem schönen Leiden. Sie scheint das Diesseits verlassen zu haben und zu transzendieren. Auch das männliche Publikum will sie wohl nicht mehr, gemäß dem Voyeurismus bei Mulvey oder sadistischen Phantasien, besitzen – ihre Qualen durch ihre Folterer sollten jegliche derartigen Gefühle ausgemerzt haben. Amy M. Green erkennt in The French Horrorfilm Martyrs and the Destruction, Defilement, and Neutering of the Female Form: »Laugier’s film challenges viewers by throwing back in their faces popular culture’s propensity toward the glorification and even eroticization of violence, especially against women. Martyrs assaults its audience as surely as the members of the cult group assault those they have captured.639 Damit adressiert MARTYRS die schon angesprochene sadistisch-erotische Komponente, die selbst bei Bildnissen wie dem der Heiligen Agatha immer mitschwingen – die kulturelle Auffassung der verwundbaren Frau, die sie für eine masochistische Anteilnahme, wie auch ein sadistisches Begehren attraktiv machen.

638 Benthien, Claudia: Haut, S. 101. 639 Green, Amy M: »The French Horrorfilm Martyrs and the Destruction, Defilement, and Neutering of the Female Form«, in: Journal of Popular Film and Television, Vol. 39, Nr. 1 (2011), S. 20-28, hier S. 21.

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Diese Dualität wird durch die langgezogenen, sinnlosen Qualen und die Geschlechterneutralisierung, die an ihr vollzogen wird, zerstört.640 Interessanterweise geschieht dies gerade nicht dadurch, dass die Narration sie zu einer Person machen würde, die für das Publikum einer Mutter, Schwester oder Tochter ähnlich wäre, sondern in der Reduzierung auf einen geschundenen Körper. Zwar werden ihre Unschuld und ihr guter Charakter, wie bei Josh in HOSTEL, vor ihrer Folter heraus-gestellt, um ihr Opfer besonders schrecklich erscheinen zu lassen, dies ist für eine somatische Anteilnahme aber nicht zwingend notwendig. Christine Noll Brinckmann erkennt passend hierzu bezüglich Untersuchungen neuerer Spielfilmtheorien: »So konnte unter anderem gezeigt werden, dass die Zuschauer spontan für jemand Partei ergreifen, dem Unrecht getan wird, der sich in der Rolle des Opfers befindet, insbesondere, wenn er unschuldig beschuldigt wird. Wir simulieren die Situation des Schwächeren und empfinden die ganze Skala von Ohnmacht, Verzweiflung, Zorn, Auflehnung oder Empörung mit. Solche Zuschauergefühle sind jeweils an eine deutlich evaluierbare Situation gebunden, und sie stellen sich am promptesten ein, wenn wir uns selbst schon in einer ähnlichen Lage befunden haben. Auch hat die Forschung erwiesen, dass Empathie leichter zustandekommt, wenn uns die filmische Figur sympathisch ist. Sympathie ist allerdings keine unabdingbare Voraussetzung für empathische Prozesse, die sich auch ergeben können, wenn wir die Figur eigentlich ablehnen.«641

Innerhalb der Folterphase ist Anna reiner Körper und bietet nicht einmal starke Anreize für eine somatische Beteiligung durch Weinen und Flehen, wie noch Josh. Ihr Körper selbst, als das Fleisch, aus dem wir alle gemacht sind – unser »common carnal bond«,642 so Williams und Bendelow in The Lived Body – wird im Laufe des Films so zugerichtet, dass das Publikum ihn mit dem eigenen empfindamen Leib zu spüren scheint. Masochistisch ist an der Rezeption, dass man sie nicht unterbricht, sondern dem Film bis zum Ende folgt. Dies macht den Zuschauer immer auch ungewollt zum Mittäter. Doch man kann Anna nicht helfen und ist ihrem Leid mit ausgeliefert. Statt sie sadistisch zu objektivieren, wie ihre Peiniger, will der Zuschauer am Ende übergeschlechtlich eins mit ihr werden, im Sinne einer Erkenntnis – körperlicher Gewissheit – über das, was sie transzendierend wahrnimmt. Vor dem Tod, das haben schon die mittelalterlichen Totentänze gezeigt, sind alle gleich und was ihr bis unmittelbar zum Tod widerfahren ist, erschließt sich jedem gleichermaßen. Nun ebenfalls wissen zu wollen, was sie im Hinübergleiten in den Tod sieht, versetzt den Zuschauer auf unangenehme Weise auf die Seite der Folterer und doch ist es der einzige Weg den langgezogenen Qualen doch noch einen Sinn zu geben. Die Kamera zoomt auf sie zu, auf ihr Auge, als ließe sich darin erkennen, was sie sieht. Dann in das Auge hinein – man verschmilzt mit ihrem Körper, wie in der Phantasie der jouissance – und weiter durch Nebelschwaden und Dunkelheit, auf ein Licht 640 Gleichzeitig, so Kerner und Knapp, finde eine Regression analog zur psychoanalytisch geprägten Filmtheorie statt. Anna werde gewaltsam schrittweise in den geschlechtslosen Status eines Fetus zurückversetzt. Vgl. Kerner, Aaron Michael/Knapp, Jonathan L.: Extreme Cinema, S. 60f. 641 Noll Brinckmann, Christine: »Die Rolle der Empathie oder Furcht und Schrecken im Dokumentarfilm«, S. 338/339. 642 Williams, Simon J./Bendelow, Gillian: The Lived Body, S. 213.

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(am Ende des Tunnels) zu. Vom gleißenden Licht, den musikalisch angedeuteten himmlischen Sphären, bewegt sich die Kamera zurück und ist ihr nun wieder äußerlich. Es wird auf ein Auto geschnitten. Das Oberhaupt der matriarchalen Gesellschaft, die Mademoiselle (Catherine Bégin) kommt an, um Anna zu befragen, was sie sieht. Anna flüstert der Mademoiselle ins Ohr, was sie gesehen hat, was in der anderen Welt auf uns wartet, doch wir hören es nicht. Der Rest der Gesellschaft erscheint. Während alle warten, macht sich die Mademoiselle fertig, um ihnen zu berichten. Sie legt ebenfalls gleichermaßen weibliche Attribute ab, indem sie langsam die künstlichen Wimpern und den Turban abnimmt und sich abschminkt. »The result«, so Amy M. Green, »a turbaned head and heavily wrinkled face, hides an immediate identification of her gender.«643 Sie fragt durch die geschlossene Tür ihren Assistenten, ob er sich vorstellen könne, was nach dem Tod mit uns geschieht. Er verneint und sie sagt: »Keep Doubting.« Dann schießt sie sich in den Kopf. Die Vorbereitung hierauf, durch das Abschminken gleicht einerseits einem alten Ritual, andererseits werden ihr Geschlecht, ihre Macht oder ihr Vermögen vor dem Tod irrelevant. Es wird schwarz überblendet. Die etymologische Bedeutung des Wortes Märtyrer erscheint, ehe wir die liegende, transzendierende Anna sehen, von Chorälen begleitet. Es wird erneut geschnitten und wir sehen Kindheitsaufnahmen, augenscheinlich Erinnerungen Annas, der Film endet ungewiss. (TC 01:28:09-01:39:15). Alles, was man zum Schluss bekommt, sind filmisch festgehaltene Ausschnitte des Lebens, nicht aber Einblicke in den Tod. Das Publikum erhält keine Belohnung für die zuvor miterlebten Qualen, keinen Sinn. So werden hier auch die Grenzen des Films selbst vorgeführt, der eine unübertreffliche, geschlechterübergeifende Nähe zu Körpern herstellen kann und den Zuschauer doch nicht fühlen oder wissen lassen kann, was der andere empfindet oder erlebt. Ebenso lässt er den Tod greifbar werden, den Übergang zwischen Leben und Tod, und doch kann auch er nicht Antworten auf die grundlegende Frage danach liefern, was nach dem Tod geschehen könnte. Der Film als ein Schwellenphänomen, in Zwischenräumen und Andeutungen beheimatet, kann nur Übergänge vorführen und außerhalb von Fiktionen nie das zeigen was auftreten mag, wenn das diesseitige Leben endet. Wir sind der Erfahrung Annas unweigerlich äußerlich, denn die Erfüllung des Lacan’schen Begehrens, jouissance, findet sich nur im Tod, wie das Kapitel 3.2.1 diskutiert hat. Das New Extremity Kino, so hat dieses Kapitel gezeigt, hebelt die Frage nach Geschlechtergrenzen oder –rollen, die sich beim Slasherfilm der 1970er noch stellte, teilweise aus. War der Killer im Slasherfilm noch männlich und böse, dabei emotionslos und beinahe übermenschlich, oft versteckt hinter einer Maske, die ihn klar von den ›normalen Menschen‹ unterschied, wird im New Extremity Horrorfilm jegliche Ordnung aufgebrochen. Die Täter sind austauschbare ›Allerweltsleute‹, Männer wie Frauen, wie auch ihre willkürlichen Opfer. Deren Folter kommt einem überwältigend nah, doch im Hinübergleiten in den Tod entziehen sie sich letztendlich wieder. Alle drei Filme behandeln Geschlechterrollen und stellen durch die somatische Beteiligung des Publikums an den Folterungen und Tötungen auch dessen Sehgewohnheiten in Frage, sei es bezüglich Wahrheit und Illusion (HIGH TENSION), dem Genuss an Folterungen in Anbetracht realgeschichtlicher Zusammenhänge (HOSTEL) oder Martyrien 643 Green, Amy M: »The French Horrorfilm Martyrs and the Destruction, Defilement, and Neutering of the Female Form, S. 27.

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mit weiblichen Opfern (MARTYRS). Die üblichen Machtverhältnisse der Geschlechter, der sadistische Gaze, wird insbesondere in MARTYRS durch Verwundung und Häutung unterwandert. Die sexuelle Komponente, die bei gemalten Märtyrerdarstellungen oder allgemein Bildern von weiblichen Opfern noch mitschwang, wird nun vor den Augen des Publikums regelrecht aus dem Körper geprügelt – oder von ihm geschnitten – bis jeglicher Anreiz zur Unkenntlichkeit ausgelöscht ist, wie auch die Person selbst. Der ›Genuss‹ an solchen Filmen ist, sofern man sich überhaupt auf sie einlassen kann, analog zur jouissance bei Lacan, durchwachsen, schmerzlich und man bekommt auch keine Beruhigung, wenn der Film endet. Das Publikum mag den Spektakeln überbordender Gewalt teils lachend applaudieren wie in HOSTEL und doch sind sie letztendlich schwer auszuhalten. Dies betrifft weniger die narrative Ebene, eine durchgeplante Foltermaschinerie oder eine geheime Gesellschaft, die Märtyrer erzeugt, um den Tod zu erforschen. Beide Szenarien sind möglich, aber überspitzen doch eher kapitalistische Systeme, indem nicht mehr Güter, sondern Menschen konsumiert werden, um die eigenen Bedürfnisse bzw. den Wissensdurst zu stillen.644 Was diese Filme so schwer zu ertragen macht, ist ein intuitiver, somatisch fundierter Weltbezug zu echtem menschlichen Leid, Folter und Sterben in verschiedenen Kontexten, seien es Vergehen des Nationalsozialismus oder Kriegsverbrechen. Das jeweilige System und die alltägliche Selbstverständlichkeit der Täter in HOSTEL und MARTYRS, die der Banalität des Bösen Hannah Arendts wie auch der Organisation im Faschismus bei Adorno/Horkheimer gleichkommen, stehen dabei der erkennbar schmerzlichen Erfahrung der Opfer, wie auch den Empfindungen des Zuschauers vehement entgegen. Das Leiden und Sterben der Opfer wird zu einer Präsenz, die nicht distanziert vom Publikum reale Folterungen nur filmisch nachspielend schildert und darin indirekt kritisiert. Vielmehr wird der Film als grausame Erweiterung der Lynchfotografien in Kapitel 3.1.2. selbst Teil der Folter, die sich nun gegen den Zuschauer richtet und ihn bis zum Tod der Opfer direkt Anteil nehmen lässt. Der Horrorspaß an sich, am Grausamen und Ekelhaften, wird davon überschattet und bildet eine eigene Ebene des Horrors, als gefühltem Realismus. Ein Element wie der Sack über dem Kopf Joshs als Verweis auf die Folterungen in Abu Ghraib kommt als weitere Bedeutungsebene hinzu, ist für eine Erkenntnis des negativen menschlichen Potentials, der Apathie gegen das Leid anderer, aber nicht nötig. Die Qualen der Figuren sind geschlechterübergreifend nachvollziehbar, Identifikationen werden nicht nur unnötig, sondern bisweilen sogar unmöglich – wir sind, wie die Opfer, teils auf eine reine Körperlichkeit zurückgeworfen, werden mit ihrem Schmerz bis zum Tod bombardiert und nicht mehr durch eine stringente Handlung oder gar ausgleichende Gerechtigkeit am Ende des Films gerettet. Die visuelle Ebene wird dabei durch die auditive ergänzt. Kerner und Knapp: »[The spectator] sees images of extreme violence, and takes the sounds within. The sounds echo and reverberate; they pulse throughout the body, and are felt in the gut. The film and the spectator share these sounds; they come together and share the scream.«645 Diese Tatsache wird von 644 Kerner und Knapp erkennen dazu in den Folterkellern in Filmen wie HOSTEL einen Verweis auf die körperliche Arbeit vergangener Zeiten, bevor die Technisierung den Körper beinahe verschwinden ließ. Vgl. Kerner, Aaron Michael/Knapp, Jonathan L.: Extreme Cinema, S. 47. 645 Kerner, Aaron Michael/Knapp, Jonathan L.: Extreme Cinema, S. 41.

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einigen Filmen als weitere Ebene der Folter am Zuschauer gezielt eingesetzt, wie etwa IRRÉVERSIBLE in Kapitel 3.3.4.1 zeigen wird. In diesem audiovisuellen Übermaß der filmischen Eindrücke kippt die Nähe des Zuschauers am Geschehen teils in eine Distanzierung, wie für den Ekel oder Schock beschrieben wurde. Im Sinne Kristevas wird das Abjekt verworfen bzw. der Zuschauer löst sich aus der immersiven Verstrickung mit dem Filmgeschehen, schließt die Augen, schreit oder lacht, um sich zu schützen, ganz so als könne das fiktive Geschehen ihn sonst doch verletzen, doch sein Leben bedrohen. Die Positionierung des Zuschauers zwischen Täter, Opfer und Zeugen als mehrperspektive Todeserfahrung richtet sich in den bearbeiteten Beispielen von HIGH TENSION über HOSTEL zu MARTYRS, immer stärker auf Opfer aus, die geschunden und geschlechtslos gemacht gleichermaßen ihre Körper für den Zuschauer öffnen. Die nie wirklich zu überwindende Rolle als stiller Zeuge, die den Zuschauer dem Täter näherbringt, richtet sich nun, anders als beim im Vergleich harmloseren Slasherfilm, gegen ihn. Die todesnahe Folter droht ihn zu überwältigen, aber in einer Distanzierung zum Geschehen, die noch keinen völligen Abbruch der Rezeption bedeutet, macht der Film ihn zum Voyeur. Der Aufbruch jeglicher Ordnung, wie auch der Opposition von Gut und Böse, die im folgenden Kapitel diskutiert wird, verunsichert den Zuschauer im New Extremity Kino damit nicht nur, sondern seine eigene Position wird moralisch fragwürdig. Dies wird in Kapitel 3.3.4.1 wieder aufgegriffen. In einer seltsamen Doppelfunktion führt der Film als Medium unbegrenztes Leid und Sterben vor, um es dem Genuss eines Publikums, wie Sade’schen Libertins, preiszugeben und prangert es zugleich an. Er foltert für sein Publikum und er foltert sein Publikum. Dieses kommt in der körperlichen Vergegenwärtigung von verwundeten und sterbenden Körpern in Angst und Anspannung dem Tod nah und entkommt ihm doch knapp, spürt den eigenen Körper während der Rezeption und streift ihn dabei zugleich – etwa das Geschlecht – gewissermaßen ab. 3.3.3 Action, gute und böse Gewalt 3.3.3.1 Der Actionfilm der 1980er »Die Vorstellung, dass eine unüberwindliche Kluft die guten von den bösen Menschen trennt, ist aus mindestens zwei Gründen beruhigend. Erstens schafft sie eine duale Logik, die das Böse essenzialisiert, also als eigenständig ansieht. Die meisten Menschen nehmen das Böse als Einheit wahr, eine Eigenschaft, die manche Menschen haben und andere nicht. Ein schlechter Samen erbringt letztendlich eine schlechte Frucht, wenn sein Schicksal sich entfaltet [...] Zudem entlässt das Postulat eines Dualismus von Gut und Böse die ›guten Menschen‹ aus der Verantwortung. Sie werden davon entbunden, ihre mögliche Rolle beim Entstehen, Durchsetzen, Aufrechterhalten oder Zulassen von Umständen, die Verfehlungen, Verbrechen, Vandalismus, Boshaftigkeit, Schikane, Vergewaltigung, Folter, Terror und Gewalt begünstigen, auch nur reflektieren zu müssen.«646

646 Zimbardo, Philip: Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 2008 [The Lucifer Effekt – Understanding How Good People Turn Evil, 2007], S. 5.

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Dieses Kapitel befasst sich mit der gängigen Vorstellung einer Opposition von Gut und Böse, die die Filmerfahrung gewaltsamer Tötungen beeinflusst und Parallelen zu den zwei Seiten von Leben und Tod erkennen lässt. Das obige Zitat stammt aus dem Buch Der Luzifer-Effekt des emeritierten Psychologieprofessors Philip Zimbardo. Zimbardo wurde durch das Stanford-Prison-Experiment 1971 bekannt, in dem er eine Gruppe Studenten willkürlich in Wärter und Gefangene unterteilte, was nach 6 Tagen abgebrochen werden musste, weil die Situation völlig eskaliert war und die Wärter die Gefangenen quälten.647 In seinem Buch vergleicht er die Situation in Stanford mit den Folterungen und Demütigungen in Abu Ghraib und spricht sich dabei für die Macht der Umstände und gegen eine Opposition von Gut und Böse aus. Die gängige Auffassung von Gut und Böse als zwei oppositionelle Seiten wie Leben und Tod werden auch durch die filmische Fiktion, insbesondere im klassischen Hollywoodkino, weitergetragen. Diese klare Verteilung, die auch noch im postklassischen Slasherfilm existiert, wird gemäß Henry Bacon intuitiv statt reflektierend erfasst.648 Der Actionfilm der 1980er Jahre unterteilt seine Tötungen ebenfalls in die gute Gewalt des Actionhelden und die böse Gewalt der Antagonisten. Er ist zwar brutaler als das klassische Hollywoodkino und entwickelt eine eigene Ästhetik mit muskulösen Helden. Außerdem ist er mitunter gesellschaftskritischer, wie etwa die RAMBO-Reihe zeigt. Doch er wiederholt dennoch gängige Strukturen wie die von Gut und Böse.649 Dies ist durchaus erwünscht, denn damit gibt er – entgegen etwa dem Zombiefilm, der instabile gesellschaftliche Verhältnisse nur widerspiegelt – seinem Publikum in unsicheren Zeiten ein Gefühl der Sicherheit und Klarheit zurück. Der Regisseur John Milius fasst dies zusammen: »When the United States is politically weak or vulnerable, it needs its muscular movie heroes, Conan, Rocky, Rambo, to suggest that we have things worth fighting for, worth preserving, even if those things are not

647 Vgl. ebd., S. 21ff. 648 Vgl. Bacon, Henry: The Fascination of Film Violence, Basingstoke, Hampshire/New York: Palgrave MacMillan 2015, S. 53. 649 Er tut dies, obwohl er die bisherigen klassischen Strukturen überwunden haben müsste. Dies gilt bereits für das gesellschaftskritische New Hollywood Kino ab Ende der 1960er. Barry Langford dazu: »The New Hollywood repeatedly expresses both its awareness of the affirmative ideologies promoted by Old Hollywood and its determination to distance itself from them. Yet this is a paradoxical project – to attack Hollywood using Hollywood’s own devices – and it has an appropriately paradoxical outcome. The filmmakers of the French New Wave, to take one example, armed with a significantly more politically and theoretically elaborated understanding of Hollywood’s cultural imperialism, operated both culturally and in terms of film form at one remove from the Hollywood norms, they fondly invoked and polemically attacked. The commercial filmmakers of the American New Wave are denied this luxury of simultaneous investment and disassociation [...] The New Hollywood’s critique of classical Hollywood is always constrained to be articulated in the very terms of the classical model itself.« Langford, Barry: Post-classical Hollywood, S. 178.

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easy to talk about, or describe anymore. They just are.«650 Der gute Actionheld rettet sich und insbesondere einer unschuldigen Gruppe das Leben und besiegt damit den bösen Tod, der durch eine gleichförmige Einheit von Antagonisten repräsentiert wird. Wie werden die Vorstellungen von Gut und Böse im Actionfilm der 1980er verhandelt? Was bedeutet das für eine filmische Todeserfahrung? Und wieso fühlt man somatisch mit dem Helden, jedoch nicht den von ihm gewaltsam getöteten Gegnern? Wieso erfährt man ihre Tode nicht am eigenen Leib mit? Der Dualismus von Gut und Böse wird nicht nur in der Handlung thematisiert, sondern auch auf der Bildebene manifestiert – durch gestählte Helden-Körper und (un-)sichtbare Tötungen – wie sich in diesem Kapitel zeigen wird. In RAMBO: FIRST BLOOD PART II kehrt der Vietnamveteran John J. Rambo (Sylvester Stallone) nach Vietnam zurück. Hier soll er das Trauma der gesamten amerikanischen Gesellschaft ausgleichen, indem er zehn Jahre nach dem Kriegsgeschehen amerikanische Soldaten (prisoners of war, POWs) aus der Kriegsgefangenschaft befreit. Barry Langford dazu: »[...] the ›rescue phantasy‹ of the[...] narrative[...] offered audiences symbolic restitution of a variety of real or perceived injuries, foremost among them the opportunity to rewind the war itself and fight it over again, employing different strategies and of course with a different outcome [...] Rambo accomplishes the ›recovery‹ of the POWs in more than just the physical sense: as the men are roused from passive despair to play an active role in their own liberation, and help Rambo defeat not only the Vietnamese but their Soviet advisors (who are modelled after the Japanese and Nazis, respectively, of World War II combat films), they enact a symbolic return of American strength and self-confidence to the untroubled climate of 1945.«651

Hierfür werden zwei Dinge entscheidend, die generell für den 1980er Jahre Actionfilm und seine Helden gelten: Rambo wird als grundlegend guter, häufig missverstandener Einzelkämpfer etabliert – Yvonne Tasker analysiert in Dumb Movies For Dumb People entsprechend: »The hero may be a policeman or a soldier but he more often than not acts unofficially, against the rules and often in a reactive way, responding to attacks rather than initiating them. The hero recognizes, that he is, as Rambo puts it, ›expendable‹ [...]«652 – und sein Körper wird muskulös, überlegen und aktiv in Szene gesetzt. Tasker dazu: »The body of the hero, though it may be damaged, represents almost the last certain territory of the action narrative.«653 Im Falle von John Rambo, so Tasker in Spectacular Bodies, wurde die Figur häufig mit der Außenpolitik Ronald Reagans in Verbindung gebracht und sein Körper wurde so zu einem »[...] literal embodiment of American interventionism.«654 Der gestählte Körper des Helden allgemein – in den 1980ern häufig übermenschlich anmutend, wie insbesondere der des aus der Bodybuilding-Szene stammenden Arnold Schwarzen650 Davies, Philip John/Wells, Paul: »Introduction«, in: Dies., American Film and Politics from Reagan to Bush Jr., Manchester: Manchester University Press 2002, S. 3-12, hier S. 8. 651 Langford, Barry: Post-classical Hollywood, S. 226. 652 Tasker, Yvonne: »Dumb Movies For Dumb People«, S. 241. 653 Ebd. 654 Tasker, Yvonne: Spectacular Bodies, S. 92.

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egger655 – bildet aber auch stets eine Metaebene, die losgelöst von der Handlung somatische Potentiale für das Publikum eröffnet und seine Stärke, sowie Leidensfähigkeit in den Vordergrund rückt. Claudia Benthien spricht vom Phantasma einer Panzerhaut des Mannes als Gegenstück zur weichen, verwundbaren Haut der Frau, wie schon bei Achilles, der bis auf seine Ferse unverwundbar war.656 Diesen starken, unbezwingbaren Körper zu erleben, ist dem Wunsch nach der Vergegenwärtigung des Körpers Jesu Christi in Kapitel 3.1.4 ähnlich, im Sinne einer körperlichen Gewissheit seiner Existenz. In einer chaotischen Welt mit militärischen Rückschlägen und politischen Unruhen ist nicht der wache Geist, sondern der fühlbare, unerschütterlich in der irdischen Welt verortete Körper das letzte Refugium. Damit bietet der gewaltige Heldenkörper eine weitere Todesbewältigung, diesmal als Ersatzkörper des Zuschauers. So sieht man in RAMBO: FIRST BLOOD PART II etwa zu Beginn haptische Bilder von glänzend schwitzender Haut mit hervortretenden Adern und sich anspannenden Muskeln als Rambo sein Messer für seinen Einsatz schleift (TC 00:10:17-00:10:37). Arnold Schwarzenegger präsentiert u.a. in einer Saunaszene in RED HEAT bei freiem Oberkörper seine gewaltigen Muskeln, um ihm Anschluss zu zeigen, wozu dieser Körper imstande ist: Er nimmt, ohne eine Miene zu verziehen, einen glühenden Stein in die Hand und prügelt sich daraufhin halbnackt im Schnee (TC 00:02:32-00:04:36). In COMMANDO zeigt die Kamera seine muskulösen Arme in Nahaufnahme, ehe sie zurückfährt und man sieht, wie er mit Leichtigkeit einen Baumstamm über seiner Schulter nach Hause trägt. Diesen zerhackt er schließlich, um erneut den Muskelkörper in Aktion zu präsentieren. Er erkennt in der Spiegelung seiner Axt einen herannahenden Menschen – evtl. einen Gegner, den es auszuschalten gilt. Stattdessen legt er die Axt beiseite und nimmt seine Tochter auf den Arm, was ihn als einen positiv konnotierten Familienvater etabliert (TC 00:04:15-00:05:35). Julian Hanich definiert entsprechend obiger Körperbilder für Arnold Schwarzenegger-Filme: »In terms of the neo-formalist dichotomy between narration and spectacle, action scenes and scenes with a display of Schwarzenegger’s muscular prowess can hardly be located on the narrative end. Since the viewer knows beforehand that Schwarzenegger’s body will prove its superiority, there are no substantial questions answered or problems solved. The information we receive is minimal and redundand.«657 Durch derart zur Schau gestellte Muskelkörper entstehen demnach filmische Exzesse – und zugleich eine somatische Erfahrbarkeit dieses mächtigen Körpers, was er auch erreichen oder erleiden möge. Gerade Männer sprechen auf die übermuskulösen Heldenkörper an, so Barna William Donovan: »Schwarzenegger is not the icon that he is because he was a female’s ideal, but because he is a male’s ideal. As a matter of fact, the same can be said for Stallone or Eastwood or Jean-Claude Van Damme or Steven Seagal or Vin Diesel [...] the quintessential modern action heroes are men who speak to the problems, insecurities, and longings of men.«658

655 656 657 658

Vgl. ebd., S. 82. Vgl. Benthien, Claudia: Haut, S. 158. Hanich, Julian: »Mr. Schnitzelicious, the Muscle Man«, S. 104 Donovan, Barna William: Blood, Guns And Testosterone, S. 140.

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Actionfilme laufen damit in der Zurschaustellung dieser Körper immer Gefahr ihre Helden wie Leinwandfrauen zu objektivieren. Entsprechend könnte man homoerotische Untertöne vermuten.659 Eine erotische Komponente ist, zumindest beim männlichen Publikum, allerdings unerwünscht. Steve Neale bemerkt in Masculinity As Spectacle dazu: »[...] in a heterosexual and patriarchal society the male body cannot be marked explicitly as the erotic object of another male look: the look must be motivated in some other way, its erotic component repressed.«660 Nicht nur sind Leinwandmänner in der Regel aktiver als –frauen, durch Figurenblicke auf den Helden beeinflusst, die Angst, Hass oder Aggression ausdrücken, werde ein erotischer Blick des Publikums auf den männlichen Körper ausgeschlossen, so Neale.661 Nur so kann eine eindeutige Rezeption gewährleistet werden, bei der seine nachfühlbare Nähe zum Tod und sein triumphales Überleben den Helden erst begründen. Wie schon beim weiblichen Körper im New Extremity Horrorfilm werden erotische Anreize regelrecht aus dem Körper geschlagen. Seine im Film zunehmende Versehrtheit lässt keinen Zweifel an seiner männlichen Zähheit, dem Mut und seiner Kraft. Donovan führt aus: »These action heroes need to prove they still have a place in this world. The best way they can do it is when a threat presents itself, when through brute power, ultrahuman stoicism, and the ability to take pain where mere mortals break down, they assert themselves and prove their worth, if only for a short while.«662 Eine weiteres deerotisierendes Moment bildet die Nähe der Helden zu christlichen Märtyrern. Yvonne Tasker erkennt in Spectacular Bodies: [...]the exaggerated physical characteristics of the [...] hero tend to lead him into narrative situations in which he is subjected to torture and suffering. The boundaries of his body are repeatedly violated, penetrated in a variety of ways [...] Such imagery derives in part from a Christian tradition to which martyrdom and sacrifice are central.«663 Bereits der Christus in Mel Gibsons THE PASSION OF THE CHRIST erträgt seine Marter still, nur leise wimmernd, ohne auch nur einmal laut aufzuschreien, so Andreas Gormans.664 Diese »körperliche Unbeugsamkeit«665 setzt Gormans dementsprechend mit dem Helden im Actionfilm in Verbindung.666 Die Dekontextualisierung, die durch eine Transformation unbewegter christlicher Motive aus den bildenden Künsten in ein filmisches Werk entstehe, sowie ein Übermaß in der Darstellung der Gewaltakte, würden Gibsons Film eine zutiefst ideologische Färbung verleihen.667 Dasselbe lässt sich über die einseitige Perspektive und die reduzierte Handlung von Actionfilmen sagen. Anders als es die antiken Vasenmalereien aus Kapitel 3.1.2 zuließen, wird dem Publikum hier nicht offen gestellt, auf welche Seite es sich schlägt. Zwei parallele Szenen in CONAN THE BARBARIAN und RAMBO: FIRST BLOOD PART II gemahnen dementsprechend an die Kreuzigung Christi und schaffen so, dem 659 660 661 662 663 664 665 666 667

Vgl. Hanich, Julian: »Mr. Schnitzelicious, the Muscle Man«, S. 113f. Neale, Steve: »Masculinity As Spectacle«, S. 14. Vgl. Ebd., S. 18. Donovan, Barna William: Blood, Guns And Testosterone, S. 141. Tasker, Yvonne: Spectacular Bodies, S. 39. Vgl. Gormans, Andreas: »Der Film vor dem Film«, S. 80. Ebd., S. 82. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 89f.

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Tod nah, ein Martyrium für eine höhere Sache, das die positive Rolle des Helden unterstreicht: Conan wird in gekreuzigter Haltung an einen Baum gebunden und schmutzig und verwundet, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, in der Hitze der Wüste zurückgelassen (Abbildung 16). Abbildung 16: Kreuzigung Conans

Quelle: CONAN THE BARBARIAN, TC 01:17:43, TMG/Concorde Home Entertainment

Hier scheint er in seiner Heldenrolle zu scheitern, ist reines Opfer und kaum noch am Leben. Er verliert mit der Zeit beinahe den Verstand. Die Kamera wechselt zwischen Nahaufnahmen von seinen dahindämmernden Augen, für den dahinscheidenden Geist, und Aufnahmen von seinem dennoch unbezwingbaren, gewaltigen Körper. Er wird zudem von einem Geier angegriffen – eine Anspielung auf den griechischen Helden Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte und dafür an einen Felsen gekettet täglich von einem Adler angegriffen wurde, der von seiner Leber aß – beißt ihn jedoch in den Hals bis der Vogel tot zu Boden fällt. Schließlich wird er von seinen Freunden gerettet (TC 01:16:10-01:18:56). In RAMBO: FIRST BLOOD PART II wird John Rambo von mit den vietnamesischen Truppen verbündeten sowjetischen Soldaten festgebunden und nach einer kurzen Ansprache in gekreuzigter Haltung durch Stromschläge gefoltert. Er ist ihnen ebenso als Opfer ausgeliefert, wie der gekreuzigte Conan einem scheinbar sicheren Tod in der Einsamkeit der Wüste. Er schreit (unterdrückt) vor Schmerzen, und sein muskulöser Körper windet sich unter den Stromschlägen, während das Licht flackert. Das Gesicht und die angespannten Muskeln lassen das Ausmaß seiner Qual erkennen und somatisch nachfühlen, indem man sein Leiden intuitiv versteht und zugleich seine übermenschliche Zähheit ausgetestet sehen will, die bei weitem übersteigt, was der eigene verletzliche Körper zu ertragen imstande wäre. (TC 00:50:47-00:52:54). In einer solchen Motivik offenbare sich ein christlichen Kulturen inhärenter Glaube an eine Wahrhaftigkeit im Leiden, so Valentin Groebner: »[D]ie visuelle Kultur Europas (und Amerikas) ist zutiefst geprägt von der Figur eines blutigen Männerkörpers als Wahrheitszeichen. Diese Imaginationen von entstellten und auf gewalttätige Weise unförmig gemachten menschlichen Gesichtern als Objekte sind am Ende des 20. Jahrhunderts wirksam geblieben, nicht nur, weiß Gott, in unserer Umgangssprache. Moralische Erzählungen sind bis heute auffallend häufig organisiert um den Körper eines nackten blutigen

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Mannes als Wahrheitsfigur. Seine Visualisierung in Filmen ruft im Gegensatz zum Bild einer misshandelten Frau keine sexuellen, sondern moralisch erhabene Konnotationen hervor. Kein Wunder, dass Kommentatoren schon vermutet haben, der Erfolg eines männlichen Filmdarstellers hänge unter anderem davon ab, wie oft und intensiv er auf der Leinwand physisch misshandelt werde, unter möglichst großem Vergießen des eigenen Blutes, um am Ende des Films zwar geschunden, aber doch siegreich wieder aufzuerstehen.«668

Für die Rolle des Actionhelden sind sein physisches Leid in Todesnähe und dessen Nachvollzug durch das Publikum als neue compassio demnach zwingender Bestandteil der Filmerfahrung. Die Anteilnahme am filmischen Geschehen bzw. dem Körper des Actionhelden ist damit immer zum Teil masochistisch, denn im Verlauf des Films muss er – und das Publikum mit ihm – Verletzungen und Schmerz ertragen, sich anstrengen, durch alle Widrigkeiten kämpfen und darf dennoch, als neues Heilsversprechen, niemals aufgeben. Er muss überleben. Dabei bedarf es, wie bereits der ›blasse‹ Christus der Mel Gibson Verfilmung gezeigt hat, keiner psychoanalytischen Identifikation, da die Nähe über somatische Empathie erzeugt wird. In dieser Körperlichkeit – auf der Leinwand, wie gespiegelt den Zuschauerrängen – liege auch die Nähe zum frühen Kino der Attraktionen, so Thomas Morsch: »Der Actionfilm darf als paradigmatisches Genre gelten, wenn es um die somatische Wirkmächtigkeit des Kinos geht. Der Körper rückt hier immer wieder gleichermaßen als Darstellungsobjekt, Ausdrucksfläche und Adressat ins Zentrum [...] Die Apologetik des Actionkinos hat sich vor allem beim Konzept des Spektakels bedient, wie es in Anlehnung an Tom Gunnings Charakterisierung des frühen Kinos der Attraktionen Gestalt und theoretische Prominenz gewonnen hat. Kennzeichnend ist danach vor allem eine direkte, körperliche Adressierung der Zuschauer, die nicht durch das Nadelöhr von Identifikation, Illusion und Voyeurismus eingefädelt wird.«669

Auch der schmächtigere ›Jedermann‹ John McClane (Bruce Willis) in DIE HARD ist nach einigen Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern sehr geschwächt. Nachdem die Weihnachtsfeier in der Firma seiner in Los Angeles getrenntlebenden Frau in eine Geiselnahme durch eine Gruppe Verbrecher gekippt ist, ist der New Yorker Polizist McClane die einzige Hoffnung für die Belegschaft. In einem zunehmend schmutzigen Unterhemd schlägt er sich, ähnlich wie Rambo, als Einzelkämpfer und gegen den Willen der Polizei von LA und des FBI, durch das Firmenhochhaus. Barna William Donovan stellt passend hierzu fest: »[A]ction films deal[...] with good men pushed too far and needing to take revenge because the justice system is ineffective, unfair, or thoroughly corrupt [...]«670 Die gewaltsamen Tötungen durch den 1980er Jahre Actionhelden auf der Bildebene lassen sich damit immer durch die Narration rechtfertigen, seine Motivation ist für den Zuschauer kognitiv klar verständlich und nachvollziehbar. Auch McClane erlebt einen Moment, in dem er, an die Grenzen seines verletzlichen Körpers gegangen, zu scheitern scheint: Er hat eine tiefe Schnittwunde am Fuß und hinterlässt eine Blutspur als er sich in ein Badezimmer schleift. Dort entfernt er unter nachvollziehbaren Schmerzen Scherben aus seiner Fußsohle und reinigt die 668 Groebner, Valentin: Ungestalten, S. 134/135. 669 Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 189/190. 670 Donovan, Barna William: Blood, Guns And Testosterone, S. 52/53.

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Wunde, ist aber noch immer zu Scherzen aufgelegt (TC 01:38:50-01:40:54). Dies macht ihn für Yvonne Tasker zu einem wise guy, der sich nicht nur durch seine geringere Körpermasse von den Bodybuilding-Helden unterscheidet: »[...] Willis is known for his voice as much as his body, and his role in these films as a wise guy enacts a different kind of masculine performance to that associated with the bodybuilder.«671 Den Tod besiegt der wise guy demnach auch durch seine Stimme, er setzt sich darüber hinweg und kaschiert seine Tötungen durch Humor. Die wortkargen, extrem muskulösen Helden nehmen dagegen eine ganz andere Rolle ein, wie sich an Rambo erkennen lässt: »The term ›Rambo‹ is often used to denote stupid behaviour, an irrationality which is closely linked to the inarticulacy of the action hero, of the stress on the body and cinema as spectacle, rather than the voice.«672 Nachdem er seine Wunden versorgt hat, entledigt McClane sich seines schmutzigen Unterhemds. Dies dient aber nicht wie bei Schwarzenegger oder Stallone einer Präsentation seiner Muskeln, sondern markiert den Moment seiner größten Verwundbarkeit: Den freien Oberkörper präsentierend, schutzlos, verletzt, erkennt er, dass er vielleicht nicht überleben wird. Über Funk gibt er seinem einzigen Verbündeten, dem Polizisten Al Powell (Reginald VelJohnson)673 – dies ist auch für Geschlechterrollen im Film interessant – eine Botschaft für seine Frau durch. In dieser entschuldigt er sich und gesteht indirekt ein, sich von ihrer Karriere bedroht gefühlt zu haben, statt sie zu unterstützen (TC 01:45:14-01:07:42). Letztendlich werden seine Stärke und Männlichkeit aber wieder bestätigt, indem er sie und die anderen Geiseln mit letzter Kraft rettet. Obwohl John McClane, wie auch die anderen Actionhelden, zu einem bestimmten Punkt im Film nachfühlbar am Ende seiner Kräfte und dem Tod nah ist, wird er – und das löst einen reinen Masochismus wiederum auf – nicht aufgeben und letztendlich triumphieren, wie das Publikum mit ihm. Es handelt sich immer um eine kurzzeitige Schwäche als Todesbedrohung, die überwunden wird und in unerschütterlicher Stärke sein Überleben bezeugt. Sarah Hagelin dazu: »Psychoanalytic film theory’s interest in the camera’s gaze and our identification has focussed attention on the sadism and masochism of violence onscreen; most of this scholarship has assumed that the bleeding, bruised body is vulnerable, victimized, and passive, that our only identification with such a body is masochistic. [But a]s evidenced by the box-office success of the Rocky, Die Hard, and Lethal Weapon franchises, mainstream American cinema in the 1980s and early 1990s seemed obsessed with masculine white men in pain [...] more often than not, these images merely reasserted male prowess, as cultural-studies analyses of hard bodies and male masochism have shown.«674

In Anspannung der Ohnmacht selbst, während man verfolgt wie der Actionheld von seinen Gegnern unerbittlich gefoltert wird und zu scheitern droht, kann ein masochistischer Genuss liegen, wie schon das Kapitel 3.2.2 gezeigt hat. Bacon dazu: »A tension 671 Tasker, Yvonne: Spectacular Bodies, S. 74. 672 Ebd., S. 87. 673 Zwischen McClane und Powell, so Tasker, bestehe eine für den buddy action movie typische Dynamik, bei der Powell die Rolle des Unterstützers und Bewunderers McClanes einnimmt. Vgl. Tasker, Yvonne: Spectacular Bodies, S. 44f. 674 Hagelin, Sarah: Reel Vulnerability, S. 13.

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has arisen which can only be released through the restoration of a just state of affairs. Yet, as eager as we are to see that happen, we also derive pleasure from any narratively ingenious postponement of the release of tension that that restoration provides.«675 Man genießt es demnach augenscheinlich, sich schrittweise einem Kulminationspunkt anzunähern, bei dem – an der Schwelle von Leben und Tod – der Actionheld doch zurückschlagen, selbst zum Täter werden wird, um mit der (sadistischen) Tötung des bösen Gegners die Anspannung zu entladen. Die Todesnähe, die Möglichkeit eines Scheiterns und Sterbens des Helden, ist demnach nötig, um einerseits den wunden Punkt der eigenen Sterblichkeit des Publikums und die realen unsicheren Verhältnisse ihrer Lebenswelt zu berühren – gerne ausufernd als Folter, die das Leid des Helden fühlbar macht, der sich mit aller Kraft, allem Leben in sich, dagegen aufbäumt. Andererseits wird so der Moment seiner Rache herausgezögert, die als Auflösung der besonders langgezogenen Strapaze größere Befriedigung verschafft. Dies kann als Wendepunkt von Masochismus und Sadismus aufgefasst werden. Hier wird der Zuschauer aber auch nach erster Verunsicherung seiner Überlegenheit versichert, der Fähigkeit alles überleben zu können und das Böse/den Tod mit ›guter Gewalt‹ zu bezwingen. Der Nachvollzug von Folter und Tötungen im Actionfilm ist folglich abermals nicht rein an einen Masochismus bzw. Sadismus entsprechend psychoanalytischer Theorien gebunden, sondern bietet dem Publikum eine ambivalente Körpererfahrung als Todesphantasma. In seiner Rache teilt der Held dann ebenso unerbittlich aus, wie er einstecken kann, er ist eine Kampfmaschine und sein Körper entsprechend zäh. Sein vorangegangenes Leiden lässt erst das Ausmaß seiner Stärke und Widerstandsfähigkeit erkennen – ähnlich dem Gottessohn, der als Märtyrer auf sich nimmt, was Normalsterbliche nicht ertragen könnten, doch diesmal gerade ohne je zu sterben. Was der Actionheld aktiv tut und passiv erträgt sind demnach zwei Seiten einer Medaille, die gemeinsam das Bild eines Helden ergeben. Das Publikum erhält somit Gratifikationen bezüglich Überleben, Männlichkeit und häufig auch nationaler Identität, die sich unmittelbar somatisch nachfühlen lassen, denn, so Barry Langford: »In these films, the muscular ›hard body‹ heroes (and through them the audience) often endure, but survive, sado-masochistic ordeals of physical and mental torture at the hands of their enemies [...] Such sequences – and the vengeful ›male rampages‹ that invariably followed them – both literalised the white male pathos and sense of beleaguerment and injury [...] on which New Right social policies preyed and demonstrated a renewed capacity (contrasted to the emasculated passivity of the post-Vietnam period) to take enormous punishment and come out not standing but fighting.«676

Eine somatische Anteilnahme am kämpfenden, aktiven Heldenkörper, Explosionen und generell schnell wechselnden Bildern, ist im Grunde unvermeidlich. Dieser Dynamik kann man sich nicht entziehen, in der eigenen stillen Position ist man gemäß dem Leihkörperkonzept von Christiane Voss prädestiniert, um sich am Filmgeschehen zu beteiligen. Julian Hanich analysiert dementsprechend:

675 Bacon, Henry: The Fascination of Film Violence, S. 88. 676 Langford, Barry: Post-classical Hollywood, S. 233.

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»Since I don’t outwardly imitate Schwarzenegger’s onscreen actions with my whole body but am involved in inner mimicry, I do not experience my body in action. What I experience is my own body activated via the perception of someone else’s active body. Since in a way I am in that other body, a partial dislocation of the self takes place. I am simultaniously here and there. I am me and I am Schwarzenegger’s body at the same time.«677

Doch wenn Actionfilme sich nicht nur auf narrativer Ebene abspielen, sondern der Körper und die automatisierte somatische Anteilnahme an diesem so eine entscheidende Rolle einnehmen, wieso ist man dann nicht an den Körpern der Antagonisten beteiligt, an dem Leiden und Sterben, das sie durch den Actionhelden erfahren? Somatische Empathie ist, wie bereits diskutiert wurde, ein Mechanismus, der sich unabhängig von unseren Sympathien mit Figuren vollzieht. Die Tatsache, dass man mit dem Helden leidet, die Tode seiner Antagonisten aber in Kauf nimmt, muss also auch etwas mit der Bildebene zu tun haben – mit der Sichtbarkeit ihres Leids. Die Rache vorangegangener Ungerechtigkeiten durch den Actionhelden – eigentlich ein gnadenloses Morden – wird vom Publikum meist nicht nur gebilligt, sondern gar genossen. Dies ist schon in der Narration verankert und wird auf der Bildebene in gewaltsamen Tötungen entfaltet. Henry Bacon erläutert in The Fascination of Film Violence: »We might not approve of revenge in real life, but we nevertheless find it profoundly satisfying when in a story those who have bin wronged and humiliated succeed in beating their tormentors – or if someone altruistically punishes them. Such narrative patterns lead us to forget about the moral requirement of keeping punishment within reasonable limits and allow us to enjoy wild fantasies of righteous retribution.«678 In RAMBO: FIRST BLOOD PART II findet John Rambo dementsprechend die amerikanischen Kriegsgefangenen und tötet daraufhin nacheinander die vietnamesischen Gegner. Dies geschieht im Grunde sehr brutal, einer bekommt ein Messer in die Brust, ein anderer einen Pfeil, der Dritte gar einen Pfeil in den Kopf. Sie werden jedoch schnell und präzise ausgeschaltet, die Kamera verweilt nicht etwa auf ihrem Todeskampf (TC 00:32:11-00:34:00). Es folgt eine Schießerei auf einem Boot, bei der die Gegner wieder wie Schießbudenfiguren nacheinander eliminiert werden, Materialschäden und Explosionen unterstreichen energiegeladen die Auseinandersetzung. Rambo selbst wird hier fast stranguliert. Ihn sieht man – anders als seine Kontrahenten – straucheln und ums Überleben kämpfen. Man hört erstickte Laute und fühlt mit ihm, bis es ihm gelingt dem Gegner ein Messer in den Bauch rammen. Dies geschieht durch eine Plane hindurch. Man sieht etwas hervortretendes Blut, der Mann verzieht kurz sein Gesicht, doch statt ihn sterbend zu präsentieren, folgt die Kamera Rambo, dem es gerade noch gelingt ins Wasser zu springen, ehe das Boot explodiert (TC 00:36:5000:38:45). Adam Rockoff analysiert entsprechend bezüglich Rambo: »He exhibits far more brutality than Michael Myers does when impaling a victim to a closet door with one quick thrust of his knife. So why are the slasher-like killings of our testosterone-soaked heroes cheered, admired or discounted as harmless entertainment? Most likely, it is because these killings don’t require the same amount of identification and role-play as those in a slasher. To paraphrase the old saying, if you kill a few men you’re a murderer, if you kill thousands you’re 677 Hanich, Julian: »Mr. Schnitzelicious, the Muscle Man«, S. 111/112. 678 Bacon, Henry: The Fascination of Film Violence, S. 19/20.

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a conqueror. In action films, the killings – while bloody and brutal – are quick and indiscriminate. Our hero barely has time to remove his knife from the chest of a wounded adversary before taking off the head of a rapidly approaching reinforcement. Everyone except the hero is a villain who deserves to die. They’re not people, they’re set peices, whose sole job is to be easily eliminated in a variety of fashions.«679

Auch Arnold Schwarzenegger als John Matrix in COMMANDO tötet nacheinander eine Reihe von Gegnern. Dies geschieht für einen Actionfilm der 1980er Jahre ungewöhnlich brutal, so schneidet er etwa einem Gegner die Kehle durch, aber im letzten Moment erfolgt auch hier ein Filmschnitt. Anders als in FRIDAY THE 13TH oder HOSTEL sehen wir nicht, wie die Klinge durch Haut schneidet und Blut hervortritt, hören nicht etwa das Röcheln eines Sterbenden (TC 01:09:55-01:11:18). David Tetzlaff erkennt daher, ähnlich wie Rockoff: »Following New Hollywood action film conventions, all [...] acts of violence are shot with medium-close framing and edited in fast-paced sequences. The camera does not hide from the violence, but it does not linger on it. It has another moment of action to get on with.«680 Dadurch kann der Actionheld in seiner Rolle des Guten bestehen, obwohl er unzählige Menschen tötet. Seine Gewalt ist eine unvermeidliche, rechtschaffene, ›gute Gewalt‹: »The violence in the action films is a symbolic struggle, a noble, righteous anger focused at injustice«, so Donovan.681 Die Gegner sind in den genannten Beispielen eine kaum unterscheidbare Masse, die es zu bezwingen gilt. Entsprechend realhistorischer Auseinandersetzungen sind sie zudem häufig anderer Nationalität, vorrangig russisch, aber eben auch vietnamesisch und in DIE HARD deutsch. Der typische Hard Body-Actionheld der 1980er ist, wie sein Hauptpublikum, männlich, häufig amerikanisch – eine Ausnahme ist Arnold Schwarzenegger, der als Österreicher zum Prototypen des amerikanischen Hard Body avanciert – und weiß. Damit bildet er ein direkt am (semiotischen) Körper ablesbares Ideal, eine Norm, von der sich die Gegner in ihrer Andersartigkeit abheben. Dieser Aspekt kann hier nicht in vollem Umfang behandelt werden, soll aber immerhin kurz angeschnitten werden. Richard Dyer bemerkt passend hierzu in seinem Buch White: »Research – into books, museums, the press, advertising, films, television, software – repeatedly shows that in Western representation whites are overwhelmingly and disproportionately predominant, have the central and elaborated roles, and above all are placed as the norm, the ordinary, the standard. Whites are everywhere in representation. Yet precisely because of this and their placing as norm they seem not to be represented to themselves as whites but as people who are variously gendered, classed, sexualized and abled. At the level of racial representation, in other words, whites are not of a certain race, they’re just the human race.«682

Die Bevorzugung von weißen Schauspielern wurde teilweise in der Filmgeschichte so weit getrieben, dass weiße Schauspieler auch andere Ethnien spielten. Daniel O’Brien 679 Rockoff, Adam: Going to Pieces, S. 8/9. 680 Tetzlaff, David: »Too much red meat!«, in: Schneider, Jay (Hg.), New Hollywood Violence, Manchester/New York: Manchester University Press 2004, S. 269-285, hier S. 270. 681 Donovan, Barna William: Blood, Guns And Testosterone, S. 213. 682 Dyer, Richard: White, London/New York: Routledge 1997, S. 3.

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dazu: »In Cabiria (Pastrone, 1914), Caucasian actor Bartolomeo Pagano plays Maciste as a Nubian, his face and body covered in dark make-up.«683 Dieses Blackfacing ist aus heutiger Sicht besonders rassistisch, insbesondere in den Vereinigten Staaten wo sich Minstrel Shows mit naiv-fröhlichen Sklavenfiguren im 19. Jahrhundert größter Popularität erfreuten, wie auch in nachfolgenden Filmen.684 Auf den weißen ›Normkörper‹ wird mit der schwarzen Farbe wie auf eine Leinwand ein Stereotyp aufgetragen und im so präsentierten Aussehen und Gebaren wird eine vermeintliche Differenz zwischen Schwarzen und Weißen überbetont. Es findet zugleich eine Abwertung des ›Schwarzseins‹ und Aufwertung des ›Weißseins‹ statt. Der typisch weiße, männliche Actionheld nun schafft gemeinsam mit dem Großteil des Zielpublikums ebenso ein Wir, das sich gegen die anderen stellt.685 O’Brien dazu: »Charles Ramírez Berg argues that racial stereotyping results from a combination of categorisation, ethnocentrism and prejudice, and may be defined as ›a negative generalisation used by an in-group (Us) about an out-group (Them)‹ [...] Furthermore, these negative stereotypes ›flatten, homogenise, and generalise individuals within a group, emphasising sameness and ignoring individual agency and variety‹ [...]«686 Stuart Hall erkennt ganz ähnlich in der Stereotypisierung eine Reduktion, Naturalisierung und Fixierung einer Differenz, die Normales von Anormalem trenne, um Letzteres auszuschließen. Dies schaffe eine imaginäre Gemeinschaft, uns und die Anderen, wobei Letztere als negativ oder gar gefährlich bewertet würden.687 Dies dient entsprechend einer Rechtfertigung von Gewalt als Abwehr gegen diese, einem Selbstschutz, der durch das Töten der Anderen die eigene Gruppe überleben lässt. Henry Bacon analysiert: »The good-evil polarization is firmly anchored on the familiar-strange and, more generally, on the we-them opposition. Such trivializations of moral issues can themselves be thought to be evil, as they are typically used as a part of the rhetoric of evil in order to justify the use of violence directed at certain groups of people. In the field of popular fiction, the way those others are defined in different contexts need not be a major concern as the ›we against strangers‹ pattern can easily be transformed from one context to another.«688

Aus psychoanalytischer Sicht schafft dies eine Opposition von Liebe, in Form einer unumgänglichen Identifikation mit dem Actionhelden und Hass, als Rivalität mit den Antagonisten, zu denen man keinen anderen Zugang erhält.689 Dies wird insbesondere durch den Einsatz der Kamera begünstigt, die dieses zeigt und jenes ausspart und lässt sich somit ebenfalls für kognitive cues fortführen, die Information, die der Zuschauer 683 O’Brien, Daniel: Classical Masculinity And the Spectacular Body on Film, S. 145. 684 Vgl. Rogin, Michael Paul: Blackface, White Noise: Jewish Immigrants in the Hollywood Melting Pot, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1996. 685 Wobei die Rezeption natürlich nicht an Rassismus oder Nationalismus gebunden bleiben muss, da der starke Körper des Helden selbst nationenübergreifend Kinogenuss versprechen kann. 686 O’Brien, Daniel: Classical Masculinity And the Spectacular Body on Film, S. 15f. 687 Vgl. Hall, Stuart. »Das Spektakel des ›Anderen‹«, S. 144. 688 Bacon, Henry: The Fascination of Film Violence, S. 73. 689 Vgl. Fink, Bruce: Das Lacansche Subjekt, S. 114.

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durch den Film erhält, um ihn zu komplementieren sowie für eine mögliche somatische Anteilnahme: Die Antagonisten sind in jedem Fall klar erkennbar anders als der Held und unterscheiden sich, teilweise noch hervorgehoben durch eine Uniformierung, kaum voneinander. Sie sind völlig austauschbar. Nicht nur innerhalb der Narration, sondern auch auf der Bildebene werden sie damit grundlegend von ihm abgegrenzt und zudem in ausgeprägter Boshaftigkeit in Szene gesetzt. Wir und die Anderen, gut und böse, sind damit im 1980er Jahre Actionfilm klar festgelegt. Die im Actionhelden verkörperten männlichen Tugenden, eng gebunden an sein muskulöses Äußeres, werden währenddessen performativ immer wieder bestätigt. Yvonne Tasker dazu: »These films and stars exemplify, in different ways, a tendency of the Hollywood action cinema toward the construction of the male body as spectacle, together with an awareness of masculinity as performance. Also evident in these films is the continuation and amplification of an established tradition of the Hollywood cinema – play upon images of power and powerlessness at the center of which is the male hero.«690

Man sieht deutlich, was seine Gegner ihm antun, reuelos, und wie schwer erträglich dies für ihn ist. Was sie aber wiederum durch ihn erleiden müssen – wie sie durch seine Hand sterben – findet größtenteils außerhalb der Bildebene statt. Es bleibt ausgespart, damit das Publikum nicht an seinem Helden zweifeln muss. Dies gilt abermals nicht nur kognitiv, sondern ist eng an die Tatsache gebunden, dass somatische Empathie unmittelbar erlebt wird. Statt die Körper der Gegner für den Zuschauer raumzeitlich verschränkt somatisch erfahrbar zu machen, statt eine unmittelbare Nähe über ihr erkennbares Leid zu generieren wie bei den Darstellungen Jesu Christi, muss der Zuschauer ihnen äußerlich bleiben, damit die Bildebene nicht der Narration entgegensteht. Ihr Leiden und Sterben muss für das Publikum möglichst unsichtbar bleiben. Das körperliche ›Verstehen‹ ihrer Qualen würde die klare Verteilung von Gut und Böse, richtig und falsch – damit im Grunde auch die Fiktion selbst – stören. Denn eben diese eindeutigen Verhältnisse werden im 1980er Actionfilm gesucht, kein fühlbarer Realismus, der einem konträre Blickwinkel vorführen würde. Damit ist die (somatische) Nähe zum Actionhelden angesichts filmischer Gewalt und Tötungen im Grunde eine zum Täter, anders als im New Extremity Horrorfilm, in dem man mit den Opfern fühlt. Die Verteilung von Gut und Böse ist aber, so hat dieses Kapitel gezeigt, im 1980er Jahre Actionfilm noch eindeutig. Die Tode der anderen, der Antagonisten, werden zur Leerstelle, finden sich nur in Andeutungen – und dann nicht um deren Leid, sondern die Überlegenheit des Helden zu präsentieren. Die somatische Beteiligung am Filmgeschehen, das, was an der Rezeption echt erscheint, auch wenn man stets weiß, dass man es mit einer Fiktion zu tun hat, ist somit – losgelöst von einer möglichen kritischen kognitiven Haltung zum Geschehen – stark eingeschränkt oder gar ideologisch gefärbt. Dafür lassen sich durch die unbezwingbaren Körper der Helden Bestätigungen zum eigenen Überleben, zu Männlichkeit und nationaler Identität erlangen, die in unsicheren Zeiten für Eindeutigkeit und Klarheit sorgen. In ausgeprägter Beteiligung des Publikums mordet der Actionheld maschinengleich in schnell geschnittenen Bildern, erleidet unvorstellbare körperliche Strapazen, aber er wird nicht 690 Tasker, Yvonne: »Dumb Movies For Dumb People«, S. 230.

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getötet, muss nicht sterben. So vermittelt er auf einer körperlich erfahrbaren Ebene, dass die Guten leben und die Bösen sterben werden. Er wird sich nicht vom Unrecht bezwingen lassen, er wird es auslöschen, er ist dazu fähig. Während die Qualen bis zum Tod der Opfer im New Extremity Horrorfilm dem Zuschauer am Ende des Films eher suggerieren, dass er überlebt hat obwohl er all dies mit ihnen durchlitten hat, ist der Actionheld selbst im Grunde unsterblich. Das macht die Gewalt, die dem 1980er Jahre Actionhelden widerfährt (und dem Publikum mit ihm) trotz der Nähe zum Tod zu verhältnismäßig schwacher Gewalt, im Gegensatz zur starken Gewalt, wie sie die Figuren im New Extremity Horrorfilm erlitten. Henry Bacon dazu: »Strong violence is used to shock either with the purpose of making people become aware of the brutal reality of violence or with the intention of exploiting the emotional reaction to which it gives rise for purely commercial gains [...] Weak violence might appeal to our fantasies of being invulnerable, while the strong may serve as a reminder of our vulnerability.«691 Seine zunehmende Verwundung, die ständig spürbare Todesnähe in der er sich befindet, scheint aber dennoch unabänderlicher Bestandteil der Erfolgsgeschichte des Actionhelden zu sein. Hierin liegt die vermeintliche Wahrhaftigkeit, die ihn in die Nähe christlicher Märtyrer rückt. Er leidet nachfühlbar für das Überleben des Guten (wie auch des Publikums), geht an seine Grenzen und tötet das Böse, triumphiert über dieses, wie auch über den Tod. Was geschieht also, wenn man die Tötungen durch den Actionhelden sieht und die Toten so gesehen gewürdigt werden? 3.3.3.2 Der Actionfilm der 2000er Die gängigen Strukturen des 1980er Actionfilms werden in Produktionen der 2000er Jahre teilweise aufgebrochen. Die Zähheit und Rache des Actionhelden waren bislang der grundlegende Genuss der Filmrezeption und lassen sich parallel zur (zeitweilig) empfundenen Ohnmacht des Publikums im Slasherfilm sehen. Das Böse, das dem Zuschauer dort in Form des Killers – wie der Tod – bedrohlich nah kommt, wird am Ende ausgleichend durch das Final Girl besiegt, indem es den Killer tötet. So sind auch die abgrenzenden Seiten von Zuschauerraum und Leinwand wiederhergestellt, analog zur Welt der Lebenden und Toten in Kapitel 2.1.2. Die ausgleichende Tötung des Killers auf der Bildebene – häufig verweilt die Kamera nach dem Gewaltakt einige Momente auf seinem reglosen Körper, um seinen Tod zu garantieren – verläuft parallel zu einer narrativen Schließung. Zwar steht der Killer häufig doch wieder auf, dies dient aber nur einer Öffnung für ein Sequel. Ebenso wird gewaltsames Töten meist innerhalb der Filmhandlung gerechtfertigt. Bacon führt aus: »Even in popular fiction, madness tends to be finally explained somehow, if only by some such faintly amusing account such as what has happened to Norman in Hitchcock’s Psycho (1960). The frightful thing appears somewhat less threatening when there is at least a semblance of logic behind it. It is much more frightening when horrible acts do not seem to make any sense. The mere idea of purely random violence emerging from such a state is almost intolerable.«692

691 Bacon, Henry: The Fascination of Film Violence, S. 87. 692 Bacon, Henry: The Fascination of Film Violence, S. 16.

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Somit wird das Töten im Slasherfilm – wie auch beim 1980er Actionfilm – als Schutzfunktion für das Publikum rationalisiert und damit von diesem distanziert. In diesem Abstand zum Tod wird er leichter konsumierbar. Man erhält eine klare Struktur, die Orientierung bietet und in diesem Schwarz-Weiß der Verhältnisse einfacher wirkt als die vielschichtige Realität verstörender Nachrichtenberichte. Unverständliche, extrem gewaltsame filmische Tötungen dagegen, bei denen die narrative Rahmung in den Hintergrund rückt und gängige Inszenierungen wie die Opposition von Gut und Böse in Frage gestellt werden, führen entsprechend zu einer Bedrohung für Leib und Leben des Zuschauers. Die Anspannung des Publikums entlädt sich im Slasher- wie im Actionfilm erst, wenn das Final Girl bzw. der Actionheld den Killer/Gegner tötet bzw. den Tod besiegt. Dieses Entladen als Rachetötung kann gerne ausschweifend und gewalttätig sein, um der vorangegangenen Anspannung zu entsprechen. Was dem Publikum einst eine Befriedigung verschaffte, der Triumph über das unkontrollierbare Böse/den Tod zur Wiederherstellung der symbolischen Ordnung/des Lebens, kann in einem Übermaß an Gewalt, im Overkill, der nicht mehr nur Selbstschutz oder ausgleichende Rache ist, allerdings Unbehagen schaffen. Auf kognitiver Ebene lässt sich so das Morden des Protagonisten – insbesondere wenn es nicht mehr länger vorwiegend außerhalb der Bildebene stattfindet – nun nicht mehr logisch nachvollziehen. Das Böse/der Tod findet sich dann, durch überbordende Gewalttätigkeit eindrücklich somatisch nachvollziehbar, selbst im guten Protagonisten und die einst klare Struktur wird gestört. Was bedeutet das für eine Todeserfahrung? 2008 wurde die RAMBO-Reihe durch einen vierten Teil mit dem schlichten Namen RAMBO erweitert. Dieser unterscheidet sich stark von seinen Vorgängern. John Rambo hat sich hier in Thailand zur Ruhe gesetzt, gerät aber in die Unruhen des Bürgerkriegs von Myanmar, nachdem er nach anfänglichem Widerwillen eine Gruppe amerikanischer Missionare ins Krisengebiet gebracht hat und diese, seine vorangegangenen Warnungen ausschlagend, entführt wurden. Neben dem missverstandenen Einzelkämpfer rücken hier die realen Schrecken des Krieges in den Vordergrund, was eine stärkere Verschiebung als bisher vom Action- zum Kriegsfilm erkennen lässt und entsprechend eine andere Form der Todesassoziation erzeugt als dieser: die vom realen Tod Unschuldiger. Dies wird zu Beginn des Films durch dokumentarische Filmausschnitte zu den echten Auseinandersetzungen in Myanmar gestützt und später durch die Zurschaustellung überbordender Gewalt gegen fiktive Unschuldige weitergetragen. Sylvester Stallone, der auch Regie führte, dazu: »I think Hollywood in the past few years has decided to step further away from reality, and make war cinematic ... and not as brutal and horrible and insidious as it really is. Especially civil war, which is even worse than wars between nations [...] I just wanted to take the actual footage – which I have – and depict it or re-enact it exactly the way it is. So, it’s supposed to be disturbing. I want people to be upset and understand that unarmed people are living this every day. While you’re having your meal or going to an amusement park, there are other people in the world that are being torn to shreds and no one knows about it.«693 693 Baker, Tom: Sylvester Stallone hopes violence of ›Rambo‹ will get people thinking, Newsok vom 30. Mai 2008, https://newsok.com/article/3250139/sylvester-stallone-hopesviolence-of-rambo-will-get-people-thinking-about-myanmar (Abgerufen 24.01.2019).

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Um den realen Tod weiter in den fiktiven Film einzubringen, wird das Leid fiktiver Zivilisten ausführlich in Szene gesetzt. So sieht man etwa die Regierungstruppen aus reinem Sadismus eine Gruppe von Bauern auf ein vermintes Reisfeld jagen. Wer nicht in die Luft gesprengt wurde, wird anschließend erschossen (TC 00:09:5900:11:30). In einem Dorf entführen die Männer alle Jungen, um aus ihnen Soldaten zu machen und drohen den Familien mit dem Tod und der Zerstörung des Dorfs (TC 00:13:15-00:14:32). All dies verweist über den Film hinaus auf echte Kriegszustände. Das Dorf, in dem die amerikanischen Missionare arbeiten, wird ebenfalls von den Regierungstruppen überfallen, Menschen werden erschossen und Hütten niedergebrannt. Man sieht insbesondere Frauen und Kinder um ihr Leben rennen. Sie werden an den Haaren gezogen, mit Macheten regelrecht niedergemetzelt und Kinder werden Müttern entrissen. Als die Dorfbewohner über die Felder fliehen wollen, schießen die Truppen mit einem Maschinengewehr willkürlich in die Menge. Die Dramatik wird schließlich erhöht, indem traurige Musik die Gewehrschüsse überlagert. Die Missionare werden über Leichen hinweg mitgeschleift und entführt, das Dorf steht in Flammen (TC 00:34:39-00:37:28). Diese eindeutige Täter-Opfer-Verteilung und ihre theatralische Inszenierung lassen dabei den dokumentarischen Ansatz in Frage stellen und dienen eher einer Begründung der dem Actionfilm üblichen Rache durch den Helden. Die sadistische Gewalt gegen Unschuldige wird besonders am Ende des Films durch das Einschreiten Rambos gerächt. Im Showdown von RAMBO wird ausführlich eine Auseinandersetzung Rambos und einer ihn begleitenden Söldnergruppe mit den gegnerischen Truppen geschildert. Rambo steht, diesmal vollständig bekleidet, aber noch immer massig, an einem Maschinengewehr und feuert in die Reihe der Gegner, Blut spritzt und ihre Körper fallen zu Boden. Die Söldner gehen ebenso brutal vor. Noch immer verweilt die Kamera nicht auf dem Leiden und Sterben der Antagonisten, aber die dynamischen Bilder von Fontänen von Blut, erschütterten Körpern, Explosionen und Kämpfern, die einander auf dem Schlachtfeld das Genick brechen, sind an Gewalttätigkeit kaum zu überbieten. Hier ist es die schiere Masse an Verwundeten und Sterbenden, die, kaum unterscheidbar, als Todeserfahrung auf den Zuschauer einwirkt. Dessen somatische Beteiligung richtet sich besonders jetzt nicht mehr auf einen spezifischen Körper, sondern auf die flimmernden Filmbilder und auditiven Eindrücke selbst, den gesamten Kriegsschauplatz (TC 01:21:41-01:24:01). Thomas Morsch beschreibt entsprechend, analog zum filmischen Rauschen in Kapitel 3.2.2: »Der ästhetische Schwindel, den das Kino erzeugt, entsteht in einem Sog der Bilder, der ebenso für ein Allmachtsgefühl, für die rauschhafte Erfahrung von Entgrenzung und das Transzendieren der eigenen Körperlichkeit mit den Mitteln der visuellen Wahrnehmung steht, wie für die sinnliche Überfrachtung des Zuschauers und für die Regression in ein vorichliches Stadium, in dem man sich passiv einem Flux der Impressionen überlässt. Wo der filmische Raum, der in den hyperbolischen Special Effects-Inszenierungen überzeugt wird, von keinem identifizierenden Blick eines souveränen Wahrnehmungssubjekts mehr durchmessen werden kann, da werden andere Modi ästhetisch-körperlicher Aneignung aufgerufen [...]«694

694 Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 228.

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Einzig Rambo, am Maschinengewehr stehend, nimmt noch immer eine Sonderposition ein, als eine feste Instanz, eine Sicherheit in all dem Chaos. Gewaltsamkeit und Tod im Krieg werden so für den Zuschauer eindrücklich am eigenen Körper erfahrbar, doch der unbezwingbare Körper des Helden gibt noch immer eine gewisse Orientierung, so dass man sich nicht, dem Tod gleich, in den schnellen Schnitten der brutalen Bilder völlig verliert. Der Hang dieses Films zu Realismus und historischer Aktualität stößt dabei, wie bereits die vorangegangenen Teile der Reihe, nicht nur auf positive Kritiken.695 Douglas M. Kellner analysiert in Cinema Wars: »While exposing the repression of the Myanmar government would have been salutary, the film Rambo IV is intensely racist, following the ›heart of darkness‹ formula whereby civilized white people go into barbarian sites of savagery. While the Myanmar government is no doubt repressive and totalitarian, the film Rambo shows the Myanmar army as vicious savages engaging in orgies of rape, pillage, and murder, with drunken scenes of debauchery punctuating brutal ethnic cleansing. The Great White God Rambo mobilizes some scraggly mercenaries to fight the hordes of Yellow Barbarians, slaughtering scores and saving the heroine, another sexist scenario where Woman-in-Danger requires salvation by the superhuman hero.«696

Hier zeigt sich auch die Gefahr der in Kapitel 3.3.2.2 angesprochenen ›history through the gut‹: Was man sieht und unmittelbar körperlich nachvollziehen kann, ist dennoch immer ein bestimmter Blickwinkel auf die Welt.697 Das vorangegangene Kapitel zum 1980er Actionfilm hat dazu bestätigt, dass man nicht nachempfinden kann, was außerhalb der Bild- und Tonebene stattfindet. Das ideologische ›Wir‹ und die ›Anderen‹, gut und böse, bleibt somit immer zum Teil erhalten. Eine derart ausgeglichene Bildkomposition, dass historische Ereignisse, wie etwa Bürgerkriege, bewertungsfrei nachfühlbar würden, ist unmöglich. RAMBO stellt dennoch zwar philosophische Fragen zum Thema Gewalt bzw. gut und böse, die teils Antworten liefern, die ideologisch Wahrheit beanspruchen, ist aber insgesamt offener und interpretierbarer als noch der 1980er Actionfilm. Dies wird in weiten Teilen auf der Bildebene, an Körpern, abgearbeitet: Zu Beginn des Films versucht die amerikanische Missionarin Sarah (Julie Benz) Rambo in einem langen Dialog zu überreden, sie und die anderen Missionare nach 695 »Rambo and, by extension, other muscular movies have been criticised for their rewriting of history, for the erasure of, in particular, the history of America’s involvement in Vietnam. Such critical concerns represent, in part, an important desire to see historical justice done.« Tasker, Yvonne: Spectacular Bodies, S. 98. 696 Kellner, Douglas M.: Cinema Wars: Hollywood Film and Politics in the Bush-Cheney Era, Sussex/Malden/Oxford: John Wiley & Sons Ltd. 2010, S. 32. 697 Kracauer argumentiert ähnlich, wenn auch radikaler, für den Propagandafilm: »Da Filmbilder das Urteilsvermögen des Zuschauers schwächen, ist es immer möglich, sie so auszuwählen und zu arrangieren, daß sie seine Sinne für die von ihnen propagierten Ideen empfänglich machen. Die Bilder brauchen nicht direkt die Idee anzusprechen; im Gegenteil, je indirekter sie auf sie hinweisen [...] desto größer ist die Chance, daß sie unbewußte Fixationen und körperliche Tendenzen in Mitleidenschaft ziehen, die, wenn auch noch so entfernt, für die angepriesene Sache relevant werden können.« Kracauer: Theorie des Films, S. 219.

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Myanmar zu bringen, damit sie dort der Bevölkerung helfen können. In dem Gespräch macht Rambo deutlich, dass er ihr Vorhaben sinnlos findet, da man nichts ändern könne. Es gebe immer Gewalt, das liege in der Natur der Menschen, jeder sei dazu fähig, es gebe keine Wahrheit und es sei Verschwendung sich einmischen zu wollen. Sarah ist dennoch überzeugt den Zivilisten in Myanmar helfen zu können und er gibt schließlich nach und bringt sie hin (TC 00:15:33-00:19:34). Wenig später wird die verbale Einführung sich jedoch bildlich bewahrheiten. Auf dem Weg nach Myanmar wird das Boot mit Rambo und den Missionaren von Piraten überfallen. Diese wollen Sarah entführen. Rambo versucht zu verhandeln, scheitert jedoch und sieht so keinen anderen Ausweg als tödliche Gewalt. Er erschießt die Piraten. Einer liegt dabei verletzt auf dem Boden und wird von Rambo, über ihm stehend, durch einen gezielten Schuss exekutiert. Die Missionare als Zeugen, wie der Zuschauer, sind entsetzt über diese Gewalttätigkeit. Zum ersten Mal in der Filmreihe wird das brutale Vorgehen Rambos in Frage gestellt und er als Täter deklariert. Michael Burnett (Paul Schulze), Anführer der Missionare und der Verlobte von Sarah, lässt Rambo wissen, dass sie nicht mit ihm zurückreisen würden und er ihn anzeigen werde (TC 00:23:12-00:30:22). Diese pazifistische Haltung wird später im Film jedoch, auf der Bildebene, wieder in Frage gestellt. Michael wird selbst gewalttätig als er offenbar keine andere Antwort auf die ihn umgebende Gewalt mehr findet. Er erschlägt, archaisch, einen Gegner mit einem Stein, den er diesem wiederholt auf den Kopf schlägt (TC 01:21:35-01:21:51). Somit behält Rambo recht, selbst der friedliebende Michael ist entgegen seiner Überzeugung fähig jemanden zu töten und die Seiten von gut und böse existieren somit nicht mehr. Auch Rambo selbst ist erkennbar Teil des Krieges, bzw. der Krieg Teil von ihm. Dies ließ sich, gemäß Tasker, bereits in den vorangegangenen Teilen direkt an seinem Körper ablesen: »The action hero as returning war hero [...] actually carries the war within himself. Conflict is literally inscribed in the hysterical (overdetermined/overdeveloped) male body.«698 In RAMBO lässt ihn dies auch böse handeln, so rammt er etwa dem Anführer der Regierungstruppen ein Messer in den Bauch und sieht ihm – wie auch der Zuschauer – einen Moment beim Sterben zu, ehe er das Messer brutal seitlich herauszieht und den Mann mit dem Fuß wegtritt (TC 01:24:02-01:24:36). Ebenso rettet er Sarah in einer früheren Szene aus der Gefangenschaft, indem er einem gegnerischen Soldaten mit bloßen Händen die Gurgel herausreißt, statt ihn auf schnellere und ›humanere‹ Weise zu töten (TC 01:06:20-01:06:41). Der einst gute Protagonist, mit der ›guten Gewalt‹, die durch das Töten wieder Ordnung herstellt, geht brutaler vor, als es nötig wäre und stellt seine eigene Position damit in Frage. Er wird zum Täter und der Tod gewinnt damit in der filmischen Welt die Überhand, überschattet das Leben, das der gute Held sonst ritterlich bewahrt. Durch das noch extremere Vorgehen der Antagonisten und indem er den verbliebenen Missionaren das Leben rettet, bleiben sein Status als Held und die ideologischen Lager von gut und böse, Leben und Tod, aber letztendlich doch erhalten. Der indonesische Martial-Arts-Actionfilm THE RAID 2: BERANDAL, keine US-amerikanisch-indonesische Koproduktion mehr, wie der erste Teil und doch durch seinen walisischen Regisseur und Drehbuchautor Gareth Evans nicht klar vom westlichen Kino abzutrennen, präsentiert zu Beginn ebenfalls seinen guten Helden Rama 698 Tasker, Yvonne: Spectacular Bodies, S. 87.

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(Iko Uwais). Weil der Polizist Lieutenant Bunawar (Cok Simbara) einen anderen korrupten Beamten mit mehreren Schüssen in den Kopf brutal exekutieren lässt, statt ihn vor Gericht zu bringen, weigert sich Rama zunächst für ihn als Undercover-Polizist zu arbeiten, da sie dieselben Ziele, aber nicht dieselben Wege dorthin hätten (TC 00:03:50-00:06:55 und TC 00:08:12-00:09:05). Letztendlich wird er sich aber, um den Tod seines Bruders zu rächen und insbesondere seine eigene Familie zu schützen doch darauf einlassen, ins Gefängnis gehen und dort unter falscher Identität den Kontakt zu Uco (Arifin Putra), Sohn des Mafiabosses Bangun (Tio Pakusodewo) suchen. Dessen Vertrauen gewinnt Rama indem er ihn bei einer ausgedehnten Gefängnisschlacht auf dem regennassen Hof das Leben rettet. Der Kampf verläuft zunächst als üblicher schneller Schlagabtausch von Martial-Arts-Filmen, hat aber weit brutalere Elemente. So wird etwa der Kopf eines Mannes in Höhe der Wangenknochen an der Kante einer Mauer eingeschlagen, einem Mann wird unter lautem Knacken das Schienbein gebrochen, das zur Seite wegknickt, mehrere Insassen stechen mit spitzen Gegenständen blutig aufeinander ein und Rama rammt einem Mann einen abgebrochenen Besenstil ins Bein und zieht ihn nach unten wieder heraus. Dies dient hier aber noch immer seiner Verteidigung und wird damit zum Teil gerechtfertigt (TC 00:23:34-00:31:10). Uco wird stattdessen als böser, Tod bringender, Gegenpol zu Rama etabliert, indem man sieht, wie er sich an seinen Gegnern aus dem Gefängnis rächt. Im Versuch den machthungrigen Uco gegen seinen Vater aufzuhetzen und zu einer gemeinsamen Übernahme des Kartells zu überreden, lässt der Bösewicht Bejo (Alex Abbad) fünf frühere Mitgefangene Ucos in Unterwäsche und auf dem Rücken gefesselten Händen in einen leeren Speisesaal bringen. Sie werden gezwungen sich in einer Reihe hinzuknien und Bejo gibt Uco auffordernd ein Teppichmesser. Während Uco dem ersten wehrlosen Mann die Kehle durchschneidet, die Kamera bewegt sich gerade so weit nach oben, dass man es nicht mehr sieht – man hört aber das Geräusch des Messers, das sich durch Haut schneidet –, reden sie über das Geschäftliche. Ebenso hört man nur als meat sound den Schnitt und ein kurzes Röcheln beim zweiten Mann und sieht stattdessen Ucos unbeteiligtes Gesicht. Wie bereits beim New Extremity Horrorfilm bereitet die extreme Gewalt der Tötungen den Tätern keine Gewissensbisse, sie könnten das Gespräch ebenso beim Golf führen. Für den Zuschauer dagegen ist die Szene unangenehm und alles andere als alltäglich. Beim dritten Mann hält Uco mitten im Schneiden inne, weil er Bejo ansieht und ihm zuhört. Dies ist eine Folter für das Opfer wie auch den Zuschauer. Für Letzteren tut sich aber auch eine grotesk-humorvolle Ebene der Distanzierung auf, eben weil Uco und Bejo so betont unberührt von dem brutalen Morden sind. Der sterbende Mann röchelt und bäumt sich unter Schmerzen auf – der endgültige Tod wäre eine Erlösung für ihn – während man die anderen beiden Männer bereits in ihrem Blut auf dem Teppich liegen sieht und die beiden verbliebenen Lebenden mit gesenkten Köpfen ihr Schicksal erwarten. Dann bringt Uco es zu Ende und stößt auch den Dritten nach vorne um. Man sieht ihn dem Vierten den Hals durchschneiden. Die Kamera bewegt sich aber vor Abschluss der Handlung wieder zu seinem Gesprächspartner und die Tötung wird erneut in die Tonebene verlagert. Bejo will einen Krieg zwischen den großen Kartellen initiieren, als Komplott, um letztendlich die Macht zwischen ihm und Uco aufzuteilen. Währenddessen ist der beim letzten Mann angekommen, seinem größten Feind aus dem Gefängnis und hält wieder kurz inne, weil er sich auf das Gespräch konzentriert. Der Mann wehrt sich gegen den bevorstehenden

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Tod und Uco hält seinen Kopf und macht Sch Sch. Dann sticht er brutal in den Hals des Mannes und dreht das Messer herum, statt ihm direkt die Kehle durchzuschneiden, wie den anderen. Die Kamera springt nach hinten. Man sieht aus großer Entfernung die Männer in einer Reihe. Vier liegen bereits tot auf dem Boden, der Letzte muss noch einen Moment länger leben als die anderen. Er gurgelt erstickend sein eigenes Blut, ehe er auch nach vorne umfällt und tot ist (TC 01:03:42-01:11:15). Obwohl die Szene für den Zuschauer nicht leicht zu ertragen ist, die Tötungen auch durch die Tonebene nachfühlbar macht, verweilt die Kamera doch nicht zu lange auf dem Leiden und Sterben der Opfer, sondern bleibt näher bei den empathielosen Tätern. In diesem Fall ist das für den Zuschauer, anders als im New Extremity Folterfilm, eine willkommene Ebene der Distanzierung, in der die Kameraführung ihn weniger stark zu einem Komplizen macht. Auch Bejos Gefolgsleute werden als extrem gewalttätig, gewissenlos und böse präsentiert, in ihrer jeweiligen Spezialisierung werden aber insbesondere ein Mann mit einem Baseballschläger (Very Tri Yulisman) und eine taubstumme Frau mit Sonnenbrille und zwei Spitzhämmern (Julie Estelle) zu comicartigen Superbösewichten, die das Publikum nun auch die böse Seite genießen lassen, sofern es die überbordende Gewalt ertragen kann. In einem schnellen Szenenwechsel sieht man mehrere parallel stattfindende Morde, jeweils in einem Schilffeld, in der ein Mann einen anderen angreift, einem Haus, in das der Mann mit dem Baseballschläger eindringt und einer U-Bahn, in der die Frau mit den Hämmern es auf einen Mann mit Aktentasche abgesehen hat, der von mehreren Männern in dunklen Anzügen beschützt wird. In der U-Bahn schaut das Opfer mit Aktentasche Richtung Hammerfrau/Kamera. Die Männer im Anzug um den Mann herum ziehen alle gleichzeitig Messer. Ein unbeteiligter Passagier macht sich schnell davon, wie auch die anderen, kreischenden Reisenden. Sie strömen an der Hammerfrau vorbei in ein anderes Abteil, die ruhig im Weg stehen bleibt und die Männer mit den Messern ansieht, die sie ebenfalls regungslos ansehen. Dann wird wieder auf den Mann mit dem Baseballschläger geschnitten, der an einem anderen Ort gerade mit kämpfend in das Haus eindringen will. Zurück in der U-Bahn rennt die Frau mit den Hämmern plötzlich los, ihre Gegner mit den Messern ebenfalls. Nacheinander rammt sie ihnen gut sichtbar und teils in Nahaufnahme die spitzen Seiten der Hämmer in die Flanke, gegen den Kopf oder in den Hals, was von einem matschigen Geräusch der Hämmer, die in Fleisch eindringen, begleitet wird. Einen kurzen Moment wird man sogar in die Perspektive eines Sterbenden auf dem Boden versetzt und das vermeintlich eigene Blut spritzt mit dem letzten tödlichen Schlag der Killerin nach oben. Jeder einzelne Tod, jede Tötungsvariation, wird einen Augenblick gewürdigt, statt (weitgehend) durch Schnitte kaschiert zu werden wie im 1980er Actionfilm. Obwohl die Abläufe noch immer extrem schnell sind, entstehen so viele kleine Schockmomente, die einem als Zuschauer wie viele kleine Tode in den Körper fahren (Abbildung 17/18). Die Szenenwechsel zwischen den verschiedenen Tötungen werden nun ebenfalls immer schneller. Man sieht wie der Mann mit dem Baseballschläger das Haus betritt und sich weiter vorankämpft. Im Schilf kriecht währenddessen das Opfer mit blutigem Gesicht davon, wird aber am Ende des Felds von zwei Männern festgehalten. Der Mann mit dem Baseballschläger ist oben an einer Treppe angekommen. In einer großen Halle sieht er zwei Männer, die sich gegenüberstehen. In der Szene im Schilf rammt der Täter dem um Gnade flehenden Opfer eine Spitzhacke in den Kopf. Im

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Moment des Einschlags wird aber wieder in die U-Bahn geschnitten und das Blut des Opfers spritzt dort in die Höhe. Die Frau mit den Hämmern tötet die letzten Gegner mit übermäßiger Brutalität. Der Mann mit dem Baseballschläger holt einen Baseball heraus, zielt, schlägt den Ball und zertrümmert damit einem der Männer den Kopf. Blut spritzt ins Gesicht des zweiten Mannes. Der will fliehen, wird aber von einem weiteren Ball im Rücken getroffen und fällt verletzt zu Boden. Man sieht das Feld von schräg oben und wie die Leiche in ein Grab geworfen wird, das nun ein Mann zuschaufelt. Zurück in der U-Bahn ist das weiße Kleid der Frau inzwischen rotfleckig vom Blut ihrer Gegner. Sie geht auf den Mann mit Aktentasche zu, der sichtlich Angst hat und holt aus, bevor der Hammer aufschlägt, wird aber wieder auf den Mann mit dem Baseballschläger geschnitten. Der will von dem verbliebenen Mann seinen Ball zurück. Als der ihn wegwirft, schlägt er ihm mehrfach mit voller Wucht auf den Kopf und tötet ihn so (TC 01:28:59-01:35:59). ABBILDUNG 17/18: Sehr schnelle, sehr brutale Tötungen, auch aus Sicht des Opfers

Quelle: THE RAID 2: BERANDAL, TC 01:32:25 und TC 01:32:34, Pt. Merantau Films/ Koch Media

Gerade weil die Gewalt der Tötungen so ausufernd ist und schockartig in den Körper des Zuschauers fährt, kann sie Gefallen finden. Die Szenen zelebrieren regelrecht Gewalt und Tod, aber wie beim Kino der Attraktionen auch das Filmische an sich, indem an entscheidenden Punkten geschnitten und Szenen so miteinander in Beziehung gesetzt werden. Noch immer sind die Getöteten völlig austauschbar, man weiß nichts über sie und muss sie nicht bemitleiden. Zwar sieht man sie nun sterben, unter nachvollziehbaren Schmerzen, aber dies ist mit einer Folter-Tötung wie in HOSTEL oder MARTYRS nicht vergleichbar. Sofort nach der Tötung, die einen ekeln oder schockieren kann, folgt der nächste Schlagabtausch als ein übergangsloser Rausch, der keine Atempause gönnt. Im moralbefreiten Raum der filmischen Welt liegt der Genuss, dem Sade’schen Libertin wieder näher, im körperlichen Wissen um den Schmerz und Tod der anderen, der einen aber doch nicht betrifft. Man triumphiert mit den Überlebenden, die hier den Killern des Slasherfilms näherstehen als dem guten Actionhelden. Sie sind unbesiegbare Kampfmaschinen, die keine Gnade kennen. Kein Mitleid empfinden zu müssen, sondern die Körperzerstörung bis zum Tod der Opfer genießen zu können stellt dabei eine Befreiung dar, man kann ›ganz Körper sein‹ und sich ungehindert den Eindrücken hingeben. Das Böse ist dabei grenzenloser als das Gute, das doch immer an Moralvorstellungen gebunden bleibt. Sich auf die Seite des Todes zu stellen kann also tiefere Befriedigung verschaffen als die des Lebens.

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Dies beweist eine weitere Kampfszene Ramas gegen eine Gruppe Gegner, die ihn angreift als er eben ein Taxi nehmen will, den Fahrer tötet und Rama bis in ein Restaurant verfolgt. Wieder kommt es zu einem schnellen Schlagabtausch, in dem Rama Stühle oder abgebrochene Flaschenhälse einsetzt, um seine Gegner brutal aber effektiv auszuschalten. Dann jedoch drückt er einen Gegner für lange Zeit mit dem Gesicht auf eine heiße Herdplatte. Der Mann schreit unter unvorstellbaren Schmerzen, doch Rama lässt immer weiter nicht von ihm ab. Ramas Gesicht lässt blanken Hass erkennen, während man weiterhin die Schmerzensschreie des Mannes hört. Zuletzt lässt er den Mann auf den Boden fallen und starrt ihn lange an – wie auch wir mit dem Kamerablick, der auf der Brandwunde verharrt –, entsetzt über sein eigenes Vorgehen. Die eine Gesichtshälfte des Mannes ist völlig verbrannt und entstellt. Als Ramas Blick/die Kamera nach unten wandert, sieht er/man einen Polizeiausweis. Rama hat die Kontrolle verloren. Er hat einen seiner eigenen Leute verstümmelt, seine Erlebnisse unter Verbrechern hat ihn selbst (zumindest teilweise) böse gemacht (TC 01:36:0001:38:34). Während man sich in der vorangegangenen Szene mit den schnellen Morden der comicartigen Bösewichte also ganz dem Bilderrausch – der auch ein tödlicher Blutrausch ist – hingeben konnte, droht man in der Szene mit Rama aus der Immersion ›zu fallen‹, weil die dargestellte Gewalt zu realistisch wird und der gute Protagonist nicht mehr für das Leben, sondern den Tod steht.699 Im Grunde findet hier ein Genrewechsel statt, weil man nun dem New Extremity Horrorfilm näher ist, der sich auf diese ausgedehnten Körperzerstörungen fokussiert. Weder verharrt der Actionfilm für gewöhnlich auf erzeugtem Leid, noch wird dieses so sichtbar durch den Protagonisten ausgelöst. Wie in RAMBO mit den Bezügen zum echten Bürgerkrieg in Myanmar kann so durch moralische Einwände ein Genuss unterlaufen werden und der Film zielt auch jeweils hierauf ab. Die Schnelligkeit der Kampfszenen und Schnitte, ebenso wie die narrative Einbettung haben demnach noch immer, wie im 1980er Actionfilm, entscheidenden Einfluss auf die Rezeption. Während THE RAID 2: BERANDAL das Sterben von Antagonisten nicht mehr länger außerhalb der Bildebene stattfinden lässt und die Opposition von Gut und Böse dadurch teilweise aushebelt, da auch die ›Guten‹ böse handeln und extrem gewalttätig morden, wird dies auf der Handlungsebene zum Teil wieder aufgefangen. Das Sterben sichtbar zu begleiten bedeutet in der Szene mit Uco, der wehrlose Gefangene tötet, seine völlige Empathielosigkeit zu begreifen und damit zum Teil zu verurteilen. Die lange Wechsel-Szene mit Bejos Attentäterbande kann dagegen durch ihren Comic-Schurkenstatus und die geschickte Verbindung der Szenen durch Schnitte in all ihrer Brutalität auch auf einer Metaebene genossen werden, die nicht echte, sondern Filmgewalt zelebriert. Sie triumphieren wie Helden über unterlegene (nicht ausgelieferte) Gegner und der Zuschauer wird unbesiegbar/unsterblich mit ihnen, ganz gleich auf welcher Seite sie stehen. Rama hat aber noch Gutes in sich, wird bereits zu Beginn als Familienvater eingeführt und eröffnet mit guten Absichten und bösen Handlungen eine moralische Ebene. Trotz aller die Narration überschreitenden Gewaltexzesse bleibt so in THE RAID 2: BERANDAL insgesamt noch bedingt eine Ordnung von gut und böse erhalten.

699 Ausgenommen ist hier ein Publikum, das empathielos jegliche Gewalt bejubelt und gerade diese Steigerung sucht.

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Der russisch-amerikanische HARDCORE HENRY wird dagegen, seinem Titel entsprechend, zu einem einzigen Overkill. Bereits der Vorspann kündigt, begleitet von den Credits, äußerste Brutalität an. Kontrastierend zu poppiger Musik präsentieren rotgefärbte Bilder extrem gewalttätige Morde in Bildausschnitten, so eine Faust, die in Zeitlupe auf ein Gesicht trifft, eine Waffe, die jemandem in den Bauch schießt, ein Kopf mit Helm, der von einer Pistolenkugel getroffen wird, ein Ziegelstein, der einen Kopf einschlägt, eine zerbrochene Flasche, die jemandem in den Bauch gestoßen wird und ein Messer, das jemandem durch den Hals gestochen wird. Zuletzt ist man recht orientierungslos mit einem Bild konfrontiert, das Wasser und einen Körper darin erahnen lässt. Das Wasser wird von einer Krankenschwester abgelassen, der Rotfilter verschwindet und man findet sich im Körper eines Mannes in Unterwäsche mit Tätowierungen wieder, der eben erwacht zu sein scheint, Henry (TC 00:01:40- 00:05:00). Komplett aus der Ego-Perspektive Henrys gefilmt erfährt man nun nacheinander, dass ihm ein Bein, ein Arm, die Stimme und sein Gedächtnis abhanden gekommen sind. Eine Wissenschaftlerin (Haley Bennett) verschafft ihm mit Hilfe eines Roboterarms Prothesen und macht Henry damit zum Cyborg, wie der Film ihn zu einer Prothese des Zuschauers macht, der ebenfalls nichts über Henrys Vergangenheit weiß oder im Film eine eigene Stimme hätte. Zuletzt gibt die Wissenschaftlerin sich als Estelle, Henrys Frau, zu erkennen und versichert ihn ihrer Liebe. Er bekommt einen Ehering, Kleidung und trifft mit Estelle in einem anschließenden Raum auf weitere Wissenschaftler (TC 00:05:01-00:08:35). Deren Versuch Henry ein Stimmmodul zu geben, wird vom Eintreffen des hellblonden Schurken Akan (Danila Kozlovsky) gestört, der als Telekinet einen Wissenschaftler in der Luft schwebend ermordet. Henry und Estelle können jedoch fliehen. Auf der Flucht entpuppt sich das Labor als Luftschiff, dem Henry und Estelle mit einer Kapsel entkommen können. So erreicht Henry Moskau unsanft vom Himmel auf eine Straße fallend, wie ein Engel (TC 00:08:36-00:13:54). Seine Wiedergeburt auf der Erde als Menschmaschine gönnt ihm aber keine Pause. Er wird sofort von Söldnern Akans angegriffen und dabei von Estelle getrennt, auf seiner schnellen Flucht sieht man durch die Ego-Perspektive der Kamera, wie vor dem Spiegelstadium Lacans, immer nur Ausschnitte seines Körpers der ständig fällt und aufschlägt, was eine Orientierung erschwert, aber Henrys eigenem Unverständnis der Lage entspricht, der keine Zeit hat die Geschehnisse einzuordnen. Er trifft auf einen Mann, Jimmy (Sharito Copley), der ihm helfen will, indem er ihn in seinem Auto mit in sein Labor nimmt (TC 00:13:55-00:18:20). Kurz darauf wird Jimmy allerdings erschossen, nur um Henry wieder und wieder zu begegnen und immer wieder zu sterben. In einer späteren Szene wird sich aufklären, dass der Original-Jimmy ein Wissenschaftler im Rollstuhl ist, der von dort aus über eine Virtual-Reality-Brille verschiedene Avatare von sich steuert (TC 00:55:21-01:00:19). Ebenso scheint man Henry wie durch eine Virtual Reality Brille zu steuern, auch wenn man nicht wirklich ins Geschehen eingreifen kann. Die vielen Jimmys und ihre Tode schaffen einen humorvollen Bezug zu (wiederholbaren) Filmtoden an sich und der Künstlichkeit und Austauschbarkeit der Figuren. In weiteren Verlauf folgt Henry Jimmys Aufträgen und versucht seine Frau Estelle zu retten. HARDCORE HENRY nimmt sich von Anfang an nicht ernst und will nicht realistisch sein, er thematisiert eher als Vorstufe zu Virtual Reality-Erlebnissen, wie der Film die Realität überbieten kann, auch im Erleben gewaltsamer Tötungen: So schießt Henry

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von Rockmusik begleitet vom Beifahrersitz eines Motorrads aus mit einem Maschinengewehr auf gegnerische Transporter, die sogleich explodieren. Jimmy und er fahren mit dem Motorrad durch einen Transporter und zermalmen die Insassen und im Vorbeifahren erschossene Gegner hängen blutig aus dem Fenster. Henry springt auf einen der Transporter und wirft eine Handgranate ins Schiebedach. Die Explosion tötet die Insassen, Henry aber wird davon meterweit in die Luft geschleudert, nur um punktgenau auf dem Fahrersitz hinter einer verbündeten Motorradfahrerin zu landen, die kurz darauf wieder gerammt wird (TC 00:43:36-00:51:39). Problematisch wird dieser spielerische Umgang mit Gewalt und Tod, da der Zuschauer dabei stets Henrys Perspektive einnimmt, also gleichermaßen mit ihm mordet. So sehen Henry und Jimmy in einem Rohbau mehrere Polizisten, die eine schreiende Frau zum Oralsex zwingen wollen. Einer hat bereits die Hosen heruntergelassen. Jimmy sagt Henry, er solle sich nicht einmischen und warten bis sie gehen, aber Henry, der ›gute Protagonist‹ greift sich einen Stein als Waffe. Einer der Männer sieht ihn und kommt auf ihn/den Zuschauer zu, dann ein weiterer, Henry schlägt beide nieder. Zuletzt zerquetscht er dem mit der heruntergelassenen Hose mit übertriebener Gewalt die Hoden. Begleitet von einem matschigen Geräusch tritt Blut hervor. Henry schiebt ihm eine lange Stange in den Rachen als Rache für sein Vorhaben und tötet ihn so. Die Frau sieht fassungslos zu. Die verbliebenen zwei Männer werden von Jimmy erschossen (TC 00:53:58-00:54:51). Dies trifft den pubertären Humor von HARDCORE HENRY und entspricht erneut einem comichaften Umgang mit Gewalt, der diese verherrlicht. Ein kritischeres Publikum kann einen Gefallen daran nicht teilen. Ziel des Films ist es, Tabus zu brechen und Tötungen in einem möglichst umfassenden Ausmaß zu präsentieren bzw. das Publikum durch die aus Computerspielen bekannte Ego-Perspektive möglichst direkt daran zu beteiligen. Er relativiert das Übermaß an Brutalität aber wieder, indem er die Gegner zu Menschmaschinen macht, die zwar zur Freude am Gemetzel bluten wie Menschen, deren Innenleben aber Kabel und Maschinenteile offenbart. Insgesamt lässt er Parallelen zum low-budget B-Movie Horrorfilm, wie auch Zombiefilm erkennen. Die Gewalt der Tötungen wird damit so überbordend, dass sie häufig ins Unrealistische oder Groteske kippt, die Echtheit und Nähe suggerierende Ego-Perspektive schränkt letztendlich das Sichtfeld ein und verstärkt noch die Künstlichkeit. Gegen Ende des Films geht auf einem Dach eine Masse weißgekleideter Cyborgs auf Henry los. Es kommt zu einem weiteren schnellen Schlagabtausch. Akan ist ebenfalls da, aber für Henry nicht zu erreichen, da er ihn als Telekinet einfach mit einer Handbewegung wegschleudern kann. Eine Unmenge von Gegnern greift Henry/den Zuschauer an. Als er einen Schraubenzieher findet, rammt er diesen einem Gegner brutal in den Bauch und ins Gesicht. Die Cyborgs versuchen weiter an ihn heran zu kommen und wie in einem Zombiefilm verbarrikadiert er sich in einem Raum, in den sie dann aber ebenfalls eindringen. Blut spritzt an die Wände. Im Kampf schießt er einem Mann mit einer Pumpgun die obere Hälfte seines Körpers weg, was erneut Kabel erkennen lässt. Bereits am Boden liegend stehen die Männer schließlich auf Geheiß Akans wieder auf, langsam, schwerfällig, blutig wie Zombies. Henry rammt sich zwei Spritzen mit Adrenalin in die Oberschenkel und der Kampf geht zu Queens Don’t stop me now weiter. Dabei schlägt er das Gesicht eines Gegners gegen eine Wand und reißt es nach unten, so dass eine blutige Spur zurückbleibt, bricht einem anderen beide Arme an einer Stange und setzt einen Dritten in Flammen. Einen Vierten

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stößt er in einen riesigen Ventilator, der ihn Blutfontänen spritzend zerhäckselt. Doch gegen Akan hat er noch immer keine Chance. Der lässt ihn über sich schweben und dann mit voller Wucht auf den Boden fallen. Es folgt eine Schwarzblende (TC 01:18:01-01:23:39). Nachdem Henry erfahren hat, dass seine vermeintliche Frau Estelle und Akan gemeinsame Sache machen, wird er noch brutaler. Henry reißt die Hand Akans in der Mitte auseinander, dieser schreit vor Schmerzen. Als er nach oben entschwebt, umgeben von schwebenden Leichen, nutzt Henry diese als Treppe, hält sich an Akan fest und schlägt ihm dabei wiederholt ins Gesicht. Unten schreit Estelle er solle aufhören. Das Bild teilt sich ähnlich einem Splitscreen in der Mitte und doppelt die Szene, als Henry einen Draht um den Kopf Akans, dessen geöffneten Mund, herumwickelt. So zerteilt er mit großer Kraft den Kopf am Kiefer. Nun springt er in einen neben dem Dach schwebenden Helikopter, in dem sich Estelle befindet. Sie schreit Henry an wo Akan sei und der präsentiert ihr dessen halben Kopf. Sie weicht ungläubig davor zurück. Dann schießt sie auf Henry, die Kugel prallt aber an seiner Prothese ab und trifft sie selbst. Strauchelnd fällt sie aus dem Helicopter und kann sich gerade noch an der Luke festhalten. Obwohl sie ihn anfleht, schließt Henry die Tür, zerquetscht ihr die Hände und man hört sie in den Tod fallen (TC 01:26:11-01:29:01). Auf gewisse Weise ist HARDCORE HENRY damit schlimmer als die Folterungen im New Extremity Horrorfilm. Es gibt keine Seiten von gut und böse mehr, Gewalt wird in keiner Weise in Frage gestellt und der Kodex des Guten, dem Henry zunächst noch folgt, hält ihn weder davon ab, böse zu handeln, wie im Falle des Polizisten, dessen Hoden er zerquetscht, noch hält er die gute Position durch, er tötet die Frau, die er die ganze Zeit über für seine Ehefrau gehalten hat ohne Reue. Dem Tod kommt das Publikum anhand einer Überzahl an Tötungen, dazu in Ego-Perspektive, extrem nah. Der comichafte Umgang damit löst dies aber zum Teil wieder auf, so durch die aufwiegelnde musikalische Untermalung, den ewig wiederkehrenden, fröhlichen Jimmy in seinen Rollen als Obdachloser, Kiffer, Soldat und Punk sowie die übermenschlichen Gegner als Cyborgs oder den Telekineten Akan. Diesen unterschiedlichen Umgang mit Gewalt bestätigt auch Quentin Tarantino in einem Interview: »There are two kinds of violence. First, there’s cartoon violence like Lethal Weapon. There’s nothing wrong with that. I’m not ragging on that. But my kind of violence is tougher, rougher, more disturbing. It gets under your skin. Go to a video store, to the horror section or the actionadventure section, nine out of ten of the films you get there are going to be more graphically violent than my movie, but I’m trying to be disturbing. What’s going on is happening to real human beings. There are ramifications to it.«700

Ein Zuviel an Gewalt und Special Effects kann demnach zum gegenteiligen Ergebnis führen und das Publikum nicht weiter somatisch ans Geschehen anbinden, sondern davon distanzieren, was einer möglichen Todeserfahrung entgegensteht. Der Tod im Actionfilm der 2000er, so hat dieses Kapitel gezeigt, wird damit teilweise realistischer als noch im 1980er Actionfilm, insofern er deutlicher ins Bild wandert 700 Brunette, Peter: »Interview with Quentin Tarantiono, 1992«, in: Peary, Gerald (Hg.), Quentin Tarantino: Interviews, Jackson: University Press of Mississippi 1998, S. 30-34, hier S. 33.

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und man Protonist wie Antagonisten leiden und sterben sieht. Dies macht ihr Leiden und Sterben somatisch erfahrbar, wenn auch nur in kurzen Schockmomenten der Schlagabtausche. Überbordende Gewalt und Special Effects können diesen Realismus aber auch wieder stören. Der Actionfilm will sich auch heute, wo die frühere klare Opposition von Gut und Böse häufiger in Frage gestellt wird, nicht völlig von seinen Spektakeln und schnelllebigen Bildern lösen, die teils leichtfüßig auch über extreme Gewaltakte hinweggehen. Die reine Geschwindigkeit ermöglicht eine somatische Erfahrung des gewaltsamen Todes, die dem Publikum ein triumphierendes, kein knappes Überleben suggeriert, wie im Horrorfilm. Statt eine Öffnung für ernste Fragestellungen zu echter Gewalt, gut und böse, anzunehmen, wie es etwa RAMBO vorgibt, kann man in der Verlagerung der brutalen Tötungen in die Bildebene deshalb auch eine Strategie sehen, die Zuschauerbeteiligung zu erhalten. Was in den Filmbeispielen der 2000er nach wie vor besteht, ist ein grundlegender Aufbau, der bereits für den Actionfilm der 1980er galt. Michele Aaron dazu: »What action films share, and what makes them so popular and in such primal terms, is the thrill of showing one individual or group pitted against another individual or group or, as in the sci-fi action movie, against some external threat to his or her existence. This is our modern coliseum. ›Life or death‹ is invariably what is at stake in this pitting, and what makes it so thrilling.«701 Entsprechend muss die Darstellung von Gewalt in heutigen Produktionen immer wieder gesteigert werden,702 um die Erfahrung von Todesnähe als ›Thrill‹ in den Kämpfen um Leben und Tod weiterhin zu ermöglichen. Ebenso entwickeln sich die Special Effect stetig weiter und übertreffen das Vorangegangene. Dies garantiert eine somatische Adressierung des Publikums über Inhalte hinaus und kann als Mehrwert in sich angesehen werden kann. Thomas Morsch hierzu:

701 Aaron, Michele: Death And The Moving Image. Ideology, Iconography and I, Edinburgh: Edinburgh University Press 2014, S. 25. 702 Die Analyse The Continuing Rise of Gun Violence in PG-13 Movies, 1985 to 2015 bestätigt diese stetige Steigerung der Gewaltdarstellungen in Filmen. Je nach Zugangseinschränkungen für Kinder unter 13 bzw. über 17 Jahren sind dabei die Konsequenzen der Gewalt – Verwundungen und Leid – eher ausgespart oder stärker sichtbar: »In a 2013 issue of Pediatrics, we reported that portrayals of gun violence in top-grossing PG-13 movies had more than doubled since 1985, the first full year of the PG-13 category. Indeed, such depictions were even more frequent in 2012 PG-13 films than in those rated restricted to age 17 years and older unless accompanied by an adult (R). What increasingly differentiates the instances of gun violence in PG-13 films from those rated R is not only the higher frequency in the PG-13 category but also these films’ erasure of the consequences (eg, blood and suffering) and greater likelihood that the violence will be perpetrated by or on comic book– inspired heroes and antiheroes (eg, Batman, Avengers, and X-Men). As the director of the Motion Picture Association of America’s ratings board told a journalist,2 it deems violence by such comic book figures as ›representing a less realistic kind of violence that’s neither graphic nor brutal,‹ and hence by implication less harmful to children than the violence in R-rated films.« Romer, Daniel/Jamieson, Patrick E./Hall Jamieson, Kathelyn: »The Continuing Rise of Gun Violence in PG-13 Movies, 1985 to 2015«, in: Pediatrics, Vol. 139, Nr. 2 (2017), DOI: 10.1542/peds.2016-2891

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»Die ständige technische Überbietung des Vorangegangenen gehört zum Actionkino untrennbar hinzu, so dass sich auf diesem Feld entscheidende technische Innovationen des Mediums vollziehen. Bewegung und Geschwindigkeit als visuelle Motive des Actionfilms werden wesentlich durch die Special Effects-Technologien erzeugt. Sie bilden die zeitgenössische Form der Attraktionen des frühen Kinos, insofern sie den Film in ein Spektakel transformieren und selbst zum bestaunten Spektakel geworden sind. Abseits der Fiktionswelten, die durch sie ermöglicht werden, liegt in ihnen eine eigenständige technische Faszination. Indem sie das Augenmerk des Zuschauers auf die technische Performativität des Films lenken, bringen sie die visuellen, auditiven und kinästhetischen Bedingungen des Kinos selber in den Blick. Durch sie gelangen die filmischen Prinzipien der Wahrnehmung ins Bewusstsein, weil sie die filmische Wahrnehmung nicht als natürliche camouflieren, sondern ihre Technizität als Faszinosum ausstellen.«703

So finden die Kämpfe um Leben und Tod heute teilweise außerhalb der Kategorien von Gut und Böse statt, wo auch ›böse Gewalt‹ als aufrüttelnde, erstaunende und erhebende Erfahrung vom Publikum genossen werden kann. Alle hier behandelten Filme konnten mit einem Übermaß an Gewalt aufwarten, das teilweise Tötungen zelebriert und für ein Publikum hautnah erfahrbar macht. Doch die Inszenierung bzw. narrative Rahmung sorgt nach wie vor für die nötige Orientierung und so kann ein Film wie RAMBO sich nie gänzlich aus seiner ideologischen Perspektive auf den guten amerikanischen Helden befreien, obgleich er eine realistische Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg in Myanmar sucht. Die ausführlich geschilderten Gräueltaten der Regierungstruppen gegen Unschuldige rechtfertigen gerade noch die blutige Gegengewalt Rambos und seiner Mitstreiter, die sich nicht anders zu helfen wissen. Der Missionarin Sarah folgend, die sich mehrfach im Film von der Gewalt abwendet oder auch ihrem Verlobten Michael folgend, der sich zu einem Teil der tödlichen Gewalt um ihn wandelt, lässt sich ein etwaiger Genuss an der abschließenden Gewaltorgie gegen die Regierungstruppen dennoch kritisch reflektieren. Täter und Opfer, Recht und Unrecht, verschwimmen in jedem Fall während der Rezeption und dies wird am Zuschauerleib nachvollzogen. HARDCORE HENRY schießt sozusagen über das Ziel hinaus, indem seine Spektakel überhandnehmen und er fast ausschließlich aus Sequenzen besteht, die jenseits von gut und böse somatische Eindrücklichkeit vermitteln sollen. Eine Multiperspektivität auf den Tod wird in HARDCORE HENRY durch den Einsatz der Kamera, die sich nie von Henrys Perspektive löst, aufgehoben. Auch wenn die Ego-Perspektive unnatürlich sperrig wirkt, häufig eine Orientierung erschwert und die Rezeption anstrengend macht, bleibt eine somatische Ebene erhalten, wenn Gegner so direkt auf Henry/die Kamera/den Zuschauer zukommen und er sich schlagend zur Wehr setzt. Das Übermaß an Effekten und Brutalität führt aber insgesamt eher zu einer Abstumpfung gegen die Flut an Eindrücken. Eine Annäherung an eine Todeserfahrung ist damit bedingt möglich, aber weder kann man weiterführende Erkenntnisse zu gut und böse, Leben und Tod, davontragen, wie in RAMBO, noch sich reuelos einem Bilderrausch von Tötungen hingeben und dann wieder mit Moral konfrontiert werden, wie in THE RAID 2: BERANDAL, da das beinahe völlige Fehlen einer narrativen Rahmung keinen zeitweiligen Exzess mehr darstellt, sondern in der beständigen Überflutung die Immersion stört.

703 Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 223.

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Die Gewalttätigkeit der Tötungen in THE RAID 2: BERANDAL lässt sich, wie bei RAMBO, in Szenen in denen als positiv konnotierte Figuren um ihr eigenes Leben und für eine gute Sache kämpfen, wenn auch schwerer als im 1980er Actionfilm, noch bedingt rechtfertigen. Leicht entgleitet ihnen dabei aber die Kontrolle und sie handeln, moralisch fragwürdig, ›böser‹ als es für eine reine Notwehr nötig wäre, was auch direkt im Film thematisiert wird, indem Rama etwa mehrmals verstört über sein eigenes Vorgehen ist. Es wird klar, dass er nach seinen Erlebnissen nie mehr derselbe sein wird und nicht unbeschadet wieder in sein altes Leben als Familienvater zurückgehen kann. Ein Teil von ihm ist, sichtbar vor dem Zuschauer ablaufend, gestorben. Freier von diesen beschwerlichen Untertönen werden die Tötungen dort, wo sie von ohnehin bösen Figuren ausgeführt werden, die von keinen Gewissensbissen geplagt werden. Dies wird durch ihren comicartigen Status als Superbösewichte unterstützt, die sie artifiziell erscheinen lassen. Sie feiern Gewalt an sich, führen wie im Slasherfilm verschiedene Tötungsvarianten vor und bieten dem Zuschauer auf somatischer Ebene eine hohe Anteilnahme am Geschehen, bei der er ohne seine Positionierung in klare Kategorien von Gut und Böse zwar keine Sicherheit und Ordnung mehr findet, dafür aber einen noch stärkeren Bilderrausch. Dort wo die Gewalt nicht mehr gerechtfertigt werden muss, kann das Publikum den Tod ungehindert als Bombardement blutiger Tötungen erleben, als körperliche Erschütterung, eine jouissance, die nichts weiter aussagen will, sondern die momentan erfahren wird. Der Genuss an der Teilhabe an den Körpern auf der Leinwand löst sich damit von dem an den Hard Bodies der 1980er Jahre mit ihrer eindeutigen Rolle in der filmischen Welt, obwohl es auch noch immer Produktionen gibt, die genau diesem Muster folgen. In den behandelten Filmbeispielen handelt es sich eher um eine Befreiung des eigenen erfahrenden Körpers in der Unsicherheit der Verhältnisse – nun kann man auch kurzweilig reuelos auf der Seite des Bösen stehen, obwohl oder gerade weil man Tötungen sieht – als eine immerwährende Bestätigung und Sicherheit im guten, starken Heldenkörper. In der Verunsicherung durch das Filmgeschehen, die alte Strukturen aufbricht, wird so eine körperliche Nähe zum gewaltsamen Tod als ein ›Thrill‹ generiert, der nur jenseits dieser Ordnung zu finden ist. Bedingt bleiben Moralvorstellungen aber noch immer erhalten und werden auch narrativ in den Filmen thematisiert. Während in diesem Kapitel Gruppierungen und die Kategorien von Gut und Böse, Wir und die Anderen, innen und außen, im Vordergrund standen, sollen die folgenden Kapitel, zu Drama, die Unterschiede zwischen Menschen bzw. Körpern klarer hervorheben, das Individuum, das für die Gesellschaft für Andersartigkeit gewaltsam bis zum Tod bestraft wird oder sich gerade durch Gewalt, Selbstbestrafung, zur Wehr setzt. 3.3.4 Drama und Gewalt als Strafe 3.3.4.1 Drama der 1990er und Strafe von außen Anders als der Actionfilm der 1980er, der Antagonisten zu einer ununterscheidbaren Masse vereinheitlicht, deren Tod man nicht betrauern muss, zeichnet das Drama der

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1990er seine Figuren differenzierter. Es bezieht sich auf reale Ereignisse, Problematiken in der Gesellschaft und Unterschieden in Körpern,704 sei es in der Ethnie oder sexuellen Orientierung: Die Filmbeispiele in diesem Kapitel, AMERICAN HISTORY X und BOYS DON’T CRY, stellen Gesellschaftsstudien ihrer Zeit dar und befassen sich mit Rassismus bzw. Homophobie. Die Handlung ist jeweils entsprechend komplexer als beim Slasherfilm der 1970er oder Actionfilm der 1980er und insbesondere die Positionen der Täter sind nicht mehr eindeutig als rein böse bestimmt. Noch immer handeln sie gewaltsam und aus Sicht des Publikums moralisch eindeutig falsch, aber nun werden auch, zumindest indirekt, ihre Schwächen, Ängste und Beweggründe aufgezeigt. Die Todesbedrohung liegt hier jeweils in einem Abweichen von der Norm, das Strafe nach sich zieht. Die Killer gefährden nicht mehr die (symbolische) Ordnung, wie im Slasherfilm, als ihr nicht zugehöriges Filmmonster, sondern wollen sie in gewisser Weise gerade erhalten, auch wenn das Publikum dies nicht goutiert. Dies ergänzend bzw. damit kontrastierend, wird der 2002 entstandene französische IRRÉVERSIBLE diskutiert, als Vertreter des New Extremity Kinos, der sich wiederum durch ausgeprägtere Gewaltszenen auszeichnet und auch den Körper des Zuschauers direkter adressiert als die anderen beiden Filmbeispiele, um seine Botschaft zu vermitteln. Entsprechend scheint bei einigen Filmemachern, anders als bei Naishullers HARDCORE HENRY, das Bedürfnis zu bestehen, dem Publikum zumindest teilweise etwas Echtes zu vermitteln, nicht nur Gewalt- und Tötungs-Spektakel. Die verstörende, aufrüttelnde Rezeption, begleitet von Angst, Ekel und Unwohlsein ist, wie schon beim New Extremity Horrorfilm, eng gebunden an den Zuschauerkörper und soll dabei gezielt mehrdeutig bleiben. Henry Bacon führt aus: »The question of sadomasochism connects both with the story world content and the way the spectator is treated. In the best cases, this parallelism leads the spectator to question the sensations the film evokes in him or her, but it can also be ruthlessly used in justifying the public screening of this kind of material by claiming that only through a degree of our own emotional experience can we come to truly understand this kind of phenomena.«705 Dieser Argumentationslinie ist auch THE PASSION OF THE CHRIST gefolgt, dessen Regisseur davon ausgeht, nur mit der expliziten Darbietung der Folter bis zum Tod einem heutigen Publikum seine Botschaft vermitteln zu können.706 Das Publikum wird in diesem Sinne wie im Exploitationsfilm benutzt. Nur durch die ungeschönte, überbordende Gewalt filmischer Folter und Tötungen, die diese vorführt und damit glorifiziert, kann demnach eine gleichermaßen überwältigende somatische Anteilnahme und damit ein körperliches, wie auch weiterführend kognitives, Verstehen gewährleistet werden. Nur durch den sadistischen Blick, kann ein empathischer oder masochistischer körperlicher Nachvollzug eingeführt werden, was das New Extremity Genre in vielen Augen verwerflich macht. Im Fokus der folgenden Untersuchung stehen Vergewaltigungen. Diese enden in den genannten Filmbeispielen nicht immer 704 »[...] themes represented in modern drama include modern concerns: anxiety (angst), alienation, self-doubt, gender and racial issues, atomic war, globalization of economies, the effects of transmitted diseases, recognition of minorities (such as gays and lesbians) and many more.« Santas, Constantine: Responding to Film, S. 31. 705 Bacon, Henry: The Fascination of Film Violence, S. 117/118. 706 Vgl. Kapitel 3.1.4

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im Tod der Opfer, stellen aber eine Ersatztötung dar. Die Körper der Opfer werden als von der Norm abweichend in Szene gesetzt und hierfür von Vertretern dieser Norm bis hin zur Tötung brutal bestraft. AMERICAN HISTORY X – so kurz zur narrativen Ebene – erzählt abwechselnd in Schwarzweiß-Bildern für die Vergangenheit und in Farbe für die Gegenwart die Geschichte von Derek (Edward Norton), der durch die Neonazi-Szene in Los Angeles radikalisiert wird und im Gefängnis wiederum von diesen Überzeugungen abfällt. Hierbei werden seine Schwächen und Einflüsse beleuchtet, die zu seiner Haltung führen, etwa rassistische Äußerungen seines Vaters, eines Feuerwehrmanns (TC 01:34:34- 01:38:01), der zudem bei einem Einsatz durch einen Schwarzen erschossen wird (TC 00:13:39- 00:15:10). Außerdem ist der spätere Abfall von Dereks Ideologien nachvollziehbar, indem er einerseits die Heuchelei seiner rechtsradikalen Mitgefangenen, der Aryan Brotherhood erkennt, die Geschäfte mit mexikanischen Insassen macht, gegen die sie sich eigentlich stellt (TC 01:10:31-01:11:52), andererseits da er sich zunehmend mit einem schwarzen Mitgefangenen anfreundet. Seine Zugehörigkeit zu den weißen Neonazis und Abgrenzung zu anderen Gruppierungen wird dementsprechend mit der Zeit immer schwächer (TC 01:14:06-01:15:41, TC 01:16:40-01:18:33, TC 01:18:48-01:20:59 und TC 01:21:00-01:21:16). Hierfür wird er später im Film gewaltsam bestraft. Teena Brandon (Hilary Swank) in BOYS DON’T CRY identifiziert sich – einer wahren Geschichte folgend – als Mann und nimmt deshalb die Rolle eines jungen Mannes, Brandon Teena, ein. Zu Beginn des Films verändert Teena deshalb erkennbar ihren Körper: sie erhält einen Männerhaarschnitt und stopft sich die Hose mit einer Socke aus (TC 00:01:40-00:02:26). Seine neue Rolle austestend trifft er sich nun mit einer jungen Frau, die ihn für einen biologischen Mann hält (TC 00:02:27-00:04:59). Als das Umfeld der jungen Frau die wahren Umstände erfährt, verfolgt ihn jedoch eine Gruppe Männer, um ihn zu verprügeln (TC 00:05:24-00:06:38). Dies deutet bereits sein späteres Schicksal an, die Strafe für seinen Geschlechterwechsel, die letztendlich auch zu seinem Tod führen wird. Im Zentrum beider Strafen, sowohl in AMERICAN HISTORY X, als auch in BOYS DON’T CRY, steht eine Vergewaltigung als Vorstufe einer Tötung, wie auch am ausführlichsten und eindrücklichsten im 2002 entstandenen IRRÉVERSIBLE, bei dem als einziges Motiv für diese Strafe die Schönheit des Opfers Alex (Monica Bellucci) genannt wird. Zunächst soll hier nun die Inszenierung dieser Körper diskutiert werden, ehe sie jeweils einer strafenden Gewalt ausgesetzt werden: Die narrative Ebene von AMERICAN HISTORY X wird durch die Inszenierung von Dereks Körper und sein gewalttätiges Handeln komplementiert. In der somatisch eindrücklichsten Gewaltszene im Film, für die dieser berühmt wurde, zwingt Derek einen Schwarzen sich mit geöffnetem Mund über einen Bordstein zu legen. Man sieht die Zähne des Mannes in Nahaufnahme auf der Bordsteinkante aufliegen, dann die Bewegung von Dereks Fuß – und obwohl der eigentliche Höhepunkt der Tötung ausgespart wird und man den Mann zuletzt nur regungslos daliegen sieht, vervollständigt man kognitiv das Geschehen und kann dieses somit unmittelbar somatisch mitfühlen. Ohne Reue spuckt Derek auf ihn, als die Polizei angefahren kommt und lässt sich, erst überlegen lächelnd, dann ernst, Handschellen anlegen. Dabei präsentiert er mit freiem Oberkörper eine Hakenkreuz-Tätowierung über dem Herzen und Choräle ertönen, die seinen falschen Heroismus und die Dramatik der Szene unterstreichen (TC 00:51:2400:53:42, Abbildung 19)

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Abbildung 19: Verhaftung Dereks

Quelle: AMERICAN HISTORY X, TC 00:53:09, New Line Productions, Inc.

AMERICAN HISTORY X, so lässt sich hier bereits erkennen, verhandelt insgesamt auch Konzepte von Männlichkeit. Die Szene bündelt die gesamte Identität Dereks, zum einen performativ, indem seine Überzeugungen sich in einer Tötung mit exzessiver, reueloser Gewalt entladen, zum anderen bildsemiotisch, durch sein am überlegenen Heldenkörper ablesbares Selbstbewusstsein. Der schockierende, somatisch nachfühlbare Tötungsakt und der glorifizierend inszenierte Körper stehen dabei für den Zuschauer als Zeugen – anders als in der Darstellung der 1980er Actionhelden – im Kontrast zueinander und wirken damit dissonant. Auch die Tätowierungen spielen, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie werden in anderen Szenen erneut aufgegriffen und unterstreichen, wenn auch dauerhaft in seinen Körper eingeschrieben, die Fragilität von Dereks Identität: Bei einer Diskussion beim Essen im Kreis der Familie wiegelt sich Derek immer weiter auf und wird zuletzt zu einer physischen Bedrohung für seine Geschwister, da er sich selbst kaum beherrschen kann. Hier sieht man seine D.O.C.-Tätowierung, die seine Zugehörigkeit zur fiktiven Neonazi-Gruppe Disciples of Christ707 zeigt (TC 00:39:00-00:46:42). Sein jüngerer Bruder Danny (Edward Furlong) lässt sich dieselbe Tätowierung stechen als er in die Gruppe aufgenommen wird. Im Gefängnis sucht Derek als Neuzugang Anschluss und findet ihn in der Aryan Brotherhood, indem er vor einer Gruppe schwarzer Gefangener demonstrativ sein T-Shirt auszieht, um beim Gewichtestemmen sein Hakenkreuz-Tattoo zu präsentieren (TC 01:07:13-01:08:12). Zuletzt jedoch, von der Aryan Brotherhood in der Dusche brutal vergewaltigt und zusammengeschlagen, weil er sich von ihr abgewandt und den Schwarzen zugewandt hat, liegt er bewusstlos auf dem Boden und Nahaufnahmen von seinem White PowerTattoo, sowie Reichsadler und Swastika wirken wie blanker Hohn (TC 01:21:1601:22:46). Dies steht im Kontrast zur heroischen Szene nach Dereks eigenem Gewaltakt, wo er stolz den mit Nazisymbolen tätowierten Körper präsentierte. Der semiotische Körper Dereks bietet damit eine die reine Narration überschreitende Mehrinformation, noch ohne – anders als sein Opfer zu Beginn des Films– dem Publikum einen direkten somatischen Zugang zu gewähren.

707 Echte Neonazis werden die fiktive Film-Tätowierung später kopieren. Vgl. o. A.: Symbol Guide for Law Enforcement, Hate Symbols, http://www.adl.org/mobilehatesymbols/acronym-7.html (Abgerufen 24.01.2019).

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Brandon in BOYS DON’T CRY tritt in einer amerikanischen Kleinstadt als Mann auf, hat aber keine Geschlechtsumwandlung oder Hormontherapie begonnen. Das Austesten von Geschlechterrollen wird abermals direkt am Körper ablesbar. Dies geschieht bildsemiotisch etwa zu Beginn des Films in der Selbstbetrachtung Brandons im Spiegel, die sich analog zum Spiegelstadium Lacans deuten lässt. Hier ergründet er als Cowboy gekleidet, dem Inbegriff von Männlichkeit, seine neue Identität als Mann (TC 00:02:25-00:02:28). Performativ zeigt es sich etwa durch typisch männliches, waghalsiges Verhalten beim ›Surfen‹ auf der Ladefläche eines fahrenden Trucks (TC 00:18:12-00:21:02). Insgesamt bedient Brandon aber ein anderes Bild von Männlichkeit als die anderen, eher derben Vorstadt-Männer, indem er etwa seine spätere Freundin Lana (Chloë Sevigny) wie ein Gentleman nach Hause begleitet und ihr einen Ring schenkt (TC 00:26:02-00:29:04) oder ihrer Mutter Frühstück macht (TC 01:07:14-01:07:20). Judith Halberstam bemerkt in In a Queer Time & Place auch über den echten Brandon Teena und dessen Verschleierung seines biologischen Körpers vor einer früheren Freundin: »[...] unlike other guys, [he] lived up to her romantic notion of masculinity. When [he] told [her] he was a ›hermaphrodite‹, she was satisfied with this explanation of his bodily difference, not because she was stupid, but precisely because she was satisfied with [his] performance of masculinity.«708 Die Geschlechterrolle übersteigt hier das biologische Geschlecht – was der Körper performativ tut, ist entscheidender als der Körper selbst. Dem performativen Erzeugen von Männlichkeit gegenüber steht eine spätere Szene im Film, in der Brandon nach dem Duschen das Handtuch um den Oberkörper schlingt, wie es für Frauen typisch ist, um die Brust zu verdecken. Er benutzt einen Tampon, weil er gegen seinen biologischen Körper nichts ausrichten kann, verleugnet diesen weiblichen Körper aber gleich im Anschluss, indem er die Brüste abbindet, eine Männerunterhose anzieht und vor dem Spiegel stehend mit einer Socke ausstopft, um sich erneut selbst als Mann zu bewundern (TC 00:31:16-00:32:26). Neben diesen Wandlungen des Körpers ›als Bild‹ und Identität generierenden performativen Akten gibt es mehrere Szenen, die den schmächtigen, ein anderes biologisches Geschlecht fingierenden Körper Brandons für den Zuschauer fühlbar in Lebensgefahr präsentieren. Der eifersüchtige John (Peter Sarsgaard), einer seiner späteren Mörder, setzt sich neben den kleineren Brandon und nimmt ihn kumpelhaft in den Arm, droht ihm aber gleichzeitig verbal, so dass die körperliche Nähe zum Akt der Einschüchterung wird (TC 01:04:18-01:05:10). Nach einer Polizeikontrolle, an der John Schuld hat, wird dieser unverhältnismäßig wütend und zieht Brandon aus dem Auto, weil dieser ihm widersprochen hat. Als John mit Lana und ihrer Freundin weggefahren ist und die anderen zurückgelassen hat, lässt sein Freund Tom (Brendan Sexton III) Brandon wissen, John habe keine Impulskontrolle. Direkt im Anschluss, Brandon ist nun alleine mit Tom, stellt dieser seine Männlichkeit – wie auch seine instabile Persönlichkeit – unter Beweis, indem er seine Hand in Feuer hält und Brandon fragt, ob er das schon einmal getan habe. Er sagt, er verletze sich manchmal selbst mit einem Messer, wie auch John, um Kontrolle zurückzugewinnen und führt eine Narbe vor. Er könne sich tiefer schneiden als John. Schmerzresistenz und furchtlose Todesnähe werden so zum Beweis überlegener Männlichkeit, wie schon im Actionfilm. Tom fordert Brandon auf, es ihm gleich zu tun. Dieser entgegnet beschwichtigend, er sei 708 Halberstam, Judith: In a Queer Time & Place, S. 64.

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eine ›Pussy‹ im Vergleich zu ihm, woraufhin Tom sehr ernst wird und ihn drohend schubst, dann aber lacht und meint, er mache nur Witze (TC 00:42:32-00:47:00). All dies kündigt bereits an, in welch körperlicher Gefahr Brandon sich im Kreise dieser ›echten Männer‹ befindet. Dies wird sich in der späteren Vergewaltigungsszene entladen: Nachdem John und Tom Brandon im Badezimmer von Lanas Haus gewaltsam die Hose heruntergerissen haben, um sein Geschlecht zu kontrollieren – als müssten biologisches Geschlecht und Geschlechterrolle automatisch konform gehen –, fühlen sie sich belogen und zwingen auch Lana ›der Wahrheit ins Gesicht zu sehen‹ und Brandons Vagina bzw. fehlenden Penis anzuerkennen. Die Inszenierung erinnert durch die Positionierung der Figuren und die Ausleuchtung erneut an die Kreuzigungsszene Jesu Christi.709 Lana schreit jedoch auch nach der erzwungenen Konfrontation, sie sollten ihn in Ruhe lassen (TC 01:20:59-01:24:06). Im Zuge einer anschließenden Polizeibefragung Brandons sieht man immer wieder Rückblenden zu den weiteren Ereignissen. John und Tom zerren Brandon mit sich ins Auto und fahren weg, auf einem verlassenen Fabrikgelände spricht John Brandon mit Teena an, sagt sie habe sich alles selbst eingebrockt, schlägt Brandon brutal ins Gesicht und vergewaltigt ihn auf dem Rücksitz seines Autos. Die Szene ist nur in kurzen Momentaufnahmen zu sehen, unterbrochen von der Polizeibefragung. Anschließend zieht Tom Brandon aus dem Auto, John schlägt ihm in die Magengrube, Tom wirft ihn bäuchlings über die Motorhaube und vergewaltigt ihn ebenfalls. Man sieht dabei abwechselnd die Gesichter von Tom und Brandon, ehe John Tom wegreißt und Brandon erneut ins Gesicht schlägt. Weitere Vergewaltigungen werden über Geräusche angezeigt, während die Kamera langsam vom Scheinwerfer des Autos zurückfährt. Es muss einige Zeit vergangen sein als man Brandon zusammengekauert auf dem Boden liegen sieht. Er ist gebrochen und die eigentliche Tötung vorweggenommen, die außerhalb des Bildes stattfinden wird. Die Männer fahren ihn wieder zurück in die Stadt, nun wieder freundlich und sagen, er solle ihr kleines Geheimnis bewahren (TC 01:25:02-01:31:07). Sarah Hagelin bemerkt zu dieser Szene: »[...] this scene’s ambivalent mixture of masculine endearments with threats of violence if Brandon doesn’t ›keep our little secret‹ reveals the conflicting impulses at the center of John and Tom’s self-fashioning. They must refer to Brandon as ›her‹ in order to rape and later kill him, but in order to help him back into the car, they must reclaim Brandon as ›him‹«710 Brandon wird damit für ein Abweichen von der Norm bestraft, die biologisches Geschlecht und Geschlechterrolle als untrennbar zusammengehörig bestimmt. Eine Penislosigkeit zu überspielen muss deshalb durch ›echte Männer‹, durch deren Penis, bestraft werden, die Brandon somit gewaltsam auf seinen weiblichen Körper und damit verbundene Erwartungen von Rollenbildern zurückwerfen. Halberstam dazu: »Lotter und Nissen knew on some level that the only thing that disqualified Brandon from manhood was the contradiction of his body, and while this contradiction signified no obstacle at all as far as Brandon’s girlfriends were concerned, for the men, the body must be the final arbiter of manhood because, in a sense, this is the only competition within which they can beat the version of masculinity that Brandon champions [...] The punishment, as far as they were 709 Vgl. dazu auch Halberstam, Judith: In a Queer Time & Place, S.88. 710 Hagelin, Sarah: Reel Vulnerability, S. 111.

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concerned, fit the crime inasmuch as Brandon must be properly returned to the body he denied.«711

John Lotter und Tom Nissen stellen damit gewissermaßen durch Gewalt die symbolische Ordnung wieder her, in der weibliche Körper weiblich und männliche männlich sind und nicht nur so anmuten.712 Rebecca Hanrahan bemerkt dazu in Popping it in: Gender Identity in Boys Don’t Cry: »Those in power within society are ultimately in control of its member’s gender identity, and this identity is determined by one’s position with respect to the act of penetration. Clearly this conception of gender eases the way for those in power to rape those who lack power. For it is the clearest expression of their power to define gender.«713 Von außen wird so Brandons Rolle, seine Identität, bestimmt. Diese ist eng mit dem Körper verbunden, bzw. damit, wie frei man ihn performativ ausleben kann: »To have a meaningful life, you need to be able to live in accord with your own sense of self. But your sense of self, your identity, is determined in large part by your gender. Thus, if you are forced to live a life as a gender you can’t affirm it as your own: you (like Brandon) will be hindered, if not crippled, in your ability to live a meaningful life.«714 Auch in diesem Sinne kommt bereits die Vergewaltigung einer (Identitäts-)Tötung gleich, da sie Brandon auf den Körper reduziert, zur Frau macht und ihm so seine frei bestimmbare Geschlechterrolle als Lacan’sches Subjekt in der Gesellschaft aberkennt. Später werden sie ihn wirklich töten, um ihre Tat zu vertuschen. Die beiden Gewalttäter in BOYS DON’T CRY beweisen zugleich die Fragilität ihrer eigenen männlichen Identität, die vom andersartigen Mann gefährdet wird und deshalb performativ wiederhergestellt werden muss. Die Inszenierung dieser wahren Ereignisse um die Person Brandon Teena – der gutmütige Brandon, die Liebesgeschichte mit Lana, die rohen, unkontrollierbaren Vorstadtmänner John und Tom – lässt dabei keinen Zweifel an der Kritik des Films an dieser Haltung. Die Vergewaltigung wird nicht in voller Länge angezeigt, Brandons schmerzverzerrtes Gesicht, sein hörbares Wimmern, sowie die Anstrengung und der aufgekratzte Übermut seiner Peiniger gewähren aber dennoch einen abgeschwächten somatischen Zugang. Die Aussparung der eigentlichen Tötung kann darin zu suchen sein, dass sie keine Steigerung der Grausamkeit der Vergewaltigung mehr darstellen würde. Sie bringt den Gewaltakt lediglich zu Ende, um das Opfer zum Schweigen zu bringen. Die Vergewaltigungsszene in AMERICAN HISTORY X ist ebenfalls bedingt somatisch nachvollziehbar. Man sieht, wie die Gruppe Neonazis sich Derek in der Dusche nähert, ein Wärter sich absichtlich zurückzieht und Derek mit einem Handtuch gewürgt und von einem Mann vergewaltigt wird, während die anderen ihn festhalten. Zuletzt wird sein Kopf brutal gegen die Wand geschlagen. Gegen die Übermacht der Gruppe, die ihn für ein Abweichen von ihren Normen und Ideologien – aggressiv, nicht sexuell motiviert und extrem demütigend und brutal – bestraft, ist er chancenlos. Wie Brandon in BOYS DON’T CRY kommt er nicht dem nach, was sein Körper eigentlich anzeigt: Hier geht es nicht um ein biologisches Geschlecht, sondern eine weiße Hautfarbe und 711 712 713 714

Halberstam, Judith: In a Queer Time & Place, S. 65/66. Vgl. dazu auch Koch, Angela: »Gefährdete Ordnung im Rape-Revenge-Film«, S. 186f. Hanrahan, Rebecca: » Popping it in: Gender Identity in Boys Don’t Cry«, S. 89/90. Ebd., S. 92.

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eindeutige Tätowierungen. Weil sein Handeln sich nicht mehr mit seinem bildsemiotischen Körper deckt, wird Derek, wie Brandon, durch körperliche Gewalt auf perverse Weise zurück zu diesem Körper, sozusagen seiner ursprünglichen Bestimmung, geführt. In der darauffolgenden Szene sieht man Derek auf der Krankenstation. Er ist physisch verletzt, aber noch am Leben. Sein Weinen zeigt an, dass er auch psychisch gebrochen ist (TC 01:22:46-01:23:37). Auch hier liegt demnach eine nachvollziehbare psychische statt physische Tötung vor. Diese körperliche Erfahrung markiert entsprechend den entscheidenden Wendepunkt, in dem er sich endgültig von seinen Neonaziüberzeugungen lossagt und ein neues Leben beginnt, auch wenn ihm das selbst zunächst rational noch nicht bewusst ist. Obwohl für die Aryan Brotherhood die Ordnung nun wiederhergestellt ist, der beim Gehen erkennbar eingeschränkte Derek zu ihrer Belustigung durch die brutale Strafe wieder auf seinen Platz verwiesen ist und entsprechend wieder an ihrem Tisch sitzen dürfte, meidet er sie ab da (TC 01:26:3601:27:03). Sein Leben ist gefährdet wie das Brandons. Weitere Gewaltakte oder seine Ermordung könnten folgen, wenn er sich nicht dem Willen der Mehrheit beugt, aber seine neue Überzeugung wiegt schwerer als das Wissen um die Verwundbarkeit seines Körpers. Gerade die negative körperliche Erfahrung bestätigt ihn darin, wie auch den Zuschauer, der mit einem solchen Gewaltakt nicht gerechnet hätte. Die Schilderung der Lebensumstände und anschließend die teilweise deutlich sichtbare Gewalt als Vorstufe einer Tötung, ist demnach in beiden Fällen nötig, um die Ungerechtigkeit die den Opfern widerfährt, nicht zur zu theoretisieren, sondern nachfühlbar zu machen. In Anschluss an die Blickkonstruktionen bei Laura Mulvey argumentiert Judith Halberstam bezüglich BOYS DON’T CRY: »[...] the seduction of mainstream viewers by this decidedly queer and unconventional narrative must be ascribed to the film’s ability to construct and sustain a transgender gaze. Debates about the gendered gaze in Hollywood film have subsided in recent years, and have been replaced by much more flexible conceptions of looking and imaging that account for multiple viewers and perspectives.«715 Auch wenn BOYS DON’T CRY, ebenso wie AMERICAN HISTORY X jeweils unbestreitbar Zuschauern beider Geschlechter neue Perspektiven auf Rollenverhalten, Selbstinszenierung und Beweggründe für Gewaltverbrechen bieten, wird dies, so hat sich hier gezeigt, weniger über einen veränderten Zuschauerblick auf die filmischen Ereignisse, als den Umgang mit Figurenkörpern gewährt, der diese – zumindest bedingt – auch für den Zuschauer erfahrbar macht. Der Körper wird hier jeweils bildsemiotisch, wie auch performativ, vorgeführt und man erhält somit eine Vorstellung vom Leben und der Identität der jeweiligen Figur. Obwohl man generell mit allen Sinnen am Filmgeschehen beteiligt ist, erfolgt durch besonders ›körperliche Szenen‹ zu Sexualität und/oder Gewalt und Tötungen im Sinne von Linda Williams’ body genres ein erleichterter somatischer Zugang, der dem Publikum häufig regelrecht widerfährt. Durch die dem nun derart objektivierten Körper angetane Gewalt, den strafenden Vergewaltigungsakt, der den sinnlich erfahrenden lived body betrifft und darin den äußerlich erkennbaren semiotischen Körper überschreitet – seine Oberfläche, wie das Kapitel 3.1.3 angesprochen hat – verschiebt sich der Modus der Zuschaueraufmerksamkeit stärker auf das Affektive. Mit der

715 Halberstam, Judith: In a Queer Time & Place, S. 83.

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Drastik der Darstellung steigt die Beteiligung, bis eine somatische Beteiligung der augenblicklich einzig mögliche Zugang wird. Erheblich eindeutiger – da somatisch eindrücklicher – wird dieser Zugang bei Gaspar Noés IRRÉVERSIBLE: Am Anfang des Films steht ein brutaler Tötungsakt, den man zunächst nicht nachvollziehen kann, da die Ereignisse rückwärts erzählt werden. Dies verhindert eine Bedeutungskonstitution und setzt den Fokus auf die körperliche Gewalt selbst. In dem dunklen Schwulenclub ›Rectum‹ ist Marcus (Vincent Cassel) zusammen mit seinem Begleiter Pierre (Albert Dupontel) auf der Suche nach einem gewissen Le Tenia. Im Glauben ihn gefunden zu haben, schlägt er auf einen Mann ein. Als Marcus zu unterliegen scheint, schaltet sich Pierre ein und schlägt dem Mann einen Feuerlöscher gegen den Kopf und direkt ins Gesicht. Während er auf dem Boden liegt, schlägt Pierre immer wieder mit dem Feuerlöscher zu. Man hört das dumpfe Geräusch des Aufschlags, und der Kopf des Mannes wird bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert und entstellt, während die anderen Gäste des Clubs – stellvertretend für den Filmzuschauer, aber im Kontrast zu dessen Empfindungen – unbeteiligt zusehen (TC 00:15:04- 00:24:08). Der sichtbare, extrem gewalttätige Tötungsakt wird durch die Länge der Szene und die auditiven Eindrücke noch verstärkt. Das Publikum muss die ausgeprägte Brutalität in Echtzeit bis zum Schluss miterleben. Anders als etwa die Ego-Perspektiven des Slasherfilms, ist die Kamera dabei gezielt körperlos. Sie ›fliegt‹ und dreht sich, stellt aber dennoch eine Nähe zu den agierenden Figuren her. Timothy Nicodemo erkennt hierin in Cinematography and Sensorial Assault in Gaspar Noé’s Irreversible eine indirekte Subjektivität, »[by] not witnessing the action through a character’s direct point of view, but allowing us to become close enough to the action that we are able to experience the characters’ emotions as if we were right there with them [...] In our example here, the camera does not literally become the point of view of Pierre or Marcus, or perhaps any Rectum inhabitant, but successfully emulates their states of mind through movements that blatantly violate any traditional cinematographic norm.«716 Gerade als derart körperloses Wesen, zu dem die Kamera den Zuschauer innerhalb der Diegese macht, kann eine Nähe zu den Figurenkörpern entstehen, flüchtig, da nicht an einen eindeutigen Körper gebunden. Man befindet sich irgendwo zwischen dem eigenen und den anderen Körpern, dem unkontrollierten Vorgehen Pierres und dem Leiden seines Opfers, selbst noch zu einem Zeitpunkt als das Opfer selbst die Schläge gar nicht mehr bewusst erleben kann. Im Sinne von Sobchack und Voss besteht somit eine körperliche Erfahrung zwischen dem Zuschauer und dem gesamten Filmgeschehen. In der Eindrücklichkeit der dargestellten Gewalt erkennt Nicodemo auch eine Parallele zum haptischen Filmbild bei Laura Marks:717 »Going back to Marks’s initial conception of the haptic, we can see how Noé erases the representational power of the image and privileges its material presence instead. The image is not constructed for 716 Nicodemo, Timothy: »Cinematography and Sensorial Assault in Gaspar Noé’s Irreversible«, S. 35. 717 »Haptic images do not invite identification with a figure so much as they encourage a bodily relationship between the viewer and the image [...] the desire to squeeze the sense of touch out of an audiovisual medium, and the more general desire to make images that appeal explicitly to the viewer’s body as a whole, seem to express a cultural dissatisfaction with the limits of visuality.« Marks, Laura: Touch, S. 3/4.

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contemplation and interpretation by the spectator, but instead reveals reality; the notion of ›construction‹ is dismantled for pure feeling on a physiological level, exemplifying the bodily relationship between image and spectator that Marks delineates [...]«718 Zusätzlich zu dieser visuellen Ebene wirkt die Tonebene auf den Zuschauerkörper ein. Thomas Morsch dazu: »Im ersten Teil des Films, bis zum Ende des ersten Gewaltaktes, ist das Bild mit einer sirenenartigen Klangwelle unterlegt, die einen aus House- und Techno-Musik bekannten Soundteppich mit einem Ton von 28 Hz kombiniert, ein kaum hörbarer, aber körperlich sehr wohl spürbarer Niedrigfrequenzton, ähnlich einem Ton, der auf natürliche Weise bei Erdbeben erzeugt wird und der von der französischen Polizei angeblich bereits eingesetzt wurde, um Menschenmassen aufzulösen. Eine ausreichende Technik vorausgesetzt, ist der Ton allein in der Lage, Desorientierung, Schwindel und Übelkeit im Zuschauer hervorzurufen. So erreicht der Film akustisch und visuell auf kalkulierte Weise eine spezifische körperliche Disponierung der Zuschauer, die das Fundament der Erfahrung von Irréversible bildet und die Akte der Gewalt in ihrer Wirkung potenziert. Der Film erzeugt körperlichen ›Stress‹, was die Toleranzschwelle für weitere Belastungen senkt, die Abwehrmechanismen, die von Gewaltdarstellungen oftmals hervorgerufen werden, sabotiert, und die Spielräume des eigenen Willens angesichts der von außen kommenden Bilder und Töne minimiert.«719

Während die (bild-)semiotische Ebene der Körper in AMERICAN HISTORY X und BOYS DON’T CRY noch, nah an den cues neoformalistischer Theorien, Aufschluss über die Hauptfiguren gab, wird man in IRRÉVERSIBLE schnell in die somatisch erfahrbare Ebene von Filmbild und Figurenkörpern befördert, ohne viel über die Figuren erfahren zu haben. Unmittelbares Erleben ist dabei reflektierendem kognitivem Verstehen vorangestellt, da es noch keine Möglichkeit gibt, die Ereignisse bzw. performativen Handlungen der Figuren kognitiv einzuordnen. Über haptisches Bild und fühlbaren Ton wird der gewalttätige Inhalt weniger vorgeführt als augenblicklich mitempfunden. Die Todeserfahrung entsteht demnach aus einer Kopplung von brutalem Inhalt, Inszenierung und auditiven Eindrücken, die nicht der wirklichen Teilnahme an einem Tötungsakt entspricht, aber die ursprünglich gewonnene Distanzierung durch die Leinwand so durch filmische Mittel wieder unterläuft. Im Sinne von Christiane Voss’ Leihkörperkonzept überlappen Leinwand- und Zuschauerraum und der Tod überlagert die Lebenswelt des Publikums, dem das gesamte Geschehen auf den Leib rückt, ohne es je klar zu positionieren. In der Folge sieht man, was jeweils zuvor geschehen ist, wie Marcus und Pierre verschiedenen Hinweisen folgen, dazu eine Polizeibefragung nach deren Abschluss ein Unbekannter die beiden auffordert den Dingen selbst auf den Grund zu gehen. Bis hierhin ist nur klar, dass ein Verbrechen geschehen sein muss, das sie später rächen werden (TC 00:34:27-00:39:23). Nun sieht man, was zuvor geschah, wie Marcus und Pierre ein Haus verlassen, um ein Taxi zu nehmen, aber von der Polizei daran gehindert werden, weil die Straße gesperrt wurde. Es habe eine Vergewaltigung an einer Prostituierten stattgefunden. Als eine blutüberströmte Frau auf einer Trage vorbeigefahren 718 Nicodemo, Timothy: »Cinematography and Sensorial Assault in Gaspar Noé’s Irreversible«, S. 35. 719 Morsch, Thomas: Medienästhetik des Films, S. 33.

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wird, erkennt Marcus sie allerdings als Alex, seine Freundin und erfährt, dass sie im Koma liegt (TC 00:39:23-00:41:01). Nun erst sieht man, was Alex widerfahren ist: Man sieht sie von hinten gefilmt aus demselben Haus laufen wie Marcus und Pierre in der Einstellung zuvor. Sie will ein Taxi rufen, weil sie auf dieser Straßenseite keines bekommt, will sie durch eine Unterführung auf die andere Seite. Sie beobachtet, wie eine Prostituierte – der Zuschauer kennt sie aus einer früheren Einstellung – von einem Mann verprügelt wird. Dann geht dieser auf Alex los und die Prostituierte flieht. Alex hat sichtbar Angst. Der Mann bedroht sie, indem er ihr ein Messer ins Gesicht hält. Sie fleht ihn an, aber er zwingt sie auf den Boden und legt sich auf sie. Er hält ihr den Mund zu. Ein Mann taucht im Hintergrund auf, geht aber einfach wieder, ruhigen Schrittes. Für den Zuschauer ist dies schockierend aber auch frustrierend, da der Mann hätte eingreifen können, wo man selbst durch die Kinosituation nicht dazu in der Lage ist. Die Kamera bewegt sich nicht, der Mann vergewaltigt sie, sie schreit in seine Hand. Er hält sie an den Haaren. Sie scheint verletzt zu sein und zu bluten. Die Szene erscheint endlos und unerträglich. Es wird nicht abgeblendet, wie in BOYS DON’T CRY. Es gibt keine Zwischenschnitte. Matt Smith kommentiert in Confronting Mortality: »The rape gets the most focus in the writing surrounding the film, mostly because Noe allows the camera to linger, unmoving, on the scene for about nine minutes as Alex is raped and beaten, forcing the viewer to acknowledge the image and the wanton brutality exhibited by the stranger on his victim.«720 Als er endlich von ihr rollt und erschöpft liegenbleibt, bewegt sie sich erst nicht, als wäre sie tot. Dann weint sie, hustet und kriecht schließlich mit letzter Kraft im Tunnel nach hinten. Der Mann steht jedoch auf und geht zu ihr, beschimpft sie, tritt ihr mehrfach ins Gesicht, setzt sich auf sie und schlägt ihr mit Fäusten ins Gesicht. Der einzige Grund, den er für sein Handeln nennt, ist ihre Schönheit, dazu ihre elegante Kleidung. Zuletzt schlägt er ihren Kopf wiederholt auf den Boden, bezeichnet sie als ›totes Fleisch‹, spuckt auf sie und die Kamera ›fliegt‹ körperlos davon (TC 00:41:05-00:54:08). Wie bereits in der Feuerlöscher-Szene, muss der Zuschauer das Geschehen in Echtzeit verfolgen und, so Timothy Nicodemo, »[...] just as Alex is trapped on the ground, so are we; just as she is trapped within the confines of a small tunnel, so too do we feel the claustrophobic confines; and most importantly, just as Alex must endure the violence for nine unbroken minutes, the spectator must also withstand the event for its entire duration.«721 Der Schluss der Szene unterstreicht die sadistische Objektivierung des Körpers, der wie ein Stück Fleisch benutzt wurde und nun leblos zurückgelassen wird. Die ganze Szene entspricht einer ausgedehnten, extrem brutalen Tötung, einer schrittweisen völligen Vernichtung der anderen Person. Wie in MARTYRS ist der Körper des Opfers bis zur Unkenntlichkeit geschunden worden. Die Identität des Opfers Alex wurde gewaltsam ausgelöscht. Im Anschluss an die Szene wird man noch erfahren, dass Alex gemeinsam mit Marcus und Pierre, ihrem Exfreund, auf einer Party war, aber früher ging als die beiden, außerdem dass Alex schwanger war. Eine wirkliche

720 Smith, Matt: »Confronting Mortality: ›The New French Extremity‹, The Hostel Series and Outdated Terminology (Part 2 of 3)«, in: TheSplitScreen vom 28. Juni 2011, (Abgerufen 24.01.2019). 721 Nicodemo, Timothy: »Cinematography and Sensorial Assault in Gaspar Noé’s Irreversible«, S. 37.

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Persönlichkeit erhält Alex erst im Nachhinein, zu einem Zeitpunkt, zu dem sie eigentlich bereits zum Status von ›totem Fleisch‹ reduziert ist. Durch diese Umkehrung der Ereignisse wird der körperliche Aspekt der brutalen Vergewaltigung noch hervorgehoben. Es spielt hier keine Rolle, wer Alex ist. Sie ist auch für ihren Peiniger völlig austauschbar. Er hat kein weitreichendes Motiv, auch wenn er sich von ihrer Schönheit und ihrem vermeintlichen Reichtum provoziert fühlt. Weil Alex eine (verwundbare) Frau ist722 und man die ihr angetane Gewalt in voller Länge sieht, stellt sich nicht ein Effekt ein, wie er bei den Gegnern im Actionfilm zu verzeichnen war. Ihr Leiden ist nicht Beiprodukt einer Handlung, die sich schnell anderen Dingen zuwendet, während Opfer einander ablösen, sondern Zentrum der Handlung. Im Realismus der Darstellung wird auch ein Spaß an Leid und Tod, wie noch im Horrorfilm, unterbunden, da die hierfür nötige Distanzierung zum Geschehen nicht erfolgen kann. Die Grausamkeit ist gegenüber einer reinen Tötung noch erhöht. Das Publikum weiß zum Zeitpunkt der Vergewaltigung nicht mehr über sie als der Täter. Die Abweichung von der Norm besteht hier entsetzlicher Weise einzig darin, dass sie eine Frau ist und kein Mann. Ihr Körper wurde nicht vorab eigens inszeniert, kein Wandel thematisiert, wie in den anderen Filmbeispielen. Weder auf bildsemiotischer Ebene, noch performativ wird hier viel geboten. Alex ist wirklich nur eine Frau, nur schön und sie geht durch einen nächtlichen Tunnel. Am Ende wird kaum mehr etwas von ihr übrig sein. Obwohl IRRÉVERSIBLE als einziges der drei hier genannten Filmbeispiele die versuchte Rache für die Vergewaltigung thematisiert, kann er im Grunde nicht dem Rape-Revenge-Genre zugerechnet werden. Die Umkehrung der Ereignisse lässt die beiden eigentlich verbundenen Gewaltakte für sich stehen, da man das brutale Vorgehen mit dem Feuerlöscher zunächst nicht versteht. Zudem trifft die Rache den Falschen, Gewalt und ausgleichende (›gute‹) Gegengewalt laufen aneinander vorbei. Alex selbst ist, halbtot, nicht mehr zur Rache in der Lage, wie die Vergewaltigungsopfer in typischen Rape-Revenge-Filmen wie DAY OF THE WOMAN/I SPIT ON YOUR GRAVE (1978)723. Der Zuschauer erhält keinen Ausgleich für die schmerzlich nachvollzogene Ungerechtigkeit, sondern wird in einem kalten Realismus darin allein gelassen. In Wirklichkeit, so scheint der Film auszudrücken, gibt es keine ausgleichende Gerechtigkeit, keine gute Gewalt. Manchmal sind Opfer einfach Opfer und Täter kommen davon. Gewalt, fernab von filmischen Inszenierungen und narrativen Rechtfertigungen, ist niemals ästhetisch und verbessert nichts. Die Szene im Tunnel führt die Angst, Kälte, Brutalität und den Schmerz einer Vergewaltigung als solche vor, für jedermann nachvollziehbar – zunächst ist hierfür nicht ausschlaggebend, welchem Geschlecht, Kulturkreis oder welcher Altersgruppe man angehört: Die Schrecken sind universell, körperlich, verständlich. Im zweiten Schritt macht es im Sinne des lived body einen Unterschied, ob der Zuschauer weiblich oder männlich ist, da Frauen für gewöhnlich im stärkeren Bewusstsein ihrer möglichen Opferrolle leben und daher dunkle Gassen oder einsame Parkhäuser meiden. Doch der männliche Zuschauer steht deshalb nicht automatisch auf der Seite des Täters und der weibliche auf der des Opfers. In erster Instanz sind das Unrecht und die extreme 722 Vgl. Kapitel 3.3.2.1 723 DAY OF THE WOMAN/I SPIT ON YOUR GRAVE (USA 1978, R: Meir Zarchi), bzw. das Remake I SPIT ON YOUR GRAVE (USA 2010, R: Stephen R. Monroe).

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Brutalität der Situation direkt nachvollziehbar, indem der Zuschauer im Angesicht eines Gewaltaktes, der tabuisierter ist als Mord, unfreiwillig in einen Voyeurismus gezwungen wird. Widerstrebend fühlt man die eindringliche Szene nach, ohne eingreifen zu können, ohne Alex helfen zu können oder immerhin den Kamerablick abzuwenden. Gaspar Noé selbst hat in einem Interview angegeben: »I could not think of doing a rape scene that would not be painful. Otherwise, you’re not [thinking about] what you’re shooting, what you’re representing. The thing is, you really are emotionally linked to the victim, and not the rapist. In many movies, you get linked to the rapist, because it’s shot from a subjective point of view, the guy coming at the girl with a knife, and so on. But in this case, it’s evident that you are linked to the victim, and not for one second to the aggressor.«724

Die unbewegte Kamera, die niemals den Blick abwendet oder die Ereignisse unterbricht, bietet damit – weder dramatisierend noch abschwächend, sondern völlig nüchtern – eine recht realistische Anteilnahme an einer Vergewaltigung, in voller Länge, ausgeprägter Brutalität, ohne weitreichendes Motiv und unter nachvollziehbaren Qualen des Opfers. Für den Schauspieler Vincent Cassel, der im Film Marcus spielt, offenbart Noé mit dieser Szene das Tier in uns allen, insbesondere Männern, die insgesamt zu Gewalt fähig und eine potentielle Gefahr für Frauen seien.725 Lisa Downing bezieht in French Cinema’s New ›Sexual Revolution‹ den körperlichen Aspekt der Szene stärker mit ein, der eng mit der moralischen Auslegung konform geht: »One thing the static camera does is to force you to look at the same spectacle from the same viewpoint for a long time. Unlike in pornography [...], there are no close-ups, the body is not ›cut up‹ and offered as a series of parts to the spectator’s gaze. However, does this mean that the camerawork is morally neutral? This is debatable. At the very least, we can read it as aping the kind of looking that Noé’s worldview pre-supposes. That is one of devastating apathy in the face of evil; a sort of extreme ethical indifference. That those watching and commentating on the film report an inability to take up this viewing position and experience instead a strong reaction (whether one of repulsion or of involuntary collusion), suggests that Noé’s sexual dystopia is not – yet – the ontological condition we occupy.«726

Der erzwungene Voyeurismus führt damit gerade zu einer Positionierung, die keiner Identifikation mit dem Täter oder Opfer gleichkommt, sondern der eines widerständigen Zeugen, der sich nur wehren kann, indem er den Kinosaal verlässt. Die Nüchternheit der Kamera, als Blick eines apathischen Sade’schen Libertin, gedoppelt im Desinteresse des Passanten, der sich einfach umdreht und geht, stehen im Kontrast

724 Sterritt, David: »Time Destroys All Things: An Interview With Gaspar Noé«, in: Quarterly Review of Film and Video, Nr. 24 (2007), S. 307-316, hier S. 312. 725 Vgl. Jeffries, Stuart: »It shows us the animal inside us«, in: The Guardian vom 31. Januar 2003, https://www.theguardian.com/film/2003/jan/31/2003inreview.features (Abgerufen 24.01.2019). 726 Downing, Lisa: »French Cinema’s New ›Sexual Revolution‹: Postmodern Porn and Troubled Genre«, in: French Cultural Studies, Vol. 15, Nr. 3 (2004), S. 265–280, hier S. 276.

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zu den Empfindungen des Publikums, das hochgradig alarmiert ist und diese Passivität kaum aushalten kann. Interessanterweise thematisiert Noé damit auf einer Ebene eine mögliche Abstumpfung der realen Gesellschaft gegen Gewalt. Die Reaktion des Publikums lässt erkennen, dass diese noch nicht stattgefunden hat. Auf einer weiteren Ebene geht es aber um die Rezeption ästhetischer Gewalt selbst. Statt eine direkte Verbindung von filmischer und realer Gewalt – entsprechend der anhaltenden Medien-Gewalt-Debatte – zu berücksichtigen, fokussiert sich Karl Ossenagg dementsprechend auf die Rezeptionssituation selbst, wenn er feststellt: »Dass Gewalt im Film als Stilmittel eingesetzt wird, ist für sich legitim und nicht zu verurteilen. Das primäre Problem ist nicht das einer filmischen Realität, sondern das unserer ästhetischen Wahrnehmung: Wir sind unempfindlich geworden, nicht gegen die Gewalt selbst, sondern gegen die Formen ihrer Darstellung. Ihre zunehmende Ästhetisierung hat uns systematisch desensibilisiert. Der alltägliche mediale Bildersturm an Grausamkeiten hat uns wahrnehmungslos, fühllos gemacht [...]«727 Entsprechend kann nur eine neue, eindringlichere Inszenierung von Gewalt und Tötungen das Publikum mit der gebührenden Wucht erfassen, wie schon bei THE PASSION OF THE CHRIST und dem Actionfilm der 2000er angesprochen wurde. Ossenagg bezieht sich hier auf das Kino Michael Hanekes, Selbiges lässt sich aber – wenn auch stilistisch anders umgesetzt – auch über das Kino Noés sagen: »Haneke sucht nach einer gezielten Ästhetik und deckt so die wachsende Empfindungslosigkeit ästhetisch auf. Ästhetik ist für ihn eine moralische Kategorie und Moral ohne Ästhetik nur schlechte Pädagogik; er glaubt an den durch Ästhetik evozierbaren Erkenntnisschock. Wenn sie allerdings als moralische Kategorie ernst genommen wird, dann muss sie mit eingeschliffenen Erwartungshaltungen und Rezeptionsgewohnheiten brechen. In der Flut medialer Bilderwelten sieht es Haneke als seine Aufgabe, den Bildern die Kraft ihres Verstörungspotentials wiederzugeben, sie wahrnehmbar zu machen.«728

Die Moral von IRRÉVERSIBLE liegt im ausgedehnten, ununterbrochenen ertragenMüssen von Gewalt, nah am zuletzt halbtoten Opfer und doch von diesem abgetrennt. Erneut bricht die Distanz zur Leinwand ein, obgleich man gleichzeitig Schmerz und Gefahr nicht wirklich fühlen muss. Während man derart somatisch beteiligt ist, entsteht ein seltsames Schuldgefühl durch die erzwungene Zeugenschaft. Die typische passive Kinosituation wird hier gegen den Zuschauer ausgespielt und seine Sehgewohnheiten durch das Mehr an Gewalt in Frage gestellt. Dem Empfindungstraining christlicher Passions-Malereien in der physischen Direktheit nicht unähnlich, wird man in einer Situation, in der man sonst entspannt Bilder konsumiert, unmittelbar körperlich nachfühlbar mit einer unangenehmen und sonst meist tabuisierten Darstellung sexueller Gewalt konfrontiert, die erst in einer fast vollständigen Tötung/Auslöschung des Opfers endet. Der echte Körper des anderen wird präsentiert, indem er nicht durch Schnitte fragmentiert wird und nicht nur als zweidimensional und zeitlich, wie räumlich weit entfernt empfunden wird, sondern in Echtzeit im Gewaltakt erfahrbar wird. Sexuelle 727 Ossenagg, Karl: »Der wahre Horror liegt im Blick«, S. 58. 728 Ebd., S. 59.

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Übergriffe, obwohl weit verbreitet, sind eine Thematik, über die man eher nicht nachdenken will. Insbesondere das männliche Publikum dürfte diese für gewöhnlich so empfinden als habe sie nichts mit ihm zu tun. Doch nun wird es gleichermaßen gewaltsam darauf gestoßen, dass es diese Form von Gewalt gibt und welche Ausmaße sie annehmen kann. Im Zusammenspiel von Filmgeschehen und Zuschauer bekommt Letzterer so in Zeiten einer Flut flächiger Nachrichtenbilder und zunehmend sichtbarer Mediengewalt seinen fühlbaren Körper zurück, der im intuitiven Weltbezug den verwundbaren und sterblichen Körper des Opfers würdigt – und darin den gewaltsamen Tod mit dem eigenen verletzlichen und endlichen Körper augenblicklich versteht. Der Anspruch der Filmemacher ist es dann teils, das erschütternde Geschehen möglichst unverstellt wiederzugeben, was immer zugleich das Potential des Mediums Film selbst ehrt: Hierfür muss die ursprüngliche (fiktive) Realität, die vom Zuschauer raumzeitlich abgetrennt ist, durch ein Übermaß an Bild und Ton ausgeglichen werden, das den Zuschauerkörper unmittelbar affiziert und dazu im Idealfall eine körperliche Ebene der Sinnstiftung, wie auch weiterführende Reflexionen ermöglicht. Dies eröffnet in der Schilderung ausgedehnter und ausufernder Gewalt, menschlichem Leidens und Sterbens, aber auch einen sadistischen Blick und kann darin kritisiert werden, wie insbesondere beim torture porn geschehen. AMERICAN HISTORY X und BOYS DON’T CRY, so hat dieses Kapitel gezeigt, hinterfragen die Motive für Gewalttaten und Mord insbesondere auf narrativer Ebene. In beiden Filmen werden die Opfer, teils bis zum Tod, für das Abweichen von einer bestimmten Norm bestraft, weil ihr Verhalten nicht (mehr) zu ihrem Körper passt: Der weibliche Körper darf nicht durch Maskerade Männlichkeit suggerieren, der weiße Körper mit eindeutigen Neonazi-Tätowierungen darf sich nicht mit Schwarzen einlassen. Die Täter fühlen sich jeweils durch diese Normabweichung provoziert und führen ihre Opfer durch sexuelle Gewalt – eine Ersatztötung – auf diesen Körper zurück. Der Zuschauer wird im gelungenen Fall parallel dazu über den Figurenkörper (bedingt) auf den eigenen empfindsamen Körper zurückgeführt und versteht so unmittelbar körperlich die Ungerechtigkeit, der dieser ausgesetzt ist. Man hat den Wandel der Figuren, ihre Ängste, Wünsche und insgesamt ihre Identitätssuche miterlebt, sympathisiert mit ihnen und ist schockiert über die Gewalt, der sie ausgesetzt werden. Selbst Dereks eigene Gewalttätigkeit ist man zu verzeihen bereit, weil man seine Erlebnisse nachvollzogen hat und er sein Vergehen sichtbar gebüßt hat. Während Derek trotz der körperlichen Tortur der Vergewaltigung letztendlich mit dem Leben davonkommt, wird Brandon getötet. Es ist aber auch ein (wenn auch unfreiwilliger) Märtyrertod, mit dem er, wie das Symbol des AIDS-Kranken David Kirby in Kapitel 2.2.2., anderen Transsexuellen das Leben retten könnte. Denn damit vermitteln beide Filme ein positives Bild eines selbstbestimmten, gewaltfreien Lebens, in dem man den anderen so leben lässt, wie er es wünscht. Der empfindsame Körper, den wir alle gemeinsam haben, übersteigt in dieser durch Film und Zuschauer andeutungsweise geschaffenen Intersubjektivität die äußerlichen Unterschiede semiotischer Körper als Hülle. Wir empfinden die Gewalt und Ungerechtigkeit, die ihnen widerfährt nach, ohne uns mit ihnen identifizieren zu müssen. Weil wir uns im Sinne der Phänomenologie immer auch unserer eigenen verkörperten Wahrnehmung bewusst sind, verlieren wir uns dennoch nie völlig in dieser körperlichen Entgrenzung des Films, wie für den Ich-Verlust psychoanalytisch-poststrukturalistischer Thesen beschrieben.

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Doch auch der zeitweise Selbstverlust als Distanzverlust angesichts filmischer Mittel gekoppelt mit extremer Gewalt birgt ästhetische Potentiale, wie IRRÉVERSIBLE gezeigt hat: Dieser liefert kein wirkliches Motiv für die dargestellte sexuelle Gewalt. Er thematisiert Gewalt an sich: Der Täter sucht sich ein willkürliches Opfer und lebt Machtgefühle und eine tiefe Misogynie aus, einfach weil sich ihm die Gelegenheit bietet. Ohne einen sinnstiftenden narrativen Rahmen wird man direkt in die schreckliche, unmittelbare Körperlichkeit des Geschehens geworfen. Der Täter hat sein Opfer in der Hand, wie auch das Publikum, verfährt mit ihm wie er will und kann letztendlich auch über Leben und Tod entscheiden. Der Zuschauer ist nah am Opfer, kann kaum die Rolle des Täters einnehmen, ist aber noch immer gezwungenermaßen auch Voyeur, was erst eine moralische Ebene eröffnet. Hier wird der Voyeurismus bis zum Koma-Tod des Opfers zur Tortur, die Ungerechtigkeit und Grausamkeit des Geschehens am eigenen Leib nachvollziehbar macht, ohne einer weiteren narrativen Rahmung zu bedürfen. Die Erkenntnisse vollziehen sich intuitiv somatisch während der Rezeption: Anders als in den anderen Filmbeispielen ist der Gewaltakt zutiefst sexuell motiviert, wie eine pornografische Phantasie, in der der Mann als Sade’scher Libertin über jegliche Frau verfügen kann, da er ihr körperlich überlegen ist. Eben dies wird aber durch die Inszenierung vom Publikum nicht als erregend empfunden, sondern kommt einem zu nah und bildet einen Horror für Zuschauer beider Geschlechter. Es schafft nicht nur durch die nachvollziehbare Schindung des Körpers eine Todenähe, sondern trifft dabei zugleich einen wunden Punkt der westlichen Gesellschaften, in denen Frauen als gleichberechtigt gelten, es aber de facto nicht sind und Männer sich zum Teil von erfolgreichen Frauen bedroht fühlen, die nicht mehr auf sie angewiesen sind. Der Täter geht hier viel weiter als ein gesund denkendes männliches Publikum es sich je vorzustellen wagen würde, überschreitet damit Phantasien und pervertiert männliche Sexualität. Während es ebenfalls mit dem Opfer leidet, empfindet das männliche Publikum – entsprechend dem unterschiedlichen lived body – stärker als das weibliche, das denselben kühlen Kamerablick teilt, auch die Schuld eines Täters. IRREVÉRSIBLE verlebendigt so eine der größten Ängste von Frauen und zwingt sein Publikum nicht nur hinzusehen, sondern gegenwärtig mitzuerleben, was es sonst lieber meidet und verdrängt. Er bietet keinen Trost, keine Abschwächung in der Darbietung und auch keine Lösung – die Rache für die überbordende Gewalt ist, wenn auch umgekehrt geschildert, erneute überbordende Gewalt. Doch gerade indem man sich durch das Geschehen gefoltert fühlt, mit dem Opfer dem Tod bedrohlich nah kommt, werden andere, beschönigende Darstellungen von (sexualisierter) Gewalt in Frage gestellt, Fiktion und Realität verschränken sich und der Film verliert dadurch seine Unschuld, indem er nicht mehr nur ein Film ist. Durch die generelle Austauschbarkeit der Täter- bzw. Opferposition tritt die Gesamtgesellschaft – nicht mehr einzelne, fehlgeleitete Gruppierungen, die sich als strafende Instanz gebärden – stärker in den Vordergrund, jeder könnte grundsätzlich zum Täter oder Opfer werden. Letztendlich wird Alex bestraft, schlicht weil sie eine Frau ist und der Film wirft durch einen unmittelbaren körperlichen Nachvollzug, dem man sich nicht entziehen kann, Licht auf unsere patriarchalen Gesellschaften und ihre Schwächen. IRRÉVERSIBLE stellt dabei auch filmische Potentiale selbst mehr heraus und nutzt seine technische Verfasstheit gezielt, um Figurenkörper erfahrbar zu machen, wie etwa die Soundeffekte oder der ungewöhnliche Einsatz der körperlos kreisenden Kamera

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zeigen. Damit lässt er sich in den größeren Kontext der New French Cinema Filme und ihrem Bestreben einordnen. Tim Palmer führt in Brutal Intimacy aus: »Although much critical attention has focused on evaluating th[e] New French cinema, few have recognized its collective ambition for the medium itself, as the means to generate profound, often challenging, sensory experiences. In the age of the jaded spectator, the cynical cinephile, this brutal intimacy model is a test case for film’s continued potential to inspire bewilderment – raw, unmediated reaction. For these narratives of the flesh, the projects of Denis, Dumont, Noé, and their peers, are rendered via a radical, innovative use of film style, an ingeniously crafted barrage of visual and aural techniques [...] Besides the undeniably inflammatory subject area, it is this startingly experimental stylistic treatment that makes these films so affecting in conception and execution. The texts that result, insidious yet arresting to the point of shock in their desgn, engage forcefully at both an intellectual and visceral level.«729

Statt die Ungerechtigkeit und Grausamkeit eigens narrativ zu thematisieren, wird sie in IRRÉVERSIBLE vom Publikum, gerade kontrastierend zur Nüchternheit der Kamera und Gleichgültigkeit des einzigen Zeugen, am eigenen Leib gefühlt. In dem Chaos fern jeglicher Ordnung, welche das New Extremity Kino sowohl durch seine ausgeprägte Gewalttätigkeit, als auch die oft ungewöhnliche Inszenierung erzeugt, findet der Zuschauer so, durch seinen eigenen verwundbaren Körper ein moralisches Ordnungssystem wieder. Sehgewohnheiten und gesellschaftlicher Habitus werden im gelungenen Fall teilweise aufgebrochen. Über die Oberfläche von Fernsehbildschirmen und Kinoleinwänden hinweg erhalten die Körper der Opfer, allem Voyeurismus zum Trotz, ihre Empfindsamkeit zurück, das Echte, Schmerzliche am gewaltsamen Tod wird restituiert. Dies ist größtenteils von den Filmemachern beabsichtigt, aber auch als Exzess unabhängig von der Handlung und der Intention des Filmemachers zumindest möglich. Der (annähernde) Tod und das langgezogene, nachfühlbare Leid des Opfers sind demnach nötig, um die größtmögliche Tragweite zu erzeugen. So werden quasi aus der Perspektive des (gewaltsamen) Todes das Leben und die Gesellschaft neu verhandelt. Das folgende Kapitel wird das Verhältnis gesellschaftliche Norm gegen den Einzelnen genau umkehren und das Individuum in den Fokus setzen, das sich durch Selbstverletzung gegen die Gesellschaft zur Wehr setzt. 3.3.4.2 Drama der 2000er und Selbststrafe Dieses Kapitel untersucht die intendierte Wirkung selbstgerichteter Gewalt von Figuren auf das Publikum. Bis zu einem bestimmten Punkt macht diese, obwohl in ihrer Destruktivität dem Tod nah, den Körper besonders lebendig, wie es sich schon für den Todeskampf von Opfern gezeigt hat. Anders als bei den vorangegangenen Beispielen, die jeweils Gewalt von außen, Täter und Opfer, behandelt haben, fallen die aktive und passive Position nun zusammen. Doch noch immer wird der leidende Körper in seinem Schmerz für das Publikum nachvollziehbar, gerade dort, wo es Situationen kognitiv nicht mehr vollständig erfassen kann. Psychologisch betrachtet werden so Seelen-

729 Palmer, Tim: Brutal Intimacy: Analyzing Contemporary French Cinema, Middleton, CT: Wesleyan University Press 2011, S. 58/59.

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zustände durch den Körper nachfühlbar, soziologisch betrachtet auch weitergefasste gesellschaftliche Strukturen. Hier lässt sich insbesondere das Potential des bewegten Films erkennen, der nicht auf die ausführlichen Erklärungen und inneren Einblicke des Romans zurückgreifen, – aber dafür eine bislang unübertroffene psychophysische Nähe zu seinen Figuren(körpern) herstellen kann. Als Beispiele dienen Ausschnitte aus BLACK SWAN, DIE KLAVIERSPIELERIN und DANS MA PEAU. Darren Aronofskys BLACK SWAN beschreibt den nach Perfektionismus strebenden Weg der Ballerina Nina (Natalie Portman), deren Lebenstraum die Doppel-Hauptrolle des weißen und schwarzen Schwans in einer neuen Inszenierung von Tschaikowskis Schwanensee ist. In einer infantilen Rolle verhaftet, kontrolliert durch ihre Mutter, zählt für Nina einzig Disziplin. Dies wird bereits zu Beginn des Films durch ihre Morgenroutine vorgeführt. Hier sieht man das Knacksen ihrer Zehen in Nahaufnahme, Dehn- und Tanzübungen vor dem Spiegel und ein figurbewusstes Frühstück mit der Mutter, ehe sie sich auf dem Weg zu ihrer Tanzcompany macht. Ninas Mutter würde ihre erwachsene Tochter gerne zur Company begleiten, nennt sie ›Sweet Girl‹, diese lehnt jedoch ab. Die Mutter entdeckt Kratzer auf Ninas Rücken als sie ihr einen Pullover reicht und sie sich anzieht, was bereits auf eine Selbstverletzung Ninas hinweist. Der Körper, hier der Körper der Tänzerin, kontrolliert, trainiert und augenscheinlich als Ventil einer überforderten Psyche verwundet, steht damit erneut im Fokus (TC 00:03:30- 00:05:08). Innerhalb weniger Minuten wird der Zuschauer so über den Körper Ninas in die Geschichte und ihre ganze Persönlichkeit eingeführt, was auch das unangenehme, aber noch vage Gefühl gegenüber der Abhängigkeitsbeziehung zu ihrer Mutter einschließt. Somatisch erfahrbar wird dieser Körper, indem Nina im Training dessen Grenzen austestet und darin immer weiter dem Tod in einer abschließenden Tanzszene annähert: so führt ihr unaufhörliches Üben zu einem nachfühlbar blutig verletzten Fußnagel und sie verzieht bei dessen Anblick schmerzhaft ihr Gesicht, wie auch der Zuschauer. Die Mutter versorgt in Ninas kindlichem, rosafarbenen Zimmer die Verletzung, ehe sie ihr zur Beruhigung eine Spieluhr mit einer tanzenden Ballerina aufzieht. Es wird klar, dass auch die Mutter einst eine Tänzerin war (TC 00:15:50-00:18:23). Der strenge Fokus Ninas auf eine Karriere als Tänzerin scheint demnach – den Körper über dessen Schmerzgrenze hinaus kontrollierend und instrumentalisierend – ihre vollständige körperliche wie auch geistige Reife zu hemmen. Sie lebt in völliger Abhängigkeit von ihrer Mutter, um ganz im Tanzen aufgehen zu können. Dabei führt sie die Ambitionen ihrer Mutter fort, nimmt also keine eigenständige Subjektposition in der Gesellschaft ein, wie Lacan es für die symbolische Ordnung beschrieben hat. Lisa Thatcher bemerkt in ihrer Rezension zu BLACK SWAN entsprechend: »Nina’s cry that she seeks perfection is instantly recognisable as the voice of our personal double, and requires no back story nor explanation, even if that alienates the viewer and holds Nina at a distance. The same drive is in her mother, whose act of creative perfection is her daughter. Mothers and daughters and artistic creation is a theme regularly visited – think of Haneke’s film adaptation of Elfriede Jelinek’s The Piano Teacher – and always involves the incestuous trap of the overbearing parent and the virginal perfect child whose only outlet is their creative genius.«730 730 Thatcher, Lisa: Black Swan – Darren Aronofsky and Philosopphy porn or how jouissance gives and takes life (Film review), 9. April 2014. https://lisathatcher.com/2014/04/

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Michael Hanekes DIE KLAVIERSPIELERIN lässt in der Tat starke Parallelen erkennen: Die Hauptfigur Erika (Isabelle Huppert) ist Klavierlehrerin am Konservatorium in Wien, sehr begabt, streng, aber ebenfalls in allem von ihrer Mutter kontrolliert. Die ungesunde Beziehung der beiden wird stärker betont als in BLACK SWAN, so reagiert die Mutter etwa ungehalten als Erika erst drei Stunden nach der Arbeit nach Hause kommt und durchwühlt ihre Sachen, findet erbost ein neu gekauftes, teures Kleidungsstück und will es sogleich zerstören. Sie streiten, Erika zieht ihre Mutter an den Haaren, zuletzt weinen beide. Erika entschuldigt sich und nach der Versöhnung teilen sie abends das Ehebett, während sie über Erikas Arbeit reden (TC 00:00:58-00:07:36). Während Erikas Körper in weiten Teilen des Films in hochgeschlossener Kleidung verhüllt bleibt und nicht dieselbe körperliche Erfahrbarkeit bietet, wie der trainierende Körper Ninas, steht die Nahaufnahme von den Händen ihrer Schüler (im Wechsel mit den Anfangscredits) auf Klaviertasten für den Fokus in ihrem Leben. Sie hat sich ganz der Musik verschrieben (TC 00:07:40-00:09:20). Für die Musik hat sie auf ein erfülltes Leben mit Beziehungen zu anderen Menschen verzichtet, doch eine große Karriere als Pianistin blieb ihr ebenfalls versagt. Ihr ganzes Leben ist entsprechend eine einzige (Selbst-)Strafe. Dem kontrollierten, vergeistigten Leben entgegen stehen Erikas körperliche Bedürfnisse, die zunächst als Doppelung der Kinosituation in der Rolle einer außenstehenden, voyeuristischen Beobachterin präsentiert werden – so begibt sie sich etwa, als Frau in dieser Männerdomäne völlig deplatziert, im Hinterzimmer eines Sexshops in eine Kabine mit pornografischem Videomaterial, spielt regungslos einen Film ab und riecht am Taschentuch des Mannes vor ihr (TC 00:23:40-00:26:09)731 oder beobachtet ein Paar im Autokino beim Sex und uriniert, augenscheinlich aus Erregung, was sich jedoch nicht in ihrem Gesicht erkennen lässt, neben das Auto, ehe der Mann sie entdeckt und sie fliehen muss (TC 00:48:58-00:50:55). Damit ist Erika normaler, erwachsener Sexualität äußerlich. Sie ist eine wandelnde Tote ohne erkennbare Empfindungen und versucht deshalb ihren Körper fühlbar zu machen. In Pornografie und unmittelbarem Voyeurismus findet sie ersatzweise ein visuelles Übermaß in der Darbietung des Sexualaktes, wie bereits für den Horrorfilm beschrieben, als hoffe sie, die ausufernde Repräsentation werde so auch für sie, synästhetisch, somatisch erfahrbar. Den eigenen Körper zu spüren vermag sie jedoch nur – wenn überhaupt – durch Schmerz: ihre Faszination von dem Pianisten Walter Klemmer (Benoît Magimel), der sich gegen ihren Willen für ihre Meisterklasse beworben hat und sich offenbar zu ihr hingezogen fühlt, kulminiert in einem Akt der Selbstverletzung im Badezimmer. Hierbei setzt sie sich breitbeinig auf den Rand der Badewanne

09/black-swan-darren-aronofsky-and-philosophy-porn-or-how-jouissance-gives-andtakes-life-film-review/ (Abgerufen 24.01.2019). 731 »Erika Kohut steht über den kopulierenden Körpern, welche sie betrachtet, sie steht damit aber auch über ihrem eigenen Körper, welchem sie ein Schicksal wie dem am Bildschirm zu sehenden, offensichtlich unterworfenen Körper erspart, indem sie ihn beherrscht.« Heimerl, Theresia. »Vom Kampf der Geschlechter zur Pathologie der Liebe. Die Klavierspielerin Elfriede Jelineks in der Verfilmung Michael Hanekes«, in: Wessely, Christian/Grabner, Franz/Larcher, Gerhard (Hg.), Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft, Marburg: Schüren Verlag 2008, S. 271-295, hier S. 286.

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und schneidet sich, routiniert, doch für den Zuschauer unangenehm nachfühlbar, mit einer Rasierklinge in die Schamlippen, so dass Blut den Beckenrand herabfließt. Man sieht den eigentlichen Schnitt nicht, ist aber dennoch unmittelbar beteiligt.732 Es wird nicht klar, ob es sich um eine Verleugnung oder den Ausdruck von Erikas Sexualität handelt. Auf eine stärkere Veränderung in ihrer Mimik wartet der Zuschauer vergebens, anders als die hier bislang beschriebenen (insbesondere weiblichen) Opfer äußerer Gewalt, stellt Erika ihre Verwundbarkeit nicht aus. Theresia Heimerl wirft die Frage auf, ob Hanekes Blick (bzw. der Kamerablick) auf Erika ein männlicher sei, stellt dann aber fest: »Es ist ein distanzierter Blick, der dem Betrachter die Möglichkeit zur Distanz zwar nicht leicht macht, aber offen lässt. Und es ist ein Blick, der den weiblichen Körper nicht zerschneidet (wie Erikas Rasierklinge oder Jelineks Sprache), sondern ihn entzieht, ihn nur über seinen Verlust (Blut) wahrnehmbar macht.«733 Wenig später entdeckt die Mutter Blut, das am Bein ihrer Tochter herabfließt, denkt jedoch diese menstruiere (TC 00:33:52-00:38:19). Damit steht Erika den stillgestellten Toten aus Kapitel 2 näher als den lebendigen Gewaltopfern hier in Kapitel 3, die sich vehement wehren bzw. ihr Leid exponieren. Sie entzieht sich in weiten Teilen der Lesbarkeit und im Grunde auch Nachfühlbarkeit durch das Publikum. In der passiven Leblosigkeit wird ihr Körper seltsam sperrig, da er unberührt von der einschneidenden Gewalt bleibt, die ihm widerfährt. Auch im weiteren Verlauf des Films gibt Erika wenig von sich preis. Ihr Gesichtsausdruck bleibt kontrolliert, nur durch minimale Regungen lassen sich in Nuancen Gefühle erkennen – eine dezente Fähigkeit des bewegten Films, wie bereits zu den Großaufnahmen bei Ingmar Bergman in Kapitel 2.3.3 beschrieben. Sieglinde Klettenhammer beschreibt dies in Vom Diskurs-Roman zum Anti-Melodrama – Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin in der Verfilmung von Michael Haneke ausführlicher: »Haneke inszeniert zwar das mit Emotionen aufgeladene Blick-Paradigma, das Liebesgeschichten im Film bekanntlich einleitet, subvertiert es aber zugleich, denn was die Figuren füreinander empfinden, was sie attrahiert, ist über ihre Mimik kaum entschlüsselbar. Halbnah- und Großaufnahmen in schmerzhaft langen Einstellungen zeigen Erikas Gesicht auch in wesentlich tabuisierten Situationen, so wenn sie den Geschehnissen auf der Porno-Leinwand zusieht [...] Vergeblich versucht man hinter ihrem Gesicht, aber auch aus ihrer Körperhaltung die Spuren verborgenen Schmerzes oder verborgener Lust zu entdecken oder abzulesen. Dass es sie gibt, lassen einzig jene minimalen Veränderungen in Mimik und Gestik erahnen, die nur augenblickshaft hinter der Körper-Kontrolle hervorbrechen. Das Provokante an diesen Einstellungen liegt nicht bloß im Aufbrechen der Blicktabus für die Frau, sondern vor allem im exzessiven

732 »Zu sehen ist nicht der Schnitt selbst, zu sehen ist das in die Wanne rinnende Blut, zu sehen ist das Gesicht Isabelle Hupperts, der Schnitt selbst bleibt der Phantasie des Zuschauers/der Zuschauerin überlassen. Die Unmittelbarkeit, welche sich durch das Weglassen aller allgemein-ironischen Reflexionen ergibt, gesteigert durch das Nicht-Zeigen der ›Tat‹, führt zum typischen Haneke-Effekt: Man erträgt die Szene, die eigentlich nichts wirklich Schockierendes ›zeigt‹, nur schwer, viel schwerer als den Roman, der durch die reflexiven Einschübe den Leser auf Distanz hält [...]« Heimerl, Theresia. »Vom Kampf der Geschlechter zur Pathologie der Liebe«, S. 287/288. 733 Ebd., S. 288/289.

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Voyeurismus der Kamera, die der Figur die Psyche abringen will, und in ihrer gleichzeitig selbstreflexiven Weigerung, über plakative mimische Gefühlsäußerungen Erikas Innenwelt und die auf sie einwirkenden Mächte auszustellen und mithin Deutungsangebote zu liefern.«734

Gerade diese minimal angezeigten Emotionen, die weitgehende Unlesbarkeit, fesseln einen als Zuschauer. Erika bildet eine Art Gegenentwurf zu den oben beschriebenen prototypischen weiblichen Gewaltopfern, wie auch der objektivierten Leinwandfrau bei Laura Mulvey, während die Kamera voyeuristisch auf ihr verweilt. Sie zieht sich gleichermaßen in sich selbst zurück, statt den Voyeurismus zu befriedigen. Obwohl sich DIE KLAVIERSPIELERIN, wie auch BLACK SWAN, psychoanalytisch-poststrukturalistisch deuten lässt, können die üblichen Blickkonstellationen erneut auf den Körper hin erweitert werden. Für Erika besteht die symbolische Ordnung aus den durch ihre übermächtige Mutter geschaffenen Strukturen, denen sie sich beugt, die sie regelrecht inkarniert hat. Selbstverletzung ist für sie ein Weg diese Ordnung sozusagen zwischen den Zeilen zu unterlaufen735 – heimlich, eingesperrt im Badezimmer – und in diesem destruktiven, darin todesnahen, Akt durch starke Affekte den Körper zu verlebendigen. In diesem Versuch kommt ihr Körper auch dem Zuschauer(körper), widerwillig, näher, der zugleich intuitiv das Ausmaß ihrer Abstumpfung bzw. Selbstentfremdung begreift. Erikas Körper als lived body kommt dem Publikum augenscheinlich näher als Erika selbst, die – wie ein distanzierter Zuschauer getrennt durch die Leinwand – von ihrer Selbstverletzung recht unbeteiligt bleibt. In der Destruktivität versucht sie jouissance zu erlangen, schmerzlich auf den Körper selbst, abseits ihres durchstrukturierten Lebens, zurückzugehen, anders als zuletzt Nina im berauschten Tanz gelingt es ihr aber nicht. Deshalb muss ihre Beziehung zu Walter ebenfalls scheitern, ehe sie sich richtig entwickeln konnte. Obwohl sie sich zu ihm hingezogen fühlt, kann sie sich nie gehen lassen, schon gar nicht einem anderen Menschen hingeben. Eine Beziehung zu Walter ist für Erika nur innerhalb eines strengen sadomasochistischen Regelwerks denkbar, in dem sie zunächst sexuell über ihn verfügt (TC 01:03:10-01:13:01), letztendlich aber von ihm kontrolliert, erniedrigt und körperlich gezüchtigt werden will, wie sie ihm in einem ausführlichen Brief schildert (TC 01:22:50-01:34:31). Dies beinhaltet auch die in Kapitel 3.2.2 angesprochene Verweigerung bzw. Herauszögerung der Wunscherfüllung im Masochismus nach Deleuze, die für Walter kein erotisches Spiel, sondern Frustration bedeutet. Marc Chapman dazu in La Pianiste: Michael Hanekes Aesthetic of Disavowal: »Erika and Walter’s first sexual encounter is [...] characteristic of Deleuze’s masochistic model; taking place in a public bathroom during a concert hall rehearsal, it demonstrates Erika’s active suspension of gratification as she repeatedly

734 Klettenhammer, Sieglinde: »Vom Diskurs-Roman zum Anti-Melodrama – Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin in der Verfilmung von Michael Haneke«, in: Neuhaus, Stefan (Hg.), Literatur im Film: Beispiele einer Medienbeziehung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 263-289, hier S. 284/285. 735 Vgl. Kapitel 3.2.1

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frustrates Walter’s attempts to dominate her, deflecting his advances as she threatens, ›If you don’t stop immediately, I’ll leave.‹«736 Dem masochistischen Vertrag entsprechend will sie so insgesamt Kontrolle erhalten und ihr Handeln, aber auch Leiden genau nach ihren Vorstellungen gestalten. Als der erst von ihren Forderungen im Brief angeekelte Walter jedoch ihren Phantasien nachkommt, die Mutter einsperrt, Erika brutal schlägt, ihren Körper entblößt und sie vergewaltigt, wirkt sie apathisch und verletzt, da masochistische Phantasie und körperliche Realität sich eben doch unterscheiden können und Masochismus und Sadismus nicht einander gegenüberliegende Seiten sind. Walter entpuppt sich hier als Sadist, den sie nicht kontrollieren kann. Sie ist ihm ausgeliefert, wie auch der Zuschauer, in einer Weise, die ihr (wie auch dem Publikum) nicht zusagt. Dennoch verharrt sie in unterwürfiger Abhängigkeit und wartet tags darauf am Konservatorium auf ihn. Sie trägt ein Küchenmesser bei sich und könnte sich an ihm rächen. Als er vergnügt mit anderen Studenten auftaucht und sie nicht weiter beachtet, richtet sie die Gewalt aber doch wieder gegen sich selbst, sie rammt sie sich das Messer in die Schulter und der Film endet ungewiss (TC 01:46:04-02:02:59). Ob sie sterben wird, erfährt man nicht, wahrscheinlicher ist jedoch, dass das Ziel der Selbsttötung, wie die Erfahrung des Körpers in der Selbstverletzung, unerfüllt bleibt. Hanekes DIE KLAVIERSPIELERIN, so Chapman, zeichne sich insgesamt durch eine masochistische Ästhetik aus, die einen Genuss für das Publikum – damit auch einen Genuss an Körpern und durch den Körper – verweigere: »Haneke’s film has an icy, hyper-realist aesthetic, largely dispensing with anything that might stimulate pleasure within the audience, such as camera movement, expressive colour palate, and pointof-view shots. Haneke uses wide-angle lenses to create images of great clarity and depth — often devoid of specific emphasis — as the spectator is asked to discover the image for themselves. This is also apparent in the film’s editing techniques, where conventional montage is rejected in favour of long takes.«737 Diese Ambiguität des Filmbildes stellt einen intuitiven körperlichen Zugang offen. Die Figur Erika Kohut bleibt ebenfalls psychisch wie auch physisch für einen Nachvollzug uneindeutig. Die Verweigerung einer Gefühlsäußerung, selbst in Großaufnahmen von ihrem Gesicht, ist für das Publikum ebenso frustrierend wie für Walter. Nichts, nicht einmal körperliche Gewalt, vermag sie aus der Hülle zu befreien, die ihr Körper ist. Sie ist gefangen in sich und von anderen Menschen abgetrennt. Damit ist Erika einer Toten gleich in ihrem Handeln und Empfinden kognitiv nicht eindeutig einzuordnen, da unlesbar. Man fühlt aber ihre Isolation nach, ihr Gefangensein, ohne sie je vollständig zu erfassen und dies verbalisieren zu können. Während Erikas Abhängigkeit von ihrer Mutter sich auf die von Walter verlagert, zählt für Nina in BLACK SWAN ausschließlich das Tanzen. Sie bewundert zwar ihren Tanzlehrer Thomas und es besteht eine erotische Spannung zwischen beiden, doch die sexuelle Komponente – die eine allmähliche Lösung von der Mutter unterstützt – dient letztendlich immer dazu, Ninas Tanz zu perfektionieren: Weißer und schwarzer 736 Chapman, Marc: »La Pianiste: Michael Haneke’s Aesthetic of Disavowal«, in: Brightlights Film Journal vom 31. Oktober 2011, http://brightlightsfilm.com/la-pianiste-michael-hane kes-aesthetic-of-disavowal/(Abgerufen 24.01.2019). 737 Chapman, Marc: »La Pianiste«, http://brightlightsfilm.com/la-pianiste-michael-hanekesaesthetic-of-disavowal/(Abgerufen 24.01.2019).

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Schwan lassen sich erneut als die Seiten von Gut und Böse, Leben und Tod, interpretieren, insbesondere da Nina immer weiter Kontrolle abgibt und sich zunehmend in einem (tödlichen) Rausch verliert. Sie erhält die Doppelrolle als weißer und schwarzer Schwan nur, weil sie Thomas in die Lippe beißt als dieser sie küsst – eine kalkulierte Handlung, durch die er ihre dunkle Seite erkennen soll, was auch so geschieht (TC 00:18:24-00:21:14). Er vermutet dadurch mehr in ihr als das brave Mädchen, ein Sachverhalt, der für ihn unabdingbar ist, um den schwarzen Schwan tanzen zu können. Später fragt er sie, ob sie noch Jungfrau sei und ob sie Spaß an Sex habe und trägt ihr auf, sie solle sich zuhause selbst anfassen. Dies soll ihre sinnliche, leidenschaftliche Seite zum Vorschein bringen, um den schwarzen Schwan überzeugend tanzen zu können (TC 00:35:25-00:36:54). Dieser Aufforderung kommt sie nach als sie morgens erwacht, stellt dann aber entsetzt fest, dass ihre Mutter auf einem Stuhl neben ihrem Bett schläft (TC 00:38:28-00:39:59), was ein Ausleben von Sexualität erneut verhindert. Beim Training berührt Thomas Nina an der Brust und zwischen den Beinen, und sie gibt sich ihm hin. Dann bricht er jedoch ab und sagt, so verführe er sie, sie sollte aber ihn durch ihren Tanz verführen (TC 00:45:50-00:47:59). Nach einer Partynacht mit der Ballerina Lily (Mila Kunis), in der Nina entgegen ihrem Naturell sogar Drogen nimmt, um zu lernen sich gehen zu lassen, verbringen die beiden Frauen die Nacht miteinander (TC 01:06:00-01:08:59) – eine Phantasie Ninas, die nicht wirklich der Realität entspricht, wie sich später herausstellen wird. Damit changiert BLACK SWAN immerzu zwischen dem Körper als Instrument, das wie eine Maschine kontrolliert und in der Bewegung perfektioniert wird und dem sinnlich erfahrenden Leib, der Kontrolle abgibt – zwischen den Regeln der symbolischen Ordnung und der überwältigenden Empfindungswelt der jouissance. Anders als die verlorene Erika, die nichts Kindliches an sich hat, sondern durch und durch kühl und kontrolliert wirkt und endgültig in ihrem Körper als einer tauben Hülle gefangen zu sein scheint, unfähig Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, wirkt Nina lediglich noch nicht fertig entwickelt. Während Nina zu Beginn nur den guten und unschuldigen weißen Schwan verkörpert, bildet Lily das Gegenstück, den sinnlichen und freien schwarzen Schwan. Sie tanze nicht sehr präzise, aber mühelos, stellt Thomas Nina gegenüber fest (TC 00:28:00-00:28:59). Auf dem Weg dahin, den schwarzen Schwan zu beherrschen, erkennt Nina immer öfter sich selbst in Lily, so auch in der genannten Liebesszene. Körpergrenzen verschwimmen damit erneut, wie auch die zwischen Leinwand und Zuschauer(körper). Um jedoch die jouissance im Tanz zu erreichen und ihre disziplinierte Kontrolliertheit aufzugeben, überschreitet Nina auch die Grenzen ihrer gesunden Psyche und gefährdet ihr Leben. In mehreren Szenen (bspw. TC 00:36:55-00:38:27, TC 00:50:28-00:51:29 und TC 01:24:00-01:25:00) wird angedeutet, dass Nina sich durch Kratzen selbst verletzt, was jedoch im Wahn zu geschehen scheint und von der Mutter und ihr selbst durch das Schneiden ihrer Fingernägel oder Socken über den Händen verhindert werden soll. Die Verletzung des Körpers, das Öffnen der Haut, scheint auch etwas in Nina zu öffnen, die kontrollierte Oberfläche aufzubrechen. Dazu verschwimmen Realität und Halluzination Ninas zunehmend, was diese auch für den Zuschauer ununterscheidbar macht. Wie bereits in HIGH TENSION wird die körperliche Eindeutigkeit der ästhetischen Filmerfahrung für den Zuschauer zu einem gedoppelten Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion, bei dem man seinen Sinnen nicht trauen kann, weil man nie sicher sein kann, was innerhalb der Fiktion ›echt‹ ist. Statt nur dem Irrglauben zu verfallen, man erlebe

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die Handlungen eines groben männlichen Serienkillers mit, während die handelnde Person eigentlich eine psychisch kranke schmächtige Frau ist, erlaubt BLACK SWAN einen körperlichen Zugang zu phantastischen, die Wirklichkeit überschreitenden, Erfahrungen: Nina imaginiert die Ballerina Beth (Winona Ryder) nach deren vermeintlichen Selbstverletzung mit blutigem Gesicht in ihrer Wohnung und übergibt sich als Reaktion auf diese schockierende Konfrontation. Die Bilder an den Wänden sprechen mit verzogenen Gesichtern und Nina reißt sie verzweifelt herunter. Die Mutter will ihr helfen, doch Nina verweigert sich ihr. Kurz darauf zeichnet sich eine Feder unter den Kratzern auf ihrem Rücken ab und stößt sich schmerzhaft durch ihre Haut. Sie halluziniert, für den Zuschauer nachfühlbar, ihre zunehmende Verwandlung in den schwarzen Schwan (TC 01:22:00-01:24:40). In der somatisch eindrücklichsten Szene des Films will Nina ein Stück Haut vom Finger ziehen und reißt diese versehentlich ein, was zu einer Zentimeter langen, blutigen Wunde führt. Obgleich sich auch dies als Halluzination erweisen wird, fährt die Sequenz dem Zuschauer unerbittlich in den Körper (TC 00:31:30-00:33:11). Jörg Metelmann beschreibt die Szene in Skinema. Haut, Emotion, Körperphantasie und kinästhetisches Subjekt am Beispiel von Black Swan: »[D]as, was wir Zuschauer nach einer guten halben Stunde von Black Swan [...] sehen, [ist] ein kleines Horrorbild mit entsprechender körperlicher Wirkung [...] Das physische Unwohlsein, der gefühlte Schmerz, der intuitive Griff an den eigenen Finger, das alles bewirkt der Zuschauerblick auf Ninas (Zwangs-)Handlung, die sich mit verzerrtem Gesicht eine gut zehn Zentimeter lange Schicht Haut abzieht, sodass blutig rot das Fleisch sichtbar wird, in krassem Kontrast zum Weiß und Grau des Restbildes [...]«738

In der letzten Szene des Films tanzt Nina schließlich hingebungsvoll den schwarzen Schwan und ist dabei – wachsende schwarze Federn halluzinierend und damit ihre ohnehin nicht vollständig ausgebildete Identität endgültig opfernd – im Sinne der jouissance ganz Körper. Sie hat es geschafft den leidenschaftlichen, aber tödlichen schwarzen Schwan, wie auch den präzisen, guten und lebendigen weißen Schwan zu verkörpern und weiß zuletzt – durch eine im Wahn selbstzugefügte Wunde durch eine Scherbe schwer verletzt und vielleicht auch dem Tod geweiht – dass ihr Auftritt perfekt war. Durch die Selbstverletzung hat sie den Teil in sich ausgelöscht, der sie bislang kontrollierend von einer vollständigen, entgrenzenden Hingabe zum Tanz/Körper abgehalten hatte. Sie hat ihr Lebensziel erfüllt, wenn auch auf Kosten ihrer gesunden Psyche und evtl. ihres Lebens (TC 01:33:53-01:42:08). Im gewaltsam ›herausgepressten‹, schwellenartigen Übergang von Leben und Tod, Gesundheit und Wahnsinn, im Ich-entgrenzenden Sinnesempfinden abseits gesellschaftlicher Normen (der symbolischen Ordnung), liegt somit eben die körperlich fundierte jouissance-Erfahrung verborgen, die sich auch auf den Zuschauer(körper) überträgt. Inhalt und Technik des Films greifen hier erneut ineinander, indem Nahaufnahmen von Wunden oder auch verwischende, teils orientierungslose dynamische Tanzbilder den Zuschauerkörper überwältigen. Diese Wirkung ist im Kino keine 738 Metelmann, Jörg: »Skinema. Haut, Emotion, Körperphantasie und kinästhetisches Subjekt am Beispiel von Black Swan«, in: Ritzer, Ivo/Stiglegger, Marcus (Hg), Global Bodies. Mediale Repräsentationen des Körpers, Berlin: Bertz + Fischer 2012, S. 30-41, hier S. 30.

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Selbstverständlichkeit, denn, so Kracauer: »Filmische Reproduktionen des Bühnentanzes schwelgen entweder in langweiliger Vollständigkeit oder zeigen eine Auswahl reizvoller Einzelheiten, die aber insofern verwirrend wirken, als sie die originale Darbietung nicht bewahren, sondern zerstückeln. Tanzen erzielt nur dort einen filmischen Effekt, wo es einen Bestandteil physischer Realität bildet.«739 Entsprechend wird das Publikum von Ninas berauschten Tanz mitgerissen, der den ganzen Körper betrifft. Jörg Metelmann: »Die genannte ›Nagelhaut‹-Szene [...] und die im wahrsten Sinne des Wortes mitreißende Kraft des furios gefilmten Finales schaffen eine inter-korporale Dynamik zwischen Leinwand und Zuschauerkörper, auf die genau die grundlegende Einsicht der Differenz von Literatur und Film von Merleau-Ponty zuzutreffen scheint: ‚Wir werden den Schwindel viel besser empfinden, wenn wir ihn von außen sehen [...] wenn wir diesen aus dem Gleichgewicht geratenen Körper betrachten, der sich an einer Steilklippe dreht, oder diesen schwankenden Gang, der versucht ist, sich man weiß nicht auf welchen Umsturz des Raumes einzustellen.«740 Von der anfänglichen Kontrolle über den Körper, ihn trainierend und drangsalierend und immer weiter an seine Grenzen treibend, über dessen Verwundung durch selbstzugefügte Verletzungen, bis hin zum ekstatischen Tanz am Ende, bei dem Nina sich der körperlichen jouissance bis (fast) zum Tod hingibt, ist der Zuschauer damit somatisch beteiligt. Ähnlich der wiederholten Schläge in MARTYRS wird dieser Zustand schrittweise über den Körper selbst erreicht, immer wieder, augenblicklich und eindringlich, sich nach und nach, quasi-gewaltsam, in den Zuschauerkörper ›bohrend‹. Die transzendierende Erfahrung am Ende schafft eine Auflösung, damit Linderung, steht aber dem Tod nah. DANS MA PEAU rückt die Selbstverletzung gänzlich ins Zentrum und wird dadurch zu einer Todeserfahrung, die allerdings den endgültigen Tod nicht mehr sucht, sondern gerade den lebendigen Körper herausstellt. Nachdem Esther (Marina de Van) sich auf einer Party versehentlich schwer am Bein verletzt, was sie zunächst nicht bemerkt, obwohl die Wunde tief ist und stark blutet, ist sie zunehmend fasziniert von ihrem Körper, der Haut bzw. der Verletzung dieser. In einer Dopplung der (vom Filmgeschehen abgetrennten) Zuschauersituation scheint Esther keinen Schmerz zu fühlen und deshalb immer stärkere Mittel zu suchen, um diesen abwesenden Körper (der Leinwand741) durch extreme Verwundungen doch erfahrbar zu machen.742 Esthers Freunde, die bei der Party ihre Blutspur auf dem Teppich entdeckt haben, wollen dem auf den Grund gehen, vermuten ein Verbrechen, doch Esther gibt sich nicht zu erkennen. Diese seltsame Heimlichkeit ist der Auftakt zu ihren Selbstverletzungen (TC 00:04:2100:09:34). Als Zuschauer ist man sehr nah an ihrem Körper und den Verwundungen, die sie sich zufügen wird, ohne rational verstehen zu können, was sie zu diesen Handlungen bewegt. Anders als Erika und Nina ist Esther nicht von einer übermächtigen Mutter abhängig, sie führt eine normale, erwachsene Beziehung, geht erfolgreich ihrem Beruf nach und steht voll im Leben. Man muss dennoch, ohne psychologische Erklärung 739 740 741 742

Kracauer, Siegfried: Theorie des Films, S. 73. Metelmann, Jörg: »Skinema«, S. 34. Vgl. Kapitel 3.1.1 Vgl. dazu auch Wilson, Laura: Spectatorship, Embodiment and Physicality in the Contemporary Mutilation Film, S. 70.

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ertragen, wie sie eine an der Beinwunde festgeklebte Mullbinde mit einer Schere von der Haut reißt und schneidet und teilt ihre Faszination dabei nicht, sondern ist mindestens ebenso schockiert wie ihr Freund Vincent (Laurent Lucas), der in diesem Augenblick das Badezimmer betritt (TC 00:13:56-00:15:01). Dem Druck ihrer Arbeit in einem tristen Büro entgegenwirkend, schneidet sie mit einem Stück scharfen Metall die genähte Wunde mit schmerzverzerrtem, aber bestimmten Gesichtsausdruck wieder auf (TC 00:20:01- 00:22:51). Man empfindet als Zuschauer dabei nicht dieselbe gelöste, fröhliche Stimmung im Anschluss an ihre Tat. Das Wissen um den Schmerz und die Sichtbarkeit ihres destruktiven Vorgehens fahren einem unerbittlich und Übelkeit erregend in den eigenen Körper. Was für Esther also Leben bedeutet, den Körper lebendig spüren, ist für den Zuschauer dem Tod näher und äußerst bedrohlich. Von den kurzen Tötungsmomenten im Slasherfilm und 1980er Jahre Actionfilm über das stärker sichtbare Leid im Actionfilm der 2000er und New Extremity Horrorfilm zu den teils ausgedehnt sicht- und nachfühlbaren Gewaltakten im vorangegangenen Kapitel, wie bei IRRÉVERSIBLE, gelangt diese Untersuchung somit zu einem Film, der sich einzig auf die Selbstfolter ohne äußeren Täter konzentriert und darin das Publikum quält. Obwohl man den gesamten Film mit einem ausgeprägten Unwohlsein verfolgt – die selbst zugefügte Gewalt übertrifft dabei noch die Gewalt von außen, da Sinnstiftungen bezüglich gut und böse oder (ausgleichender) Gerechtigkeit gänzlich entfallen – löst der Film dennoch nicht nur sinnlosen Ekel aus, wie etwa HARDCORE HENRY. DANS MA PEAU verhandelt, wie die anderen Filme in diesem und dem vorangegangenen Kapitel, gesellschaftliche Strukturen, die symbolische Ordnung und deren dominierende Wirkung auf das Individuum – sei es strafend, wie die Vergewaltiger oder reglementierend, wie die Mutterfiguren. Selbstverletzung erscheint als Mittel, diese Strukturen zu unterlaufen, deren Druck abzubauen und (wieder) den Körper zu spüren. Während DIE KLAVIERSPIELERIN und BLACK SWAN den Körper als Objekt, wie auch Erfahrungsinstanz, mit einbezogen haben, stand dort die psychologische Komponente dennoch im Vordergrund. DANS MA PEAU jedoch schafft für das Publikum, erneut in der Tradition des französischen Kunstkinos, eine intensive körperliche Nähe, die sich allen rationalen Sinnstiftungen entzieht und Wahrheiten fühlbar über den Körper selbst vermittelt. Tim Palmer erkennt in Under your skin: »There is more [...] to both DANS MA PEAU and the cinéma du corps than social diagnostics. Like many of its related contemporaries, DANS MA PEAU is also in part an experiment in lyrical cinema. At pivotal moments of Esther’s condition, the film attempts to convey perceptual experience directly on-screen; it deploys poetic aesthetic techniques, sensory impressions that stylistically outrun and strategically overwhelm its narrative.«743 Eine Szene zu einem Geschäftsessen in einem Restaurant macht dies besonders deutlich: Esther folgt vorerst den höflichen Gesprächen zwischen ihrem Chef und den Geschäftspartnern, entzieht sich aber dann immer mehr der Unterhaltung. Sie trinkt schnell und viel Wein und plötzlich scheint ihre eigene Hand ihr nicht mehr zu gehorchen. Wie ein Fremdkörper tut sie was sie will und greift in ihren Teller mit dem Essen. Niemand scheint zu bemerken wie sie die Hand mit der anderen fixiert. Mit der rechten Hand drückt sie nun die linke nieder und als sie mit der Hand dem Arm folgt, ist dieser 743 Palmer, Tim: »Under your skin: Marina de Van and the contemporary French ›cinéma du corps‹«, in: Studies in French Cinema, Vol. 6, Nr. 3 (2006), S. 171-181, hier S.178.

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vom Körper abgetrennt, liegt lose auf dem Tisch. Sie fasst die losgelöste Hand mit dem verbliebenen Stück Arm an, doch scheint nichts zu fühlen. Deshalb legt sie die Hand in ihren Schoß und beginnt, von den Geschäftspartnern unbemerkt, ihren Arm mit einem Messer zu pieksen, immer fester und sich zu schneiden, während über verschiedene Städte gesprochen wird. Sie schmeckt heimlich ihr Blut, drückt den Fingernagel in die Wunde, dann eine Gabel. Sie sieht den anderen beim Essen zu und plötzlich assoziiert man deren Schneiden von Fleisch oder das Herauspellen von Austern ebenfalls mit Verletzungen. Sie bohrt die Finger in ihre Strumpfhose, löst diese wie eine zweite Haut und zieht ihre Jacke an, um ihre Verletzung zu verbergen. Als die anderen sich darüber wundern, behauptet sie, die Klimaanlage sei zu kalt eingestellt. Nun verlässt sie den Tisch, geht in den Weinkeller und schmeckt dort wie eine Vampirin im Dunkeln ihr Blut. Sie versteckt sich als eine Frau den Keller betritt, um Wein zu holen. Diese entdeckt, wie in einem Horrorfilm, einen Tropfen Blut auf dem Boden und rennt schockiert nach oben um ihre Kollegen zu informieren, Esther wird jedoch erneut nicht enttarnt (TC 00:41:38-00:51:58). Nach dieser Erfahrung im Restaurant gibt sich Esther in einem eigens angemieteten Hotelzimmer völlig ihrem Körper hin, schneidet sich, schmeckt ihr Blut, isst Stückchen ihrer Haut und fingiert zuletzt einen Autounfall, um ihre Selbstverletzung zu vertuschen (TC 00:51:58-01:01:37). Im weiteren Verlauf des Films ist sie einerseits schockiert über ihr eigenes Verhalten, andererseits unbändig dazu hingezogen. Damit ist die Gewalt gegen ihren eigenen Körper nie rein destruktiv, Zeichen einer beschädigten Psyche und todesnah, sondern immer auch belebend und sinnlich für sie. Sie erforscht ihren Körper auf eine Weise, die von der Gesellschaft nicht verstanden oder geduldet wird und durchbricht mit der Oberfläche ihrer Haut auf gewisse Weise immer auch die Oberflächlichkeit von Konventionen. Es ist etwas, das sie allein mit sich und für sich tut und das ihr etwas gibt, auch wenn es für den Zuschauer schwer nachvollziehbar ist. Die Faszination für den eigenen Körper gleicht der des Ausweidens im Horrorfilm, ist aber durch die realistische Nähe zu diesem Körper schwerer zu ertragen. Im Finale des Films geht sie in einen Supermarkt und wirkt dort überfordert mit den anderen Menschen und der Gesamtsituation. Sie kauft Unterwäsche und Messer. In einem Splitscreen sieht man volle Einkaufstüten mit verschiedenen Utensilien und Kleidung auf dem Boden liegen. Esther malt sich im linken Bild mit einem Filzstift ein Viereck auf die Haut, im rechten Bild sieht man einen Raum, dazu ein Licht auf dem Boden, eine Kamera. Es wird schwarz überblendet, dann wieder sieht man die Splitscreen-Bilder: Unterschiedlich nah sieht man einen Holzboden, Blut, eine Dose Cola, man hört Esthers erregtes Atmen, sieht rechts eine blutige Hand, dann, nach einer erneuten Schwarzblende, blutige Hände, blutige Fingerabdrücke, blutige Fußabdrücke, ein Auge. Nun Esther im Spiegel, blutig, Wasser trinkend. Hier entsteht erneut eine Parallele zum Spiegelstadium Lacans. Laura Wilson dazu: »She [...] regresses into a childlike state as she tests out her body’s movement and peers at her reflection from behind a chair. But this child is monstruos: a fragmented version of what once was a unified self. At times the screens are split down the middle and objects and limbs are obscured by the frame as further indications of the fragmented and alienated self.«744 744 Wilson, Laura: Spectatorship, Embodiment and Physicality in the Contemporary Mutilation Film, S. 76.

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Das Filmbild doppelt damit Esthers Selbstverlorenheit, bei der sie sich in der zunehmenden Verwundung, die sie kaum noch kontrollieren kann, sowohl physisch, als auch psychisch dem Tod annähert. Trotz der Fragmentierung des Filmbilds wird weniger Esthers Körper objektiviert und zugänglich gemacht für einen sadistischen Blick, als der des Publikums, das, mit dem eigenen nah an ihrem Körper, ihr Handeln intuitiv als ›echt‹ bewertet. Esther kauert vor dem Spiegel, beinahe animalisch, berührt sich mit dem blutigen Fuß im Gesicht und sieht sich (wie der Zuschauer) zu, wie sie sich selbst verletzt (Abbildung 20). Abbildung 20: Esther im Rausch der Selbstverletzung

Quelle: Dans Ma Peau, TC 01:15:49, Lazennec & Associés

Sie weint, weil sie ihr Handeln gleichzeitig genießt und darunter leidet, weil es sie erschreckt und fasziniert. Sie ist ganz Körper, wie Nina im Tanz und findet eine jouissance direkt in dieser Selbstverletzung. Wilson beschreibt: »[...] Dans Ma Peau plays with the anxious desire and threat of the subject becoming lost within the abject [...] The imagery of blood and broken flesh shifts the subject into the realm where ›I‹ no longer exists. This shift parallels Esther’s slow deterioration as she loses a stable sense of self.«745 Zuletzt führt sie die Klinge über ihr Gesicht, nah am Auge und über den Mund, als sei sie nicht sicher, ob sie widerstehen kann. Am Ende der Szene kauert sie hinter dem Bett. Sie hat Einstiche im Gesicht, die Hände sind blutig von der Armwunde, wo sie sich das quadratische Stück Haut herausgeschnitten hat, das sie zuvor aufgezeichnet hatte. Sie führt die Haut durch die Finger und betrachtet sie, blutig und glitschig (TC 01:11:05-01:18:35).746 Im Anschluss lässt sie sich in einer Apotheke erklären, wie man am besten Haut konservieren kann – der Apotheker erläutert ihr ohne

745 Ebd., S. 62. 746 Tim Palmer erläutert die Szene: »The image jumps between fast and normal motion, with passers-by blurring past Esther in distorted point-of-view shots. The camera racks focus unevenly, as planes of colour, bright light and texture collide and juxtapose. Most jarringly of all, the film then shifts to a threeminute split screen sequence of paired handheld images that represent Esther’s state of withdrawal. Twinned shots move us inexorably from the banal (images of groceries, plastic bags, furniture, the interior of a hotel room) to the corporeal (swathes of blood, gouged flesh, ravaged body parts). While the design hints at Esther’s recoil and collapse, its effects extend beyond this, becoming a ›pure‹ cinema of non-representational collage. Olivier de Bruyn calls the outcome a ›poetics of pain‹ [...] De

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Argwohn, während er ihr Stück Haut betrachtet, wie sie diese gerben könnte (TC 01:18:35- 01:20:42) – und steckt sich diese gegerbte Haut morgens, als sie sich für die Arbeit fertig macht, wie einen Talisman in den BH und küsst sie liebevoll, ehe sie sich anzieht (TC 01:20:42-01:25:13). Esther unterläuft so nach und nach alles, was man von ihr als Publikum erwartet, was man verstehen und nachvollziehen kann. Über die Haut wird dabei auch Weiblichkeit verhandelt. Ihre Zerstörung komme einem hysterischen Akt gleich, so Susanne Maschall: »Zur Inszenierung weiblicher Körper im Kino der Postmoderne gehört auffällig oft die gewollte Selbstverletzung, das ›Versehren‹ des eigenen Leibes. Der durch Verstümmelungen und Narben gekennzeichnete Körper ist ein hysterischer Körper. Seine Wunden klaffen als Mahnmal, machen etwas Unsichtbares sichtbar. Die Wunde wird zum maßgeblichen Bestandteil der hysterischen Schauspielkunst, stellt eine Wurzel der Hysterie zur Schau: das Phantasma des körperlichen Sichtbarwerdens der Seele.«747

Doch Esther begeht nicht nur einen destruktiven, sondern auch einen konstruktiven Akt: Die schöne Hülle wird zerstört, wie schon in MARTYRS und während sie ihren Körper – und damit ein neues Selbst – entdeckt, bewege sich, so Martine Beugnet, ihr Blick immer mehr in Richtung Kamera. In der letzten Einstellung blicke sie direkt in die Kamera.748 Damit bricht sie, wie die gebietende Frau im Masochismus auch das Tabu der vierten Wand, der Verschleierung der Kamera und wehrt eine sadistische Objektivierung durch den männlichen Blick ab, wie in den Kapitel 3.2.1 und 3.2.2 diskutiert wurde. Carrie Tarr schafft in Director’s Cut eine Verbindung zwischen Esthers Selbstverletzung und der monströsen Frau bei Barbara Creed bzw. dem Final Girl bei Carol Clover: »There is no doubt that Dans ma peau is not for the squeamish. As one reviewer warns, ›there's hardly a moment when your face will not be squirming, stomach queasy and lungs gasping for more air‹. The spectator is invited to watch with horror as Esther, taking the meaning of the title literally, cuts deep into her skin, and to experience tension as to the outcome of her escalating self-destructiveness. As the perpetrator of violence, particularly in her (self-)vampirism, she seems to share features with the figures of the monstrous-feminine in conventional horror films, figures which, for Creed, activate fears and anxieties about the feminine in a patriarchal culture.

Van links the split-screen device to the screen itself being wounded, cut in half, so as ›to suggest by this formal progression something about the progression of Esther herself… she’s devoured by closeness, by her sensations‹ [...] From a synthesized and socialized physical whole, at this point of (non-) narrative climax, Esther is left a raw, chaotically subjective perceptual composite.« Palmer, Tim: »Under your skin«, S. 179. 747 Marschall, Susanne: »Mad Girls. Die Wiederkehr weiblicher Hysterie«, in: Felix, Jürgen (Hg.), Unter die Haut. Signaturen des Selbst im Kino der Körper, St. Augustin: Gardez! Verlag 1998, S. 115-126, hier S. 118. 748 Beugnet, Martine: Cinema and Sensation, S. 159.

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To an extent, she also occupies the space of the postfeminist victim-hero identified by Carol Clover in her compelling study of the slasher film, of which this is in some ways a variant.«749

Eine monströse Frau wird Esther demzufolge, da der Film Nahaufnahmen von ihren abjekten Wunden und tropfendem Blut zeigt, das Esther auch konsumiert. Barbara Creed dazu: »According to Kristeva, woman’s blood has been represented within patriarchal discourses as more abject than man’s for at least three reasons. First, woman’s menstrual blood threatens ›the identity of each sex in the face of sexual difference‹ […] Second, woman’s blood points to the fertile nature of the female body and bears witness to woman’s alliance with the natural world. Third, woman’s blood, which symbolizes birth and life, reminds man of his capacity, even willingness, to shed blood, to murder.«750

Die Vampirin, so Creed, gefährde Identität und (symbolische) Ordnung, da sie durch ihre erotisierte Blutlust sämtliche gesellschaftliche Regeln breche und dazu die Grenzen zwischen lebendig und tot, menschlich und animalisch, übertrete.751 Tarr argumentiert entsprechend für DANS MA PEAU: »[...] de Van's remarkable performance enhances Esther's borderline behaviour as she contorts her slim, muscular body into grotesque shapes, making herself look subhuman, even insect-like, as she sets about the cutting or brings her blood-soaked toes up to her blood-soaked face to wipe her eyes – an image which could also be linked to that of the foetus. Indeed, Esther's blood provides the most vivid representation of the abject, colour and lighting emphasizing its brightness and viscosity. As Creed points out, women's blood, an abject substance in itself, is a sign of woman's alliance with the natural rather than the symbolic, while an open wound may signal the opening of the maternal body during childbirth.«752

Hier wird ebenfalls deutlich, wie Marina de Van den Körper Esthers (als Regisseurin wie auch ausführende Schauspielerin) gezielt in Szene setzt. Die ungewöhnlichen Verrenkungen des athlethischen Körpers de Vans, nah am Boden, oder den Fuß zum Gesicht führend, dazu der unlesbare Gesichtsausdruck irgendwo zwischen Genuss und Qual, die Nahaufnahmen von Wunden oder auch blutig-glitschigen Händen, die die Verletzungen ausgeführt haben, machen psychoanalytische Deutungen sekundär. Sie ist bedrohlich für den empfindsamen Zuschauerkörper, weil sie freiwillig ihren Körper zerstört und während sie Lust daran verspürt der Zuschauer nur gequält wird. Jeder Schnitt könnte ihr Leben beenden, sie verletzt sich aber unverständlicher Weise nicht, um sich zu strafen oder umzubringen, sondern den lebendigen Körper zu genießen. Es mag einen Unterschied machen, dass Esther eine Frau ist, die sich selbst verletzt und kein Mann, da Frauenkörper häufiger zum Fetischobjekt degradiert werden und hier,

749 Tarr, Carrie: »Director’s Cut: The Aesthetics of Self-harming in Marina de Van’s Dans Ma Peau«, in: Nottingham French Studies, Vol. 45, Nr. 3 (2006), S. 78-91, hier S. 80. 750 Creed, Barbara: The Monstruos-Feminine, S. 62. 751 Vgl. ebd., S. 61. 752 Tarr, Carrie: »Director’s Cut«, S. 82.

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im Gegenteil, abstoßende Handlungen ausgeführt werden. Die von Tarr postulierte Nähe zum Final Girl bei Clover könnte in Esthers Doppelrolle von Opfer und überlebender Protagonistin liegen, wie auch den damit verbundenen Kastrationsängsten, die insbesondere Barbara Creed hervorgehoben hat. Als monströse Frau mag Esther ein männliches Publikum erschrecken und psychoanalytisch betrachtet Kastrationsängste auslösen oder zumindest entsexualisierend wirken. Doch zuvor reagiert sowohl das männliche, als auch weibliche Publikum direkt auf das Filmbild und den Körper, der als echter Körper aufgefasst und nachgefühlt wird. Wilson: »The pictures, then, not only represent both roles [of victim and perpetrator] occupied by Esther but also the role of both male and female spectator, neither of which may escape the fragmentation of the self into subject and object/perceiver and perceived that occurs from the process of a visceral engagement.«753 Wie Marina Abramović in ihrem Performance Act führt de Van den echten Körper in seiner Verletzlichkeit und Sterblichkeit vor und macht ihn darin erfahrbar. Dazu begeht sie den Tabubruch einer Selbstverletzung, die sich nicht als Selbststrafe vollzieht, die durch die extreme Verwundung dem Tod nah kommt, aber darin eher den lebendigen Körper gegenwärtig hervorheben will als den Tod zu suchen. Statt den Körper zu trainieren, zu stählen und perfektionieren, wie Nina in BLACK SWAN, oder auch zu kontrollieren und zu unterdrücken, wie Erika in DIE KLAVIERSPIELERIN – im Wechsel mit versteckten kleinen Selbstverletzungen, um diesen Körper vielleicht doch zu erfahren und auszuleben – wird Esther ganz Körper. Sie entstellt ihren Körper dabei und gibt sich immer weniger Mühe dies zu verstecken. Das ist aber irritierender Weise weder ein Akt des Selbsthasses, noch ein Versuch Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie tut es nur für sich. Zurückgezogen von der Welt, der sie sich nicht sehr zugehörig fühlt,754 geht sie ein beinahe erotisches Verhältnis mit ihrem Körper und seinen Wunden ein und liebt jedes Stück von sich, selbst wenn es bereits vom Körper abgetrennt ist. Dies spricht für eine seltsame Selbstgenügsamkeit, in der Esther nicht mehr auf andere Menschen angewiesen zu sein scheint. Ähnlich bestätigt Tarr: »What is shocking and fascinating about de Van's representation of selfharming is precisely the fact that, in her private rituals, Esther wallows in the blood and experiences the self-wounding not just as pain and horror, but also as immense sensual pleasure which fills her with new energy. The cutting is but a starting-point for more sensual contact with her body, as she licks and nibbles 753 Wilson, Laura: Spectatorship, Embodiment and Physicality in the Contemporary Mutilation Film, S. 68. 754 Diese Isolation zeigt sich, so Tarr, auch im Einsatz der Kamera: »As the film progresses, Esther becomes increasingly isolated from others, even in scenes where others are present. At the beginning, de Van is careful to keep others in the frame, even when Esther moves off on her own. Subsequently, however, she is isolated through the use of shotcounter-shot, and the spectator is invited to get drawn into her disturbed subjectivity through repeated close-ups of her face and her quiet expressions of panic, alienation or grief. Point-of-view shots enable the spectator to share her increasing estrangement from the external world: a loss of focus when Sandrine fails to save her from the pranks of her (male) colleagues at the swimming-pool, the sight of her unruly hand and forearm at the restaurant dinner table, a lack of focus and stability when she enters the supermarket.« Tarr, Carrie: »Director’s Cut«, S. 89.

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at the flesh beneath the skin (taking to an extreme more common unconscious daily activities like chewing cuticles). In the first hotel room sequence, for example, she scoops out pieces of flesh with her knife and chews them as if enjoying a good meal. At several moments, too, the configuration of the body implies the presence of a lover, as Esther pokes her tongue into her knee or strokes her face amorously with a bloodsoaked hand, while the sounds she makes and the look on her face afterwards suggest sexual fulfilment.«755

Sexualität, in DIE KLAVIERSPIELERIN und BLACK SWAN noch unterdrückt oder verlagert, wird hier gänzlich durch selbstgerichtete Gewalt ersetzt. Doch nicht weil Esther ihre Sexualität nicht ausleben könnte, wie die anderen beiden Frauen, sondern weil sie ihre Selbstverletzung augenscheinlich als erfüllender erlebt. Wie in Kapitel 3.2.1 zur jouissance beschrieben, erfährt Esther so, statt nur die Geschlechtsteile, den ganzen vorsymbolischen Körper als einzige erogene Zone. Sie handelt damit gegen die Instinkte des Publikums, wie auch über gesellschaftliche Konventionen hinweg, doch indem sie all diese Hemmungen überwindet, erfährt sie jouissance. Das Publikum wiederum fühlt sich durch ihre Handlungen verletzt. Auf einer rational nicht greifbaren Ebene, ihre Sinnlichkeit nicht teilend, aber dennoch streckenweise fasziniert davon, erfährt man das Geschehen als einschneidend in den eigenen Körper und empfindet unterschwellig echte Übelkeit dabei. Und doch nutzt de Van eine Möglichkeit durch selbstgerichtete Gewalt Körperlichkeit und Echtheit zu erzeugen, die gesellschaftliche Konventionen oberflächlich erscheinen lassen. Karrierebestrebungen, triste Büroräume oder Gespräche, bei denen die Betroffenen nie sagen, was sie wirklich denken, wirken in der Tat seltsam leblos und bedeutungslos im Vergleich zu Esthers Hingabe im Schmerz und der Liebkosung ihrer Wunden. Dieses Kapitel hat gezeigt, wie der somatische Nachvollzug von Selbstverletzungen als starker Affekt zugleich dem Tod nahestehen und den lebendigen Körper hervorheben kann, der so nicht mehr den Reglementierungen der Gesellschaft unterliegt. Die Selbstverletzung in DIE KLAVIERSPIELERIN, wie auch die voyeuristischen Eskapaden der ›toten‹ Erika wirken wie verzweifelte Versuche sich einer übermächtigen Mutter zu entziehen und den Körper zu spüren. Der Zuschauer fühlt mit beklemmendem Gefühl diese Unfreiheit nach, die Strukturen, die den Körper bestimmen und den gescheiterten Versuch ihnen durch Schmerz zu entkommen. In BLACK SWAN dagegen sind die Wunden der Selbstverletzungen, wenn auch fleischliche Zeichen einer verwundeten Psyche, nicht nur Ventile für unterdrückte Emotionen. Nina muss lernen die von frühester Kindheit an trainierte Selbstbeherrschung und Disziplin der Tänzerin zugunsten dieses Tanzens aufzugeben, das zu einem zunehmenden Rausch des Todes wird. Sie muss den Körper spüren lernen und durch die Oberfläche brechen, durch das Erlernte und Beherrschbare der symbolischen Ordnung (des Lebens). Die Wunden stehen nicht nur für nachfühlbaren Schmerz, sie sind Zeichen dieser Metamorphose, als Kratzer, durch die zuletzt schwarze Schwanenfedern brechen, als Bauchwunde, die wenn schon nicht für einen endgültigen Tod, so für die Tötung eines alten Ich steht. Auf dem Weg zu ihrem befreiten, rauschhaften finalen Tanz verfällt Nina immer mehr dem Wahn, doch je weniger sie ihren Geist kontrollieren kann, desto mehr tritt der Körper hervor. Der Zuschauer verfolgt diesen

755 Tarr, Carrie: »Director’s Cut«, S. 84.

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Weg vom regelkonformen zum jouissance-Körper ebenfalls somatisch mit und kommt im rauschhaften Tanz am Ende mit Nina dem Tod nah. In DANS MA PEAU liegen, jouissance-Erfahrungen entsprechend, Genuss und Qual nah zusammen. Die Selbstverletzungen Esthers sind zugleich destruktiv und befreiend für sie, erschrecken und erfüllen sie. Der Zuschauer, diesem Körper nah, aber abgeschreckt von seinen Handlungen, kann die Lust am Schmerz kaum nachvollziehen. Und doch spürt er in der selbstgerichteten Gewalt, den ausführlich geschilderten Schnitten, dem Öffnen der Haut, dem Anblick von Blut und glitschigen Hautfetzen, diesen Körper. In totaler Distanzlosigkeit dem Geschehen ausgeliefert, entsteht eine somatisch eindrückliche Erfahrung fernab von allem rational Erschließbarem, wie sie im Kino selten ist. Dies wird dadurch unterstützt, dass es keine typischen Figuren von Protagonist und Antagonist oder verschiedene Handlungsverläufe gibt, sondern dieser Körper selbst im Fokus bleibt. Obwohl die genannten Filmbeispiele bis zum Ende mehrdeutig bleiben und sich rational nicht endgültig nachvollziehen lassen, offenbaren sie körperliche Wahrheiten zu Leben, Freiheit und Selbstbestimmung – gerade in der Nähe zum Tod als aufrüttelndem Ereignis, das sich in Wunden und Schmerz ankündigt. Wie die Figuren anstreben ihren Körper zu spüren, ist auch das Publikum mit dem ganzen Körper beteiligt. Dennoch fühlt man erneut nicht, was die Figuren fühlen, ist zuweilen schockiert über ihr Handeln oder gelangt über den direkten körperlichen Nachvollzug zu Erkenntnissen, die sich unabhängig von ihnen vollziehen. Der Körper als ganzer Körper, ungeschnitten und echt, tritt hervor und wo er blass und leblos erscheinen könnte, fährt seine Marter, sichtbarer Schmerz, Schnitte, Blut und Wunden, dem Publikum in den eigenen Körper. Doch warum sollten wir dies suchen?

4

Schlussbetrachtung Der Reiz unlustvoller Kinoerfahrung

»Man geht ins Kino, weil man Lust dazu hat und nicht weil man es verabscheut, und man geht in der Hoffnung, daß der Film gefallen wird und nicht daß er mißfallen wird. Somit sind die Lust am Film und die Unlust am Film [...] für uns nicht symmetrisch entgegengesetzt, da die Institution einzig auf die Lust am Film und nur auf sie allein abzielt.1

Die Tatsache, dass es unzählige Filme gibt, die sich dem Horrorgenre zuordnen lassen oder dass genreübergreifend Tod und Gewalt eine so gewichtige Rolle in den Künsten bis hin zum Film einnehmen, scheint dem obigen Zitat von Christian Metz zu widersprechen. Suchen wir also doch unlustvolle Erfahrungen im Kino, hat Metz sich geirrt? Ja und nein. Natürlich muss es andere Erwartungshaltungen beinhalten und sich während der Rezeption anders anfühlen, ob wir eine Filmkomödie auswählen oder einen Kriegsfilm. Thematisch können Filme sicher unlustvoll sein. Wer befasst sich schon gerne mit dem Tod, wer wohnt gerne dem Dahinsiechen einer Figur bei, die einer Krankheit erliegt oder erfreut sich unberührt an den ausufernden körperlichen Qualen eines unschuldigen Opfers? Doch etwas müssen Filme mit negativen Themen an sich haben, sonst würden sie nicht rezipiert und damit nicht mehr produziert. Etwas an ihnen muss lustvoll sein. Wie nah kommt uns der Tod im Film und warum sollten wir diese Nähe suchen? Die vorangegangenen Kapitel haben zunächst die Unterschiede zwischen den Bildmedien Malerei, Fotografie und Film in ihrer Darstellungsfähigkeit zum Thema Tod diskutiert, was als zeichentheoretische Grundlage auch für die Erfahrung des gewaltsamen Todes relevant wurde. Die Angst vor dem unvorstellbaren Tod hat sich von der Ersatzdarstellung des Transi in der Malerei bis zum Zombie des Films gehalten. Der verwesende Übergang, so hat sich gezeigt, schafft eine identitätsgefährdende Todeserkenntnis, die die Grenzen zwischen Betrachter und Leichnam verschwimmen lassen kann. Die Konfrontation mit Fäulnis und Verfall steht einer distanzierteren Todesreflexion, wie beim fertigen Skelett, das weniger bedrohlich wirkt, entgegen. Beide, Transi und Skelett, sind häufig in Totentanzmotiven anzutreffen, in denen sie lachend und tanzend die Lebenden verhöhnen und verkünden, dass es für sie kein Entkommen gibt. Der Zombie – im Film ein echter Wiedergänger, der sich über die Leinwand schleppt – wird in der Bewegtheit des Films zu einer doppelten Todesbedrohung, da 1

Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant, S. 16/17.

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er als verwesender, personifizierter Tod die Lebenden direkt anfällt. Für das Publikum synästhetisch nachfühlbar, zerlegt er blutig und glitschig die Körper seiner Opfer, um sie sich gierig einzuverleiben oder zu seinesgleichen zu machen. Der Tod, die Verwundbarkeit und Vergänglichkeit des eigenen Körpers, wird hier, irgendwo zwischen Leinwand und Zuschauerraum, Täter und Opfer und über Körpergrenzen hinweg als durchwachsene Lust – und recht losgelöst von kognitiven Sinnstiftungen – zugänglich. Skelette, die häufig als ästhetisch abgemilderte Objekte in der Kunst zu finden sind, bieten einen weniger gräulichen Anblick und dienen, im Ganzen oder in Teile zerfallen, eher einem Memento Mori. Statt mit dem eindringlichen Schrecken der Verwesung hat man es nun mit einem melancholischen Wissen um die eigene Vergänglichkeit zu tun. Die Puppenanimationen THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS und CORPSE BRIDE thematisieren nicht nur inhaltlich den Tod, sondern führen auch auf formaler Ebene das filmische Potential vor, dem Unbewegten/Toten/der Puppe Leben einzuhauchen. Nur in dieser Bewegung kann es zu einem Austausch zwischen den Welten der Lebenden und der Toten, wie auch unserer echten und der filmischen Welt, kommen. Solange der Film abläuft, gibt es eine Art Zwischenreich – wie ein Ineinandergreifen von Toten- und Lebendwelt – in dem Publikum und filmisches Geschehen miteinander in Beziehung treten können. Hierfür ist nicht entscheidend, ob die realen Schauspieler noch am Leben sind, der Film macht sie wieder und wieder gegenwärtig und lebendig. Sie sind zum Greifen nah, wie das Obst der Vanitas-Gemälde, und doch so fern. Aber hält man den Film an, die lebende Mumie, wie André Bazin ihn benannte, erstirbt er sogleich, wie die tote Puppe, die einfach wieder in sich zusammenfällt. Die Zeichensysteme der Bildmedien, Ikon, Symbol und insbesondere Index schaffen ein komplexes Verhältnis zu unserer Welt, das zugleich Nähe (auch zum Tod) und Distanz bedeutet. Vanitas-Symbole stellen nur einen indirekten Bezug zur Welt her, die sie (ikonisch) abbilden, indem ihre präzise gewählten Gegenstände Vergänglichkeit und Nichtigkeit bedeuten und den Tod nicht nur als Totenkopf ins Bild rücken. Ikonische Zeichen als unzulängliche Abbildungen gewesenen Lebens sind ebenso kritisiert worden, wie der fotografische Index, der in digitalen Bildern abhanden gekommen zu sein scheint. Die Spur des Vergangenen, der Rest eines Menschen, der einmal existiert hat und es nun nicht mehr tut, ist verwischt. Doch der indexikalische Verweis bleibt in jedem Fall erhalten: anders als die Malerei, deren große Kunstfertigkeit teils von dem ablenkt, was sie darstellt – falls es den Gegenstand oder Menschen je gegeben hat – lassen Fotografie und besonders Film häufig ihre Künstlichkeit vergessen. Auch im digitalen Zeitalter, im Wissen um fotografische Manipulationen, bleibt der Glaube an die Wahrhaftigkeit fotografischer Bilder zum Teil erhalten und schwingt bei der Rezeption fotografischer Medien immer mit. Nicht als Abbildung registriert man die Objekte, die sie aufgezeichnet haben, sondern als die Dinge, die sie sind – oder augenscheinlich zu einem bestimmten Zeitpunkt vor der Kamera waren, wie Roland Barthes erkannt hat. Ein Stuhl ist ein Stuhl und nicht das Bild eines Stuhls und ein Mensch wird als Mensch und nicht fragmentiertes Abbild registriert. Die Bilder erinnern uns, intuitiv und körperlich in der Welt verankert, wie wir sind, an das, was wir aus unserer Lebenswelt kennen – die Dinghaftigkeit, wie es Gertrud Koch benennt. Gerade bei Fotos von Toten, wie es sie seit der Postmortem-Fotografie des 19. Jahrhunderts gibt, kann dieser intuitive Weltbezug sich im Sinne des Barthes’schen

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punctum wie eine augenblickliche Verletzung/Erkenntnis vollziehen. Ein echter Mensch ist hier zu sehen, so wird einem klar. Die lebenden Familienmitglieder blicken häufig direkt in die Kamera und stellen so einen Kontakt zum Betrachter her, die Toten haben dagegen die Augen geschlossen oder blicken ins Leere. Die Kleidung, die sichtbare Trauer der Hinterbliebenen oder weitere Bilddetails wie Haustiere, Möbel und Gegenstände des täglichen Gebrauchs, geben Aufschluss über das Leben, das unmittelbar bevor die Fotografie erstellt wurde, endete. Hier lässt sich ebenso das studium ansetzen, da man sich als Betrachter auch mit der fotografisch festgehaltenen Zeit oder alten Gepflogenheiten befassen kann und ebenso Reflexionen über den eigenen Tod möglich sind. Die empfundene Gegenwärtigkeit des bewegten Films, dessen Eindrücke meist keine Zeit für Reflexionen lassen und in erster Instanz den Körper des Zuschauers adressieren, stützen sich nach Tom Gunning nicht auf den Vergangenheits-Index der Fotografie. Es wird, wie bei den Puppenanimationen, den tanzenden Skeletten, eine gegenwärtige eigene Welt geschaffen, die aber dennoch auch verweisend mit der unsrigen in Verbindung steht. Unser Körper, unsere täglichen Wahrnehmungen, bilden das Bindeglied zwischen Lebenswelt und Filmwelt und überwinden die Abstraktion flächiger, vergangener Filmbilder, wie auch Christiane Voss‘ Leihkörperkonzept gezeigt hat. Statt Abbilder, Zeichensysteme, sind es dann eher performative Akte, die uns ins Geschehen einbinden, uns körperlich (emotional und mental) involvieren. Das intuitive Wissen um reale Weltzusammenhänge – so auch Verwundungen, Schmerz und Tod, selbst im fiktionalen Film – wird dabei als etwas Echtes mittransportiert, auch wenn die ursprüngliche indexikalische Spur sich im Digitalen verliert. Auch in der Zurschaustellung extremer Tötungsszenen, so hat das Kapitel 3 gezeigt, macht der Film nicht nur distanzlos und echt fühlbar, was er selbst vermitteln will, sondern erzeugt dadurch auch Parallelen zu anderen Filmen bzw. Werken der Kunst oder auch zu realen Geschehen. Er ist damit hochgradig abhängig vom lived body des Zuschauers, der intuitiv Bezüge zu seiner Lebenswelt schafft, die sich demnach im Lauf der Zeit ändern bzw. aktualisieren. Chris Tedjasukmana: »Im Moment reiner Gegenwärtigkeit und Lebendigkeit wird Geschichte gemacht, nicht erzählt. Durch den Film kann das Ereignis aber festgehalten werden, noch bevor es ein solches Ereignis ist und das in manchen Fällen erst dadurch zum retrospektiven Ereignis wird.«2 Als Ereignis gibt der Film sein Geschehen auch wieder. Bezüge des (fiktiven) Films zu echten Ereignissen werden so nicht nur auf theoretische Weise kognitiv hergestellt, sondern unmittelbar somatisch verlebendigt. Wenn sich eine (fiktive) Sache so anfühlt, muss eine andere (echte) Sache sich ähnlich angefühlt haben. Dies entspricht natürlich nicht zwangsläufig einer objektiven Wahrheit, sondern ist subjektiv gefärbt. Das Drama der 1990er stützt sich auf solche realen Weltbezüge, echte gesellschaftliche Problematiken, wie Fremdenhass oder Homophobie. Neben der Narration geben die Figuren in den behandelten Beispielen mit ihren semiotischen Körpern – Nazitätowierungen etwa – und performativen Akten – der Verwandlung der jungen Frau zum Mann und als typisch männlich geltende Verhaltensweisen – Aufschluss über die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Besonders auf somatischer Ebene, bei den Vergewaltigungen als Vorstufen von bzw. Ersatz-Tötungen, ist man mit den Figuren verbunden. Dies wird von IRRÉVERSIBLE aus dem Jahr 2002 noch 2

Tedjasukmana, Chris: Mechanische Verlebendigung, S. 195.

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übertroffen, der die Narration hinter die somatische Ebene der Filmerfahrung stellt, indem extreme Gewaltakte – eine Tötung mit einem Feuerlöscher, die Vergewaltigung einer zufällig gewählten Frau – erst rückwirkend erklärt werden. Es zeigt sich: Für ein körperliches Verstehen von Ungerechtigkeit, Leid und Todesangst, ist eine detaillierte narrative Rahmung gar nicht notwendig. Durch die fliegende Kamera werden auch mögliche Identifikationen mit dem Kamera-/Figurenblick von vornherein unterbunden und doch ist man, ohne klare Positionierung im Film, intensiv somatisch und emotional beteiligt. Alex wird in der Vergewaltigungsszene regelrecht ausgelöscht und das Publikum mit ihr. Die Sinnstiftung findet so vorwiegend intuitiv auf der körperlichen Ebene statt und schafft auf dieselbe Weise Bezüge zu unserer echten Welt. Dies ersetzt den fotografischen Index als Spur. Die Verbindung entsteht, indem der Film performativ vorführt und der informierte Körper des Zuschauers dies somatisch erfasst. Aus der (universell nachfühlbaren) Perspektive des Todes, der brutalen Auslöschung einer Frau in Echtzeit, werden realgesellschaftliche Verhältnisse reflektiert, wie bspw. Männer- und Frauenrollen oder sexualisierte Gewalt. Auch die Reproduzierbarkeit fotografischer Medien tut einer Annäherung an das einmalige Phänomen Tod nicht zwingend einen Abbruch oder bedeutet einen AuraVerlust des Kunstwerks, wie Walter Benjamin postuliert. Die große Bekanntheit der Fotografie des toten Uwe Barschel in der Badewanne ermöglicht erst Bezüge zum toten Marat oder den Nachbau Thomas Demands, der keinen Toten mehr benötigt und dabei umso stärker auf diesen verweist. Die Kapuzen-Szene in HOSTEL ruft die Bilder Abu Ghraibs hervor und sättigt die ohnehin grausamen Bilder damit umso mehr mit (echtem) Leid und Tod. Bei der AIDS Kampagne von Benetton wird der traurige Tod David Kirbys mit Assoziationen zu Jesus Christus überlagert und gibt dem Bild so noch mehr Gewicht. Der fruchtbare Augenblick der Kunst und der entscheidende Augenblick der Fotografie verlieren sich zwar im bewegten Film, dessen Bilder zu schnell vorüberziehen, um als (bedeutsame) Einzelbilder wahrgenommen zu werden. Eine Ausnahme bildet der Freeze Frame, der die stillgestellte Fotografie als Memento Mori in den bewegten Film zurückbringt.3 Dazu wird der point of no return einer möglichen fotografischen Momentaufnahme, die als verpasste Chance vergeht, wenn man nicht schnell genug den Auslöser drückt, zu einer filmischen Wiederholbarkeit und Umkehrbarkeit, selbst von Toden, die man eigentlich naturgemäß nicht ungeschehen machen kann. Doch die Reihung von Bildern und die Fiktion des Films, so zeigen bereits die Bildfolgen von Duane Michals, erlauben die Schilderung aufeinanderfolgender (Bild-)Geschichten sowie die Einflussnahme auf die Darstellung, die so nicht mehr nur dem Zufall überlassen bleibt. Den Tod als Sterben, als Todeskampf, auch, wie bei Michals, als übernatürlichen Mythos von Engeln, Todesboten und Seelenwanderungen zu zeigen, wird somit möglich. Der Tod kann so, auch im Film, sehr unterschiedlich und immer

3

Hier können Tode, die sich im bewegten Film ankündigen, im stillgestellten Einzelbild, zumindest zeitweise, aufgehalten werden. Die Zeitebenen verschieben sich aber auch, da in der Fixierung, statt der bewegten filmischen Gegenwärtigkeit, die fotografische Assoziation von Vergangenheit und Tod vorherrscht. Im weiteren Ablauf (erneut) in Bewegung versetzt, wird der Tod, wie bei Laokoon, unausweichlich.

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neu inszeniert werden. Der fotografische Index wird hier zum Spiel mit einer Präsenzbehauptung, bei der selbst Dinge, die in unserer realen Welt nicht existieren wie Wahrheiten auftreten. Der Film reiht nicht mehr statisch Bilder aneinander sondern zeigt Abläufe, Übergänge und Prozesse. Er konserviert nicht mehr Lebende und Tote gleichermaßen stillgestellt, wie die Fotografie, sondern speichert sie in bewegtem Bild und Ton. Der Film kann, so hat etwa Ingmar Bergmans DAS SIEBENTE SIEGEL gezeigt, bekannte Motive der Malerei wieder aufgreifen, Bibelmotive wie den Baum des Lebens, Totentänze oder den personifizierten Tod mit Kutte und Sense. Weit interessanter ist er aber dort, wo er das filmische Potential selbst erforscht, so etwa in der ›Todesbegegnung‹, die sich im Mienenspiel von Figuren ablesen lässt. Nur durch die filmische Bewegungsfähigkeit sind hier feinste Nuancen und Übergänge zu erkennen, die es im eingefrorenen Einzelbild nicht geben kann. Angst oder Zweifel der Todgeweihten, universell nachvollziehbare Affekte bezüglich dem Tod, werden für das Publikum sichtbar und somatisch nachfühlbar. Der nicht-darstellbare Tod, der im SIEBENTEN SIEGEL zugleich ersatzweise als Figur auftritt, wird so indirekt über die Reaktion eines anderen erfahren – wenn auch nur im Zuge einer Fiktion. Auch der erschreckende Anblick eines entmenschten Toten ohne Augen schafft hier eine, weniger sanfte, Begegnung mit dem Tod. Nun ist es das Abjekte des Leichnams, wie beim Transi, der sperrig, da unbewegt, als Kontrast zum noch lebenden Knappen Jöns erscheint. Es ist ein möglicher Augenblick des eigenen Todesbewusstseins, wie auch schon der Totenkopf in Hamlet. Zusammengefasst schafft im Verhältnis Malerei-Fotografie-Film und Tod Erstere durch ihre Unbewegtheit und ihre nur indirekten Bezüge zur Realität – was sie präsentiert ist der Phantasie eines Künstlers entsprungen, keinem mechanischen Abbildmechanismus, wie bei fotografischen Medien – eine gewisse Distanz zu negativen Sujets. Der Tod wird symbolisch bewältigt, indem die Malerei ihn verbildlicht. Dies kann besonders eindringlich und hässlich ausfallen, wie bei Transi-Gestalten, kann sich aber nicht mit der Indexikalität fotografischer Medien messen, die nüchtern Felder toter Soldaten oder Leichenberge in Konzentrationslagern vorführt und dabei stets vermittelt: Das ist echt, dies ist wirklich geschehen. Auch kann die Fotografie erfolgreicher Leben speichern, nicht mehr nur im gemalten – vielleicht geschönten – Portrait, sondern in einer typischen Pose für die Ewigkeit eingefroren. Doch allein der Film wird endgültig unheimlich, da todesnah: Er bezieht sich teils auf die traditionellen Symbole der Malerei und lädt seine Bilder damit unterschwellig mit Bedeutungen auf. Er nutzt den direkten Realitätsbezug der Fotografie, aber vor allem schöpft er die Potentiale seiner Bewegungsfähigkeit (kombiniert mit auditiven Eindrücken) voll aus. Er speichert Leben in der Bewegung, er reanimiert was stillstehen müsste, er kehrt Tode um und lässt Tote wieder aufstehen. Damit verfügt der Film über Leben und Tod wie ein Marionettenspieler und – wie es sich gezeigt hat – ebenfalls über den bereitwilligen Zuschauer, der sich hiervon anstecken lässt. Weiter geht die Untersuchung vom semiotischem (Bild-)Körper – dem von außen, oberflächlich, Bedeutungen eingeschrieben sind, die er auch durch performative Akte generiert – zum innerlich erfahrbaren Leib als sinnlichem Ausgangspunkt jedweder Wahrnehmung. Bedeutungsebenen von Körpern können einer möglichen Empathie

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entgegenstehen, wie der Umgang mit Bildern von schwarzen Sklaven bis ins 19. Jahrhundert gezeigt hat. Stereotype werden hier über Bilder weitergetragen und zementiert. Auch können Bilder, wie die Lynchfotografien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Teil der Folter werden. Die Gewalt der rassistischen Morde ist an den toten Körpern in diesen Bildern ablesbar, die wie Trophäen gesammelt und verbreitet wurden. Auch die Darstellung von fiktiven Tätern, Bösewichten, ist meist nicht bewertungsfrei, sondern direkt an Äußerlichkeiten ablesbar. Hässlich und animalisch im Anblick, lassen sie keinen Zweifel daran, auf welcher Seite sie stehen, als sei der schlechte Charakter in den Körper eingegangen. Dies beeinflusst ideologisch die Anteilnahme an ihrem möglichen Leid oder gar Tod. Inkorporiert werden auch spezifische Verhaltensweisen verschiedener gesellschaftlicher Schichten, der Habitus nach Pierre Bourdieu. Der erlernte, nicht angeborene, Habitus wirkt sich gemäß Bourdieu auf den persönlichen Geschmack, die Sprache oder auch den Kleidungsstil aus. Angehörige derselben sozialen Klasse teilen demnach häufig Vorlieben und Abneigungen, Empathie bezüglich Leid und Tod könnte demnach durch eine solche Ähnlichkeit mit dem anderen beeinflusst sein. Der vergeschlechtlichte Habitus beschreibt die Einwirkung sozialer Interpretationen von Weiblichkeit und Männlichkeit auf das Selbstempfinden als Frau und Mann. Die männliche Herrschaft werde von historischen Strukturen gestützt und somit als natürlich empfunden. Auch die Stereotype der Frau als Opfer oder der monströsen Frau werden gemäß Barbara Creed anders aufgefasst als männliche Opfer oder aber Monster. All diese Strukturen und konstruierten Körper-, wie auch Geschlechterunterschiede, scheinen eine Annäherung an den Tod über den Körper des anderen zunächst unmöglich zu machen. Der Körper als Leib steht dagegen für alle Wahrnehmungen und Empfindungen, die wir teilen. Somatische Empathie, so hat etwa Marina Abramovićs Performance Lips of Thomas gezeigt, ist insbesondere bei erkennbarem Leid und Schmerz eines anderen, bei allen sonstigen Unterschieden, möglich. Miterfasste Bedeutungsebenen können, durch ein empfundenes ›Mehr an Leid‹, die Anteilnahme sogar verstärken, wie die Frau als Opfer im Slasherfilm gezeigt hat. Claudia Benthien sieht deshalb in der menschlichen Haut in all ihren Unterschieden sowohl ein Objekt der Grenze, als auch eine Oberfläche, die berührt und berührt werden kann. Nicht nur der Film selbst, sondern auch Körper auf der Leinwand können somit durch den eigenen Körper erfahren werden, so dass man auch ihr Leiden bis zum Tod bedingt nachempfinden kann. Schon die compassio der christlichen Passionsmalerei setzt auf ein Mitleiden des Betrachters im Anblick von überbordendem Leid, Blut und Wunden, die teils weit über ein realistisches Maß hinausgehen. Eine Kopie der Wirklichkeit wird hier nicht angestrebt, eher ein Realismuseffekt, wie ihn auch der Film kennt. Die Qualen des gekreuzigten Christus, die noch am toten Körper ablesbar sind, werden im gelungenen Fall vom Betrachter intuitiv körperlich erfasst. Der gemalte Körper als bloßes Zeichensystem wird dabei gewissermaßen zu einem echten Körper, einer Präsenz, die Raum und Zeit überwindet. Bewegung und auditive Eindrücke des Films können diesen Effekt noch verstärken, die Passion in Echtzeit bis zum endgültigen Tod schildern und somatisch zugänglich machen. Dabei büßt der Film, so hat Mel Gibsons THE PASSION OF THE CHRIST gezeigt, aber die stille Andacht des Gläubigen angesichts des erhabenen Opfers für die Menschheit ein. Christus wird auch hier zu einem echten Menschen, dessen Qualen man nachvollziehen kann. Das Übermaß an Blut und Leid steht aber weniger im Bezug zum Bibeltext oder anderen Kunstwerken

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von großer Eindrücklichkeit, sondern wird dem Splatterfilm zugeordnet. Bilder von Tötungen mit expliziter Gewalt, Unmengen von Blut, Wunden und ausgeweideten Körpern, müssen eindringlicher auf den Rezipientenleib wirken als angedeutete Gewaltakte, die außerhalb der Bildebene stattfinden. Dies gilt bereits für die Malerei, verstärkt sich in der ›Echtheit‹ fotografischer Bilder, deren Manipulierbarkeit die empfundene Wahrhaftigkeit nie gänzlich ausmerzen kann und kulminiert erneut in den filmischen Potentialen. Auditive Eindrücke und dynamisch bewegte Filmbilder können den somatischen Effekt drastischer Tötungsbilder noch erhöhen. Das Schwellenphänomen, der Kipppunkt zwischen Leben und Tod, bewegt und unbewegt, doppelt sich in den medienspezifischen Fähigkeiten des Films und adressiert in dieser Verbindung besonders stark auch den Zuschauer(leib). Das auf Thesen Vivian Sobchacks aufbauende Leihkörperkonzept von Christiane Voss erfasst ganz ähnlich die Beziehung zwischen Zuschauer und Film: man kippe die entfernte filmische Zweidimensionalität in eine gegenwärtige körperliche Dreidimensionalität und schaffe so für die Dauer der Filmrezeption einen Erfahrungsraum der Überlappung und des Austauschs. Wie der Christus Mel Gibsons erleiden so Filmfiguren ersatzweise für uns nachfühlbare Qualen bis zum Tod. Wir schließen die Mängel und Lücken des Films mit uns aus der Welt Bekanntem und können uns so selbst unbekannten Todeserfahrungen verschiedener Ausführung annähern. Wir kommen anderen Körpern im Film sehr nah und doch ist das, was mit uns geschieht letzten Endes nie deren Empfindung, sondern immer nur unsere eigene. Wir verlebendigen erst das schon (vermeintlich) Lebendige und formen es zu einer uns zugänglichen Wirklichkeit. Nicht der Film allein schafft dann etwas, eine neue Welt, mit eigenen Regeln zu Leben und Tod, sondern wir mit ihm gemeinsam. Wir hauchen ihm Leben ein, um durch ihn den Tod erfahren zu können. Der geschundene Körper, dessen zunehmender Versehrtheit wir als Zuschauer unmittelbar und in teils ausgedehnten Einstellungen beiwohnen, adressiert nicht nur unseren eigenen Körper, sondern überwältigt ihn regelrecht, als werde ihm ebenfalls Gewalt angetan – eine andere, schmerzfreie, aber entgrenzende Gewalt. Im Falle gewaltsamer Tötungen wird man – ebenso gewaltsam – in den Film gerissen, bzw. von ihm ergriffen. Wir sind dem Körper eines Opfers auf der Leinwand seltsam nah und erleben ihn als ›echt‹, obgleich wir um die Fiktion wissen. Im gelungenen Fall der Kinoillusion tritt der Zuschauerraum (oder auch das häusliche Wohnzimmer) in den Hintergrund und wir gehen im Filmgeschehen auf. Wie Marionetten an Fäden eben zucken wir jedes Mal zusammen, wenn auf den Körper der Filmfigur eingeschlagen wird oder dieser verwundet scheint, als fühlten wir dessen Schmerz. Die psychoanalytisch-poststrukturalistisch geprägte Filmtheorie dagegen spart den Körper als zentrales Wahrnehmungsorgan und Schlüssel zur Filmrezeption weitgehend aus. Hier gilt: Männer blicken, Frauen werden angeblickt, Voyeurismus und Sadismus herrschen vor und die bevormundende Kamera wird verschleiert, um die Illusion nicht zu stören. Bei Jacques Lacan steht bereits das Kind im Verhältnis zum Symbolischen, noch bevor es nach Abschluss des Spiegelstadiums in die symbolische Ordnung der Sprache und Gesetze eingetreten ist. Es gibt nur die Phantasie einer einstigen totalen Körperlichkeit, die sich nicht mehr erreichen lässt, ansatzweise aber durch Schmerz oder verursachtes Leid aus den Zwischenräumen der symbolischen Ordnung gepresst werden kann. Selbstverletzungen im Drama, wie in den hier analysierten Beispielen der 2000er Jahre, können auf diese Weise die symbolische Ordnung

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unterlaufen: Die selbstzugefügten Schnitte, Kratzer und Verwundungen pressen das Reale aus dem Symbolischen hervor – stehen für ein Auflehnen gegen die mächtige Mutter, wie auch Gesellschaft – heimlich und unsagbar. Ebenso werden diese kleinen Schockmomente für das Publikum stark somatisch und kaum kognitiv nachvollziehbar. Sie stehen für eine gewisse persönliche Freiheit, aber in ihrer Destruktivität kommt man so auch dem Tod nah. Während dies in DIE KLAVIERSPIELERIN als der verzweifelte Versuch angesehen werden kann, den ›toten Körper‹ zu spüren und ihm so Leben einzuhauchen, ist der schrittweise Fokus auf den Körper in BLACK SWAN mit einem zunehmenden Verlust geistiger Gesundheit gleichgesetzt. Dies kippt, an den Rändern der gesunden Psyche, oder darüber hinaus, zuletzt sogar ins Phantastische – als schwarze Schwanenfedern durch menschliche Haut brechen. Der abschließende Tanz ist ein eine Art Veitstanz, ganz Körper, ganz jouissance, und damit dem Tod nah. DANS MA PEAU dagegen, geht schnell in die rein körperliche Ebene. Selbstverletzung ist das Zentrum des Films, der seinen Zuschauer dieser Todesnähe aussetzt, die von der Protagonistin, im Gegenteil, als besonders lebendig erachtet wird. Sadismus bedeutet immer auch den Körper spüren zu wollen bzw. den eigenen Körper über den des (leidenden) anderen zu erfahren. Die Kamera, die gnadenlos Körper vorführt und damit (auch bis zum Tod) über sie verfügt oder sie durch Schnitte zerstückelt und auf Körperausschnitte reduziert, erscheint ebenso sadistisch. Doch die Qualen eines Opfers auf der Leinwand müssen vom Zuschauer auch ertragen werden. Das bedingungslose Sehen-Müssen, der erzwungene Voyeurismus als Komplizenschaft, wie auch die Herauszögerung dessen, was man sehen will oder muss, stehen für einen Masochismus. Die Präsentaton von bloßen Ausschnitten von Körpern ermöglicht nicht nur das Ausleben von Sadismus, sondern auch in besonderer Weise somatische Empathie. Durch geschickte Schnitte, wie etwa in der Bordsteinszene in AMERICAN HISTORY X oder eine Verlagerung einer Folterung in die auditive Ebene, wie in HOSTEL, die jedoch Schmerzensschreie und Leid weiterhin schildert, kann auch ein kurzzeitiges Abwenden der Kamera vom Gewaltakt das Publikum weiterhin auf dieselbe Weise fesseln. Damit wird eine mögliche Abstumpfung des Zuschauers im Angesicht einer zu ausgedehnten Folterszene vermieden und dessen eigene Imagination angeregt. Anders als etwa bei Filmen Alfred Hitchcocks, wird der Gewaltakt dadurch nicht ausgespart, sondern lediglich verlagert. Auch Musik kann dem geschilderten Gewaltakt entgegenstehen und ihn grotesk und besonders abscheulich wirken lassen, wie das Beispiel der Vergewaltigung in A CLOCKWORK ORANGE gezeigt hat. Dies geht über die Realität hinaus und setzt gerade künstliche, filmische Mittel ein, um echte Empfindungen im Publikum auszulösen, wie es schon das frühe Kino der Attraktionen erprobt hat. Die Nahsicht auf schmerzverzerrte Gesichter oder offene Wunden kann dazu ebenso masochistisch ausfallen. Da wir nicht fest an Figuren(körper) gebunden bleiben, ist auch eine eindeutige sadistische Position, wie die des Gewalttäters oder auch eine masochistische oder empathisch mit dem Opfer fühlende, für das Publikum nicht zu bestimmen. Die Empfindungen des Zuschauers fallen nie genau mit denen der Figuren zusammen und zudem wechselt man laufend zwischen sadistischen, empathischen, wie auch masochistischen Tendenzen und erlebt allerlei Mischformen. So liegt im Kinovoyeurismus an sich ein Sadismus, dazu im Beiwohnen der Qualen von filmischen Opfern. Doch man ›versteht‹ deren Leid dennoch unmittelbar durch den eigenen Körper und den Kinosaal nicht zu verlassen, dem Geschehen weiter zu folgen, kommt

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teils einem Masochismus gleich. Der sadistisch-voyeuristische Blick im visuellen Medium Film eröffnet erst, synästhetisch, den Zugang zu weiteren Sinnen. Auch das durch einen Gewaltakt erzeugte Leid sei nicht einzig an das Opfer gebunden, so der Philosoph Pascal Delhom: »Die Perspektive des Erleidens ist [...] nicht mit derjenigen der Gewaltopfer gleichzusetzen: Sie kann ebenso die Perspektive der Zeugen erlittener Gewalt sein, und sie ist nicht selten diejenige von Menschen, die Gewalt ausüben oder geschehen lassen und daher mit dem Erleiden durch andere konfrontiert sind [...] es kommt nie zu einer genauen Deckung zwischen dem, was getan, und dem, was erlitten wird. Der verletzende Schlag ist nicht mit der erlittenen Verletzung gleichzusetzen, auch wenn sie die zwei Seiten desselben Gewaltgeschehens sind.«4

Obwohl Gewalt (insbesondere bis zum Tod) einen solch intensiven körperlichen Kontakt darstellt, bleiben die beiden Menschen doch voneinander getrennt. Dies ist auch für die Filmrezeption aufschlussreich, in der der Zuschauer von vornherein räumlich und zeitlich vom filmischen Geschehen abgetrennt ist, jedoch durch die Illusionspotentiale des Films auch an diesen beteiligt wird. Seine Positionierung kann so nie so eindeutig sein, wie im echten Leben. Daraus ergeben sich aber ganz neue Erfahrungspotentiale. Martin Seel führt aus: »Das Opfer wird von einer machtvollen Bewegung erfaßt, die keine Rücksicht auf die Grenzen seines Körpers nimmt. Vor solchen Widerfahrnissen ist der Betrachter künstlerischer Werke sicher. Er mag überrascht oder schockiert werden, aber es stößt ihm nichts zu. Buchstäbliche Gewalt widerfährt ihm nicht [...] Der Zuschauer oder Zuhörer wird von einer machtvollen Bewegung erfaßt, die eine Rücksicht auf die Verletzlichkeit seines Leibes nimmt. In dieser besonderen Gewaltlosigkeit des Kunstwerks liegt seine Affinität zur Gewalt. Es will ohne physische Gewalt berühren, dabei aber eine Wirklichkeit entfalten, die sich von der Normalität des Daseins ebenso sehr abhebt, wie andere Grenzfälle des Lebens. Eine der Formen, in denen Kunstwerke dies versuchen, ist die Darstellung von Gewalt – eine andere ist die Darstellung von Sexualität, wieder eine andere ist die Entblößung der Materialität des künstlerischen Objekts [...]«5

Parallel zu einer nicht klaren Positionierung des Publikums, kann man sich auch gegen eine psychoanalytische Identifikation, wie bei Laura Mulvey, stellen, die den Zuschauer für die Dauer der Filmvorführung an eine bestimmte Figur bindet. In Kapitel 3.3.2.1 wurde in Zusammenhang mit dem Slasherfilm untersucht, dass weder eine dauerhafte Bindung an den Killer, noch das einzig überlebende Final Girl notwendig ist, um dem Filmgeschehen zu folgen. Frauenfiguren eröffnen zwar häufig klischeehaft durch Jammern, Flehen und Kreischen stärkere somatische Reize, dies wird jedoch geschlechterübergreifend nachvollziehbar und ist auch losgelöst von psychoanalytischen Kastrationsängsten. Verwundete Körperregionen früherer Opfer oder auch

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5

Delhom, Pascal: »Phänomenologie der erlittenen Gewalt«, in: Staudigl, Michael. (Hg.), Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014, S. 155-174, S. 158. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens, S. 300/301.

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Verletzungen, die eine Flucht verlangsamen, erschließen bereits geschlechterübergreifend körperliche Ebenen der Filmrezeption. Auch das Final Girl selbst ist kein Identifikationsobjekt als versteckter Mann, wie bei Carol J. Clover, sondern bietet, durch zunächst körperliche Unterlegenheit und dann zuletzt doch Triumph über den Killer/Tod, somatische Ebenen der Zuschauerbeteiligung. Durch die Tötung des Killers stellt das Final Girl die (symbolische) Ordnung wieder her und trennt zugleich die Seiten von Gut und Böse. Das Publikum erhält einen beruhigenden Ausgleich für die zuvor erlittenen Strapazen und Todesängste. In den behandelten New Extremity Horrorfilmen gibt es diesen Ausgleich nicht mehr, der Tod/das Böse überlagert die Welt der Lebenden/des Guten und es gibt keine klaren Seiten mehr. Ebenso werden Geschlechterunterschiede durch extrem gewaltsame Tötungen regelrecht ausgemerzt, sei es durch die Zerstückelung von Körpern oder Häutung. Der Körper selbst als verwundbare, sterbliche Hülle aus der wir alle bestehen, rückt in den Fokus, ganz wie der phänomenologische Unterschied von sichtbarem Körper und fühlbarem Leib es gezeigt hat. Die Besonderheit ist hier, dass die nur äußerlich sichtbaren geschundenen Körper auf der Leinwand den Leib des Zuschauers derart involvieren, dass sie quasi fühlbar werden – auch über Geschlechtergrenzen hinweg. Nur so kann der Tod – annähernd – erfahren werden und nicht durch Unterschiede zwischen Körpern von vornherein blockiert. Man hat das Gefühl, beinahe selbst verwundet zu werden und gerade so mit dem Leben davon zu kommen. Ohne uns zu identifizieren, nehmen wir eine filmische Tötung mal mehr aus Sicht des Täters, des Opfers oder auch nur stummen Zeugen wahr und erhalten so eine Mehrperspektivität auf den Tod, die es im echten Leben – oder auch den statischen Bildmedien Malerei und Fotografie – nicht geben kann. Gegen Identifikationen spricht sich auch die kognitive Filmtheorie aus, schiebt den Körper aber zugunsten von mentalen Prozessen des Publikums weiterhin ins Abseits. Erst neuere Theorien binden auch Affekte und Emotionen stärker mit ein. Die Embodied Cognition der Kognitionswissenschaft sieht den Körper und Einwirkungen auf ihn, wie bspw. Wärme und Kälte, als Basis an, die kognitive Leistungen beeinflusst. Auch die intuitive Reaktion auf Schmerz und Leid eines anderen ist im Gehirn messbar. Obwohl sowohl unbewusste Ebenen der psychoanalytischen Filmtheorie als auch bewusst antizipierende und konstruierende Ebenen der kognitiven Filmtheorie somit aus der Perspektive des Körpers neu verhandelt werden können, wie von Thomas Morsch gefordert wurde, ist auch die körperliche Ebene selbst für die Untersuchung einer ›Todesbegegnung‹ interessant: Für Steven Shaviro befinden sich filmische Bilder durch ihre Unmittelbarkeit außerhalb semiotischer Systeme. Dies bestätigt auch die intuitive Reaktion auf menschliches Leid im Film, das den anderen als Menschen mit einem verletzlichen Körper und nicht Abbildung registriert – und das schneller erfolgt, als es bewusste kognitive Leistungen zulassen würden. Hier ist erneut eine Parallele zu punctum und studium zu erkennen. Außerhalb semiotischer Systeme befindet sich auch der nicht darstellbare und nicht vorstellbare Tod. Doch überall dort, wo er sich filmisch-gegenwärtig als Leiden und schrittweises Sterben des anderen bereits ankündigt, wird er intuitiv körperlich erfasst – auch ohne je vollständig kognitiv begriffen oder verbalisiert werden zu können. Tödliche Gewalt vollzieht sich ebenso unmittelbar wie die Filmerfahrung selbst: Statt von einem Subjekt auszugehen, das in der Welt verortet ist und diese wahrnimmt,

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ist Gewalt bis zum Tod etwas, das einem durch einen Anderen widerfährt. »Wie verändert sich [deshalb] das sinnstiftende Körperschema im Sinne von Merleau-Ponty durch Gewaltanwendung?«6 fragt der Soziologe Ilja Srubar, und erklärt weiter: »Der Gewalt unmittelbar ausgesetzt, wird der Leib selbst zum peinigenden Objekt, seine sinngebende Funktion wird auf ihn selbst bezogen, der Weltbezug als Wirklichkeitsbezug schwindet und mit ihm auch die Grundlage sprachlicher Verständigung. Das Opfer wird sprachlos. Gewalterlebnisse formen jedoch das sinngebende Körperschema über die Situation der unmittelbaren Gewaltanwendung hinaus. Das Verhältnis zum eigenen Leib wird verändert. Er wird nunmehr als ein Werkzeug fremder Gewalt wahrgenommen, dessen Funktionen und Anatomie als Folterinstrumente missbraucht werden können.«7

Gewalt ist damit ebenfalls ein nicht-sprachlicher Akt, der sein Opfer – und zugleich phasenweise, abgeschwächt, auch den Zuschauer, der sich dem Film freiwillig aussetzt – objektiviert und den erfahrenden Leib zum organischen Körper rückbindet. Pascal Delhom führt aus, das Subjekt als Opfer wende sich damit nicht mehr von sich aus der Welt zu, sondern werde von etwas in der Welt getroffen. Es sei damit noch »Subjekt seines Erleidens, Subjekt aber nicht im Sinne des Urhebers eines intentionalen Aktes, sondern so, dass es dem, was es verletzt, unterworfen (sub-iectus) ist.«8 Ebenso wird der Zuschauer in einem eigentlich einvernehmlichen, nicht-sprachlichen Akt teils vom Film überwältigt, den grausamen Bildern unterworfen, trotz (oder wegen) eindringlich geschilderter unlustvoller Inhalte, wie es sich als Kino-Masochismus festmachen lässt. Zeitweise bekommt das Publikum, so in Filmen wie IRRÉVERSIBLE oder DANS MA PEAU, kaum überhaupt die Möglichkeit für einen kognitiven Zugang. Zu brutal sind die Geschehnisse, zu nah kommt einem der Tod in Form von überbordender Gewalt, man ist zwangsläufig hauptsächlich körperlich beteiligt. Folgt man Elaine Scarrys Beschreibung einer schmerzhaften Folter, lässt sich erkennen, dass wir als Zuschauer ganz ähnlich häufiger von diesen Filmen gefoltert werden, als sadistische Voyeure zu bleiben. Sie verursachen einen quasi-Schmerz, indem sie uns auf intensive Weise einnehmen und aufrütteln, auch wenn dies natürlich anders empfunden wird als Schmerzen im echten Leben. Auch in der Folter ist die bewusste kognitive Ebene zeitweise ausgemerzt, sie »[...] vermittelt [...] keinerlei erhellende Einsicht. Schuld am vollständigen oder nahezu vollständigen Verlust der Welt, des Ich und der Sprache in der Folter ist der intensive Schmerz [...]«,9 so Scarry. Im zeitweisen Distanzverlust zum Film ist der Zuschauer völlig vom gewaltsamen Leinwandgeschehen ergriffen und wie im Schmerz mit Haut und Haar beteiligt. Die formale Gegenwärtigkeit des Films, durch seine wechselnden Bilder und eindringlichen Soundeffekte, überlagert sich mit seinen brutalen Inhalten und schafft in dieser Verzahnung die Voraussetzung

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Srubar, Ilja: »Gewalt als asemiotische Kommunikation«, in: Staudigl, Michael (Hg.), Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014, S. 74-86, hier S. 80. Srubar, Ilja: »Gewalt als asemiotische Kommunikation«, S. 80. Delhom, Pascal: »Phänomenologie der erlittenen Gewalt«, S. 157. Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz, S. 54.

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für eine bislang unübertroffene ästhetische Erfahrung von tödlicher Gewalt. Schmerzen sind ebenfalls hochgradig gegenwärtig, so Scarry: »Ein Aspekt starker Schmerzen [...], ist, daß das Opfer ihn als überwältigend gegenwärtig erlebt, als etwas, das auf intensivere Weise real ist als irgendeine Erfahrung sonst [...]«10 Anders als das Opfer wird der Zuschauer sich jedoch nie gänzlich im Geschehen verlieren, sondern beständig zwischen extremer Nähe und Distanz wechseln, sogar teils ergriffen sein, während ihm bewusst ist, dass er nicht wirklich Grund zur Angst oder zum Weinen hat. Der Film als sadistisches Instrument, geht dabei trotz des masochistischen Vertrags mit dem Zuschauer – dessen Erwartungshaltung und dem Wissen um die schützende Leinwand – in seinen geschilderten Übergängen vom Leben zum Tod teils weit über das Erträgliche hinaus und kann neben Angst und Schock auch echte Übelkeit auslösen. In der filmischen Erfahrung entsteht eine Wirklichkeit in dem mit dem Film geschaffenen Erfahrungsraum, die nicht mehr nur Realität kopiert. Der Film schafft mit filmischen Mitteln etwas Eigenes, das sich für uns echt anfühlt, weil wir einen Körper haben, der wirklich empfindet. Dieses wirkliche Empfinden eines nicht – oder anders – Wirklichen, kann, auch kognitiv, zu Erkenntnissen in der echten Welt führen, die sozusagen ›einmal durch den Körper gegangen sind.‹ Es macht aber auch den Körper selbst bewusst. Im Alltagsleben nehme man so selbstverständlich durch den Körper wahr, dass man ihn regelrecht vergisst, so Simon J. Williams: »This in turn suggests that bodies, at the most general level, become most conscious of themselves when they encounter ›resistance‹ or ›difficulties‹ of various kinds – from the physical accompaniments of overexertation to the corporeal consequences of social embarassment. If this is true of bodies in general, then it is particularly true of sick and painful bodies. Here the scale, intensity and duration of such experience takes on new meaning and significance through a profound disruption of our biographies, selves and the taken-for-granted structures of the world upon which they rest. Suddenly, the body becomes a central aspect of experience [...]«11

Die einnehmende Wirklichkeit von gewaltsamen Tötungen im Film wiederzugeben und immer weiter zu erproben, bedeutet damit immer auch eine Erprobung von Sinnlichkeit, die sich in solchen Grenzgängen intensiviert. New Extremity Filme bohren sich häufig wie eine Klinge in den Körper. Sie gönnen kaum eine Pause und keine Hoffnung. In einem Rausch aus teils dynamischen, teils erschreckend nüchternen Kameraperspektiven, menschlichen Schmerzensschreien, aufblitzenden Waffen, klaffenden Wunden und hervortretendem Blut, überwältigt einen die Brutalität der filmischen Folter, lässt einen die Hände schockiert vor den Mund führen, ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube verspüren, mitunter auch unterdrückt aufschreien und erleichtert aufatmen, wenn die entsprechende Szene zu Ende geht, auch wenn dies meist den Tod des Opfers bedeutet. So sehr man sich gegen Filme aussprechen kann, die extreme Gewalt thematisieren und damit immer in gewissem Maß glorifizieren, man muss ihnen doch ihre große Wirkungskraft zugestehen: Ihre Fähigkeit als künstliches Konstrukt, über dessen Künstlichkeit man in jedem Augenblick informiert ist,

10 Ebd., S. 78. 11 Williams, Simon J./Bendelow, Gillian: The Lived Body, S. 159.

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geschlechts- und kulturübergreifend Empfindungen im Zuschauerkörper zu generieren, die in diesem Maß real und unerträglich sind und darin einer Todeserfahrung nah kommen. Doch warum könnte das Publikum eine solche Auseinandersetzung suchen? Zunächst wurde hier insbesondere eine Bewältigungsstrategie angenommen – der Film bietet schließlich die Möglichkeit, sich immer wieder und auf verschiedene Weise, aber stets geschützt durch die Fiktion und die Leinwand selbst, mit einem Ereignis auseinander zu setzen, das untrennbar zum Leben gehört. Michele Aaron führt dazu eine Beherrschung des Todes wie auch einen Masochismus an: »[T]he flirtation with death is [...] a timeless theme: the thrill of survival, the alure of the flame, is an age-old conceit. For Freud this flirtation formed the cornerstone of his universal theory of the drives, as the pre-eminence of the death instinct [...] the individual tests and strengthens the death drive precisely through these brushes with mortality, and ›culture‹ offers a compelling platform for occasioning such thrills. But the flirtation with death also provides the joy of mastery and the (perverse) allure of pain that Freud associated with masochism. Fears or frights are conquered, suffering indulged, and, most importantly, and however eventual its appreciation might be, there is pleasure in it.«12

Evolutionstheoretische Theorien zur Anziehungskraft von Tod und Gewalt auf das Publikum diskutieren, ganz ähnlich, eine Art morbide Neugierde, die seit jeher dem Erkennen von Bedrohungen zugutegekommen sei, aggressives Verhalten sei außerdem als Indikator von evolutionärem Durchsetzungsvermögen zu sehen und deshalb evtl. anziehend.13 Wir können uns filmisch sowohl bei der Trauerarbeit begleiten lassen, uns auf bevorstehende Tode von geliebten Menschen annähernd vorbereiten, als auch und vor allem dem eigenen, unvorstellbaren Tod thematisch oder bildlich symbolisiert begegnen – und ihm gleichzeitig durch die speicher- und wiederholbaren Potentiale des Mediums entgehen. Ein ständiges Spiel zwischen Verdrängung und Auseinandersetzung ist nur verständlich bei einer Tatsache, die sich nicht auf ewig aufschieben lässt. Die Gewalt einer Tötung können wir uns jedoch, anders als den Tod selbst, vorstellen und benötigen keine Verbildlichung. Dies ist darüber hinaus, anders als der Tod generell, meist vermeidbar. Warum sollte man also gezielt die Auseinandersetzung mit gewaltsamen Tötungen im Film suchen? Hierfür gibt es, wie bereits in der Einleitung angesprochen, interdisziplinär unzählige Erklärungsversuche, die hier nicht vollständig wiedergegeben werden können. Der Medienwissenschaftler Marco Dohle hat für traurige Filme untersucht, was sich auch auf Tötungsszenen anwenden lässt: »Negative Emotionen können auf der Mikroebene quasi unbegrenzt empfunden werden, wenn die Makroebene positiv ist.«14 Dazu würden sich Menschen mit bestimmten Erfahrungen oder Persönlichkeiten zu bestimmten Filminhalten hingezogen fühlen15 und Filme würden zudem, wie schon in Kapitel 2

12 Aaron, Michele: Death And The Moving Image, S. 69. 13 Vgl. Kunczik, Michael/Zipfel, Astrid: Medien und Gewalt. Befunde der Forschung 20042009, S.105. 14 Dohle, Marco: Unterhaltung durch traurige Filme, S. 44. 15 Vgl. ebd., S. 54.

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diskutiert, einen sicheren Zugang zu bedrohlichen und beängstigenden Themengebieten bieten.16 Die Studie Making Sense of Violence von Anne Bartsch und Marie-Louise Mares macht als anziehenden Faktor für die Rezeption von Filmen mit gewalttätigen Inhalten weniger eine Lust an Gewalttätigkeit und Blutvergießen selbst aus, als entweder, gemäß vorangegangener Studien, dem beigegebene Mehrwerte wie Nervenkitzel und Spannung17 oder, so ihre eigene Untersuchung: »[...] nonhedonistic motivations that may also contribute to the attractions of violence in an indirect manner. Building on recent conceptualizations of eudaimonic, ›meaning-making‹ motivations [...] we theorize that individuals may choose to watch violent, gory material if they anticipate that the depiction is a meaningful and valuable reflection of reality. While viewers might not enjoy watching a film about domestic abuse or the cruelties of war, they might nonetheless appreciate a serious and insightful reflection of these issues that acknowledges the human cost fully rather than eliding the violence.«18

Sigmund Freud hat für negative Themen einen Wiederholungszwang ausgemacht. Hier wiederhole das Kind spielerisch Situationen, die ihm Unlust bereitet haben, um diese zu bewältigen. Diese Verhaltensweise werde, so Freud, für gewöhnlich später abgelegt, der Kranke jedoch bleibe in diesem infantilen Stadium gefangen.19 Die (wiederholte) Rezeption negativer Inhalte könnte einer solchen Bewältigung nahestehen. Beim Meaning-Making in Filmen ohne Happy End scheint es sich um eine Art masochistische Rezeption zu handeln, die selbst schockierenden oder traurigen Inhalten etwas Positives abgewinnt, was eine durchwachsene Lust darstellt. Nicht nur die kognitive Ebene einer Sinnstiftung, sondern gerade die körperlichen Anteile der Filmrezeption könnten hierfür der Schlüssel sein – alles das was unmittelbar erfahren und intuitiv mit der Welt in Beziehung gesetzt wird. Die eigentlich negative Filmerfahrung lässt sich auch an das Erhabene Edmund Burkes anschließen. Dieses hat gezeigt, dass negative Themen, wie Tötungen, aus einer gewissen Distanz heraus – wie bei in einem Kunstwerk – einen Reiz haben können. Nelson Goodman führt in diesem Sinne aus: »Oft sind die an der ästhetischen Erfahrung beteiligten Emotionen nicht nur etwas gedämpft, sondern auch in ihrer Polarität umgekehrt. Wir begrüßen Werke, die Emotionen hervorrufen, die wir normalerweise meiden. Negative Emotionen wie Furcht, Haß, Abscheu können zu positiven werden, wenn sie durch ein Theaterstück oder ein Gemälde ausgelöst werden.«20 Die unmittelbare Nähe und Distanz zum Filmgeschehen erlauben dies auf besondere Weise, da wir uns dem Geschehen und allen beteiligten, teils intensiven, Affekten und 16 Vgl. ebd., S. 102. 17 Vgl. Bartsch, Anne/Mares, Marie-Louise: »Making Sense of Violence«, S. 956f. 18 Bartsch, Anne/Mares, Marie-Louise: »Making Sense of Violence«, S. 957. Für die Studie wurden Probanden in den USA und Deutschland Filmausschnitte aus den Genres Horror, Action und Drama vorgeführt, die unterschiedliche Grade an Brutalität und Bedeutung aufwiesen. Die Teilnehmer sollten bewerten ob sie sich den ganzen Film ansehen würden und dies mit vorgegebenen Kategorien wie ›gory/brutal‹ und ›meaningful/thought-provoking‹ begründen. Vgl. ebd., S. 962f. 19 Vgl. Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips, S. 33ff. 20 Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst, S. 227.

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Emotionen gefahrlos hingeben können. Dirk Eitzen führt ähnlich dem MeaningMaking bei unlustvolle Themen aus: »By imagining something disgusting or threatening, we take a step toward comprehending it. By trying to comprehend it, we take a step toward being able to manage or control it. This is a uniquely human capacity, but it addresses a basic biological need, by helping us feel and be safe.«21 Ganz ähnlich argumentiert auch Chris Tedjasukmana, betont aber stärker die körperliche Ebene und die allgemeine Möglichkeit im Kino (negative) Dinge zu erfahren, die einem im echten Leben nie begegnen werden, weil man sich nicht gleichermaßen auf sie konzentrieren kann wie in der Filmrezeption22 oder sie einem schlicht nicht widerfahren: »Gegenüber den unmittelbar schlechten Gefühlen verhalten sich negative Affekte produktiv. Diese Produktivität liegt weniger darin, wie in der klinischen Analyse kausale Zusammenhänge zwischen den beispielsweise melancholischen Erscheinungsweisen und ihren Ursachen im psychisch Unbewussten herzustellen. Vielmehr besteht sie darin, dass wir in der Affektmaschine Kino erfahren können, was in der unmittelbaren Betroffenheit oftmals opak und unzugänglich, ja an-ästhetisch und un-erfahrbar bleibt – man denke an den blinden Hass, die überwältigende Trauer, das heimsuchende Trauma. Auf der einen Seite produzieren negative Affekte im Kino also weniger Intensität als jene überbordenden schlechten Gefühle, da sie durch die Fiktion und die raumzeitliche Distanz relativiert werden können. Auf der anderen Seite ermöglichen und offenbaren sie mehr, gerade weil sie vermittelt sind und von außen projiziert werden und so die Welt des Ich erweitern. So kann das unscheinbare Drama, das nur durch einen unwillkürlichen Seufzer oder eine diskret verlorene Träne an die Oberfläche dringt, jene biografische Geschichte schlechter Gefühle als eine filmisch wahrgenommene Geschichte negativer Affekte auf der weißen Fläche der Leinwand erscheinen. Als fiktionale, ästhetische Form besitzt der Film das Potenzial einer affektiven Erfahrung verlorener Möglichkeiten.«23

Ebenso vielseitig wie der filmische Umgang mit dem Tod, seine Multiperspektivität durch verschiedene Ausführungen und Blickwinkel, ist augenscheinlich auch die Motivation ihn zu suchen. Insbesondere Jugendliche, so Barbara Krahé in Media violence use as a risk factor for aggressive behaviour in adolescence, könnten in Filmen mit expliziten Gewalt- und Tötungsszenen u.a. Aggressionen durch den filmischen Stellvertreter ausleben (Vicarious Aggression), verschiedenes Rollenverhalten üben (personal identity formation) oder eine Mutprobe bestehen, indem sie versuchen würden, reif oder hart genug zu wirken, um den brutalen Film auszuhalten (empowerment and social status).24 Benjamin Moldenhauer erkennt bei Jugendlichen dazu eine Abgrenzung von der Erwachsenenwelt durch die Rezeption extremer Inhalte abseits der Norm.25 Mattias Frey benennt als altersübergreifenden Grund für die Rezeption extremer Inhalte die Suche nach Tabubrüchen sowie einen Beweis der eigenen Stärke 21 Eitzen, Dirk: The Fun of Fear, http://scsmi-online.org/forum/the-fun-of-fear-horror-sus pense-and-halloween (Abgerufen 22.01.2019). 22 Ähnlich hat auch schon Kracauer argumentiert, vgl. Kapitel 3.1.1 23 Tedjasukmana, Chris: Mechanische Verlebendigung, S. 189/190. 24 Vgl. Krahé, Barbara: »Media violence use as a risk factor for aggressive behaviour in adolescence«, in: European Review of Social Psychology, Vol. 25, Nr. 1 (2014), S. 71–106, hier S.74f. 25 Vgl. Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S. 263f.

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und fasst zusammen: »[P]eople choose to watch these films – and stay glued to cinema and television screens to the bitter end – to show off and act tough.«26 Der gewaltsame Tod im Film könnte außerdem dabei helfen, Angst zu bewältigen, indem eine Kontrolle der eigenen Ängste und Emotionen erlernt wird. Dies gilt ebenfalls, aber nicht ausschließlich, für Jugendliche.27 Benjamin Moldenhauer schließt hieran, ähnlich den obigen Ausführungen, an: »Meine These ist, dass die[...] filmisch hergestellte Verstörung eine Entsprechung in der Welterfahrung des Zuschauers hat: Die Bilder exzessiver Gewalt lassen die diegetische Welt als porös, als einen unsicheren und verunsichernden Ort erscheinen – und diese Empfindung von Unsicherheit und Gefährdung kann intuitiv auf die Welt außerhalb des Kinos rückbezogen werden. Die Gewalt der Bilder fungiert so als audiovisuelle Metapher, die ihre Bedeutung nicht auf dem Weg des bewussten Entzifferns, sondern über eine somatisch intensive Erfahrung freisetzt. Das Gewaltbild des drastischen Horrorfilms erscheint dann als sinnliches Zeichen der Porösität [sic!] der Welt.«28

Dies klang auch beim Actionfilm an: Anders als etwa der Slasherfilm und New Extremity Horrorfilm wiegt der 1980er Actionfilm den Zuschauer in der Sicherheit zu überleben. Wieder sind die Verhältnisse zwischen Gut und Böse, wie im Slasherfilm, klar verteilt. Der Actionheld ist eine unbezwingbare Kampfmaschine, der es mit einheitlichen Horden von Gegnern aufnehmen kann und nur einen kurzen Moment – um seine Zähheit und Stärke, aber auch das Gute in ihm zu demonstrieren – muss er leiden wie Jesus Christus und könnte unterliegen. Diese Ohnmacht, die das Publikum am eigenen Leib nachvollzieht kehrt sich im nächsten Moment aber in einen überlegenen Rachefeldzug um und der Held wird – immer – triumphieren. Realismus ist hierfür sekundär. Wieder ist das Böse/der Tod besiegt und alle Unschuldigen befreit. Um dieses klare Bild nicht zu gefährden, wird sein eigenes Leid ausgestellt, das seiner Gegner aber außerhalb der Bildebene gesetzt. Sie sterben schnell und beinahe unsichtbar und lösen einander ab, ohne, dass man ihr Leid zu Gesicht bekäme. Sowohl eine moralische, als auch somatische Ebene – und das geht häufig Hand in Hand – werden dadurch unterbunden. Dies macht den Actionfilm häufig ideologisch, besonders wenn realhistorische Ereignisse thematisiert werden. Die Wahrheit zeigen können Filme uns ohnehin ebenso wenig wie den Tod: »The cinema cannot show the truth, or reveal it, because the truth is not out there in the real world, waiting to be photographed. What the cinema can do is produce meanings, and meanings can only be plotted not in relation to some abstract yardstick or criterion of truth but in relation to other meanings«,29 so der Filmkritiker Peter Wollen. Deshalb habe bereits Jean-Luc Godard ein Gegenkino geschaffen, doch auch dieses könne nicht für sich alleine Wahrheit ausdrücken: »[...] It can only exist in relation to the rest of the cinema. Its function is to struggle against the fantasies, ideologies, and aesthetic 26 27 28 29

Frey, Mattias: Extreme Cinema, S. 31. Vgl. Ebd, S. 136. Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S. 264. Wollen, Peter: »Godard and Counter-Cinema: Vent d’Est«, in: Rosen, Philip (Hg.), Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York/Oxford: Columbia University Press 1986, S. 120-129, hier S. 129.

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devices of one cinema with its own antagonistic fantasies, ideologies, and aesthetic devices.«30 Ähnliches lässt sich über das heutige New Extremity Kino in Frankreich und weiteren Ländern sagen: Seine Erprobung der eigenen Medialität, das Infragestellen der Sehgewohnheiten, das Herausfordern des Publikums, das an seine Schmerzund Geschmacksgrenzen geht (und manchmal darüber hinaus), lassen es nicht nur die Wirklichkeit kommentieren, sondern auch in starkem Dialog mit anderen Filmen oder Werken der Kunst stehen und in diesem Kontrast Dinge zum Vorschein bringen, die sich möglichen Wahrheiten annähern. Diese werden seltener in der Narration klar thematisiert, um so Stellung zu beziehen, als anhand der bewegten Bilder und auditiven Eindrücke erfahrbar. Wie eine Erfahrung im echten Leben, die noch nicht verbalisiert wurde, um sie anderen mitzuteilen, bleibt diese mehrdeutig. Über die Intention der Filmemacher hinaus, existieren auch filmische Exzesse zwischen Zuschauer und Film, die als eigene Ebene der Rezeption mitschwingen. Theoretische Bezüge werden durch eine schwer verbalisierbare, augenblickliche somatische Erkenntnis ersetzt. Der Actionfilm der 2000er, auch wenn er häufig bewährten Strukturen folgt, hebt die klare/ideologische Verteilung von Gut und Böse zumindest teilweise auf und präsentiert auch das Leid der Gegner durch den Actionhelden. Der Tod aus unterschiedlichen Blickwinkeln wird dadurch – auch somatisch – zugänglicher. Der Film wird nun realistischer, nähert sich teils einem Kriegsfilm an, die moralische Ebene kann den Kinogenuss aber auch stören. Abgesehen von einer Verstörung des Publikums, die auch moralische Fragestellungen aufwerfen kann, dient die stetige Steigerung der sichtbaren Gewalt hier auch einer anhaltenden körperlichen Adressierung des Publikums, das im Actionfilm gekoppelt mit immer neuen Special Effects den aufwiegelnden Kampf um Leben und Tod nachfühlen will und die durch Gewöhnung sonst ›tot‹, also wirkungslos, werden könnte. Die sich steigernde, aufrüttelnde, fiktive Gewalt bzw. deren Rezeption korreliert dabei – wie schon für den Zombiefilm beschrieben – häufig mit gesellschaftlichen Krisen und der Flut echter erschreckender Medienbilder, die einerseits unterschwellig bedrohen, andererseits recht unbeteiligt konsumiert werden und den Körper kaum mehr adressieren. Elizabeth M. Perse und Jennifer Lambe führen in Media Effects and Society aus: »The media served tension-reduction functions immediately after the September 11 terrorist attacks. Some thought news coverage resembled a ›terror spectacle‹ that mirrored Hollywood blockbusters like Independence Day and The Towering Inferno [...] Other analyses found that coverage of attacks included more features of crime stories that political stories [...] e.g. a focus on the ›crime‹, reports of eyewitnesses, and efforts to identify and apprehend the criminals [...] TBS replaced violent movies like Lethal Weapon with comedies like Look Who’s Talking. Audiences, however, seem to find some solace in violent films. Video outlets reported heightened sales of movies with terrorist plots [...]«31

Die Filmrezeption bietet – so hat auch der Horrorfilm gezeigt – häufig eine Angstlust, bei der man fasziniert ist und sich zugleich fürchtet, dem Geschehen nah ist und fern, 30 Ebd., S. 129. 31 Perse, Elizabeth/Lambe, Jennifer: Media Effects and Society, New York/London: Routledge 2017 [2001], S. 62.

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bei der man an das eigene mögliche Schicksal gemahnt und (zeitweise) davon erlöst wird, zugleich verstört wird und beruhigt.32 Der gewaltsame Tod im Film als jouissance übersteigt Semiotik und Filmnarration und unterläuft die sonst übliche Sinnstiftung, wie auch Regeln und Gesetze/Tabus der Gesellschaft. Die ständige Möglichkeit des eigenen Todes wird etwa bei Fernsehberichten über terroristische Attentate als unbegreiflicher Schrecken mitempfunden, der sich nicht mehr in Bildern bannen lässt. Das New Extremity Kino spielt diesen Schrecken aus, überspitzt ihn noch und macht ihn direkt am eigenen Leib des Zuschauers erfahrbar. In erster Instanz könnten Gewalt- und Tötungsdarstellungen damit immer eine ästhetische Funktion erfüllen: »[Dieser] Ansicht nach werden Gewaltszenen unabhängig vom Kontext als angenehme Sinneseindrücke wahrgenommen. Nach Thomas Hausmanninger (2002) besteht die Basis des bei der Rezeption von Gewaltdarstellungen empfundenen Vergnügens in der zweckfreien Wahrnehmung und der ›Funktionslust‹, die sich auf die sensomotorische Ebene (Lust am Funktionieren des Körpers und der Sinne, z.B. bei der Wahrnehmung von Farben, Bewegungen und Geräuschen bzw. von ›Action‹), auf die emotionale Ebene (Lust am Funktionieren von Gefühlen, z.B. empathische Prozesse) sowie auf die kognitive Ebene (Lust am Funktionieren intellektueller Fähigkeiten, z.B. Entschlüsselung von Bedeutungsstrukturen) beziehen könne. Kognitive Funktionslust komme v.a. bei Intensivnutzern violenter Genres zum Tragen, die sich z.B. für die spezielle Machart von Spezialeffekten, die Schemata der Filme eines Genres usw. interessierten.«33

Die besondere Lust läge dann – zunächst losgelöst von kognitiven Anteilen – in der körperlichen Erfahrung selbst, wie es sich z.B. für den Actionfilm der 2000er gezeigt hat, der etwa in THE RAID 2: BERANDAL den Zuschauer, unmittelbar aber comichaft inszeniert, an den brutalen Tötungen durch Filmbösewichte teilhaben lässt. Anders als der New Extremity Horrorfilm wird die Brutalität nicht in langen, quälenden Einstellungen, sondern schnellen Schnitten präsentiert, die einen wie viele kleine Tode überwältigen. Wie im 1980er Actionfilm oder Slasherfilm ist das letztendliche Bezwingen des Gegners/Todes ausschlaggebend, die (immer noch teils ideologischen) Seiten von Gut und Böse werden aber weniger relevant. Anziehend ist für das Publikum das moralbefreite, physische Erleben der extremen und aufrüttelnden Tötungen selbst, zugleich ein Ersatzmord/Ersatzsterben und zuletzt eben doch triumphierendes Überleben. Andere, etwa eben moralische, Ebenen werden so zugunsten eines rein körperlichen Genusses, jouissance, kurzzeitig abgetötet. Die körperliche Ebene wird

32 Moldenhauer beschreibt diese Polarität von Verstörung und Bewältigung: »Das Gewaltbild ergreift und berührt, ohne dass es real verletzen könnte, und die ästhetische Lust stellt sich her über die Überwindung des von ihm evozierten Unbehagens. Diese Überwindung wird ermöglicht durch die Selbstwahrnehmung des Zuschauers: dass er es ist, der das aushält [...] Im selben Zug aber erinnert die Mitleidenschaft, in die die drastischen Bilder Zuschauer und Zuschauerin ziehen, das Publikum an die eigene unhintergehbare Verletzlichkeit – auch wenn diese Wahrnehmung unter der Schwelle einer bewussten Realisierung bleiben mag.« Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S. 288. 33 Kunczik, Michael/Zipfel, Astrid: Medien und Gewalt. Befunde der Forschung 2004-2009, S. 123.

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auch durch Melodramen unterstrichen, Weepies, die darauf ausgelegt sind, quasi-kathartisch in Anbetracht des schweren Schicksals der Figuren zu weinen.34 Gertrud Koch betätigt: »[...] bei der Erschütterung im ›gewöhnlichen‹ Kino geht es [...] möglicherweise gerade um die Erfahrung der körperlichen Sensation, also weniger um den komplexen Aufbau einer Emotion, sondern um die Entladung, Entspannung im Somatischen.«35 Das Weinen, so führt Koch für ihr Beispiel an, es ließe sich aber auf andere körperliche Reaktionen erweitern, gewinne so »[...] ästhetische Autonomie – Weinen um des Weinens willen.«36 Der leidende Figurenkörper wird hier jeweils besonders hervorgehoben und dadurch intensiv erfahrbar. Zwei Körper, der der Figur bzw. zeitweise des ganzen Filmgeschehens und der Zuschauerkörper, überlappen. Gegenwärtigkeit, Realismus und Wahrhaftigkeit37 gehen demnach hier eine Verbindung ein, obgleich eine technische Apparatur all dies ermöglicht hat, das Geschehen vergangen ist, der leidende Körper abwesend, die Darbietung unrealistisch zweidimensional und nichts davon echt. Aber wir sind es, unsere Empfindungen sind es und das Ausmaß dieser Empfindungen und die Bedeutungen, die sie bündeln, können in sich lohnenswert sein. Folglich suchen wir diese Überwältigung immer auch, weil sie im echten Leben als zu gefährlich, zu emotional, zu verwundbar, moralisch verwerflich etc. gilt und können uns gerade deshalb so hingeben, weil ein Rest Künstlichkeit, ein Wissen um die Fiktion, bei aller Nähe zum Geschehen, nie verschwindet. Heinz Peter Preusser dazu: »Erst durch die Spiegelung der erlebten und körperlich ›unmittelbar‹ empfundenen Emotionen durch den Rezipienten kann das genossen werden, was zuvor, in der Alltagsrealität, [...] vermieden worden wäre. Der Zuschauer goutiert offenbar, wie beim Erhabenen, die Größe der affektiven Bewegtheit oder, anders gesagt, sein Gefühl, eine Emotion dieser Größe [...] überhaupt empfinden und erleben zu dürfen. Ähnlich verhält es sich mit den Artefakt-Emotionen […], die ebenfalls Gefühle über Gefühle darstellen, hier allerdings solche, die sich dezidiert auf den Kunstwerkcharakter, die Gemachtheit des rezipierten Films, beziehen [...]«38

In dieser Verwischung der Grenzen zwischen Kunst und Realität, die den Tod als reale, tödliche Gewalt in ihrem die Sprache übersteigenden Ausmaß fühlbar macht, steht der Film in einer Reihe mit Werken wie Goyas Saturn verschlingt eines seiner Kinder

34 35 36 37

Vgl. Williams, Linda: »Film Bodies. Gender, Genre, and Excess«, S. 4. Koch, Gertrud: »Zu Tränen gerührt – Zur Erschütterung im Kino«, S. 317. Ebd., S. 324. Neben dem in Kapitel 3.3.3.1 diskutierten blutigen Männerkörper als Zeichen der Wahrhaftigkeit in christlichen Kulturen lässt sich mit Benjamin Moldenhauer sagen: »Generell wird dem Gewaltbild gerne Wahrhaftigkeit im Sinne einer unter Konventionen verborgenen Wahrheit zugesprochen [...] Wohlgemerkt, das Gewaltbild steht nicht unmittelbar für das Echte, Authentische ein, es setzt nur ein Signal, das der Zuschauer nutzen kann, um sich selbst als Subjekt zu imaginieren, das im Kontakt mit dem Authentischen steht.« Moldenhauer, Benjamin: Ästhetik des Drastischen, S. 309. 38 Preusser, Heinz Peter: »Sinnlichkeit und Sinn im Kino«, S. 15/16.

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(1820)39 oder Picassos Guernica (1937)40, insofern sie dieselben ausweglosen, durchdringenden, hoffnungslosen, düsteren Empfindungen bündeln. John Dewey erkennt dementsprechend für die Kunst: »Das Gefühl wachsenden Verständnisses, einer vertieften Verständlichkeit von Natur und Mensch, die sich aus der ästhetischen Erfahrung ergeben, hat Philosophen dazu geführt, Kunst als einen Erkenntnismodus zu behandeln und Künstler, besonders Dichter, veranlaßt, Kunst als eine Art Offenbarung der inneren Natur der Dinge zu betrachten, die auf keine andere Weise sonst zu erlangen ist. Es hat schließlich dahin geführt, Kunst als eine Weise höherer Erkenntnis nicht nur der des Alltags, sondern selbst der der Wissenschaft zu behandeln.«41 Die Grenzgänge zwischen Leben und Tod bergen dabei eine besondere Intensität der körperlich fundierten ästhetischen Erfahrung, auch wenn diese negativ ist. Deines, Liptow und Seel dazu: »Wir suchen [...] die Auseinandersetzung mit Werken der 39 »Das grenzenlos aufgerissene Maul, ähnlich wie Permosers Leipziger Verdammnis jeden höfisch gebilligten Gefühlsausdruck hinter sich lassend, der angefressene Arm der Frau, die ihren Kopf schon verloren hat, vor allem aber das undifferenzierte Schwarz, das alles überwölbt, entziehen dem rasenden Saturn eine fassbare Identität. Werner Hofmann schreibt, Goyas Saturn ›erschreckt den Betrachter, weil er selbst ein Erschrockener ist‹ – ›erschrocken‹ ist vielleicht noch ein wenig zaghaft: ich würde sagen, ein grauenhaft Verlassener ist Saturn – und, so Hofmann weiter, er hat eine ›zerißne Seele‹. Es ist nicht zu viel zu behaupten, dass die Gewalt sich hier bereits ad absurdum führt. Damit kommt es zu der mit dem Verspeisen der eigenen Kinder begonnenen Autodestruktion. Es gibt also nicht einmal mehr ein Ziel im Bösen. Damit steht alles, jenseits einer moralischen Grenze, zur Disposition. Darin sehe ich Goyas Bedeutung für das 20. Jahrhundert, zumal für den Surrealismus, mehr noch als für das spätere 19., das ja die schwarzen Bilder noch nicht kannte. An dieser äußersten Grenze einer Darstellung von Gewalt als Motiv wird bereits Gewalt als Struktur, als Innenwendung, als künstlerische Selbstreflexion angedeutet.« Herding, Klaus: »Kunst und Gewalt – Gewalt in der Kunst – Kunstgewalt«, in: Pawlak, Anna/Schankweiler, Kerstin (Hg.), Ästhetik der Gewalt – Gewalt der Ästhetik, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2013, S.15-38, hier S. 20. 40 »This painting more than any other image of this period has come to stand for the specific horrors of the Spanish Civil War and for the catastrophe of warfare in general [...] A massive panorama of terror framed by screaming women at either edge, Guernica is punctuated horizontally by faces and bodies – animal and human – strewn across a starkly lit space. Interiors and exteriors of burning buildings collapse visually into one other, flattened into a shallow proscenium that gives the viewer nowhere to turn from the drastically illuminated horror before one’s eye. A mortally wounded horse stumbles in panic over the body of a dead warrior; a bull alert but confused, swings his massive head; two other women rush onto the scene. The human degenerates into the animal realm of unreasoning instinct, yet blind instinct cannot rise to overcome the threat. The shrieks of the hysterical mother holding her dead child culminate in her pointed tongue, as though the entire weight of her agony has been compacted into that infinitesimal tip, with the unbearable density of a cosmic black hole. Her abjection is repeated and magnified in the scream of the horse, whose shattered body drags the cool detachment of Picasso’s Cubism and post-cubist classicism into the anguished realm of overwhelming fear.« Greeley, Robin Adèle: Surrealism and the Spanish Civil War, New Haven/London: Yale University Press 2006, S. 147/148. 41 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, S. 337.

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Kunst, weil dies zu einer Erfahrung führt, die für uns wertvoll ist, weil sie etwa, je nach Theorie, besonders lustvoll, erhellend oder reichhaltig (oder aber auch tief, subversiv, überraschend, verstörend usw.) ist.«42 Aus der Perspektive des Todes, in seiner alles übertreffenden Bedeutung für menschliches Leben, lässt sich das Leben immer wieder neu denken. Dies galt bereits für Allegorien des Todes. Doch insbesondere über das Leiden und Sterben anderer kann der Zuschauer an seinem Körper die eigene Endlichkeit und Sterblichkeit begreifen, Gemeinsamkeiten mit und Kontraste zu ihnen, Mitgefühl erfahren, grundlegende Fragestellungen zu Moral, gut und böse, aber auch eine eigene Beteiligung oder Zeugenschaft reflektieren. Die Verbindung von Kunstwerk und Rezipientenkörper lässt eine nonverbale Kommunikation zu und ermöglicht eine Verlebendigung von Erkenntnis an diesem Körper der Wahrnehmung. Weil Film Fiktion ist, weil er auf technische Tricks und Special Effects zurückgreifen kann, sind ihm keine Grenzen gesetzt. Er kann sich ausprobieren und auch die Reaktionen des Publikums austesten, er kann immer neue Wege finden uns zu treffen und in den Grundfesten zu erschüttern. Er hält uns – viel direkter als in Thesen der Psychoanalyse – einen Spiegel vor, lässt uns fühlen, woran unsere Welt und das menschliche Wesen selbst krankt, aber vor allem beweist er uns, was er als Film zu leisten imstande ist, wie sehr er die Realität übertreffen kann, indem er selbst den Tod überwindet und uns Dinge empfinden lässt, die wir im Alltag nicht fühlen, der im Vergleich seltsam blass und reduziert erscheint. Man möchte zum Teil vor diesem Albtraum davonlaufen, aufwachen, aber fühlt sich auch gerade von der Intensität, der Weite des Erfahrungsspektrums, der empfundenen Wahrhaftigkeit und Lebendigkeit angezogen. Julian Hanich dazu: »[...] think about phenomena like bungee jumping or rollercoaster rides. Do we enjoy the free fall from the bridge and the speedy ride in the rollercoaster racing up and down the tracks? Or is it merely the joyful moment of relief after the frightening experience is over? I think both moments are pleasurable (albeit in different ways). These constant pleasurable ups and downs of emotions in a temporal form of art like film are precisely the reason why the rollercoaster is not only a convincing analogy but also recurs as a fitting metaphor in discourses about somatic types of movies (think of the discussion about action movies). But if the agitation of horror, shock, dread or terror is indeed pleasurable itself, there is no need to talk of catharsis with its antiemotional connotations. We do not need to be purged or cleansed from something we enjoy.«43

Kann eine ästhetische Erfahrung überhaupt je etwas über uns als Menschen aussagen? Wir stellen uns immerhin in diesem Moment zur Verfügung und bekommen mindestens so viel vom ästhetischen Werk wie dieses von uns. Wir sind damit gar nicht mehr wirklich wir, in einer alltäglichen Situation, sondern – zumindest teilweise – von unserem Alltag, unseren eigenen Erfahrungen und Werten, losgelöst. Ein weiterführender Mehrwert, die Befriedigung von sadistischen Gelüsten etwa, wäre dann weniger entscheidend, als die augenblickliche, zutiefst körperliche Erfahrung selbst. Hans Ulrich Gumbrecht bestätigt: »Versteht man den Wunsch nach Präsenz als Reaktion auf eine Alltagswelt, die in den letzten Jahrhunderten allzu cartesianisch geworden 42 Deines, Stefan/Liptow, Jasper/Seel, Martin: »Kunst und Erfahrung. Eine theoretische Landkarte«, S. 7. 43 Hanich, Julian: Cinematic Emotion in Horror Films and Thrillers, S. 10.

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ist, dann darf man hoffen, daß ästhetisches Erleben uns dabei helfen wird, die räumliche und körperliche Dimension unseres Daseins wiederzuerlangen; daß uns ästhetisches Erleben das Gefühl eines In-der-Welt-Seins wiedergibt, das Gefühl, zur physischen Objektwelt zu gehören.«44 Im Anschluss an die Überwindung des Todes durch wandelnde Tote bzw. ewig Lebende auf der Leinwand lässt sich nun erkennen, dass Publikum und Film einen Erfahrungsraum schaffen, in dem wir unser eigenes Lebendigsein spüren, manchmal gewissermaßen in jeder Faser unseres Körpers. Die ›Todesbegegnung‹ ist in der ästhetischen Erfahrung damit viel direkter als nur in Symbolismen, der Speicherung von Zeit oder der Reanimation von Toten. Wir sind in der Kinorezeption aufgewühlt, wenn wir eine Todesnähe spüren und gleichzeitig, dem widerständig, wissen, dass wir noch am Leben sind. Anders als meist im Alltag, fühlen wir unseren Körper, das Gewicht unserer Existenz, das, was uns an das Irdische bindet, was fragil, aber lebendig und bewahrenswert in uns ist und was wir mit anderen Menschen teilen. Das mag schon in Actionfilmen gegeben sein, wenn man an einer gefährlichen Autojagd mit schnellen Schnitten und Explosionen beteiligt ist, durch das Flackern des Lichts, den Sog der wechselnden Bilder, die Soundeffekte, die bis in die Magengrube fahren. Doch es ist auch spürbar, während man dem Tod – trotz aller Angst, allem Ekel, allem Unwohlsein und Mitgefühl mit Opfern – ein ums andere Mal entkommt, sogar dann, wenn niemand auf der Leinwand es soweit schaffen sollte. Man ist nicht nur Schaulustiger, sondern direkt beteiligt. Man sieht nicht nur Helden Schmerz und Gewalt widerstehen, man scheint selbst standzuhalten. Man erlebt Folter und Qualen hautnah mit und doch wird man ungeschoren davonkommen, unschuldig und am Leben bleiben. Thomas Elsaesser bemerkt dazu: »Grenzerfahrungen sind vornehmlich solche, die unsere Körper und ihre Verkörperungen auf die Probe stellen, die Grenzen zwischen Handlungsfähigkeit und Hilflosigkeit ausloten und uns der Zeit und ihrer Unumkehrbarkeit bewusst werden lassen.«45 Tod und Gewalt als Schwellenphänomene, die Leib und Leben gefährden, im Kino aber intensiv und zugleich unbeschadet erlebt werden können. Sie müssen einen Rezipienten besonders erschüttern, ganzkörperlich ergreifen – wir sind lebendig in dieser Nähe zum Tod, wir erleben als wirklich, was der Film künstlich generiert. Was uns da vorgeführt wird, ist immer nur Fiktion, aber es kann dennoch Dinge fühlbar machen, die echt sind.

44 Gumbrecht, Hans Ulrich: »Epiphanien«, S. 220. 45 Elsaesser, Thomas: Hollywood heute, S. 39.

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FILMOGRAPHIE 28 DAYS LATER (Vereinigtes Königreich 2001, R: Danny Boyle) A CLOCKWORK ORANGE (Großbritannien 1971, R: Stanley Kubrick) AMERICAN PSYCHO (USA 2000, R: Mary Harron)* AMERICAN HISTORY X (USA 1998, R: Tony Kaye) ARMY OF DARKNESS (USA 1992, R: Sam Raimi)* AVATAR (USA 2009, R: James Cameron)* BLACK SWAN (USA 2010, R: Darren Aronofsky) BLAIR WITCH PROJECT (USA 1999, R: Daniel Myrik/Eduardo Sánchez)* BOYS DON’T CRY (USA 1999, R: Kimberley Peirce) BUTCH CASSIDY AND THE SUNDANCE KID (USA 1969, R: George Roy Hill) COMMANDO (USA 1985, R: Mark L. Lester) CONAN THE BARBARIAN (USA 1982, R: John Milius) CORPSE BRIDE (USA 2005, R: Tim Burton/Mike Johnson) DAY OF THE WOMAN/I SPIT ON YOUR GRAVE (USA 1978, R: Meir Zarchi)* DANS MA PEAU (Frankreich 2002, R: de Van, Marina) DAS CABINET DES DR. CALIGARI (Deutschland 1920, R: Robert Wiene)* DAS LÄCHELN EINER SOMMERNACHT (Sommarnattens leende, Schweden 1955, R: Ingmar Bergman)* DAS SIEBENTE SIEGEL (Det sjunde inseglet, Schweden 1957, R: Ingmar Bergman) DAWN OF THE DEAD (USA 1978, R: George Romero) DAWN OF THE DEAD (USA 2004, Zack Snyder)* DER GOLEM (Deutschland 1915, R: Paul Wegener/Heinrich Galeen)* DER HIMMEL ÜBER BERLIN (Deutschland/Frankreich 1987, R: Wim Wenders)* DIE HARD (USA 1988, R: John McTiernan) DIE KLAVIERSPIELERIN (La Pianiste, Österreich/Deutschland/Frankreich/Polen 2001, R: Michael Haneke) FANNY UND ALEXANDER (Fanny och Alexander, Schweden 1982, R: Ingmar Bergman)* FLATLINERS (USA 1990, R: Joel Schumacher)* FRIDAY THE 13TH (USA 1980, R: Sean S. Cunningham) GEFÄNGNIS (Fängelse, Schweden 1949, R: Ingmar Bergman) *

Mit Stern markierte Titel werden im Text erwähnt, aber nicht ausführlich thematisiert.

356 | Todesbegegnungen im Film

GODZILLA (Gojira, Japan 1954, R: Ishirō Honda)* GONE WITH THE WIND (USA 1939, R: Victor Fleming)* HALLOWEEN (USA 1978, R: John Carpenter) HARDCORE HENRY (USA/Russland 2015, R: Ilya Naishuller) HER (USA 2013, R: Spike Jonze)* HIGH TENSION (Haute Tension, Frankreich 2003, R: Alexandre Aja) HOSTEL (USA 2005, R: Eli Roth) HOSTEL: PART II (USA 2007, R: Eli Roth)* I AM LEGEND (USA 2007, R: Francis Lawrence)* IRRÉVERSIBLE (Frankreich 2002, R: Gaspar Noé) I SPIT ON YOUR GRAVE (USA 2010, R: Stephen R. Monroe)* KILL BILL (USA 2003, R: Quentin Tarantino)* KÖRKARLEN (Schweden 1921, R: Victor Sjöström)* LA PASSION DE JEANNE D’ARC (Frankreich 1928, R: Carl Theodor Dreyer)* LADY IN THE LAKE (USA 1947, R: Robert Montgomery)* LE BALLON ROUGE (Frankreich 1956, R: Albert Lamorisse)* LEKTION IN LIEBE (En Lektion i kärlek, Schweden 1954, R: Ingmar Bergman)* LE MANOIR DU DIABLE (Frankreich 1896, R: Georges Méliès)* LIFE-DEATH (Deutschland 1969, R: Katharina Sieverding)* LYRISCH NITRAAT (Niederlande 1991, R: Peter Delpeut)* MAN WITH A MOVIE CAMERA (UdSSR 1929, R: Dsiga Vertov)* MARTYRS (Frankreich/Kanada 2008, R: Pascal Laugier) NELL (USA 1994, R: Michael Apted)* NOSFERATU (Deutschland 1922, R: Friedrich Wilhelm Murnau)* PEEPING TOM (Vereinigtes Königreich 1960, R: Michael Powell)* PSYCHO (USA 1960, R: Alfred Hitchcock)* RAMBO (USA/Deutschland 2008, R: Sylvester Stallone) RAMBO: FIRST BLOOD PART II (USA 1985, R: George Cosmatos) RASHŌMON (Japan 1950, R: Akira Kurosawa)* RED HEAT (USA 1988, R: Walter Hill) RESIDENT EVIL (Deutschland/UK/Frankreich. 2002, R: W.S. Paul)* RING (Ringu, Japan 1998, R: Hideo Nakata) SEVEN SAMURAI (Shichinin no samurai, Japan 1954, R: Akira Kurosawa)* SURROGATES (USA 2009, R: Jonathan Mostow)* THE BEST YEARS OF OUR LIVES (USA 1946, R: William Wyler)* THE CROW (USA 1994, R: Alex Proyas)* THE LAST MAN ON EARTH (USA/Italien 1964, R: Ubaldo Ragona/Sidney Salkow)* THE LORD OF THE RINGS: THE FELLOWSHIP OF THE RING (USA/Neuseeland 2001, R: Peter Jackson)* THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS (USA 1993, R: Henry Selick) THE OMEGA MAN (USA 1971, R: Boris Sagal)* THE PASSION OF THE CHRIST (USA/Italien 2004, R: Mel Gibson) THE PIANO (Australien/Neuseeland/Frankreich 1993, R: Jane Campion)* THE RAID 2: BERANDAL (Indonesien 2014, R: Gareth Evans) THE RING (USA/Japan 2002, R: Gore Verbinski)* THE SILENCE OF THE LAMBS (USA 1991, R: Jonathan Demme) THE SKELETON DANCE (USA 1929, R: Walt Disney)

Anhang | 357

THE TERMINATOR (USA 1984, R: James Cameron)* THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (USA 1974, R: Tobe Hooper) THELMA & LOUISE (USA 1991, R: Ridley Scott) WILDE ERDBEEREN (Smultronstället, Schweden 1957, R: Ingmar Bergman)* ZARDOZ (Vereinigtes Königreich 1974, R: John Boorman)

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382 | Todesbegegnungen im Film

Grünewald, Matthias: Christus am Kreuz zwischen Maria und Johannes (1523/24), Nadelholz, Mischtechnik, 195,5 x 142,5 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inventarnummer 994, Abbildung 10. Hagesander/Athanodorus/Polydoros: Laokoongruppe (späteres 1. Jahrhundert v. Chr., Nachbildung aus hellenistischem Original von ca. 200 v.Chr., gefunden 1506), Marmor, Höhe: 2,25m, Vatikanische Museen, Rom, Inventarnummer 1059. Michals, Duane: A man going to heaven (1967) Fünf Silbergelatinedrucke, handbeschriftet, je 13 x 18 cm, Carnegie Museum of Art, Pittsburgh, USA, Abbildung 7. Michals, Duane: Death Comes to the Old Lady (1969), fünf Silbergelatinedrucke, je 13 x 18 cm, Carnegie Museum of Art Pittsburgh, USA, Abbildung 8. Michals, Duane: The Fallen Angel (1968), acht Silbergelatinedrucke mit handgeschriebenem Text, je 13 x 18 cm, Carnegie Museum of Art, Pittsburgh, USA. Michals, Duane: The Spirit Leaves the Body (1968), Sieben Silbergelatinedrucke, je 13 x 18cm, Carnegie Museum of Art, Pittsburgh, USA. Rubens, Peter Paul: Boreas entführt Oreithya (1615), Öl auf Holz /Eiche. 146 x 140,5 cm, Akademie der bildenen Künste, Wien, Inventarnummer GG-626.Stella, Jacques: Jakobs Leiter (Ca. 1650) Öl auf Alabaster, 22.54 x 33.02 cm, Los Angeles County Museum of Art (LACMA), Abbildung 12. Unbekannt: Patriarch (Ca. 1875), Carte de Visite, The Thanatos Archive, Duvall, WA, Abbildung 6. Unbekannt: Das Siebente Siegel: Schachspiel mit dem Tod, Film Still aus dem Still Archiv des Schwedischen Filminstituts, Stockholm, Schweden, Abbildung 9. Darüber hinaus wurden Screenshots aus folgenden Filmen verwendet: American History X (USA 1998, R: Tony Kaye), Abbildung 19 Conan the Barbarian (USA 1982, R: John Milius), Abbildung 16 Dans Ma Peau (Frankreich 2002, R: de Van, Marina), Abbildung 20 Hostel (USA 2005, R: Eli Roth), Abbildung 15 The Passion of the Christ (USA/Italien 2004, R: Mel Gibson), Abbildung 11 The Raid 2: Berandal (Indonesien 2014, R: Gareth Evans), Abbildungen 17 und 18 The Texas Chainsaw Massacre (USA 1974, R: Tobe Hooper), Abbildung 14

Medienwissenschaft Susan Leigh Star

Grenzobjekte und Medienforschung (hg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha) 2017, 536 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3126-5 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3126-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3126-5

Geert Lovink

Im Bann der Plattformen Die nächste Runde der Netzkritik (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) 2017, 268 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3368-9 E-Book PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3368-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3368-9

Gundolf S. Freyermuth

Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung 2015, 280 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-2982-8 E-Book: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2982-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Medienwissenschaft Ricarda Drüeke, Elisabeth Klaus, Martina Thiele, Julia Elena Goldmann (Hg.)

Kommunikationswissenschaftliche Gender Studies Zur Aktualität kritischer Gesellschaftsanalyse April 2018, 308 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3837-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3837-4

Ramón Reichert, Annika Richterich, Pablo Abend, Mathias Fuchs, Karin Wenz (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 3, Issue 2/2017 – Mobile Digital Practices January 2018, 272 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3821-9 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3821-3

Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)

Zeitschrift für Medienwissenschaft 17 Jg. 9, Heft 2/2017: Psychische Apparate 2017, 216 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4083-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4083-4 EPUB: ISBN 978-3-7328-4083-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de